Das Nichts und der Schmerz: Erzählen bei Bret Easton Ellis [1. Aufl.] 9783839427910

Emotional roller coaster rides with Bret Easton Ellis: An investigation of anti-emotional narrative aesthetics and recep

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German Pages 376 Year 2014

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Das Nichts und der Schmerz: Erzählen bei Bret Easton Ellis [1. Aufl.]
 9783839427910

Table of contents :
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitung
2. Zur Grundlage: Die klassische Affekttheorie
3. Emotionen verstehen
4. Literatur und Emotion
5. Emotionsloses Erzählen – Schutz gegen Schmerz
6. Affektloses Erzählen – Lust und Qual
7. Der autofiktionale Pakt: Lunar Park
8. Zurück in die Zukunft: Imperial Bedrooms
9. Schluss: THIS IS NOT AN EXIT
Literaturverzeichnis
Figurenregister

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Sarina Schnatwinkel Das Nichts und der Schmerz

Lettre

2014-07-01 16-06-21 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d0370640639356|(S.

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4) TIT2791.p 370640639364

Sarina Schnatwinkel ist Literaturwissenschaftlerin aus Bielefeld. Sie forscht zur Literatur der Postmoderne, Narratologie und Emotionshermeneutik in Ostwestfalen-Lippe.

2014-07-01 16-06-21 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d0370640639356|(S.

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Sarina Schnatwinkel

Das Nichts und der Schmerz Erzählen bei Bret Easton Ellis

2014-07-01 16-06-21 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d0370640639356|(S.

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Inhalt

Vorwort | 9 1. Einleitung | 11

1.1 Zielsetzung und Vorgehensweise | 13 1.2 Bret Easton Ellis: Publikation, Rezeption, Forschung | 23 2. Zur Grundlage: Die klassische Affekttheorie | 33 3. Emotionen verstehen | 39

3.1 Emotionen als privates Ereignis: Emotionstheorie in der Psychologie und Psychoanalyse | 41 3.2 Emotionen als soziales Ereignis: Emotionstheorie in der Soziologie | 55 3.3 Wenn Emotionen fehlen | 64 4. Literatur und Emotion | 81

4.1 Affektpoetik: Emotionen und Emotionsmangel im Text | 82 4.2 Affektrezeption und -produktion: Emotionen des Lesers | 86 4.3 Identifikatorisches Lesen | 95 5. Emotionsloses Erzählen – Schutz gegen Schmerz | 101

5.1 Less Than Zero | 102 5.2 The Rules of Attraction | 147 5.3 Ein erstes kleines Fazit | 177 6. Affektloses Erzählen – Lust und Qual | 179

6.1 American Psycho | 180 6.2 Glamorama | 212 6.3 Ein zweites kleines Fazit | 258 7. Der autofiktionale Pakt: Lunar Park | 261

7.1 Neue Wege, alte Muster | 262 7.2 Der autofiktionale Horror | 269 7.3 Schlussfolgerungen: Leseridentifikation – Leserirritation | 295 7.4 Ein drittes kleines Fazit | 299 8. Zurück in die Zukunft: Imperial Bedrooms | 301

8.1 Eine Ästhetik der Extreme | 302 8.2 Schlussfolgerungen: Abstoßung des Lesers – Faszination des Lesers | 323

8.3 Ein letztes kleines Fazit | 328 9. Schluss: This is not an exit | 331

9.1 Zusammenfassung der Ergebnisse: Das Nichts und der Schmerz | 332 9.2 Ausblick und offene Forschungsfragen | 336 Literaturverzeichnis | 349 Figurenregister | 365

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Darstellung der Begriffe bewusst – vorbewusst – unbewusst und ihr Verhältnis zueinander | 43

Abbildung 2: Hurrelmanns Darstellung der produktiven Realitätsverarbeitung | 75

Abbildung 3: Schematische Darstellung der Begriffe Gefühl, Emotion und Affekt | 83

Abbildung 4: Emotionalisierungsprozess beim Lesen | 94

Abbildung 5: Schematische Darstellung der Romanstruktur in Glamorama | 220

Vorwort

Das Buch, das Sie gerade in den Händen halten, wurde im Mai 2013 an der Universität Bielefeld als Dissertation im Fach Literaturwissenschaft angenommen. Seine Entstehung war mit Schweiß und Tränen, Nervenzusammenbrüchen, Höhenflügen und der Investition von sehr viel Herzblut verbunden. Dass ich es nach vier Jahren harter Arbeit, Selbstdisziplinierungsmaßnahmen und ständiger Eigenmotivation geschafft habe, dieses Buch fertig zu schreiben, habe ich einigen Personen zu verdanken, die mich auf vielfältige Weise unterstützt haben. Ohne meine Eltern Michael Schnatwinkel und Christiane Kaiser-Schnatwinkel wäre diese Arbeit gar nicht erst geschrieben worden, da sie mich über drei Jahre hinweg finanziell unterstützt haben. Meine beiden Gutachter Prof. Dr. Wilfried Raussert und Prof. Dr. Martin von Koppenfels haben mir ein vertrauensvolles Betreuungsverhältnis geboten, mir wertvolle Anregungen gegeben und sich stets die Zeit genommen, Ideen, Unsicherheiten und Fragen mit mir zu besprechen. Karl-Heinz Reese hat die gesamte Arbeit auf Rechtschreibung, Grammatik und Tippfehler überprüft und Kathrin Vogt hat es auf sich genommen, in minutiöser Kleinarbeit alle Fußnoten zu durchleuchten. Meine wunderbaren Freunde haben sich jederzeit als großartige Stütze erwiesen, haben sich langatmige Vorträge über mein Thema angehört und sich immer wieder nach dem Vorankommen der Arbeit erkundigt, ohne nur das geringste Zeichen von Langeweile zu signalisieren. Aber einem Menschen verdanke ich besonders viel: Philipp Bornkessel hat mich immer wieder aufgefangen, wenn ich Zweifel an mir selbst und meiner Arbeit hatte, hat mich angefeuert, wenn ich schlapp zu machen drohte, mir Verschnaufpausen verordnet, wenn ich mich überarbeitet hatte und mich stets ermutigt, das Projekt durchzuziehen. Vielen Dank euch Allen!

1. Einleitung

There is no such thing as a moral or an immoral book. Books are well written, or badly written. That is all. OSCAR WILDE/THE PICTURE OF DORIAN GRAY

„Snuff This Book! Will Bret Easton Ellis Get Away With Murder?“, empörte sich Roger Rosenblatt am 16. Dezember 1990 in der New York Times.1 Mit seiner vernichtenden Rezension klagt er den Autor des Skandalromans American Psycho2 des Mordes an – zumindest der Ermordung des guten Geschmacks. Er nennt den Roman „a tale of contemporary foolishness“, „nonsense“ und „[s]o pointless, so themeless, so everythingless“, dass er sich die Frage stellt: „Should something like ‚American Psycho‘ be published by anyone any time anyway?“ Seine klare Antwort: Nein. Nachdem noch vor der Veröffentlichung bekannt geworden war, wie explizit Ellis die Gewalt in seinem Roman darzustellen beabsichtigte, machte sein Verlag Simon & Schuster einen Rückzug und kündigte den Vertrag mit Ellis auf. Eine Entscheidung, zu der Rosenblatt die Verantwortlichen beglückwünscht, um anschließend den Chef von Random House Vintage, der sich nur zwei Tage später die Rechte an American Psycho sicherte, als Schurken, der „clearly […] hungry for a killing“ und „cynical and avaricious or merely tasteless and avaricious“ sei, zu beschimpfen. Den Einwand, dem Buch den Druck zu verweigern, komme Zensur gleich, wischt er barsch weg mit der Begründung, Zensur sei es erst, „when a government burns your manuscript, smashes your presses and throws you in jail.“ Da Ellis dies ja nicht passiert sei – was Rosenblatt zu bedauern scheint –, sei es die

1

Rosenblatt, Roger: „Snuff This Book! Will Bret Easton Ellis Get Away With Murder?“ In: New York Times, 16.12.1990. http://www.nytimes.com/1990/12/16/books/snuff-thisbook-will-bret-easton-ellis-get-away-with-murder.hmtl?pagewanted=all&sre=pm 03.12.2012.

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Ellis, Bret Easton: American Psycho. New York: Random House 2006.

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Pflicht der Konsumenten, den Roman zu boykottieren. Er ruft dazu auf, das Buch nicht zu kaufen, denn: „That nonact […] would say that we are disgusted with the gratuitous degradation of human life, of women in particular. It would show that we can tell real books from the fakes. It would give the raspberry to the culture hustlers who, to their shame, will not say no to obvious rot.“

Rosenblatts Empörung betraf dabei einerseits den Autor selbst, der seiner Auffassung zufolge über eine „lame and unhealthy imagination“ verfüge und den er, wie der Titel zeigt, in keiner Weise von der Romanfigur differenziert sowie den Inhalt des Buches, den er als „most loathsome offering of the season“, als „childishly gruesome description of torture or dismemberment“, als „junk“ abklassifiziert, andererseits die Bosse von Vintage, die aus Habgier darauf spekuliert hätten, dass die Publicity um den Roman dessen Verkaufszahlen anheizen werde. Rosenblatts scharfe Missbilligung des Romans, vorgetragen in einem höchst polemischen, aggressiven und unsachlichen Ton, traf den Nerv der Kritikerschaft. Dem stark emotional geleiteten, regelrecht gehässigen Verriss stimmte das Feuilleton mehrheitlich zu. In der Tat sind einige Szenen des Romans in ihrer detailreichen Darstellung von Vergewaltigung, Folter, Verstümmelung, Kannibalismus und Nekrophilie für manchen Leser kaum zumutbar. Auch ich hatte beim ersten Lesen des Romans stellenweise mit Ekel und Abscheu zu kämpfen, fühlte mich beschmutzt und vom Gelesenen regelrecht geschändet. So ging es beim Lesen nicht nur Rosenblatt und mir, so ging es, wie das fast ausschließlich negative Presseecho des Romans zeigt, dem überwiegenden Großteil der Leser.3 Leserreaktionen, die von Langeweile über Irritation und Befremden bis hin zu Schock, Entsetzen und Ekel reichten, resultierten in negativen Rezensionen im Feuilleton. Während einerseits die krassen Leserreaktionen demnach als ursächlich für die oftmals sehr negative Resonanz auf den Roman anzusehen ist, überrascht es andererseits, dass die Ansprache der Leseremotionen durch den Text bisher nicht untersucht worden ist. Die Leserreaktionen sind nämlich nicht das Zufallsprodukt eines Autors, der es nicht besser kann, sondern viel mehr eine gezielte Strategie zur Leserlenkung, die den Tabubruch zur Maxime erhebt. Es handelt sich dabei um eine kalkulierte Taktik der Lesersteuerung, die die Provokation emotionaler Leserreaktionen verursacht. Die extremen emotionalen Reaktionen des Lesers sind gewollt und werden systematisch erzielt durch bestimmte Textstrategien, die sich für alle Romane von Ellis nachweisen lassen. Solche Textstrategien, die emotionale Grenzerfahrungen des Lesers intendieren, reichen von zaghaft distanziertem über lakonisch-gefühlsarmem bis hin 3

Zur Rezeption des Romans siehe Kap. 1.2: Überblick: Publikations- und Rezeptionsgeschichte.

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zu affektlosem, grausam erscheinendem Erzählen. Mittels solcher Strategien, die in dieser Arbeit herausgearbeitet werden sollen, werden im Leser diverse, sich teils widersprechende, teils nur schwer zu ertragende Reaktionen evoziert. Auch sie werden Gegenstand der Untersuchung sein. Da dieser Umstand bislang weder von der Kritik noch von der akademischen Forschung erkannt worden ist, macht es sich der vorliegende Band zur Aufgabe, jenseits einer moralischen Bewertung alle Romane von Ellis einer narratologischen und rezeptionsästhetischen Analyse zu unterziehen. Dabei soll ein Beitrag zum Verständnis der Romane geleistet werden, dessen Fokus auf einem zentralen Aspekt liegt, der bislang von der Forschung noch gar nicht beachtet wurde: dem Erzählmodus des Emotions- und Affektlosen als Strategie zur Leserlenkung.

1.1 Z IELSETZUNG UND V ORGEHENSWEISE Die literaturwissenschaftliche Untersuchung von Emotionen hat seit dem Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre einen regelrechten Boom erfahren. Claudia Hillebrandt stellt hierzu fest: „Mittlerweile sind Emotionen dabei nicht mehr nur ein Lieblingsthema von Literaturproduzenten, sondern auch die deren Produkte erforschende Literaturwissenschaft beschäftigt sich neuerdings verstärkt mit ihnen – insbesondere mit der Darstellung von Emotionen in literarischen Texten sowie mit den emotionalen Wirkungen von Literatur.“4

Die vorliegende Arbeit reiht sich jedoch nicht in diesen Trend ein, sondern hebt sich explizit davon ab: Von zentralem Interesse ist nicht die „Darstellung von Emotionen in literarischen Texten“, sondern im Gegenteil die Darstellung von fehlenden Affekten und Emotionen in literarischen Texten sowie deren stilistische Aufbereitung. Die „emotionalen Wirkungen“ solcher Literatur werden damit allerdings umso reizvoller, als sie nicht auf Empathie beruhen. Die Mechanismen der Emotionserzeugung im Leser und die spezifischen Leseremotionen, die die Texte intendieren, werden daher ebenfalls zu untersuchen sein. Wie das obige Beispiel bereits anreißt, ist ein solcher Mechanismus der Emotionserzeugung der emotions- und affektlose Erzählstil, der eine gemeinsame Betrachtung aller Romane von Ellis erlaubt und interessant macht. Dabei wird eine 4

Hillebrandt, Claudia: Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten. Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel. Berlin: Akademie 2011, S. 11. Hillebrandt belegt diese These neben dem Verweis auf die Vielzahl von Publikationen zu dem Thema mit der Aufzählung von Sonderforschungsbereichen, einschlägigen Tagungen und Workshops sowie Themenheften in namhaften Fachjournalen. Nachzulesen bei Hillebrandt, S. 11f.

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Entwicklung nachvollziehbar, die ganz im Zeichen einer Übersteigerung steht. Diese wird jedoch erst erkennbar, wenn die Romane miteinander in Beziehung gesetzt werden. Demnach sollen nicht nur inhaltlich-motivische, sondern auch stilistische Verflechtungen einsichtig gemacht werden. Diese Dissertation verfolgt zwei Ziele: 1. Um über Emotionen diskutieren zu können, sollen die Begriffe Affekt, Emotion und Gefühl von ihrer bislang notorisch vagen Verwendung befreit und mithilfe der empirisch orientierten Wissenschaften Psychologie und Soziologie terminologisch genauer gefasst werden. Die Arbeit wird zeigen, dass die Begriffe Affekt, Emotion und Gefühl nicht, so wie bisher in der Literaturwissenschaft geschehen, synonym verwendet werden dürfen, sondern trennscharf voneinander differenziert werden müssen. Unter anschließendem Rückgriff auf die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung werden die Analysekategorien des emotions- und affektlosen Erzählens für die vorliegende Arbeit entwickelt, voneinander abgegrenzt und anwendbar gemacht. 2. Auf Basis der im theoretischen Beitrag konkretisierten Begriffe Affekt, Emotion und Gefühl werden die sechs bislang erschienenen Romane von Bret Easton Ellis jenseits einer moralischen Beurteilung einer narratologischen und rezeptionsästhetischen Analyse unterzogen. Dabei sollen einerseits inhaltlich-motivische Aspekte und stilistische Idiosynkrasien mithilfe der Analysekategorien des emotions- und affektlosen Erzählens herausgearbeitet und in Relation zu einander gesetzt werden. Andererseits soll eine rezeptionsästhetische Betrachtung den Leseprozess und die Leserreaktionen verständlich machen. Dabei werden die Romane im Sinne eines miteinander verwobenen Gesamtwerkes überprüft und die romanübergreifende stilistische Entwicklung im Zeichen einer Überbietungsstruktur offengelegt. Nachdem anhand der einleitend diskutierten Rezension deutlich geworden ist, dass Ellis’ Romane offenbar auf extreme Leserreaktionen abzielen, gilt es, die auslösenden Textstrategien näher zu beleuchten. Sie werden mithilfe der in dieser Arbeit entwickelten Analysekategorien des emotions- und affektlosen Erzählens erfasst. Worauf mit der Rede von emotions- und affektlosem Erzählen abgezielt werden soll, zeigen die folgenden kurzen Beispiele. ”

Überlegungen zu den Kurzgeschichten At the Still Point und ” Discovering Japan In der zweiten Geschichte „At the Stillpoint“ aus Ellis’ Kurzgeschichtensammlung The Informers5 treffen sich die vier Freunde Raymond, Dirk, Graham und Tim ein ”

“ 5

Ellis, Bret Easton: The Informers. London: Picador 2006. Von nun an mit der Sigle TI versehen.

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Jahr nach dem Todestag ihres gemeinsamen Kumpels Jamie in einem Restaurant wieder. Der Ich-Erzähler Tim hofft vergebens, das Thema werde nicht zur Sprache kommen. „‚It’s been a year,‘ Raymond says. ‚Exactly.‘ I have been hoping that no one was going to mention it but I knew as the evening went on that someone would say something. I just didn’t think it was going to be Raymond. […] No one is saying a lot to anyone else. I try to keep what little conversation there is on other topics: new Fixx video, Vanessa Williams, how much Ghostbusters is grossing, maybe what classes we’re going to take, making plans for surfing maybe the next day. Dirk resorts telling bad jokes we all know and don’t think are funny. We order. The waiter leaves. Raymond speaks.“ (TI, S. 6f, Hervorhebung im Original)

Schon mit dem ersten Satz wird eine Leerstelle eingebracht, da der Leser zunächst nicht wissen kann, was genau ein Jahr her sein soll. Auch die vier Jungen vermeiden es, es auszusprechen. „‚Since what?‘ Dirk asks uninterestedly. Graham looks over at me, then down. No one says anything, not even Raymond, for a long time. ‚You know,‘ he finally says.“ (TI, S. 7)

Natürlich wissen alle Vier, dass es um Jamies Unfalltod geht. Dirk weigert sich jedoch beharrlich, ein Gespräch darüber zuzulassen, indem er einfach behauptet, nicht zu wissen, was vor einem Jahr passiert sei. Als es endlich doch ausgesprochen wird, reagiert Dirk herablassend, bezeichnet den Verstorbenen als „jerk“ (TI, S. 9) und zeigt sich höchst unbeeindruckt von dessen Tod. Als schließlich herauskommt, dass Jamie nicht der Freund war, für den ihn viele hielten, ist die Reaktion der Jungen gelassen, betont desinteressiert. In dieser Kurzgeschichte offenbaren sich auf der Figurenebene emotionale Kälte, Desinteresse und Teilnahmslosigkeit, Kommunikationsvermeidung, Distanz – diese Themen sind programmatisch für Ellis’ Gesamtwerk. Gleichzeitig wird in der Geschichte jedoch auch das Gegenteil impliziert: Obwohl mit keinem Wort erwähnt wird, dass die Freunde um ihren verstorbenen Kameraden trauern, ihn vermissen, scheint gerade die Vermeidung des Themas darauf hinzudeuten, dass der Umgang damit nicht so einfach ist, wie sie vorgeben. Der Ich-Erzähler erinnert sich an gemeinsame Unternehmungen und daran, wie oft er das Bedürfnis verspürte, zum Unfallort zu fahren, es aber doch nie tat. Als Raymond einen Toast auf Jamie ausbringen möchte, fühlt Tim sich hilflos:

16 | D AS NICHTS UND DER S CHMERZ . E RZÄHLEN BEI B RET EASTON ELLIS „I lift my glass, feeling stupid, and Raymond looks over at me, his face swollen, puffy, smiling, looking stoned, and at this still point, when Raymond raises his glass and Graham gets up to make a phone call, I remember Jamie so suddenly and with such clarity that it doesn’t even seem as if the car had flown off the highway in the desert that night. It almost seems as if the asshole is right here, with us, and that if I turn around he will be sitting there, his glass raised also, smirking, shaking his head and mouthing the word ‚fools‘.“ (TI, S. 16)

Der Text vermittelt demnach eine emotionale Ebene, ohne sie wörtlich zu fassen. Trauer, Schmerz, Vermissen bleiben ungesagt. Es bleibt dem Leser überlassen, die emotionalen Stummstellen der Geschichte selbst zu füllen, aus den Erinnerungen und den Situationsbeschreibungen des Protagonisten dessen Emotionen zu erschließen. Neben Texten, die über eine verborgene figural-emotionale Ebene verfügen, gibt es jedoch auch Texte, die ihre Protagonisten als völlig gefühlsarm, kalt und grausam darstellen. Ein Beispiel dafür ist die siebte Geschichte „Discovering Japan“, in welcher der erfolgreiche Rockmusiker Brian Metro, gerade auf Welttournee, einen Zwischenstopp in Japan macht und als Ich-Erzähler über seine dortigen Erlebnisse berichtet, die gewohnheitsmäßig ausufernden Drogenkonsum sowie die Misshandlung und Vergewaltigung von Groupies beinhalten. „Naked, waking up bathed in sweat, on a large bed in a suite in the penthouse of the Tokyo Hilton, sheets rumpled on the floor, a young girl nude and sleeping by my side, her head cradled by my arm, which is numb, and it surprises me how much effort it takes to lift it, finally, my elbow brushing carelessly over the girl’s face. Clumps of Kleenex that I made her eat, stuck to the sides of her cheeks, her chin, dry, fall off. Turning over, away from the girl, is a boy, sixteen, seventeen, maybe younger, Oriental, nude, on the other side of the bed, arms dangling off the edge, the smooth beige lower back covered with fresh red welts. I reach for a phone […]. ‚Get these kids out of here, okay?‘ I mumble into the receiver. I get out of bed […] and when I turn around and look at the bed, the Oriental boy’s eyes are open, staring at me. I just stand there, unembarrassed, nude, hungover, and stare back into the boy’s black eyes. ‚You feel sorry for yourself?‘ I ask [...].“ (TI, S. 120f.)

Der Textauszug zeigt, dass Brian Metro seine beiden Gespielen nicht nur misshandelt hat, sondern sie nun im Anschluss an die Orgie auch möglichst schnell wieder loswerden möchte – er hat konsumiert, was die beiden Teenager ihm zu bieten hatten, und verliert nun das Interesse an ihnen. Dabei enthüllt seine Beschreibung, dass er neben einer offensichtlichen pädosexuellen auch eine sadistische Neigung hat: Er hat die beiden nicht nur körperlich und psychisch gedemütigt, indem er sie geschlagen und gezwungen hat, Papiertücher zu essen, sondern provoziert im An-

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schluss auch noch eine emotionale Erniedrigung durch die herablassende Frage, ob sich der Junge nun selbst leid tue. Dabei wird die Misshandlung selbst in die Rückschau verlegt, wobei nicht nur deren Darstellung fragmentarisch bleibt, sondern auch Brians Emotionen ausgespart werden. Diese von Lückenhaftigkeit gekennzeichnete Szene, die zu Beginn der Geschichte stattfindet, weist den autodiegetischen Erzähler als einen selbstbezogenen, grausamen, gefühlskalten Mann aus. Obwohl ähnlich wie in „At the Still Point“ auf die Darstellung von Emotionen verzichtet wird, ist in dieser Szene keine verborgene emotionale Ebene erkennbar. Die offensichtliche Vermeidung einer emotionalen Darstellung wird zwar in einigen Forschungsbeiträgen erwähnt, es wird sich gar über die angeblich ungenügende psychologische Tiefe der Figuren beklagt und der Duktus der Texte häufig als „disaffected or affectless“, 6 als „affectless monotone“, 7 als „flattened prose“8 beschrieben. Jedoch liegt bisher keine Untersuchung dazu vor, was den emotionsoder affektlosen Stil im Detail ausmacht und wie sich diese beiden Modi voneinander unterscheiden. Wie die obigen Überlegungen deutlich machen, gleicht sich der Verzicht auf eine emotionale Darstellung in den beiden Texten keineswegs. Während in „At the Still Point“ ein expliziter Ausdruck von Emotionen unterbleibt, sie aber dennoch erkennbar sind – dieser Duktus wird als emotionslos bezeichnet –, scheinen in „Discovering Japan“ Emotionen komplett zu fehlen – die Geschichte ist affektlos erzählt.9 Inwiefern sich diese beiden Darstellungswege stilistisch konkret unterscheiden, was ihre Merkmale sind und wie sie in den Romanen von Ellis umgesetzt werden, wird in der vorliegenden Arbeit untersucht. Dafür wird sowohl die Inhalts- als auch die Stilebene einer eingehenden Analyse unterzogen. Zuvor ist es jedoch notwendig, die Frage zu klären, was unter den Begriffen Affekt, Emotion und Gefühl für die vorliegende Arbeit verstanden wird. Emotionen: Ein interdisziplinärer Ansatz Um für die literaturwissenschaftliche Analyse praktikable und inhaltlich verständlich aufgeladene Termini nutzbar zu machen, wird in einem knappen theoretischen 6

Young, Elizabeth: „Vacant Possession. Less Than Zero – A Hollywood Hell.“ In: Graham Caveney/Elizabeth Young (Hg.): Shopping in Space. Essays on American “Blank Generation” Fiction. London – New York: Serpent’s Tail 1992, S. 21-42. Hier zitiert S. 30.

7

Young, Elizabeth: „The Beast in the Jungle, the Figure in the Carpet.“ In: Graham Caveney/Elizabeth Young (Hg.): Shopping in Space. Essays on American „Blank Generation“ Fiction. London – New York: Serpent’s Tail 1992, S. 85-122. Hier zitiert S. 109.

8

Murphet, Julian: Bret Easton Ellis’s [!] American Psycho. A Reader’s Guide. London – New York: Continuum 2002. S. 12.

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Wie die beiden Termini „emotionslos“ und „affektlos“ im Detail verwendet werden, klärt Kapitel 4.

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Vorbau zunächst eine Arbeitsdefinition von Emotionen entwickelt, auf deren Grundlage die Romananalysen erfolgen. Diese Arbeitsdefinition fußt auf Erkenntnissen zweier empirisch orientierter Wissenschaften: der Psychologie und der Soziologie. Nachdem in einem kurzen historischen Abriss die klassische Affekttheorie mit ihrer Bedeutung für die heutige Emotionsforschung vorgestellt wird, wird auf Basis des von Psychologie und Soziologie entwickelten Verständnisses von Emotion eine verifizierbare und somit der empirisch-lebensweltlichen Überprüfung standhaltende Arbeitsdefinition von Emotion, Affekt und Gefühl vorgeschlagen. Ottmar Ettes Forderung aufgreifend, die „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“10 zu konzipieren, ist es m.E. nicht nur gerechtfertigt, sondern auch höchst gewinnbringend, die sogenannten Life-Sciences in die Grundlagen dieser Arbeit einzuflechten. Ette geht es um eine „zugleich kontrastive und komplementäre Vernetzung“ 11 von Literatur- und Kulturwissenschaften mit empirisch orientierten Wissenschaften, 12 die traditionell den Anspruch darauf erheben, das Welt- und Menschsein erklären zu können. Nun sind Psychologie und Soziologie auf der Schnittstelle zwischen Life-Sciences und Geisteswissenschaften angesiedelt. Dem weiteren Begriffsfeld der Life-Sciences verstehen sie sich aber als durchaus zugehörig, da das empirische Analyse- und Methodeninventar vergleichbar ist. Durch den Rückgriff auf ein wissenschaftlich anerkanntes und überprüfbares Konstrukt verortet sich die vorliegende Arbeit in der von Ette gewünschten Vernetzungskultur verschiedener Fachrichtungen und der Fruchtbarmachung von Disziplinen für die Literaturwissenschaft, die sonst innerhalb der Geisteswissenschaften eher als Konkurrenz zu ihr gelten. Indem Psychologie und Soziologie jedoch auf der Grenzfläche zwischen Geistenwissenschaften und Life-Sciences verortet sind, ist der von Ette geforderte Anspruch einer Verknüpfung der Literaturwissenschaft mit den Lebenswissenschaften erfüllbar. Damit wird im theoretischen Beitrag dieser Arbeit ein interdisziplinärer Ansatz vertreten, der die empirischen Erkenntnisse aus Psychologie und Soziologie mit der Literaturwissenschaft verbindet. Während die Psychologie sich mit den intraindividuellen Konstitutionen, Wirkungsstrukturen und Entstehungsmechanismen von Emotionen auseinandersetzt und somit die theoretische Grundlage dafür liefert, was eine Emotion überhaupt ist, beschäftigt sich die Soziologie mit der sozialen Dimension von Emotionen. Beide Aspekte sind für diese Arbeit von Bedeutung, da nicht nur die Frage nach der Beschaffenheit von Emotionen für die Arbeitsdefinition und demzufolge für das Ver10 Ette, Ottmar: „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften.“ In: Wolfgang Asholt/Ottmar Ette (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen: Narr 2010. S. 11-38. 11 Ebd., S. 15. 12 Er meint vor allem die Biowissenschaften wie Medizin, Biologie, Physik etc.

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ständnis der Termini zentral ist, sondern auch die soziale Komponente von Emotionen sowohl für die Handlungen der Romane als auch für die Auswirkungen auf den Leser eine wichtige Rolle spielt. So wird es einerseits möglich, die Figurenbeziehungen untereinander mit soziologischem Begriffsinstrumentarium, das als Interpretationshilfe dient, zu beleuchten und auf diese Weise die emotionalen Verflechtungen innerhalb der Romane einsichtig zu machen, andererseits wird das Leseerlebnis als pseudo-soziales Ereignis aufgefasst, das im Rezipienten emotionale Reaktionen weckt. Der pseudo-soziale Bezug entsteht beim Leseerlebnis durch (verhinderte) Identifikation und Interaktion 13 mit den Romanfiguren und dem Text. Zu beidem entwickelt der Leser eine Beziehung, die wiederum von Emotionen geprägt ist. Diese werden gezielt durch Textstrategien des emotions- oder affektlosen Erzählens erzeugt. Worum es sich dabei im Detail handelt, wird in einem Synthesekapitel erörtert, das literaturwissenschaftliche Affektforschung mit der vorgestellten Arbeitsdefinition von Affekt, Emotion und Gefühl verknüpft. Da Ellis’ Romane wirksam auf eine emotionale Reaktion des Lesers abzielen, auf die in den anschließenden Analysekapiteln eingegangen wird, muss zunächst geklärt werden, welches Leserkonzept dieser Arbeit zugrunde gelegt und wie daher im weiteren Verlauf der Begriff des Lesers/Rezipienten verwendet wird. Kurzer methodischer Exkurs: Der Leser Wie die eingangs besprochene Rezension von Roger Rosenblatt gezeigt hat, lösen Ellis’ Texte im Leser emotionale Reaktionen aus. Es gilt sich jedoch vor Augen zu halten, dass in dieser Arbeit keineswegs der empirisch-individuelle Leser im Fokus der Untersuchung steht. Iser stellt in seiner Schrift Der Akt des Lesens fest, dass jegliche „leserorientierte Theorie von vornherein dem Vorwurf des unkontrollierten Subjektivismus ausgesetzt“14 sei, es sich also schlechterdings verallgemeinern lässt, was ein beliebiger empirischer Leser im Hinblick auf einen bestimmten Text empfindet. Dennoch ist Iser davon überzeugt, dass „ein literarischer Text seine Wirkung

13 Der Leser tritt mit dem Text zwar immer in Interaktion, durch Prozesse der Sinnerschließung, Reflexion und kognitiv-emotionalen Verarbeitung, jedoch kommt es dabei nicht zwangsläufig zu einer Identifikation mit den Romanfiguren. Wie die Analysen zeigen werden, wird es dem Leser tatsächlich nur in einem einzigen Roman, Lunar Park, ermöglicht, sich mit dem Protagonisten zu identifizieren. In allen anderen Texten wird die Identifikation gestört, blockiert oder verhindert. 14 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Fink 1976. S. 44.

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erst dann zu entfalten vermag, wenn er gelesen wird“,15 und dass der Leser den Text interaktiv während des Lesevorgangs mitkonstituiert.16 Mit dieser Auffassung stimmt Fotis Jannidis überein, da auch er der Ansicht ist, dass „der Leser wesentlich zur Bedeutungskonstitution eines literarischen Textes beiträgt.“17 Er greift auf Umberto Ecos Begriff des „Modell-Leser[s]“18 zurück, den Jannidis als ein „anthropomorphes Konstrukt“ versteht, das über „die Kenntnis aller einschlägigen Codes und auch über alle notwendigen Kompetenzen verfügt, um die vom Text erforderten Operationen erfolgreich durchzuführen.“ 19 Jannidis konstatiert, der Modell-Leser sei kein Textkonstrukt, sondern ein „textbasiertes Konstrukt“,20 das erst auf den Text appliziert wird, wenn er gänzlich verstanden wurde. Der Modell-Leser ist im Text also nur sehr voraussetzungsreich antizipiert, da seine Eigenschaften erst nach erfolgter Lektüre auf ihn übertragen werden. Jannidis erklärt hierzu: „Erst wenn der Text vollständig verstanden ist, können alle für die Verstehensoperationen notwendigen Voraussetzungen ermittelt und dem ModellLeser zugeschrieben werden.“21 Bei dem Modell-Leser handelt es sich demnach um ein anthropomorphes Konstrukt, das den Text der ihm eingeschriebenen Intention gemäß versteht – und zwar indem er seine Verstehensleistung nicht nur während des aktuellen Leseereignisses erbringt, sondern über das aktuelle Verstehen hinaus einen Reflexionsprozess nach Abschluss des Lesens aufnimmt. Jannidis’ Konzeption des Modell-Lesers erscheint daher geeignet, um die komplexe Lektüre der Romane von Ellis zu erfassen: Neben einer lektürebegleitenden Sinnerschließung ist damit auch die anschließende emotional-kognitiv geleitete Reflexion über das Gelesene mitgedacht. Wenn im Folgenden also vom Leser oder Rezipienten die Rede sein wird, ist damit ein Modell-Leser gemeint, der alle erforderlichen Kenntnisse und Kompetenzen besitzt, um den Text gemäß der in ihm verfolgten Intentionalität sinnhaft zu erschließen und reflexiv zu verstehen. Dieser Leser ist im Stande, auf alle im Text angelegten (Lenkungs-)Strategien anzusprechen und reagiert dementsprechend auf 15 Ebd., S. 7. 16 Ebd., S. 39. Daher führt Iser den Begriff des „impliziten Lesers“ ein (ebd., S. 60), den er als eine Textstruktur versteht, die in jedem Text den Leser bereits antizipiert, ihn sozusagen ‚vordenkt‘ (ebd., S. 61). Isers Vorschlag lautet demnach, den impliziten Leser als einen textimmanenten, antizipierten Leser zu begreifen, auf dessen Rolle der empirische Leser sich selektiv einlassen kann (ebd., S. 64). 17 Jannidis, Fotis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin – New York: de Gruyter 2004. S. 28. 18 Ebd., S. 30. 19 Ebd., S. 31. 20 Ebd., Hervorhebung im Original. 21 Ebd.

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den Text in der in ihm intendierten Weise. Insofern reagiert der Modell-Leser immer richtig: Er entwickelt die Gedanken und Gefühle, die er respondierend auf den Text entwickeln soll. 22 Dabei handelt es sich im konkreten Fall des EllisRezipienten darüber hinaus um einen an den Romanen von Bret Easton Ellis geschulten Leser. Der ideale Ellis-Leser ist mit dem Gesamtwerk des Autors vertraut und liest die Romane nicht als isolierte Einzeltexte, sondern ist in der Lage, sie miteinander in Relation zu setzen. Zur Konzeption und Analyse der Texte: Die Romane als literarischer Nexus Dieser Arbeit zugrunde liegt die Annahme, dass alle sechs Romane von Ellis miteinander verwoben sind. Der sinnvolle Kontext, der die Romane miteinander verbindet, sind intertextuelle Verflechtungen, die durch eine Vielzahl an Verweisen ein literarisches Universum bilden. So tauchen bestimmte Romanfiguren über die Grenzen der einzelnen Texte hinaus immer wieder auf,23 bestimmte Orte sind wiederholt Schauplatz der Geschehnisse. Die Leitmotive Drogen, Sex und Gewalt spielen in jedem der sechs Romane eine zentrale Rolle. An der Oberfläche sind die Romane demnach lose miteinander verknüpft. Dies ist ein erster Ansatz, der es erlaubt, die Romane von Ellis unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt zu beleuchten. Neben diesen inhaltlichen Aspekten sind es jedoch vor allem stilistische Auffälligkeiten, die die Romane miteinander verbinden. Was von der Literaturforschung bisher hilflos als „affectless monotone“24 oder „flattened prose“25 bezeichnet wurde, ist eigentlicher Themengegenstand der Untersuchung. Wie diese Arbeit zeigen wird, besteht ein systematischer Zusammenhang zwischen allen sechs Romanen, der sich an stilistischen Idiosynkrasien aufzeigen lässt. Für diese lässt sich eine Entwicklung nachzeichnen: Die ersten beiden Romane Less Than Zero26 und The Rules of Attraction27 sind emotionslos erzählt. Dabei 22 Dabei „werden emotionale Wirkungsabsichten dominant aus [den] Texten erschlossen.“ Es handelt sich damit um „vorrangig textanalytische Aussagen, verbunden mit kontextanalytischen“ (Anz, Thomas: „Gefühle ausdrücken, hervorrufen, verstehen und empfinden. Vorschläge zu einem Modell emotionaler Kommunikation mit literarischen Texten.“ In: Sandra Poppe (Hg.): Emotionen in Literatur und Film. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012. S. 155-170. Hier zitiert S. 159.). Der Modell-Leser nimmt somit die Rolle eines im Text antizipierten, aber fiktiven Adressaten ein, dessen Reaktionen auf den Text aus dem Text abgeleitet werden können. 23 S. hierzu das Figurenregister im Anhang der Arbeit, in welchem alle erwähnten Romanfiguren aufgelistet sind und den Romanen, in denen sie auftreten, zugewiesen werden. 24 Young, „The Beast in the Jungle“, S. 109. 25 Murphet, American Psycho, S. 12. 26 Ellis, Bret Easton: Less Than Zero. New York: Random House 1998.

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handelt es sich beim Erstlingsroman um einen ersten zaghaften Versuch, über einen distanziert handelnden und erzählenden Protagonisten eine Distanz zum Leser aufzubauen. Besondere Aufmerksamkeit wird bei der Analyse auf den Leitmotiven Drogen, Sex und Gewalt liegen, die für Less Than Zero exemplarisch untersucht werden sollen und übertragbar sind auf alle Folgeromane. Im Nachfolger The Rules of Attraction wird das Distanzierungsmoment wieder aufgegriffen und durch multiperspektivisches Erzählen variiert. Die Analyse macht den Roman darüber hinaus als Text einer Entfremdungsdepression lesbar. Dabei spielt für beide Romane das soziale Umfeld eine besondere Rolle. Insofern wird auf Grundlage der in Kapitel 3.2 vorgestellten soziologischen Theorien eine Einordnung der Figureninteraktionen vorgenommen, die die intratextuellen sozialen Beziehungen berücksichtigt. Mit Ellis’ drittem Roman American Psycho ändert sich die Erzählweise: Sie wechselt von emotions- zu affektlos. Diesem Erzählduktus schließt sich auch der vierte Roman Glamorama28 an. Während jedoch American Psycho zu einer Affektfülle im Leser führt, übernimmt er in Glamorama die Affektlosigkeit des Protagonisten. Ab American Psycho stoßen auch die soziologischen Erklärungsmöglichkeiten an ihre Grenzen. Waren sie bis dahin ein hilfreiches Instrument, um die Figureninteraktionen einsichtig zu machen, müssen sie an Charakteren wie Patrick Bateman und Victor Ward größtenteils scheitern. Von nun an stehen narratologische Fragen im Vordergrund der Analyse. Mit Glamorama stellt sich noch ein weiterer Wendepunkt in Ellis’ Gesamtwerk ein. Waren die Texte bis dahin fragmentarisch und folgten scheinbar keiner chronologischen Ordnung, zeichnen sich die übrigen Romane ab Glamorama durch eine kohärente, sich entwickelnde Handlung aus. Eine Sonderposition nimmt Ellis’ autobiografisch gefärbter Roman Lunar Park29 ein, der aus dem bis dato etablierten Muster aus emotions- oder affektlosem Erzählen herausfällt. Dabei handelt es sich um den ersten und einzigen Roman, der zu einer Identifikation mit dem Protagonisten einlädt und dessen psychologisch-emotionale Bereiche klar benennt. Daher nimmt auch die Analyse Lunar Parks eine Sonderstellung innerhalb der vorliegenden Arbeit ein. Mit Imperial Bedrooms30 schließlich kehrt Ellis zu seinem bewährten Erzählstil zurück, indem er die Kategorien des emotions- und affektlosen Erzählens miteinander vermengt und so zu einer neuen Erzählweise gelangt. Man kann für die Entwicklung des Erzählstils somit von einer Überbietungsstruktur sprechen: Was zunächst nur zaghaft mit einer Distanzierungsstrategie beginnt, wird durch kontinuierliche ‚Dosissteigerungen‘ immer weiter radikalisiert. Dabei findet der Autor bei jedem Roman andere Möglichkeiten, den Rezipienten extremen Leseerfahrungen auszusetzen. 27 Ellis, Bret Easton: The Rules of Attraction. London: Picador 2006. 28 Ellis, Bret Easton: Glamorama. New York: Random House 2000. 29 Ellis, Bret Easton: Lunar Park. London: Picador 2006. 30 Ellis, Bret Easton: Imperial Bedrooms. New York: Knopf 2010.

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1.2 B RET E ASTON E LLIS : P UBLIKATION , R EZEPTION , F ORSCHUNG Allzu oft waren diese extremen Leseerfahrungen Gegenstand der literaturkritischen Diskussion. Im Zentrum stand weniger die Frage, ob die Texte gut oder schlecht geschrieben seien, sondern oftmals ihre angebliche moralische Verwerflichkeit. So wurde Ellis als Pornograf und Misogyn verdammt, aber auch als Skandalautor berühmt, sogar als Wunderkind der 1980er Jahre gefeiert – Bret Easton Ellis ist eine schillernde Figur, der in den Feuilletons große Aufmerksamkeit gewidmet, die von der Wissenschaft aber lange Zeit ignoriert wurde. „Ellis is an important but underappreciated artist. His novels are greeted with equal portions of condemnation and praise. His books have been translated into 26 languages and are studied and taught throughout the world though he has yet to win a major literary award. But the tide is turning. His name appears with increasing frequency in recent scholarship on violence and representation, literature and ethics, writing and responsibility, globalization and terror. Critics within academia and outside it attest to Ellis’ growing significance.“31

Erst seit den 2000er Jahren ist ein wachsendes Interesse an Ellis’ Texten in der Forschung zu beobachten, wobei nicht wenige Wissenschaftler die geradezu seismische Wirkung seines Romans American Psycho hervorheben, die überragende Bedeutung dieses Textes für die gegenwärtige Literatur und Kultur betonen und nicht müde werden zu bekräftigen, dass dieser Roman Ellis’ Meisterwerk sei. Überblick: Publikations- und Rezeptionsgeschichte Schon sein erster Roman, den er Gerüchten zufolge innerhalb eines Monats auf dem Fußboden seines Wohnheimzimmers am Liberal Arts College Bennington im Alter von 21 Jahren schrieb,32 wurde ein durchschlagender kommerzieller Erfolg. Seinem Förderer und Mentor Joe McGinniss33 hatte Ellis den Kontakt zum Verlag Simon &

31 Mandel, Naomi (Hrsg.): Bret Easton Ellis – American Psycho, Glamorama, Lunar Park. London – New York: Continuum 2011. S. 1. 32 Freese, Peter: „Bret Easton Ellis, Less Than Zero: Entropy in the ‚MTV Novel‘?“ In: Reingard M. Nischik/Barbara Korte (Hg.): Modes of Narrative. Approaches to American, Canadian and British Fiction. Würzburg: Königshausen & Neumann 1990. S. 68-87. Hier S. 68. 33 McGinniss ist ein US-amerikanischer Schriftsteller, der mit seinem 1969 erschienen Buch The Selling of the President zu plötzlicher Berühmtheit gelangte. In diesem Bestseller des politischen Journalismus beschrieb er die Marketingstrategien des US-Präsidenten Richard Nixon während seiner Wahlkampfkampagne im Jahr 1968. Während Ellis als

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Schuster zu verdanken, der prompt Interesse daran zeigte, das Manuskript des Literaturstudenten zu veröffentlichen.34 Im Jahr 1985 erschien Less Than Zero auf dem amerikanischen Buchmarkt und schlug unerwartet hohe Wellen bei der Leserschaft: Die Geschichte eines Jungen namens Clay, der in den Weihnachtsferien bei einem vierwöchigen Heimaturlaub zwischen Drogen, Sex, Partys und Gewalt am eigenen Leben fast zugrunde geht, wurde als Stimme des Zeitgeistes der 80er Jahre interpretiert und als erschütternde Diagnose einer gesamten Generation verstanden.35 Dies ist unter anderem dem Umstand zu verdanken, dass zur selben Zeit andere blutjunge Autoren wie Tama Janowitz (Slaves of New York, 1986) und Jay McInerney (Bright Lights, Big City, 1986) thematisch ähnlich situierte Romane veröffentlichten.36 Dank der großen Aufmerksamkeit durch die Presse und der geschickten PRArbeit durch den Verlag erreichte Less Than Zero schnell hohe Verkaufszahlen und wurde in den Rezensionen vernichtend verrissen, aber auch euphorisch gelobt. 37 Umso enttäuschter war das Publikum vom Nachfolgeroman The Rules of Attraction (1987). Erneut im studentischen Milieu angesiedelt, werden die Protagonisten auf einem wilden Ritt von Party zu Party, von Absturz zu Absturz begleitet, um dabei die Abgründe der adoleszenten Selbstfindungsphase offenzulegen. The Rules of Attraction fiel jedoch bei der Leserschaft und den Kritikern gnadenlos durch, da er vielen wie eine wiedergekäute Version seines Vorgängers erschien: Der Roman wurde ein Flop.38 Nach dem Studium umgezogen nach Manhattan und inspiriert durch die neu erworbenen Kontakte an der Upper East Side, begann Ellis an einem Roman über Student am Bennington College eingeschrieben war, war McGinniss dort als Dozent tätig. 34 Voßmann, Ursula: Paradise Dreamed: Die Hölle der 80er Jahre in Bret Easton Ellis’ Roman „American Psycho“. Essen: Die Blaue Eule 2000. S. 13. 35 Steur, Horst: Der Schein und das Nichts. Bret Easton Ellis’ Roman Less Than Zero. Essen: Die Blaue Eule 1995. Hier S. 12. 36 Die drei wurden gemeinsam mit einigen weiteren jungen Autoren und Schauspielern unter dem Schlagwort Brat Pack als lose zusammenhängende Gruppe einflussreicher, junger Künstler gefeiert. Dazu zählten neben Ellis, Janowitz und McInerney z.B. die Autoren Jill Eisenstadt und Mark Lindquist, sowie die Schauspieler Emilio Estevez, Andrew McCarthy, Demi Moore, Rob Lowe und andere. Die Clique fiel nicht nur durch ihre künstlerische Arbeit, sondern vor allem durch ihr exzessives Partyverhalten auf. 37 Für eine ausführliche Zusammenfassung der Rezensionen und Kritiken siehe Steur, Der Schein und das Nichts, S. 14ff. An dieser Stelle wird auf eine Wiederholung der Pressestimmen verzichtet. 38 Voßmann, Paradise Dreamed, S. 14 sowie Steur, Der Schein und das Nichts, S. 23 und Baelo-Allué, Sonia: Bret Easton Ellis’s [!] Controversial Fiction. Writing Between High and Low Culture. London – New York: Continuum 2011. Hier S. 14.

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die Wall Street zu schreiben, in welchem er plante, die Oberfläche der New Yorker Elite kritisch zu beleuchten, indem er die Geschichte eines Serienmörders in diesem Milieu ansiedelte: American Psycho entstand. Als jedoch bekannt wurde, mit welch drastischem Detailreichtum Ellis die Foltermorde in seinem neuen Roman darzustellen beabsichtigte, machte Simon & Schuster einen Rückzug und kündigte den Vertrag mit Ellis, der ihn mit einem Vorschuss von 300.000 $ ausgestattet hatte.39 Kaum zwei Tage später sicherte sich Random House die Rechte an dem fertigen Manuskript und publizierte American Psycho 1991 als Taschenbuchauflage – die moralische Empörung der Kritiker brach alle Dämme.40 Dabei bezog sich der moralinsaure Aufruhr vor allem auf die fünf bis zehn Prozent des Buches, in welchen bestialische und in ihrer grausamen Explizität kaum lesbare Gewalttaten beschrieben werden,41 während der Großteil des Romans anscheinend keine Berücksichtigung fand. Überdies wurde Ellis nicht nur auf unsachliche und beleidigende Weise angegriffen. Die National Organization for Women rief unter ihrer Präsidentin Tammy Bruce zum Boykott des Romans auf. Ellis erhielt sogar anonyme Morddrohungen. Kaum ein Buch zuvor hatte die Gemüter der Leser- und Kritikerschaft je so erregt wie American Psycho.42 Die negative Berichterstattung über den Roman war reißerisch, polemisch und oftmals unter der Gürtellinie, ließ gar bezweifeln, ob die Rezensenten das Buch überhaupt gelesen hatten, und die positiven Stimmen, wie etwa Norman Mailer, der sich in der amerikanischen Zeitschrift Vanity Fair in einem verteidigenden Aufsatz zur Debatte äußerte, 43 blieben eher wirkungslos. Dennoch wurde der Roman ein Verkaufsschlager. 39 Flory, Alexander: „Out is in.” Bret Easton Ellis und die Postmoderne. Dissertation, Universität Heidelberg 2006. http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/volltexte/ 2006/7038/pdf/Out_is_in.pdf vom 15.04.2010. 40 Die bissige Rezension Rosenblatts ist nur ein Beispiel von vielen. Für eine ausführliche Darstellung der Pressereaktionen siehe Voßmann, Paradise Dreamed, S. 24ff. 41 Diese waren auch in Deutschland maßgeblich für die Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, die 1995 den Roman auf den Index setzte. Erst nach einer Klage des Verlags Kiepenheuer & Witsch wurde der Roman 2001 wieder zum Verkauf freigegeben. 42 Allerdings gab es natürlich vorher bereits Literaturskandale, wie etwa ausgelöst von Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) oder Vladimir Nabokovs Lolita (1955). 43 Mailer, Norman: „Children of the Pied Piper.“ In: Vanity Fair Vol. 3 (1991), S. 154-221. Obwohl Mailer den Roman vor seinen Kritikern verteidigte und die Versuche, den Roman zu boykottieren, verurteilte, hielt er ihn insgesamt für eher misslungen, da er die psychologische Tiefe der Hauptfigur vermisste. Er hielt den Protagonisten für unglaubwürdig, da im Roman weder psychologische noch motivische Gründe für seine Gewalttaten angegeben werden.

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Mit Ellis’ neu entfachter Popularität ging jedoch auch ein psychischer Absturz einher. Er trank zu viel, nahm Drogen, litt unter dem Tod seines Vaters. Immer wieder zurückgeworfen in seinem Schaffensprozess, schrieb Ellis an seinem nächsten Roman Glamorama (1998) sieben Jahre. In der Zwischenzeit veröffentlichte er auf Drängen seines Verlags die Kurzgeschichtensammlung The Informers (1994), die jedoch ebenfalls bei den Kritikern durchfiel. Sie wurde als „anticlimatic disappointment“ 44 aufgefasst und stieß auf wenig Publikumsinteresse, möglicherweise auch, weil der Verlag keine größere Promotionskampagne anstrengte.45 Mit Glamorama gewann Ellis schließlich die Kritikerstimmen wieder für sich, denn obwohl auch dieses Buch an expliziten Gewaltdarstellungen und Pornografie nicht spart, verzichtet er doch auf eins: die Verbindung von Sex und Gewalt. Hatten vor allem die Foltermorde in American Psycho, denen Vergewaltigungen vorausgingen und Nekrophilie folgten, die Gemüter heftig erregt, so hielt er diese beiden Zutaten in Glamorama nun voneinander getrennt. Das Ergebnis war ein Roman, der von Kritikerseite Zuspruch erhielt, der jedoch nicht das Publikumsinteresse erzeugte wie American Psycho. Zwar wurde auch Glamorama wieder ein Bestseller, konnte seinen Vorgänger aber nicht übertreffen. Mittlerweile war der Name Bret Easton Ellis zu einer Marke geworden, was sich auch in den Rezensionen des Romans spiegelte, die sich weniger mit dem Produkt als vielmehr mit dem Produzenten beschäftigten: Die Zeitungen waren voll mit Kommentaren zu Ellis’ Lebensstil, seinem angeblichen Persönlichkeitsprofil und Ruhm, wohingegen ernsthafte Rezensionen in der Minderzahl waren.46 Diesen Fokus auf die öffentliche Person Bret Easton Ellis griff Ellis mit seinem nächsten Roman Lunar Park (2005) auf, der weitere sieben Jahre nach Glamorama erschien. Mit ihm legte er eine autofiktionale Bearbeitung seiner eigenen Vergangenheit als Skandalautor sowie seiner problematischen Beziehung zu seinem Vater vor – verpackt in eine Horrorstory. Obwohl Ellis bis dahin unterstellt worden war, mit allen seinen Romanen autobiografische Anteile zu transportieren, stieß ausgerechnet der offensichtlich autobiografisch gefärbte Roman Lunar Park in dieser Hinsicht auf wenig Interesse. Die Kritikerschaft ereiferte sich stattdessen über die angeblich misslungene Horrorgeschichte, die von Klischees nur so strotze, mit Stereotypen vom haarigen Monster bis hin zum wandelnden Skelett überladen sei und alles in allem einen schlechten Abklatsch eines Stephen King-Romans darstelle. 47 Daher ist es einigermaßen verwunderlich, dass eine der wenigen positiven Pressestimmen ausgerechnet von Stephen King stammte, der zwar zugab, dass Ellis offensichtlich kein Experte für Horrorgeschichten sei, der in dem Roman aber einen 44 Baelo-Allué, Controversial Fiction, S. 3. 45 Ebd., S. 13. 46 Für eine ausführliche Darstellung der Pressestimmen siehe ebd., S. 131-141. 47 Für eine umfassendere Schilderung der Rezeption von Lunar Park siehe ebd., S. 177-181.

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ironischen Unterton erkannt haben wollte und Ellis euphorisch dafür lobte, mit diesem Buch seinen Lesern ins Herz sehen zu können.48 Dank der ‚Marke Ellis‘ wurde auch Lunar Park ein kommerzieller Erfolg. Während des Schreibprozesses an Lunar Park, in dem Ellis sich unter anderem mit seinem Ruf als Skandalautor befasste, stellte er sich die Frage, was aus seiner ersten Romanfigur Clay geworden sein mochte.49 Aus einer Vielzahl an Notizen, die er über ein Jahr sammelte, entstand schließlich sein bis dato letzter Roman, Imperial Bedrooms, der im Jahr 2010 erschien. Der Roman erhielt ein durchwachsenes Presseecho: Er wurde als brillantes, moralisch anspruchsvolles Meisterwerk verstanden, ebenso aber auch als uninspirierte, flache Wiederauflage des Erstlingsromans.50 Obwohl das Feuilleton sich uneinig war, blieben die Rezensionen zum 48 Flory, Out is in, S. 319. 49 Ellis in einem Interview mit der Zeit vom 29.07.2010. Kober, Henning: „Ich bin American Psycho.“ In: Die Zeit, 29.07.2010, Nr. 31. http://www.zeit.de/2010/31/L-B-BretEaston-Ellis-Interview/seite-1 vom 30.05.2012. 50 Da es bislang noch keinen vollständigen Überblick über die Pressereaktionen gibt, auf den an dieser Stelle verwiesen werden könnte, soll hier ein kurzer Auszug erfolgen, der einen recht guten Eindruck zu vermitteln vermag. Molly Young urteilte in der Barnes&Nobles Review, dass Ellis es als einer der wenigen amerikanischen Autoren vermöge, über das Phänomen der Ennui zu schreiben. Sie sieht Imperial Bedrooms als „book with pleasurable sentences and tensions; with pulpy twists and shivering scenarios“. (Young, Molly: „Imperial Bedrooms.“ In: Barnes&Nobles Review, 15.06.2010 http://bnreview.barnesandnoble.com/t5/blogs/blogarticleprintpage/blog-id/reviews/article -id/804 vom 30.05.2012) Noch begeisterter zeigte sich Alison Kelly in The Guardian, die den Romans als „brilliantly written and coolly self-aware“ befand und den moralischen Anspruch des Textes hervorhob. (Kelly, Alison: „Imperial Bedrooms by Bret Easton Ellis.“ In: The Guardian, 27.06.2010. http://www.guardian.co.uk/books/2010/jun/27/ imperial-bedrooms-bret-easton-ellis-book-review vom 30.05.2012) Nick Garrard ist im Independent weniger überzeugt vom Roman und glaubt, dass Fans von Ellis ihn lieben würden, sieht jedoch wenig Potenzial, die Leser zu packen, die schon seinen vorherigen Romanen nicht angetan waren. (Garrard, Nick: „Imperial Bedrooms, by Bret Easton Ellis.“

In:

The

Independent,

4.

Juli

2010.

http://www.independent.co.uk/arts-

entertainment/books/reviews/imperial-bedrooms-by-bret-easton-ellis-2016515.html vom 30.05.2012) Bei der New York Times fällt Imperial Bedrooms durch: Erica Wagner findet den Roman flach und repetitiv, Janet Maslin bemängelt, er sei „without shock value“ und „a work of limited imagination“. (Wagner, Erica: „Bret Easton Ellis, Back to Zero.“ In: The

New

York

Times,

25.

Juni

2010.

http://www.nytimes.com/2010/06/27/

books/review/Wagner-t.html vom 30.05.2012, Maslin, Janet: „From ‚Less Than Zero‘ to More Anomie.“ In: The New York Times, 23.06.2010. http://www.nytimes.com/2010/ 06/24/books/24book.html vom 30.05.2012)

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ersten Mal seit American Psycho auf einem sachlichen Niveau, das weder den Autor Ellis persönlich angriff noch den Roman als Schund abklassifizierte. Ähnlich wie die Kritik, die Ellis lange Zeit die Anerkennung als ernstzunehmenden Autor vorenthielt, hat auch die Wissenschaft seine Arbeit lange vernachlässigt und seine Texte auf die skandalträchtigen Inhalte reduziert. Erst in den letzten Jahren hat sich diesbezüglich der Tenor geändert. Überblick: Forschung Zwar erschienen in den 1990er Jahren bereits vereinzelte Veröffentlichungen, zumeist jedoch zu Ellis’ drittem Roman American Psycho. Mit den fiktionalen Bekenntnissen eines Serienmörders erwachte auch das wissenschaftliche Interesse an Ellis’ Werk, das bis dahin sehr zögerlich gewesen war. Mit dem Skandal, der der Veröffentlichung von American Psycho vorausging, und den rekordverdächtigen Verkaufszahlen danach entwickelte sich zunehmend die Erkenntnis, dass Ellis nicht nur ein Autor von Unterhaltungsliteratur war, sondern mit seinen Texten kritisch Stellung bezog zu aktuellen Problemen der US-amerikanischen Gesellschaft51 und darüber hinaus diese Kritik in eine Form verpackte, die selbst scharfe Kritik geradezu heraufbeschwor – der Reigen aus Kritisieren und Kritisiert-Werden weckte die Aufmerksamkeit der Literaturforschung. Dies hatte jedoch zur Folge, dass die meisten akademischen Beiträge sich mit American Psycho befassten und die beiden Vorgängerromane Less Than Zero und The Rules of Attraction im Sog des berüchtigten Skandalromans untergingen. Während zu The Rules of Attraction bis heute kaum publiziert worden ist, liegt zu Less Than Zero mittlerweile eine zwar beschränkte, aber brauchbare Auswahl an Forschungsbeiträgen vor. Zu den bekanntesten dürfte Freeses Aufsatz „Bret Easton Ellis, Less Than Zero: Entropy in the MTV novel?“ von 1990 zählen, der noch heute als grundlegend betrachtet wird, da er erste Beobachtungen zum Roman trifft, die die folgenden Interpretationen stark beeinflusst haben. Freese versucht in seinem Artikel, das kommunikationstheoretische Modell der Entropie auf Ellis’ Erstling anzuwenden.52 Auch Elizabeth Youngs 51 So kritisiert Ellis mit Less Than Zero das Milieu der Schönen und Reichen Hollywoods, mit American Psycho die Auswirkungen der Reagan-Ära auf die politisch-sozialen Zustände der USA, mit Glamorama das Diktat der Schönheitsindustrie, mit Imperial Bedrooms die neo-imperialistische Ausbeutung am Arbeitsmarkt. Zu einer detaillierten Ausarbeitung der Kritik s. Colby, Georgina: Bret Easton Ellis: Underwriting the Contemporary. New York: Palgrave MacMillan 2011. 52 Ich halte den Aufsatz von Freese für überschätzt. Er appliziert das Modell der Entropie auf den Roman, obwohl es keine Hinweise darauf gibt, dass der Text dies intendiert. Jedoch ist Freeses Ansatz bislang nicht hinterfragt worden, sondern wurde stets als evidenter Zugang zum Text gehandelt. Meiner Auffassung nach zwängt Freese den Text damit unnötigerweise in ein Korsett. Der Vollständigkeit halber und da es nur wenig For-

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Beitrag „Vacant Possession. Less Than Zero – A Hollywood Hell“53 von 1992 ist viel beachtet worden. Sie analysiert den Roman als exemplarisch für die „blank fiction“.54 Als erste Ganzschrift zu Less Than Zero ist Horst Steurs ambitionierte Arbeit Der Schein und das Nichts. Bret Easton Ellis’ Roman Less Than Zero zu vermerken, der 1995 mit seiner umfassenden Analyse das erste Buch zum Roman vorlegte. Steur befasst sich hauptsächlich mit den (pop-)kulturellen Verweisen, die im Roman als Folie für die in ihm proklamierte Kritik verwendet werden. Dennoch bleiben die Forschungsbeiträge zu Less Than Zero bis heute eher in geringer Anzahl. Auf das größte Interesse stößt ungebrochen Ellis’ dritter Roman American Psycho, der mit einer regelrechten Flut an Veröffentlichungen bedacht wurde. Ihm wurde eine schier unübersichtliche Anzahl an Aufsätzen gewidmet, die sich mit den verschiedensten Aspekten des Romans befassen: Pornografie, Voyeurismus, Gewalt, Konsum, Postmoderne, Hyperrealität, Maskulinität, unzuverlässiges Erzählen, sogar Autismus – die Schlagworte sind zahlreich.55 Wenige Monografien sind ebenfalls zu American Psycho erschienen, so z.B. Ursula Voßmanns Paradise Dreamed: Die Hölle der 80er Jahre in Bret Easton Ellis’ Roman American schungsliteratur zu Less Than Zero gibt, greife ich den Aufsatz in der Analyse dennoch kritisch auf. 53 Young, „Vacant Possession“, S. 21-42. 54 Graham Caveney und Elizabeth Young beschreiben „blank fiction“ in der Einleitung zu ihrem Sammelband als „flat affectless prose which dealt with all aspects of contemporary urban life: crime, drugs, sexual excess, media overload, consumer madness, inner-city decay and fashion-crazed nightlife.“ (Caveney, Graham/Young, Elizabeth (Hg.): Shopping in Space. Essays on American „Blank Generation“ Fiction. London – New York: Serpent’s Tail 1992. S. xii) James Annesley definiert „blank fiction“ unter dem Zugeständnis „[y]ou might not be sure what it is, but you can be sure that it’s out there“, ergänzend als „desire to focus their work on the experiences of American youth (teen, twenty and thirty somethings). Their novels are predominantly urban in focus and concerned with the relationship between the individual and consumer culture. Instead of dense plots, elaborate styles and political subjects that provide the material for writers like Toni Morrison, Thomas Pynchon and Norman Mailer, these fictions seem determined to adopt a looser approach. They prefer blank, atonal perspectives and fragile, glassy visions. This familial resemblance is strengthened by a common interest in the kinds of subjects that obsessed William Burroughs, Georges Bataille and the Marquis de Sade. They are, as Amy Scholder and Ira Silverberg suggest, preoccupied with ‚sex, death and subversion‘.“ (Annesley, James: Blank Fiction. Consumerism, Culture and the Contemporary American Novel. New York: St. Martin’s Press 1998. Hier zitiert S. 1 und 2.) 55 Einzelne Titel, die für die vorliegende Arbeit zur Anwendung gelangt sind, sind den Literaturangaben am Ende dieser Arbeit zu entnehmen.

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Psycho aus dem Jahr 2000, in der sie die Yuppie-Kultur in Relation zur Pathologie des Serienmörders setzt, und Julian Murphets Interpretationshilfe Bret Easton Ellis’s [!] American Psycho. A Reader’s Guide von 2002. Zu Glamorama und Lunar Park wurde nur eine sehr überschaubare Anzahl von Beiträgen veröffentlicht; die wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die diesen beiden Romanen bislang gewidmet wurde, ist keineswegs mit dem regelrechten Hype vergleichbar, der von American Psycho ausgelöst wurde. Der Terrorismusroman Glamorama wurde nach dem Anschlag auf das World Trade Center häufig im Kontext von 9/11 gelesen, obwohl der Roman vor den Ereignissen des Jahres 2001 erschien. Diese Lesart vertreten z.B. Per Serritslev Petersen mit „9/11 and the ‚Problem of Imagination‘: Fight Club and Glamorama as Terrorist Pretexts“56 von 2005 und William Stephenson in seinem Aufsatz „A terrorism of the rich: Symbolic Violence in Bret Easton Ellis’s [!] ‚Glamorama‘ and J.G. Ballard’s ‚SuperCannes‘“ 57 von 2007. Lunar Park wurde vereinzelt als Autofiktion interpretiert, etwa von Ruth Cain in ihrem 2011 erschienenen Artikel „Imperfectly Incarnate: Father Absence, Law and Lies in Bret Easton Ellis’ Lunar Park and John Burnside’s A Lie About My Father“.58 Ellis’ bislang letzter Roman Imperial Bedrooms ist noch nicht allzu lang auf dem Markt, so dass es kaum wissenschaftliche Beiträge zu ihm gibt. Aber nicht nur Aufsätze oder Bücher zu den einzelnen Romanen, sondern auch einige wenige überblicksartige Sammlungen oder Monografien zum Gesamtwerk von Ellis sind mittlerweile erhältlich. So hat Alexander Flory mit seiner online verfügbaren Dissertation „Out is in“. Bret Easton Ellis und die Postmoderne von 2006 erstmals eine Analyse aller bis dahin erschienenen Romane vorgelegt, die er als Beispiele postmoderner Literatur untersucht. Sonia Baelo-Allué veröffentlichte 2011 eine Ganzschrift zu Ellis’ Werk unter dem Titel Bret Easton Ellis’s [!] Controversial Ficiton. Writing between High and Low Culture, in der sie jedoch bedauerlicherweise den zweiten Roman The Rules of Attraction unbeachtet ließ. Wie der Titel bereits verspricht, verschreibt sich Baelo-Allué der Analyse von Hochkultur und Popkultur in Ellis’ Romanen. Ein weiteres Buch zum Gesamtwerk von Ellis verfasste Georgina Colby, die unter dem Titel Bret Easton Ellis: Underwriting the 56 Petersen, Per Serritslev: „9/11 and the ‚Problem of Imagination‘: Fight Club and Glamorama as Terrorist Pretexts.“ In: Orbis Litterarum Vol. 60 (2005), S. 133-144. 57 Stephenson, William: „A terrorism of the rich: Symbolic Violence in Bret Easton Ellis’s [!] ‚Glamorama‘ and J.G. Ballard’s ‚Super-Cannes‘.“ In: Critique: Studies in Contemporary Fiction Vol. 48 (3) (2007), S. 278-293. 58 Cain, Ruth: „Imperfectly Incarnate: Father Absence, Law and Lies in Bret Easton Ellis’ Lunar Park and John Burnside’s A Lie About My Father.“ In: Law, Culture and Humanities 2011. S. 1-25. http://lch.sagepub.com/content/early/2011/07/19/17438721 11416924 vom 19.10.2011.

E INLEITUNG

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Contemporary alle bislang erschienenen Romane untersuchte, den ersten beiden jedoch keine eigenen Kapitel widmete, sondern zusammengefasst mit der Kurzgeschichtensammlung The Informers in einem Kapitel abhandelte. Colby versteht Ellis’ Romane als politische Texte und liest sie als zeitgenössische Kritik an uramerikanischen Werten. Ebenfalls im Jahr 2011 gab Naomi Mandel einen Sammelband mit dem Titel Bret Easton Ellis: American Psycho, Glamorama, Lunar Park heraus, in dem zu jedem der titelgebenden Romane drei Artikel mit unterschiedlichen Interpretationsansätzen enthalten sind. Die beiden Frühwerke sowie der letzte Roman werden von der Aufsatzsammlung jedoch nicht berücksichtigt. Dieser kurze Forschungsüberblick59 zeigt, dass das wissenschaftliche Interesse an Ellis in den letzten Jahren zugenommen hat, sich jedoch nach wie vor auf American Psycho konzentriert. Vor allem Ellis’ zweiter Roman ist von der Forschung bislang sehr vernachlässigt worden, aber auch sein Erstling und der letzte Roman haben nur wenig Aufmerksamkeit erfahren. Hinzu kommt, dass sich die überwiegende Mehrzahl der Veröffentlichungen fast ausschließlich mit inhaltlichen Aspekten befasst; vor allem zu American Psycho ist der Markt mit Inhaltsanalysen förmlich überschwemmt. Narratologische und rezeptionsästhetische Arbeiten finden sich jedoch nur selten. Bevor die vorliegende Arbeit in diese Forschungslücke vorstoßen und die Romane sowohl einer inhaltlich-motivischen, stilistischen sowie rezeptionsorientierten Analyse unterziehen kann, soll aufbauend auf der klassischen Affektlehre eine theoretische Grundlage auf Basis der Erkenntnisse von Emotionspsychologie und -soziologie entwickelt werden.

59 Für einen ausführlichen Forschungsüberblick siehe die Einleitung bei Colby, Underwriting, S. 1-22.

2. Zur Grundlage: Die klassische Affekttheorie

Nicht in der Nachahmung der Tradition, in der Auseinandersetzung mit ihr liegt der Gewinn. MARTIN KESSEL/EHRFURCHT UND GELÄCHTER

Die klassische Affekttheorie hat auch heute noch einen großen Einfluss auf die Emotionsforschung. Die in der Antike erworbenen Erkenntnisse über die Affekte gelten als Grundlage für die Einsichten, die die moderne Emotionsforschung bisher erlangt hat. Eine knappe historische Abhandlung, die die antike Affektlehre, insbesondere geprägt durch Aristoteles, sowie deren Weiterentwicklung ab dem 17. Jahrhundert zusammenfasst, ist daher für das Verständnis der in Kapitel 3 vorgestellten Arbeitsdefinition von Emotion unerlässlich. In der antiken Affektlehre kommt dem griechischen Wort pathos (lat. passio, affectus, perturbatio) eine tragende Relevanz zu. Es umfasst ein Bedeutungsfeld, das in erster Linie ein passives Empfinden, ein Erleiden beschreibt. Das Erleiden des pathos ist unmittelbar mit dem Affekt verbunden, da der Affekt als etwas verstanden wird, was dem Menschen ‚angetan‘ wird, nicht als etwas, was er aktiv produziert. So wird der Affekt vergleichbar mit Krankheit oder Schmerz. 1 Vor allem die Unkontrollierbarkeit der mitunter sehr starken körperlichen Symptome, die den Affekt begleiten können, wie z.B. Schwitzen, Zittern, Herzrasen, Übelkeit oder Gänsehaut, referieren auf den Aspekt des Erleidens. Dieser impliziert zugleich, dass der Affekt mit Lust- oder Unlustgefühlen verknüpft ist. Was er spürt, ist dem Menschen entweder angenehm oder unangenehm. Zusätzlich ist eine Handlungsorientierung mit dem Affekt kombiniert, da er zu spezifischen, emotional aufgeladenen Tätigkeiten motiviert. Diese Motivation kann sich sowohl auf ethischmoralische Handlungen wie auch auf Alltagshandlungen beziehen. Knapp gesagt:

1

Grimm, Hartmut: „Affekt.“ In: Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1. Stuttgart – Weimar: Metzler 2000, S. 16-49. Hier S. 19.

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Affekte sind emotionale Beweggründe.2 Ein bestimmter emotionaler Zustand ist der Antrieb, eine bestimmte Handlung auf eine bestimmte Weise auszuführen. Der Affekt ist also nicht nur das private Erleben eines subjektiven Gefühls; durch Gestik und Mimik sowie durch Handlung erlangt er Aktivität, womit er wiederum die Affektivität und damit das Fühlen und Handeln anderer beeinflusst. Dem Affekt gelingt somit eine interessante Metamorphose: Die Passivität des Erleidens wandelt sich in die Aktivität des Handelns. Dieser Umstand führte dazu, dass die Affekte mit ihrem bekannten Handlungseinfluss in der Antike keinen allzu guten Ruf besaßen. In der griechischen Antike galt es als maßgebliche Tugend, Handlungen vernunftorientiert zu gestalten und rational zu denken. Unter dieser Prämisse beschäftigt sich Aristoteles in seinen Schriften mit den Affekten, welche er als „Widerfahrnisse der Seele“3 versteht und somit ihren passiven Charakter betont; er fordert als Ideal das Erreichen eines mittleren Grades an Affektivität, das sowohl ein Übermaß als auch einen Mangel an Emotion zu vermeiden sucht, so dass der Mensch eine innere Ausgeglichenheit verspüre, die tugendhaftem und moralischem Handeln am zuträglichsten sei. Hierfür ist die Reinigung von allzu intensiven und daher schädlichen Affekten notwendig, welche Aristoteles durch die Katharsis,4 die seelische Reinigung durch Kunst, zu erreichen suchte.5 Seiner Auffassung nach kann sich der Mensch durch gezieltes Erleben der abträglichen Affekte im Rahmen eines Theaterstücks oder eines Tanzes von ihnen befreien, indem das Kunstwerk als Katalysator wirkt und so Affekte freisetzt, die sich dann kanalisiert entladen. Aristoteles will also keineswegs die Affekte zurückhalten, sondern nur ihre unerwünschten Nebenwirkungen reduzieren

2

Zum Affekt als Beweggrund siehe von Koppenfels, Martin: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans. München: Fink 2007. S. 22f.

3

Aristoteles: Rhetorik. Zweiter Halbband. Übers. u. erläutert v. Christof Rapp. Hrsg: Hellmut Flashar. Berlin: Akademie Verlag 2002. S. 543. Die recht sperrige Übersetzung „Widerfahrnisse der Seele“ ist Rapps Anspruch geschuldet, mit der deutschen Übersetzung dem griechischen Original möglichst gerecht zu werden.

4

Aristoteles befasst sich in seinen Schriften zur Poetik mit der Tragödie, welche er dank der mimetischen Nachahmung eines emotional aufgeladenen Themas für speziell geeignet hält, um der Abfuhr von Affekten, der Katharsis, zu dienen: „Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe […] – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen erwirkt.“ Die Nachahmung von Jammer (griech. eleos) und Schauder (griech. phobos) erzeugender Handlung wirkt Aristoteles zufolge affektabführend. Aristoteles: Poetik. Übers. u. hrsg. von Manfred Fuhrmann, 1982. Stuttgart: Reclam 1984. S. 19.

5

Grimm, „Affekt“, S. 19f.

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und hofft, dies durch einen systematischen Rahmen beim Affektempfinden zu erreichen. Sein Ziel ist nicht Auslöschung, sondern Kontrolle der Affekte. Zwar wird Aristoteles heute als einer der ersten Emotionstheoretiker rezipiert, jedoch beabsichtigte er keineswegs, eine Emotionstheorie zu verfassen. Vielmehr finden sich im Corpus Aristotelicum immer wieder verstreute Bemerkungen zu diesem Thema, in seinen Ethiken ebenso wie in seinem Werk über die Seele De Anima. Überraschenderweise äußert er sich am ausführlichsten in seiner Rhetorik, in welcher er die Affekte als wirksam für die Urteilskraft des Menschen darstellt und damit als bedeutsam im Hinblick auf die Beeinflussung eines Publikums durch den Redner: „Die Emotionen sind die Dinge, durch welche sich (die Menschen), indem sie sich verändern, hinsichtlich ihrer Urteile unterscheiden und welchen Lust oder Schmerz folgt, wie zum Beispiel Zorn, Mitleid, Furcht und was es sonst noch Derartiges gibt sowie Gegenteile von diesen.“6

Eine Definition von Emotion oder Affekt fehlt, stattdessen benennt Aristoteles eine Vielzahl von affektiven Zuständen, die er phänomenologisch, aber auch nach ihren sozialen Bedingungen verortet. Diese Aufzählungen sind allerdings nicht in jedem seiner Texte identisch; er wechselt Affekte anscheinend beliebig aus. Aus den Aufzählungen der pathê kann nichtsdestotrotz auf die aristotelische Affektkonzeption rückgeschlossen werden, die sich durch drei Faktoren auszeichnet: a) den Zustand des Fühlenden. Er wird durch die „seelisch-körperliche Doppelnatur der Emotionen“7 definiert. Damit meint Aristoteles die Dualität aus seelischem Empfinden und körperlicher Begleitreaktion, der er vor allem in De Anima Aufmerksamkeit widmet. b) Die Zielperson, auf welche sich die Emotion richtet, und c) das Objekt, welches Gegenstand der Emotion ist.8 Aristoteles’ Überlegungen fußen auf der Affektkritik seines Lehrmeisters Platon, der weiter als sein Schüler geht und die Auffassung vertritt, dass Kunst zu unvernünftiger und daher überflüssiger Affekterregung verleite und auf diese Weise besonnenes Handeln verhindere.9 In seiner Staatsutopie Politeia schuf er die Idee eines perfekten Staates, aus welchem die Dichter als staatsschädliches Element ausgeschossen werden sollten. Während Aristoteles die Kunst als sinnvolles Instrument betrachtet, das durch ihre kathartische Wirkung die Kontrolle der Affekte 6

Aristoteles: Rhetorik. Erster Halbband. Übers. u. erläutert v. Christof Rapp. Hrsg: Hellmut Flashar. Berlin: Akademie Verlag 2002. S. 73. Rapp verwendet in seiner Übersetzung das Wort „Emotion“ anstelle des bis dahin üblichen Wortes „Affekt“.

7

Aristoteles, Rhetorik 2, S. 545.

8

Aristoteles, Rhetorik 1, S. 73. Zum Objektbezug von Emotionen siehe Kap. 3.1.2.

9

Grimm, „Affekt“, S. 20.

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befördert, lehnt Platon die Kunst als affekterregend und damit vernunftstörend oder sogar -hindernd ab. Die Stoiker schließlich trieben diese Affektablehnung auf die Spitze und bewerteten Affektivität grundsätzlich sehr negativ. Sie entwickelten das Ideal der Apathie, welches besagt, dass Affekte falsche Urteile seien und daher rational reguliert oder sogar unterdrückt werden müssten, da sie untauglich für vernunftgemäßes, tugendhaftes Verhalten seien. Die stoische Affektlehre geht sogar davon aus, dass Affekte widernatürlich seien und nennt sie „unvernünftige und nicht der Natur entsprechende Bewegungen der Seele“.10 Durch die Zügelung der Affekte soll gleichzeitig ihre Kultivierung erreicht werden im Hinblick auf eine Perfektionierung des Menschen als rationales Wesen.11 Während in der Antike primär der scheinbare Gegensatz von Affekt und Verstand sowie ihre (Un-)Vereinbarkeit im Mittelpunkt des Interesses stand, entwickelte sich ab dem 17. Jahrhundert ein neuer Begriff: das Gefühl. Anfänglich als Bezeichnung für eine Sinnesleistung, nämlich des Tastsinns, verwendet, erhielt sie erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts die weitere Bedeutung einer inneren, seelischen Empfindung. 12 Zunächst ist das Gefühl nichts weiter als ein diffuses seelisches Vorkommnis, welches erst durch Artikulation von einer undeutlichen Innenwahrnehmung zu einem bewussten Erlebnis wird.13 Diese Artikulation kann verbal, aber auch mimisch und/oder gestisch stattfinden und verleiht dem unklaren inneren Empfinden einen Aktualitätsbezug. Im Kontext der Ästhetik ist das Gefühl als ein Anzeiger für das Schöne und Werthafte, als reflexiv-intuitives Moment, das Schönheit und Erhabenheit erkennt, zu verstehen. Obwohl auch das Wort ‚Gefühl‘ zunächst dem negativen Begriffskontext der Irrationalität zugeordnet wurde, erlebte es sehr schnell eine Umbewertung vom Passiv-Irrationalen ins Aktiv-Vermittelnde. Scheer erläutert hierzu: „Das Gefühl zeigt an, daß etwas schön oder gut oder auf andere Weise werthaft besetzt ist; der Geist allein erkennt, warum etwas schön usw. ist.“14 Jedoch nicht nur als ästhetisches Organ für das Schöne, sondern auch als Sinn für das moralisch Richtige ist das Gefühl verstanden worden. Shaftesbury nannte

10 Diogenes Laertios: De vitis, dogmatis et apophthegmatis clarorum philosophorum, zitiert nach Grimm, „Affekt“, S. 20. 11 Franke, Ursula: „Spielarten der Emotionen. Versuch einer Begriffsklärung im Blick auf Diskurse der Ästhetik.“ In: Klaus Herding/Bernhard Strumpfhaus (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Berlin: de Gruyter 2004, S. 167-188. Hier S. 169. 12 Scheer, Brigitte: „Gefühl.“ In: Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 1. Metzler: Stuttgart – Weimar 2000, S. 629-660. Hier S. 629f. 13 Ebd., S. 632. 14 Ebd., S. 634, Hervorhebungen im Original.

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dies den moral sense und meinte damit die intuitive Begabung, gefühlsmäßig zu erspüren, ob eigenes oder fremdes Verhalten moralisch angemessen sei.15 Schon in der Antike sind demnach offensichtlich Ansätze zu einer Komponententheorie der Emotion entwickelt worden, die neben dem pathos, dem Erleiden und dem passiven Ausgeliefertsein eines Affekts, auch physische und soziale Aspekte einräumt. Erst ab dem 17. Jahrhundert erweiterte sich das Begriffsfeld um den Ausdruck des ‚Gefühls‘, das als hedonistische Seelenregung, aber auch als Indikator für Schönheit und Moral verstanden wurde. Basierend auf den hier vorgestellten Grundlagen soll es im nächsten Kapitel um eine psychologisch-soziologische Arbeitsdefinition von Affekt, Emotion und Gefühl gehen.

15 Landwehr, Hilge/Renz, Ursula: „Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien.“ In: Dies. (Hg.): Klassische Emotionstheorien. Berlin – New York: de Gruyter 2008, S. 3-17. Hier S. 10.

3. Emotionen verstehen

Emotionen sind nur scheinbar vage. Man kann sie objektivieren. ANTONIO R. DAMASIO/„MEIN GRAM WOHNT GANZ INNEN“

Emotionen sind „zentrale Phänomene unseres Lebens“,1 aber trotzdem weiß man auch im 21. Jahrhundert noch nicht genau, was diese Phänomene wirklich sind. Eine von allen Forschungsdisziplinen anerkannte, abschließende Definition gibt es bislang nicht. Da Emotionalität zumeist als intrapsychisches Phänomen aufgefasst wird, gilt die Emotionsforschung eigentlich als Domäne der Psychologie. Innerhalb dieser Wissenschaft sind verschiedenste Theorien entwickelt worden, jedoch hat sich keiner dieser Ansätze als vollständig verifizierbar erwiesen.2 Dieser Umstand de1

Meyer, Wulf Uwe/Reisenzein, Rainer/Schützwohl, Achim (Hg.): Einführung in die Emotionspsychologie, Band I. Die Emotionstheorien von Watson, James und Schachter. Bern u.a.: Huber 2001. S. 11.

2

Ein vollständiger Überblick über de Forschungslage ist an dieser Stelle nicht zielführend. Nur die drei prominentesten unter ihnen sollen hier kurze Erwähnung finden. 1. Die Emotionstheorie von William James (1884) stellt die kausalen Zusammenhänge zwischen körperlichen Veränderungen und Gefühlen in den Vordergrund, dreht jedoch ihre Gewichtung um, so dass sie der Alltagsauffassung von Gefühlen zuwider läuft. „James zufolge weint man nicht, weil man traurig ist, sondern man ist traurig, weil man weint.“ (Meyer/Reisenzein/Schützwohl, Emotionspsychologie 1, S. 133) Er machte das Phänomen Emotion hauptsächlich an somatischen Reaktionen, speziell denen des viszeralen Systems, fest. Spätere Untersuchungen konnten seine These allerdings widerlegen. 2. Der Behaviorist John B. Watson (1919) bezog sich ausschließlich auf beobachtbare Reaktionsmuster und legte den Schwerpunkt seiner Arbeit auf den Verhaltensaspekt von Emotionen. Er vertrat die Auffassung, dass nur die sogenannten Basisemotionen Furcht, Wut und Liebe angeboren seien und die übrigen, von ihm als Sekundäremotionen be-

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monstriert, dass es ausgesprochen schwierig ist, eine endgültige Definition zu entwickeln, die der empirischen Überprüfung standzuhalten vermag. An dieser Stelle ist es daher nicht sinnvoll, eine Vielzahl der existierenden Theorien und Ansätze vorzustellen, sondern sich auf eine ungefähre Charakterisierung von Emotionen zu beschränken, d.h. eine Arbeitsdefinition vorzulegen (Kap. 3.1). Diese Reduzierung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner erlaubt es, einige Grundannahmen, über die sich die heutige Emotionsforschung einig ist, zu einer groben Vorstellung darüber, was Emotionen sind, zusammenfassen zu können. Dafür wird zunächst die Affekttheorie Sigmund Freuds umrissen, um im Anschluss die moderne Komponententheorie der Emotion darzustellen. Diese ist als grundlegend für den Folgeabschnitt (Kap. 3.2) zu verstehen, in dem der Ansicht Rechnung getragen wird, dass sich Emotionalität und Sozialität gegenseitig beeinflussen und bedingen. Seit einigen Jahrzehnten gedeiht daher der Forschungszweig der Emotionssoziologie, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die gesellschaftliche Relevanz von Emotionen, ihre Entstehung im zwischenmenschlichen Umgang und ihre Bedeutung für soziale Prozesse zu untersuchen. 3 In den 1970er Jahren entstanden zwei konkurrierende Ansätze innerhalb der Soziologie,4

zeichneten Gefühle erlernt werden. Auch diese These ließ sich nicht halten und wurde experimentell falsifiziert. 3. Nachdem knapp 50 Jahre lang die Emotionsforschung größtenteils vernachlässigt wurde, wurde in den 1960er und 70er Jahren der kognitivphysiologische Ansatz entwickelt, dessen wichtigster Vertreter Stanley Schachter war. Seiner Auffassung nach ist physiologische Erregung notwendig für die Enstehung von Emotionen und bestimmt ihre Intensität, die psychische Komponente bestimmt die Qualität. Zwar ist ihm und seinen Forschungskollegen zu verdanken, dass dem Aspekt der Kognition in der Emotionsforschung neue Aufmerksamkeit geschenkt wird, jedoch konnte seine These nicht überzeugend empirisch bestätigt werden. 3

Als Vorläufer der Emotionssoziologie gelten laut Flam die Klassiker Max Weber, Georg Simmel und Emile Durkheim, die sich selbst zwar nicht explizit mit Emotionalität befasst haben, allerdings indirekt diesem Thema in ihren Werken einigen Platz einräumen. Weber stellte die Leidenschaften in den Fokus seiner Auffassung von Politik und Wissenschaft, Simmel postulierte die Signifikanz von Emotionen für zwischenmenschliche Interaktion, Durkheim beschäftigte sich in seinen Überlegungen zum Selbstmord mit der Bedeutung von Kollektivgefühlen. Flam, Helena: Soziologie der Emotionen. Eine Einführung. Konstanz: UKK 2002. Siehe S. 15-89.

4

Neben den hier vorgestellten Theorien gibt es noch weitere Ansätze, die wegen mangelnder Relevanz für das Thema dieser Arbeit nicht alle besprochen werden können. Einen guten Überblick geben Flam, Soziologie der Emotionen und Scherke, Katharina: Emotionen als Forschungsstand der deutschsprachigen Soziologie. Wiesbaden: VS 2009.

E MOTIONEN

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die beide den Einfluss „des Sozialen auf das Emotionale“5 zu erklären beanspruchen: die positivistische Theorie von Theodore D. Kemper und das symbolischinteraktionistische Konzept von Arlie Hochschild und Susan Shott.6 Darauf aufbauend sollen psychologische und soziologische Theorien die Frage klären, wie das Fehlen von Emotionen wissenschaftlich erklärbar ist. Sie bieten eine Grundlage, auf der in den später anschließenden Romananalysen die psychische Konstitution der Romancharaktere, aber auch die Figureninteraktion interpretiert werden sollen. Sie sind somit als Interpretationshilfe gedacht und müssen in den Analysekapiteln im Hinterkopf behalten werden.

3.1 E MOTIONEN ALS PRIVATES E REIGNIS : E MOTIONSTHEORIE IN DER P SYCHOLOGIE UND P SYCHOANALYSE Die Emotion als intrapsychisches Phänomen, als privates Ereignis – ausgehend von dieser Grundannahme wird im vorliegenden Kapitel eine Arbeitsdefinition von Emotion erarbeitet. Hierfür wird zunächst auf Sigmund Freuds Affektverständnis – das stark vom klassischen Affektbegriff beeinflusst ist – eingegangen, bevor im Anschluss die moderne Komponententheorie von Emotion vorgestellt wird. Bedauerlicherweise hat Freud keinen Aufsatz verfasst, der sich explizit mit dem Affektproblem befassen würde. Stattdessen finden sich in den verschiedensten Werken immer wieder verstreute Anmerkungen, knappe Ausführungen und Gedanken, die dann jedoch nicht weiter verfolgt werden. Freuds Affektverständnis ist unausgereift und unvollständig, hat jedoch für die moderne Psychologie und Psychoanalyse große Bedeutung, da seine Überlegungen das heutige Affektverständnis entscheidend mitgeprägt haben. Im Folgenden werden Freuds Ansichten über den Affekt nachgezeichnet und seine in verschiedenen Aufsätzen verteilten Ideen zusammengeführt.

5

Gerhards, Jürgen: „Die sozialen Bedingungen der Entstehung von Emotionen. Eine Modellskizze.“ In: Zeitschrift für Soziologie, Vol. 17 (3) (1988), S. 187-202. Hier zitiert S. 188.

6

Die Diskussion um Emotionen und ihre soziale Erklärbarkeit ist selbst anscheinend ein emotionales Reizthema, denn die Autoren greifen sich in ihren Texten gegenseitig scharf an und diskreditieren jeweils den Standpunkt des anderen. Dieser Streit soll an dieser Stelle jedoch nicht nachvollzogen werden.

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3.1.1 Der Affektbegriff bei Freud Um Freuds Affektverständnis diskutieren zu können, müssen zunächst einige grundlegende Begriffe geklärt werden. In seinem Aufsatz „Das Unbewußte“ von 1915 entwarf Freud das Topographische Modell der Psyche, in welchem er den psychischen Apparat in drei Systeme aufteilte: Das Bewusste (Bw), das Vorbewusste (Vbw) und das Unbewusste (Ubw). 7 Bewusst ist jede Vorstellung, die im Bewusstsein gegenwärtig, also vollständig präsent ist. Allerdings umfasst das Bewusstsein nur einen geringen Inhalt. Der weit größere Teil der psychischen Vorgänge befindet sich im Zustand der Latenz und ist somit unbewusst. Das Unbewusste umschließt zwei Typen:8 Akte, die bloß zeitweilig unbewusst sind und sich daher von bewussten Akten nicht weiter unterscheiden. Ihnen ist der Schritt vom Unbewussten ins Bewusste nicht verwehrt, sie werden als bewusstseinsfähig oder vorbewusst bezeichnet. Es handelt sich um psychische Akte, die generell abrufbar sind, sich aber nicht pausenlos im System Bw befinden, da sie zu viel Speicherplatz einnehmen würden. Sie werden zeitweilig im System Vbw eingelagert, können aber bei Bedarf ohne Behinderung in das System Bw wechseln (z.B. Erinnerungen, Weltwissen etc.). Der andere Typus des Unbewussten sind Akte, die verdrängt sind und sich, wenn sie ins Bewusstsein kämen, auffallend von den bewussten unterscheiden würden. Es handelt sich um Vorstellungen, die zwar latent im Bewusstsein vorhanden sind, jedoch unbemerkt bleiben. Sie werden von einer Funktion der Psyche, der Verdrängung, im System Ubw festgehalten, so dass sie nicht an die Oberfläche, ins System Bw, dringen können. Die Verdrängung ist ein Widerstand, der nicht die Vernichtung einer Triebrepräsentanz zum Ziel hat, sondern ihre Hinderung am Eintritt ins Bewusstsein. 9 Bei verdrängten Akten handelt es sich um Vorgänge, die zu schmerzhaft oder zu peinlich für das Ich sind, um ins Bewusstsein eindringen zu dürfen (z.B. Kindheitstraumata, sexuelle Wünsche etc.). Daraus folgt: Nicht alles Unbewusste ist verdrängt, aber alles Verdrängte ist unbewusst.“10 Dies soll ein Schaubild verdeutlichen. 7

Freud, Sigmund: „Das Unbewusste.“ In: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.): Studienausgabe Bd. III, Frankfurt a.M.: Fischer 2001, S. 125-162. Hier S. 131f. Zur Begriffsunterscheidung siehe außerdem Freud, Sigmund: „Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewussten in der Psychoanalyse.“ In: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.): Studienausgabe Bd. III, Frankfurt a.M.: Fischer 2001, S. 29-36.

8

Freud, „Das Unbewusste“, S. 131.

9

Ebd., S. 125.

10 Ebd., S. 125, vgl. auch Freud, Sigmund: „Das Ich und das Es.“ In: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.): Studienausgabe Bd. III, Frankfurt a.M.: Fischer 2001, S. 283-325. Hier S. 287.

E MOTIONEN

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Bw

= Verdrängung

Vbw

Ubw

Enthält unbewusste Inhalte, die aber ungehindert ins System Bw wechseln können, z.B. Erinnerungen

Enthält unbewusste Inhalte, die nicht ins System Bw wechseln können, da sie verdrängt sind, z.B. sexuelle Wünsche, Kindheitstraumata etc.

Abbildung 1: Darstellung der Begriffe bewusst – vorbewusst – unbewusst und ihr Verhältnis zueinander. Die Darstellung ist nicht hierarchisch zu verstehen.11

Ein nicht unerheblicher Anteil des Unbewussten besteht aus Trieben und Triebrepräsentanzen, also aus Vorstellungen, die von einem Trieb gesteuert werden, sowie

11 Zusätzlich können zwei Beispiele diese Mechanismen veranschaulichen: Ein eineinhalbjähriges Kleinkind wird in einem Einkaufszentrum von seiner Mutter verlassen. Dieses Erlebnis wird direkt im System Ubw eingelagert, da das Kind zu jung ist, um sich später an den Vorfall erinnern zu können. Dennoch kann durch das Trauma des Verlassenwerdens eine psychische Störung, etwa eine Angststörung, ausgelöst werden. Geschieht das Gleiche einem fünfjährigen Kind, kann das Erlebnis entweder als Erinnerung im System Vbw eingespeichert werden, von wo aus ungehindert der Übertritt ins Bewusstsein möglich ist – das Kind kann sich jederzeit an das Erlebnis erinnern – oder aber es wird verdrängt und im System Ubw eingelagert. Eine Erinnerung an das Erlebnis wird damit unmöglich, obwohl das Kind für die Abspeicherung des Vorfalls alt genug war. In beiden Fällen kann aus dem Trauma eine Störung entstehen. In diesem Beispiel ist ein Erlebnis, das zunächst mit dem System Bw wahrgenommen wird, in einen der beiden Speicherorte eingegangen. Es ist aber auch möglich, dass sich im System Ubw Vorgänge befinden, die nicht zunächst im System Bw erfasst worden sind. Dies können gedankliche Inhalte sein, Triebe und Wünsche. Ein verdrängter Fußfetisch kann sich im System Ubw befinden, ohne jemals zuvor im System Bw wahrgenommen worden zu sein. Zwar ist hierfür ein äußerer Stimulus notwendig – man muss vorher schon einmal einen Fuß gesehen haben, um dafür einen Fetisch entwickeln zu können –, nicht jedoch eine bewusste Assoziation der Elemente ‚Körperteil Fuß, notwendig zum gehen‘ und ‚Körperteil Fuß, sexuell erregend‘.

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Wunschregungen.12 Organisiert werden diese Triebe und Triebvorstellungen durch das Es, welches gleichzeitig von ihnen gesteuert wird. Das Es ist leidenschaftlich und amoralisch, steht unter der Herrschaft des Lustprinzips und unter dem Einfluss der Triebe, von welchen es zwei Arten gibt: die „Lebenstriebe“ und die „Todestriebe“.13 Freud unterstellt dem Es somit zwei Triebarten, die einander zuwiderlaufen und sich damit gegenseitig nivellieren: Die Sexualtriebe, oder Lebenstriebe, die den Selbsterhalt und die Vermehrung zum Ziel haben, und die Ichtriebe, oder Todestriebe, die auf den Urzustand der Leblosigkeit zustreben. Die Sexualtriebe sind dabei objektgerichtet, aber nicht zwingend mit Fortpflanzung verbunden. Der Freud’sche Sexualbegriff umfasst nicht nur geschlechtliche Lust und Unlust, sondern erstreckt sich vielmehr auf alle Bereiche, die libidinös, also lust- oder genusshaft, besetzt sein können. Entscheidend ist, dass die Sexualtriebe sich auf Ziele außerhalb des Ichs richten.14 Im Gegensatz dazu stehen scheinbar die Ichtriebe. Sie bezeichnen alle nicht näher bekannten Triebe, die keine Sexualtriebe sind. Diese können ebenfalls libidinöser Natur sein, jedoch das eigene Ich zum Objekt nehmen. Somit handelt es sich weniger um einen Gegensatz zwischen Sexual- und Ichtrieben, sondern eher um einen Gegensatz zwischen libidinösen Trieben und Destruktionstrieben. Diese wiederum können sich miteinander verbinden, wie der Sadismus zeigt, wo der vom Ich abgespaltene Todestrieb erst im Objekt zum Vorschein kommt, welches libidinös besetzt ist. Die Bedeutung der Triebe für den Affekt Warum sind diese unterschiedlichen Triebarten so wichtig? In seinem Aufsatz „Das Unbewußte“ gibt Freud die Antwort: Ein Affekt ist Ausdruck eines Triebs.15 Der Affekt ist also unmittelbar mit einem Trieb verbunden, auch wenn der Trieb unbewusst ist und durch eine ebenfalls unbewusste Vorstellung repräsentiert wird. Paradox daran ist, dass es „[z]um Wesen eines Gefühls gehört […], dass es verspürt […] wird“,16 es also bewusst ist – daher kann ein Affekt nicht unbewusst sein. Aber es ist durchaus möglich, dass der Affekt verkannt wird, also die Ursache für den Affekt (der Trieb) verdrängt wird. Er wird stattdessen mit einer anderen Vorstellung verknüpft, die dann vom Bewusstsein für den Auslöser des Affekts gehalten wird.

12 Freud, „Das Unbewusste“, S. 145. 13 Freud, Sigmund: „Jenseits des Lustprinzips.“ In: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.): Studienausgabe Bd. III, Frankfurt a.M.: Fischer 2001, S. 217-272. Hier S. 253. 14 Mit Ausnahme des narzisstischen Selbsterhaltungstriebs, der zwar den Sexualtrieben zugerechnet werden muss, jedoch auf das eigene Ich gerichtet ist. 15 Vgl. Freud, „Das Unbewusste“, S. 136. 16 Ebd.

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Dies nennt Freud den „unbewußten Affekt“:17 einen Affekt, der zwar wahrgenommen und bewusst ist, aber dessen Auslöser verdrängt wurde. Die Wahrnehmung eines Affekts äußert sich vor allem in physiologischer Veränderung und in einem Handlungsimpuls, wie Freud in einer Fußnote feststellt: „Affektivität äußert sich im wesentlichen in motorischer (sekretorischer, gefäßregulierender) Abfuhr zur (inneren) Veränderung des eigenen Körpers ohne Beziehung zur Außenwelt, die Motilität in Aktionen, die zur Veränderung der Außenwelt bestimmt sind.“18

Damit benennt Freud zwei der bestimmenden Komponenten einer Emotion, wie sie durch die klassische Affekttheorie bereits angedeutet wurden, aber er bezeichnet den Affekt vor allem als einen Abfuhrvorgang, als Entladungsmechanismus für Triebenergie. Der Affekt ist somit ein Kanal, um verdrängte Triebe abzuleiten. Die Triebe bleiben jedoch bei diesem Vorgang weiterhin verschlossen im Unbewussten. Um eine Abfuhr zustande zu bringen, muss der Affekt von seiner Vorstellung getrennt und mit einer Ersatzbesetzung belegt werden, erst dann ist eine Entstehung möglich. Durch diesen komplizierten Vorgang wird sozusagen dem Trieb auf einem Umweg Luft gemacht; da er aber weiterhin im Unbewussten als verdrängtes Element existiert, baut sich immer wieder neue Triebenergie auf, die dann abgeführt werden muss. Da es nach Freud zwei Triebarten gibt, die Lebens- und die Todestriebe, gibt es auch unterschiedliche Abfuhrreaktionen. In seinem Aufsatz „Das Ich und das Es“ (1923) setzt Freud die Sexualtriebe mit der Liebe und die Todestriebe mit dem Hass gleich,19 nimmt also eine Polarisierung vor, die positiven und negativen Emotionen entspricht und zwischen denen verschiedene Abstufungen möglich sind. Das Ich schwankt somit nicht ausschließlich zwischen Liebe und Hass als Abfuhrvorgänge für Sexual- oder Destruktionsenergie, sondern erlebt auch Zwischenstufen. Der Affekt als phylogenetisch ererbtes Symbol Obwohl Freud den Auslöser für Affektivität bestimmt – die Triebe, die im Es beheimatet sind –, ist noch unklar, was ein Affekt eigentlich ist. In seinem 1925 verfassten und 1926 erschienenen Aufsatz „Hemmung, Symptom und Angst“ gibt er schließlich zu, nicht zu wissen, was ein Affekt sei.20 Er bezeichnet den Affekt als etwas Empfundenes und greift damit auf die bereits 1923 geäußerte Auffassung 17 Ebd. 18 Ebd., S. 138. 19 Freud, „Das Ich und das Es“, S. 309. 20 Freud, Sigmund: „Hemmung, Symptom und Angst.“ In: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.): Studienausgabe Bd. VI, Frankfurt a.M.: Fischer 1971, S. 233-294. Hier S. 273.

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zurück, Affekte seien bewusste innere Empfindungen.21 Diese bestehen aus einem spezifischen Lust- oder Unlustcharakter, einer Abfuhrreaktion und der Wahrnehmung dieser Abfuhrreaktion. Erneut bezieht er sich auf Überlegungen, die er schon früher festhielt in der bereits 1917 gehaltenen Vorlesung über die Angst, in welcher er klarstellte, dass der Affekt zusammengesetzt sei aus zwei Komponenten, einerseits der motorischen Innervation oder Abfuhr und andererseits gewissen Empfindungen, nämlich der Wahrnehmung der motorischen Aktion und Lust oder Unlust.22 Auch Freud stellt demnach wiederholt fest, dass ein Affekt 1.) körperliche Auswirkungen hat, die physiologischen oder, wie er sie nennt, motorischen Veränderungen, oftmals als Abfuhr bezeichnet, und 2.) innerpsychische Auswirkungen, die charakteristischen Lust- oder Unlustgefühle. Weiter differenziert er den Affekt nicht, sondern bleibt in Übereinkunft mit dem klassischen Affektverständnis bei diesen beiden Komponenten. Auch wenn Freud in seiner Vorstellung vom Affekt recht nah an der klassischen Affekttheorie bleibt, erweitert er sie zumindest um zwei Aspekte: Der erste betrifft den Ursprung der Affektivität in der Triebtheorie (s.o.). Der zweite hingegen beleuchtet seine anthropologische Bedeutung, die am besten durch zwei Zitate verdeutlicht werden kann: „Die Affektzustände sind dem Seelenleben als Niederschläge uralter traumatischer Ereignisse einverleibt und werden in ähnlichen Situationen wie Erinnerungssymbole wachgerufen.“ „Affekte sind Reproduktionen alter, lebenswichtiger, eventuell vorindividueller Ereignisse.“23

Freud betrachtet Affekte also als phylogenetisch ererbte Symbolstrukturen, die beim Durchleben bestimmter Situationen reproduziert werden. Was so kompliziert klingt, ist im Kern der Sache aber recht wahrscheinlich. Freud zufolge wird der Mensch nicht als weißes Blatt geboren, das ab dem Zeitpunkt der Geburt beschriftet wird. Einige Strukturen und Muster sind schon vorgeprägt, so auch die Fähigkeit zur Emotionalität, die jedem Menschen angeboren ist. Schon ein Neugeborenes kann Wut, Angst und Freude ausdrücken; diese Affekte braucht es nicht zu erlernen, denn sie sind in seiner genetischen Anlage eingeschrieben.24 Der erste Moment 21 Freud, „Das Ich und das Es“, S. 288. 22 Freud, Sigmund: „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse: 25. Die Angst.“ In: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.): Studienausgabe Bd. I, Frankfurt a.M.: Fischer 2003, S. 380-397. 23 Freud, „Angst“, S. 239 u. S. 274. 24 Von dieser Hypothese gehen die evolutionspsychologischen Emotionstheorien aus, als deren Vorreiter Darwin gesehen wird. Er befasste sich in seiner Evolutionstheorie auch mit dem Emotionsausdruck als Faktor zur Steigerung der Fitness. Dabei wird zumeist

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der Angst, den ein Neugeborenes erlebt, ist also die Reproduktion eines Affektzustandes nach phylogenetisch ererbtem Erinnerungsbild. Das erste individuelle Angsterlebnis ist Freud zufolge die Geburtsangst. Er weist aber darauf hin, dass es unangebracht wäre, davon auszugehen, dass jedes neue Angsterlebnis eine Wiederholung der Geburtsangst wäre. Er geht davon aus, dass das Neugeborene die Geburtsangst als individuelles Erlebnis abspeichert, die erstmalig empfundene Angst jedoch ein einprogrammiertes Affektmuster ist, das es ererbt hat. Freud zufolge sind Affekte Signale, die sich, evolutionstheoretisch betrachtet, auf vorindividuelle Ereignisse beziehen und aus traumatischen Erlebnissen entstanden sind. Ein Affekt ist bei Freud also in zwei Richtungen bedeutsam: einerseits als Entladungsmechanismus für Triebenergie und andererseits als Reproduktion phylogenetisch ererbten und damit vorindividuellen Traumamaterials. Die Verdrängung als Ursache für Affektlosigkeit Nicht nur auf die Frage, wie ein Affekt entsteht, sondern auch auf die Frage, wie Affektlosigkeit zu Stande kommt, hat Freud eine Antwort: Verdrängung. Das Ziel der Verdrängung ist es nicht nur, den Trieb, welcher durch den Affekt repräsentiert wird, zu unterdrücken und daran zu hindern, ins Bewusstsein vorzudringen, sondern auch den Affekt in seiner Entstehung zu blockieren. Die Aufgabe der Verdrängung ist dann vollständig erfüllt, wenn auch der Affekt unterdrückt wurde; ein Teilziel hat sie immerhin erreicht, wenn der Affekt in einen anderen Affekt verwandelt werden konnte.25 Laut Freud hat der psychische Apparat drei Möglichkeiten, einen Affekt zu behandeln. 1.) Entweder bleibt der Affekt bestehen oder 2.) er wird in einen anderen Affekt verwandelt oder aber 3.) er wird verdrängt. Bereits in der „Traumdeutung“ (1900) äußerte Freud erste Ansichten über den Affekt, auch wenn diese Überlegungen sich auf die Traumarbeit bezogen. Er vermutete, dass es zwei Funktionen des psychischen Apparats gebe, die zur Bearbeitung von Affekten die-

zwischen zwei Arten der Emotion unterschieden: Die Primären oder Basisemotionen beruhen auf „emotionsspezifisch[…] ererbten Mechanismen“, wohingegen die Sekundären Emotionen auf Grundlage der Basisemotionen entstehen. Diese Mechanismen können Instinkte sein, wie McDougall vorschlägt, aber auch Verhaltensweisen, die im Verlauf der Evolution der besseren Anpassung dienten, wie Plutchnik zur Diskussion stellt. In diesem Punkt der stammesgeschichtlichen Vererbung von Emotionsmustern stimmt Freud mit evolutionspsychologischen Modellen überein. Meyer, Wulf Uwe/Reisenzein, Rainer/Schützwohl, Achim (Hg.): Einführung in die Emotionspsychologie, Band II. Evolutionspsychologische Emotionstheorien. Bern u.a.: Huber 2003. S. 104. 25 Freud, „Das Unbewusste“, S. 137.

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nen, und nannte diese Affektunterdrückung und Affektverkehrung.26 Im Traum werden beide im Dienst der Traumzensur eingesetzt, deren Ziel es ist, verdrängte Triebe nur versteckt an die Oberfläche zu lassen. Durch verschiedene Mechanismen, wie z.B. der Verschiebung oder der Verdichtung, werden Traumgedanken in einen anderen Trauminhalt verwandelt, so dass das eigentliche Traumthema verschleiert wird. Aber auch im sozialen Leben übernehmen die Affektunterdrückung und die Affektverkehrung Aufgaben, die der Verstellung dienen. Durch Zensur werden unangebracht erscheinende Affekte unterdrückt und jene erzeugt oder zumindest geheuchelt, die als adäquat betrachtet werden.27 Aufbauend auf Freuds Affektverständnis, das die klassische Affekttheorie erweitert, soll nun die moderne Komponententheorie der Emotion vorgestellt werden, die in der heutigen Psychologie zwar konsensfähig, allerdings noch nicht vollständig ausgearbeitet ist. 3.1.2 Eine Komponententheorie von Emotionen Der Ansatz von Meyer, Reisenzein und Schützwohl scheint hierfür besonders geeignet zu sein, da das von ihnen herausgegebene Lehrbuch Einführung in die Emotionspsychologie als Standardwerk in der Emotionspsychologie gilt. Laut Meyer, Reisenzein und Schützwohl sind Emotionen „zeitlich datierte, konkrete einzelne Vorkommnisse von zum Beispiel Freude, Traurigkeit, Ärger, Angst, Eifersucht, Stolz, Überraschung, Mitleid, Scham, Schuld, Neid, Enttäuschung, Erleichterung sowie weitere Arten von psychischen Zuständen, die den genannten genügend ähnlich sind.“ 28 Die in der Auflistung aufgeführten, beispielhaften Emotionen

26 Freud, Sigmund: „Die Traumdeutung.“ In: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/ James Strachey (Hg.): Studienausgabe Bd. II, Frankfurt a.M.: Fischer 2001. S. 454. 27 Siehe hierzu Kap. 3.2.2, in welchem die soziale Bedeutung der Affektzensur vertieft wird. Leider geht Freud auf das Problem der Affekthemmung nicht allgemeiner ein. In seinen Studien zur Hysterie spielt die Affekthemmung zwar eine zentrale Rolle, jedoch hat die Bedeutung der Hysterieerkrankung heutzutage stark abgenommen. Die Hysterie, um 1900 noch eine sehr verbreitete Krankheit, ist heute fast ausgestorben. Freuds Überlegungen zur Affekthemmung bei der Hysterie sind daher wenig hilfreich. 28 Meyer/Reisenzein/Schützwohl, Emotionspsycholgie 1, S. 24. Die Beispiele, die Meyer, Reisenzein und Schützwohl in ihrer Aufzählung nennen, sind natürlich nicht als vollständige Liste zu verstehen. In Untersuchungen zu der Frage, welche psychischen Zustände im Alltag unter Emotionen verstanden werden, stellte sich heraus, dass mindestens 50 bis 100 Arten von Emotionen unterschieden werden (ebd., S. 26). Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass im Alltag die Grenze zwischen Emotionen und Nichtemotionen (Stimmungen, Dispositionen etc.) nicht sonderlich scharf gezogen wird und auch inner-

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zeichnen sich durch folgende gemeinsame Merkmale aus, die auf alle anderen, in der Liste nicht genannten Emotionen ebenso zutreffen: „a) Sie sind aktuelle psychische Zustände von Personen. b) Sie haben eine bestimmte Qualität, Intensität und Dauer. c) Sie sind in der Regel objektgerichtet. d) Personen, die sich in einem dieser Zustände befinden, haben normalerweise ein charakteristisches Erleben (Erlebensaspekt von Emotionen), und häufig treten auch bestimmte physiologische Veränderungen (physiologischer Aspekt von Emotionen) und Verhaltensweisen (Verhaltensaspekt von Emotionen) auf.“29

Diese Merkmalsliste verdient eine genauere Betrachtung. a) Aktuelle psychische Zustände Gemäß des ersten Kriteriums handelt es sich um einen psychischen „Zustand“, also um eine innerseelische Erfahrung, die, wie die Wortwahl nahelegt, statisch ist und über keinerlei Dynamik verfügt. Wenn sich der Zustand ändert, tritt ein anderer Zustand ein (aus Neid wird Schuld o.ä.). Innerhalb des Zustandes ist keine Veränderung möglich, es kann nur zwischen verschiedenen Zuständen hin und her gewechselt werden. Dies impliziert nicht nur das Wort „Zustand“, sondern auch die einleitende Formulierung „zeitlich datierte, konkrete einzelne Vorkommnisse“, die im Merkmal mit dem Wort „aktuell“ zusammengefasst wird. Sie verdeutlicht, dass es sich um zeitlich beschränkte, unwiederholbare Ereignisse handelt. Eine Episode der Angst, z.B. vor einer Prüfung, kann einige Zeit dauern und danach verschwinden oder sich in einen anderen Zustand verwandeln. Diese eine spezielle Angstepisode jedoch kann nur ein einziges Mal stattfinden und sich danach nicht wiederholen. Zwar kann man später am Tag wieder wegen etwas in Angst geraten, z.B. bei der Prüfung durchgefallen zu sein, aber dies ist dann eine neue, andere Angstepisode, die der ersten ähnlich sein mag, aber nicht identisch mit ihr ist. b) Qualität, Intensität und Dauer Die Qualität einer Emotion bezeichnet, was man fühlt: Freude, Trauer, Wut etc. Sie bezeichnet also den oben erwähnten „Zustand“ näher. Die Intensität zeigt an, wie sehr man etwas fühlt. Nicht alle Emotionen sind gleich stark, sondern können in ihrer Intensität verschieden sein. So ist es z.B. möglich, sowohl schwache Angst, aber auch sehr starke Angst zu empfinden. Während der Zustand in seiner Qualität statisch und unflexibel ist, ist die Intensität durchaus veränderbar. Die zeitliche halb der Kategorie „Emotion“ verschiedene Arten als unterschiedlich typisch erachtet werden. 29 Ebd., s. Schaukasten.

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Dauer zeigt einerseits an, wie lange man etwas fühlt, also wie schnell etwa die Angst verfliegt, aber auch, wie sich die Intensitätskurve verändert. c) Objektbezug Emotionen haben in der Regel einen Objektbezug: Man freut sich über etwas, ist eifersüchtig auf jemanden, ist verärgert wegen etwas. Dabei ist es jedoch nicht wichtig, ob das Objekt, das Auslöser für die Emotion ist, tatsächlich existiert.30 Ob das Ereignis wirklich so stattfindet, wie es der Einzelne wahrnimmt, ist für die Erzeugung von Emotionen unerheblich. Ausschlaggebend ist, welche Überzeugung er zu einem bestimmten Sachverhalt hat. d1) Erlebensaspekt von Emotionen Der Erlebensaspekt von Emotionen ist die subjektive Komponente, das Gefühl.31 Eine Emotion zu haben, fühlt sich in einer bestimmten Art und Weise an, es ist angenehm oder unangenehm und ist das, was als „unmittelbarster Bestandteil einer emotionalen Erfahrung erlebt wird.“32 Christiane Voss bezeichnet diese Komponente als „H-Gefühle“,33 da sie den hedonistischen Teil der Emotion verkörpern und für das Empfinden von Lust oder Unlust stehen. James A. Russel hingegen findet hierfür die Bezeichnung „core affect“ 34 und meint damit den neurophysiologischhedonistischen Kern einer Emotion, ein einfaches, nicht-kognitives Gefühl, welches aus zwei Dimensionen besteht: Es ist entweder angenehm oder unangenehm, und es wirkt entweder aktivierend oder deaktivierend. Russel spricht somit dem Erlebensaspekt von Emotionen neben dem innerpsychischen Erleben eines gewissen Gefühls und der damit verbundenen Erfahrung von Lust oder Unlust auch eine motiva-

30 So kann z.B. ein Ehemann sehr eifersüchtig werden, weil er glaubt, seine Frau betrüge ihn, obwohl sie nur einen neuen Fitnesskurs bei einem männlichen Trainer belegt hat. Zur Fiktionalität von Emotionsauslösern und -objekten siehe Kap. 4.2, in dem der Frage nachgegangen wird, warum der Leser eines fiktionalen Textes vom Schicksal der Figuren emotional affiziert werden kann, obwohl er weiß, dass das Beschriebene nicht real ist. An dieser Stelle wird jedoch noch nicht auf Literatur als Emotionsobjekt Bezug genommen, sondern ausschließlich auf reale Situationen. 31 An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass Emotion und Gefühl nicht kongruent sind. Zur genaueren Unterscheidung der Begriffe siehe Kapitel 3.1.3 und Kapitel 4.1. 32 Mitmansgruber, Horst: Kognition und Emotion. Die Regulation von Gefühlen im Alltag und bei psychischen Störungen. Bern u.a.: Huber 2003. S. 21. 33 Voss, Christiane: Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über die Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien. Berlin – New York: de Gruyter 2004. S. 159. 34 Russel, James A.: „Core Affect and the Psychological Construction of Emotion.“ In: Psychological Review Vol. 110 (1) (2003), S. 145-172.

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tionale Komponente zu.35 Zentral ist jedoch in jedem Fall, dass es sich bei dem Gefühl um die Grundzutat für die Emotion handelt. Ohne Gefühl gibt es auch keine Emotion. d2) physiologischer Aspekt von Emotionen Hiermit sind die peripher-physiologischen Reaktionen des Körpers gemeint, wie z.B. Erröten, Zittern, Schwitzen, Erhöhung oder Verringerung des Pulsschlags etc. Bereits in der klassischen Affekttheorie wurden solche Symptome als konstitutiv für Emotionen erkannt (vgl. Kap. 2). Heute werden diese Veränderungen als peripher-physiologisch bezeichnet, weil sie an der Peripherie des Nervensystems stattfinden, wohingegen man früher die Bezeichnung viszeral bevorzugte, da häufig die Aktivitäten der Eingeweide beeinflusst werden (z.B. durch Magenschmerzen, Übelkeit, Durchfall etc.). Man nennt diese Reaktionen auch autonome Veränderungen, da der Mensch keinerlei Einfluss auf sie hat und sie unwillkürlich geschehen. Im Folgenden wird von diesen physiologischen Veränderungen als somatischen Reaktionen die Rede sein, da dieser Ausdruck generell zutreffend und am leichtesten verständlich ist. d3) Verhaltensaspekt von Emotionen Der Verhaltensaspekt von Emotionen äußert sich auf zwei Ebenen, einerseits auf der Ausdrucksebene und andererseits auf der Handlungsebene. Der Ausdrucksoder expressive Aspekt beinhaltet alle gestischen und mimischen Reaktionen, sowohl die bewussten wie die unbewussten (Tonlage, Körperhaltung, [unwillkürliche] Körperbewegung etc.). Evolutionsbiologisch wird dem emotionalen Ausdruck eine Funktion zugeschrieben, die Anpassungsvorteile bei der Selektion mit sich gebracht haben könnte. Dies ist unter anderem damit zu begründen, dass einige Gesichtsausdrücke universalverständlich sind, also über alle Kulturen hinweg verstanden werden können.36 Das legt die Vermutung nahe, dass es für gewisse emotionale Ausdrücke wie Trauer, Freude, Ekel, Überraschung und andere einen genetischen Code gibt. Der Handlungs- oder instrumentelle Aspekt umfasst Verhaltensweisen, die ebenfalls evolutionsbiologisch erklärt werden können, z.B. Fluchtverhalten bei Furcht oder Angriffsverhalten bei Wut. Dies bezieht sich aber nicht nur auf genealogisch ererbte Verhaltensweisen, sondern auf die Handlungsbereitschaft im Allgemeinen. Emotionen verändern die Motivation und damit die Tendenz, auf bestimmte Art und Weise zu agieren. Mitmansgruber bemerkt dazu: „Zentral ist der Gedanke, dass Emotionen spezifische Pläne und Vorgehensweisen nahelegen.“37

35 Genaueres dazu im Subkapitel Der Core Affect als entscheidender Aspekt der Emotion. 36 Mitmansgruber, Kognition und Emotion, S. 18. 37 Ebd., S. 21.

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Die Kognition als entscheidender Aspekt der Emotion Eine solche Komponentendefinition, die die Emotion mit den Faktoren a) Aktualität, b) Qualität, Intensität und Dauer, c) Objektbezug, d1) subjektives Gefühl, d2) somatische Reaktion und d3) Verhaltensmotivation bestimmt, wird heute von den meisten Emotionsforschern vertreten, jedoch addieren einige noch einen weiteren Aspekt hinzu, der bei Meyer, Reisenzein und Schützwohl vernachlässigt wird: die Kognition.38 Bei Scherer lässt sich folgende Kurzdefinition von Emotionen finden: „In the framework of the component process model, emotion is defined as an episode of interrelated, synchronized changes in the states of all or most of the five organismic subsystems in response to the evaluation of an external or internal stimulus event as relevant to major concerns of the organism.“39

Aus dieser knappen Zusammenfassung wird die Bedeutung der Kognition besonders deutlich. Scherer zufolge ist die Entstehung von Emotion vor allem der Bewertung eines äußeren oder inneren Stimulus zu verdanken, woraufhin erst die Subsysteme 40 reagieren und ihren Aufgaben gemäß die jeweilige Emotionskomponente steuern. Solche Emotionstheorien werden als „appraisal“-Theorien bezeichnet, da ihnen zufolge erst durch die kognitive Bewertung einer Situation Emotionen ausgelöst werden können. Nicht also das sachliche Registrieren von Fakten, sondern eine Beurteilung im Hinblick auf das eigene Wohlbefinden ist für die Entstehung von Emotionen verantwortlich. Man muss also klar unterscheiden zwischen „knowledge“ und „appraisal“, denn: „Reines Wissen löst niemals Emotionen aus. Erst die Bewertung als persönlich bedeutsam macht kaltes Wissen ‚heiß‘.“41 Scherer benennt, in geringfügiger Abweichung zur oben vorgestellten Theorie, fünf Komponenten, aus denen sich seiner Auffassung nach eine Emotion zusammensetzt. Dabei spielt bei ihm der zeitliche Faktor eine eher untergeordnete Rolle.

38 Meyer, Reisenzein und Schützwohl beziehen die Kognition nicht in ihre Komponentendefinition mit ein, sondern widmen kognitionspsychologischen Emotionsmodellen einen eigenen Band in ihrer Einführungsreihe. Meyer, Wulf Uwe/Reisenzein, Rainer/Schützwohl, Achim (Hg.): Einführung in die Emotionspsychologie, Band III. Kognitive Emotionstheorien. Bern u.a.: Huber 2003. 39 Scherer, Klaus: „What are Emotions? And how can they be measured?“ In: Social Science Information Vol. 44 (4) (2005), S. 695-729. Hier zitiert S. 697, Hervorhebungen im Original. 40 Scherer nennt vier für die Entstehung von Emotionen bedeutsame Subsysteme: Das Zentrale Nervensystem, das Neuro-Endokrine System, das Autonome Nervensystem und das Somatische Nervensystem. 41 Mitmansgruber, Kognition und Emotion, S. 36.

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Auch wenn er eine Emotion deutlich als „episode“42 kennzeichnet, stehen für ihn andere Kriterien mehr im Vordergrund. Als ersten und für ihn entscheidenden Aspekt führt er die „cognitive component (appraisal)“43 an, die im Zentralen Nervensystem vonstatten geht und für die Bewertung von Objekten und Vorgängen zuständig ist. Darüber hinaus nennt er vier weitere Komponenten: die neurophysiologische, die motivationale, die motorisch-expressive und die subjektiv-fühlende. 44 Damit stimmt er zu großen Teilen mit Meyer, Reisenzein und Schützwohl überein, die ebenfalls eine (neuro)physiologische Ebene, eine Handlungsebene (bei Scherer aufgeteilt in die motivationale und die motorisch-expressive) und eine subjektive Erlebensebene benennen. Auch wenn Meyer, Reisenzein und Schützwohl zwar den Objektbezug von Emotionen betonen, so äußern sie jedoch nicht explizit die Auffassung, dass ein kognitiver Vorgang vonnöten sei, um ein Objekt, eine Situation oder ein Erlebnis als persönlich bedeutsam einzuschätzen. Dies mag in ihrer Arbeitsdefinition zwar impliziert sein, allerdings scheinen sie im Gegensatz zu Scherer das kognitive Moment nicht als konstituierend einzuschätzen. Der Core Affect als entscheidender Aspekt der Emotion Während Scherer seinen Schwerpunkt also unmissverständlich auf das kognitive Moment der Emotion legt, hat James A. Russel einen anderen Ansatz. Seiner Auffassung zufolge ist das Kernstück einer Emotion das subjektive Empfinden, das Gefühl: „At the heart of emotion, mood, and any other emotionally charged event are states experienced as simply feeling good or bad, energized or enervated.“45 Dieses Herzstück der Emotion bezeichnet er mit dem Begriff „core affect“46 und umfasst damit ein primitives, nicht-kognitives Moment, welches keinerlei Interpretation oder Bewertung bedarf und das vor allem nicht über einen Objektbezug verfügt. Russel unterscheidet ganz klar zwischen Kognition, die immer ein Objekt braucht, und dem „core affect“, der ohne Verbindung zu einem Objekt einfach existiert. Auch der „core affect“ kann unterschiedlich intensiv sein, von neutral über moderat bis hin zu extrem. Russel spricht der Kognition damit ihre Bedeutung für die Entstehung von Emotionen ab, denn seinen Annahmen zufolge ist es der objektlose „core affect“, der in erster Linie für Emotionen verantwortlich ist. Jedoch kann auch Russel einen Bezug zu äußeren Stimuli nicht leugnen, die seiner Beschreibung

42 Scherer, „What are Emotions?“, S. 697. 43 Ebd., S. 698. 44 Ebd. 45 Russel, „Core Affect“, S. 145. 46 Was Russel unter dem „core affect“ versteht, ist unter Punkt d1) bereits zusammengefasst worden.

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nach über eine „affective quality“47 verfügen. Damit meint er, dass bestimmte äußere Stimuli über das Potenzial verfügen, Änderungen im „core affect“ hervorzurufen.48 An dieser Stelle soll nicht entschieden werden, welche Theorie zutreffender sein mag und welche nicht. Vielmehr sollen diese Ansätze verdeutlichen, dass eine Emotion zwar konzeptionell aus mehreren Komponenten besteht, wie diese jedoch zu gewichten sind, ist im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion noch nicht geklärt worden. Nichtsdestotrotz sollte es nun aufbauend auf den vorangegangenen Erläuterungen gelingen, eine erste terminologische Unterscheidung von Affekt, Emotion und Gefühl zu treffen. 3.1.3 Affekt – Emotion – Gefühl. Eine erste Begriffsdifferenzierung Umgangssprachlich werden die Begriffe Affekt, Emotion und Gefühl zwar synonym füreinander verwendet, fachlich ist dies jedoch nicht richtig. Das Wort Emotion beschreibt ein aktuelles psychisches Ereignis, das sich durch eine bestimmte Qualität, Intensität und Dauer auszeichnet und in der Regel objektgerichtet ist. Es verfügt über ein subjektives Erleben, das als angenehm oder unangenehm empfunden werden kann, löst somatische Reaktionen aus und motiviert Verhalten in Form 47 „Whereas core affect exists within the person […], affective quality exists within the stimulus.“ (Ebd., S. 148) 48 Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Anna macht einen Waldspaziergang und hat dabei die Empfindung, zufrieden zu sein („core affect“ angenehm, moderat). Da begegnet ihr ein Bär (äußerer Stimulus, verfügt über die affektive Qualität, furchteinflößend zu sein) und Anna gerät in Panik („core affect“ unangenehm, extrem). Somit ist für Russel nicht die von Scherer und Mitmansgruber vertretene Bewertung der Situation – ein als bedrohlich eingeschätzter Bär kreuzt Annas Weg – ausschlaggebend für das Entstehen der Emotion, sondern dem Objekt Bär ist von vornherein eine affektive Qualität immanent, die nicht von einer Evaluation abhängig ist. Der Bär verfügt demnach über die inhärente affektive Qualität, furchteinflößend zu sein und verändert den „core affect“ von angenehmmoderat zu unangenehm-extrem. Dies wird als Panik rezipiert. Von meiner Seite jedoch eine kritische Anmerkung zu Russels Modell: Ein Objekt verfügt nur theoretisch über eine immanente affektive Qualität. Praktisch ist diese affektive Qualität kulturell erworben: Im Verlauf der Menschheitsgeschichte hat sich der Bär, ein tonnenschweres Landraubtier, als bedrohlicher Feind im Überlebenskampf erwiesen. Dieses Wissen ist über die Jahrtausende weitergegeben worden. Auch wenn heute ein Bär im Zoo oder im Zirkus erlebt wird, ist das kulturelle Wissen über die potenzielle Bedrohlichkeit des Bären nach wie vor verfügbar. Insofern sollte weniger von einer immanenten affektiven Qualität, sondern besser von einer kulturell zugeschriebenen affektiven Qualität die Rede sein. Dies gilt nicht nur für den Bären, sondern generell für alle möglichen Stimuli.

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von Mimik und Gestik sowie in Form von Handlung. Möglicherweise ist für die Entstehung einer Emotion eine kognitiv-reflexive Bewertung einer Sachlage notwendig, wie die „appraisal“-Theorie nahelegt, möglicherweise ein mit einer affektiven Qualität belegter Stimulis, der den Core Affect beeinflusst. Unabhängig davon wird im Folgenden als Emotion ein klar eingrenzbares und beschreibbares psychisches Phänomen verstanden. Der Affekt wird in diesem Begriffsfeld als besonders intensiver emotionaler Zustand beurteilt. Er wird durch die gleichen Kriterien wie die Emotion charakterisiert, wird allerdings als ihre Steigerung aufgefasst: Der Affekt wird als emotionale Episode verstanden, die durch eine extreme Intensität gekennzeichnet ist und daher auch über eine stärkere motivationale Komponente verfügt als die Emotion. Als Grund dafür kann die von Freud postulierte Triebrepräsentanz im Affekt gesehen werden. Der Affekt als emotionaler Beweggrund hat seinen Ursprung im handlungsstimulierenden Trieb. Es dürfte folglich ungleich schwerer sein, die Ausdrucks- und Handlungsimpulse eines Affekts zu unterdrücken als die einer Emotion. Das Wort Gefühl ist vor allem innerhalb der Arbeitsdefinition des Wortes Emotion bedeutsam, da das Gefühl die subjektiv-hedonistische Komponente (den „core affect“), also ausschließlich den Erlebensaspekt umfasst. Es ist Affekt und Emotion als das verbindende Element beiden gemeinsam. Ohne ein Gefühl gibt es weder eine Emotion noch einen Affekt. Es ist das simple Empfinden, ob sich etwas angenehm oder unangenehm anfühlt und gewissermaßen damit die Grundzutat für emotionales Erleben. In diesem Sinne werden in den nun folgenden Kapiteln die Begriffe Affekt, Emotion und Gefühl verwendet.

3.2 E MOTIONEN ALS SOZIALES E REIGNIS : E MOTIONSTHEORIE IN DER S OZIOLOGIE Nachdem auf Basis psychologischer Erklärungsmodelle erschlossen wurde, wie für die vorliegende Arbeit die Begriffe Affekt, Emotion und Gefühl benutzt werden, steht nun die soziale Erklärbarkeit von Emotionen im Fokus des Interesses. Bereits die klassische Affekttheorie stellte einen sozialen Bezug zu Emotionen her. Daher werden in diesem Abschnitt zwei soziologische Erklärungsansätze49 vorgestellt, die für die Romananalysen fruchtbar gemacht werden sollen. 49 Eine Verknüpfung beider Ansätze versucht Jürgen Gerhards, indem er eine Kombination aus symbolisch-interaktionistischen und positivistischen Theorieanteilen mit der Physiologie des Körpers und der Persönlichkeit des Einzelnen zusammenführt. Gerhards, „Entstehung von Emotionen“, S. 187-202.

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Wie produzieren soziale Beziehungen Emotionen? Diese Frage stellt Theodore D. Kemper im Rahmen seiner Power-Status-Theorie, die er 1978 entwickelte und veröffentlichte. Damit zählt er zu den „Gründervätern“50 der modernen Emotionssoziologie. Er sieht Emotionen als Resultat der sozialen Interaktion eines Individuums mit seinen Mitmenschen und damit vor allem als Konsequenz dessen, wie die Interaktionspartner miteinander umgehen. 51 Kennzeichnend ist ein strukturalistischer Ansatz, mittels dessen Emotionen in ihre sozialen Bestandteile aufgeschlüsselt werden sollen. Die Grundannahme der symbolisch-interaktionistischen Theorie hingegen lautet: Gefühle sind nicht passiv. Die klassische Affekttheorie ging davon aus, dass Emotionen einfach passieren, dass man keinen Einfluss auf ihre Entstehung hat, sondern sie durchleiden muss. Der Auffassung von Hochschild und Shott nach sind Emotionen aber sehr wohl konstruierbar, aktiv gestaltbar und veränderbar. Dieser revolutionäre Ansatz geht auf Hochschilds Vorstellung von der Wichtigkeit der Kultur und ihrer Einflüsse auf den Einzelnen zurück: Der Symbolische Interaktionismus proklamiert, dass kulturell geprägte Gefühlsnormen vorbestimmen, welche Emotionen in welcher Situation als angebracht gelten.52 „Our sense of proper responses reflects socially determined ‚feeling rules‘ – cultural norms for how we are supposed to feel in a situation. […] If we do not have the appropriate feelings, we will likely feel uncomfortable and try to change how we feel.“53

Sind die als adäquat geltenden Emotionen gerade nicht zur Hand, kann das Individuum diese gewünschten Emotionen aktiv erzeugen oder vorhandene Emotionen modifizieren, sowohl hinsichtlich Qualität als auch Intensität und Dauer. Beide Ansätze werden nacheinander vorgestellt. 3.2.1 Gesellschaft generiert Emotionen: Status und Macht als Emotionsauslöser Kemper benennt zwei Dimensionen sozialer Interaktion: Macht („power“) und Status („status“).54 Macht umfasst all jene Verhaltensweisen, die dazu dienen, die 50 Scherke, Emotionen, S. 82. 51 Kemper, Theodore D.: „Social Relations and Emotions: A Structural Approach.“ In: Theodore D. Kemper (Hg.): Research Agendas in the Sociology of Emotions. Albany: State University of New York Press 1990, S. 207-237. Hier S. 207. 52 Fields, Jessica/Copp, Martha/Kleinman, Sheryl: „Symbolic Interactionism, Inequality and Emotions.“ In: Jan E. Stets/Jonathan H. Turner (Hg.): Handbook of the Sociology of Emotions. New York: Springer 2007. S. 155-175. Hier S. 156. 53 Ebd.

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eigene Position zu verbessen, sei es durch Kontrolle, Dominanz, Bedrohung, Strafe, Zwang o.ä. Kemper behauptet, dass diese Verhaltensweisen von jedem Menschen in gewissem Rahmen ausgeführt werden und auch von jedem Menschen in gewisser Weise erlebt werden,55 woraus er schlussfolgert, dass diese Verhaltensweisen immer zu negativen Gefühlen desjenigen führen müssen, der Macht als Unterlegener erfährt. Er bezieht sich mit diesen Annahmen auf Webers Machtbegriff als Fähigkeit, den eigenen Willen auch gegen den Widerstand anderer durchzusetzen. Dem Macht Ausübenden unterwirft man sich, weil man nicht die Kosten und Strapazen zahlen möchte, die durch Gegenwehr hervorgerufen würden, wie z.B. körperlicher oder psychischer Schmerz, Inhaftierung, Verlust von Zuwendung oder Leistungen etc. oder aber, weil man nicht über die Mittel zu einer ernsthaften Gegenwehr verfügt. Ziel der Dimension Macht ist Kontrolle über andere und dadurch Erringung einer Herrschaftsposition. Kemper versteht Macht als vollständig alltägliche Verhaltensweise, die in fast jede zwischenmenschliche Begegnung einfließt: Das Gerangel, wer an der Theke zuerst bedient wird, wer die Aufmerksamkeit der schönen Frau erringt, wer der Mutter beim Abwasch helfen muss, sind nur einige von einer Unzahl an Alltagsbeispielen, die hier angeführt werden können. In einer Vielzahl an Fällen kann davon ausgegangen werden, dass dem Unterlegenen seine Position missfällt. Kemper zieht daraus den Schluss, dass dies zu negativen Gefühlen wie Angst, Ärger, Neid, Eifersucht, Wut etc. führt. Während die Stärkung der Position des Mächtigeren beim Unterlegenen also unangenehme Emotionen erregt, ist beim Mächtigeren das Gegenteil der Fall. Er wird einen Anstieg an Sicherheitsgefühl, Zufriedenheit, Zuversicht, Freude o.ä. verspüren. Status56 hingegen ist das genaue Gegenteil von Macht. Diese Verhaltensdimension dient zur Verbesserung der Position eines anderen. Sie zeichnet sich aus durch Hilfsbereitschaft und Unterstützung, Herzlichkeit und Zärtlichkeit sowie Anerkennung und Lob. Status bezeichnet freiwillige Verhaltensweisen, bei denen es darum geht, dem Anderen Respekt, Intimität, Belohnung oder Zuwendung zu gewähren ohne Druck oder Zwang von außen. Im Umkehrschluss führt Status bei demjenigen, dem er zugewendet wird, zu positiven Gefühlen wie Freude, Lust, Dankbarkeit, Zufriedenheit etc. Darüber hinaus geht es bei Status nicht um die Erringung einer

54 Kemper, „Social Relations“, S. 211f. 55 Kemper betont die Universalität seiner Theorie, die für alle sozialen und demografischen Gruppen Gültigkeit habe. Ebd., S. 223. 56 Kemper entscheidet sich etwas missverständlich für die Bezeichnung Status für freundliche Verhaltensweisen. Sie ist hier nicht zu verwechseln mit den anderen Bedeutungsebenen des Wortes für Sachlage/Sachverhalt und Ansehen/Image/Prestige. Im Verlauf dieses Kapitels wird das Wort Status ausschließlich in dem von Kemper gemeinten Sinne verwendet.

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Vorteilsposition, sondern um altruistisches Verhalten.57 Auch Status ist eine Verhaltensdimension, die alltäglich ist und sich durch viele Beispiele belegen ließe: Dem Schulfreund ein Pausenbrot mitzubringen, beim Umzug zu helfen, die Oma im Altersheim zu besuchen sind alles Maßnahmen, die sich unter Status fassen lassen. Im Gegenzug kann eine Reduzierung der Status-Verhaltensweisen negative Gefühle erzeugen wie Scham, Traurigkeit oder Ärger. Sowohl Macht als auch Status verfügen somit über die Eigenschaft, positive wie negative Gefühle und Emotionen zu erregen, je nach Einsatz oder Entzug und abhängig von der Position des Erlebenden. Das komplexe Zusammenspiel der Verhaltensweisen Macht und Status im Rahmen zwischenmenschlicher Kommunikation und Interaktion ist laut Kemper für die Entstehung von Emotionen verantwortlich. Nur durch den sozialen Umgang miteinander ist überhaupt Emotionalität möglich. Kritik an der Power-Status-Theorie Kempers Annahme, Macht und Status seien zwei Determinanten, die soziale Interaktion und damit die Entstehung von Emotionen strukturieren, lässt jedoch den subjektiven Interpretationsaspekt der an der Interaktion beteiligten Personen außer Acht. Eine Person kann nicht genau wissen, was eine andere Person bei der Ausführung ihrer Handlungen denkt und was sie tatsächlich damit beabsichtigt. Jürgen Gerhards schlägt daher folgende Auffassung vor: „Nicht Status und Macht strukturieren soziale Zusammenhänge, sondern die Interpretation von sozialen Situationen in den Dimensionen Macht und Status.“58 Mit anderen Worten: Status und Macht definieren nicht soziale Interaktion, sondern soziale Interaktion wird von den Akteuren in den Dimensionen Status und Macht interpretiert. Damit wäre eine kognitive Bewertungsleistung, wie sie von Scherer postuliert wird, zentral für die Entstehung von Emotionen im sozialen Gefüge. Was in der Psychologie als „appraisal“Theorie bekannt ist und die subjektive Bewertung einer Situation als persönlich bedeutsam meint, wird in der Soziologie als Modell der Definition der Situation bezeichnet und erklärt die kognitive Bewertung einer Situation als auf bestimmte Weise sozial und damit für Handlungsentscheidungen bedeutsam. 59 Ob Verhal57 Die höchste Stufe von Status ist Liebe, die gekennzeichnet ist durch unbegrenzte Zuneigung eines Individuums zu einem anderen. 58 Gerhards, „Entstehung von Emotionen“, S. 192. 59 Das Modell der Definition der Situation wurde von Hartmut Esser entwickelt und ist u.a. nachzulesen bei: Esser, Hartmut: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band I: Situationslogik und Handeln. Frankfurt – New York: Westdeutscher Verlag 1999, S. 161-175. Esser, Hartmut: „Die Definition der Situation.“ In: Jürgen Friedrichs/M. Rainer Lepsius/Karl Ulrich Mayer (Hg.): Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Vol. 48 (1996), S. 1-34.

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tensweisen durch Status und Macht vorstrukturiert sind oder ob erst die nachträgliche Interpretation eines Verhaltens in den Dimensionen Status und Macht ausschlaggebend ist, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Kemper führt fast alle zwischenmenschlichen Verhaltensweisen auf die beiden seiner Auffassung nach soziale Interaktion definierenden Dimensionen Status und Macht zurück: Küssen, streicheln, lächeln, schimpfen, weinen, streiten, Augenkontakt suchen, sich abwenden, schubsen, umarmen – die Liste wäre endlos weiterzuführen – sind Ausdruck dieser beiden Dimensionen. Das ständige Wechselspiel von Macht und Status führt zu sozialen Prozessen, die teils zu sozialen Settings geordnet werden können, z.B. in institutionellen Umgebungen wie der Schule oder am Arbeitsplatz und auch im privaten Rahmen als Eltern-Kind-Beziehung, als Ehe etc. Egal, wie dieses Wechselspiel aus Macht und Status organisiert ist, welche Dimension die dominantere ist, immer erzeugt es Emotionen, und zwar nicht nur beim Gegenüber, sondern auch beim Ausführenden. In seinem Aufsatz „Power and Status and the Power-Status Theory of Emotions“60 schlüsselt er eine Vielzahl möglicher Macht-Status-Zusammensetzungen und ihre Auswirkungen auf das Emotionale auf. Fraglich ist jedoch, ob seine strukturalistische Analyse im Alltag Bestand haben kann. Nach Kemper löst das komplexe Zusammenspiel von Verhaltensweisen verschiedener Interaktionspartner eine dauernde Abfolge aufeinander bezogener Emotionen aus. Dies impliziert jedoch, dass Emotionalität nicht möglich wäre in vollständiger Isolation. Kempers Theorie zufolge ist Emotionalität ein Produkt sozialer Prozesse; finden diese nicht statt, mangels eines oder mehrerer Interaktionspartner, dürften auch keine Emotionen entstehen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob das Erleben von Emotionen zwingend an einen anderen Menschen gebunden sein muss. Treffender wäre es, Emotionalität in Abhängigkeit von der Vorstellung des Anderen zu bestimmen. Dazu muss dieser nicht persönlich anwesend sein. In diesem (psychischen) Sinne wären Emotionen trotzdem (pseudo-)sozial.61 Die Kritik an Kempers Theorie zeigt, dass das Power-Status-Konzept nicht als absolutes Erklärungsmodell für die Entstehung von Emotionen aufzufassen ist, sondern dass Emotionen auch als Produkt von direkter sozialer Interaktion zu ver60 Kemper, Theodore D.: „Power and Status and the Power-Status Theory of Emotions.“ In: Jonathan H. Turner/Jan E. Stets (Hg.): Handbook of the Sociology of Emotions. New York: Springer 2007, S. 87-111. 61 Isolationshäftlinge, Eremiten, dem Schweigegelöbnis verpflichtete Mönche, ein auf einer einsamen Insel Gestrandeter sind nicht automatisch gefühlskalt oder emotionslos, nur weil sie nicht mit anderen in Interaktion treten (können). An solcher Stelle wäre die Verknüpfung der Theorie mit der Vorstellung des Anderen hilfreich. Da der Isolationshäftling vermutet, dass Wächter vor seiner Tür stehen, reicht die Vorstellung des Wächters aus, um sozial determinierte Emotionen zu erzeugen.

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stehen sind, allerdings nicht ausschließlich. Bei Berücksichtigung dieser Einschränkungen kann Kempers Theorie durchaus als brauchbares Konzept akzeptiert werden. Die These wäre dann modifiziert folgendermaßen zu formulieren: Emotionen können als Resultat direkter sozialer Interaktionen oder durch die Vorstellung von sozialen Interaktionen entstehen, die durch Macht und Status geprägt sind oder durch sie interpretiert werden. Wie nun einsichtig geworden ist, spielen in Kempers Theorie soziale Strukturen die größte Rolle. Auch wenn er der Kultur ihre Bedeutung für Emotionen nicht absprechen will, erklärt er dennoch: „Though culture has a role in this model of social relations and emotions, it is not omnipotent.“62 Und konkreter: „Cultural and social norms for feelings do exist. But these are epiphenomenal, pointing to the mere surface of the phenomenon, rather than to its explanatory core.“63 Soziale Beziehungen sind laut Kemper die zentrale Determinante für das Erleben von Emotionen, sie legen fest, was wir empfinden. Die Kultur, die eine Gesellschaft und damit die darin enthaltenen sozialen Prozesse maßgeblich mitbestimmt, ist für ihn nicht ausschlaggebend für Emotionalität Die symbolisch- interaktionistische, von Kemper als sozialkonstruktivistisch bezeichnete Theorie Arlie Hochschilds und Susan Shotts schenkt aber gerade der Kultur und den damit verbundenen Werten und Normen größte Aufmerksamkeit. Die Gegenposition zu Kemper soll nun auf den folgenden Seiten beleuchtet werden. 3.2.2 Gesellschaft organisiert Emotionen: Wie Gefühlsregeln Emotionen bestimmen Emotionen sind niemals vom Sozialen zu trennen.64 Diese Grundannahme teilt die strukturalistische Theorie Kempers mit der sozialkonstruktivistischen Theorie Hochschilds und Shotts. Letztere gehen jedoch davon aus, dass weniger zwischenmenschliche Interaktion und mehr kulturell geprägte Gefühlsnormen und -regeln die Erzeugung von Emotionen beeinflussen. Gefühlsnormen sind kulturell bestimmte, stillschweigend akzeptierte, nicht verhandelbare Regeln, die durch soziale Kontrolle wirken und dem Individuum vorschreiben, in welcher Situation welche Emotion als angebracht gilt. Jeder ist bestrebt, sich an diese Gefühlsregeln („feeling rules“)65 zu halten und seine Emotio62 Kemper, „Social Relations”, S. 231. 63 Kemper, Theodore D.: „Social Constructionist and Positivist Approaches to the Sociology of Emotions.“ In: American Journal of Sociology Vol. 87 (2) (1981), S. 336-362. Hier zitiert S. 345, Hervorhebung im Original. 64 Fields/Copp/Kleinman, „Symbolic Interactionism“, S. 158. 65 Shott, Susan: „Emotion and Social Life: A Symbolic Interactionist Analysis.“ In: American Journal of Sociology Vol. 84 (6) (1979), S. 1317-1334. Hier S. 1319.

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nen entsprechend der gewünschten Norm zu konstruieren. Der Vorgang, der zur Erzeugung oder Modifikation von Emotionen notwendig ist, wird als Gefühlsarbeit („emotion work“, 66 „emotional labor“) 67 oder als Gefühlsmanagement („emotion management“)68 bezeichnet. Zwar geht es in erster Linie darum, auf der Handlungsebene der Emotion die gewünschte Reaktion zu zeigen, also mimisch und gestisch sowie verbal bestimmte Emotionen glaubhaft zu äußern, aber die Gefühlsarbeit ist erst dann vollständig abgeschlossen, wenn die Erzeugung der nach außen vermittelten Emotion auch innerlich gelungen ist. Hier ist eine Parallele zu der von Freud konstatierten Affektverkehrung zu erkennen, die durch Affektzensur erreichte Veränderung eines bestimmten Affekts, die zur Anpassung an soziale Erwartungen dient. Affektverkehrung oder Gefühlsarbeit sind demnach als Mechanismen zu begreifen, die dem sozialen Miteinander und dem stressreduzierten interaktiven Umgang im Rahmen bestimmter kultureller Vorgaben dienen. Das Postulat der individuellen Anpassung eigener intrapsychischer Zustände an äußere Gegebenheiten mag zwar provokant erscheinen, da nach der herkömmlichen Auffassung Emotionen als Reaktion auf bestimmte Umstände entstehen (Objektbezug), nicht als eigenverantwortlich durchgeführte Manipulation, es ist aber mit simplen Alltagsbeispielen zu belegen. Im Fall des Todes eines entfernten Bekannten zeigt man aus Anstand wenigstens nach außen Trauer oder Bestürzung, auch wenn diese Emotionen innerlich nicht vorhanden sein mögen. Es werden also Emotionen vorgespielt, die nicht wirklich existieren: eine Vorstufe zu vollständiger Gefühlsarbeit. Im schwierigeren Fall des Todes eines ungeliebten oder sogar verhassten Verwandten mögen Gefühle wie Erleichterung einerseits und Reue über die Erleichterung andererseits miteinander ringen – es liegt ein Schuldbewusstsein vor, dass diese Erleichterung nicht angebracht ist. Man wird sich bemühen, ein angemessen erscheinendes Maß an Traurigkeit zu verspüren, indem man sich die guten Eigenschaften des Verstorbenen in Erinnerung ruft, seine Missetaten nachträglich relativiert oder sich einredet, das Verhältnis sei gar nicht so übel gewesen. Sollte die Gefühlsarbeit gelingen, wird sich wahrscheinlich keine tiefe Trauer, aber doch zumindest ein Bedauern über den Tod des Anderen einstellen. Wie diese beiden Beispiele verdeutlichen, gibt es zwei Formen der Gefühlsarbeit: das Oberflächenhandeln69 und das Innere Handeln,70 wobei ersteres eher eine kunstvolle Form des alltäglichen Schauspiels ist und über Heuchelei weit hinausgeht. Ziel ist die völlig glaubhafte Darstellung einer nicht empfundenen Emotion, so dass die Interaktionspartner davon über66 Ebd. 67 Russell Hochschild, Arlie: Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung der Gefühle. Übers. v. Ernst von Kardoff. Frankfurt a.M. – New York: Campus 1990. S. 30. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 55f. 70 Ebd., S. 56ff.

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zeugt sind, man verspüre die dargestellte Emotion tatsächlich. Letzteres ist ein sehr komplexer Vorgang, an dessen Beginn die Auseinandersetzung damit steht, was wir fühlen wollen oder meinen, fühlen zu sollen. Dabei geht es tatsächlich um die Erzeugung einer speziellen Emotion, entweder durch Abruf einer Datei aus dem „Gefühlsgedächtnis“, 71 also der Erinnerung an emotional besetzte Erfahrungen, oder aber durch psychologische Manipulation wie der „Wille, ein Gefühl hervorzurufen, der Wille, ein Gefühl zu unterdrücken, und der Wille, sich ein bestimmtes Gefühl zuzugestehen“.72 Für Gefühlsarbeit sind aber einige Grundlagen notwendig. Damit es zum Prozess der Gefühlsarbeit kommt, muss ein Bewusstsein darüber vorliegen, welche Emotion in welcher Situation angebracht ist. Genau darüber bestimmen kulturelle Werte und Normen. Shott erklärt hierzu: „Within the limits set by social norms and internal stimuli, individuals construct their emotions; and their definitions and interpretations are critical to this often emergent process.“73 Die kritische Auseinandersetzung mit der jeweils vorliegenden Situation im Hinblick auf die sozialen Erwartungen und die eigene erbrachte emotionale Leistung im Verhältnis zur zu erbringenden Leistung führt zu einer mehr oder minder bewussten Beeinflussung der eigenen Emotionalität. 74 Die Gefühlsregeln müssen dem Individuum bekannt sein, damit sie befolgt werden können. Allerdings werden Gefühlsregeln nicht ‚gelehrt‘, sondern implizit im zwischenmenschlichen Umgang vermittelt; da es keine offenkundigen Handlungsvorgaben gibt, keine nachlesbaren Gebote, ist immer wieder eine instinktive Interpretationsleistung erforderlich. Kritik an der symbolisch-interaktionistischen Theorie Sicherlich ist die Frage berechtigt, ob eine derartige Manipulation der eigenen Emotionen in dem Maße, wie Hochschild und Shott es postulieren, überhaupt möglich ist. Die Emotion zu empfinden, die man beschließt, empfinden zu wollen, stellt eine größere Herausforderung dar, als die Theorie impliziert. Hochschild ging bei ihren Überlegungen von Untersuchungen zur Stewardessenausbildung einer amerikanischen Fluglinie (Delta-Airlines) aus, die ihren Angestellten Techniken beibrachte, um auch im Umgang mit unfreundlichen und herablassenden Fluggästen stets zuvorkommend und höflich zu bleiben. Weiter beeinflusst wurde Hochschild von der Schauspielschule Konstantin Stanislawskis, der von seinen Darstellern nicht nur das Vorspielen einer Emotion, sondern die Evokation derselben verlangte.75 Sowohl die 71 Ebd., S. 59. 72 Ebd., S. 57. 73 Shott, „Emotion and Social Life“, S. 1323. 74 Auch hier ist also wieder eine Bewertung der Gesamtsituation von Nöten im Sinne eines „appraisal“ oder einer Situationsdefinition. 75 Lenz, Karl: Soziologie der Zweierbeziehung. Wiesbaden: VS 2009. S. 269f.

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Stewardessen als auch die Schauspieler haben mit ihren Emotionen in dieser Hinsicht einen professionelleren Umgang erlernt als ein Privatmensch. Es ist also fraglich, ob die von Hochschild beschriebene Gefühlsarbeit im privaten Rahmen genauso funktionieren kann. Darüber hinaus wird dem symbolisch-interaktionistischen Ansatz die mangelnde Berücksichtigung biologisch-physiologischer Aspekte bei der Entstehung von Emotionen vorgeworfen. Während Kemper seinen Konkurrentinnen Hochschild und Shott unterstellt, sie würden zu großen Teilen den Einfluss der Biologie auf Emotionen verneinen,76 betonen Vertreter des Symbolischen Interaktionismus zwar durchaus, dass „emotions are not merely natural impulses“,77 bestreiten damit aber nicht die Wichtigkeit physiologischer Gesichtspunkte. Shott bezieht sich ausdrücklich auf Stanley Schachters Emotionskonzept, welches die physiologische Erregung als notwendiges Kriterium für das Entstehen einer Emotion betont. Der Physiologie wird keinesfalls ihre Bedeutung abgesprochen, vielmehr wird einem zusätzlichen Aspekt, dem der Kultur, stärkeres Gewicht verliehen. So erklären Fields, Copp und Kleinman: „Rather, they [Emotionen, Anm. d.Verf.] are shaped both by culture (e.g. feeling rules) and our human capacity to react and make sense of our feelings.“ 78 Dies demonstriert, dass gemäß des Symbolischen Interaktionismus zwei Komponenten großen Einfluss auf Emotionalität haben: a) die jeweilige Kultur, die die Gesellschaft formt, entwickelt und damit die darin stattfindenden, von Kemper als so zentral betrachteten sozialen Prozesse mitgestaltet, und b) die Kognition, die dem Einzelnen die Fähigkeit verleiht, erstens eigene emotionale Zustände zu erkennen und zu bewerten und zweitens die jeweils aktuelle Situation unter bestimmten Gesichtspunkten zu beurteilen und damit unter Rückbezugnahme auf kulturell vermittelte Werte und Normen die Entscheidung befähigt, welche Emotionen angebracht sind. Nichtsdestotrotz ist den Kritikern der symbolisch-interaktionistischen Theorie insofern zuzustimmen, als Physiologie und Biologie hier eine sehr untergeordnete Rolle einnehmen. Nachdem nun geklärt worden ist, was unter Affekt, Emotion und Gefühl zu verstehen ist und Theorien zur sozialen Entstehung von Emotionen beleuchtet wurden, die für die Romananalysen als Interpretationshilfe dienen werden, soll das folgende Kapitel darüber Aufschluss geben, wie ein Mangel an Emotionalität zustande kommen kann.

76 Kemper, „Sociology of Emotions“, S. 343. 77 Fields/Copp/Kleinman, „Symbolic Interactionism“, S. 156. 78 Ebd., S. 156.

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3.3 W ENN E MOTIONEN

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Während die Theorie Hochschilds und Shotts zumindest im Stande ist, die Veränderung von Emotionen, die Affektverkehrung, soziologisch zu begründen, bleiben sowohl Hochschild und Shott als auch Kemper eine Erklärung schuldig, wie es zum Fehlen von Emotionen kommen kann. An dieser Stelle wird theoretisch in den Bereich eingetreten, der für die Romananalysen von besonderer Bedeutung ist. Mithilfe des psychologischen Konzepts der Alexithymie sowie eines Modells der Sozialisation von Emotionen, die auf den folgenden Seiten vorgestellt werden sollen, werden (sozial-)psychologische Aspekte der Romane erklärbar. 3.3.1 Gefühllosigkeit als affektive Störung Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist die Depression. Ein „Gefühl der inneren Leere“79 umschreibt möglicherweise am besten, was den Kern einer Depression ausmacht, denn so undefinierbar wie ein „Gefühl der inneren Leere“ ist, so undefinierbar ist auch die Krankheit selbst. Unter dem Oberbegriff Depression wird eine erschütternde Vielfalt an Symptomkombinationen zusammengefasst. Alain Ehrenberg stellt in der Einleitung zu seinem Buch Das Erschöpfte Selbst fest: „[Die Depression] ist eine Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht. Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen.“

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Die Schuld ist das Kernproblem der Neurose, der verdrängte Affekt das Kernproblem der Hysterie – und die Verantwortlichkeit, man selbst sein zu müssen in einer Zeit der Überindividualisierung, der Wählbarkeit der Autobiografie, der Pflicht zur Gestaltung des eigenen Lebens ist das Kernproblem der Depression. In Ehrenbergs Zitat werden die Hauptmerkmale der Depression knapp zusammengefasst: die Last der Verantwortung, Minderwertigkeitsgefühle und Erschöpfung. In ihrer Kombination ergeben sie ein Krankheitsbild, das ausgesprochen schwer zu heilen ist. Ehrenberg moniert, dass an die Stelle der Heilung in vielen Fällen die Erzeugung eines künstlichen Wohlbefindens mithilfe von Antidepressiva tritt.81 Die unerwünschten

79 Bradshaw, John: Das Kind in uns. Wie finde ich zu mir selbst. Übers. v. Bingfried Schröder. München: Knaur 2000. S. 47. 80 Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Übers. v. Manuela Lenzen und Martin Klaus. Frankfurt – New York: Campus 2004. S. 4, Hervorhebung im Original. 81 Ebd., S. 6.

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Zustände der Traurigkeit und der Asthenie werden einfach weggeschluckt mit der Einnahme einer Pille; dass Antidepressiva so häufig verschrieben werden, liegt aber vor allem an der Unschärfe des Krankheitsbildes: Es ist gleichermaßen heterogen und universell82 und in seiner Vielseitigkeit am leichtesten mit Antidepressiva zu behandeln. Ex aequo ist es vor allem schwer diagnostizierbar. Die Depression ist nicht grell und vordergründig wie der Wahn, sondern besticht durch ihre Subtilität, was häufig dazu führt, dass sie schlicht übersehen wird. Gleichzeitig ist sie aber auch so populär, dass sie mittlerweile über einen gesellschaftlichen Status verfügt.83 Dass eine Definition der Depression schwer fällt, ist nicht verwunderlich, wenn man einen Blick in den ICD-10 84 wirft, die Internationale Klassifizierung der Krankheiten, welche die Depression den affektiven Störungen zuordnet, dort aber neben den bipolaren Störungen allein dreizehn verschiedene Formen der Depression benennt. Immerhin wird aus dieser Zuordnung eines deutlich: Die Depression ist eine affektive Erkrankung, betrifft also in erster Linie die Emotionalität. Kennzeichnend für eine Depression sind laut ICD-10 neben anderen Merkmalen vor allem eine „gedrückte Stimmung“85 und eine Verminderung der Fähigkeit zur Freude sowie Antriebslosigkeit, mit anderen Worten: Man fühlt sich traurig und schwach. Allerdings gibt es auch Formen der Depression, die so auslaugend und alienierend sind, dass der Patient gar nichts mehr fühlt, auch keine Traurigkeit oder Schwäche – was übrig bleibt, ist die von Bradshaw beschriebene ‚innere Leere‘. Diese Art der Depression wird nach A. Kraus „Entfremdungsdepression“ genannt und bezeichnet Formen der Depression, die strukturelle Veränderungen des Selbst zur Folge haben, eine Depersonalisation, die sich so anfühlt, als gehöre man nicht zu sich selbst, als sei man von sich selbst geschieden.86 Hand in Hand mit dem Depersonalisationsphänomen geht eine Störung im emotionalen Erleben des Patienten, welche dieser bewusst und eindringlich wahrnimmt. „Im Vordergrund der Entfremdungsdepression steht die Gefühllosigkeit […], das Gefühl der Gefühllosigkeit, das sich sowohl auf die Beziehung zu anderen, als auch auf die eigene Per-

82 Ebd., S. 87. 83 Ebd., S. 83. 84 ICD-10-GM Version 2013; veröffentlicht durch das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information. F32.- Depressive Episode und F33.- Rezidivierende Depressive Störung. http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/online fassungen/htmlgm2013/block-f30-f39.htm vom 12.02.2013. 85 Ebd. 86 Kraus, A.: „Melancholie: eine Art von Depersonalisation?“ In: Thomas Fuchs/Christian Mundt (Hg.): Affekt und affektive Störungen. Phänomenologische Konzepte und empirische Befunde im Dialog. Paderborn u.a.: Schöningh 2002, S. 169-186. Hier S. 172f.

66 | D AS NICHTS UND DER SCHMERZ . E RZÄHLEN BEI B RET EASTON ELLIS son (der Patient fühlt sich seines Existenzgefühls beraubt) und auf den eigenen Leib (Patient fühlt sich z.B. wie eine Mumie) beziehen kann.“87

Gefühllosigkeit ist demnach ein zentrales Symptom der Entfremdungsdepression, eine Störung oder Hemmung der Funktion der Emotionalität. Sie ist das, was als ‚innere Leere‘ am häufigsten im Zusammenhang mit Depressionen oder depressiven Zuständen genannt wird. Die Scheidung zwischen funktionierender äußerer Hülle, die den Alltag mehr oder minder erfolgreich bewältigt, und psychischem Apparat, der seiner Empfindungsfähigkeit beraubt ist, schafft gleichzeitig eine Derealisierung des eigenen Körpers und des Selbst, die so dominant ist, dass Körper und Psyche voneinander losgelöst zu sein scheinen. Der Körper wird nicht mehr als zugehörig empfunden, während die Psyche ihre Funktion verloren zu haben scheint. Die ‚innere Leere‘ betrifft also gleichermaßen das abgestorbene Körpergefühl sowie einen Mangel an Emotionalität. In diesen Extremfällen einer Depression bedeutet das ‚Gefühl der Gefühllosigkeit‘, dass nicht nur Affekte verdrängt oder Emotionen unterdrückt werden, sondern dass der „core affect“, das Gefühl, und damit die Grundzutat für Emotionalität schlichtweg fehlt. Für dieses Phänomen gibt es mittlerweile eine medizinische Bezeichnung, die Alexithymie. Es handelt sich um ein Kunstwort, das aus verschiedenen Bausteinen zusammengesetzt ist („a“ = „nicht“, „lexis“ = „lesen“ und „thymos“ = „Gefühl“) und in der deutschen Übersetzung „Gefühlsblindheit“ bedeutet. Alexithymie Das Konzept der Alexithymie ist zum heutigen Zeitpunkt noch recht unausgegoren und undifferenziert, was zum einen an der mangelhaften Forschungslage liegt, 88 zum anderen daran, dass dieses Konzept noch relativ jung ist. Zu Beginn der 1970er Jahre von Peter Sifneos entwickelt,89 bezeichnet es eine „Art emotionales Analphabetentum“,90 das empirisch schwer messbar ist. Noch ist unklar, ob Alexithymie 87 Ebd., S. 173f. 88 Zwar hat es im anglo-amerikanischen Raum in den letzten Jahren einen regelrechten Alexithymie-Forschungsboom gegeben, der vor allem den rasch voranschreitenden Erkenntnissen in der Neurophysiologie geschuldet ist, jedoch ist das Konzept nach wie vor umstritten. 89 Grabe, Hans Jörgen/Rufer, Michael (Hg.): Alexithymie: Eine Störung der Affektregulation. Konzepte, Klinik und Therapie. Bern: Huber 2009. S. 13. 90 Gündel, H./Ceballos-Baumann, A. O./von Rad, M.: „Aktuelle Perspektiven der Alexithymie.“ In: Der Nervenarzt Vol. 3 (2000), S. 151-163. Hier S. 151, Hervorhebung im Original. Die etwas abfällig anmutende Bezeichnung „emotionales Analphabetentum“ referiert auf den Neologismus, der das griechische Wort „lexis“ beinhaltet, sie ist jedoch nicht als Diskriminierung zu verstehen.

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überhaupt als eigenständige Krankheit betrachtet werden kann oder ob sie besser als Symptom der Depression zugeordnet werden sollte. 91 Dafür spricht, dass viele depressive Patienten über alexithyme Spezifika klagen, die weiter unten noch ausgeführt werden. Statistiken zeigen, dass zehn Prozent der in Deutschland lebenden Bevölkerung und sogar 25 Prozent der Patienten in psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosomatischen Einrichtungen von alexithymen Beschwerden betroffen sind.92 Die Ermittlung dieser hohen Fallzahlen sind unter anderem auch der TorontoAlexithymie-Skala93 zu verdanken, die 1994 entwickelt wurde und eine Intensivierung der Forschung ermöglichte. Nach heutiger Auffassung sind es vor allem drei Faktoren, die Alexithymie bedingen und kennzeichnen: Schwierigkeiten bei der Identifizierung von Gefühlen, Schwierigkeiten bei der verbalen Beschreibung von Gefühlen und ein external orientierter Denkstil.94 Michael von Rad benennt konkretisierend folgende Merkmale, die für das Phänomen Alexihymie charakteristisch sind:95 Affektive Struktur. Das auffälligste Merkmal ist der Emotionen betreffende Mangel an Ausdrucksfähigkeit. Die Patienten sind nicht in der Lage, ihre Emotionen adäquat zu benennen, sie mit Worten zu umschreiben oder ihnen Namen zu geben. Es ist umstritten, ob es sich einzig um ein verbales Defizit handelt, oder ob Emotionen tatsächlich nicht erkannt werden. Es scheint zumindest, dass die Patienten ihre Gefühle nicht ‚lesen‘ können, wie der griechische Kunstausdruck Alexithymie bereits nahe legt, dass sie sie deshalb nicht artikulieren können, weil sie sie gar nicht erst erkennen. Darauf lässt auch der Umstand schließen, dass versuchte Gefühlsäußerungen undifferenziert und ungenau lauten, wenn überhaupt, nur auf

91 Das ICD-10 führt Alexithymie nicht als eigenständige Krankheit auf, was jedoch nicht zwangsläufig bedeutet, dass ihr dieser Status generell nicht zugesprochen werden darf. Vielmehr gibt es in der Auflistung des ICD-10 die Artikel „Sonstige (rezidivierende) depressive Episode/Störungen“ bzw. „Sonstige (rezidivierende) depressive Episode/Störungen, nicht näher bezeichnet“, worunter auch Alexithymie zu fassen sein könnte. 92 Grabe/Rufer, Alexithymie, S. 15. 93 Die aktuelle Toronto-Alexithymie-Skala (TAS-26) ist nachzulesen bei Hogrefe Testsystem, Zentrum für Testentwicklung und Diagnostik (ZTD) Universität Freiburg/Schweiz. Hrsg: K.-D. Hänsgen 2001. http://www.hogrefe-testsystem.com/ztd/HTS/inftest/WEBInformationssystem/de/4dek01/0cc11260559711d58b620001028b2ad7/hb.htm vom 19. 01.2010. 94 Grabe/Rufer, Alexithymie, S. 24. 95 Von Rad, Michael: Alexithymie. Empirische Untersuchungen zur Diagnostik und Therapie psychosomatisch Kranker. Berlin – Heidelberg – New York: Springer 1983. Hier knapp zusammengefasst, ausführlicher nachzulesen ab S. 15ff.

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Lust- oder Unlustqualitäten hindeuten und einzelne Emotionen verbal nicht voneinander unterschieden werden können. Kognitive Struktur. Obwohl prinzipiell keine Einschränkung der Intelligenz feststellbar ist, gelten Alexithymie-Patienten als außerordentlich fantasiearm und unkreativ, was sich vor allem am Vokabular und an der Satzstruktur der Patienten erkennen lässt. Ihre Sprache ist leblos und „schablonenhaft“ 96 und zeichnet sich durch eine enorme Symbolarmut aus. Vergleiche, Metaphern oder Ironie werden bei anderen nicht verstanden und können selbst nicht verwendet werden. Der Umgang mit Sprache ist eher pragmatisch und steif, auf Alltagsbedürfnisse bezogen. Weder spielen Erinnerungen oder Wünsche eine große Rolle, noch können Verarbeitungsprozesse psychischer Vorgänge artikuliert werden. Der funktionale Aspekt von Sprache, der pure Mitteilungscharakter, steht im Vordergrund. Mangelndes Identitätsgefühl. Besonders bezeichnend ist fehlende Autonomie. Über ein autarkes Selbstverständnis verfügen Alexithymie-Patienten selten. Sie definieren sich zumeist über eine symbiotische Partnerbeziehung, indem sie sich in einer depressiven Abhängigkeit an eine Schlüsselperson ketten, die zur Stabilisierung und Absicherung dient, jedoch das Defizit an Selbstwertgefühl nicht ausgleichen kann. Harmonie ist das höchste Ziel dieser Zweierbeziehung, da von der Zuwendung des Partners scheinbar der eigene Wert abhängt. Soziale Konformität. Als zusammenhängend mit dem Faktor des mangelnden Identitätsgefühls muss eine pseudonormale Überkonformität betrachtet werden, denn diese macht nur erneut die Abhängigkeit von anderen deutlich. Widerspruchsarm und überangepasst, zeigen Alexithymie-Patienten fast ausschließlich ein sozial erwünschtes Verhalten, das jedoch als Signifikat der eigenen ‚inneren Leere‘ aufzufassen ist. Dies wird besonders konkret im Gespräch, da die Unterhaltung lediglich auf die Faktizität des anderen beschränkt ist und keinerlei affektive Anteilnahme spürbar wird. Langeweile beim Gesprächspartner ist das Resultat; die Ultrakonformität des Patienten lässt keine interessanten Ecken und Kanten zu. Aus dieser Beschreibung lassen sich m.E. nach zwei Rückschlüsse ziehen. 1. Es wird erneut der Unterschied zwischen Emotion und Gefühl deutlich. Es ist durchaus denkbar, dass alexithyme Patienten Gefühle verspüren, also einen subjektiven Erlebensaspekt wahrnehmen, aber nicht im Stande sind, daraus auf eine Emotion zu schließen.97 Keine Emotionen zu haben oder sie zumindest nicht benennen

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Ebd., S. 16. In der neueren Alexithymieforschung spricht man diesbezüglich von der sogenannten „Entkopplungshypothese“, die von einer Dissoziation der „verbal-kognitiven Repräsentanzen des Affekterlebens und psychophysiologischer Affektkorrelate bei alexithymen Individuen“ ausgeht. Einfach gesagt: Die verbale Brücke zwischen Empfindung und

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zu können, impliziert nicht automatisch, dass diese Patienten gefühllos sind. In ausgeprägten Fällen ist jedoch durchaus das Fehlen des Gefühls als ursächlich anzusehen.98 Ohne Gefühl, ohne den „core affect“, kann es auch keine Emotion geben. 2. Aus den vier Merkmalen ist ein Attribut kategorisch herauszulesen: die Sprache. In drei der vier Aspekte spielt die Sprache, der Ausdruck, eine zentrale Rolle. Auf der reinen Vokabelebene dürften sich bei einem Alexithymie-Patienten kaum Emotionsworte wie „traurig“, „wütend“ oder „glücklich“ finden, sondern eher Umschreibungen, die Lust- oder Unlustqualitäten bezeichnen wie „gut“, „schlecht“ oder „schön“. Außerdem wird er kaum über Stilmittel wie Metaphern, Symbole oder Analogien, erst recht nicht über komplexere rhetorische Figuren verfügen; seine Sprache stellt sich bildarm und nüchtern dar. Erklärungsmodelle Bislang gibt es drei Modelle, die das Auftreten alexithymen Verhaltens erklären sollen. Das Defizitmodell99 geht davon aus, dass es sich um eine körperliche Beeinträchtigung handelt, dass also die Emotionalität betreffende Gehirnareale nicht entsprechend funktionsfähig oder mangelhaft miteinander vernetzt sind. Die Annahme neurophysiologischer Ursachen konnte bislang nicht eindeutig bestätigt werden, jedoch konnte nachgewiesen werden, dass alexithyme Individuen, im Gegensatz zu gesunden Menschen, über eine andere kortikale Organisation verfügen, z.B. bei der Informationsübertragung von linker zu rechter Hemisphäre. 100 Möglicherweise handelt es sich bei neurophysiologischen Beeinträchtigungen um einen disponierenden Faktor; allerdings muss nicht jeder, der disponiert ist, auch an Alexithymie erkranken. In diesem Zusammenhang werden auch genetische Faktoren untersucht, da alexithymes Verhalten als neuronale Dysfunktion vererbbar sein könnte, was Familien- und Zwillingsstudien nahelegen.101 Es ist allerdings wahrscheinlich, dass Umwelteinflüsse ebenfalls eine Rolle spielen. Diese Annahme greifen das Abwehrmodell und das Modell soziokultureller Verursachung auf.

Ausdruck ist gestört. Zwar ist eine psychophysiologische Reaktion beim Patienten messbar, die eigene Einschätzung dazu fällt jedoch unauffällig aus. Franz, M. et al.: „Gefühl ohne Sprache oder Sprache ohne Gefühl? Weitere Hinweise auf die Validität der Entkopplungshypothese der Alexithymie.“ In: Der Nervenarzt, Vol. 3 (1999), S. 216-224. Hier S. 217. 98

Man unterscheidet hier zwischen Hoch- und Niedrigalexithymen. Ebd.

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Von Rad, Alexithymie, S. 21ff.

100 Grabe/Rufer, Alexithymie, S. 78. 101 Ebd.

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Das Abwehrmodell102 ist ein psychodynamisches Modell, das in der Bindungstheorie wurzelt und das frühe Mutter/Eltern-Kind-Verhältnis zum Ausgangspunkt nimmt. Die von John Bowlby begründete Bindungstheorie befasst sich mit dem Einfluss der elterlichen Zuwendung zu Kleinkindern auf deren spätere Bindungsfähigkeit. Bowlby formuliert seine zentrale Hypothese wie folgt: „There is a strong causal relationship between an individual’s experience with his parents and his later capacity to make affectional bonds.“103 Dies hebt explizit die Bedeutung der elterlichen Zuwendung für die Entwicklung von affektiven Kompetenzen hervor. Das Maß an Liebe und Zuneigung, das Eltern ihrem Kind zuteil werden lassen, ist konstitutiv für die spätere Fähigkeit, selbst Liebe und Zuneigung zu entwickeln und auszudrücken. Terminologisch muss in diesem Zusammenhang unterschieden werden zwischen Bindungsverhalten und Bindung.104 Bindungsverhalten sind phylogenetisch ererbte Signale wie Suchen, Rufen, Weinen, Anklammern etc., die in der Bezugsperson eine Zuwendungs- und Versorgungsreaktion wachrufen sollen. Das Bindungsverhalten besteht in der Regel ein ganzes Leben lang, zu Beginn zwischen Eltern und Kind, später modifiziert zwischen Partnern einer Liebesbeziehung. Auch die Bindung ist ein Verhaltensmuster, das lebenslang besteht. Es bezeichnet die Neigung, starke gefühlsmäßige Nähe zu anderen Menschen zu entwickeln. Dabei handelt es sich um die Konzentration auf eine Bezugsperson als Folge der Beantwortung des Bindungsverhaltens. Ziel ist der Aufbau und die Erhaltung von Nähe und Zuneigung. Auch wenn das phylogenetisch ererbte Verhaltenssystem Bindung generell umweltstabil ist, so ist doch die individuelle Bindungsqualität und die damit zusammenhängende Qualität des Fürsorgeverhaltens äußerst umweltlabil. Eltern können im Umgang mit ihrem Kind ausgesprochen viel falsch machen und damit fatale Folgen für die emotionale Entwicklung des Kindes hervorrufen. Prinzipiell werden drei Bindungsmuster unterschieden: 105 das sichere, das unsichervermeidende und das unsicher-ambivalente Bindungsmuster. Kinder, die ein sicheres Bindungsmuster zeigen, haben Eltern, die sich feinfühlig verhalten und auf die Bedürfnisse des Kindes liebevoll eingehen. Das Kind lernt dadurch, auch negative Gefühle wie Trennungsängste oder Unwillen zu äußern und zeigt den Wunsch nach Zuwendung offen durch Weinen oder ähnliche Signale. Eltern, die sich unfeinfühlig 102 von Rad, Alexithymie, S. 23ff. 103 Bowlby, John: „Attachment.“ In: R.L. Gregory (Hg.): The Oxford Companion to the Mind. Oxford: Oxford University Press 1987, S. 57-58. Hier zitiert S. 58. 104 Grossmann, K.E./Winter, M.: „Der Einfluss frühkindlicher Bindungsqualität auf das Beziehungsverhalten im jungen Erwachsenenalter.“ In: Thomas Fuchs/Christian Mundt (Hg.): Affekt und affektive Störungen. Phänomenologische Konzepte und empirische Befunde im Dialog. Paderborn – München – Wien – Zürich: Schöningh 2002, S. 83-102. Hier S. 84f. 105 Ebd., S. 86f.

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verhalten, erzeugen im Kind ein unsicher-vermeidendes Bindungsmuster. Da das Kind lernt, dass die Eltern den Bindungswunsch ignorieren, zeigt es seine negativen Gefühle nicht und wendet sich stattdessen Objekten wie Spielsachen zu. Komplizierter ist das unsicher-ambivalente Bindungsmuster eines Kindes, dessen Eltern unvorhersehbar feinfühlig oder unfeinfühlig reagieren. Das Kind ist nicht in der Lage, die Reaktion der Eltern einzuschätzen, da sie anscheinend launenhaft jedes Mal anders auf den Bindungswunsch des Kindes reagieren. Daher sind solche Kinder sehr weinerlich und schwer zu beruhigen, werden schnell aggressiv oder reagieren passiv. Die direkten Auswirkungen des elterlichen Verhaltens auf das Kind liegen somit auf der Hand, eine Bielefelder Längsschnittstudie106 konnte jedoch nachweisen, dass auch ein deutlicher Zusammenhang zwischen frühkindlichem Bindungsverhalten und späteren Liebesbeziehungen besteht. Sicher gebundene Kinder waren später signifikant häufiger im Stande, stabile und gesunde Partnerschaften zu führen, wohingegen dies unsicher-vermeidend oder unsicher-ambivalent gebundenen Kinder eher schwerfiel oder sogar misslang. Die affektive Haltung der Familie hat demzufolge einen deutlichen Einfluss auf die Entwicklung emotionaler Kompetenzen. Das Abwehrmodell greift die Annahmen der Bindungstheorie auf, die von der symbiotischen Einheit zwischen Mutter107 und Kind ausgeht, auf deren Grundlage das Kind lernen soll, die Welt zu entdecken und in einem langsamen Loslösungsprozess von der Bezugsperson Autonomie zu erlangen. Störungen der symbiotischen Mutter-Kind-Einheit oder des Loslösungsprozesses können Auslöser für alexithymes Verhalten sein. Dabei werden zwei Mutter-Typen genannt, die in scheinbarem Gegensatz zueinander stehen, häufig aber beide in derselben Person nachweisbar sind: Die „überfürsorglich[e]“ 108 und die „verdeckt zurückweisend[e]“109 Mutter. Beide Mutter-Typen übertragen eigene narzisstische Konflikte auf das Kind; sie überwachen es „ängstlich-misstrauisch“110 und engen damit das Explorationsverhalten des Kindes massiv ein. Durch restriktiv-manipulative Beruhigungsmaßnahmen, mittels welcher negative Gefühlsäußerungen des Kindes erstickt werden, wird die Entwicklung einer Ich-Identität des Kindes verhindert und die symbiotische Zweierbeziehung künstlich aufrechterhalten. So entsteht die typische Abhängigkeit alexithymer Patienten, die sich später von der Mutter auf andere 106 Ebd., S. 91ff. 107 In der verwendeten Literatur ist nur von der Rolle der Mutter die Rede, jedoch erscheint es plausibel, die beschriebenen Auswirkungen auch auf das Verhalten des Vaters zurückführen zu können. 108 Von Rad, Alexithymie, S. 24. 109 Ebd. 110 Ebd.

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Personen übertragen kann. Durch die ständige Unterdrückung emotionaler Äußerungen erlernt das Kind weder die Differenzierung von Gefühlszuständen noch deren Artikulation, sondern verweilt stets auf der Stufe der Lust/Unlust. Dies ist in direktem Zusammenhang mit der steifen und funktionalen Benutzung der Sprache zu sehen, deren Ausreifung und emotionale Einfärbung dadurch ebenfalls behindert wird. Alexithymie ist somit nicht nur als „Defizit (‚Mangelsyndrom‘) [zu verstehen], sondern als Ergebnis einer Anpassung an suboptimale Entwicklungsbedingungen“.111 Bei Grabe und Rufer heißt es weiter: „Nachhaltige Störungen der zu diesen Fähigkeiten [Verbalisierung und Symbolisierung eigener affektiver Zustände sowie Empathie, Anm. d.Verf.] führenden emotionalen Lernprozesse während des entsprechenden sensiblen kindlichen Entwicklungsintervalls führen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Beeinträchtigung der Affektverarbeitung […] und tragen so zum Entstehen alexithymer Störungen bei.“112

Der Umwelteinfluss ‚Eltern‘ hat also massive Auswirkungen auf die emotionale Entwicklung des Kindes, welches, aufgewachsen in einem lieblosen oder sogar aggressiven Elternhaus, eher dazu neigen wird, eine affektive Störung wie Alexithymie zu entwickeln. Jedoch kommen auch andere, familienunabhängige Umwelteinflüsse als determinierende Faktoren in Betracht, wie soziokulturelle Modelle vorschlagen. Soziokulturelle Erklärungsmodelle 113 ordnen die Artikulationsunfähigkeit von Emotionen einem schichtbedingten Verhalten zu, demzufolge wegen mangelnder Verbindung von sprachlichen Codes und emotionalem Verhalten eine Dysfunktion entstehe. Alexithymie wäre somit in erster Linie ein Problem des Prekariats, da in bildungsfernen Haushalten eine Barriere zwischen Emotion und Artikulation bestehe; Unterschichtspatienten würden also schlicht durch ihre mangelnde Bildung nicht über die Fertigkeiten verfügen, Emotionen zu versprachlichen. Diese These ist jedoch nicht durch das bislang erhobene und ausgewertete Datenmaterial bestätigt worden. Vielmehr scheint es sich um ein Phänomen zu handeln, dass in allen Gesellschaftsschichten vorkommt. Ein anderer Ansatz innerhalb eines soziokulturellen Erklärungsrahmens geht davon aus, dass durch sekundäre Sozialisation (durch die Einflüsse der modernen Gesellschaft, z.B. durch mediale Beeinflussung, Peergroups etc.) alexithymes Verhalten als Angleichungsversuch an eine „Metanorm“ 114 erworben wird. Das Individuum wird als den Zwängen der technisierten Umwelt unterworfen aufgefasst, das sein Verhalten an die Anforderungen der (Berufs-)Welt 111 Grabe/Rufer, Alexithymie, S. 48. 112 Ebd., S. 50. 113 von Rad, Alexithymie, S. 29f. 114 Ebd., S. 30.

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angepasst habe. Hierzu liegen allerdings noch keine schlüssigen Untersuchungen vor. Auch wenn soziokulturelle Erklärungsversuche bislang gescheitert sind, haben sie mit dem als wahrscheinlich geltenden Abwehrmodell eines gemeinsam: Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass neurophysiologische Schädigungen disponierend wirken, aber der Einfluss der nächsten Umwelt scheint eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Genese einer affektiven Störung zu spielen. Daher soll nun in einem nächsten Schritt die Bedeutung des direkten sozialen Umfeldes für die Entstehung und Entwicklung von Emotionen, aber auch von emotionalen Beeinträchtigungen untersucht werden. 3.3.2 Gefühllosigkeit als erlerntes Verhalten Die Hypothese zugrunde legend, dass nicht nur Persönlichkeitsmerkmale, Verhaltensweisen, Werte und Normen vom menschlichen Miteinander geprägt werden, sondern auch die Entwicklung von Emotionalität durch andere Menschen und ihr Verhalten mitbestimmt wird, zeigt das vorliegende Unterkapitel den Prozess der Sozialisation von Emotionen auf. Christiane Voss beruft sich für diesen Vorgang auf die „Narrativität von Emotionen“115 und referiert damit auf die alltagspsychologische Verarbeitung emotionaler Zustände durch Erzählung. Jedoch werden Emotionen nicht nur durch Kommunikation verarbeitet, sondern auch vermittelt. Komplexe soziale Emotionen wie Eifersucht, Neid, Scham oder Stolz werden durch Narration und damit durch Sozialisation lernbar. Als einer der ersten verwendete Emile Durkheim den Begriff Sozialisation und setzte ihn in Relation zur Erziehung, durch welche aus dem zunächst asozialen Nachwuchs einer Gesellschaft soziale Mitglieder geformt würden.116 Erziehung und Sozialisation sind jedoch nicht deckungsgleich, auch wenn sie in einem gewissen Verhältnis zueinander stehen. Klaus Hurrelmann definiert Sozialisation in seinem Buch Einführung in die Sozialisationstheorie als „Prozeß der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit“117 und bezeichnet damit ein lebenslanges Entwicklungsgeschehen, das abhängig ist von den jeweiligen sozialen und materiellen Lebensbedingungen des Einzelnen. Unter Erziehung versteht er „die Handlungen und Maßnahmen […], durch die Menschen versuchen, auf die Persön-

115 Voss, Narrative Emotionen, S. 181. 116 Hurrelmann, Klaus: Einführung in die Sozialisationstheorie. Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit. Weinheim – Basel: Beltz 1986. S. 13. 117 Ebd., S. 14, im Original hervorgehoben, hier wird zugunsten der besseren Lesbarkeit jedoch auf die Hervorhebung verzichtet.

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lichkeitsentwicklung anderer Menschen Einfluß zu nehmen“. 118 Während Erziehung also die gezielte Steuerung oder Formung der Persönlichkeit eines anderen nach bestimmten Wertvorstellungen und Maßstäben darstellt, ist Sozialisation der gesamte Prozess aus Erziehung, selbstständiger Entwicklung sowie Reflektion von und Reaktion auf Umwelteinflüsse. Eine Sozialisationstheorie nach Hurrelmann Hurrelmann nennt sein Konzept von Sozialisation das „Modell der produktiven Realitätsverarbeitung“, mittels welchem er konstatiert, Persönlichkeitsentwicklung geschehe „im Prozeß einer Auseinandersetzung mit der ‚inneren‘ und der ‚äußeren‘ Realität“. 119 Unter „äußerer Realität“ versteht Hurrelmann dabei die Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Funktionsbereichen, ihrer sozialen Struktur und daran anknüpfend den sozialen und materiellen Lebensbedingungen. Die „äußere Realität“ beginnt an den Grenzen des eigenen Körpers, wohingegen die „innere Realität“ innerhalb der Körpergrenzen liegt. Dabei handelt es sich sowohl um physische wie auch psychische Strukturen. Nach Hurrelmann tragen zwei Arten von Verarbeitungsprozessen zur Genese von Persönlichkeit bei: 1. die Reflektion von und Reaktion auf die soziale und materielle Lebensumwelt, nämlich die äußere Realität, die der Einzelne durch seine Verarbeitungsmechanismen aktiv mit- und umgestalten kann, 2. die Reflektion von und der Umgang mit psychischen Prozessen, Emotionen, Wünschen, Trieben etc., die in der inneren Realität verortet sind; auch die innere Realität ist durch produktive Verarbeitungsvorgänge veränderbar. Die Auseinandersetzung mit innerer und äußerer Realität zeichnet sich also durch eine zweidimensionale Wechselseitigkeit aus: Die äußere Realität beeinflusst und formt das Individuum, welches genauso die äußere Realität mitgestalten und verändern kann. Das gleiche gilt für das System der inneren Realität. Ein Schaubild soll dies verdeutlichen:

118 Ebd., im Original hervorgehoben, hier wird zugunsten der besseren Lesbarkeit jedoch auf die Hervorhebung verzichtet. 119 Ebd., S. 63, im Original hervorgehoben, hier wird zugunsten der besseren Lesbarkeit jedoch auf die Hervorhebung verzichtet.

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Äußere Realität Persönlichkeit

Innere Realität

Abbildung 2: Hurrelmanns Darstellung der produktiven Realitätsverarbeitung.120

Eine gesellschaftsfreie oder umweltfreie Persönlichkeitsentwicklung ist somit unmöglich; die Umwelt nimmt einen mittelbaren Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen, so dass gesellschaftliche und soziale Faktoren diesen Prozess immer mitgestalten. Die Familie spielt in diesem Entwicklungsvorgang eine zentrale Rolle. Zwar hat sich die Bedeutung der Familie in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt: Institutionalisierte Organisationen wie Kindergarten, Schule, Jugendzentrum, Hort, Kindertagesstätte, Sportvereine etc. haben vermehrt erziehungs- und sozialisationspädagogische Aufgaben übernommen, die früher der Kernfamilie vorbehalten waren. Dennoch kommt ihr auch heute eine Schlüsselrolle zu. Immer noch ist es die Familie, die in den ersten und entscheidenden Lebensjahren die Entwicklung des Kindes prägt. Hurrelmann bezeichnet sie daher als „wichtigste soziale Institution im Sozialisationsprozeß“,121 da die Familie die primäre Umwelt darstellt, in der das Kleinkind sich zuerst zurechtfinden muss. Sie bietet Verhaltensprogramme zur Anpassung an und Auseinandersetzung mit der Umwelt, die kognitiver, sozialer und auch emotionaler Natur sind. Mithilfe der Familie lernt das Kind die Orientierung in der Welt, den Umgang mit Mitmenschen sowie emotionale Grundmuster. Durch die familiäre Vermittlung von Werten und moralischen Maßstäben werden Verhaltensnormen gesetzt, die nicht nur soziale Interaktion, sondern auch Emotionalität betreffen. Die Familie ist somit die erste Trainingseinheit, sozusagen die Grundausbildung für soziales Verhalten. Die Vermittlung solcher Handlungskompetenzen ist 120 Ebd., S. 72. Die Pfeile symbolisieren Prozesse der Auseinandersetzung und Verarbeitung. 121 Ebd., S. 104.

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abhängig von der Lebenslage der Familie (materielle, soziale, ökologische Lebensbedingungen) und von den Elternpersönlichkeiten, die wiederum selbst in einem langen Sozialisationsprozess von Umwelt, Sozialstruktur und Kultur geprägt sind. Zusammenfassend findet Sozialisation als lebenslange Entwicklung der Persönlichkeit in einem aktiven Austauschverhältnis zwischen Individuum und sozialer und materieller Umwelt statt, in welchem sich äußere Realität, innere Realität und Persönlichkeit gegenseitig beeinflussen und gestalten. Die zentrale Rolle im Sozialisationsprozess nimmt die Familie ein, die dem Kind die ersten motorischen, interaktiven, intellektuellen, moralischen und emotionalen Handlungskompetenzen vermittelt. Somit werden nicht nur Werte, Normen und Moral sowie Rollenverhalten, Interaktion und Kommunikation in der Familie ‚gelernt‘, sondern ebenso Emotionalität und der Umgang mit eigenen Gefühlen. Emotionen werden demnach in einem Sozialisationsprozess im Sinne eines Verständnisses für komplexe Emotionsmuster (wie z.B. Scham oder Eifersucht) erworben, aber auch im Sinne einer generellen emotionalen Deutungs- und Artikulationsfähigkeit. Diese emotionale Sozialisation soll nun genauer beleuchtet werden. Sozialisation von Emotionen Die enge Kohärenz von Sozialisation und Emotionalität wird schon aus der bereits erwähnten Bindungstheorie deutlich, da die Primärbeziehung zwischen Eltern und Kind die erste sozialisierende Funktion hat und das Bindungsverhalten und damit die emotionale Entwicklung beeinflusst. Dieser Zusammenhang bedarf einer genaueren Untersuchung. Unter Sozialisation von Emotion wird allgemein der Prozess verstanden, „how people come to feel as they do as a result of their relationships over time with others“.122 Anders ausgedrückt: Die lang- und mittelfristigen zwischenmenschlichen Beziehungen sind ein mitbedingender Faktor für die emotionale Entwicklung. In Abhängigkeit davon, wie die jeweiligen Beziehungen geartet sind, wie sie strukturiert sind und wie der Umgang miteinander dadurch geprägt wird, sei er liebevoll, freundlich, höflich, kühl, abweisend oder sogar schroff, entstehen emotionale Muster, die sich einprägen und in entsprechenden Situationen abgerufen werden können. Hieraus wird die Komplexität der emotionalen Sozialisation deutlich: Emotionen sind einerseits die Botschaft von Sozialisation, andererseits aber auch das Medium.123 Durch die Kommunikation von Emotionen werden gleichzeitig Emotionen erzeugt.

122 Saarni, Carolyn: „Socialisation of Emotion.“ In: Michael Lewis/Jeanette M. Haviland (Hg.): Handbook of Emotions. New York – London: The Guilford Press 1993, S. 435445. Hier zitiert S. 435. 123 Lutz, C.A.: „Parental goals, ethnopsychology and the development of emotional meaning.“ In: Ethos Vol. 2 (1983), S. 246-262. Hier S. 260.

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Prinzipiell sind zwei Spielarten emotionaler Sozialisation zu unterscheiden: die direkte und die indirekte. Unter direkter Sozialisation wird didaktisches Lehren sowie Zufallslernen verstanden. Mit didaktischer Lehre sind klare Aufforderungen, Benimmregeln etc. gemeint, die Eltern an ihr Kind richten. Die Aufforderung, sich nach Erhalt eines Geschenks zu bedanken, impliziert gleichzeitig den Lerninhalt, nicht nur Dankbarkeit verbal zu artikulieren, sondern sie im Idealfall auch zu empfinden (siehe Gefühlsregeln, Kap. 3.2.2). Jedoch ist die affektive Beziehung zwischen Lehrendem und Kind von entscheidender Bedeutung dafür, wie (erfolgreich) die Sozialisation vonstatten geht, da die emotionale Sozialisation eng mit der emotionalen Haltung der am Prozess beteiligten Personen verwoben ist. 124 Mit dem Zufallslernen ist keine direkte erzieherische Einflussnahme auf das Kind gemeint, sondern eher unwillkürliche Handlungen wie mimische und gestische Ausdrücke, die Kinder beiläufig aufnehmen, aber dennoch verinnerlichen.125 Auch hier ist die Beziehung zwischen Kind und Bezugsperson(en) von entscheidender Bedeutung, da Eltern, die ihrem Kind affektiv sehr zugeneigt sind, liebevoll mit ihm umgehen und einfühlsam auf seine Bedürfnisse reagieren, ihrem Kind sehr viel eher emotionale Ausdruckskompetenzen vermitteln können als Eltern, die ein distanziertes oder 124 „For example, an involved and warmly attentive mother may have the intended effect when she directly instructs her disappointed son not to hurt Grandpa’s feelings by showing disappointment upon receiving from Grandpa a set of old records for his birthday. The parent may suggest to the son that he should smile and say thank you to Grandpa for his well-meaning, albeit misguided, intentions, instead of showing his disappointment over receiving used records. In contrast, a harsh, emotionally distant parent may give the same directive, but either the child does not attend or transforms the directive into what is being modeled (i.e., brusque emotional remoteness). The child then responds to Grandpa with a frown, accompanied by a curt tone of voice, and does not take into account the potential effect of his expressive behavior on Grandpa’s feelings.“ (Saarni, „Socialisation of Emotion“, S. 438f.) 125 Wird ein Kind z.B. als Baby häufig angelächelt, entsteht in ihm eher die Bereitschaft, aus eigenem Antrieb zu lächeln und damit Zufriedenheit zu signalisieren. Wird das Baby selten angelächelt, wird es selbst selten lächeln. Verantwortlich für solche respondierenden Gesichtsausdrücke sind die in den 1990er Jahren von Giacomo Rizzolatti und seinem Forscherteam entdeckten Spiegelneuronen, die die „biologische Basis des Mitgefühls“ darstellen. Spiegelneurone kommen nicht nur zum Einsatz, wenn eine zielgerichtete Handlung ausgeführt, sondern auch, wenn sie nur beobachtet, gehört oder sogar nur vermutet oder darüber gelesen wird. S. hierzu Rizzolatti, Giacomo/Sinigaglia, Corrado: Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls. Übers. v. Friedrich Griese. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008 sowie Iacoboni, Marco: Woher wir wissen, was andere denken und fühlen. Die neue Wissenschaft der Spiegelneuronen. Übers. v. Susanne Kuhlmann-Krieg. München: DVA 2009.

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liebloses Verhältnis zu ihrem Kind pflegen. 126 Hier sind deutliche Parallelen zur Bindungstheorie zu erkennen. Mit indirekter Sozialisation sind solche Vorgänge gemeint, die temporäre oder situative Faktoren aufweisen, die zwischen initiierendem Auslöser und darauffolgender emotionaler Erfahrung eingreifen, mit anderen Worten: Imitation und Identifizierung.127 Vorbilder spielen dabei eine große Rolle, sie bieten das Imitations- und Identifizierungsmaterial, an dem sich Kinder orientieren und sich darüber entwickeln.128 Imitation, oder auch mimetisches Lernen, ist eine der wichtigsten Lernverhaltensweisen des Menschen. Albert Bandura nennt dies „Lernen am Modell“ 129 und meint damit die Beobachtung eines Anderen und seiner Handlungen und die anschließende nachahmende Ausführung derselben Handlung. Dieses Imitationsoder Modelllernen wird nicht nur bei tätlichen Handlungen wie z.B. dem Binden einer Schleife oder der Verwendung von Besteck zur Anwendung gebracht, sondern auch bei emotionalen Prozessen. Kleinstkinder lernen Gesichtsausdrücke von ihren Eltern und imitieren diese, später können sie sie selbst einsetzen, um bestimmte emotionale Zustände wie Ärger, Freude oder Traurigkeit auszudrücken. In größerem Rahmen funktioniert Imitationslernen bzw. die Sozialisation durch Imitation ebenfalls: Zeigen Eltern ihre eigenen Gefühle kaum offen und sind eher beherrscht und kontrolliert im Umgang mit der eigenen Emotionalität, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass das Kind durch Imitation der Eltern ebenfalls emotionale Kontrolle lernt. Sind die Eltern jedoch eher extrovertiert und zeigen ihre Gefühle deutlich, lernt auch das Kind mit größerer Wahrscheinlichkeit einen offenen Umgang mit Emotionen. Gerade beim Imitationslernen ist aber auch die Identifizierung von großer Bedeutung. Freud unterscheidet zwei Arten der Identifizierung: entweder sein wollen wie der andere oder haben wollen, was der andere hat. 130 In beiden

126 Saarni, „Socialisation of Emotion“, S. 439. 127 Ebd. 128 Ein Vorbild kann ein Elternteil oder ein anderes Familienmitglied sein, aber ebenso gut ein Popstar oder ein Filmschauspieler, sogar fiktive Figuren aus Büchern oder Filmen sind denkbar. Dieses Phänomen der Imitation von und Identifizierung mit Romanfiguren ist allerdings nicht neu; schon Goethes Werther hatte zu Imitationsverhalten (etwa in der Mode) sowie zu Identifizierungen geführt, die in einigen Fällen sogar im Suizid geendet haben. Dies wurde unter dem Begriff ‚Werther-Syndrom‘ bekannt. 129 Bandura, Albert: Sozial-kognitive Lerntheorie. Stuttgart: Klett-Cotta 1979. S. 31. 130 Diese Unterscheidung macht Freud am Ödipus-Komplex fest. Das männliche Kind will sein wie der Vater, die Mutter will es jedoch haben. Für Töchter gilt das Umgekehrte. In beiden Fällen findet ein Identifizierungsprozess statt, wobei beim ersteren eine nach außen gerichtete Orientierung am Wunschobjekt (Vater) stattfindet, beim letzteren eine Vereinnahmung des Wunschobjekts (Mutter) in die eigene Identität.

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Fällen handelt es sich um die erste gefühlsmäßige Bindung eines Kindes an eine Bezugsperson, einmal als subjektbezogene und einmal als objektbezogene Bindung. Die Identifizierung mit Vater oder Mutter und später mit anderen geeignet erscheinenden Persönlichkeiten führt zu einer Nachahmung dieser Personen und damit zur indirekten Sozialisierung des Kindes durch Orientierung an diesen Bezugspersonen und Vorbildern. Imitation und Identifizierung sind somit in ihren Auswirkungen auf das Kind nicht klar voneinander zu trennen. Dabei gilt es weiter zu beachten, dass direkte und indirekte Sozialisation immer Hand in Hand gehen und der Sozialisationsprozess in der Realität nicht eindeutig in direkte oder indirekte Teilprozesse unterteilt werden kann. Das Zusammenspiel all dieser Einflussgrößen sowie weiterer individueller Aspekte wie Geschlecht, Temperament und Persönlichkeitsmerkmale als auch pathologisch induzierter Umstände ergeben zusammen den Prozess der emotionalen Sozialisation. Bei diesem komplexen Prozess kann natürlich auch etwas misslingen. Saarni erklärt dazu: „[…] socialisation does contribute to distorted or immature development of emotional functioning. As a result of dysfunctional and/or pathological relationships with care-givers, children’s emotional functioning becomes disorganized and maladaptive.“131

Die Sozialisation durch die primären Bezugspersonen kann folglich zu einer Störung der affektiven Entwicklung führen, wenn die Beziehung zwischen Kind und Eltern dysfunktional ist, sich durch emotionale oder soziale Defizite auszeichnet oder aber sogar pathologische Züge trägt, das Kind also traumatische Erlebnisse innerhalb der Beziehung zu den Eltern durchleben muss, wie etwa physische oder psychische Misshandlung oder Missbrauch. Solche Erlebnisse schlagen sich in der Kinderseele als Erfahrungen des Vertrauensmissbrauchs und -verlusts, als Empfindung des Nichtgeliebtwerdens oder des Nichtgeliebtwerdendürfens nieder und schädigen somit das emotionale Potenzial eines Kindes maßgeblich. Solcherart beeinträchtigte Kinder haben mit größerer Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsene enorme Schwierigkeiten, affektive Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen und Vertrauen zu anderen zu fassen sowie eigene Emotionen und auch die anderer zu encodieren und zu decodieren. 132 Unter Rückgriff auf das Konzept der Alexithymie, für die physiologische Faktoren zwar disponierend wirken können, die aber anscheinend am wirkungsvollsten mittels gestörter Beziehung zwischen Eltern Freud, Sigmund: „Massenpsychologie und Ich-Analyse.“ In: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.): Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt a.M.: Fischer 2003, S. 65-125. Hier S. 98ff. 131 Saarni, „Socialisation of Emotion“, S. 443. 132 Saarni nennt in ihrem Artikel eine Reihe von Studien, die dies belegen. Ebd.

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und Kind erklärbar wird, kann auch in Bezug auf die Sozialisation von Emotionen festgestellt werden, dass die Primärbeziehung zwischen Kind und Familie größten, wenn auch nicht zwingend unmittelbaren Einfluss auf die emotionale Entwicklung des Kindes hat. Nachdem nun erklärt wurde, wie es zu einer Affektstörung kommen kann, sollen nun in einem letzten Schritt vor der Romananalyse der literaturwissenschaftlichen Affektforschung Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Aufgabe des nächsten Kapitels wird es sein, eine literaturwissenschaftliche Arbeitsdefinition von Affekt, Emotion und Gefühl sowie der Analysekategorien des emotions- und affektlosen Erzählens zu entwickeln, anhand derer die Romane von Bret Easton Ellis untersucht werden sollen.

4. Literatur und Emotion

Given a choice between grief and nothing, I’d choose grief. WILLIAM FAULKNER/THE WILD PALMS

Faulkner gewann 1949 den Literaturnobelpreis „for his powerful and artistically unique contribution to the modern American novel“1 und wurde für seinen emotionalen und komplexen Schreibstil gelobt, der sich durch die Verwendung von Mehrpersonenperspektive und den „stream of consciousness“ auszeichnet. Beide Techniken finden sich auch bei Ellis; von emotionalem Erzählen kann bei ihm jedoch nicht die Rede sein. Ellis wählt für seine Erzählerfiguren nicht den Schmerz, sondern das Nichts. Um dieses Nichts analysierbar zu machen, wird zunächst eine Affektpoetik entwickelt, die sich systematisch mit dem Text befasst. Dabei werden konkret die Emotionen und Affekte untersucht, die ein literarischer Text als zugehörig zu einer Figur vermittelt oder aber vorenthält.2 Das Ziel besteht darin, Wege zu finden, wie

1

The Official Web Site of the Nobel Foundation. http://nobelprize.org/nobel_prizes/ literature/laureates/1949 vom 20.11.2012.

2

Dabei wird jedoch nicht ungenau nach „Affekte[n] der Literatur“ oder den „den literarischen Text prägenden affektuellen Regungen“ gefragt, wie etwa Meyer-Sickendiek es tut (Meyer-Sickendiek, Burkhard: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. Würzburg: Könighausen & Neumann 2005. S. 9). Solche dehnbaren Bezeichnungen vermeiden eine genaue Verortung der Emotionen und lassen unklar, ob sie der Produktionsebene, dem Text oder dem Leser zugeschrieben werden. Vgl. auch Winko, die von „literarisch gestaltete[n] Emotionen“ spricht, dabei jedoch nicht erklärt, ob sie damit die Autoremotionen, Figurenemotionen oder Leseremotionen meint. (Winko, Simone: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin: ESV 2003. Hier zitiert S. 12, Hervorhebung im Original.)

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Emotionen und Affekte am literarischen Text festgestellt werden können.3 Weiter wird aufgeschlüsselt, wie sich die Analysekategorien des emotions- und affektlosen Erzählens voneinander abgrenzen. Im Anschluss soll geklärt werden, wie diese Darstellungsweisen emotionale Reaktionen im Leser auslösen, wobei sowohl die Affektrezeption (wie figurale Emotionen und Affekte vom Leser wahrgenommen werden) als auch die Affektproduktion (wie auf das Gelesene emotional reagiert wird) durch den Leser im Fokus steht.

4.1 AFFEKTPOETIK : E MOTIONEN IM T EXT

UND

E MOTIONSMANGEL

In Kapitel 3.1.3 wurde eine erste Differenzierung der Begriffe Affekt, Emotion und Gefühl vorgelegt, die hier kurz rekapituliert werden soll. Demnach ist eine Emotion das gesamte, komplexe Gefüge aus psychischer und physischer Wahrnehmung einer seelischen Veränderung, somatischer Reaktion sowie Expression (Mimik, Gestik und Handlung). Die Emotion verfügt über eine statische Qualität, eine flexible Intensität und Dauer und ist in der Regel objektgerichtet. Sie kann eindeutig identifiziert werden. Ein Affekt ist eine besonders starke Emotion, die sich durch die gleichen Charakteristika auszeichnet, jedoch im Hinblick auf die Intensität und Dauer ausgeprägter ist. Er wirkt als emotionaler Beweggrund, hat demnach eine starke handlungsmotivierende Komponente. Diese Handlungsmotivation ist nach Freud triebgesteuert und daher schwer kontrollierbar. Ursächlich können Lebensund Sexualtriebe, aber auch Todes-, Destruktions- und Ichtriebe sein, die jedoch nicht immer offen zu Tage treten müssen. Gemäß Freud handelt es sich in dem Fall um einen unbewussten Affekt: ein Affekt, der zwar bewusst wahrgenommen wird, aber von seinem Triebinhalt getrennt worden ist. Das Gefühl ist im Sinne der vorgestellten Komponentendefinition die subjektive Ingredienz, die anzeigt, wie sich etwas anfühlt: angenehm oder unangenehm. Es handelt sich um den hedonistischen, objektlosen Erlebensaspekt. Eine schematische Darstellung verdeutlicht den Zusammenhang der Begriffe:

3

Im Gegensatz zur Affektpoetik Meyer-Sickendieks werden keine gattungskonstitutiven Emotionen herausgearbeitet. Er ordnet bestimmten literarischen Gattungen, aufgeschlüsselt nach lyrischen, dramatischen und epischen Textformen, bestimmte konstitutive Emotionen zu, etwa die Trauer der Elegie, das Schuldgefühl der Tragödie oder die Angst dem Märchen. Obwohl sich die vorliegende Arbeit ausschließlich mit Romanen befasst, geht es nicht darum, eine affektgeprägte Gattungspoetik zu entwerfen, sondern einen allgemeinen Leitfaden zur Identifizierung von figuralen Emotionen und Affekten vorzulegen, der auch in anderen Textformen Anwendung finden kann.

L ITERATUR UND E MOTION | 83

Gefühl

Emotion

Affekt

Abbildung 3: Schematische Darstellung der Begriffe Gefühl, Emotion und Affekt.

Das Gefühl steht im Zentrum des Diagramms, da es dem Urstoff jeder Emotion und jeden Affekts entspricht. Ohne das Gefühl, den subjektiv-hedonistischen Kern, kann es weder eine Emotion noch einen Affekt geben. Die Emotion baut auf dem Gefühl auf. Sie verfügt neben der hedonistischen Dimension über weitere Merkmale wie Objektbezug, Intensität und Dauer, somatische Reaktionen und Handlungsmotivation. Der Affekt schließlich ist an der Peripherie des Schaubildes angesiedelt, da er über alle Merkmale des Gefühls und der Emotion verfügt, jedoch in der Intensität, Dauer und Handlungsmotivation stärker ausgeprägt ist als eine Emotion. Emotionsloses Erzählen – affektloses Erzählen Die Identifizierung von figuralen Emotionen, Affekten und Gefühlen orientiert sich an der oben zusammengefassten Definition und stützt sich auf die schaubildlich dargestellte Unterscheidung der Phänomene. Erkennbar werden sie anhand „spezifische[r] Textstrukturen, die Gefühle kodieren“.4 Die Emotion wird auf der Textebene durch „explizit-lexikalische Merkmale“, 5 also durch sogenannte Emotionswörter, markiert („sad“, „happy“, „anxious“, „furious“ etc.). Sie kann auf der Sinnebene auch durch Beschreibungen der einzelnen Komponenten erschlossen werden, also durch „implizit-lexikalische“ 6 Kennzeichen wie etwa die Schilderung von

4

Winko, Kodierte Gefühle, S. 43. Winko benutzt in ihrem Buch den Ausdruck „Gefühle” synonym für Emotionen und Affekte, ohne die drei Begriffe voneinander zu unterscheiden. An dieser Stelle sind daher Emotionen und Affekte mitzudenken.

5

Ebd., S. 49.

6

Ebd.

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somatischen Reaktionen oder durch Darstellung von Mimik, Gestik und Handlung. Für den Affekt gilt das Gleiche, jedoch wird er im Text nicht nur durch Worte („panic“, „enthusiastic“, „wrathful“ etc.) oder somatische Beschreibungen markiert, sondern darüber hinaus, indem er die Syntax beeinflusst, also durch „syntaktische Merkmale“,7 wie z.B. durch Unterbrechungen, Ellipsen, Wiederholungen, Ausrufezeichen u.ä. Die größere Intensität eines Affekts wird am Text also auch jenseits lexikalischer Signale deutlich. Das Gefühl wird auf der Textebene durch Qualitätsworte markiert („good“, „bad“, „fine“ etc.), die vermitteln sollen, wie sich eine psychische Regung anfühlt. Nachdem Gefühle, Emotionen und Affekte recht simpel am Text zu erkennen sind, stellt sich die Frage nach der Bestimmbarkeit des emotions- und affektlosen Erzählens. Da sich diese Erzählmodi offensichtlich durch das Fehlen von Emotionen und Affekten auszeichnen, sind sie ungleich schwerer am Text zu identifizieren. Das emotionslose Erzählen ist als das Fehlen definierter Emotionen zu bezeichnen. Auf der Textebene ist emotionsloses Erzählen demnach durch die Vermeidung von Emotionswörtern im Sinne alexithymer Sprachmerkmale gekennzeichnet. Es handelt sich daher um eine funktionale, reduktive Sprache, die auf Emotionsausdrücke verzichtet. Emotionen nicht präzise zu benennen, bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass der Erzähler zum Fühlen außerstande ist. Es heißt lediglich, dass eine klare Bestimmung, eine Definition des Empfundenen nicht stattfindet. Dies kann aus Gründen der Sprachlosigkeit geschehen, die dem Erzähler das Unvermögen auferlegt, seine psychischen Erlebnisse auszuformulieren, aber auch aus Unwillen, der den Erzähler dazu bewegt, seine Emotionen und Affekte zu verheimlichen, herunterzuspielen oder zu ignorieren. Während demnach auf der Textebene konkrete Bezeichnungen vermieden werden, ist auf der Sinnebene jedoch oftmals eine implizite emotionale Ebene erkennbar, indem durch die Beschreibung von Emotionskomponenten, etwa der somatischen Reaktion oder der motivierten Expression, wie Mimik, Gestik oder Handlung, auf die emotionale Verfassung der Figur rückgeschlossen werden kann. Emotionsloses Erzählen heißt also nicht, dass der Erzähler nicht über Emotionen und Affekte verfügt, sondern einzig, dass er sie nicht klar benennt. Das affektlose Erzählen lässt sich in zwei Unterkategorien aufteilen, das affektlos-vermeidende und das affektlos-postulierende Erzählen. Beide Spielarten zeichnen sich im Gegensatz zum emotionslosen Erzählen durch das tatsächliche Fehlen von Emotionen und Affekten aus. Ein affektlos erzählter Text lässt keine verborgene emotionale Ebene erkennen, sondern weist seine Protagonisten als gefühlsarm und kalt aus. Beim affektlos-vermeidenden Erzählen wird dies einerseits durch den Verzicht auf Emotionsworte und durch die Vermeidung der Schilderung von soma7

Ebd.

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tischen Reaktionen oder von Emotionsausdrücken erzielt, andererseits durch unmotiviert erscheinende Taten: Da Affekte als emotionale Beweggründe verstanden werden, bezeichnet das Fehlen von Affekten das Fehlen von emotionaler Motivation. Damit hört die Figur nicht auf, sich zu verhalten, sie handelt nur nicht aufgrund affektiver Anlässe. Die affektive Grundlosigkeit ihrer Handlungen verhindert eine emotionale Nachvollziehbarkeit durch den Leser. Das affektlos-postulierende Erzählen zeichnet sich im Gegensatz dazu durch eine paradox erscheinende Besonderheit aus: Ein affektlos-postulierend erzählender Protagonist kann Emotionen behaupten, sie also konkret benennen, aber die subjektive Teilhabe daran ausblenden. Die Schwierigkeit für den Rezipienten besteht hierbei darin, den Erzähler als affektlos zu entlarven, obwohl er Emotionswörter benutzt. Stehen die behaupteten Emotionen etwa im Widerspruch zum Handeln des Protagonisten, zu anderen Aussagen des Erzählers oder anderer Figuren, muss der Wahrheitsgehalt der behaupteten Emotion in Zweifel gezogen werden. Zur Demaskierung eines affektlospostulierenden Erzählers ist es demnach notwendig, von der rein lexikalischen Ebene zu abstrahieren und die Inhaltsebene mit in die Analyse einzubeziehen. Während ein emotionslos erzählter Text demnach auf der Textebene auf die explizite Benennung von Emotionen und Affekten verzichtet, aber auf der Sinnebene eine implizite emotionale Ebene erkennbar wird, kann ein affektlos erzählter Text völlig die Darstellung von Emotionen unterlassen oder aber Emotionen behaupten, diese jedoch auf der Sinnebene negieren. Stilistik der verweigerten Einfühlung Bei beiden Erzählmodi handelt es sich um Strategien zur Leserlenkung oder beeinflussung, indem der Leser absichtlich aus dem Innenleben der Erzählerfigur ausgeschlossen wird. Obwohl ein autodiegetischer Erzähler besonders geeignet wäre, Einblick in sein Seelenleben zu gewähren, entscheidet sich Ellis bewusst dafür, autodiegetische Erzähler zu installieren, die genau dies nicht tun. Damit bricht Ellis nicht nur mit der gängigen Lesererwartung an einen Ich-Erzähler, sondern entscheidet sich überdies für „eine Stilistik der verweigerten Einfühlung“. 8 Diese bezeichnet eine affektpolitische Erzählerhaltung, die eine affektive Beeinflussung des Lesers zum Ziel hat. Dem Leser sollen keine oder kaum Emotionen, Affekte und Gefühle vermittelt werden, sondern er soll ein „Gefühl der Gefühllosigkeit“9 empfinden, eine unangenehme Wahrnehmung des Fehlens von Emotionen oder Affekten.

8

Von Koppenfels, Immune Erzähler, S. 11.

9

Ebd.

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Diese verweigerte Einfühlung findet in Ellis’ Romanen auf zwei Ebenen statt, 1. als emotionale Verweigerung in inter- und intrafiguralen Kommunikationsprozessen und 2. als Verweigerung gegenüber dem Rezipienten. 1. Die Protagonisten verweigern emotionale Beteiligung an sozialen Akten aus Selbstschutz, Desinteresse, Egoismus oder aber aufgrund mangelnder Fähigkeit zur Empathie. Diese Verweigerungshaltung betrifft den interaktiven Umgang mit anderen Charakteren genauso wie die Beschäftigung mit dem eigenen Seelenleben. Sie verweigern ihre Einfühlung nicht nur in andere, sondern haben auch zur eigenen Emotionalität keinen oder nur beschränkten Zugriff. 2. Diesem internalisierten Umgang mit Emotionalität entspricht auch die Erzählhaltung der autodiegetischen Erzähler. Indem sie die Kommunikation über Emotionen verweigern, verhindern sie gleichzeitig die Einbindung des Rezipienten in die Geschichte: Die Einfühlung des Lesers in den Text und damit das Nachempfinden von figuralen Emotionen sowie das Identifizieren mit den Protagonisten wird erschwert. Die Stilistik der verweigerten Einfühlung ist demnach in zwei Richtungen wirksam: auf affektpoetischer Ebene als emotions- oder affektloses Erzählen und auf rezeptionsästhetischer Ebene als affektive Lenkung des Lesers. Letztere soll nun theoretisch umrissen werden.

4.2 AFFEKTREZEPTION UND - PRODUKTION : E MOTIONEN DES L ESERS Nachdem Colin Radford 1975 die Frage aufwarf, warum ein Leser vom Schicksal eines Romanhelden bewegt werde, werden unter dem Schlagwort „paradox of fiction“ die Emotionen des Lesers kritisch hinterfragt. 10 Der Ausdruck „paradox of fiction“ impliziert dabei, dass es erstaunlich, wenn nicht gar abstrus sei, Emotionen im Hinblick auf einen fiktiven Gegenstand zu verspüren. Schließlich, so Radford, setze das Verspüren von Emotionen voraus, dass der Fühlende von der Existenz des Gegenstandes überzeugt sei. Jedoch ist selbst für Radford unstrittig, dass literarische Texte Emotionen im Leser bewirken. Klärungsbedürftig ist einzig, warum und wie literarische Texte Emotionen im Leser erzeugen. Begriffliche Lösungen des „paradox of fiction“ haben daher nichts zur eigentlichen Lösung des Problems beigetragen:11 Wenn Walton konstatiert, der Leser tue so, als habe er eine Überzeu10 Radford, Colin: „How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina?“ In: Proceedings of the Aristotelian Society Vol. 491975, S. 67-80. 11 Für einen detaillierteren Überblick s. Frank Zipfel, der solche philosophischen Lösungsansätze kritisch diskutiert. Zipfel, Frank: „Emotion und Fiktion. Zur Relevanz des Fikti-

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gung und reagiere daher emotional auf einen Text mit sogenannten „make-believe“Emotionen,12 oder Levinson vorschlägt, die Emotionen des Lesers als imaginierte Emotionen zu begreifen, die sich von gewöhnlichen Emotionen dadurch unterscheiden, dass sie keine Handlungsmotivation auslösen,13 verschiebt sich das Problem nur an eine andere Stelle. Es handelt sich dabei um definitorische Gedankenspiele und Hilfskonstruktionen, mittels derer versucht wird, das Problem theoretisch zu umgehen. Denn, wie Katja Mellmann kritisch feststellt, „was genau hat man sich unter ‚imaginierten Emotionen‘ vorzustellen?“ 14 Offenbar helfen philosophische Erklärungsansätze an dieser Stelle nicht weiter. Mellmanns eigener Vorschlag zur Lösung des „paradox of fiction“ lautet demnach, keine Differenzierung zwischen realen und fiktiven Auslösereizen vorzunehmen. Sie belegt anhand einer Reihe von Beispielen,15 dass das Gehirn auch auf „kognitiv vermittelte Kennreize“16 reagiert und sich daher „auch Dichtung – als ebenfalls kognitiv vermittelte Erfahrungswelt – als ‚normales‘ Objekt emotionaler Reaktionen konzipieren“17 lässt. Diesbezüglich unterscheidet Mellmann auf Basis der von Cosmides und Tooby entwickelten evo-

ons-Paradoxons für eine Theorie der Emotionalisierung in Literatur und Film.“ In: Sandra Poppe (Hg.): Emotionen in Literatur und Film. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 127-153. 12 Walton, Kendall L.: „Fearing Fictions.“ In: The Journal of Philosophy Vol. 75 (1978), S. 5-27. Hier S. 11. 13 Levinson, Jerrold: „Emotion in Response to Art. A Survey of the Terrain.“ In: Mette Hjort/Sue Laver (Hg.): Emotion and the Arts. New York – Oxford: Oxford University Press 1997, S. 20-34. Hier S. 26. 14 Mellmann, Katja: „Literatur als emotionale Attrappe. Eine evolutionspsychologische Lösung des ‚paradox of fiction‘.“ In: Uta Klein/Katja Mellmann/Stefanie Metzger (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Paderborn: Mentis 2006, S. 145-166. Hier zitiert S. 149. Mellmann hält es für äußerst zweifelhaft, dass alle Emotionen in einer „doppelte[n] Ausführung“ (ebd.) existieren, einmal mit, einmal ohne Handlungsmotivation, da sie diese Annahme für evolutionsbiologisch nicht einleuchtend hält. Eine solche Entwicklung würde eine „identische Koevolution“ (ebd.) voraussetzen, die für die gesamte Menschheit nicht plausibel angenommen werden kann. 15 Mellmann nennt als Beispiele eine spannende Filmszene, einen erotischen Roman und einen melodramatischen Liebesroman. (Mellmann, Katja: Emotionalisierung – Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche. Paderborn: Mentis 2006. S. 63ff.) 16 Ebd., S. 78. 17 Ebd.

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lutionären Emotionstheorie 18 einen Auslösemechanismus und ein Verlaufsprogramm. „Der Auslösemechanismus funktioniert reflexartig, also stereotyp und zuverlässig immer. Das Emotionsprogramm ist aktiviert, sobald der Suchimpuls des Situationsdetektors fündig wird. Erst im Verlaufsprogramm tritt die für Emotionen charakteristische Flexibilität des Reaktionsverlaufs ein.“

19

Das Emotionsprogramm springt also an, sobald es mit einem geeigneten Auslösereiz konfrontiert wird, sei dieser real oder fiktiv – „in beiden Fällen [wird] ein und dasselbe Emotionsprogramm initialisiert“, 20 weil „der Auslösemechanismus des reagierenden Emotionsprogramms […] nicht weiß“, 21 dass der Auslösereiz fiktiv ist. Erst im Anschluss, während des Verlaufsprogramms, überprüft der Organismus die auslösende Situation und passt gegebenenfalls seine physischen und kognitiven Reaktionen an: „Das kann je nach situativen Gegebenheiten zu einem jeweils einzigartigen Verlauf der Emotion führen, unter Umständen auch zu einem baldigen Abschluss des Emotionsprogramms, eben wenn die Informationen aus der Umwelt entsprechend geartet sind (z.B. wenn die Gefahr schon wieder vorüber ist oder – nun nähern wir uns wieder der Literatur – wenn sie nicht real, sondern nur zwischen zwei Buchdeckeln gegeben ist).“22

Dies erklärt, warum auch literarische Werke als Auslösereize Treffer beim Emotionsprogramm erzielen können.23 Obwohl Mellmanns Ansatz sich vor allem für die Erklärung reflexartig erzeugter Emotionen, etwa der Angst bei drohender Gefahr, eignet und komplexe soziale Emotionen, die ein hohes Maß an kognitiver Beteiligung erfordern, wie etwa Schuldgefühl, dadurch noch nicht abgedeckt werden, liefert es, wie im Folgenden deutlich wird, wichtige Anreize für die literaturwissenschaftliche Analyse emotionaler Leserreaktionen.

18 Cosmides, Leda/Tooby, John: „Evolutionary Psychology and the Emotions.“ In: Michael Lewis/Jeannette M. Haviland-Jones: Handbook of Emotions. New York: Guilford 2001, S. 91-115. 19 Mellmann, „Emotionale Attrappe“, S. 155. 20 Mellmann, Emotionalisierung, S. 62. 21 Ebd., S. 75, Hervorhebung im Original. 22 Mellmann, „Emotionale Attrappe“, S. 155. 23 Mellmann, Emotionalisierung, S. 33.

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Literarische Texte als System von Auslösereizen Mellmanns Ansatz ist bei aller Kritik24 vor allem dafür zu würdigen, dass er sich vom Diktat der Empathie befreit. Während Radford noch vor allem danach fragte, wie der Leser vom Schicksal der gebeutelten Anna Karenina ergriffen sein, mit ihr mitfühlen könne, obwohl er doch wisse, dass Anna Karenina eine fiktive Figur sei, spielt bei Mellmann das Mitfühlen keine Rolle. Mellmanns Analysefokus ist nicht die empathische Reaktion des Lesers auf emotional aufgeladene Situationsbeschreibungen oder Figurenemotionen, sondern vielmehr seine generelle emotionale Reaktion auf einen Text, die sich auch einstellen kann, wenn im Text selbst keine Emotionen thematisiert oder präsentiert werden. 25 Der Wert ihres Ansatzes für diese Arbeit liegt darin, dass er erweitert auch für das Verstehen von emotionalen Leserreaktionen auf emotions- und affektloses Erzählen verwendbar ist. Mellmann hat überzeugend dargelegt, dass auch fiktive Auslösereize als Trigger für Emotionsprogramme geeignet sind. Ein literarischer Text ist demnach als ein System von ver-

24 Neben der bereits erwähnten Beschränkung auf reflexartig erzeugte Emotionen kann Mellmann nicht erklären, wie das Verbleiben einer Emotion bis zum Ende einer Szene zustande kommt, wenn direkt im Anschluss an den Auslösemechanismus im Verlaufsprogramm der Organismus die Reaktion als unangemessen wertet und das Emotionsprogramm stoppt. Darüber hinaus ist vor allem Mellmanns Verwendung des Attrappenbegriffs fragwürdig. Da schematische Auslösereize empirisch schwer fassbar sind, behilft sie sich mit dem Begriff der Attrappe und erläutert dies am Beispiel der „BrutpflegeEmotion“, die erregt werde, sobald der Anblick eines Kleinkindes die „Tendenz zu Schutz- und Pflegeverhalten“ auslöse (Mellmann, Emotionalisierung, S. 35). Dieses Kindchen-Schema sei übertragbar auf kleine oder junge Tiere, Puppen oder sogar Produkte mit entsprechendem Design. Dies beweist laut Mellmann, „daß in uns etwas reagiert, d.h. daß ein mentaler Suchimpuls einen Treffer erzielt hat.“ (Ebd.) Ihre Applikation auf Literatur als Attrappe ist jedoch problematisch, da es sich bei Attrappen um schematische, visuelle Auslösereize handelt, Literatur jedoch zunächst sprachlich verarbeitet und erst in einem zweiten Schritt gedanklich visualisiert wird. Ähnliche Kritikpunkte an Mellmanns Ansatz formuliert Jean-Pierre Palmier in seiner Dissertationsschrift Gefühlte Geschichten. Unentscheidbares Erzählen und emotionales Erleben. München: Fink 2013. Die Kritik wurde in einem gemeinsam veranstalteten Seminar zu Emotionstheorien im literaturwissenschaftlichen Kontext im Sommersemester 2010 an der Universität Bielefeld erarbeitet. 25 Winko unterscheidet zwischen der expliziten Thematisierung und der impliziten Präsentation von Emotionen (Winko, Kodierte Gefühle, S. 111). Als Thematisierung begreift sie, „was über Emotionen wie gesagt wird“ (ebd., S. 112). Damit meint sie Aussagen über das Wesen von Emotionen. Unter Präsentation versteht sie im Gegensatz dazu die Vermittlung von Emotionen in einem Text (ebd., S. 114).

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schiedenen, fiktiven Auslösereizen zu betrachten. Dabei kann es sich um das bewegende Schicksal einer Anna Karenina handeln, das Empathie erregende Elemente enthält (wie die Sehnsucht nach dem eigenen Sohn, die eifersüchtige Beschuldigung des Liebhabers, die wahnhaften Rachegelüste aus vermeintlicher Zurückweisung) und den Leser dazu auffordert, sich mit der Protagonistin zu identifizieren und mit ihr zu leiden. Es kann im Gegenteil aber auch gerade die Verhinderung einer empathischen Leserreaktion sein, die Emotionen auslöst: Indem die Kommunikation über Emotionen vermieden oder aber der Eindruck erweckt wird, der Protagonist sei gefühlskalt und grausam, findet eine Affektverschiebung vom Protagonisten auf den Leser statt. Der Auslösereiz besteht dann nicht in der Präsentation von Emotionen, auf die der Leser empathisch reagiert, sondern in der Schilderung von Situationen, die der Lesererwartung gemäß eine emotionale Reaktion der Figuren erforderlich machen, die jedoch unterbleibt. In diesem pseudo-sozialen Kommunikationsraum zwischen Text und Leser übernimmt der Rezipient die Rolle des Fühlenden: Emotions- oder affektlos erzählte Szenen erzeugen Irritation, Befremden, gar Schock oder Ekel, aber auch Faszination oder sogar Lust. Dabei werden sowohl reflexartige Emotionen – wie etwa Abscheu, der sich automatisch einstellt, wenn eine blutige Folterszene beschrieben wird – genauso wie komplexe Emotionen aufgerufen – wie etwa Schuldgefühl, das sich aufgrund der kognitiven Verarbeitung einer Szene einstellt, wenn der Leser merkt, dass er neben Abscheu auch Faszination empfindet. Für das Verstehen komplexer Emotionen ist also ein Schritt weiter zu denken als der von Mellmann proklamierte Ansatz es tut: Es ist beim Leseprozess gleichzeitig auch ein kognitiver Reflexionsprozess anzunehmen, der das Entstehen komplexer Emotionen auslöst. Nach dem literarischen Kennreiz, auf den der Auslösemechanismus des Emotionsprogramms anspricht, schließt sich eine kognitive Verarbeitung der gelesenen Szene an, die wiederum als Kennreiz dient – die eigene Reflexion des Gelesenen ist selbst als Auslöser für eine affektive Reaktion zu verstehen. Somit ist ein literarischer Text als ein System zu begreifen, das über fiktive Auslösereize verfügt und kognitive Auslösereize initiiert, die in ihrer Kombination sowohl reflexartige als auch komplexe Emotionen erzeugen können.

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Ästhetische Emotionen und Meta-Emotionen Neben den oben beschriebenen reflexartig erzeugten und komplexen Emotionen lösen literarische Texte aber noch weitere Emotionen im Leser aus. Das oben genannte Beispiel greift nicht nur eben solche, sondern auch die sogenannten ‚ästhetischen Emotionen‘ auf.26 Die Faszination, die beim Lesen einer Folterszene erweckt 26 Levinson ist überzeugt, dass ästhetische Emotionen immer positiver Natur sein müssen, etwa Bewunderung, Faszination, Vergnügen oder Erstaunen (Levinson, „Emotion in Response to Art“, S. 31.). Mit dieser Auffassung stimmt Agnes Heller überein, die provozierend darlegt, dass ästhetische Emotionen sublimierte erotische Emotionen seien: „Experiencing delight in art is thus a mutual erotic relation, where the work of art too abandons itself to the single recipient. The work of art acts as if it were a person, for only souls can reciprocate our love. When we are falling in love with a work of art and it reciprocates our feeling, there is a relation. When the work of art is leaving us cold, there will be none.“ (Heller, Agnes: „The Role of Emotions in the Reception of Artworks.“ In: Klaus Herdin/Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Parthos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Berlin – New York: de Gruyter 2004, S. 244-259. Hier zitiert S. 247.) Diese Ansicht ist kritisch zu betrachten, da Heller das Kunstwerk als regelrecht lebendiges Geschöpf mit der Fähigkeit, an es herangetragene Emotionen zu erwidern, beschreibt. Diese Anthropomorphisierung des Kunstwerkes ist zweifelsohne problematisch. Dennoch trägt ihre Definition zur Charakterisierung ästhetischer Emotionen bei, da sie der populären Ansicht Rechnung trägt, dass ästhetische Emotionen, wie Levinson behauptet, nur positiver Natur sein können: Entweder man empfinde positive ästhetische Emotionen oder überhaupt keine. Hinzu kommt Hellers Erachtens nach, dass ästhetische Emotionen Werturteile seien: „An aesthetic feeling, or rather an aesthetic emotion, is, as we know, a judgment. This judgment values the work as a whole and not the situation presented in the work.“ (Ebd., S. 253.) Dieses Verständnis der ästhetischen Emotion teilt Brigitte Scheer: „Dieses Sich-selbst-Spüren und Erfahren in Beurteilung eines Werkes der Kunst ist das eigentliche ästhetische Gefühl.“ („Können Gefühle urteilen?“ In: Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Parthos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Berlin – New York: de Gruyter 2004, S. 260-273. Hier zitiert S. 270.) Sie grenzt jedoch weiter ein: „Das ästhetische Gefühl vollzieht also nicht selbst den diskursiven Akt des Urteilens, aber es zeigt an, dass dieser mit einem bestimmten Wertergebnis vollzogen wurde. Das Gefühl entscheidet nicht selbstständig über den ästhetischen Wert von Kunstwerken, aber es vollendet das Werterlebnis.“ (Ebd., S. 271f.) Dies impliziert, dass ein diskursiv-reflexives Kognitionsmoment im Sinne eines „appraisal“ zwischengeschaltet ist, welches den Wert des Kunstwerkes erkennt. Die ästhetische Emotion fungiert damit nur als Signal, dass das Werturteil vollzogen und das Kunstwerk als bewundernswert/erstaunlich/schön/etc. eingeschätzt wurde. Was bei Scheer nur angedeutet wird, macht der Emotions- und Sozialpsychologe Paul J. Silvia explizit. Er geht von einer „ap-

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werden kann, stellt nämlich eine solche ästhetische Emotion dar: Der Leser kann bei allem Ekel nicht umhin, den bizarren Einfallsreichtum des Autors zu würdigen, die geschickt inszenierte Provokation zu schätzen oder die sprachliche Finesse der detailreichen Beschreibung zu bewundern. Wie Nadine van Holt und Norbert Groeben zusammenfassen, beziehen sich sogenannte „Artefakt- bzw. ästhetische Emotionen […] nicht auf inhaltliche Elemente (Handlung, Personen, Setting)“, 27 sondern ausschließlich auf die künstlerische Gemachtheit des Textes, also auf sprachliche oder formale Gestaltung. Mellmann bevorzugt die Abkürzung „A emotions“,28 in der das Artefakt im Namen auf den Anfangsbuchstaben reduziert wird. Sie wird etwas konkreter als van Holt und Groeben: „Was wir heute unter ‚ästhetischen Gefühlen‘ verstehen, ist meistens die Wertschätzung für ein besonders gelungenes (‚geniales‘) Kunstwerk. Aber auch hier handelt es sich nicht um praisal“-Theorie nicht nur für Alltags- sondern insbesondere auch für ästhetische Emotionen aus und äußert die Annahme, dass es daher auch negative ästhetische Emotionen wie Ärger und Abscheu geben müsse: „Anger and disgust are common responses to aesthetic subjects: people with traditional tastes can be disgusted and angered by confrontational works, and people with advanced tastes can be angry at mass-produced, sappy landscapes intended to exploit ignorant audiences.“ (Silvia, Paul J.: „Anger, Disgust and the Negative Aesthetic Emotions: Expanding an Appraisal Model of Aesthetic Experience.“ In: Psychology of Aesthetics, Creativity and the Arts Vol. 1 (2) (2007), S. 100-106. Hier zitiert S. 102.) Er weist experimentell nach, dass „[p]eople can experience the full range of human feelings in response to art.“ (Ebd., S. 104.) Neben solchen „hostile emotions“ („Looking Past Pleasure: Anger, Confusion, Disgust, Pride, Surprise and Other Unusual Aesthetic Emotions.“ In: Psychology of Aesthetics, Creativity and the Arts Vol. 3 (1) (2009), S. 48-51. Hier zitiert S. 49, Hervorhebung im Original), zu denen er auch Verachtung zählt, identifiziert er ferner „knowledge emotions“ (ebd., S. 48, Hervorhebung im Original) wie Interesse, Verwirrung und Überraschung sowie „self-conscious emotions“ (ebd., S. 50, Hervorhebung im Original) wie Stolz, Scham, Schuld, Bedauern und Verlegenheit als emotionale Reaktionen auf Kunstwerke. Er vertritt damit die kontroverse Auffassung, dass ästhetische Emotionen keineswegs nur positive Erfahrungen der Wertschätzung eines Kunstwerks, sondern im Gegenteil auch negative Erfahrungen der Ablehnung darstellen können. 27 Van Holt, Nadine/Groeben, Norbert: „Emotionales Erleben bei Lesen und die Rolle textsowie leserseitiger Faktoren“. In: Uta Klein/Katja Mellmann/Stefanie Metzger (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Paderborn: Mentis 2006, S. 111-130. Hier zitiert S. 120f. 28 Mellmann, Katja: „E-Motion – Was bewegt uns an den Medien? Über fiktionale Welten, virtuelle Kontakte und die Realität der Gefühle.“ In: Parapluie Vol. 13 (2002) http://parapluie.de/archiv/cyberkultur/emotion vom 28.11.2012.

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eine eigene, ‚nur ästhetische‘ Emotion, sondern wiederum um eine soziale Emotion: um Bewunderung, die wir für den Künstler wegen seiner Originalität und Kunstfertigkeit empfinden. Das heißt, dass sich im Rezipienten bei der Betrachtung eines Kunstwerks ein kognitiver Wechsel vollzieht: Er geht von den Emotionen, die sich auf die dargestellten fiktiven Ereignisse beziehen (sogenannten F emotions) über auf Emotionen, die das Kunstwerk als Artefakt betreffen (sogenannte A emotions).“29

Mellmann differenziert mit dieser Definition scharf zwischen Leseremotionen, die sich auf die Handlung beziehen, und solchen, die die Gemachtheit des Kunstwerks zum Objekt haben: Während im oben genannten Beispiel der Abscheu eine „F emotion“, also eine Fiktions-Emotion ist, da er als Reaktion auf die beschriebene Handlung entsteht, handelt es sich bei der Faszination um eine „A emotion“, die die künstlerische Umsetzung der Szene würdigt. Das Schuldgefühl, das aufgrund der Reflexion der ästhetischen Emotion entsteht, kann als Meta-Emotion bezeichnet werden. Sie stellt sich ein als emotionale Reaktion auf die emotionale Leserreaktion. Anne Bartsch und Roland Mangold erläutern hierzu: „Dieses Konzept [der Meta-Emotionen, Anm. d.Verf.] geht davon aus, dass Emotionen zum Gegenstand kognitiv-affektiver Bewertungen werden können, wobei die Valenz der MetaBewertung von der ursprünglichen Valenz der Emotion abweichen kann. Positive Emotionen können also unter Umständen negativ bewertet werden. So kann sich ein Zuschauer zum Beispiel für sein Lachen über einen politisch unkorrekten Witz schämen. Umgekehrt können negative Emotionen positiv bewertet werden. Beispielsweise kann ein Zuschauer den Herzschmerz bei einem traurigen Film genießen, oder er kann Spaß daran haben, dass es ihn beim unerwarteten Auftreten des Monsters im Horrorfilm gruselt.“30

Der Rezipient wird demnach auch auf einer Meta-Ebene emotionalisiert: Nachdem er als unmittelbare Reaktion auf das Gelesene Fiktions-Emotionen und als mittelbare Reaktion auf den künstlerischen Wert des Textes ästhetische Emotionen erlebt, schließt sich nach einer kognitiven Bewertungsleistung der textuell erzeugten Emotionen die Meta-Emotion als Reaktion darauf an. Für die Evokation von Meta-

29 Ebd., S. 5, Hervorhebungen im Original. 30 Mangold, Roland/Bartsch, Anne: „Mediale und reale Emotionen – der feine Unterschied.“ In: Sandra Poppe (Hg.): Emotionen in Literatur und Film. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 89-105. Hier zitiert S. 97. Zum Konzept der Meta-Emotion s. weiter: Bartsch, Anne: „Meta-Emotionen und ihre Vermittlung im Film.“ In: Anne Bartsch/Jens Eder/Kathrin Fahlenbach (Hg.): Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote. Köln: Halem 2007, S. 277-296.

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Emotionen ist also eine kognitive Reflexionsleistung notwendig, die kulturell erworbene Gefühlsregeln berücksichtigt.31 Das folgende Schaubild verdeutlicht den Emotionalisierungsprozess des Lesers:

Prozess: Lesen

Prozess: kognitiv-reflexive Verarbeitung

fiktiver Auslösereiz → reflexartige FiktionsEmotion

kognitiver Auslösereiz → komplexe FiktionsEmotion oder MetaEmotion

ästhetischer Auslösereiz → ästhetische Emotion

kognitiver Auslösereiz → Meta-Emotion

Abbildung 4: Emotionalisierungsprozess beim Lesen.

Die emotionalen Regungen des Lesers sind demnach viel komplexer als es das „paradox of fiction“ aufwirft: Er wird nicht nur vom Schicksal einer Romanfigur ergriffen und fühlt empathisch mit ihr mit, sondern reagiert affektiv sowohl auf die Romanhandlung, die selbst keine Emotionen oder Affekte thematisieren oder präsentieren muss, als auch auf die künstlerische Gemachtheit des Werkes an sich und auf einer Meta-Ebene auf die eigenen, durch den Text erzeugten Emotionen. Somit ist der Leser einem deutlich umfangreicheren Prozess der Emotionalisierung ausgesetzt, der nicht nur Fiktions-Emotionen, sondern auch ästhetische Emotionen sowie Meta-Emotionen hervorrufen kann. Eine solche emotionale Wirkung ist in den Texten von Bret Easton Ellis besonders eigenartig und daher untersuchenswert. Wie die anschließenden Romananalysen aufzeigen werden, lösen die Texte vor allem negative Fiktions-Emotionen, vornehmlich positive ästhetische Emotionen und negative Meta-Emotionen aus und zwar sowohl reflexivhaft erzeugte wie auch komplexe. Um diese Reaktionen zu erzielen, wird in den Romanen das emotionsoder affektlose Erzählen als Lenkungsstrategie genutzt, die sich der Stilistik der verweigerten Einfühlung bedient, um dem Leser einerseits das ‚Gefühl der Gefühl-

31 S. Kap. 3.2.2. Für das Entstehen des Schuldgefühls ist das kulturelle Wissen notwendig, dass die angebrachte Reaktion auf Folter nicht Faszination, sondern Entsetzen ist.

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losigkeit‘ einzuflößen, ihn andererseits auf eine ungewohnte und verstörende Weise emotional zu affizieren.

4.3 I DENTIFIKATORISCHES L ESEN Texte, die das Lesen zu einer verstörenden, gar schmerzhaften Erfahrung machen, werfen in der Konsequenz die Frage auf, warum sich der Leser einer solchen Grenzerfahrung überhaupt aussetzen sollte. Bereits 1757 stellte David Hume in seiner Abhandlung „Of Tragedy“ fest: „It seems an unaccountable pleasure, which the spectators of a well-written tragedy receive from sorrow, terror, anxiety, and other passions, that are in themselves disagreeable and uneasy. The more they are touched and affected, the more are they delighted with the spectacle; and as soon as the uneasy passions cease to operate, the piece is at an end.“32

Damit legte er den Grundstein für die unter dem Schlagwort “paradox of tragedy” bekannt gewordene Antithese, die Stacie Friend treffend auf den Punkt bringt: „In other words, we appear to enjoy tragedy not despite, but because of, the painful emotions we feel in response.“ 33 Das Paradox liegt darin, dass „the work bears properties that produce painful feelings most people prefer to avoid in real life, such as shock, horror, pity and sadness. But at the same time, readers and viewers of tragedy find the experience enjoyable and go so far as to pay money for the opportunity to have these emotions.“34 Während also einerseits im realen Leben die Erfahrung von schmerzhaften Emotionen vermieden wird und Situationen, die solche Emotionen hervorrufen, als unangenehm eingestuft und daher nach Möglichkeit umgangen werden, empfindet man als Rezipient eines Kunstwerks das Durchleben gerade solcher Emotionen als ausgesprochen erstrebenswert.35

32 Hume, David: „Of Tragedy.“ In: E.F. Miller (Hg.): Essays: Moral, Political and Literary. Indianapolis: Liberty 1987. S. 216. 33 Friend, Stacie: „The Pleasures of Documentary Tragedy.“ In: British Journal of Aesthetics Vol. 47 (2) (2007), S. 184-198. http://www.bjaesthetics.oxfordjournals.org/ content/47/2/184.full.pdf+html vom 05.12.2012. 34 Packer, Mark: „Dissolving the Paradox of Tragedy.“ In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism Vol. 47 (3) (1989), S. 211-219. http://www.jstor.org/stable/pdfplus/ 431001.pdf?acceptTC=true vom 05.12.2012. 35 Erklärungsansätze für das „paradox of tragedy“ sind sowohl bei Levinson, „Emotion in Response to Art“, S. 29ff., als auch Packer, „Paradox of Tragedy“, S. 211ff., nachzulesen, wobei beide kompensatorische Ansätze auf Basis von Aristoteles’ Poetik sowie konversi-

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Erschwerte Identifizierung Das „paradox of tragedy“ gilt allerdings nicht nur für die klassische Tragödie, die auf die Identifikation des Zuschauers oder Lesers mit den Protagonisten abzielt,36 sondern auch für andere Kunst- und Literaturformen, vor allem auch für die Romane von Ellis. Bei ihnen ist die Sachlage jedoch grundlegend anders. Deren IchErzähler nehmen die Perspektive des tatenlosen Beobachters, des grausamen Täters ein und erschweren damit den Akt der Identifizierung stark, wenn sie ihn nicht gar verhindern. Martin von Koppenfels bezeichnet solche Texte in seiner Fallstudie zu Jonathan Littells Les Bienveillantes als „‚infame[]‘ Ich-Erzählung“:37 „Es sind Texte, die den Leser mit anderen Reizen zum Lesen verführen als denen der Sympathie. Sie entwerfen Erzählerstimmen, die sich vor dem Leser spreizen, vor ihm paradieren, ihn abstoßen, quälen, erniedrigen, langweilen, abstumpfen, anekeln – und dennoch faszinieren. Damit stellen diese Stimmen die These, dass jedem Akt des Lesens eine Identifizierung zugrunde liegt, auf eine harte Probe. Oder besser: Sie machen die abgründige Seite der Identifizierung erfahrbar.“38

Jedoch lassen sich Ellis’ Romane nur bedingt den infamen Ich-Erzählungen zuordnen. Von Koppenfels benennt vier Charakteristiken des infamen Ich-Erzählers: „[E]rstens die Rhetorik der direkten, provokativen Anrede, der captatio malevolentiae; zweitens die Kontamination des Lesers, das heißt die Technik, ihn zum Voyeur mit schlechtem Gewissen zu machen; drittens die indirekte Bedrohung, und viertens die Verkehrung von Täter- und Opferrolle.“39 onsorientierte Ansätze auf Basis von Humes Argumentation nennen. Darüber hinaus führen beide noch unterschiedliche andere Erklärungsansätze auf. Zu einer abschließenden Lösung des „paradox of tragedy“ gelangt jedoch keines dieser Konzepte. Da ihr erklärender Wert somit gering ist, wird auf eine detaillierte Erläuterung der verschiedenen Ansätze verzichtet. 36 Aristoteles erklärt, damit eine Geschichte tragisch sei, müsse ein mittelmäßiger, also ein weder besonders guter noch besonders bösartiger Mensch durch einen Irrtum in eine Krise geraten (Aristoteles, Poetik, S. 39). So etwa Ödipus, der als Baby ausgesetzt wird und daher seine Eltern nicht kennt. Als erwachsener Mann tötet er aus Versehen seinen Vater und heiratet seine Mutter, worüber er so entsetzt ist, dass er sich selbst blendet. Ödipus eignet sich demnach hervorragend zur Identifizierung, da er als Figur auftritt, mit dem der Zuschauer trotz seiner Verfehlungen sympathisiert. 37 Von Koppenfels, Martin: Schwarzer Peter. Der Fall Littell, die Leser und die Täter. Göttingen: Wallstein 2012. S. 32. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 46, Hervorhebung im Original.

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Von diesen vier Strategien lässt sich nur eine definitiv den Erzählern von Ellis zuordnen: die Kontamination des Lesers.40 Während sich die Captatio Malevolentiae gar nicht findet, sind die indirekte Bedrohung des Lesers und die Verkehrung von Täter- und Opferrolle für Ellis’ Romane kritisch zu betrachten. Die indirekte Bedrohung des Lesers kommt durch dessen Identifikation mit dem Opfer zustande, dessen Vulnerabilität in den Identifikationsprozess aufgenommen wird, so dass der Leser eine Bedrohung des eigenen Ichs empfindet. Zwar lassen sich in allen Romanen Opfer ausweisen, jedoch ist die Identifikation mit ihnen nicht automatisch gegeben, da sie häufig anonymisiert auftreten, selbst keine Sprechrolle erhalten oder im Akt der Demütigung, Verwundung oder Vernichtung Statisten bleiben müssen. So wird nicht nur die Identifizierung mit dem Erzähler, sondern auch die Identifizierung mit dessen Opfern erschwert und auf diese Weise die indirekte Bedrohung des Lesers zu einer höchst impliziten Angelegenheit. Darüber hinaus nehmen nicht alle Erzähler unmissverständlich eine Täterrolle ein: Als Täter sind vornehmlich Patrick Bateman aus American Psycho, Victor Ward aus Glamorama und Clay aus Imperial Bedrooms anzusehen. Von diesen Tätern schreiben sich jedoch nur zwei gleichzeitig eine Opferrolle zu: Victor und Clay. Die anderen IchErzähler, Clay aus Less Than Zero, Lauren, Paul und Sean aus The Rules of Attraction und Bret aus Lunar Park, bewegen sich in einer Grauzone zwischen Täterschaft, passiver Beobachtung und Abwendung. Sie sind eher als Quasi-Täter zu bezeichnen. Diese fünf charakterisieren sich jedoch unbewusst ebenfalls als Opfer. Somit sind drei Erzähler zwar Täter, aber nur zwei davon gleichzeitig auch Opfer – fünf Erzähler sind zwar Opfer, aber nur halbherzig Täter. Dennoch stimmt die zitierte Beschreibung infamer Erzählerstimmen exakt mit den Erzählern von Ellis’ Texten überein. Während ein infamer Erzähler jedoch bösartig, aggressiv, regelrecht feindselig ist und den Leser damit verprellt, sind Ellis’ Ich-Erzähler desinteressiert, emotional erkaltet und distanziert. Das Resultat – die erschwerte Identifizierung aufgrund einer problematischen Erzählerstimme – ist zwar gleich, der Weg dahin jedoch fundamental anders. Die Frage, warum ein Leser sich derartiger Literatur stellt, die in ihm unangenehme Emotionen erzeugt und die die Identifikation mit dem Protagonisten beschneidet, beantwortet von Koppenfels mit der Hypothese, „dass ein besonderer literarischer Reiz in der Erschwerung der Identifizierung liegt. Das Bedürfnis nach diesem Reiz bedienen all jene Texte, die ihren Lesern Perspektiven zumuten, die sie in kognitiver, emotionaler oder moralischer Hinsicht befremden, schockieren, abstoßen.“41 Für den infamen Ich-Erzähler der Bienveillantes liegt dieser Reiz in der erschwerten, da über Umwege zustande kommenden Identifizierung mit dem Täter.

40 Hierzu genaueres in den Analysen der einzelnen Romane. 41 Ebd., S. 67.

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Sie erlaubt es dem Leser einerseits, eine Perspektive und Charakterzüge einzunehmen, die er in einem angstbehafteten Akt der Verleugnung an sich selbst nicht zu entdecken wünscht,42 die andererseits jedoch die schmerzhafte Identifizierung mit dem Opfer voraussetzt, dem sich der Täter aufgedrängt hat43 – darüber nähert sich der Leser dem Täter an. Im Fall der Romane von Ellis funktioniert diese Strategie ebenfalls, jedoch nur bedingt, da für sie die engmaschige Täter-Opfer-Dichotomie erweitert werden muss. Wie oben festgestellt, sind nicht alle Ich-Erzähler Täter im Wortsinne. Schuldig am Leid der Opfer machen sich diese Quasi-Täter jedoch trotzdem durch eine voyeuristische Beobachterhaltung, durch tatenloses Zusehen, verweigerte Einfühlung, verweigerte Hilfe, Abwendung. Man kann für Ellis’ Erzählerstimmen somit nicht durchgängig von einer Täterperspektive sprechen, sondern muss sie eher als Perspektive der Schuldigen bezeichnen. Die Schuld der Erzähler ist jedoch keine romanimmanente, sondern eine vom Leser vorgenommene moralische Bewertung: Während die Schuld für den Leser immer zweifellos ist, ist sie es für den Erzähler keineswegs. Auch die Rolle des Opfers ist problematisch, da die Identifizierung mit ihm mittels bestimmter Hürden beeinträchtigt wird. Die Identifizierung mit dem schuldigen Erzähler über die Identifizierung mit dem Opfer ist damit zwar möglich, aber kompliziert und erfordert vom Leser eine hohe reflexivkognitive sowie empathische Leistung. Der literarische Reiz, der von Ellis’ Romanen bedient wird, ähnelt damit dem der Bienveillantes durchaus, setzt jedoch eine komplexe Auseinandersetzung des Lesers mit dem Material voraus. Dem „paradox of tragedy“ lässt sich für Ellis’ Romane also entgegenhalten, dass die negativen Fiktions- und Meta-Emotionen, die die Lektüre der Texte evoziert, notwendig sind, um die Schuld der Erzähler kenntlich zu machen, da sie selbst diese Schuld nicht empfinden. Diese negativen Emotionen des Lesers werden erträglich gemacht durch die erschwerte Identifizierung, die den literarischen Reiz der Texte ausmacht. Sie erlaubt es dem Leser, sich vom Erzähler in einer Weise abzugrenzen, die die Schlussfolgerung zulässt: ‚Das bin nicht ich. Meine Emotionen trennen mich vom Erzähler.‘ Über die Identifizierung mit den Opfern wird jedoch gleichzeitig eine Identifizierung mit dem Schuldigen erreicht, die dem Leser den Kontakt zu eigenen verdrängten, unliebsamen Abgründen ermöglicht. Die Romane „bieten breite Projektionsflächen für Regungen, die die Leser an sich selbst nicht wahrhaben wollen. […] Man liest auch, um das Unheilvolle in sich zu benennen und mit ihm Fühlung zu halten“,44 konstatiert von Koppenfels. Das Eintauchen in die Perspektive des Schuldigen beleuchtet die Schuld von der Seite des moralisch nicht Integren, des Gewissenlosen und bietet damit eine ganz andere ethische Erfah-

42 Ebd., S. 51. 43 Ebd., S. 70 und 74. 44 Ebd., S. 51f.

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rung an. Die Erschwerung der Identifizierung wird dabei über den Modus des emotions- und affektlosen Erzählens erreicht. Wie Ellis diese Strategie in seinen Romanen konkret umsetzt, sollen nun die anschließenden Analysen zeigen.

5. Emotionsloses Erzählen – Schutz gegen Schmerz

I wanna die young and sell my soul Use up all your drugs and make me come Yesterday man, I was a nihilist and now today I'm too fucking bored by the time I'm old enough I won't know anything at all MARILYN MANSON/I WANT TO DISAPPEAR

Das Lebensgefühl der Figuren, die die ersten beiden Romane von Bret Easton Ellis bevölkern, ist von Langeweile geprägt, nihilistisch, ohne spirituelle oder moralische Werte, dem Diktat der Lustmaximierung unterworfen. Die Figuren leben in einer Welt ohne ethische Grenzen, in der alles erlaubt oder zumindest nichts verboten ist, in der es keine Leitbilder, keine Mentoren für junge Heranwachsende gibt, in der Desinteresse und Lieblosigkeit die traditionelle Familie zerrütten und in der dem temporären Kick der größte Wert zugemessen wird. In dieser Welt wachsen die Romanfiguren als orientierungslose junge Menschen heran, die angesichts der Anforderungen durch ihre Umwelt eine Strategie zum Überleben entwickeln müssen. Für die Protagonisten der Romane Less Than Zero1 und The Rules of Attraction2 stellt eine Haltung der Emotionslosigkeit, geprägt von Gleichgültigkeit gegenüber anderen, aber auch gegenüber sich selbst, eine praktikable und passable Möglichkeit dar, den Anforderungen ihrer Umwelt zu entsprechen. Auf diese Weise gelingt es ihnen, ihre innere und äußere Realität dergestalt zu konstruieren, dass sie mehr oder minder schmerzlos in ihr existieren können. Auf Basis der in Kapitel 3.3 vorgestellten Konzepte werden die beiden Frühwerke von Ellis einer exemplarischen Untersuchung unterzogen, die einerseits die in den Romanen porträtierten sozialen Bedingungen und andererseits die persönli1

Im Folgenden mit der Sigle LTZ abgekürzt.

2

Von nun an mit der Sigle TRoA versehen.

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chen emotional-psychologischen Konsequenzen der Romanfiguren in Augenschein nimmt. Dabei werden bei der Analyse des Erstlingsromans Less Than Zero pathologische Leitmotive,3 durch verweigerte Einfühlung gekennzeichnete Figureninteraktion sowie der Erzählstil und die Erzählhaltung im Vordergrund stehen. Hierbei ist das Konzept der Alexithymie für die stilistische Analyse wegweisend. Anschließend wird der zweite Roman The Rules of Attraction unter dem Gesichtspunkt des multiperspektivischen Erzählens analysiert und als Roman einer Entfremdungsdepression lesbar gemacht.

5.1 L ESS T HAN Z ERO Die Handlung von Less Than Zero ist schnell zusammengefasst: Der 18jährige Clay, autodiegetischer Erzähler und Sohn einer L.A. Upperclass-Familie, der an einem Liberal Arts College in New Hampshire namens Camden4 studiert, kommt nach viermonatiger Abwesenheit in den Weihnachtsferien nach Los Angeles zurück, um die Feiertage zu Hause zu verbringen. Bei den nun folgenden vier Wochen handelt es sich um eine fragmentarische Aneinanderreihung von Handlungssequenzen, die kaum kausal miteinander verknüpft sind, sondern in ihrer Reihenfolge und Beliebigkeit austauschbar erscheinen. Clay treibt sich auf Partys herum, ist unterwegs, allein oder mit seinen Freunden, steht Familienzusammenkünfte durch oder sitzt seine Zeit bei seinem Psychiater ab. Schließlich reist Clay zurück nach Camden, um dort sein Studium fortzusetzen. Der Roman als postmoderner Adoleszenzroman Auffällig ist der dreistufige Aufbau des Romans mit seinen Elementen Anreise – Aufenthalt – Abreise, der an die Struktur eines Initiationsromans mit seinem dreischrittigen Schema „Aus-, Über- und Eingang“ erinnert, das sich entweder in „einer geografischen Reise konkretisieren […] oder sich auf innerpsychische Vorgänge beziehen“5 kann. Daher ist Less Than Zero häufig mit Salingers „novel of initiation“ The Catcher in the Rye (1951) verglichen worden, jedoch ist Less Than Zero 3

Die Leitmotive werden nur für Less Than Zero exemplarisch untersucht, da Ellis sie für alle seine Romane wieder aufbereitet. Um Redundanzen zu vermeiden, werden die wiederkehrenden Leitmotive nur an dieser Stelle ausführlich beleuchtet. Die Ergebnisse sind jedoch für alle Romane als valide zu betrachten.

4

Bei der Universität Camden handelt es sich um ein fiktives College, das jedoch an das Bennington College in Vermont angelehnt ist, an welchem Bret Easton Ellis als junger Mann studierte.

5

Wagner, Annette: Postmoderne im Adoleszenzroman. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2007. S. 44.

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keineswegs ein „updated Catcher in the Rye“, wie die Los Angeles Times den Roman betitelte,6 oder ein „Catcher in the Rye for the MTV generation“, wie die USA Today urteilte.7 Tatsächlich weisen Salingers jugendlicher Held Holden Caulfield und Ellis’ Protagonist Clay kaum Gemeinsamkeiten auf.8 Vielmehr hat sich Ellis das Genre des Adoleszenzromans zum Vorbild genommen, um es anschließend zu relativieren oder gar zu dekonstruieren, wie Wagner in ihren Untersuchungen zur Postmoderne im Adoleszenzroman feststellt.9 Dennoch ist die dreiteilige Form des Initiationsromans strukturgebend für Less Than Zero: Der erste Abschnitt thematisiert äußerst kurz, auf zwei Seiten, Clays Rückkehr nach L.A. Er wird von seiner (Ex-)Freundin Blair vom Flughafen abgeholt und nach Hause in die leere Villa auf dem Mulholland Drive gebracht, einer der teuersten Wohngegenden in Los Angeles. Der zweite Abschnitt befasst sich mit Clays Erlebnissen während seines einmonatigen Aufenthalts und nimmt fast die gesamte Buchlänge ein. Der dritte Abschnitt schließlich handelt Clays Rückkehr nach Camden ebenfalls extrem kurz auf zwei Seiten ab. Diese Kürze ist programmatisch für den im „present tense“ verfassten Roman, dessen 108 knappe Kapitel eine durchschnittliche Länge von ca. zwei Seiten haben.10 Davon geben zwölf kursiv gedruckte, im „past tense“ geschriebene Erinnerungskapitel Aufschluss über Clays Vergangenheit. In ihnen erinnert sich der Protagonist an Geschehnisse, die Jahre oder auch nur Monate zurückliegen und sich zumeist mit seiner Familie oder seinem Verhältnis zu Blair befassen. Diese kurzen, ausgewählten Einblicke in Clays Geschichte vermögen es jedoch nicht, dem Roman historische Tiefe zu verleihen. Durch das „present tense“, von dem der Ich-Erzähler erst auf den letzten Seiten abweicht und damit zu verstehen gibt, dass er seine Geschichte tatsächlich aus einer historischen Distanz heraus erzählt, wird über den 6

Neben anderen Pressestimmen abgedruckt in der hier verwendeten Ausgabe: LTZ, S. I.

7

Ebd., Buchcover.

8

Freese weist einen Vergleich mit Salingers Protagonisten Holden Caulfield zurück und konstatiert: „Ellis protagonist is definitely no new Holden Caulfield but rather a latter-day male Sally Hayes.“ (Freese, „MTV novell“, S. 68.)

9

Wagner, Adoleszenzroman, S. 214. An dieser Stelle wird auf eine ausführliche Wiederholung von Wagners Ergebnissen verzichtet, da dies zur hier vorgenommenen Analyse des Romans wenig beitragen würde.

10 Die Kürze der Kapitel hat die Kritikerwelt häufig dazu verleitet, den Roman als „MTV novel“ zu beschreiben, als handele es sich bei den einzelnen Kapiteln um videoclipartige Versatzstücke. Die oftmals fehlende Kohärenz und die geringe Aufmerksamkeitsspanne, die zum Lesen der einzelnen Kapitel notwendig ist, mögen einen solchen Vergleich mit hintereinander geschalteten Clips rechtfertigen, jedoch wäre eine Reduktion darauf ein allzu oberflächliches Urteil, welches die Tiefenstruktur und die stilistische Finesse verkennen würde. S. hierzu Kap. 5.1.3.

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Großteil der Erzählung der Eindruck von Unmittelbarkeit und Dringlichkeit erweckt. Horst Steur stellt hierzu fest: „Mit sprachlichen Mitteln wird im Leser die Illusion geweckt, am Geschehen teilzunehmen, nicht etwas ‚erzählt‘, sondern etwas ‚gezeigt‘ zu bekommen. Dadurch, dass eine Differenz und Spannung zwischen dem Ich, das die Ereignisse in Los Angeles erlebt, und dem Ich, das sie nach mehr oder weniger langer Zeit erzählt, fast durchgängig fehlen, werden Reflexivität und Geschichtlichkeit verhindert, die zu den Grundzügen des Menschseins gehören.“11

Passend zur fehlenden Historizität des Romans werden keinerlei Angaben darüber gemacht, in welchem Jahr die Handlung stattfindet. Auch aufgrund der Beliebigkeit der Handlungsbausteine, die kausale Verknüpfungen vermissen lassen, entsteht der Anschein, die Geschichte könne jederzeit stattfinden. Steur weist in seiner Untersuchung jedoch nach, dass die Handlung am 17. Dezember 1984 beginnt und entweder vier Wochen, also 28 Tage, oder aber einen Monat, also 30 oder 31 Tage, andauert. 12 Dies lässt sich nicht endgültig klären, da Clay selbst widersprüchliche Angaben bezüglich seiner Aufenthaltsdauer macht. Dass die Handlung Anfang oder Mitte der 80er Jahre stattfindet, wird dem aufmerksamen Leser jedoch schon allein aufgrund der zahlreichen Verweise auf die damals aktuelle Pop- und Rockmusik, sowie auf Kinofilme und Fernsehserien auffallen. Für das Verständnis des Romans reicht es aus zu wissen, dass die Geschichte an Weihnachten in den frühen 80er Jahren spielt, eine exakte zeitliche Einordnung ist nicht zwingend zum Verständnis des Romans notwendig. Dennoch wird bei Steurs Analyse deutlich, welch große Rolle Rockmusik und Kinokultur für den Roman spielen. Dabei handelt es sich um kulturelle Verweise,13 die primär an das junge Zielpublikum der 80er Jahre adressiert sind und nur von diesem problemlos verstanden werden können. Hierin mag begründet liegen, weshalb mancher Literaturkritiker Ellis’ Debüt als oberflächlich und trivial aburteilte und die verweisende Struktur des Romans sowie seine inhaltlichen Tiefen, maskiert durch Songtitel, Popstars oder Liedtexte, verkannte. Steur konstatiert diesbezüglich, dass der „Verweishorizont, der dem traditionellen Literaturkritiker verfügbar ist, […] nicht mehr aus[reicht], um die Romane in ihrer Vielschichtigkeit zu verstehen“.14 11 Steur, Der Schein und das Nichts, S. 36. 12 Ebd., S. 42f. 13 Steur weist an zahlreichen Beispielen nach, dass viele Romanszenen nur dann tiefgehend interpretativ erschlossen werden können, wenn man als Leser mit der Rockmusikszene und der Kinokultur der frühen 80er Jahre vertraut ist. Andernfalls geht die verweisende Bedeutung für den Leser verloren. Für die vorliegende Arbeit spielen die zeitliche Verortung und die kulturellen Referenzen für die Interpretation allerdings keine Rolle. 14 Ebd., S. 8.

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Der Titel als Rätselspiel um Bedeutungsebenen Diese Vielschichtigkeit beginnt schon beim Titel des Romans, der einem Song des englischen Musikers Elvis Costello entlehnt ist. Elvis Costello war in den 80er Jahren ein erfolgreicher Punkrock-Musiker, der mit seiner anti-rassistischen Haltung die politischen Ansichten einer großen Anzahl junger Briten vertrat, die missbilligend den Aufstieg einer neuen Rechten in Großbritannien registrierten. Der Song „Less Than Zero“ vom 1977 erschienenen Album My Aim is True befasst sich mit dem aufstrebenden neofaschistischen Politiker Sir Oswald Mosley, der Rassenhass und verleumderische Hetzreden verbreitete. 15 Bei Costellos Song handelt es sich um eine beißende Gesellschaftskritik und ein vernichtendes Werturteil gegenüber Rassisten und Faschisten. Unter Rückgriff auf den kritischen Aspekt des Songs kann der Romantitel Less Than Zero daher ebenfalls als Kritik an dem porträtierten Milieu gelesen werden. In Unkenntnis des Costello-Songs kann dem Leser diese Bedeutungsebene jedoch leicht entschlüpfen. Neben diesem kritischen Gehalt versucht Freese im Titel noch eine andere Bedeutungsebene nachzuweisen: das Konzept der Entropie. Er erklärt, „[t]his motif is that of entropy in both its thermodynamic sense of the ‚heat death‘ of the universe and its cybernetic sense of increasing informational attrition.“16 Damit bezieht er sich einerseits auf den Begriff der Entropie, der aus der Thermodynamik stammt und Energiewandel beschreibt, andererseits auf den sozialwissenschaftlichen Begriff der Entropie, der das Maß an Informationsgehalt definiert. Auf Grundlage dieser Theoreme hält Freese drei Beobachtungen fest: 1. Die fortwährende und allgegenwärtige kataklysmische Hitze, die das Weihnachtsfest zu einem im übertragenen Sinne ‚höllischen‘ Ereignis macht, sieht er als positive Entropiebewegung im Sinne einer Wärmezufuhr. Er versteht diese als Symbol für die Apokalypse, für welche er einige Textbelege anbringt.17 2. Der Nullpunkt, das „Zero“ im Titel, interpretiert Freese als Metapher für „the irresistible movement from distinction and differentiation to sameness and interchangeability“.18Er verweist damit auf die derart prägnante Ähnlichkeit der Figuren 15 Ebd., S. 152ff. 16 Freese, „MTV novel“, S. 80. 17 Ebd., S. 80ff. Freese begründet dies mit Clays erwachendem Interesse an christlichen Fernsehsendungen und nennt als Belege für apokalyptische Symbole u. a. folgende Textstellen: die glühendheiße Sonne, die als „orange monster“ (LTZ, S. 172) oder als „gigantic […] ball of fire“ (LTZ, S. 195) beschrieben wird; den Zeitungsartikel über einen Mann, der sich selbst lebendig im Garten begraben wollte, weil es „so hot, too hot“ (LTZ, S. 198) sei; Clays Vision eines Kleinkindes, das „burning, melting on the engine“ (LTZ, S. 76) qualvoll verendet. 18 Ebd., S. 82.

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in Aussehen, Herkunft, sozialem Status etc., dass sie verwechselbar, auswechselbar werden. Sogar die Namen der Figuren sind einander so verwandt, dass dies eine Unterscheidung auch für den Leser schwierig macht: Rip, Spit, Spin, Kim, Trent, Clay, Blair, Derf – einsilbige Namen, die oftmals eher wie Spitznamen und weniger wie echte Vornamen klingen.19 Im Einklang damit steht die eindimensionale, flache Konzeption der Charaktere, die durch die Einsilbigkeit der Namen unterstrichen wird. 3. Die entropische Bewegung von Heterogenität zu Homogenität macht sich auch in der Kommunikation der Figuren bemerkbar im Sinne einer „speechlessness of an almost autistic generation“. 20 Entropie verstanden als Informationsmangel steht somit für die Sprachlosigkeit und den Kommunikationsunwillen bzw. die Kommunikationsunfähigkeit, die die Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren charakterisieren. Das stark konstruierte Interpretationsschema der Entropie lässt sich allerdings nicht direkt aus dem Text erschließen. Die Textbelege, die Freese anführt, sind wenig aussagekräftig und wirken allzu bemüht, zumal er sowohl den thermodynamischen als auch den sozialwissenschaftlichen Bedeutungskontext herauszulesen bestrebt ist. M.E. nach steckt Freese den Roman damit in ein starres Korsett, das zum Verständnis des Textes unnötig ist. Dennoch wurde sein Ansatz kaum kritisch hinterfragt, sondern zumeist als evidenter Zugang zum Text gehandelt.21 Will man das suspekte Konzept der Entropie als Interpretationszugang jedoch konsequent zu Ende denken, kann es auch für einen anderen Gesichtspunkt stehen, der in der Forschungsliteratur zu Ellis bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren hat: Gemäß dem dritten Hauptsatz der Thermodynamik, der den absoluten Nullpunkt und damit den völligen Verlust von Wärme thematisiert, kann der Titel Less Than Zero als Metapher für die emotionale Kälte und die Gleichgültigkeit gelesen werden, die symptomatisch sind für die Figureninteraktion und den Erzählstil gleichermaßen – Entropie als Gefühllosigkeit. Zwar ist einigen Autoren die Gefühllosigkeit aufgefallen, aber kaum einer beschäftigt sich ausführlich damit. So stellt Young fest, dass die Figuren in Less Than Zero „disaffected or affectless“22 sind und „Ellis’ characters are driven to extremes in their efforts to experience something. To feel.“23 Sahlin fällt der „deadpen [!] style“24 auf und dass Clay nur durch extreme Situationen aus 19 Steur, Der Schein und das Nichts, S. 55. 20 Freese, „MTV novel“, S. 82. 21 Z.B. von Steur, Der Schein und das Nichts, S. 88 und Wagner, Adoleszenzroman, S. 245. 22 Young, „Vacant Possession“, S. 30. 23 Ebd., S. 33. 24 Sahlin, Nicki: „‚But This Road Doesn’t Go Anywhere‘: The Existential Dilemma in ‚Less Than Zero.‘“ In: Critique Vol. 33 (1) (1991), S. 23-42. Hier zitiert S. 23.

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seiner emotional betäubten Starre erwachen könne: „He shares with others the symptom of having emotions so anesthetized that it takes something extreme to interest him or to rewaken his feelings“. 25 Weibels-Balthaus widmet dieser Erkenntnis in seiner Dissertation immerhin einige Seiten. Er spricht von Clays „social impassiveness“, vom „deep dread of emotional involvement“ 26 und bleibt damit der einzige, der sich mit der Gefühllosigkeit des Protagonisten näher auseinandersetzt. Um diese Lücke zu schließen, soll auf den folgenden Seiten die Gefühllosigkeit als kennzeichnendes Merkmal des Romans auf drei Ebenen beleuchtet werden: innerhalb der pathologischen Motive der Handlung, als Charakteristikum der Figureninteraktion und auf der Stilebene. 5.1.1 Pathologische Leitmotive Auf der Handlungsebene lassen sich drei Themenbereiche identifizieren, die in Less Than Zero immer wieder aufgegriffen und variiert werden: der Drogenmissbrauch, der allgegenwärtig den Roman durchzieht, die Promiskuität, die beispielhaft für die emotionale Verwahrlosung der Figuren verstanden werden kann, und die Gewalt bzw. der Umgang mit Gewalt, der das Ausmaß an Gleichgültigkeit und emotionaler Kälte verdeutlicht. Diese sollen im Folgenden vor dem Hintergrund der in Kapitel 3.2 und 3.3 dargestellten theoretischen Zusammenhänge näher beleuchtet werden. Drogenmissbrauch Wie normal der Konsum von Drogen in dem dargestellten Milieu ist, wird schon auf der ersten Romanseite augenfällig durch die beiläufige Erwähnung von Marihuana, nach welchem Blairs Auto riecht, als sie Clay vom Flughafen abholt (LTZ, S. 9). Mit der gleichen Beiläufigkeit werden im gesamten Roman Drogen, Alkohol und verschreibungspflichtige Medikamente in die Erzählung eingeflochten: Auf 45 Prozent der Romanseiten werden verschiedene, teils illegale Substanzen27 genannt, wird die Einnahme von Drogen beschrieben oder gleichgültig bemerkt, jemand habe „O.D.’d“ (LTZ, S. 29, S. 115, S. 126, S. 132, S. 156, S. 186), eine umgangssprachliche Abkürzung und verharmlosendes Slangwort für „to overdose“. Beispielhaft seien an dieser Stelle zwei Kapitel erwähnt, die das Ausmaß des Drogenkonsums unter den jugendlichen Romanfiguren verdeutlichen. 25 Ebd., S. 36. 26 Weibels-Balthaus, Gregor: The Self in Trouble: Young Adults in the Urban Consumer Society of the 1980s in Janowitz, Ellis, and McInerney. Dissertation, Ruhr-Universität Bochum 2005. http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dokserv?idn=976449706&dok_var=d1& dok _ext=pdf&filename=976449706.pdf vom 10.03.2010. 27 Z.B. Alkohol, Crystal Meth, Heroin, Kokain, Lithium, LSD (genannt Acid), Marihuana, Methaqualon (genannt Quaalude), Valium.

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Beiläufiger Drogenkonsum. Im Kapitel von S. 29-37, am vierten Tag von Clays Aufenthalt zu Hause, wird auf einer Party zum ersten Mal Kokain konsumiert. Der beschriebene Kokaindeal zwischen Clay und seinem Dealer Rip läuft geschäftsmäßig und freundschaftlich zugleich ab: Small Talk und Business Talk gehen fließend ineinander über. Als gewiefter Dealer spendiert Rip seinem Kunden Clay zunächst eine großzügige Portion, bevor dieser ihm ein Gramm abkauft, auf welches Rip ihm anlässlich der Weihnachtsfeiertage einen Rabatt gewährt, als „Christmas present“ (LTZ, S. 32). Dass es sich bei der Droge um Kokain handelt, wird wörtlich nicht erwähnt, der informierte Leser erkennt aber aus der Beschreibung, um welche Droge es geht: Weiße Pulverlinien auf einem Spiegel, die mit einem aufgerollten Zwanziger durch die Nase aspiriert werden, deuten unverkennbar auf Kokain hin. Die Einnahme der Droge wird unbeteiligt geschildert, nur die Verwendung des Verbs „to stare“ lässt auf Clays Gier schließen, das Kokain zu nehmen: „I don’t say anything, just stare at the half gram he’s poured onto a small hand mirror.“ (LTZ, S. 32) Anscheinend ist Clay routiniert im Umgang mit Kokain. Dies wird offenkundig durch die knappe Bemerkung „I lean down and do a line“ (LTZ, S. 32), ohne auf die Wirkung des Kokains oder auf das Gefühl der Substanz in den Atemwegen einzugehen. Im Verlauf des Abends konsumiert Clay eine weitere Dosis, die er sich von seinem Kumpel Trent ausgeben lässt, ohne zu erwähnen, dass er bereits zwei Lines mit Rip gezogen hat – so kommt Clay an eine Gratisportion, die aus einem goldenen Löffel28 geschnupft wird. Dieses Mal beschreibt er seine körperliche Reaktion darauf, jedoch nur, da es sich laut seiner Einschätzung um minderwertiges Kokain handelt: Seine Augen tränen und er muss schlucken. Dass Clay Qualitätsunterschiede beim Kokain feststellen kann, ist ein weiterer Indikator dafür, dass er im Hinblick auf Kokain bewandert ist. Um den Rausch zu steigern, trinkt Clay im Anschluss großzügige Mengen Champagner – allein während eines kurzen Gesprächs mit einem Jungen namens Griffin leert er fünf Gläser, behauptet aber erst betrunken zu werden, als die Wirkung des Kokains nachlässt. Offensichtlich ist Clay an beides gewöhnt, andernfalls könnte sein Organismus so große Mengen toxischer Substanzen nicht derartig gut verkraften. Absichtsvoller Drogenkonsum. Während auf der ersten hier beschriebenen Party der Drogenkonsum eher schmückendes Beiwerk als Selbstzweck ist, steht auf der zweiten Feier (LTZ, S. 78-87), die am Silvesterabend stattfindet, der Drogenkonsum 28 Die Erwähnung des „gold spoon“ (LTZ, S. 35) erinnert an die idiomatische Wendung „silver spoon“, selten gebraucht als „gold spoon“, ein Ausdruck, der mit Wohlstand und speziell mit ererbtem Reichtum assoziiert wird. Er bezeichnet abfällig den privilegierten Status eines Menschen, der in ein finanziell potentes familiäres Umfeld geboren wurde. Dies hat den historisch-kulturellen Hintergrund, dass Silberbesteck aufgrund seines Werts nur in reichen Haushalten verwendet wurde; ärmere oder mittelständische Familien benutzten Besteck aus minderwertigeren Materialien.

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deutlich im Mittelpunkt des Geschehens: Jedes der von Clay dokumentierten Gespräche dreht sich um Drogen – um Lithium (ein Psychopharmakon, das zur Behandlung von Depressionen oder Essstörungen verwendet wird, LTZ, S. 80), um Alkohol (LTZ, S. 81), um Heroin (LTZ, S. 81), um Acid (umgangssprachlich für das Hallozinogen LSD, LTZ, S. 83) – oder wird von Drogenkonsum (Alkohol oder Marihuana) begleitet. Es überrascht daher nicht, dass die gesamte Party auf eine dramatische Klimax zusteuert: Die zentrale Szene des Kapitels beschreibt, wie sich die magersüchtige Muriel Heroin spritzt. Muriel setzt diesen Vorgang sehr theatralisch in Szene. Sie schließt sich, wie zur Ankündigung, zunächst weinend im Badezimmer ein, wodurch sie die Aufmerksamkeit ihrer Freunde auf sich richtet. Dann lässt sie nach allzu kurzer Überzeugungsarbeit Blair, Kim, Spit, Clay und einem namenlosen Fremden in das dunkle und nur mit Kerzen erleuchtete Bad. Wieder wird nur durch die Beschreibung der Utensilien und der Vorbereitungen klar, um welche Droge es sich handelt: Die Verwendung eines Löffels, in welchem über einer Kerzenflamme eine braune pudrige Substanz verflüssigt wird, die anschließend mit einer Spritze aufgenommen wird, das Abbinden des Arms mit einem Gürtel, das Suchen einer Vene in der Innenseite der Armbeuge sind unmissverständliche Hinweise auf die Droge Heroin. Clay beschreibt diese Vorgänge sehr detailreich, dabei scheinbar gelassen und teilnahmslos: „Muriel sits down in the corner next to one of the candles, next to a spoon and a syringe and a little folded piece of paper with brownish powder on it and a piece of cotton. There’s already some stuff in the spoon and Muriel wads the piece of cotton up as small as possible and puts it in the spoon and sticks the needle into the cotton and then draws it into the syringe. Then she pulls up her sleeve, reaches for a belt in the darkness, finds it and wraps it around her upper arm.“ (LTZ, S. 85)

Jedoch wird seine innere Unruhe und sein Unbehagen angesichts Muriels Grenzüberschreitung deutlich durch unterschwellige Signale. Wie hypnotisiert muss er auf die Weste starren, die Muriel trägt – es ist seine eigene Weste mit einem roten Dreieck auf der Brust, die sie sich früher am Abend von ihm ausgeliehen hat. Dieser Anblick macht ihn konfus und verängstigt ihn: „I look at my vest and it freaks me out to see that it does look like someone got stabbed, or something.“ (LTZ, S. 85f.) Auf symbolischer Ebene wird so die Verbindung zum Tod hergestellt. Darüber hinaus wird durch die Weste, die Clay gehört, aber von Muriel getragen wird, zwischen den beiden symbolisch eine Nähe hergestellt, die ihm unangenehm ist. Nicki Sahlin schreibt hierzu, Muriel sei eines der „symbols of the death-in-life that Clay is beginning to recognize“. 29 In Muriel vereinen sich nämlich gleich zwei Symbole für den „death-in-life“: ihre Drogenabhängigkeit und ihre Magersucht. 29 Sahlin, „Existential Dilemma“, S. 33.

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Während Clay äußerlich ruhig bleibt, verstört ihn innerlich der Anblick seiner Heroin spritzenden Freundin, gekleidet in sein eigenes Kleidungsstück, mehr, als er zuzugeben bereit ist: „My hands shake as I light a cigarette“ (LTZ, S. 86) – ein eindeutiges Zeichen seiner Aufregung. Dennoch oder gerade deswegen beobachten er und seine Freunde die Szene erregt und sensationslüstern. Keiner der immerhin fünf Anwesenden versucht ernsthaft, Muriel an ihrem Vorhaben zu hindern. Kims halbherziger Einwand „Don’t do it“ (LTZ, S. 86) ist zwar auf der Wortebene die Bitte, den Heroinkonsum zu unterlassen, auf der Sinnebene bedeutet er aber das genaue Gegenteil. Die Gefahren, die mit Heroin verbunden sind, sind bekannt: die starke Abhängigkeit und der extreme Suchtdruck, die schlimmen Entzugserscheinungen, die hohen Beschaffungskosten und die drohende Konsequenz, in Kriminalität oder Prostitution abgedrängt zu werden. Aber Kims Gier, Muriel fixen zu sehen und damit eine schockierend-faszinierende Show geliefert zu bekommen, ist größer als ihre Sorge um die Freundin. Clay beobachtet Kims Mimik genau: „her lips are trembling and she looks excited and I can make out the beginning of a smile and I get the feeling that she doesn’t mean it.“ (LTZ, S. 86) Daraus ist zu schließen, dass Kims Einwand „Don’t do it“ eher als Aufforderung denn als Ablehnung zu verstehen ist. Auf Muriels Heroinkonsum reagieren die Freunde bestürzt bis erregt: Blair geht, Clays Hände zittern, Spit staunt, der Fremde macht ein Foto der halb weggetretenen Muriel. Diese Szene macht zwei Dinge deutlich: Erstens ist das soziale Umfeld, in dem sich Clay und seine Freunde bewegen, nicht am Individuum interessiert, sondern vor allem an Lustmaximierung, auch wenn dies bedeutet, dem Untergang einer Freundin tatenlos zuzusehen. Zweitens schildert Clay die Vorgänge zwar emotionslos, also ohne die Verwendung von Emotionswörtern, mit denen er seinen emotionalen Status offen beschreiben würde; es wird aber durch implizite Textsignale angedeutet, dass er durchaus emotional reagiert. Als Ich-Erzähler versucht er, die Geschehnisse so teilnahmslos wie möglich darzustellen. Als erlebende Figur kann er aber gewisse Signale nicht unterdrücken, die auf seinen seelischen Zustand hinweisen: Die Verwirrung, die beim Anblick der Weste entsteht und die zittrigen Hände beim Anzünden der Zigarette sind Anzeichen seiner emotionalen Betroffenheit. Drogen und Alkohol in der Familie. Dass Drogen nicht nur auf Parties konsumiert werden, sondern im Alltag eine willkommene Stütze bieten, macht Clays eigener Drogenmissbrauch deutlich. Er schnupft beinahe täglich Kokain, entweder um unliebsame Situationen leichter durchstehen zu können, um Langeweile zu vertreiben oder zur Förderung der Geselligkeit.30 Kokain ist ein fester Bestandteil 30 Der Protagonist nimmt Kokain vor dem ersten Treffen mit seinem Vater (LTZ, S. 40), um die Weihnachtsfeierlichkeiten im Kreis der Familie ertragen zu können (LTZ, S. 72), vor einer Sitzung bei seinem verhassten Psychiater (LTZ, S. 122), auf einer Geschäftsparty des Zuhälters Finn (LTZ, S. 181), aus lauter Langeweile in einem Club und in seinem

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von Clays Normalität, es gehört zum Alltag dazu wie essen und trinken. Selbst seine beiden jüngeren Schwestern, etwa im Alter von dreizehn und fünfzehn Jahren, behaupten von sich selbst, Kokain zu konsumieren, was die Mutter, in deren Anwesenheit diese Behauptung aufgestellt wird, nicht zu verwundern oder zu bestürzen scheint (LTZ, S. 25). Da der vermeintliche Kokainkonsum der Töchter keine Sorge bei der Mutter auslöst, liegt die Vermutung nahe, dass auch die Mutter den Konsum von Kokain als normal und gängig empfindet.31 In einem Milieu, in dem Eltern ihren Kindern totale Sorglosigkeit und Nachlässigkeit im Umgang mit Drogen vorleben, ist es nicht verwunderlich, dass ihre Sprösslinge keine von Vorsicht und Ablehnung geprägte Einstellung zu Drogen entwickeln. In aller Plastizität wird dies auch ersichtlich durch den familiären Gebrauch von Alkohol. Er ist fester Bestandteil, wann immer die Familie zusammenkommt, sei es an den Wochenenden in Palm Springs, wie Clay sich erinnert (LTZ, S. 137, S. 145, S. 157), beim Treffen mit der Mutter (LTZ, S. 18f), gemeinsamen Shoppingtouren (LTZ, S. 23) oder an Weihnachten (LTZ, S. 64ff, S. 72) – keine Familienzusammenkunft ist denkbar ohne üppigen Wein- und Champagnerfluss. Sogar Clays kleine Schwestern trinken schon Alkohol (LTZ, S. 72), was die Eltern nicht kommentieren und erst recht nicht verbieten; es scheint nicht einmal aufzufallen. Auch bei Treffen mit Freunden wird stets Alkohol getrunken (LTZ, S. 74, S. 90, S. 95, S. 105, S. 107, S. 138, S. 141, S. 148, S. 202ff).32 Aus dieser Häufigkeit des Drogen- und Alkoholkonsums, der weder hinterfragt noch als krankhaft empfunden wird, wird die erschreckende Normalität deutlich, die den Umgang mit Drogen und Alkohol kennzeichnet. Es handelt sich um ein konstituierendes Element des dargestellten sozialen Milieus, in dem Eltern wie Kinder verschiedene Substanzen konsumieren. Dabei entfällt sowohl eine positive als auch eine negative Wertung durch den Ich-Erzähler oder durch die handelnden Figuren. Auffällig ist weiterhin, dass auch eine Beschreibung des Rauschs stets unterbleibt. Er erscheint nebensächlich oder zumindest nicht erwähnenswert. So bleibt unklar, warum überhaupt der Protagonist Drogen nimmt, wenn er dem Rausch keine oder nur geringe Bedeutung zumisst. Naheliegend ist die Annahme, dass Clay durch die deviante Haltung seiner Peergroup bezüglich Drogenkonsums beeinflusst wird, ebenso wie durch den elterlichen Umgang mit Alkohol. Durch die familiäre und sekundäre Sozialisation hat sich bei Clay die Disposition zu Drogenmissbrauch entwickelt. Seine äußere Realität ist geprägt von allgegenwärtigem Zimmer beim Fernsehen (LTZ, S. 107, S. 140), mit seinen Freunden Trent und Spin (LTZ, S. 115, S. 128). 31 Die mangelnde Sorge kann auch ein Zeichen von elterlichem Desinteresse gegenüber den eigenen Kindern sein, siehe hierzu Kap. 5.1.2, Abschnitt Familie. 32 Seltener nimmt Clay Valium ein, ein beruhigendes und angstlösendes verschreibungspflichtiges Psychopharmakon (LTZ, S. 12, S. 26, S. 39, S. 115).

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Drogenkonsum, ein sozialisierender Faktor, dem Clay nicht entgehen kann. Unterstützt wird diese Disposition gemäß Kemper durch das Macht-Status-Gefüge der Gesellschaft, in der Clay sich bewegt. Drogen dienen in erster Linie zur Steigerung des eigenen Wohlbefindens, und ihr Gebrauch entspricht damit dem dominierenden Macht-Verhalten, das sein Umfeld kennzeichnet. Bezüglich des Drogenkonsums bestehen in Clays Umwelt kaum Schranken, sie sind allzeit verfügbar, werden moralisch nicht hinterfragt und ihr Konsum ist anerkannt. Darüber hinaus nimmt der Drogenkonsum indirekten Einfluss auf Clays emotionales Befinden: Wer in einem ständigen Rauschzustand lebt, nimmt sich selbst, seine Umwelt, seine Gefühle nur verzerrt wahr. Der Zugang zur eigenen Emotionalität wird verhindert, sowohl negative als auch positive Empfindungen werden unterdrückt – das Resultat ist die Tendenz zu Gleichmut und Teilnahmslosigkeit. Die Kombination aus sozialisierter Disposition zum Drogenmissbrauch und der abstumpfenden Wirkung der Substanzen ist somit mitverantwortlich für Clays Unfähigkeit oder Unwillen, seine Gefühle zu klassifizieren und zu artikulieren. Die Analyse der beiden anderen pathologischen Leitmotive wird diese Neigung zur Emotionslosigkeit bestätigen. Promiskuität So gedankenlos und unbeteiligt, wie Clay und seine Freunde mit Drogenkonsum umgehen, verhalten sie sich auch im Hinblick auf Sexualität. Nachdem durch ein Gespräch unter Freunden über die Verteilung von Sexualpartnern die Promiskuität der Romanfiguren deutlich gemacht wurde, in dessen Verlauf auch Clays sexuelle Erfahrungen zur Sprache kommen und sein mangelndes Erinnerungsvermögen bezüglich der Anzahl und Namen seiner Sexualpartner thematisiert wird (LTZ, S. 27ff.), kommt es schon kurz nach Romanbeginn zu einem ersten sexuellen Intermezzo (LTZ, S. 37ff.). Homoerotik. Ausgerechnet der erste in der Romanhandlung erwähnte Sexualkontakt findet nicht mit seiner (Ex-)Freundin Blair statt, sondern mit einem männlichen Partner. Dies ist neben einem Statement zu Clays unsicherer Beziehung zu Blair auch die Bestätigung, dass Clay homoerotische Kontakte pflegt.33 Griffin ist eine eher flüchtige Bekanntschaft Clays und wird zunächst nur erwähnt als „this guy from U.S.C.“ (LTZ, S. 35) Die beiden begegnen sich auf einer Party, trinken innerhalb kurzer Zeit extrem viel Alkohol und landen nach eher unbeholfenen, einseitigen Flirtversuchen Griffins zusammen im Bett. Auf Griffins Einladung reagiert Clay zunächst gelangweilt, fast unwillig, entschließt sich dann aber mitzugehen. Kurz vor dem Akt ist keinerlei sexuelle Erregung bei Clay spürbar. Die 33 Daraus ist nicht zu schließen, dass die Hauptfigur homosexuell sei. Vielmehr handelt es sich bei Homoerotik um eine anerkannte sexuelle Praktik unter den jugendlichen Figuren des Romans.

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beiden küssen sich nicht und ziehen sich auch nicht gegenseitig aus, sondern befinden sich auf gegenüberliegenden Positionen im Raum und entledigen sich selbst ihrer Bekleidung. Sexuelle Spannung fehlt gänzlich. Die Atmosphäre ist eher als geschäftsmäßig-professionell zu beschreiben, als begegneten sich zwei Strichjungen, die einen Job zu erledigen hätten: „Griffin stands by his bedroom window, looking out into the backyard, at the pool only wearing a pair of jockey shorts and I’m sitting on the floor, my back leaning against his bed, sober, bored, smoking a cigarette. Griffin looks at me and slowly, clumsily, pulls off his underwear and I notice that he doesn’t have a tan line and I begin to wonder why and almost laugh.“ (LTZ, S. 37)

Der eigentliche Akt bleibt unerwähnt. Es folgt ein zeitlicher Sprung zum Morgen danach: Clay wirkt ernüchtert. Er beschränkt sich darauf, seine körperlichen Empfindungen zu beschreiben. Sein Mund ist trocken, ein Hinweis darauf, dass er sich nicht wohl fühlt. Die Mundtrockenheit ist zweifelsohne eine Folge des Alkoholund Drogengenusses des vorherigen Abends, kann aber auch metaphorisch gelesen werden als Zeichen seines emotionalen Unwohlseins. Auch Clays Selbstbetrachtung im Spiegel deutet darauf hin: „I take a piss and then stare at myself, nude, in the mirror for a moment, and then lean against the sink and splash cold water on my face. Then I look at myself in the mirror again, this time longer.“ (LTZ, S. 38)

Es bleibt dem Leser überlassen, diesen reflexiven Moment mit Bedeutung zu füllen. Möglicherweise betrachtet sich Clay nur, um festzustellen, welche Spuren die Partynacht in seinem Gesicht hinterlassen hat, ob er müde oder blass aussieht. Das Waschen seines Gesichts kann der Erfrischung dienen. Möglicherweise betrachtet sich Clay aber auch im Spiegel in dem Bemühen der kontemplativen Selbsterkenntnis nach der Nacht mit Griffin und spritzt sich Wasser ins Gesicht als Versuch der seelischen Reinigung nach einem schmutzigen Erlebnis. Kein Kommentar des IchErzählers erhellt diese Szene; was auch immer im Protagonisten vorgehen mag – der Leser bleibt davon ausgeschlossen. Durch die kategorische Ausgrenzung des Lesers an dieser Stelle wird zwischen Rezipient und Protagonist eine empathischidentifikatorische Leerstelle erzeugt, die der Irritation des Lesers dient. Einerseits löst die reflexive Selbstbetrachtung Clays größeres Interesse des Lesers am Protagonisten aus, ruft die Sehnsucht nach Identifikation mit ihm hervor, andererseits wird dieses Interesse jedoch nicht gestillt. Indem die emotionalen Bereiche dieses intimen Erlebnisses verhüllt bleiben, wird eine Identifikation des Lesers mit der Hauptfigur erschwert. Auf sachlicher Ebene bleibt das Erlebnis zwar nachvollzieh-

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bar, auf der emotionalen Ebene jedoch unverständlich. Auf diese Weise verweigert sich der Erzähler der Einfühlung durch den Leser. Diese Unverstehbarkeit setzt sich weiter fort: Kurz darauf sucht Clay ein kurzer Panikanfall heim, weil er seine Kleider nicht auf Anhieb findet (LTZ, S. 38). Es erscheint paradox, eine derart extreme Emotion wegen einer Belanglosigkeit zu verspüren, aber scheinbar gefühllos zu bleiben angesichts der Nacht mit einem Fremden. Vor dem Hintergrund von Clays indifferenter Erzählhaltung ist dies aber nicht so widersprüchlich wie zunächst vermutet: Es entspricht voll und ganz Clays Erzählduktus, nur dann Emotionen zuzugeben, wenn sie seine Integrität nicht bedrohen. Ein Panikanfall wegen verlegter Kleider erscheint Clay offensichtlich weniger uncool als einer aufgrund eines homoerotischen Kontakts. Hier liegt eine Verschiebung der Emotionen vor: Der Lesererwartung entspräche eine starke Emotion wegen des sexuellen Erlebnisses mit Griffin, stattdessen erfolgt diese erst im Nachhinein aus geringfügigem Anlass. Möglicherweise projiziert Clay seine emotionale Verfassung wegen der homoerotischen Nacht auf den vermeintlichen Verlust seiner Kleider und empfindet die Panik nicht wirklich aufgrund der unauffindbaren Kleiderstücke, sondern aufgrund des sexuellen Erlebnisses. Darüber hinaus verzichtet Clay auf eine detaillierte Beschreibung seines Panikanfalls und beschränkt sich auf den knappen Hinweis „I look around the room and panic, because I can’t find my clothes“ (LTZ, S. 38). Clay behauptet den starken Affekt der Panik, erläutert aber nicht, wie sich das anfühlt. Wie in der Heroin-Szene mit Muriel zeigt sich: Clay ist keineswegs affektlos, sondern durchaus im Stande, zu fühlen. Jedoch will er seine Emotionen nicht dezidiert artikulieren, will sie sich selbst und damit auch dem Leser nicht offenbaren, indem er sie beschreibt. Distanzierter Sex. Auch die weiteren Sexualkontakte im Verlauf der Romanhandlung folgen diesem Muster der Distanziertheit und Indifferenz. Der erste sexuelle Kontakt mit Blair wird ebenfalls nicht beschrieben, sondern in einem Zeitsprung vom Moment des Beschlusses, miteinander Sex zu haben, zur Situation danach, in Blairs Zimmer, überbrückt (LTZ, S. 57f). Die fehlende Schilderung des Sexualaktes kann als Mechanismus der Verdrängung gedeutet werden. Sex als gelebter Ausdruck von Emotionen kann in Clays Narration keinen Raum einnehmen, da dies seine Haltung der Indifferenz untergraben würde. Indem er auf die Beschreibung der sexuellen Handlungen zwischen ihm und seiner (Ex-)Freundin verzichtet, kann er die damit verbundenen Emotionen einerseits vor dem Leser verbergen, andererseits auch für sich selbst verdrängen. Den Höhepunkt innerhalb dieses Musters von Distanziertheit und Indifferenz bildet der Sex mit einem fremden Mädchen (LTZ, S. 121). Indem das Mädchen namenlos bleibt, wird sie zu einer Unperson, der sexuelle Akt zwischen den beiden damit zu einem emotionslosen Ereignis. Die Namenlosigkeit des Mädchens erfüllt dabei die Funktion der Distanzhaltung. Sowohl für Clay als auch für den Leser bedeutet dies, dass er das Mädchen nicht als Individuum wahrnehmen muss, son-

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dern es ausschließlich in ihrer momentanen Rolle als Partnerin zur Befriedigung von Clays sexueller Lust erlebt. Diese Distanz zwischen dem Protagonisten und dem Mädchen erlaubt es, den Sexualakt emotional unbeteiligt durchzuführen. Durch die Anonymität des Mädchens kann auch die Handlung anonym bleiben: Beide masturbieren vor den Augen des anderen, es kommt aber nicht zu gegenseitigen Berührungen oder zum Verkehr zwischen den beiden. Clay trägt währenddessen eine Sonnenbrille,34 was die Anonymität und Entfremdung nochmals steigert. Ein intimer Akt wird dadurch zu einer unpersönlichen Begegnung. Der gesamte Vorgang wird in drei langen Sätzen beschrieben, wobei sich der erste über dreizehneinhalb Zeilen, der zweite über drei Zeilen und der dritte über zehn Zeilen erstreckt. Dies erweckt den Eindruck einer Aneinanderreihung von Einzelhandlungen, die durch die Konjunktion „and“ parataktisch zu einer Gesamthandlung verbunden werden. Die Beschreibung der Handlungen erfolgt besonders detailgenau, wirkt aber gerade dadurch mechanisch und leblos, denn die genauen Handlungsabläufe dominieren die Erzählung und überlagern dadurch den potenziellen emotionalen Gehalt: „[…] she tells me to lean against the headboard and I do and then she takes off the towel and she’s naked and she reaches into the drawer by her bed and brings out a tube of Bain De Soleil and she hands it to me and then she reaches into the drawer and brings out a pair of Wayfarer sunglasses and she tells me to put them on and I do. And then she takes the tube of suntan lotion from me and squeezes some onto her fingers and then touches herself and motions for me to do the same […].“ (LTZ, S. 121)

Die Beschreibung lässt die Erwähnung sexueller Erregung oder Lust vermissen, ebenso wie die Erwähnung von Emotionen. Clay folgt den Anweisungen des Mädchens wie eine Marionette, als habe er keinen eigenen Willen. Die Versuche, konventionellen Sex mit ihr zu haben, erstickt sie im Keim und er hinterfragt dies nicht. Es zeichnet sich somit ein Muster ab: Wie bei den Begegnungen mit Griffin und mit Blair wird der sexuelle Akt durch erzählerische Mittel in eine Distanz gerückt, die eine emotionale Leerstelle einrichtet. Aufgrund der Namenlosigkeit des Mädchens und der daraus resultierenden Unnahbarkeit zwischen den Figuren setzt sich die Distanz auf der Rezipientenebene fort, so dass der Leser keine Nähe zur erzählten Situation herstellen kann. Leidenschaftlicher Sex. Die einzige Ausnahme von diesem Muster ist die letzte Sexszene Clays mit Blair (LTZ, S. 143), in der er mit ihr schläft, nachdem die beiden versehentlich einen Kojoten überfahren haben. Der Ich-Erzähler beobachtet das 34 Die Sonnenbrille als Instrument zur Herstellung von Distanz und Entfremdung wird im Verlauf des Romans immer wieder aufgegriffen. Siehe beispielsweise die erste Szene mit Clays Mutter (LTZ, S. 18f.), analysiert in Kap. 6.1.2.

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Tier bei seinem Todeskampf emotionslos, beschreibt dafür aber umso präziser die zahlreichen Verletzungen des verendenden Tieres. „It’s lying on its side, trying to wag its tail. Its eyes are wide and frightened looking and I watch it start to die beneath the sun, blood running out of its mouth. All of its legs are smashed and its body keeps convulsing and I begin to notice the pool of blood that’s forming at the head.“ (LTZ, S. 143)

Aus der detailreichen Beschreibung geht eine gewisse Faszination hervor. Immerhin bleibt Clay zehn Minuten bei dem sterbenden Tier stehen und beobachtet es, Blair ignorierend, die ihn ruft. Außer dieser Faszination signalisiert Clay keine Emotionen, obwohl er die Furcht in den Augen des verendenden Tieres erkennt. Dass ihn der Tod des Kojoten nicht kalt gelassen hat, wird groteskerweise deutlich durch die Leidenschaft, mit der er Blair im Anschluss liebt: Wieder handelt es sich um eine Beschreibung in einem einzigen Satz, der jedoch durch zahlreiche Adjektive angereichert ist und durch viele Kommata den Eindruck von Atemlosigkeit erweckt: „[…] we kiss roughly and I’ve never wanted her more and she grabs my back and pushes me against her so hard that I lose my balance and we both fall, slowly, to our knees and her hands push up beneath my shirt and I can feel her hand, smooth and cool on my chest and I kiss, lick, her neck […].“ (LTZ, S. 143, Hervorhebungen durch d.Verf.)

Im direkten Vergleich mit der Szene, in welcher er mit dem namenlosen Mädchen Sex hat, sind deutliche Unterschiede zu erkennen: Offensichtlich ist Clay in höherem Ausmaß sexuell und emotional affiziert, was durch den Erzählstil illustriert wird. Die Narration wird durchbrochen von Einschüben, und die Verwendung von Adjektiven verleiht ihr eine Lebendigkeit, die der Szene mit dem fremden Mädchen fehlt. Hinzu kommt zum ersten Mal ein wertender Kommentar: „I’ve never wanted her more“. Dies demonstriert deutlich Clays affektive Erregung. Durch die inhaltliche Verknüpfung von Tod und Leben innerhalb weniger Zeilen wird deutlich: Es ist nicht Blair, die diese Erregung erzeugt, sondern es ist die Todeserfahrung, die Clay kurz zuvor gemacht hat; der Tod einer anderen Kreatur weckt in Clay Lebensgeister. Erst nach diesem Erlebnis ist ihm leidenschaftlicher Sex möglich – er braucht die Stimulation seines Destruktionstriebs, um seinen Lebenstrieb zu aktivieren. In der Zusammenfassung dieses Themenbereichs werden einige Aspekte klar: In dieser promiskuitiven Welt ist Sex für Clay bedeutungslos und hat nur wenig oder nichts mit Emotionen zu tun. Liebe oder Nähe spielen für seine Sexualität keine Rolle, nicht einmal Triebbefriedigung oder Spaß nehmen eine große Bedeutung ein. Sexualität ist für Clay nicht an Emotionen gekoppelt; was er an emotionaler Regung empfinden kann, hat ihren Ursprung nicht im Sexualpartner, sondern in

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einem Stimulus von außen, der nicht in konkretem Zusammenhang zur sexuellen Handlung steht. Der Großteil der sexuellen Ereignisse ist für Clay vergleichbar mit einer Konsumhandlung: Sex wird konsumiert, genauso wie Drogen, und ist daher in seiner Normalität, seiner steten Verfügbarkeit, seiner Wahllosigkeit bedeutungslos. Dies wird nicht nur durch Clays persönlichen Umgang mit seinen sexuellen Erlebnissen deutlich, sondern auch durch die Menge: Innerhalb von vier Wochen gelingt es ihm, mit drei verschiedenen Personen beiderlei Geschlechts Sexualkontakt zu haben – in Clays sozialem Umfeld ist dies allerdings keine bemerkenswerte Leistung. In seiner Peergroup ist promiskuitives Sexualverhalten die Norm, wie das eingangs erwähnte Gespräch der Freunde zeigt. Der sozialisierende Einfluss der Peergroup wirkt sich auch hier aus; in seinem sozialen Milieu gilt es als erstrebenswert und gängig, wahllos wechselnde Sexualpartner zu haben. Jedoch gilt es zu bedenken, dass zumindest im Hinblick auf Griffin und das namenlose Mädchen dieselbe Beliebigkeit, mit der Clay die beiden ausgewählt hat, ebenso auf ihn zutrifft: Auch er wurde als Sexualpartner willkürlich ausgewählt. Wenn es keine Verletzung seines Selbstwertgefühls darstellen soll, nur rein zufällig ausgewählt worden zu sein, so muss der Protagonist eine Strategie finden, um mit dieser Beliebigkeit umzugehen. Der Schritt in die emotionale Distanz scheint eine angemessene Verhaltensweise zu sein. Hier deutet sich bereits an, dass Clay als erlebende Figur seine Gefühllosigkeit bewusst als Schutzfunktion einsetzt und als Ich-Erzähler diese Haltung fortsetzt. Wer nichts fühlt, kann auch nicht verletzt werden, oder wer zumindest nicht zugibt zu fühlen, muss keinen Gesichtsverlust befürchten. Die Analyse der Figurenbeziehungen wird diese These untermauern. Zunächst jedoch soll dem letzten pathologischen Leitmotiv Aufmerksamkeit gewidmet werden. Gewalt und Umgang mit Gewalt So wie in Clays sozialem Umfeld Drogenmissbrauch und Promiskuität den Alltag prägen, ist auch der Konsum von gewalthaltigen Materialien wie Videospielen oder Filmen üblich. Clay selbst guckt regelmäßig Splatterfilme (LTZ, S. 97), 35 ist aber

35 Dabei handelt es sich um ein Subgenre des Horrorfilms, in welchem die effektvolle Inszenierung von Gewalt im Vordergrund steht. Gewalthaltige Horrorfilme können in drei verschiedene Klassen eingeteilt werden: „Der Schrecken existiert in der Imagination des Zuschauers, der Film selbst deutet nur an und suggeriert; Horror präsentiert sich visuell und konkret erfahrbar, wahrt aber die Grenzen des guten Geschmacks, welche die Ebene des Ekels nicht mehr kennt, die stattdessen bis in die Extreme der Gewalt geht und die Auflösung des Körpers zelebriert.“ (Vossen, Ursula (Hg.): Filmgenres. Horrorfilm. Stuttgart: Reclam 2004. S. 11, Hervorhebungen im Original) Splatterfilme sind der Ebene des Ekels zuzuordnen, da sie „die Auflösung und Destruktion des Körpers thematisieren oder zelebrieren.“ (Ebd.) Als Klassiker dieses Genres gelten z.B. die Filme THE TEXAS

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schnell gelangweilt davon und sieht sich daher nur die blutrünstigen Stellen an.36 Auch Science Fiction und andere Horrorfilme wie ALIEN (LTZ, S. 54) oder INVASION OF THE BODY SNATCHERS (LTZ, S. 141), welche ebenfalls Szenen expliziter Gewaltdarstellung beinhalten, entsprechen seinem Filmgeschmack. Clay scheint somit an ein erhebliches Maß medialer Gewalt gewöhnt zu sein und ist nicht mehr so leicht zu schockieren. Der Gewaltlevel in Hollywood-Produktionen ist ab einem gewissen Grad nicht mehr steigerbar und für Clay und seine Freunde uninteressant geworden. Der Snuff-Film. Auf einer Party in Malibu wird daher zur Unterhaltung der Gäste ein Snuff-Film gezeigt (LTZ, S. 153f), die filmische Aufzeichnung eines echten Mordes. Es gilt als umstritten, ob Snuff-Filme tatsächlich existieren.37 Angeblich zeichnen sie sich häufig durch schlechte Qualität und das durchgängige Fehlen von Schnitten aus; dies soll dem Zuschauer die Echtheit der dargestellten Torturen beweisen. Der Mord innerhalb eines Snuff-Films wird nur zum Zweck des FilmCHAINSAW MASSACRE (1974) oder HALLOWEEN (1978), neuere Produktionen sind SAW (2004) oder HOSTEL (2005). 36 Clay sieht sich im Kino einen Splatterfilm mit seinen Freundinnen Kim und Blair an, seine Kritik fällt jedoch vernichtend aus: „The movie Kim and Blair want to see starts at ten and is about a group of young pretty sorority girls who get their throats slit and are thrown into a pool. I don’t watch a lot of the movie, just the gory parts. My eyes keep wandering off the screen and over to the two Exit signs that hang above the two doors in the back of the theater.“ (LTZ, S. 97) Offensichtlich ist die Handlung für Clay so langweilig, dass er selbst die Leuchtzeichen über den Türen zum Kinosaal als interessanter empfindet. Nur die blutigsten Stellen vermögen seine Aufmerksamkeit zu erregen. Dies verdeutlicht das Ausmaß an Abstumpfung, das Clay bereits erreicht hat. 37 Die jüngste Diskussion darüber wurde im Jahr 2012 über den Mord an einem chinesischen Studenten durch den kanadischen Mörder Luka Rocco Magnotta (geboren als Eric Clinton Kirk Newman) geführt, der seine Tat auf Video aufgezeichnet und im Internet gepostet haben soll. Das 11-minütige Video soll auf der Seite bestgore.com zu sehen gewesen sein und zeigen, wie ein nackter Mann mit einem Eispickel und einem Küchenmesser erstochen, anschließend zerlegt und die Leiche schließlich in einem Akt der Nekrophilie missbraucht worden sei. Über den angeblichen Verzehr von Leichenteilen wurden konfligierende Aussagen getroffen. Laut der kanadischen Polizei sei das Video als authentisch anzusehen. Der Fall Magnotta bestätigt demnach die Existenz solcher Videos. (Wikipedia zu Luka Magnotta: http://en.wikipedia.org/wiki/Luka_Magnotta vom 02.07.2012;

Spiegel

online

zum

Fall

Luka

Magnotta:

vom

06.06.2012:

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/pornodarsteller-luka-magnotta-unter-kanibalismus -verdacht-a-837183.html vom 02.07.2012; vom 13.06.2012: http://www.spiegel.de/ panorama/justiz/lehrer-in-kanada-soll-mord-video-im-fall-magnotta-gezeigt-haben-a-838 745.html vom 02.07.2012.)

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drehs begangen: „Snuff, das ist der ‚reale‘ Tod im Film für den Film.“38 Der SnuffFilm, den sich Clay und seine Freunde ansehen, zeigt die Vergewaltigung und anschließende langsame und grausame Ermordung eines Mädchens und eines Jungen, indem die beiden zu Tode gefoltert werden. Clays Beschreibung des Films ist sehr detailreich, jedoch ausschließlich auf Nebensächlichkeiten fokussiert. Er schildert die Haltung des Mädchens, den Ausdruck des Jungen, die Aufmachung des Zimmers, die Qualität des Films sehr genau, geht jedoch bis auf die knappe Erwähnung der zweifachen Vergewaltigung nicht auf das zentrale Geschehen selbst ein. „There’s a young girl, nude, maybe fifteen, on a bed, her arms tied together above her head and her legs spread apart, each foot tied to a bedpost. She’s lying on what looks like newspaper. The film’s in black and white and scratchy and it’s kind of hard to tell what she’s lying on, but it looks like newspaper. The camera cuts quickly to a young, thin, nude, scaredlooking boy, sixteen, maybe seventeen, being pushed into the room by this fat black guy, who’s also naked and who’s got this huge hardon. The boy stares at the camera for an uncomfortably long time, this panicked expression on his face. The black man ties the boy up on the floor, and I wonder why there’s a chainsaw in the corner of the room, in the background, and then has sex with him and then has sex with the girl and then walks off the screen.“ (LTZ, S. 153)

Indem Clay seine Aufmerksamkeit auf Belanglosigkeiten wie die Zeitung, auf der das Mädchen liegt, oder die schlechte Filmqualität richtet, muss er sich nicht mit den zentralen Vorgängen des Films befassen. Dass ihm Empathie und Mitgefühl nicht fehlen, wird durch Clays Bemerken des panischen Gesichtsausdrucks des Jungen deutlich. Er ist im Stande, die Mimik des Jungen zu interpretieren und versteht die damit verknüpfte Emotion, die in dem Jungen vorgeht. Eine Ahnung, was nun folgen wird, steigt in Clay auf. Die Hinweise lassen keinen anderen Schluss zu: Zwei gefesselte Teenager, eine Kettensäge, Zeitungspapier als Schutz vor Blutspritzern – gleich wird hier etwas Entsetzliches geschehen. Noch gelingt es Clay, die Tatsachen auszublenden, und er ist in seiner Naivität irritiert von der Kettensäge, reagiert verwirrt, als der Vergewaltiger eine Werkzeugkiste holt und daraus einen Eispickel, einen Kleiderbügel aus Draht, Nägel und ein scharfes Messer zum Vorschein bringt. Erst als der Mann versucht, einen Nagel durch den Nacken des Mädchens zu treiben, wird Clay endgültig klar, um was es sich bei dem Film handelt, und verlässt den Raum. Die emotionslose Beschreibung der Szene ist in diesem Fall

38 Scheinpflug, Peter: Die filmische Agonie des Realen. Snuff als produktive Diskursfigur zur Annäherung an Problematiken des Realismus und der Medialität des Films im Digitalzeitalter, 2009. http://www.peterscheinpflug.de/PeterScheinpflugSNUFF.pdf vom 15.01.2010.

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keineswegs ein Ausdruck für Clays Unberührtheit, sondern vielmehr eine Ablenkung von seinem eigenen Schock, seinem Ekel. So distanziert wie möglich die Vorgänge wiederzugeben, ermöglicht ihm, seine Souveränität zu bewahren und nicht aus der Fassung zu geraten. Seine emotionale Erregung und die Anstrengungen, sich zu beruhigen, machen die folgenden Zeilen deutlich: „I sit in the sun and light a cigarette and try to calm down. But someone’s turned the volume up and so I sit on the deck and I can hear the waves and the sea gulls crying out and I can hear the hum of the telephone wires and I can feel the sun shining down on me and I listen to the sound of the trees shuffling in the warm wind and the screams of a young girl coming from the television in the master bedroom.“ (LTZ, S. 153f)

Clays Konzentration auf andere Sinneseindrücke ist ein verzweifelter Versuch, die friedliche Realität des Strandhauses in Malibu vor die schreckliche Realität des Snuff-Films zu schieben, jedoch gelingt ihm dies nicht. Die Realität des SnuffFilms bricht durch das Schreien des Mädchens konstant und unabwendbar über ihn herein. Obwohl Clay nur indirekt seinen Emotionen Ausdruck verleiht, vermittelt er durch diesen Versuch, sich zu beruhigen, Gefühle des Entsetzens und des Schreckens. Wieder ist nur durch versteckte Signale Clays emotionale Involviertheit zu erkennen. Somit bestätigt sich an dieser Stelle das bereits angedeutete Muster, Emotionen nur dann zuzugeben, wenn sie seine Integrität nicht beschädigen. Andernfalls weicht der Ich-Erzähler einer eindeutigen Klassifizierung seiner Emotionen aus und beschränkt sich auf implizite Textsignale, die vom Leser entschlüsselt werden müssen. So schockiert und entsetzt wie Clay reagieren die anderen Jugendlichen nicht. Zwar hat Blair als einzige außer Clay die Filmvorführung verlassen, die anderen Anwesenden sind durch den Film jedoch offensichtlich erregt. Trent hat sogar eine Erektion. Die Unterhaltung zwischen ihm und zwei weiteren Jungen über die Echtheit des Films lassen deren Abgestumpftheit und Mitleidlosigkeit offenbar werden. Die Kettensägen-Szene und die Kastrations-Szene – beide hat Clay nicht mehr gesehen – werten sie als Echtheitsmerkmale, die nicht gefälscht werden können, was Trent mit der Hoffnung erfüllt, tatsächlich Zeuge eines echten Mordes geworden zu sein. Keiner der Jugendlichen zeigt Mitgefühl gegenüber den Opfern des Films oder Abscheu über das grausame Verbrechen, was charakterisierend für ihren Umgang mit Gewalt ist. Der Leichenfund. Dies wird ebenfalls ersichtlich aus der Entdeckung einer Junkie-Leiche, die Scharen von Jugendlichen als Entertainmentprogramm dient (LTZ, S. 185ff.). Ein langweiliger Abend im Club Roxy eskaliert, als ein Junge namens Ross in einem Hinterhof die Leiche eines Drogenopfers findet und daraufhin Gruppen von Jugendlichen die Leiche bestaunen. Anstatt die Polizei zu informieren, schleusen Ross und seine Freunde nun Todestouristen zu dem toten Jungen. Res-

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pekt im Umgang mit Toten ist für die Jugendlichen offensichtlich ein Fremdwort, denn Rip tritt der Leiche in den Magen, um zu testen, ob der Junge auch wirklich tot ist und steckt ihm anschließend eine Zigarette in den blutverkrusteten Mund, was den Tod des jungen Menschen ins Lächerliche zieht. Clay kann die Begeisterung der anderen jedoch nicht teilen. Während seine Freunde kichern und grinsen und ihre respektlosen Scherze mit dem Toten treiben, zittern Clays Hände so sehr, dass er bei dem Versuch, sich eine Zigarette anzuzünden, diese fallen lässt. Er muss den Jungen anstarren und darüber nachdenken, was wäre, wenn der Tote plötzlich die Augen öffnen würde. Wörtlich kann er seinen Schrecken nicht zugeben, denn dies würde ihn vor seinen Freunden blamieren, die augenscheinlich große Freude an ihrem Spiel mit der Leiche haben. Offenbar fürchtet Clay den damit verbundenen Gesichtsverlust und versucht daher, so aufrecht wie möglich diese Situation durchzustehen. Dass er und seine Freunde sich im Anblick eines Drogentoten einen Joint anzünden, zeigt einerseits wiederum deren Abfälligkeit, andererseits aber auch ihre Unkenntnis oder die Nichtachtung der Gefahr, die Drogenmissbrauch in sich birgt. Jeder der Anwesenden könnte so enden wie der fremde Junge, da alle, Clay eingeschlossen, regelmäßig die verschiedensten Drogen konsumieren. Vielleicht ist sich Clay dieser Perspektive bewusst und reagiert daher so eingeschüchtert auf den Jungen, vielleicht ist es aber auch nur der Anblick einer blutigen, bleichen Leiche, der ihn erschreckt – ein Anblick, den er aus seinen Horrorfilmen zwar gewöhnt sein dürfte, der in der Realität aber ungeahnten Eindruck hinterlässt. Die Vergewaltigung. Eine perverse Klimax erreicht der Abend, als die Jungen nach der Besichtigung der Junkie-Leiche zu Rip nach Hause fahren, der ihnen etwas verspricht „that will blow your mind“ (LTZ, S. 188). Dabei handelt es sich um eine entführte Zwölfjährige, die Rip unter Drogen gesetzt und nackt an sein Bett gefesselt hat, präpariert, um nun von ihm und seinen Freunden vergewaltigt zu werden. Die Parallelen zu dem Mädchen aus dem Snuff-Film sind augenfällig: „There’s a naked girl, really young and pretty, lying on a mattress. Her legs are spread and tied to the bedposts and her arms are tied above her head. Her cunt is all rashed and looks dry and I can see that it’s been shaved. She keeps moaning and murmuring words and moving her head from side to side, her eyes half-closed. Someone’s put a lot of make-up on her, clumsily, and she keeps licking her lips, her tongue drags slowly, repeatedly, across them.“ (LTZ, S. 188)

Offensichtlich hat Rip die Szene aus dem Snuff-Film nachgestellt und das Mädchen mit Heroin sediert. Ihre rasierte, von Rasierbrand übersäte Vagina und das unbeholfen aufgetragene Makeup machen aus ihr eine traurige Mischung aus einem Pornostar und einer jämmerlichen Drogenprostituierten – ein selbst in der übersexualisierten Gesellschaft von Less Than Zero demütigender Aufzug. Während Spin sich

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direkt daran macht, das Mädchen zu vergewaltigen, verlässt Clay verstört den Raum. Ihr Alter scheint den Ausschlag zu geben, moralische Einwände zu erheben, diese bringt er jedoch nur sehr zögerlich vor: „It’s… I don’t think it’s right.“(LTZ, S. 189) Da Clay jedoch nichts zur Rettung des Mädchens unternimmt, ist seine moralische Integrität in Zweifel zu ziehen, zumal auch die Frage offen bleibt, ob er nur vom Alter des Mädchens so schockiert ist – „Oh God, Rip, come on, she’s eleven“ (LTZ, S. 189) – oder generell von Rips krimineller Energie, ein Mädchen zu entführen und zu vergewaltigen. Rip stellt klar, das Mädchen sei bereits zwölf, als gebe dies ihm die Berechtigung zur Ausführung seiner Tat. Die folgende Unterhaltung gibt Aufschluss darüber, warum Rip der Auffassung ist, seine Handlung sei gerechtfertigt: „‚What’s right? If you want something, you have the right to take it. If you want something, you have the right to do it.‘[…] ‚But you don’t need anything. You have everything,‘ I tell him. Rip looks at me. ‚No. I don’t.‘ ‚What?‘ ‚No, I don’t.‘ There’s a pause and then I ask, ‚Oh, shit, Rip, what don’t you have?‘ ‚I don’t have anything to lose.‘“ (LTZ, S. 189f)

Rips Standpunkt wird klar: Er vertritt das Diktat der Lustmaximierung und zwar in seiner extremsten Ausprägung. Was immer er will oder braucht, nur aufgrund seines Verlangens danach spricht er sich selbst das Recht zu, es sich zu nehmen. In Freud’scher Terminologie: Rip hat sich der Herrschaft des Lustprinzips ergeben, lässt sich nur noch von seinem Es steuern, sein Über-Ich als moralischkontrollierende Instanz hat abgedankt. Dennoch ist dieses Verhalten nur Ausdruck seiner inneren Leere. Er hat alle materiellen Güter und trotzdem nichts zu verlieren, nichts, wofür sich Zurückhaltung und Triebsublimierung lohnen würden. Familie, Liebe, Freundschaft, Ehre – traditionelle Werte wie diese spielen in Rips Weltbild keine Rolle, weil er nichts davon besitzt. Was er nicht hat, kann er nicht verlieren – und die Chancen, in seinem sozialen Umfeld solche Güter zu erlangen, sind gering. Rip als Verkörperung eines Milieus, deren Strukturen sich ausschließlich durch Lustmaximierung auszeichnen, sei es durch Drogenkonsum, promiskuitives Sexualverhalten oder das Ausleben von Gewaltfantasien, in der es keine ethischen Grenzen gibt und in der das Individuum nichts und die Lust alles zählt, hat als Stereotyp keine Möglichkeit, anders zu entscheiden, als er es tut. Er ist den Zwängen seines Milieus zu sehr unterlegen und hinterfragt nichts. Clay hingegen unternimmt zumindest den hilflosen Versuch einer Abgrenzung. Er verlässt die Party und distanziert sich damit von seinen Freunden, auch wenn er aktiv keine Maßnahmen zur Rebellion ergreift. Diese Distanz ist jedoch nur temporär; statt den Kontakt zu Rip

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und den Mittätern abzubrechen oder sie sogar anzuzeigen, trifft er sich schon kurze Zeit später wieder mit ihm (LTZ, S. 194f). Sein Statement der Ablehnung verliert damit seine Bedeutung, Clay relativiert seinen moralischen Standpunkt selbst durch seine Inkonsequenz. Auch er kann sich des Einflusses durch das Milieu, in dem er lebt, nicht entziehen. Gewalt und Grausamkeit sind seine elementaren Bestandteile, Kollateralprodukte einer Lebensphilosophie, die im Kern anarchisch ist: Jeder denkt nur an die eigene Befriedigung, es gibt keine Grenzen, jeder kann tun, was immer er will, anscheinend ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Die Handlungsdimension der Macht dominiert so überdeutlich, dass für Statushandlungen kein Raum bleibt. Der unbedingte Wille zur Steigerung des eigenen Wohlbefindens verdrängt Handlungen zur Verbesserung der Position eines anderen. Nach Kemper führt das Übermaß an Macht ausschließlich zu negativen Emotionen bei den Unterlegenen, beim Mächtigen verstärkt es den immer bleibenden Wunsch nach Macht. In einem solchen Umfeld haben Emotionen keinen Platz: Es ist eine notwendige Anforderung der Umwelt, Emotionen zu maskieren, zu kontrollieren, zu unterdrücken. Für Clay ist es daher eine Überlebensstrategie, keine Emotionen zuzulassen, da in dieser pathologisch geprägten Umwelt Emotionen nicht nur hinderlich bei der Erreichung des Triebziels und damit der Lustmaximierung wären, sondern schlicht und einfach zu schmerzlich.39 Die pathologischen Elemente der Handlung sind dem von Macht dominierten Milieu geschuldet, das in Less Than Zero porträtiert wird, und damit unausweichlich. An dieser Stelle ist bereits deutlich geworden, dass emotionsloses Verhalten konstituierend ist für die Figurenhandlungen innerhalb der Geschichte. Die Analyse der pathologischen Motive hat ergeben, dass Clays persönliche Einstellung und die Figureninteraktionen durch die von Macht dominierte Struktur des sozialen Umfelds sowie durch sozialisationsbedingt erworbene Dispositionen zum Drogenmissbrauch, zur Promiskuität und zur Gewalt beeinflusst werden. Eine genaue Analyse der Figureninteraktion und ihrer Beziehungen untereinander soll weiteren Aufschluss bieten.

39 Würde Clay bei jeder der zahlreichen Gelegenheiten mit den Opfern des gewalttätigen Verhaltens seiner Freunde mitfühlen (mit den Teenagern aus dem Snuff-Film, mit dem Drogentoten und mit dem zwölfjährigen Vergewaltigungsopfer), würde er sich einer emotionalen Anforderung gegenüber sehen, der er sich nicht gewachsen fühlt. Er müsste jedes Mal zumindest für sich selbst Stellung beziehen, darüber nachdenken, wie er zu den Ereignissen steht und sich eingestehen, dass er als verantwortungsvolles Gesellschaftsmitglied gescheitert ist. Zwar fühlt sich Clay stets unwohl und reagiert verstört in den entsprechenden Situationen, jedoch erlaubt ihm seine Haltung der Distanz, seine äußere und innere Realität dergestalt zu konstruieren, dass ein schmerzfreies, da emotionsloses Existieren in ihr möglich wird.

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5.1.2 Emotionslosigkeit und verweigerte Einfühlung Was sich in den vorangegangenen Ausführungen bei der Analyse der Motive bereits als Handlungsschema andeutete, bestätigt sich nun bei der Analyse der Figureninteraktion: Die Beziehungen der Charaktere untereinander sind geprägt von verweigerter Einfühlung und emotionaler Kälte. Drei Beziehungsgruppen können dabei innerhalb des Romans unterschieden werden: a) die Familie, die als traditionell primärer Bezugspunkt ihren Stellenwert verloren hat, b) Clays Psychiater, dem es aufgrund mangelnden Einfühlungsvermögens nicht gelingt, Einblick in das Seelenleben seines jungen Patienten zu erhalten und folglich an seiner Aufgabe scheitert und c) seine Freunde, zu denen er von Illoyalität und Bindungsarmut gekennzeichnete Beziehungen hat. Familie Schon zu Beginn des Romans zeichnet sich ab, dass Clays Verhältnis zu seinen Eltern, die sich vor etwa einem Jahr getrennt haben, und seinen Schwestern, deren genaues Alter er nicht weiß, gestört ist. Trotz viermonatiger Abwesenheit wird Clay nicht von seinen Eltern, sondern von seiner (Ex-)Freundin Blair vom Flughafen abgeholt und zu der teuren Villa auf dem Mulholland Drive gefahren. Als er das Haus betritt, ist niemand anwesend, um ihn zu begrüßen (LTZ, S. 10). Dies zeigt bereits das Desinteresse der Eltern an ihrem Kind. Clay lässt jedoch nicht verlauten, dass ihn die Abwesenheit seiner Mutter oder seiner Schwestern verletzt. Wie die folgenden Erläuterungen zeigen werden, ist er allerdings auch nichts anderes als Desinteresse und Gleichgültigkeit von ihnen gewöhnt. Die Mutter. Seine Mutter trifft Clay am zweiten Tag seines Aufenthalts bezeichnenderweise in einem Restaurant statt zu Hause (LTZ, S. 18f). Sie trinkt während des Treffens, das recht kurz auszufallen scheint, allein vier Gläser Wein und trägt die ganze Zeit über eine Sonnenbrille – ein Symbol der Entfremdung zwischen Mutter und Sohn. Durch das Verbergen des ‚Fensters zur Seele‘ errichtet sie zwischen sich und ihrem Kind eine Barriere, welche ihr Schutz bietet, gleichzeitig aber auch jegliche Nähe zwischen den Beiden verhindert. Fortwährend berührt sie ihr Haar, eine Geste der Unsicherheit. Anscheinend weiß die eigene Mutter nicht, wie sie sich ihrem Sohn gegenüber verhalten soll. Auch Clay fühlt sich nicht wohl, er muss ständig auf seine zitternden Hände blicken. Bei dem Tremor kann es sich entweder um die Nachwirkung der durchzechten Nacht handeln, die er feiernd und trinkend hinter sich gebracht hat, oder um den Ausdruck einer unartikulierten Emotion, möglicherweise Angst oder Verunsicherung. Das Gespräch der beiden läuft schleppend. Während des kurzen Wortwechsels entstehen allein fünf Pausen: „There’s a pause“, „She says nothing for a long time“, „I don’t say anything“, „She doesn’t say anything else“ (LTZ, S. 18), „She pauses again“ (LTZ, S. 19). Wenn

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Mutter und Sohn sich nicht gerade anschweigen, wechseln sie ellipsenhafte Sätze. Die gesamte Unterhaltung besteht aus 22 Sätzen, wovon acht aus nur einem einzigen Wort bestehen. Zwei Drittel der Sätze besteht aus drei oder weniger Wörtern. Bei dieser einsilbigen Unterhaltung werden ernste Themen konsequent vermieden. Drei Sätze drehen sich um Weihnachten, vier um Clays emotionale Verfassung, jedoch vierzehn um die Party der vergangenen Nacht. Dieses Ungleichgewicht mit dem Fokus auf unwichtigen Dingen spiegelt das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn treffend wider. Die beiden haben sich wenig zu sagen. Sie haben kein inniges Mutter-Sohn-Verhältnis, sondern begegnen sich eher wie Fremde. Mehr als Smalltalk ist zwischen den beiden kaum möglich. Die zaghaften Versuche der Mutter, mit Clay über seine emotionale Verfassung zu sprechen, scheitern kläglich: „‚You look unhappy,‘ she says real suddenly. ‚I’m not,‘ I tell her. ‚You look unhappy,‘ she says, more quietly this time. She touches her hair, bleached, blondish, again. ‚You do too,‘ I say, hoping that she won’t say anything else.“ (LTZ, S. 18)

Zwar verfügt die Mutter über Empathie, denn sie erkennt, dass Clay unglücklich zu sein scheint. Der ist allerdings keineswegs bereit, mit seiner Mutter solch persönliche Themen zu besprechen und kontert mit einem Gegenangriff, indem er ihr ebenfalls unterstellt, unglücklich zu sein. Keiner der beiden ist im Stande, das eigene Unglück zuzugeben. Für den Leser ist aber allzu offensichtlich: Die Mutter betrinkt sich am helllichten Tag beim Wiedersehen mit dem eigenen Kind, versteckt sich hinter einer Sonnenbrille und versucht zwanghaft, eine Maske der guten Laune aufrecht zu erhalten („She tries to smile“, LTZ, S. 18). Clay weicht jedem ernsthaften Gespräch aus und reagiert schon bereits gestresst und erschöpft bei der minimalen Anforderung, die andere anzusehen („I’m surprised how much effort it takes to raise my head and look at her“, LTZ, S. 18). Hier sitzen sich zwei Menschen gegenüber, die beide eine Maske der Unnahbarkeit tragen und damit jede familiäre Nähe und Bindung behindern. Der Vater. Auch das erste Treffen mit dem Vater, der im HollywoodFilmgeschäft tätig ist, verläuft kaum anders (LTZ, S. 41ff.). Allein die Tatsache, dass Clay und sein Vater sich erst nach fünf Tagen treffen, ist bereits ein Beleg für ihr prekäres Verhältnis zueinander. Auch mit seinem Vater geht Clay in ein Lokal, anstatt sich mit ihm in dessen Penthouse zu treffen. Dort begrüßt der Vater zahlreiche Geschäftspartner, stellt Clay jedoch stets nur als „my son“ vor, als habe er keinen eigenen Namen oder als sei dieser es nicht wert, genannt zu werden (LTZ, S. 42). Das Gespräch zwischen Vater und Sohn verläuft ähnlich wie das mit der Mutter: Zahlreiche Pausen, kurze Sätze und ausweichende Antworten prägen die Unter-

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haltung. Auf eine Bemerkung über Clays Aussehen, er sei dünn und blass, entgegnet Clay ehrlich „It’s the drugs“ (LTZ, S. 43), der Vater gibt jedoch vor, Clays Antwort nicht verstanden zu haben. Er will gar nicht genau wissen, welchen Einflüssen Clay sein Äußeres zu verdanken hat. Die unangenehme Antwort Clays blendet er lieber aus, statt sich dem besorgniserregenden Gedanken zu stellen, dass sein Sohn Drogen nimmt. Clay wiederum ist von der Unterhaltung mit dem Vater derart angestrengt, dass er sich Kokain wünscht, um das Gespräch besser durchstehen zu können. Auch sein Vater kann die Begegnung scheinbar nur mithilfe von Alkohol verkraften, denn auch er trinkt, ebenso wie die Mutter, während des Treffens Wein. Gemeinsames Weihnachten. Die ganze Familie kommt erst an Weihnachten zusammen (LTZ, S. 64ff., S. 72), eine gewöhnungsbedürftige Konstellation für die Familienmitglieder, die sich seit der Trennung der Eltern vor etwa einem Jahr nicht mehr als Familie getroffen haben. Die Eltern haben sich während der Feierlichkeiten nichts zu sagen, was programmatisch ist für die gesamte Familie: Die einzige vom Ich-Erzähler dokumentierte Unterhaltung zwischen Mutter und Vater dreht sich um das neue Auto der Mutter und besteht aus exakt vier Wörtern. „‚Your car?‘ my father asked. ‚Yes,‘ my mother said‚ looking over at the small Christmas tree that his maid decorated. ‚Fine.‘ (LTZ, S. 65).

Für alle ist diese Zusammenkunft nur mit großen Mengen Champagner zu ertragen, den auch die Kinder trinken. Für Clay ist dieser geheuchelte Familienfrieden kaum zu erdulden, er wünscht „[he] had some coke, anything, to get through this“ (LTZ, S. 66) und hofft „[he]’ll never have to do this again“ (LTZ, S. 67). Sein Abscheu gegenüber dieser erzwungenen Familienidylle ist so enorm, dass er am Weihnachtsmorgen zunächst eine Portion Kokain nehmen muss, bevor er wieder in den Familienreigen einsteigen und die Bescherung durchstehen kann. Die Geschenke, die er und seine Schwester erhalten, erzeugen bestenfalls Gleichgültigkeit; Kindern und Jugendlichen, die schon alles haben, materielle Güter zu schenken, erscheint ohnedies sinnlos, weshalb der Vater seinen Kindern statt teurer Geschenke einfach einen Scheck ausstellt. Einerseits passt dies in die Konsumgesellschaft von Less Than Zero, andererseits drückt es aber auch das Desinteresse des Vaters an seinen Kindern aus. Ein unpersönlicheres Geldgeschenk als das des Vaters ist kaum denkbar, da er den Scheck erst vor den Augen der Kinder ausstellt und ihn nicht einmal in einem Umschlag oder einer Karte überreicht. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Schecks wenigstens vorzubereiten, aber offensichtlich hat der Vater vergessen, sich um Geschenke für seine Kinder zu kümmern und muss es daher am Weihnachtsmorgen nachholen.

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All dies macht deutlich, dass das Verhältnis zwischen Clay und seinen Eltern extrem gestört ist. Es gibt keine Vertrautheit und Intimität zwischen Eltern und Kindern, stattdessen prägen Sprachlosigkeit und Entfremdung die Beziehung. Die Eltern verhalten sich Clay gegenüber unsensibel und desinteressiert. Entsprechend reagiert Clay auf die erzwungenen Familienzusammenkünfte mit Stress und Unwillen. In einer Familie aufzuwachsen, in der den Kindern nur Gleichgültigkeit entgegengebracht wird,40 kann für die emotionale Sozialisation negative Folgen haben. Vor dem Hintergrund der Annahmen zur emotionalen Sozialisation ist es nicht verwunderlich, dass der Protagonist in zahlreichen Situationen emotionslos erscheint und unbeteiligt reagiert; ihm ist nie etwas anderes vorgelebt worden. Clays Verhalten entspricht gemäß der Bindungstheorie exakt dem Verhalten unsichervermeidend gebundener Kinder, die aus der Nichtbeachtung des Bindungswunsches durch die Eltern lernen, keine Emotionen zu zeigen und sich stattdessen Objekten als Bindungsersatz zuwenden. In Clays Fall handelt es sich bei diesen Objekten um beliebige Sexualpartner, die sein verdrängtes kindliches Bedürfnis nach Nähe nur unzureichend befriedigen können, weshalb jeder Sexualkontakt distanziert und teilnahmslos verläuft, und um Drogen, die seine innere Leere und Einsamkeit nicht verringern können. Andere Familien. Der Protagonist ist in Less Than Zero jedoch nicht der einzige, der eine derart zerrüttete Familie hat. Auch die Familien seiner Freunde weisen tiefe Störungen auf. Blairs Eltern leben getrennt, der Vater hat einen jungen Geliebten und die Mutter, verletzt und gekränkt durch die neue homosexuelle Beziehung ihres Ex-Mannes, ertränkt ihren Kummer in Alkohol (LTZ, S. 16). Daniels Eltern lassen ihren Sohn über die Feiertage allein und er weiß nicht einmal ihren Aufenthaltsort (er spekuliert Japan oder Aspen), was ihm aber auch egal ist, da es am Resultat, die Feiertage allein verbringen zu müssen, nichts ändert (LTZ, S. 55). Als er in Erwägung zieht, sein Studium vorzeitig zu beenden, bringen seine Eltern auch dafür kein Interesse auf, aber sie sind ohnehin mal wieder nicht da: Daniel vermutet sie nun auf Barbados oder vielleicht in Versailles (LTZ, S. 160). Kim erfährt nur dann Dinge aus dem Privatleben ihrer Mutter, wenn sie ein Boulevardmagazin aufschlägt. Sie hat keinen persönlichen Kontakt zu ihr, sondern liest in der Vogue oder im Inquirer nach, wo sich ihre Mutter gerade befindet und mit wem sie zusammen ist (LTZ, S. 82). Ein Junge namens Lindsay weiß auf einer Party zu berichten, dass er seit vier Monaten niemanden gesehen hat, der älter als neunzehn Jahre 40 Dies kann auch den „memory“-Kapiteln entnommen werden, die hin und wieder Clays Familie thematisieren. In ihnen wird die Familie stets als loser Verband dargestellt, deren Mitglieder zwar den Sommer gemeinsam in Palm Springs verbringen, aber nicht emotional aneinander gebunden sind. So stirbt zum Beispiel Clays Großmutter nach langer Krebserkrankung einsam in einem Krankenhauszimmer am Rande der Wüste von Nevada (LTZ, S. 163) anstatt im Kreis der Familie.

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alt war (LTZ, S. 108). Die meisten familiären Verhältnisse sind somit geprägt durch die Dauerabwesenheit der Eltern. Die Kinder haben keinen Bezug zu ihnen, sie stellen daher keine Vertrauenspersonen dar und bieten keinen Halt und keine Orientierung. Die beschriebenen Eltern scheinen tatsächlich nichts oder nur wenig für ihre Kinder zu empfinden. Gemäß Hurrelmann ist die äußere Realität der Jugendlichen demnach bestimmt von einem lieblosen Elternhaus. Aus der Verarbeitung dieser äußeren Realität entsteht im Umkehrschluss emotionale Kälte: Durch die innerpsychische Verarbeitung wird die äußere Realität mitkonstruiert und somit das Handlungsschema der Gefühllosigkeit und verweigerten Einfühlung erzeugt. Aus dem sozialisierenden Faktor des herzlosen Umgangs der Eltern mit ihren Kindern entsteht in der Konsequenz die Unfähigkeit der Kinder, Emotionen zu entwickeln. Das Resultat ist Gefühllosigkeit als prägendes Handlungsschema aller Figureninteraktionen. Clays Psychiater Dies zeigt sich auch im Hinblick auf Clays Psychiater, mit dem sich vier Kapitel auseinandersetzen. Er sollte die Rolle eines Beraters und Mentors einnehmen, zumal die Eltern in ihrer Funktion als Vertrauenspersonen hoffnungslos gescheitert sind. Jedoch ist seine Qualifikation mehr als zweifelhaft. Im ersten PsychiaterKapitel (LTZ, S. 25) wird der Arzt vorgestellt als junger Mann, der einen teuren Mercedes fährt und ein Haus in Malibu besitzt. Mehr auf sein Prestige bedacht als auf das Wohl seines Patienten, geht er kaum auf Clay ein, schreit ihn manchmal sogar vor Ungeduld an und zeigt nur dann gesteigertes Interesse an Clays Äußerungen, wenn dieser über sexuelle Fantasien spricht. Stattdessen redet er viel über sich selbst. Im zweiten Kapitel (LTZ, S. 109) versucht er Clay sogar dazu zu überreden, ihm bei einem Drehbuch behilflich zu sein, an welchem er gerade arbeitet. Die Vermutung liegt nahe, dass er sich über Clay, Sohn eines Hollywood-Produzenten, Eintritt ins Filmbusiness verschaffen will. Dadurch wirkt er unsachlich und inkompetent; er will sich selbst einen Vorteil verschaffen. Dies steht im Einklang mit der Verhaltensdimension der Macht, die auch schon in den vorigen Abschnitten als typisch für Clays Milieu identifiziert werden konnte. Es ist aus beiden PsychiaterKapiteln zu schließen, dass dieser Mann Clay nicht helfen kann, ihm vielleicht gar nicht helfen will. Warum geht Clay aber überhaupt zu einem Psychiater, noch dazu zu einem, der derartig unprofessionell ist? Nun gilt es in Teilen von Amerikas Upperclass, zu der Clay und seine Familie als Hollywood-Geldadel zweifellos gehören, als schick, sich von einem Psychiater beraten zu lassen, auch wenn keine ernsthafte psychische Erkrankung vorliegt.41 Andererseits könnte es auch sein, dass Clay 41 Das junge und reiche Klientel, zu dem Clay zählt, wird mit der Abkürzung YARVIS bezeichnet, die für die Attribute „young“, „attractive“, „rich“, „verbal“, „intelligent“ und „sophisticated“ steht. „Die typische Situation ist hier die Klient-Arzt-Beziehung im Rah-

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erkannt hat, dass sein Leben und seine Persönlichkeit zahlreiche Komplikationen aufweisen, u.a. sein Drogenproblem oder seine Bindungsunfähigkeit. Da er jedoch nur selten diese offensichtlichen Defizite kritisch reflektiert und niemals die Neigung zeigt, an ihnen zu arbeiten oder seinen Lebensstil zu überdenken oder zu verändern, darf bezweifelt werden, dass er sich tatsächlich seiner Schwierigkeiten bewusst ist. Die einzige Ausnahme bildet das dritte Psychiater-Kapitel, aus welchem ersichtlich wird, dass er in irgendeiner Form auf der Suche nach Hilfe und Orientierung ist (LTZ, S. 122f): Clay erleidet einen emotionalen Zusammenbruch. Scheinbar grundlos fängt Clay plötzlich an zu weinen, worauf der Psychiater nicht reagiert. Clay berichtet verzweifelt und unter Tränen von seinen Sorgen, macht den Eindruck, hoffnungslos und unglücklich zu sein: „I start to cry really hard. He looks at me and fingers the gold necklace that hangs from his tan neck. I stop crying for a minute and he looks at me some more and then writes something down on his pad. He asks me something. I tell him I don’t know what’s wrong; that maybe it has something to do with my parents but not really or maybe my friends or that I drive sometimes and get lost; maybe it’s the drugs.“ (LTZ, S. 122)

Anstatt auf diesen Ausbruch einzugehen und einfühlsame Fragen zu stellen, wechselt der Psychiater abrupt das Thema und fängt an, über Popmusik zu reden. Clay allerdings verlangt Antworten und insistiert darauf, über sich und seine Gefühle Klarheit zu erlangen. Die Reaktion des Psychiaters darauf zeigt jedoch, dass er an seinen beruflichen Aufgaben nicht interessiert ist: „‚What about me?‘ ‚What about you?‘ ‚What about me?‘ ‚You’ll be fine.‘ ‚I don’t know,‘ I say. ‚I don’t think so.‘ ‚Let’s talk about something else.‘ ‚What about me?‘ I scream, choking. ‚Come on, Clay,‘ the psychiatrist says. ‚Don’t be so… mundane.‘“ (LTZ, S. 123) men der ‚liberalen‘ Praxis: Die freie Wahl des Arztes und die Bezahlung nach erfolgter Leistung stellen im Prinzip eine Beziehung zwischen beiden Partnern her, die rückgängig gemacht werden kann. Man befindet sich in der Welt des Konsums von Dienstleistungen […] Das Symptom, das diese neuen Kunden aufweisen, ist eher ein allgemeines Unbehagen am Leben als ein eindeutiges pathologisches Phänomen: im Grenzfall ist es die Normalität, die der Heilung bedarf.“ (Castel, Françoise/Castel, Robert/Lovell, Anne: Psychiatrisierung des Alltags. Produktion und Vermarktung der Psychowaren in den USA. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982. Hier zitiert S. 191f.)

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Er ignoriert Clays Begehren nach Antworten, versucht abzulenken und schließlich beleidigt er ihn sogar. Zentral ist das Wort „mundane“, das zwei Bedeutungen hat: entweder ‚gewöhnlich, banal‘, womit er Clays Probleme abwertet, oder ‚weltlich, irdisch‘, was einerseits Clays Probleme in einem materiellen, fassbaren Raum und nicht im psychischen Raum verorten würde, andererseits deshalb paradox wirkt, weil in diesem Moment der Psychiater der an weltlichen Gütern orientierte Gesprächspartner ist und nicht Clay. Wie auch immer man als Leser den Vorwurf ausdeuten möchte, er trifft Clays Verzweiflung nicht im Mindesten. Es handelt sich schlichtweg um eine Fehleinschätzung des Psychiaters, mag diese beabsichtigt sein – aus Desinteresse, Überforderung oder um fachliches Unwissen zu überspielen – oder unbeabsichtigt; der Psychiater beweist damit seine Inkompetenz und disqualifiziert sich selbst für seinen Job. Clay durchlebt nach Freud im Moment seines emotionalen Zusammenbruchs einen unbewussten Affekt, also einen Affekt, der zwar verspürt wird, aber der von seiner Vorstellung getrennt ist. Es geht Clay schlecht, das ist offensichtlich; er ist aber nicht in der Lage, seine Gefühle zu artikulieren und sie damit einzuordnen, zu klassifizieren; er ist ebenfalls nicht in der Lage, die Gründe für diesen starken Affekt zu ermitteln. Er schlägt als Auslöser seine Eltern vor, seine Freunde, die Drogen, sogar die Tatsache, dass er sich hin und wieder mit dem Auto verfährt – es ist unverkennbar, dass er nicht weiß, warum es ihm so schlecht geht. Dass der Psychiater in diesem Augenblick seine Einfühlung verweigert, zeigt, wie marode die zwischenmenschlichen Beziehungen in Less Than Zero sind, wenn nicht einmal ein Mensch, der von Berufs wegen Einfühlungsvermögen zeigen sollte, dazu im Stande oder willens ist. Interessant ist jedoch, dass auch dem Leser in dieser Szene nur schlecht eine Einfühlung in Clay gelingen kann. Zwar durchlebt er einen Affekt, stellt dies aus der nachträglichen Perspektive des Erzählens jedoch nicht als so erschütternd dar, wie es sich für Clay in dem Moment vermutlich angefühlt haben dürfte. Zwar wird aus dem Zitat von S. 122 seine Konfusion aus der Konstellation der Sätze, durch das Semikolon, das halb trennt, halb verbindet, durch die umgangssprachlichen Formulierungen („but not really“) deutlich, aber seine herzzerreißende Verzweiflung ist am Text selbst nicht ablesbar, weder durch Emotionsworte, noch durch die Beschreibung somatischer Reaktionen. Dieser Eindruck wird dadurch unterstützt, dass die Figur Clay während seines Weinkrampfes noch genügend Fassung bewahrt, um zu bemerken, dass der Psychiater an seinem goldenen Halskettchen spielt, was der Ich-Erzähler Clay als nüchterne Beobachtung in die Erzählung einfließen lässt. Der Leser kann Clays Verzweiflung eher kognitiv erfassen als emotional erspüren. Selbst in dieser Situation, in der Clay einen starken Affekt durchlebt, bleibt die Erzählung emotionslos. Erst Clays beharrendes Begehren, vom Psychiater Antworten über sich selbst zu erlangen, indem er drei Mal die gleiche Frage („What about me?“) stellt und beim letzten Mal sogar aufschreit, lässt auf der Textebene

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Emotionalität erkennen. Formale Textebene und emotionale Sinnebene sind also zu großen Teilen nicht kongruent.42 Während der Leser jedoch bemüht ist, Clays emotionale Verfassung zu verstehen, lässt der Psychiater diese Anstrengungen nicht erkennen und hat damit versagt. Im letzten Psychiater-Kapitel (LTZ, S. 161f.) beendet Clay daraufhin die Therapie. Die Unwilligkeit oder Unfähigkeit des Psychiaters zur Empathie ist symptomatisch für alle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden in Less Than Zero, die stets charakterisiert sind durch Fehlkommunikation, Desinteresse und verweigerte Einfühlung. Jedoch auch Clays Beziehungen zu Gleichaltrigen sind krisenhaft und von Gefühllosigkeit und verweigerter Einfühlung gekennzeichnet. Clays Freunde Clay verfügt über zahlreiche soziale Kontakte in seiner Peergroup, mit denen er sich regelmäßig trifft, auf Parties geht, am Strand entspannt oder sich in Restaurants, Bars oder Kinos die Zeit vertreibt. Exemplarisch werden zwei seiner Freunde in den Fokus der Untersuchung gerückt: sein alter Schulfreund Julian und seine (Ex-)Freundin Blair. Beide sind zentrale Figuren des Romans, mit denen sich jeweils eigene Handlungsstränge befassen: Julians drogenbedingter fortschreitender Untergang und Clays auseinanderbrechende Beziehung zu Blair. Julian. Julian ist ein alter Schulfreund von Clay, der mittlerweile heroinabhängig ist und sich prostituiert, um seine Sucht finanzieren zu können. Diese Veränderung hat Clay aufgrund seines Studiums in Camden nicht miterlebt und somit weiß er bei seiner Rückkehr aus New Hampshire noch gar nicht, was aus seinem alten Freund geworden ist. Hinweise darauf erstrecken sich über den gesamten Roman. Clay will diese Signale aber offensichtlich nicht verstehen. Schon zu Beginn des Buchs wird von Alana implizit auf Julians Drogensucht verwiesen: „I hear he [Julian, Anm. d.Verf.] is completely fucked up.“ (LTZ, S. 17) Clay begreift diese Anspielung allerdings nicht, und als er Julian nach einigen Tagen das erste Mal sieht, stellt er fest, „he doesn’t look as fucked up as Alana said“ (LTZ, S. 30), verwechselt dabei jedoch das Verb „to be“ mit dem Verb „to look“. Während sich Alanas Äußerung auf Julians gesamten, psychisch wie physisch desolaten Zustand bezieht, richtet Clay seine Aufmerksamkeit nur auf Julians Aussehen, das gar nicht verwahrlost erscheint. Somit ist Clays Augenmerk ausschließlich auf Julians äußere Hülle gelenkt, ignoriert jedoch den psychischen Aspekt, was schon an dieser Stelle auf seine verweigerte Einfühlung gegenüber Julian schließen lässt. Kurz darauf wird zum ersten Mal auf Julians Einkünfte aus der Prostitution verwiesen, denn Kim bemerkt 42 Dabei handelt es sich um ein wiederkehrendes Charakteristikum des Erzählstils. Auch in der bereits besprochenen Szene bei Griffin, in der Clay nicht auf Anhieb seine Kleider findet, behauptet er einen Affekt, den der Panik, ohne jedoch glaubhaft das Erleben des Affekts zu schildern. Auch hier stimmen formale Textebene und Sinnebene nicht überein.

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ironisch, Julian könne nicht zu ihrer Silvesterparty kommen, da er „[t]oo busy fucking Beverly Hills lawyers for money“ (LTZ, S. 81) sei. Wieder versteht Clay diese Anspielung nicht, fragt aber auch nicht nach, was sie damit gemeint habe. Beide Aspekte, die Heroinsucht und die Prostitution, werden durch ein Graffiti auf einer Toilettenwand in einem Club verbunden, die besagt: „Julian gives great head. And is dead.“ (LTZ, S. 137) Clay lässt diese Kritzelei unkommentiert als letzten Satz eines Kapitels stehen. Die fehlende Beurteilung des Tagging in der Toilette lässt vermuten, dass Clay langsam begreift, was mit seinem alten Freund los ist, es sich aber nicht bewusst eingestehen möchte. Die Gerüchte werden bestätigt, als Clay zusammen mit Julian, der ihm eine große Summe Geld schuldet, seinen Zuhälter Finn besucht, bei dem Julian das Geld abholen will, um es Clay zurückzuzahlen (LTZ, S. 167). Clay ahnt schon, was auf ihn zukommen wird, denn er reagiert extrem angespannt und nervös. Zum ersten Mal kommt zu einer Körperbeschreibung auch die Benennung von Emotionen: „[…] the thought makes me tense and my stomach falls a little. […] I start to get suspicious for some reason and nervous. […] this feeling of vertigo washes over me and I almost have to catch my balance. […] I get paranoid […].“ (LTZ, S. 167f, Hervorhebungen durch d.Verf.)

Er benennt konkret Angespanntheit, Argwohn, Nervosität und Paranoia, alles Gefühle, die zum Bereich der Angst gehören. Die Körperbeschreibungen passen ebenfalls dazu: ein flaues Gefühl im Magen und Schwindel. Die Angst, von Clay eher durch Symptome angedeutet als präzise ausformuliert, für den Leser aber offensichtlich, erweist sich als berechtigt, denn Finn nötigt Julian dazu, Clay in seinen Job einzubeziehen: Er soll mit Julian in ein Motel fahren, wo ein Fremder zwei Jungen gebucht hat, einen für sexuelle Handlungen und einen zum Zusehen. Das führt bei Clay zwar zu noch mehr Anspannung, aber auch zu Aufregung: „adrenaline starts to rush through me.“ (LTZ, S. 169) Natürlich könnte er sich weigern, schließlich hat Clay gegenüber Finn keinerlei Verpflichtungen, aber er erteilt ihm keine Absage. In das nun folgende Streitgespräch zwischen Julian und Finn mischt er sich nicht ein, obwohl er Julians Verzweiflung durchaus bemerkt: „Julian’s still looking down. […] Julian’s voice trails off. […] I think Julian is crying.“ (LTZ, S. 170). Er ergreift aber keine Partei für ihn und lässt sogar zu, dass Finn Julian gegen dessen Willen Heroin injiziert, um ihn gefügig zu machen. Im Aufzug erkennt Clay schließlich, dass er kein Mitgefühl mit Julian empfindet, sondern stattdessen fast sensationslüstern das Schlimmste sehen will – er will an Julians Abstieg teilhaben, seine Entwürdigung hautnah erleben: „I realize that I really don’t care […] I also realize that I’ll go with Julian to the Saint Marquis [das Motel, in dem der Fremde auf die von ihm bestellten Strichjungen wartet; Anm. d.Verf.]. That I want to see if things like this can actually happen. And as the elevator descends, pass-

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ing the second floor, and the first floor, going even farther down, I realize that the money doesn’t matter. That all that does is that I want to see the worst.“ (LTZ, S. 172)

Während der Aufzug also nach unten fährt – less than zero – gesteht sich Clay eigene Abgründe ein. Seine emotionale Kälte hat den Nullpunkt unterschritten, ihm ist das Geld egal, das Julian ihm schuldet, ihm ist Julians Demütigung egal, er hat nur ein Ziel: Er will das Schlimmste sehen. Dieser voyeuristische Akt dient Clay auf perverse Weise zur eigenen Lustmaximierung; indem er Julian bei seinem Job als Stricher beobachtet, ist er als gebuchter Zuschauer selbst Strichjunge und als persönlicher Voyeur Freier zugleich. Er entscheidet sich bewusst und mitleidslos dazu, alles sehen zu wollen, „I don’t close my eyes“ (LTZ, S. 176), und besiegelt damit das Ende der Freundschaft. Damit ist der Höhepunkt der Entfremdung zwischen den beiden in einem Moment tiefster Intimität erreicht. Nach der Erledigung des Jobs im Motel kehren Clay und Julian zu Finn zurück, der mittlerweile auf einer Party mit Geschäftskunden ist, an die er Julian direkt weiterverkaufen will. Wieder kommt es zum Streit zwischen Finn und Julian (LTZ, S. 181ff.), in dessen Verlauf Finn Julian erneut gegen seinen Willen Heroin spritzt. Abermals steht der Protagonist tatenlos dabei und unternimmt nichts, um die Nötigung zu verhindern. Julians Verzweiflung und Zorn sind für Clay spürbar: Er registriert sein rotes Gesicht, seine Tränen, die Gesten der Abwehr, hört sein Schreien, sein Flehen (LTZ, S. 182), aber er grenzt sich selbst gegen Julian ab, starrt zu Boden, weicht seinem Blick aus, konzentriert sich auf die Musik. Die Kluft zwischen ihm und seinem alten Schulfreund ist unüberwindlich geworden. Eine Einfühlung ist für den Protagonisten gar nicht mehr möglich, da Julian für ihn zu einem Fremden geworden ist. Sie ist aber auch nicht gewollt, da Julians Verzweiflung mitanzusehen für Clay schon unerträglich ist, er muss seinen Blick abwenden. Die Verzweiflung mitzufühlen wäre für Clay zu schmerzhaft. Die Abwendung von seinem Freund und die verweigerte Einfühlung geschehen zu seinem Schutz. Innerhalb der Beziehung zu Julian ist Gefühllosigkeit und verweigerte Einfühlung also auf zwei Ebenen zu registrieren: einerseits als Modus zur Lustmaximierung, indem Clay seine Einfühlung verweigert, um selbst in einem voyeuristischen Akt Lust zu empfinden – mit der bewussten Entscheidung, sich Julian gegenüber grausam zu verhalten –, andererseits als Modus eines Schutzverhaltens, um emotionale Involviertheit und damit Gefühle von Schmerz zu verhindern. Blair. Clays und Blairs Beziehungsstatus ist ungeklärt. Zu Schulzeiten war sie seine feste Freundin, aber infolge seines Umzugs nach New Hampshire und der viermonatigen Trennung ohne Kontakt nähern sie sich nur zaghaft einander an. Obwohl sie das Liebesverhältnis nicht offiziell beendet haben, sieht Clay die Beziehung als vorüber an, Blair hingegen wünscht sich eine Wiederaufnahme der Liebesbeziehung. Clay steht diesem Wunsch eher ablehnend gegenüber, hat aber trotz-

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dem Sex mit ihr und schürt damit ihre Hoffnungen. Während eines Telefonats in der Nacht vom Heiligen Abend (LTZ, S. 71f) gesteht Blair Clay, dass sie wieder mit ihm zusammen sein möchte. Clay versteht sie jedoch absichtlich falsch und verweist auf die vergangene Nacht, die sie zusammen gewesen seien, womit er den Sex meint, den sie miteinander hatten. Er will kein ernstes Gespräch über Beziehungsoptionen führen und versucht abzulenken. Clay verweigert bewusst seine Einfühlung in Blair, obwohl im klar ist, was sie möchte und wonach sie sich sehnt. Recht egoistisch versucht er, Blair auf Distanz zu halten, will sich aber nicht völlig von ihr trennen, denn er sucht immer wieder den Kontakt zu ihr. Auch er scheint sie zu brauchen, will sich dieses Bedürfnis aber nicht eingestehen. Während des letzten Treffens der beiden kurz vor seiner Abfahrt nach New Hampshire (LTZ, S. 202ff.) stellt Blair ihm die Frage, ob er sie jemals geliebt habe. Zunächst überhört er sie absichtlich, dann versucht er auszuweichen und erst als Blair ihn zu einer Antwort zwingt, gibt er zu, sie nie geliebt zu haben. Ob diese Aussage Wahrheit oder Lüge ist, lässt der Ich-Erzähler unklar. Er sagt das, was Blair scheinbar hören will, die einen abgeklärten und distanzierten Eindruck macht, und bereit ist, sich endgültig zu trennen. „‚Clay, did you ever love me?‘ I’m studying a billboard and say that I didn’t hear what she said. ‚I asked if you ever loved me?‘[…] ‚Don’t do this, Blair,‘ I tell her. ‚Just tell me.‘ I don’t say anything. ‚Is it such a hard question to answer?‘ I look at her straight on. ‚Yes or no?‘ ‚Why?‘ ‚Damnit, Clay,‘ she sighs. ‚Yeah, sure, I guess.‘ ‚Don’t lie to me.‘ ‚What in the fuck do you want to hear?‘ ‚Just tell me,‘ she says, her voice rising. ‚No,‘ I almost shout. ‚I never did.‘ I almost start to laugh.“ (LTZ, S. 203f)

Clay beantwortet ihre Frage zunächst mit einem halbherzigen Ja, dann mit einem allzu nachdrücklichen Nein; keine seiner Antworten wirkt wirklich glaubwürdig. Dieses Wechselspiel ist nur eine Fortführung ihres Verhältnisses, wie sie es während der gesamten Erzählung hatten, weder zusammen noch getrennt – die beiden machen keinen Fortschritt. Sie haben zwar keine gemeinsame Basis mehr, schaffen aber den endgültigen Absprung vom anderen dann doch nicht. Für Blair ist diese

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ungeklärte Situation recht nervenaufreibend, denn sie wirkt erschöpft: Ihre Beziehungsanalyse ergibt, dass Clay niemals da war, sich nie wirklich gekümmert hat (LTZ, S. 204). Das ist allerdings nicht nur charakteristisch für sein Verhältnis zu Blair, sondern auch zu allen anderen Figuren. Seine Entgegnung auf ihre Analyse stellt die zentrale Stelle dieses Kapitels und im Hinblick auf seine Unfähigkeit oder seinen Unwillen, Emotionen zuzulassen, den entscheidenden Hinweis dar. „‚What do you care about? What makes you happy?‘ ‚Nothing. Nothing makes me happy. I like nothing,‘ I tell her. ‚Did you ever care about me?‘ I don’t say anything, look back at the menu. ‚Did you ever care about me?‘ she asks again. ‚I don’t want to care. If I care about things, it’ll just be worse, it’ll just be another thing to worry about. It’s less painful if I don’t care.‘“ (LTZ, S. 205)

Hier gibt er es selbst zu: Clay will nichts fühlen, will sich um nichts kümmern, will nichts mögen, weil es für ihn zu schmerzhaft ist zu fühlen. Keine Emotion zu verspüren, bedeutet weniger Schmerz, Gleichgültigkeit ist für ihn die sicherere Lösung. Seine Gefühllosigkeit nimmt damit den Stellenwert einer Schutzfunktion ein, einer Überlebensstrategie in der Welt von Less Than Zero. Dass ihm die völlige Gefühllosigkeit nicht immer gelingt, ist auf den vorangegangenen Seiten gezeigt worden; oftmals fühlt Clay doch, artikuliert es aber nicht, versucht es zu unterdrücken und zu kontrollieren, es weder vor sich selbst, noch vor anderen Figuren, noch vor dem Leser zuzugeben. Nach Hochschild macht Clay einen dauernden und anstrengenden Prozess der Gefühlsarbeit durch, indem er zwar keine Emotionen in sich erzeugt, die er für angemessen hält, dafür aber dauerhaft Emotionen verhindert, die ihre Abfuhr verlangen: Der Protagonist zensiert seine Emotionen. So kommt es zu Ausbrüchen wie dem unbewussten Affekt auf der Psychiater-Couch, aber auch zu teilnahmsloser Kälte wie bei Julians Demütigung. Clay hat seine Mechanismen zur Gefühlsarbeit nicht vollständig unter Kontrolle; mal funktioniert seine Strategie gut, ein anderes Mal scheitert sie oder schießt über das Ziel hinaus. Die Gefühlsarbeit und die sozialisationsbedingte Emotionslosigkeit werden jedoch nicht nur inhaltlich, sondern auch am Stil des Romans deutlich. 5.1.3 Stil: Emotionsloses Erzählen Wie bereits angedeutet, ist der Stil der Erzählung unauffällig, unbeteiligt und im Sinne der in Kapitel 4.1 vorgestellten Begriffsunterscheidungen emotionslos. Eine emotionslose Erzählweise, also ein durch Vermeidung von Emotionswörtern gekennzeichneter Erzählstil, muss aber nicht automatisch das Fehlen von Emotionen

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bedeuten. Auf der Inhaltsebene konnte nachgewiesen werden, dass Clay als erlebende Instanz sich häufig emotionslos verhält, aber dennoch Gefühle und Affekte zu verspüren im Stande ist. Als erzählende Instanz versucht er, durch eine emotionslose Erzählhaltung seine Emotionen zu verschleiern und damit vor dem Leser zu verbergen. Auffällig sind dabei vor allem Sprachmerkmale, die an das Krankheitsbild der Alexithymie erinnern.43 Der Ich-Erzähler verwendet darüber hinaus noch andere stilistische Mittel, um Emotionen zu transportieren, sie aber nicht wörtlich benennen zu müssen. Beide Strategien werden im Folgenden im Analysefokus stehen. Alexithyme Merkmale Die in Kapitel 3.3.1 herausgearbeiteten Sprachmerkmale der Alexithymie – eine funktionale, symbolarme Sprache, der Mangel an Emotionsworten, die Beschränkung auf Lust-Unlust-Beschreibungen, fehlende affektive Anteilnahme in Gesprächen – lassen sich in Less Than Zero durchgängig nachweisen. Der Ich-Erzähler bedient sich einer funktionalen und pragmatischen Sprache, die zumeist aus parataktisch verknüpften Hauptsätzen besteht. Die Aneinanderreihung von Hauptsätzen oder deren Verbindung durch die Konjunktion „and“ ist programmatisch für seinen Erzählstil. „Blair drives off the freeway and comes to a red light. A heavy gust of wind rocks the car for a moment and Blair smiles and says something about maybe putting the top up and turns to a different radio station.“ (LTZ, S. 10)

Die Verwendung eines parataktischen Stils gewährleistet die Konzentration auf das Wesentliche: Es wird simpel und sachlich berichtet. Die Wiederholung der Konjunktion „and“ gestaltet den Text syntaktisch hierarchielos, so dass alle Informationen auf derselben Wichtigkeitsstufe zu stehen scheinen. Auch die Verwendung hypotaktischer Fügungen bleibt unkompliziert, zumeist in Form von Relativsätzen oder als Gerundium. Durch die konsequente Vermeidung komplexerer Satzstrukturen wirkt die Geschichte oftmals wie ‚erzählt‘ und weniger wie ‚geschrieben‘. Dieser Eindruck wird auch durch das wenig abwechslungsreiche Vokabular evoziert, das vor allem bei der Wiedergabe von Gesprächen ins Auge sticht. So wird für die Dokumentation von Unterhaltungen fast ausschließlich das Verb „to say“ gebraucht. Alternativen dazu sind selten, genauso wie die Verwendung von Adjekti43 Dem autodiegetischen Erzähler des Romans soll nicht unterstellt werden, selbst Alexithymiepatient zu sein; eine solch naturalistische Betrachtungsweise entbehrt der Grundlage. Die bewusst reduzierte und funktionale Sprache stellt jedoch eine erstaunliche Nähe her zwischen Clays Erzählstil und der Versprachlichung von Alexithymiepatienten. Im Folgenden werden diese Stilmittel daher als alexithyme Stilmerkmale bezeichnet.

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ven oder Adverbien zur Umschreibung der Prosodie oder der Mimik des Sprechers. Entweder misst Clay diesen Faktoren keine Bedeutung bei oder aber er bemerkt sie nicht. Passend zur Schlichtheit in der Wortwahl lässt die Erzählung veranschaulichende Stilmittel vermissen. Darüber hinaus verzichtet der Erzähler auf Ironie und wertende Kommentare, sogar auf illustrative Adjektive. Passend zur reduktiven, oftmals gar ellipsenhaften Sprache des Romans ist eine Erzählhaltung der Kommunikationsvermeidung zu erkennen, die sich in den teils sehr kurzen Sätzen äußert. Sie kommt klar zum Ausdruck durch die Aussage „I don’t say anything“ – einer der häufigsten Sätze in Less Than Zero (z.B. auf S. 18, S. 24, S. 33 und weiteren). Diese Sprachlosigkeit kann als symptomatisch für den gesamten Roman und Clays Umgang mit Sprache gewertet werden. Freese lässt sich gar dazu verleiten, vorschnell einen gewissen Autismus zu diagnostizieren.44 Zwar charakterisieren Fehlkommunikation und Sprachlosigkeit die meisten Figureninteraktionen. Jedoch wird durch die einseitige Fokalisierung Clays, die Filterung der Ereignisse durch seine Perspektive, eine objektive Bewertung der Geschehnisse unmöglich; der Leser erlebt die Figureninteraktionen ausschließlich von Clays sprachlosem Standpunkt. Clay deswegen Autismus zu unterstellen, wäre jedoch unbedacht.45 Seine Erzählhaltung lässt eher auf eine Leserlenkung schließen, die auf verweigerter Einfühlung gegenüber dem Rezipienten beruht. Indem Clay dem Leser die Teilhabe an seinen Emotionen bewusst verwehrt, Situationen nicht emotional einordnet und Gespräche distanziert und emotionslos wiedergibt, kann sich der Leser nur schwer mit Clay identifizieren. Zwischen Protagonist und Leser öffnet sich somit eine Kluft. Die Kommunikationsvermeidung, die sich in knappem und schlichtem Erzählstil äußert, kann als symptomatisch angesehen werden für Clays Umgang mit Emotionen. Die Verwendung von Emotionsworten ist äußerst selten. Nur in Einzelfällen benennt der Ich-Erzähler eine Emotion konkret: „I stop and feel kind of sad. ‚Jesus, Julian, how have you been? We’ve got to get together or something. I haven’t seen you in a long time.‘ I stop. ‚I’ve missed you.‘“ (LTZ, S. 48) Die Traurigkeit, die Clay im Hinblick auf Julian empfindet und das Geständnis, dass er ihn vermisst habe, ist eine Ausnahmesituation: An kaum einer anderen Stelle des Romans bezeichnet er so explizit, was er empfindet. Julian ignoriert diese Offenbarung allerdings, so dass es zu keiner weitergehenden Thematisierung seiner Gefühle kommt. 44 Freese, „MTV novel“. S. 82. 45 Dass Clay sich bewusst dafür entscheidet, dem Leser Informationen zu seiner emotionalen Verfassung vorzuenthalten, ist ein Argument gegen Autismus. Dabei handelt es sich um eine Krankheit, die zwar auch die Emotionalität der Betroffenen beeinträchtigt, allerdings kann man sich diese Krankheit nicht aussuchen. Clays verweigerte Einfühlung und seine komplexe Gefühlsarbeit zur Unterdrückung von Emotionen sind jedoch als Schutzmechanismen zu sehen und damit bewusst gewählt.

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Dieser Ehrlichkeit ähnlich ist nur die Sequenz in Finns Büro, in welcher Clay seine Anspannung und Nervosität umschreibt, um nicht wörtlich zugeben zu müssen, dass er Angst empfindet. Dies sind die einzigen beiden Szenen, in denen der Erzähler deutlich seine Emotionen thematisiert. Üblich ist für ihn eher eine ausweichende Beschreibung von Körpergefühlen, wie die vorangegangenen Analysen bereits andeuten. Dieser Duktus zeichnet sich schon zu Beginn des Romans ab. Clay, gerade zu Hause in der Villa eingetroffen, liegt auf dem Bett in seinem Zimmer und fühlt sich unwohl: „I take my shoes off and lie on the bed and feel my brow to see if I have a fever. I think I do.“ (LTZ, S. 11) Diese Strategie der Umwandlung von konkreten Emotionen in somatische Befindlichkeiten durchzieht den gesamten Roman. Wenn gemäß der Lesererwartung eine Emotionsäußerung fällig wäre, beschränkt sich Clay auf eine Beschreibung seines Körperzustands. In den bereits diskutierten Szenen nennt er mehrmals zittrige Hände, einmal Mundtrockenheit, Schwindel oder ein flaues Gefühl im Magen. So kann der Erzähler sein Unwohlsein veranschaulichen, ohne allzu konkret werden zu müssen. Auf S. 12 sagt er sogar „I think about Muriel and feel a little sick“, eine Unlustäußerung, die sich gleichermaßen auf sein vermeintliches Fieber, aber auch auf seine psychische Situation beziehen kann.46 Diese Strategie der Vermeidung von Emotionswörtern und ihre Ersetzung durch Lust-Unlust-Beschreibungen entspricht voll und ganz der emotionalen Versprachlichung alexithymer Patienten. Auffällig ist dabei, dass sich im gesamten Roman nur Hinweise auf negative Gefühle oder Emotionen finden lassen, positive allerdings an keiner Stelle erwähnt werden. Dies lässt zwei mögliche Schlussfolgerungen zu: Entweder hat Clay niemals positive Empfindungen oder aber er ist in seiner emotionslosen Erzählhaltung besser im Stande, positive Gefühle zu verbergen als negative. Dass ihm seine Gefühlsarbeit schwer fällt, wird deutlich aus seinem Umgang mit Situationen, die für Clay emotional so stark aufgeladen sind, dass er eine Äußerung nicht verhindern kann. In diesen Fällen verwendet er die umgangssprachliche Wendung „to freak out“ (LTZ, S. 38, S. 63, S. 85, S. 95, S. 182). Auf die Erläuterung somatischer Reaktionen verzichtet er dann aber stets. So entsteht eine Leerstelle zwischen der Behauptung des Erzählers und dem akuten psychisch-physischen Fühlen dieses ‚Ausrastens‘ bei der erlebenden Figur.47 Für den Leser erschwert dies 46 Kurz zuvor hat er erfahren, dass Muriel an Anorexie leidet, eine Nachricht, die Clay offensichtlich bedrückt. 47 Hinzu kommen die oftmals seltsamen Situationen, in denen Clay behauptet, auzurasten: beim Betrachten einer Werbetafel (LTZ, S. 38), zuhause allein im Bett (LTZ, S. 63) oder in einer Sushi Bar während der Unterhaltung mit Freunden (LTZ, S. 95). Der Lesererwartung entspräche eine solche Reaktion eher in den Situationen, in denen Clay die Kontrolle seiner Emotionen einigermaßen gelingt, etwa beim Fund des Drogentoten oder bei der Vergewaltigung der Zwölfjährigen.

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wiederum die Einfühlung in Clay. Der Protagonist behauptet von sich zwar, gerade auszurasten, enthält dem Leser aber jegliche Beschreibung dessen vor. Dadurch wird er emotional schwer nachvollziehbar. Der Leser muss sich fragen, was das für ein ‚Ausrasten‘ ist, das weder am Text erkennbar ist – durch Brüche, Zäsuren, Wortwahl oder ähnliches –, noch sich auf der Sinnebene durch den Kontext erschließen lässt. Auf diese Weise wird Empathie zwischen Leser und Figur verhindert; ein Mitfühlen von Clays Emotionen wird gehemmt. Die gleiche Taktik wendet der Protagonist in Situationen an, in denen er starke Affekte durchlebt, z.B. die Panik beim vermeintlichen Verlust seiner Kleider oder die Verzweiflung auf der Couch des Psychiaters. Gerade im Hinblick auf Emotionalität wird somit Clays emotionslose Erzählhaltung deutlich: Emotionen emotionslos zu behaupten, ist eine stilistische Finesse, die in sich selbst einen Widerspruch birgt und gerade dadurch ihre Kunstfertigkeit beweist.48 An diesen Stellen des Romans wird deutlich, dass der Ich-Erzähler seine Geschichte aus einer historischen Distanz berichtet, die am Text erst auf den letzten Seiten durch den Wechsel ins „past tense“ erkennbar wird, die aber, zunächst unbemerkt, während der gesamten Erzählung besteht. Indem der Zeitpunkt des Erzählens nicht mit der erzählten Zeit übereinstimmt, wie das „present tense“ suggerieren will, kann der Ich-Erzähler seine Emotionen referieren ohne während des Erzählvorgangs unter ihrem unmittelbaren Eindruck zu stehen. Dadurch wird das scheinbare Paradoxon erzeugt, Emotionen emotionslos zu kommunizieren. Dies ist in engem Zusammenhang zu sehen mit Clays autodiegetischer Erzählsituation. Zwar ist Clay als Ich-Erzähler seiner eigenen Geschichte auf der Faktenebene glaubwürdig,49 aber in Hinblick auf seine Emotionen erweist er sich als unzuverlässiger Erzähler. Hinweise darauf finden sich im gesamten Text: Implizite Signale verweisen auf Clays emotionale Verfassung, die er vor dem Leser verbergen will, andererseits berichtet er Emotionen, ohne darauf einzugehen, wie sich diese dann anfühlen. Beide Verfahren dienen der Leserlenkung: Sie irritieren den Leser und vergrößern die Kluft zwischen Protagonist und Rezipient. Das letzte alexithyme Sprachmerkmal, die fehlende affektive Beteiligung in Gesprächen, ist schon im Rahmen der Inhaltsanalyse deutlich geworden: Selten drehen sich die Unterhaltungen zwischen den Figuren um persönliche Themen. Gemäß der in Kapitel 3.3.1 aufgeführten Alexithymiekriterien müsste die Beschränkung auf die 48 Dabei handelt es sich allerdings nicht um affektlos-postulierendes Erzählen, auch wenn dies oberflächlich betrachtet zunächst so scheinen mag. Da die Emotionen, die Clay artikuliert, echt und nicht vorgetäuscht sind, ist seine Erzählweise an dieser Stelle nicht dem affektlosen Erzählen zuzuordnen. 49 Clay widerspricht sich nicht selbst, macht keine Fehler in der Darstellung von Ereignissen, auf dramatische Ironie wird verzichtet. Zwar lässt er häufig Leerstellen bei seiner Beschreibung von Geschehnissen, jedoch entstehen dadurch keine verständniserschwerenden Lücken.

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reine Faktizität des Gegenübers beim nicht-alexithymen Gesprächspartner schnell zu Langeweile führen. Eine solche Reaktion ist zwischen den Figuren von Less Than Zero jedoch nicht wahrnehmbar. Da alle Charaktere überangepasst sind und sich sozial hyperkonform verhalten – sie sind promiskuitiv, konsumieren Drogen, bewahren Gleichmut bei Gewaltdarstellungen –, somit alle das vierte Alexithymiekriterium der sozialen Ultrakonformität aufweisen, kann es niemals zu einer tiefsinnigen Konversation kommen. Die starke Fokussierung auf das sozial erwünschte Verhalten verhindert affektive Anteilnahme. Selbst die Gespräche, die persönliche Aspekte thematisieren, wie etwa Alanas Abtreibung (LTZ, S. 157f.) oder das bereits erwähnte Telefonat zwischen Blair und Clay am Heiligen Abend, bleiben vage und unverbindlich und lassen affektive Beteiligung vermissen. Weder Empathie und Mitleid im Falle Alana, noch Verständnis und Einfühlungsvermögen im Fall Blair kennzeichnen die Gespräche. Die Oberflächlichkeit der dokumentierten Unterhaltungen erzeugt keine Langeweile zwischen den Gesprächsteilnehmern, da in der Welt von Less Than Zero verweigerte Einfühlung der angestrebte und eingehaltene Konversationsmodus ist, sondern nur beim Leser. Die Barriere zwischen Leser und Figuren vergrößert sich daher zusätzlich durch die verweigerte Einfühlung der Figuren untereinander. Die hier aufgeführten alexithymen Stilmittel, die der Ich-Erzähler des Romans verwendet – funktionale, symbolarme Sprache, fehlende Emotionswörter, Beschränkung auf Lust-Unlust-Beschreibungen und Körpergefühle, fehlende affektive Beteiligung in Gesprächen – sind die dominanten Merkmale einer emotionslosen Erzählweise, die zu einer Entfremdung zwischen Leser und Figuren führt. Indem dem Leser Emotionen vorenthalten werden, verweigert sich der Erzähler der Einfühlung durch den Rezipienten. Dieser Stil und die daraus resultierende Kluft wird jedoch nicht nur durch die alexithymen Sprachmerkmale erzeugt, sondern auch durch weitere stilistische Auffälligkeiten, denen an dieser Stelle nun Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. Enigmatische Hinweise: Leitsätze als verrätselte Angstäußerungen Bereits Freese bemerkt in seinem frühen Aufsatz zu Less Than Zero den redundanten Einsatz von Satzwiederholungen, 50 Steur arbeitet diese noch recht knappen Ausführungen als „verstreut scheinende Ketten von Wiederaufnahmen“51 schließlich ausführlich aus. Diese Technik wird an prominenter Stelle des Romans gleich mit dem ersten Satz eingeführt: „People are afraid to merge on freeways in Los Angeles.“ (LTZ, S. 9) Dieser Satz bezieht sich auf die Furcht der Autofahrer in Los Angeles, sich in den fließenden Verkehr einzuordnen, und wird ohne den zweiten Satzteil noch auf 50 Freese, „MTV novel“, S. 73f. 51 Steur, Der Schein und das Nichts, S. 53.

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derselben Seite wiederholt als „people are afraid to merge“. Ohne den Bezug zur Stadtautobahn wird dieser Aussage jedoch eine ganz andere Bedeutung verliehen. Steur stellt fest, dass das Verb „to merge“ zwei Bedeutungen haben könne, von denen Freese nur erstere aufgefallen ist: 52 „to come together, to combine with another“ und „to sink and disappear, to lose character or identity“. 53 In diesem Bedeutungskontext steht der Satz „people are afraid to merge“ nicht länger für das Verhalten von Autofahrern, sondern „verweist auf die Gefährdung der Identität in der modernen Gesellschaft.“54 Durch die ständige Wiederholung des Satzes in verschiedenen Situationen offenbart Clay seine Angst vor Identitätsverlust, ohne sie jemals wörtlich auszusprechen. Er ist damit eine Metapher für die individuellen Ängste des Protagonisten, gleichzeitig aber auch für die kollektive Angst vor gesellschaftlicher Gleichwerdung und Verlust von Individualität. Steur konstatiert hierzu: „Bindungsangst, Mißtrauen, mangelndes Selbstwertgefühl und Angst vor dem Aufgehen in der Menge erscheinen als Symptome einer gestörten Verhaltensentwicklung und Persönlichkeitsentfaltung. „People are afraid to merge“ versinnlicht das Krankheitsbild der dargestellten Gesellschaft […].“55

Durch missglückte familiäre und damit emotionale Sozialisation sowie durch die gesellschaftlichen Anforderungen der Lustmaximierung entstehen die von Steur genannten Problematiken, und das nicht nur bei der Erzählerfigur Clay, sondern bei allen porträtierten Figuren von Less Than Zero. „People are afraid to merge“ impliziert gleichermaßen die Angst vor Identitätsverlust und dem Verschmelzen mit der Masse, wie die Ausdeutung des Verbs nahelegt, aber auch die Angst, beim Aufbau eines Selbstkonzeptes zu scheitern.56 Nicht grundlos erscheint die Figur Clay fast charakterlos, ohne Ecken und Kanten. Auch alle anderen Figuren erscheinen holzschnittartig und flach; sie sind hyperkonforme Stereotype des dargestellten Milieus. Paradoxerweise ist gerade die Überangepasstheit der Figuren ursächlich für die Angst vor dem Verschwinden, dem Verschmelzen mit der Masse, und sorgt damit für die Entfremdung der Figuren untereinander. Die verweigerte Einfühlung ist ein hilfloser Versuch der Abgrenzung, die emotionale Kälte dient der Grenzziehung und dem Schutz des Individuums. Indem das Einfühlen, das Verschmelzen mit anderen verhindert wird, erfährt sich der Einzelne als autark und unabhängig. Im 52 Vgl. Steur, Der Schein und das Nichts, S. 55 und Freese, „MTV novel“, S. 73. 53 Murray, James A. H./Bradley, Henry et al. (Hg.): Oxford English Dictionary. Oxford: Clarendon Press 1989. Zitiert nach Steur, Der Schein und das Nichts, S. 55. 54 Steur, Der Schein und das Nichts, S. 55. 55 Ebd., S. 56. 56 Ebd., S. 57.

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Hinblick auf Clays emotionslose Erzählweise ist die Verweisstruktur von „people are afraid to merge“ insofern von Bedeutung, als sie elementare Emotionen, Ängste und Unsicherheiten verschleiert und nur enigmatisch ihren Gehalt offenbart.57 Es ist Aufgabe des Lesers, den Rätselcharakter von „people are afraid to merge“ zu entschlüsseln und die darin enthaltene Botschaft von Angst und Unsicherheit zu erkennen. Zwei weitere Leitsätze greifen den Aspekt der Angst vor Identitätsverlust auf: der Satz „I wonder if he’s for sale“ und die Aufforderung „Disappear here“. „I wonder if he’s for sale“ (LTZ, S. 23), wenig später verkürzt zu „Wonder if he’s for sale“ (LTZ, S. 26, Hervorhebung im Original) bezieht sich ursprünglich auf die Prostitution von High School-Schülern, wird dann jedoch mit dem ersten Leitsatz verbunden: „The man keeps staring at me and all I can think is either he doesn’t see me or I’m not here. I don’t know why I think that. People are afraid to merge. Wonder if he’s for sale.“ (LTZ, S. 26, Hervorhebungen im Original)

Indem Clay explizit darauf verweist, dass er den Eindruck hat, für andere Menschen nicht zu existieren, einfach nicht da zu sein, verbindet sich die Bedeutung von „people are afraid to merge“ mit der identitätsverzerrenden Tätigkeit der Prostitution, in welcher der Körper zur Ware gemacht wird. Durch die Verdinglichung des Körpers wird er als souveränes Objekt, als vermarktbares Produkt von der Persönlichkeit abgetrennt und so ein Teil der eigenen Identität abgespalten. In diesem Bedeutungskontext erlangt „wonder if he’s for sale“ ebenfalls den Verweishorizont von Identitätsangst. „Disappear here“ taucht zum ersten Mal als Slogan auf einer Werbetafel für ein Ferienresort auf (LTZ, S. 38). Dabei handelt es sich um die Aufforderung ‚verschwinde von hier‘, ist also auf den Ort Los Angeles bezogen und soll den Betrachter der Werbetafel dazu animieren, L.A. zu verlassen und Urlaub zu machen. Clay versteht diesen Slogan jedoch anders, im Sinne von ‚verschwinde hier‘, was Auflö-

57 Gerade dem fremdsprachigen Leser dürfte die Ausdeutung des Satzes schwerfallen, da nicht anzunehmen ist, dass ein jeder über derart fundierte Kenntnisse der englischen Sprache verfügt, um die verschiedenen Bedeutungsebenen des Verbs „to merge“ zu erkennen. Sogar die deutsche Romanübersetzung von Sabine Hedinger ist diesbezüglich fehlerhaft, denn sie übersetzt „people are afraid to merge“ mit „die Leute werden auch immer rücksichtsloser“, was den Aspekt der Identitätsgefährdung nicht berücksichtigt. „Auf den freeways in Los Angeles werden die Leute auch immer rücksichtsloser.“ (Ellis, Bret Easton: Unter Null. Übers. v. Sabine Hedinger. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996. S. 9, Hervorhebung im Original.)

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sung und Auslöschung bedeutet. „Disappear here“ ist demnach ein anderes Sinnbild für Clays Angst vor der Auflösung der eigenen Identität. Diese drei Leitsätze werden miteinander verbunden und variiert: „People are afraid to merge. Wonder if he’s for sale.“ (LTZ, S. 26, Hervorhebung im Original) „Disappear here. Wonder if he’s for sale.“ (LTZ, S. 103) „I light a cigarette. The man rolls Julian over. Wonder if he’s for sale. I don’t close my eyes. You can disappear here without knowing it.“ (LTZ, S. 176, Hervorhebung im Original) „Disappear here. The syringe fills with blood. You’re a beautiful boy and that’s all that matters. Wonder if he’s for sale. People are afraid to merge. To merge.“ (LTZ, S. 183, Hervorhebung im Original)

Die Verbindung der drei Leitsätze lässt jeweils unabhängig von ihrem situativen Kontext auf Clays elementare Angst vor Identitätsverlust schließen, jedoch steigert sich Clays Angst von Situation zu Situation. In der ersten auf S. 26 sitzt er mit Freunden in einem teuren Restaurant und fühlt sich von einem Fremden beobachtet; unter dessen bohrendem Blick entwickelt Clay die Vorstellung, einfach nicht da, verschwunden zu sein. Der zweiten auf S. 103 ist eine Unterhaltung mit einem ziemlich exzentrischen Mädchen vorangegangen, die behauptet, durch das Färben ihrer Haare die Apokalypse abgewendet zu haben; Clays Reaktion auf den vermeintlich verhinderten Weltuntergang ist die Sorge, einfach zu verschwinden, sich aufzulösen. In der dritten Szene auf S. 176 wohnt er Julians Demütigung als Strichjunge bei. Indem Clay sich selbst als gebuchter Zuschauer an den Freier verkauft, hat er bereits einen Teil seiner Identität abgegeben: „You can disappear here without knowing it.“ Und schließlich muss Clay auf S. 183 Julians endgültigem Untergang zusehen: Finn injiziert ihm Heroin und löst Julian damit vollständig in seiner neuen Identität als Strichjungen auf. Von dem Julian, den Clay als Schulfreund kannte, ist nichts mehr da, er ist verschwunden. Alle drei Leitsätze dienen dazu, Ängste zu formulieren, ohne sie dem Leser wörtlich mitzuteilen. Die Chiffren müssen vom Leser in einem Close ReadingProzess decodiert werden, indem Wortbedeutung und Kontext miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei verhält sich der Rätselcharakter der Leitsätze zwar

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antagonistisch zu den alexithymen Stilmerkmalen, da solch komplexe rhetorische Mittel einem Alexithymiekranken mit seiner funktionalen Sprechweise nicht zur Verfügung stehen. Dennoch steht dies nicht im Widerspruch zueinander. Vermehrt wurde bereits festgestellt, dass der Protagonist keineswegs gefühlskalt oder affektlos ist, da er immer wieder Emotionen andeutet, aber sie selten konkret benennt. Clay ist weder Autist noch alexithymiekrank; diese Stilmittel werden zur Leserlenkung eingesetzt und sollen eine Distanz zwischen Leser und Protagonist herstellen. Auch die verrätselten Leitsätze dienen zur Entfremdung zwischen Rezipient und Erzähler. Indem Clay seine Botschaft von Angst und Verwirrung codiert, enthält er dem Leser erneut seine Emotionen vor; eine Einfühlung des Lesers in die Erzählerfigur Clay wird erschwert. Andererseits ermöglicht es dem aufmerksamen Leser jedoch, Verständnis für Clay zu entwickeln: Wer clever genug ist, Clays Verwirrspiel mit den Leitsätzen zu durchschauen, erkennt seine hintergründige Angst vor Identitätsverlust. Wie oben bereits erläutert, ist gerade diese Angst, erzeugt durch das gesellschaftliche Diktat der Lustmaximierung und durch die gescheiterte familiäre Sozialisation, als ursächlich anzusehen für Clays verweigerte Einfühlung gegenüber anderen Romanfiguren und seine emotionale Distanz bei der Beschreibung pathologischer Handlungselemente. 5.1.4 Schlussfolgerungen: Distanzierter Protagonist – distanzierter Leser Sowohl die Inhalts- als auch die Stilanalyse haben ergeben, dass Clay sich zwar häufig gefühlskalt verhält und emotionslos erzählt, aber nicht unfähig ist, Emotionen zu verspüren. Es handelt sich bei diesen Verhaltensweisen einerseits um Maßnahmen zum Schutz seiner Identität, die er als stark gefährdet ansieht. Er bewegt sich in einem Milieu, das Hyperkonformität verlangt: Dies erstreckt sich vom stereotypen Äußeren – jeder Junge in Less Than Zero ist blond, braungebrannt und trägt dieselbe angesagte Markenkleidung – über die kurzen und leicht zu verwechselnden Namen der Figuren bis hin zu den milieuspezifisch vorgegebenen Anforderungen an das Verhalten der Jugendlichen, für die es als angebracht gilt, wechselnde Sexualpartner zu haben, verschiedene Drogen zu konsumieren und zum Ziel der Lustmaximierung auch vor Gewalt nicht zurückzuschrecken. Indem Clay gegenüber anderen Figuren seine Einfühlung verweigert, grenzt er sich gegen die Mitglieder seiner Peergroup ab und erfährt sich dadurch als autonomes Individuum. Andererseits handelt es sich bei diesen Verhaltensweisen um eine Strategie zum Schutz seiner psychischen Stabilität. Clay lebt in einem Milieu, in dem familiärer Zusammenhalt und traditionelle Werte nichts mehr zählen; er ist auf sich allein gestellt und kann von keinem Erwachsenen Hilfestellung und Orientierung erwarten. Nicht nur seine Eltern, auch sein Psychiater scheitern als Mentoren. Er erfährt stets nur

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Lieblosigkeit und Desinteresse von ihnen, so dass seine emotionale Sozialisation stark gestört verläuft. Wie aus der Bindungstheorie abgeleitet werden kann, verhält sich Clay exakt wie ein unsicher-vermeidend gebundenes Kind, das aufgrund der Zurückweisung durch die Eltern nicht gelernt hat, Emotionen zu artikulieren. Da Clay von seiner nächsten Umwelt keine Liebe und Zuneigung erhält, erscheint es ihm notwendig, selbst Emotionen zu unterdrücken. Clays Emotionslosigkeit ist somit durch die familiäre Sozialisation indiziert und wird gleichzeitig durch gesellschaftliche Anforderungen unterstützt – eine Spirale, der er nicht zu entkommen vermag. Der Protagonist macht einen dauernden Prozess der Gefühlsarbeit durch, indem er Emotionen zu verhindern versucht, die ihm als unangebracht erscheinen, weil sie gesellschaftlich nicht gebilligt werden, oder die für ihn zu schmerzhaft sind. Seine Gefühlsarbeit, die somit einerseits den spezifischen Gefühlsregeln seines Milieus unterworfen ist, die Coolness und Indifferenz sowie die Bereitschaft zur Lustmaximierung verlangen, andererseits seinen persönlichen Gefühlsregeln der Schmerzvermeidung entspricht, führt zu einem Verhalten, das anderen gegenüber durch verweigerte Einfühlung und emotionale Kälte gekennzeichnet ist. Wo die Prozesse der Gefühlsarbeit scheitern und Clay trotz seiner Vermeidungsstrategie fühlt, versucht er dem Leser diese Emotionen vorzuenthalten und sie durch sprachliche Mittel, wie den alexithymen Merkmalen, aber auch mittels der enigmatisch aufgeladenen Leitsätze, zu verbergen. In diesen Fällen soll durch emotionsloses Erzählen der Schein der Gefühllosigkeit aufrechterhalten werden. Clay verrät sich aber oftmals durch unterschwellige Signale, wodurch er als emotional unzuverlässiger Erzähler entlarvt wird. Diese Signale müssen vom Leser erkannt und entschlüsselt werden: Körperbeschreibungen, die sein Unwohlsein andeuten oder die nachdrückliche Konzentration auf Nebensächlichkeiten verweisen auf unartikulierte Emotionen. Die Gefühlsarbeit, die die Hauptfigur ununterbrochen leistet, wird unterstützt durch die Mechanismen der Verdrängung, die hintergründig vorhandene Affekte von ihren Triebvorstellungen abtrennen. Die nach Abfuhr drängenden Affekte stauen sich in Clay so lange an, bis sie in einem vermeintlich geschützten Rahmen – in der Praxis des Psychiaters – hervorbrechen und ihre motorischinnervative und psychische Abfuhr somit gewährleistet wird. Durch die Abschneidung der ursprünglich damit verbundenen Vorstellung vom Affekt bleibt jedoch außer dem emotional-physischen Ausbruch (krampfartiges Weinen) nichts übrig; Clay kann durch das Erleben des unbewussten Affekts nicht zu einer Katharsis gelangen, da er den Affekt nicht mit dessen Vorstellung in Einklang bringen kann. Clays Gefühlsarbeit gelingt somit nicht immer konstant erfolgreich: Die Verdrängung und Unterdrückung unerwünschter Gefühle kann nur so lange funktionieren, wie der Affektstau kontrollierbar ist. So lange Clays Damm nur feine Risse aufweist, kann er diese als autodiegetischer Erzähler durch seine emotionslose Erzählweise maskieren, bei einem Dammbruch jedoch bleibt nur der Schritt in die histori-

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sche Distanz: das emotionslose Berichten von Emotionen, denen in der Rückschau ihre Schärfe genommen wird. Clays pausenlose Gefühlsarbeit schmälert jedoch nicht nur seine Fähigkeit zur Einfühlung in andere Figuren, sondern bewirkt eine wechselseitig bedingte Distanz zwischen Protagonist und Leser. Indem Clay dem Rezipienten seine Emotionen vorenthält, blockiert er die Einfühlung des Lesers in ihn und erschwert eine Identifizierung mit ihm. Die Gefühlsarbeit und das damit verbundene emotionslose Erzählen erzeugt eine Kluft zwischen Clay und dem Leser, die schwer zu überbrücken ist. Das emotionslose Erzählen muss somit als eine Strategie der Distanzerzeugung verstanden werden, durch die der Leser in eine Beobachterposition gezwungen wird. Er wird in die Rolle eines Voyeurs gedrängt, der den Geschehnissen des Romans einerseits hilflos, andererseits lustvoll-interessiert folgt. Was dem Leser in Less Than Zero präsentiert wird, kriegt er im echten Leben kaum zu sehen: Drogenmissbrauch, Zwangsprostitution, Vergewaltigung, Snuff-Filme – der Leser erhält aus sicherer Distanz den Einblick in finstere Abgründe. Da diese schlimmen Dinge jedoch nicht dem Protagonisten selbst als Opfer widerfahren, wird damit weniger die Angst vor dem Absturz, sondern vielmehr die Sensationslust des Lesers bedient. Die Hauptfigur spielt zwar mit der Gefahr, lässt sich aber nicht völlig auf sie ein. Ebenso ergeht es dem Leser, der den Kitzel des schaulustigen Beobachtens erfährt, aber durch die emotionslose, distanzierte Erzählweise nicht zur Identifikation mit den Opfern genötigt wird. So wenig sich der Leser mit den Opfern gleichsetzen soll, so wenig identifiziert sich der Protagonist mit ihnen. Er ist stets als passiver Beobachter und damit als Quasi-Täter dabei; doch genau darin liegt die Chance auf ein Identifizierungsmoment: Clay erfährt während seines Aufenthaltes in L.A. eine Genese von einem Mitläufer zu einem Beobachter. Zu Beginn der Handlung nimmt Clay noch an allem teil, was gesellschaftlich von ihm gefordert wird: Er passt seine blasse Haut an den erforderlichen Bräunungston der in Los Angeles ansässigen Freunde an, lässt sich einen angesagten Haarschnitt machen, er feiert, trinkt, nimmt Drogen, hat Sex mit verschiedenen Partnern beiderlei Geschlechts und hinterfragt währenddessen nichts. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto kritischer wird er jedoch. Bereits den Snuff-Film, der passiv konsumiert werden kann, lehnt Clay ab; bei der Vergewaltigung der Zwölfjährigen, die sein aktives Einbringen erfordert, distanziert er sich ausdrücklich vom Verhaltensmodus seiner Freunde. Er nimmt eine „Haltung des Beobachters“58 ein, der betont unbeteiligt und reserviert seine Erlebnisse schildert, in Extremsituationen die Distanz wahrt, gleichzeitig aus der Beobachtung aber auch einen lustvollen Gewinn zieht (z.B. im Hinblick auf Julian). In dieser distanzierten Beobachterposition liegt schließlich das 58 Egloff, Götz: Der einsame Beobachter bei Fitzgerald, Salinger und Ellis. Individuum und Gesellschaft im US-amerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts. Marburg: Tectum 2001. S. 59.

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– wenn auch geringe – Identifikationspotenzial des Romans. Auch wenn durch das emotionslose Erzählen und die verweigerte Einfühlung eine Identifizierung mit dem Protagonisten erschwert wird, ermöglicht schließlich die Gemeinsamkeit des Beobachtens eine zaghafte Annäherung des Lesers an die Hauptfigur. Die zögerliche Kritik, die bei Clay zunehmend spürbar wird, sorgt beim Leser für Erleichterung: In der zwar lustvoll besetzten, aber hilflosen Rolle des Voyeurs fühlt sich der Leser unwohl, da sie seine moralische Integrität herausfordert. Der verhaltene Zweifel Clays an dem gewissenlosen Treiben seiner Freunde lindert die Last der Beobachterposition des Lesers, da sie suggeriert, zwischen Rezipient und Protagonist bestünden doch Ähnlichkeiten. Die Beobachtungshaltung des Protagonisten setzt sich introspektiv fort, als Höhepunkt seiner Entwicklung: Clay wird sich klar darüber, dass er nicht fühlen will, weil es für ihn zu viel Schmerz bedeuten würde. Diese Selbstbeobachtung der eigenen Entfremdung forciert sich jedoch nicht zu einem konstruktiven Reflexionsprozess. Aus der Beobachtung zieht Clay keine weiteren Schlüsse, sondern tritt die Flucht an in ein neues, altes Leben: Die Rückkehr nach New Hampshire ist zwar die Abkehr von der hyperhedonistischen Lebensphilosophie der UpperclassGesellschaft L.A.s, nicht jedoch eine Umkehr. Wie aus The Rules of Attraction hervorgeht, wo Clay als Nebenfigur auftritt, hat sich für ihn in der neuen Heimat nichts verändert, sein Leben dreht sich nach wie vor um Drogen, Sex und Parties. Seine Entwicklung vom Mitläufer zum Beobachter ist somit nur eine Scheinentwicklung: Zwar beteiligt er sich in L.A. nicht mehr aktiv an den orgiastischen Exzessen seiner Freunde, seine Distanz zu deren Lebensweise ist jedoch keine emphatische Wende hin zu neuen Werten. Das Bewusstsein über seine eigene emotionale Entfremdung gibt Clay keinen Handlungs- und Entwicklungsimpuls.

5.2 T HE R ULES

OF

A TTRACTION

Die Entwicklungsstarre und emotionale Schutzhaltung aus Less Than Zero setzt sich in der Geschichte von The Rules of Attraction fort. Sie liest sich oberflächlich wie eine Fortsetzung des Erstlingsromans: Die drei jungen Collegestudenten Lauren Hynde, Sean Bateman und Paul Denton berichten über ihre Erlebnisse in Camden, dem fiktiven Liberal Arts College, das auch Clay besucht. Dabei setzen sich die Leitmotive aus Less Than Zero mit Ausnahme der Gewalt59 fort: Die Ereignisse drehen sich fast ausschließlich um Partys, Drogen, Alkohol und Sex. Im Zentrum des Geschehens stehen insbesondere die sexuellen Verwicklungen der drei Hauptfi59 Ellis konzentriert sich in seinem Nachfolgeroman auf die Leitmotive Sex und Drogen, greift das Gewaltmotiv dann in American Psycho in umso verstörender Detailliertheit wieder auf. Dazu mehr in Kap. 6.1.

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guren, die sich in ein Beziehungsdreieck hineinmanövriert haben: Lauren hatte in der Vergangenheit eine Beziehung mit Paul, der sie jedoch für den Kommilitonen Mitchell verlassen hat. Nun ist sie unglücklich in Victor verliebt. Dieser befindet sich auf einer Europa-Reise und hat, ein Mädchen namens Jaime verfolgend, sein Interesse an Lauren längst verloren, was sie jedoch nicht wahrhaben will. Da Victor nicht verfügbar ist, lässt sie sich auf eine Affäre mit Sean ein, der gleichzeitig wiederum eine Affäre mit Paul hat. Paul ist ernsthaft an Sean interessiert, hat aber dennoch sexuelle Kontakte zu anderen jungen Männern. Sean, der sein Verhältnis mit Paul verleugnet, fühlt sich zwar stark zu Lauren hingezogen, schläft aber trotzdem mit zahlreichen anderen Studentinnen. Somit hat jede der drei Hauptfiguren entweder in der Vergangenheit oder in der erzählten Gegenwart ein sexuelles Verhältnis mit den beiden anderen. Jedoch kann niemand mit dem zusammen sein, den er eigentlich möchte: Ein Junge namens „Stuart will Paul, Paul will Sean, Sean will Lauren, Lauren will Victor, Victor will Jaime.“ 60 So entsteht eine Schleife aus sexuellen Begegnungen, ein Leitfaden, an dem sich der Leser durch den Roman führen lassen kann. Der Roman als postmoderner Adoleszenzroman II Ein Leitfaden wird nötig, da auch in The Rules of Attraction die einzelnen Kapitel keinen kohärenten Zusammenhang aufweisen. Die Kapitel folgen ohne direkte Bezugnahme aufeinander. Wie schon in Less Than Zero handelt es sich um eine scheinbar wahllose Aneinanderreihung von Handlungssequenzen, die erst bei sehr gründlicher Lektüre ihre Struktur offenbart. Jedes der Kapitel ist mit dem Vornamen einer der Figuren versehen und beschäftigt sich ausschließlich mit den Erlebnissen dieser jeweiligen Figur. Werden die Lauren-Kapitel hintereinander gelesen und die dazwischen liegenden Kapitel überblättert, ergibt sich eine lose zusammenhängende Geschichte. Für die Sean- und Paul-Kapitel gilt das Gleiche. Die sexuellen Verhältnisse dienen dabei als chronologischer und inhaltlicher Leitfaden. Schon das Eingangszitat, das Tim O’Briens Going After Cacciato61 entnommen und den Handlungen von The Rules of Attraction vorangestellt ist, bereitet auf diese Struktur vor: 60 Flory, Out is in, S. 168. 61 Der Roman Going After Cacciato (1978) gewann den National Book Award for Fiction. Er spielt während des Vietnam-Krieges und befasst sich mit den Ereignissen in der Einheit des Soldaten Paul Berlin, dessen Kamerad Cacciato desertiert ist. Die Zeitstruktur des Romans ist nicht linear und daher die absolute Chronologie der Ereignisse für den Leser nicht leicht zu durchblicken. Es erfordert großes Eigenengagement des Lesers, die Reihenfolge der Handlung zu diachronisieren. Auch vom Leser des Romans The Rules of Attraction wird ein solches Engagement bei der Entwirrung der Handlungsstränge verlangt.

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„The facts, even when beaded on a chain, still did not have real order. Events did not flow. The facts were separate and haphazard and random even as they happened, episodic, broken, no smooth transitions, no sense of events unfolding from prior events –“ (TRoA, S. VII)

Die wie abgerissen und isoliert wirkenden Einzelkapitel ergeben keine zusammenhängende Geschichte, wenn sie in der im Roman vorgegebenen Reihenfolge gelesen werden. Vielmehr muss der Leser die einzelnen Handlungsstränge im Leseprozess synthetisieren und sinnstiftend ordnen. Zudem verweist das Zitat auf die Verständnisdimension der Romanfiguren. Der Leser ist als Einziger in der vorteilhaften Position, alle Handlungsstränge zu kennen und sie selbst, wenn auch unter größerem Aufwand, zu einem Sinnzusammenhang zusammenfügen zu können. Den Figuren aus The Rules of Attraction ist diese Möglichkeit verwehrt, da sie nur innerhalb ihres jeweiligen Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizonts die Ereignisse beurteilen können. So kann es, beeinflusst durch die divergierenden Normen, Werte, Weltbilder und Charaktereigenschaften der Figuren, zu widersprüchlichen Bewertungen derselben Situation kommen. Vor allem verzerrt mangelndes Wissen über Sachverhalte maßgeblich die Einschätzung von Situationen. Der Leser verfügt gegenüber den Figuren somit über einen Wissensvorsprung. Neben der losen Anordnung der Kapitel ist auch die Gesamtstruktur des Romans wie in Less Than Zero an den Adoleszenzroman angelehnt.62 Hierfür sprechen einerseits die Themen und Motive, die der Roman aufgreift: die Identitätssuche und die Darstellung tragischer oder krisenhafter Schlüsselerlebnisse, die Fokussierung auf die Entwicklungsphase der Adoleszenz und der damit verbundenen typischen Erfahrungen sowie der Verzicht auf eine äußere Handlung. Andererseits ist auch in The Rules of Attraction eine Dynamik erkennbar, die schon in Less Than Zero auffällt und die in Anlehnung an den Initiationsreiseroman für viele Romane des

62 Dies stellen zumindest Annette Wagner und Miriam Schulte übereinstimmend fest. Wagner bezeichnt The Rules of Attraction in ihrer Arbeit zum Adoleszenzroman als „exemplarisch für eine bestimmte Richtung amerikanischer Literatur als Teil der ‚popular youth culture der achtziger Jahre‘“ und nennt The Rules of Attraction als „paradigmatische[s] Beispiel[] eines postmodernen Adoleszenzromantypus“ (Wagner, Adoleszenzroman, S. 199). Schulte untersucht The Rules of Attraction als einen Roman, „der eine Dekonstruktion der poetischen Matrix des modernen Adoleszenzromans vollzieht“ und meint damit, ebenso wie Wagner, dass es sich bei ihm um einen postmodernen Adoleszenzroman handele, der die klassischen Muster des Genres aufbricht und dekonstruiert. (Schulte, Miriam: „Adoleszenzroman und Postmoderne: die zerstörte Moderne in Bret Easton Ellis’‚Einfach unwiderstehlich!‘“ In: Mitteilungen des Instituts für Jugendbuchforschung, Bd. I, Frankfurt a.M.: Inst. 1996, S. 31-45. Hier zitiert S. 33.)

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Genres charakteristisch ist.63 Zwar spielt der Großteil der Handlung auf dem Gelände des Collegecampus Camden, aber allein auf diesem Areal sind die Figuren pausenlos in Bewegung: in der Cafeteria oder Mensa, in den Wohnheimen, in Bars und Kneipen, selten auch in Seminarräumen, unterwegs von einer Party zur nächsten. Dieser ständige Ortswechsel ist kennzeichnend für den Adoleszenzroman. Darüber hinaus verlassen alle drei Hauptfiguren den Campus: Paul fährt auf Bitten seiner Mutter nach Boston, um sich dort mit ihr und Freunden seiner Mutter zu treffen. Nicht nur der Aufenthalt im Bostoner Hotel, sondern auch die Busreise dorthin werden ausführlich beschrieben. Lauren und Sean hingegen machen einen ziellosen Roadtrip mit Seans Cabrio, der über New York ins Nirgendwo von New Hampshire führt, auf der Suche nach Antworten: Lauren ist schwanger und verunsichert, ob sie das Kind behalten oder abtreiben soll, ob sie Sean, den potenziellen Kindsvater, möglicherweise heiraten oder doch besser verlassen soll, und Sean ist angesichts der zukünftigen Vaterfreuden euphorisch und panisch zugleich, weiß ebenfalls nicht, wie er sich verhalten soll. Letztlich bringt der Roadtrip keine Antworten, sondern ist eher eine Flucht vor ihnen. Die Entscheidung zur Abtreibung und Trennung wird erst wieder in Camden gefällt. Während die Struktur des Romans nicht leicht zu durchschauen ist, bleiben beim Setting im Gegensatz zu Less Than Zero keine Fragen offen. Die Handlung ist, wie bereits erwähnt, größtenteils in Camden angesiedelt, dem fiktiven College, das an Ellis’ eigenes College Bennington angelehnt ist. Die Überschneidungen zwischen den beiden Colleges sind augenfällig:64 Zwar hat Ellis das College von Vermont nach New Hampshire verlegt, aber der Aufbau des Campus und die Namen der einzelnen Wohnheime entsprechen der realen Vorlage. Auch Camden ist wie Bennington ein Liberal Arts College, das Fächer wie Literatur, Theater, Musik, Kunst oder Tanz anbietet. Zeitlich ist die Handlung ebenfalls leicht einzuordnen: Dem ersten Kapitel ist der Hinweis „FALL, 1985“ (TRoA, S. IX) vorangestellt. Somit ist im Gegensatz zu Less Than Zero eine Überprüfung des Textes auf kulturelle Chiffren, die Aufschluss über den Handlungszeitpunkt geben könnten, nicht notwendig. Auch der Zeitraum lässt sich leicht erschließen. Die Handlung beginnt im Herbst während des laufenden Semesters. Da das Wetter jedoch noch mild ist, kann auf die Monate September oder Oktober geschlossen werden. Kurz vor Weihnachten, wenn die meisten Studenten das College verlassen und für die Feiertage nach 63 Wie schon in Less Than Zero symbolisiert die Reisestruktur des Romans auch in The Rules of Attraction die Suche der Protagonisten. In beiden Romanen steht vordergründig die Suche nach dem nächsten Kick im Mittelpunkt, hintergründig jedoch geht es um Fragen der Identität und möglicher Zukunftsperspektiven. 64 Flory hat in seiner Dissertation die Überschneidungen ausführlich ausgearbeitet, an dieser Stelle wird auf eine detaillierte Wiederholung seiner Ergebnisse jedoch verzichtet. Flory, Out is in, S. 163ff.

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Hause zu ihren Familien fahren, endet die Geschichte. Sie erstreckt sich demnach über einen Zeitraum von etwa drei bis vier Monaten und behandelt damit einen etwa drei- bis viermal so langen Zeitabschnitt wie Less Than Zero. Interpretationszugang Der chaotisch und zufällig erscheinenden Geschichte von The Rules of Attraction ist bislang keine große wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil geworden. Dies mag unter anderem daran liegen, dass dieser Roman Ellis’ kommerziell erfolglosestes Buch ist.65 Die wenigen Forschungsarbeiten zu The Rules of Attraction befassen sich zumeist mit Aspekten der Postmoderne 66 und behandeln das auffälligste Merkmal des Buches, seine Multiperspektivität, recht stiefmütterlich nur als Teil dieses Gesamtkonzeptes. Die Beschäftigung mit Ellis’ multiperspektivischem Erzählen ist somit bislang sehr oberflächlich geblieben. Dabei ist die Multiperspektivität sowohl inhaltlich als auch stilistisch das prominenteste Kennzeichen des Romans, so dass sie im Folgenden im Mittelpunkt der Untersuchung stehen soll.67 Von besonderem Interesse ist dabei die Bedeutung der Multiperspektivität für das gefühllose Erzählen. Die Analyse wird ergeben, dass alle Einzelperspektiven in The Rules of Attraction zusammen das Bild einer Entfremdungsdepression (vgl. Kap. 3.3.1) vermitteln, innerhalb derer die Emotionslosigkeit der Figuren als Schutzmechanismus zu verstehen ist, die aufgrund mangelnder Reflexivität jedoch nicht als bewusste Maßnahme interpretiert werden kann. Das multiperspektivische Erzählen trägt als strukturelles Darstellungsmittel einerseits zur Veranschaulichung der Ent-

65 Zumindest gemessen am Erfolg seiner anderen Romane. Ellis ist ein kommerziell sehr erfolgreicher Autor, seine Bücher wurden bislang in 27 Sprachen übersetzt. Dennoch war The Rules of Attraction zunächst ein Flop, bevor Ellis mit American Psycho einen brillanten Coup landete, der das Leserinteresse auch wieder auf The Rules of Attraction lenkte. 66 So etwa Flory, Out is in und Schulte, Adoleszenzroman und Postmoderne. 67 Auf eine Ausarbeitung der Motive und der Figureninteraktion wird verzichtet, da die inhaltlichen Überschneidungen zu Ellis’ Debüt so offensichtlich sind, dass sie keiner weiteren Beleuchtung mehr bedürfen. Der mittlerweile 23jährige Ellis bedient sich auch für seinen zweiten Roman bei den Themen, denen in Less Than Zero große Bedeutung zukommt: Die Erfahrung und Entwicklung der Sexualität, gesteigert zu promiskuitivem Sexualverhalten, der Missbrauch von Drogen und Alkohol, die endlose Schleife von Partys – die Protagonisten aus The Rules of Attraction erleben im Prinzip das Gleiche, was Clay erlebt. Eine Analyse der Motive und der Figureninteraktionen würde zu den gleichen Ergebnissen führen, die das vorangehende Kapitel bereits erbracht hat und ist daher redundant.

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fremdung68 der Figuren untereinander bei, andererseits auch aktiv zur Entfremdung zwischen Protagonisten und Leser. 5.2.1 Multiperspektivisches Erzählen Ellis’ Nachfolgeroman ist der einzige, der multiperspektivisch erzählt ist, ihm kommt damit im Gesamtwerk eine Ausnahmestellung zu. In The Rules of Attraction kommen insgesamt zwölf Erzähler zu Wort, jedoch sind drei von ihnen die Haupterzähler: Lauren, Sean und Paul.69 Insgesamt ist der Roman in 105 Kapitel mit einer durchschnittlichen Länge von etwa drei Seiten eingeteilt. Dabei entfallen 26 Kapitel auf Lauren, 29 auf Sean und 30 auf Paul. Ein Student namens Stuart, der in Paul verliebt ist, erzählt drei Kapitel, Laurens Exfreund Victor vier, und ein Mädchen, deren Name sich als Mary70 rekonstruieren lässt, hat in sechs Kapiteln das Wort. Die restlichen Erzähler haben jeweils ein einzelnes Kapitel zu erzählen. 71 Dem ersten der 105 Kapitel ist kein Name vorangestellt und es beginnt mitten im Satz: „and it’s a story that might bore you but you don’t have to listen, she told me,72 because she always knew it was going to be like that, and it was, she thinks, her first year, or, actually 68 Unter Entfremdung verstehe ich das Gefühl des irritierten Abgestoßen- und Isoliert-Seins von anderen, aber auch des Abgetrennt-Seins von sich selbst und der eigenen psychischen und physischen Zugehörigkeit. Figuren, die von sich selbst entfremdet sind, nehmen damit Teile ihrer Persönlichkeit nicht als zugehörig wahr, Figuren, die von anderen Figuren entfremdet sind, empfinden eine Kluft zwischen sich und anderen und ein entfremdeter Leser empfindet eine Kluft zwischen sich und den Romanfiguren und fühlt sich von ihnen irritiert, abgestoßen oder isoliert. 69 Zusammen haben Lauren, Sean und Paul einen Erzählanteil von etwa 75%, die restlichen 25% Erzählanteil teilen sich neun weitere Erzähler. 70 Marys Kapitel sind als einzige nicht mit ihrem Namen überschrieben. Stattdessen sind ihre Kapitel kursiv gesetzt und ausschließlich in der Innensicht ihrer Person geschrieben, zuweilen gar als „stream of consciousness“. Sie begeht im Romanverlauf Selbstmord aus unerwiderter Liebe zu Sean. 71 Dabei handelt es sich um Seans französischen Zimmergenossen Bertrand, dessen Kapitel in Französisch verfasst ist, Pauls Mutter Eve, Laurens Freundin Roxanne, Clay, der schon aus Less Than Zero bekannt ist, Seans Bruder Patrick, dem mit American Psycho noch ein eigener Roman gewidmet wird, und Mitchell, Pauls Ex-Liebhaber. 72 Der Erzähler dieses ersten Kapitels ist „me“, es wird jedoch nicht klar, um wen es sich dabei handelt. Fälschlicherweise hält Flory Lauren für die Erzählerin, ebenso wie er davon ausgeht, die Handlung des Kapitels liege drei oder vier Jahre zurück und es handele sich dabei um eine Rückblende (Flory, Out is in, S. 160). Diese Annahme ist jedoch nicht korrekt. Zwar lässt sich aus dem weiteren Handlungsverlauf erschließen, dass Lauren das

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weekend, really Friday, in September at Camden and this was three or four years ago, and she got so drunk that she ended up in bed, lost her virginity (late, she was eighteen) in Lorna Slavin’s room, because she was a Freshman and had a roommate and Lorna was, she remembered, a Senior or a Junior and usually sometimes at her boyfriend’s place off-campus, to who she thought was a Sophomore Ceramics major but who was actually either some guy from N.Y.U., a film student, and up in New Hampshire just for the Dressed To Get Screwed Party, or a townie.“ (TRoA, S. 3)

Passend zum ersten Romankapitel, das in medias res beginnt, bricht auch das letzte Kapitel, erzählt von Sean, mitten im Satz ab. Dadurch wird klar, dass der Leser Zeuge einer niemals endenden Geschichte wird: Er wird unvermittelt in sie hineingeworfen und ebenso unvermittelt wieder herausgerissen, aber sie hat weder einen richtigen Anfang noch ein Ende. Anfang und Ende sind willkürlich gesetzt und hätten an beliebig anderer Stelle stehen können. Die erzählten drei oder vier Monate, die der Leser die Figuren des Romans begleitet, erscheinen nur als Ausschnitt einer viel größeren Geschichte, einer Geschichte über das Collegeleben, die schwer zwischen zwei Buchdeckel zu pressen ist. Indem nur ein kleiner Auszug präsentiert wird, zusätzlich relativiert durch die extreme Subjektivität der einzelnen Kapitel, wird laut Schulte „die Unmöglichkeit der Existenz einer Wahrheit bzw. der einen Wirklichkeit vor[ge]führ[t]“.73 Dabei verkennt Schulte jedoch die Syntheseleistung des Lesers, der die unterschiedlichen Perspektiven zusammenführen und daraus eine romanimmanente Gesamtwahrheit konstruieren kann, die aus den verschiedenen Wirklichkeitssichten der Figuren besteht. Vera und Ansgar Nünning beschreiben die Technik des multiperspektivischen Erzählens daher weniger absolut als „die Kontrastierung verschiedener Perspektiven in einem Text[, die] eine Vorstellung von Komplexität, Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit von Wirklichkeitserfahrung“ 74 bereitstellt. Mädchen ist, von dem im ersten Kapitel erzählt wird, wie sie ihre Jungfräulichkeit verliert (TRoA, S. 318), „me“ ist allerdings jemand anders, der nur wiederholt, was Lauren ihm/ihr über ihre Defloration berichtet hat. Daher spielt das Kapitel auch nicht in der Vergangenheit, sondern ist lediglich eine Nacherzählung einer Begebenheit aus der Vergangenheit, nichtsdestotrotz aber in der Gegenwart des Romans angesiedelt, also im Herbst 1985. 73 Schulte, Adoleszenzroman und Postmoderne, S. 33f. 74 Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.): Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier: WVT 2000. S. 12. Im Folgenden bediene ich mich der technischen Begriffe aus Vera und Ansgar Nünnings Band Multiperspektivisches Erzählen, die in den ersten beiden Kapiteln ihres Bandes Termini zur Analyse multiperspektivischen Erzählens vorstellen.

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Im Falle von The Rules of Attraction ist die Erzählung intradiegetisch multiperspektivisch, d.h. es gibt zwei oder mehr, hier insgesamt zwölf, Erzählinstanzen, die innerhalb der erzählten Welt stehen. Im Gegensatz zu multiperspektivisch fokalisierten Texten treten die Instanzen als Ich-Erzähler auf und berichten in ihrem eigenen Stil oder ihrer eigenen Sprache von ihren Erlebnissen.75 Daher lassen sich bei den drei Haupterzählern Lauren, Sean und Paul auch Stilunterschiede festmachen, die im Folgenden genauer untersucht werden sollen. Weitere Merkmale von The Rules of Attraction sind die Synchronität des multiperspektivischen Erzählens, die Erzählerperspektiven sind also auf derselben Zeitebene situiert, und die Polylokalität, die oben bereits angesprochen wurde: Die Handlung und die Perspektiventräger sind auf mehrere Schauplätze verteilt. Strukturell ergibt sich damit folgender Algorithmus: Bei The Rules of Attraction handelt es sich um intradiegetisch-synchronpolylokal multiperspektivisches Erzählen. Wie die Analyse der drei Erzähler Lauren, Sean und Paul zeigen wird, zeichnet sich The Rules of Attraction darüber hinaus durch korrelatives bzw. kontrastives Erzählen aus. Die Perspektiven der drei Hauptfiguren relativieren sich gegenseitig und es kommt nur zu punktuellen Übereinstimmungen. Über die Darstellung mehrerer Versionen desselben Geschehens wird ein sogenannter „Dissonanzeffekt“ 76 erzielt. Deutliche Divergenzen zwischen den einzelnen Figurenperspektiven zeigen die individuelle Wirklichkeitssicht der fiktiven Gestalten auf und verdeutlichen die Unmöglichkeit einer einzigen Wahrheit; der subjektiven Einschätzung einer Situation oder Person kommt damit größte Bedeutung zu. Lauren, Sean und Paul widersprechen sich gegenseitig und relativieren dadurch das vorher Gesagte. Aufbauend auf dieser theoretischen Grundlage sollen nun die drei wichtigsten Erzähler einer Charakter- sowie Stilanalyse unterzogen werden. Lauren Lauren präsentiert sich selbst als einsame und unglückliche Figur. Schon in ihrem ersten Kapitel erwähnt sie in der dritten Zeile ihre Einsamkeit („I was […] getting lonely“, TRoA, S. 13), die sie ihrer unerwiderten Liebe77 zu ihrem vermeintlichen Freund Victor78 zu verdanken hat. Zwar hält sie ihn für ihren festen Freund, aber 75 Siehe z.B. das Kapitel von Bertrand, das in Französisch verfasst ist (TRoA, S. 94f.). 76 Nünning, Multiperspektivisches Erzählen, S. 19. 77 Die Glaubwürdigkeit dieser Liebe ist jedoch in Zweifel zu ziehen, da Lauren nur davon redet, sie sei „under the impression that we’re in love“ (TRoA, S. 15, Hervorhebung durch d.Verf.) und zudem erwähnt, Victor bereits kurz nach dessen Abreise betrogen zu haben (ebd.). 78 Victor befindet sich auf einer Reise quer durch Europa. Dies erschließt sich durch das direkt an Lauren anschließende Kapitel, in dem Victor von den bisherigen Stationen seiner Reise berichtet. Gleichzeitig wird für den Leser an dieser Stelle bereits klar, dass Vic-

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diese Bindung hindert sie nicht daran, sexuelle Verhältnisse zu anderen jungen Männern wie den Kommilitonen Steve, Franklin und Sean einzugehen. Dies mag einerseits ihrem Gefühl des Verlassenseins, andererseits dem allgemeinen Tenor der Promiskuität geschuldet sein, der sich bei den weiblichen Figuren des Romans nicht von den männlichen unterscheidet. Der sozialisierende Einfluss der Peergroup macht sich hier sehr stark bemerkbar: Unter Laurens Freundinnen sind ein schneller Partnerwechsel und der Tausch von Männern untereinander nichts Unübliches. Lauren betrügt ihre Freundin Judy mit deren Eroberung Franklin, was diese allerdings nicht bekümmert. In einem nüchternen Kommentar stellt Lauren die völlige Bedeutungslosigkeit der Partnerwahl fest und weist damit auch auf die Unwichtigkeit und Oberflächlichkeit von freundschaftlichen Beziehungen hin, in denen Loyalität und Vertrauen ebenfalls keine Rolle zu spielen scheinen: „I’m with Franklin now. Judy doesn’t care. She’s seeing the Freshman Steve [ein One-NightStand von Lauren am Anfang des Romans, Anm. d.Verf.]. Steve doesn’t care. She fucked him the night she went to Williamstown. I don’t care. It’s all so boring.“ (TRoA, S. 110)

Lauren und ihre angeblich beste Freundin Judy haben einfach die Partner getauscht, und niemand reagiert deswegen eifersüchtig oder gekränkt. Gemäß den Normen ihres sozialen Milieus ist Promiskuität eine anerkannte und möglicherweise gar geforderte Verhaltensweise. Dabei ist es den Mädchen schlicht unwichtig, mit wem sie gerade zusammen sind und welche Geschichte der jeweilige Partner hat.79 Vor tor Lauren nicht als seine feste Freundin betrachtet, genau genommen erwähnt er sie nicht einmal, sondern ist vielmehr damit beschäftigt, den Aufenthaltsort einer gewissen Jaime zu ermitteln, an der er offensichtlich interessiert ist. Außerdem hat er sexuelle Begegnungen mit anderen Rucksacktouristinnen. An Lauren scheint er keinen Gedanken zu verschwenden (TRoA, S. 16ff.). In einem späteren Kapitel, das von Victor erzählt wird, berichtet er von einem Telefonat mit einem Mädchen, das er nicht kennt: „a girl with an unfamiliar voice answered the phone.“ (TRoA, S. 263) Der Leser erkennt, dass Victor bei dem Anruf in Camden Lauren am Apparat hat, die zufällig den Anruf beantwortet. Während das fremde Mädchen in der Leitung genau zu wissen scheint, wer er ist, moniert, dass er sie nicht angerufen habe während seiner Abwesenheit und gesteht, dass sie ihn vermisse, bemerkt er bis zum Ende des Telefonats nicht, mit wem er spricht. Während für Lauren die Affäre, die die beiden im Sommer hatten, offensichtlich eine ernsthafte Beziehung war, ist sie für ihn nur „some girl […] who worked for my father one summer.“ (TRoA, S. 319) 79 Wie uninteressant die Persönlichkeit des Partners für Lauren ist, wird auch aus ihrer Beschreibung Franklins deutlich: Sie hält ihn für einen lächerlichen Idioten (TRoA, S. 127) und ist sich bewusst, dass sie ihn nicht liebt (TRoA, S. 128). Aber immerhin ist er gerade verfügbar (TRoA, S. 83) und der Sex mit ihm ist gut (TRoA, S. 128). Auch dies

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allem wird aus dieser Anmerkung jedoch die Haltung der Emotionslosigkeit und der verweigerten Einfühlung deutlich, die sich auch aus den folgenden Szenen erkennen lässt. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist das Gespräch über Sara, eine Kommilitonin, die von einem Jungen namens Tim (mit dem auch Lauren bereits Sex hatte) geschwängert wurde. Das promiskuitive Verhalten der Mädchen resultiert anscheinend nicht selten in einer Schwangerschaft und die knappe Unterhaltung darüber besteht aus sehr kurzen Sätzen, in denen keine Emotionen artikuliert werden. „‚Sara’s pregnant,‘ Judy says. ‚Oh shit, you’re kidding,‘ I say, pulling the chair up. ‚Tell me about it.‘ ‚What’s to tell?‘ Judy asks. ‚Roxanne’s been talking to her all morning.‘ ‚I gave her some Darvon,‘ Roxanne rolls her eyes up. Chain-smoking. ‚Told her to go to Psychological Counseling.‘ ‚Oh shit, no,‘ I say. ‚What she’s doing about it? I mean, when?‘ ‚She’s having it done next week,‘ Roxanne says. ‚Wednesday.‘ I put the cigarette out. Pick at the fries. Borrow Judy’s ketchup. ‚Then she’s going to Spain, I guess,‘ Roxanne says, rolling her eyes up.“ (TRoA, S. 36)

Der Kommunikationsmodus der Freundinnen ist distanziert und desinteressiert. Zwar bekundet Lauren mit ihrem Ausruf „Oh shit“ Bedauern und Überraschung über Saras Missgeschick, zeigt aber wie die anderen nach außen keine echte Anteilnahme, sondern ist damit beschäftigt, zu rauchen und in ihrem Essen zu stochern. Roxannes Unterstützung besteht darin, ihrer schwangeren Freundin ein starkes Schmerzmittel zu verabreichen und sie an den universitären psychologischen Dienst zu verweisen, was aber offensichtlich schon zu viel von ihr verlangt ist, da sie mehrmals genervt mit den Augen rollt. Als einzige Lösung kommt nur die Abtreibung in Frage, wie Laurens Bemerkung, wann Sara sich darum ‚kümmern‘ werde, andeutet. Alternativen stehen offenbar nicht zur Diskussion. Darüber hinaus wirft die Unterhaltung auch ein neues Licht auf das Verhältnis der Freundinnen untereinander. So wie Loyalität und Vertrauen keine Parameter einer Freundschaft darstellen, ist auch die emotionale Bindung der Freundinnen unterkühlt. Sowohl Lauren als auch Roxanne verweigern Sara ihre Einfühlung; dafür kommen Schwangerschaften offenbar zu häufig vor, und eine Abtreibung wird außerdem nicht als traumatisch genug erachtet, um Mitleid zu erregen (TRoA, S. 127). Die Verhaltensdimension der Macht ist in dieser Textstelle überdeutlich, Statushandlungen zur Unterstützung der Freundin werden nicht in Betracht gezogen. Die unbehelligte spricht für die Austauschbarkeit der Partner. So wahllos und zufällig wie die Beziehung ist auch ihr Ende: Lauren macht mit Franklin aus Langeweile Schluss, hat danach aber noch einmal Sex mit ihm (TRoA, S. 146f.).

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Nahrungsaufnahme, also die Steigerung des eigenen Wohlbefindens, wird Statushandlungen, wie der schwangeren Sara Zuwendung oder Mitgefühl zukommen zu lassen, übergeordnet. Ironischerweise wird Lauren gegen Romanende in der gleichen Situation wie Sara sein. Ihre Gedanken „what if it was me who was getting an abortion next Wednesday? What if… Ketchup on the plate, smeared, make unavoidable connection“ (TRoA, S. 37) sind bereits als Vorausdeutung zu lesen auf ihre eigene zukünftige Schwangerschaft. Der mutmaßliche Kindsvater ist Sean Bateman, mit dem Lauren ein Verhältnis beginnt, nachdem ihr schmerzhaft klar geworden ist, dass ihre Beziehung mit Victor vorbei ist.80 Aber auch von der Affäre mit Sean ist Lauren schnell genervt und sucht nach einem Grund, ihn loszuwerden. Als dienstbarer Anlass bietet sich Seans Ausrutscher mit Laurens Freundin Judy, die ihr nach deren gemeinsamer Nacht den One-Night-Stand beichtet. Lauren wirft Sean dieses sexuelle Intermezzo vor und will es als Trennungsgrund benutzen. Dabei fällt es ihr angeblich schwer, glaubhaft Gekränktheit zu heucheln, zumindest behauptet sie, nicht ernstlich durch Seans Verhalten verletzt zu sein. „What are we talking about? I don’t even care that much. It seems to be so minor that I don’t understand why I’m harassing him like this. Probably because I want this thing to be over with, and Judy’s a convenient marker.“ (TRoA, S. 234)

Es ist fraglich, ob Lauren tatsächlich so gleichgültig auf Seans Affäre reagiert, wie sie vorgibt. Sie erwartet sich Genugtuung davon, Sean ihr Wissen mitzuteilen, stellt dann aber fest, dass es sich nicht so befriedigend anfühlt, wie sie erwartet hat (TRoA, S. 233). Als Sean ihr kurz nach der Trennung berichtet, er habe einen erfolglosen Selbstmordversuch hinter sich, reagiert sie demonstrativ gelangweilt und skeptisch, gähnt, blättert in einer Zeitschrift. Sean will unbedingt mit Lauren über Judy und die Trennung reden, Lauren verweigert sich jedoch jeglicher Konversation und reagiert einsilbig und kalt, auch das ein Hinweis darauf, dass sie nicht so unbeteiligt ist, wie sie vorgibt zu sein. Während sie auf der Wortebene behauptet, sie sei „trying to act angry, […] trying to elicit some feeling“ (TRoA, S. 242) und damit suggeriert, dass sie nicht wütend sei und keinerlei Emotionen verspüre, widerspricht die Handlungsebene dieser Aussage. Sie klammert sich an ihre Teetasse und verschüttet sogar etwas, stellt fest, seinen Anblick nicht zu ertragen und befiehlt ihm schließlich zu verschwinden. Ihre zur Schau gestellte Lässigkeit wird von ihrem angespannten Verhalten untergraben. Augenscheinlich durchlebt Lauren in dieser 80 Diese Erkenntnis hindert sie aber nicht daran, weiterhin von Victor zu träumen und auf einen Anruf oder einen Brief von ihm zu hoffen. Victor rückt damit immer mehr in den Status eines Alibis, das Lauren daran hindert, eine ernste Beziehung mit einem der jungen Anwärter aufzunehmen.

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Situation einen Prozess der Gefühlsarbeit. Sie versucht, ihre Emotionen sowohl vor Sean als auch vor dem Leser zu verbergen, indem sie einerseits demonstratives Desinteresse zeigt und vorgibt, Emotionen heucheln zu müssen, andererseits Falschaussagen über ihre emotionale Lage macht: Ihre implizite Behauptung, gefühlskalt zu bleiben, wird von ihren Körperreaktionen – verkrampfte Haltung, zittrige Hände – Lügen gestraft. Hierbei handelt es sich um ein auktoriales Textsignal, das dem Leser auf diese versteckte Weise an der Erzählerfigur Lauren vorbei ein anderes Bild vermittelt. Während die Erzählerin den Leser glauben machen will, nichts zu empfinden, wird gleichzeitig ein auktoriales Korrektiv eingeschleust, das die Darstellung der Erzählerin untergräbt. Dem Leser wird entsprechend etwas anderes kommuniziert, als die Erzählerin beabsichtigt. Diese emotionslose, also Emotionsworte vermeidende Erzählhaltung wahrt Lauren auch, als sie ihre Schwangerschaft entdeckt. Der Leser erfährt zeitgleich mit Sean davon, in einem szenischen Figurendialog, der Techniken der dramatischen Darstellung nutzt. Durch dieses Verfahren wird der Eindruck von Unmittelbarkeit erzeugt und die Präsenz der Erzählerin Lauren auf ein Minimum reduziert. Durch die direkte Figurenrede, die die Erzählerin lediglich als ordnende Instanz erscheinen lässt, wird der Text in einen dramatischen Modus81 versetzt, durch den der Leser von der Mitteilung über Laurens Schwangerschaft unvermittelt getroffen wird. „Me: I’m pregnant S: Really? Me: Yes. S: Is it mine? Me: Yes. S: Is it really mine? Me: Listen, I’m going to… ‚deal with it‘82 so don’t worry.“ (TRoA, S. 292)

Indem Lauren die Form des Dramendialogs wählt und dabei auf ‚Regieanweisungen‘ verzichtet, bleiben sowohl Mimik wie Gestik als auch Prosodie völlig unbeachtet. Das Gespräch verläuft einsilbig und unemotional, Lauren drückt ebenso wenig Gefühle aus wie Sean. Beide bleiben sachlich und lösungsorientiert. Während Lauren andeutet, das Baby abtreiben lassen zu wollen („I’m going to… ‚deal with it‘“), schlägt Sean plötzlich vor, das Baby zu behalten und zu heiraten. Lauren antwortet nur „Okay“, obwohl sie Zweifel hat, ob das Kind wirklich 81 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2009. S. 49ff. 82 Dass Lauren die von Sean häufig verwendetet Satzkette „Deal with it“ im Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft benutzt, kann als ironischer Kommentar ihrerseits auf Seans Unreife gelesen werden. Mehr dazu im Abschnitt über Sean.

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von Sean ist.83 Dennoch unternimmt sie mit Sean einen Roadtrip durch New Hampshire, an dessen Ende die Hochzeit stehen soll. Die Fahrt beginnt in New York bei Bekannten, führt von Motel zu Motel und besteht aus pausenlosem Kokainkonsum. Angesichts der Tatsache, dass sich die werdenden Eltern für das Kind entschieden haben, ist das kein sonderlich verantwortungsvolles Verhalten und deutet schon an, dass Lauren sich noch umentscheiden wird. Schließlich endet der Trip in einer Abtreibungsklinik. Die Beschreibung des Schwangerschaftsabbruchs ist ebenso reduziert und emotionslos wie ihre sonstigen Schilderungen. Die Ich-Erzählerin erwähnt, zunächst noch ruhig zu sein, dann aber angespannt zu werden: „I’m calm but it don’t last. Tense when I read the words: Hereby Authorize Terminate Pregnancy.“ (TRoA, S. 306) Beim Vorgang der Absaugung, die Lauren bei vollem Bewusstsein erlebt, beschränkt sie sich auf knappe Beschreibungen ihrer Körperreaktionen: „My stomach starts heaving. Sucking noises. It’s over. I sweat.“ (TRoA, S. 306) Der sich umdrehende Magen und der Schweiß weisen in Kombination mit ihrer Anspannung darauf hin, dass sie Angst empfindet. Wörtlich thematisiert Lauren ihre Emotion aber nicht. Es ist offensichtlich, dass sie in dieser Situation stark sein will, sie sagt sich selbst „It doesn’t matter.“ (TRoA, S. 306) Der Leser kann ihr diese Gleichgültigkeit aber nicht glauben, denn als Sean sie zurück zum Campus fährt, bietet er ihr einen Waffenstillstand an und Lauren reagiert abweisend: „No way.“ (TRoA, S. 306) Offenbar macht Lauren ihren Liebhaber für ihre Lage verantwortlich und will oder kann ihm die Schwangerschaft und die daraus resultierende Abtreibung nicht verzeihen. Laurens Unglück wird auch in ihrer Reflexion über die Abtreibung deutlich. Sie sagt darüber: „For the past week I have been hoping that the job was botched; that maybe the doctor had somehow screwed things up, had left everything incomplete. But of course he hadn’t. They had done a good, thorough job. I have never bled so much before.“ (TRoA, S. 317)

Dass sie sich wünscht, die Abtreibung wäre verpfuscht worden, deutet auf ihre Reue und ihr Schuldgefühl hin. Sie wünscht sich, der Arzt hätte die Sache vermasselt und ihr Baby im Bauch gelassen. Auch ihre Bemerkung, noch nie so viel geblutet zu haben, kann als Metapher für den Schmerz des Verlusts stehen. Diese Emotionen drückt sie erneut jedoch nicht wörtlich aus, so wie sie stets Emotionsworte vermeidet. Aber auch ohne die explizite Thematisierung ihrer situationsbezogenen Emotionen erweckt Lauren den Eindruck, ein zutiefst einsamer und unglücklicher Mensch zu sein. So sagt sie in einigen Kapiteln von sich selbst, sie sei „depressed“, zumeist 83 Als weitere mögliche Kindsväter kommen ihrer Überlegung gemäß noch Franklin, ein Junge namens Noel, der One-Night-Stand Steve sowie Paul in Betracht, diese Vermutungen enthält sie Sean jedoch vor (TRoA, S. 293).

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in Verbindung mit Belanglosigkeiten: Ein Telefonat mit ihrer Mutter (TRoA, S. 55), eine alte Kassette (TRoA, S. 56), einige Gegenstände (TRoA, S. 145), eine unvollständige und chaotische Liste ihrer Sexualpartner (TRoA, S. 159), die taktlose Anmache eines Kommilitonen (TRoA, S. 164), sogar Popmusik (TRoA, S. 318) lösen in ihr das Gefühl aus, deprimiert zu sein. Ein einziges Mal sagt sie sogar, sie sei „scared“ angesichts der drohenden Gefahr, Victors Bild aus ihrem Kopf zu verlieren (TRoA, S. 40). Ansonsten verzichtet Lauren darauf, Emotionen wörtlich zu benennen. Selbst als sie wegen eines Songs weinen muss, der sie an Victor erinnert, benennt sie ihre Emotion nicht genau, sondern bezeichnet sie nur als „feeling“ (TRoA, S. 39). Nicht nur durch die Beschränkung auf Andeutungen und die ausnahmehafte Verwendung der Emotionsworte „depressed“ und „scared“ erweckt Lauren den Anschein, depressiv zu sein. Auch ihre Fixierung auf den unerreichbaren Victor, ihre Bindungsunfähigkeit und schnell wechselnden Sexualpartner, ihr ständiger Drogen- und Alkoholmissbrauch und die redundante Struktur ihrer Lebensführung sprechen dafür:84 Parties und Sex werden zu den markanten Eckpunkten ihres Lebenslaufs, alle anderen Zwischenfälle erscheinen wie zufällige Lückenfüller. Auch auf der Stilebene lassen sich Hinweise auf eine Depression finden: Laurens Erzählung zeichnet sich durch einen elliptischen, reduzierten Stil aus. Häufig verzichtet sie auf Artikel oder Personalpronomen, sogar auf Verben: „Wake up. Sunday morning. Tutorial on the postmodern condition. Believe it or not. At ten. In Dickinson.“ (TRoA, S. 63) Ganze, zumeist sehr kurze Kapitel sind in diesem Telegrammstil verfasst (z.B. TRoA, S. 63 und S. 265). Passend dazu beschränkt sie sich auf einen parataktischen Stil, der die Hauptsätze verbindungslos hintereinander stehen lässt, selbst auf die Konjuktion „and“ wird verzichtet. Diese Stilmerkmale erinnern, wie schon in Less Than Zero, an alexithyme Kennzeichen. Diese alexithymen Merkmale werden bei Lauren auf den Höhepunkt getrieben: Direkt nach der Abtreibung gibt es ein leeres Kapitel. Eine ganze Seite ist mit ihrem Namen überschrieben, aber die Seite bleibt leer (TRoA, S. 309), ein offensichtliches Indiz für ihre Sprachlosigkeit, die wiederum auf eine Depression hindeutet. Nach der Abtreibung ist Lauren nicht im Stande, ihre Emotionen in Worte zu fassen, nicht einmal den Alltag zu beschreiben. Zu sehr steht sie noch unter dem Eindruck des 84 Alain Ehrenberg stellt hierzu fest: „Ab den 1980er Jahren tritt die Depression in einer Symptomatik auf, bei der nicht so sehr das psychische Leiden, als vielmehr die Hemmung, die Verlangsamung und die Asthenie dominieren: Die traurige Verstimmtheit wird zu einer Handlungsstörung […].“ (Ehrenberg, Das Erschöpfte Selbst, S. 13) Die Redundanz in Laurens Lebensführung ist der Hemmung, Verlangsamung und Asthenie geschuldet. Auch Drogenkonsum (ebd., S. 152) und erhöhte Risikobereitschaft (ebd., S. 204), z.B. bei der Partnerwahl, sieht Ehrenberg als symptomatisch an. Nach Ehrenberg erfüllt Lauren somit die Bedingungen einer modernen depressiven Episode.

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traumatischen Erlebnisses. Ihr fehlen die verbalen Ausdrucksmöglichkeiten für das durchlittene Trauma, sie verfügt weder über das Vokabular noch über die Kraft, das Erlebte angemessen zu artikulieren. Angesichts der inadäquaten Möglichkeiten zur Versprachlichung verweigert sie sich der verbalen Kommunikation in Form der leeren Seite. Als eine Form der non-verbalen Kommunikation ist dies jedoch durchaus zu verstehen: als Ausdruck von Schmerz und Hilflosigkeit. Weitergehend ist die leere Seite auch als Zeichen ihrer Gefühllosigkeit interpretierbar. Der Schwangerschaftsabbruch hat sie emotional so sehr ‚bluten‘ lassen („I have never bled so much before“, TRoA, S. 317), dass sie ‚ausgeblutet‘ ist. Sie ist so entkräftet, so asthenisch, dass keine Gefühle mehr übrig sind, die artikuliert werden könnten. Typisch für Laurens Erzählstil sind darüber hinaus rhetorische Fragen, die sie immer wieder über ihre Kapitel verteilt. Oftmals stellt sie gleich mehrere Fragen hintereinander, die sie dann nicht beantwortet: „Why does he even care? Does he actually think I’ll go to bed with him? Why won’t that person leave? Is Tony even looking over here? […] Is that a joke? In the Freshman’s room now. What’s his name? Sam? Steve? It’s so … neat! Tennis racket on the wall. Shelf full of Robert Ludlum books. Who is this guy?“ (TRoA, S. 14f)

Es sind Laurens Gedanken, die sie in Frageform zum Ausdruck bringt. Der Leser erhält dadurch zwar einen Eindruck von ihren Überlegungen, lernt sie aber deswegen nicht wirklich kennen. Da Lauren selten eine Position bezieht, sondern immer nur Fragen stellt, erfährt der Leser wenig über ihre Haltung. Nur aus ihren Handlungen ist zu erschließen, wie sie zur jeweiligen Situation steht. Die zitierte Textstelle bezieht sich auf den Freshman Steve, den sie, wie ihre Gedanken suggerieren, unattraktiv findet. Dennoch hat sie wenig später Sex mit ihm. Ihre Gedanken und Handlungen verhalten sich somit widersprüchlich zueinander. Dies lässt auf eine gewisse Unsicherheit schließen.85 Lauren scheint selten zu wissen, wie sie Situationen beurteilen soll, weshalb sie sich selbst pausenlos Fragen stellt. Anstatt dann eine Entscheidung zu treffen, überlässt sie die Entscheidungen anderen und lässt 85 Auch dies wäre nach Ehrenberg ein weiterer Beleg für eine Depression. „Unentschiedenheit, Zögerlichkeit, Vermeidungsverhalten“ (Ehrenberg, Das Erschöpfte Selbst, S. 204) sind demnach charakteristisch für die Depression. Alle drei Charakteristika, selbst das Vermeidungsverhalten, sind typisch für Lauren. Während sich die Unentschiedenheit und Zögerlichkeit in ihrer Wortwahl niederschlägt, ist das Vermeidungsverhalten aus ihren Handlungen abzuleiten: Der Unwille, Entscheidungen zu treffen sowie die Vermeidung tiefgehender Freundschaften und ernster romantischer Beziehungen werden nur oberflächlich überlagert durch exzessives Feiern, Drogenkonsum und raschen Partnerwechsel. Das fast manisch wirkende Partyverhalten ist nur als Symptom einer Vermeidungsstrategie zu sehen.

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sich einfach mitziehen. Im Fall Steves geschieht genau das: Steve hat beschlossen, dass er Lauren erobern will und mit ihr schlafen möchte. Lauren hingegen beschließt nichts – weder, mit ihm zu schlafen, noch, nicht mit ihm zu schlafen – und lässt die Dinge einfach geschehen. Zu dieser Unsicherheit passt Laurens Angewohnheit, Relativierungen oder Ergänzungen in Klammern einzufügen. Manchmal dienen diese Klammern dazu, das gerade Gesagte zu widerrufen („I really hope (but not really) that Judy comes back“, TRoA, S. 83) oder zumindest abzuschwächen („The typical drunk (but not too drunk) nervous Freshman“, TRoA, S. 14), manchmal beinhalten sie Zusatzinformationen, die den Leser über Sachverhalte aufklären. „I asked her [Laurens Mutter, Anm. d.Verf.] about the magazine (she runs it), about my sister at R.I.S. D., about finally (big mistake) my father. She said she didn’t hear me. I did not ask her again. Then she mentioned that Joana (father’s new girlfriend) is only twenty-five.“ (TRoA, S. 55)

Hierbei handelt es sich um auktoriale Bestandteile des Textes, die als Informationen für den Leser eingespeist werden. Durch dieses auktoriale Verfahren wird die Figurenperspektive Laurens durchbrochen und stellt somit eine Inkonsequenz in der Perspektivierung dar, zumal unklar bleibt, welchen Zweck diese Zusatzinformationen für Lauren haben sollen. Sie muss sich kaum selbst vergegenwärtigen, dass ihre Mutter Verlegerin einer Zeitschrift ist oder wie die Freundin ihres Vaters heißt. Wie noch zu zeigen sein wird, sind auch bei Paul auktoriale Kommentare nachweisbar, die vor allem hinsichtlich der Emotionen der Figur ein anderes Bild zeichnen, als diese selbst vermitteln möchte. Sean Im Gegensatz zu Lauren mangelt es Sean nicht an Selbstsicherheit. Er ist ein Trinker, Drogendealer, Lügner, Frauenverführer – kurz: eine recht unsympathische Figur. Schon in Seans erstem Kapitel zeigt er sich von einer unangenehmen Seite. Stark angetrunken versucht er, gegen Ende einer Party noch eine Partnerin für die Nacht zu finden. Da das Mädchen, das er eigentlich im Visier hat, bereits von einem anderen jungen Mann angeflirtet wird, gibt er sich mit der Nächstbesten zufrieden, einem Mädchen namens Deidre, die er nur mäßig attraktiv findet. Sie verfügt über „nice tits, okay body“ und sie ist „drunk and coughing like she has T.B.“ (TRoA, S. 8), eine nicht unbedingt vorteilhafte Beschreibung. Wie wenig Sean eigentlich an Deidre interessiert ist, machen die folgenden Seiten klar: Er stellt sich unter dem Namen Peter vor, verwechselt kontinuierlich ihren Namen und nennt sie Dede Dedire, Deedum oder einfach D, und geht schließlich mit ihr ins Bett, obwohl er eigentlich gar keine gesteigerte Lust dazu hat:

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„I consider the options. I can leave right now, go back to my room, go to sleep. Or, I could play Quarters with Tony and Brigid and that numb guy from L.A. Or, I can take this girl offcampus to The Carousel for a drink, leave her there. Or, I can take her back to my room, hope the Frog is gone, get stoned and fuck her. But I don’t really want to do that. I’m not into her all that much, but the hot-looking Freshman has already left with Mitchell and I don’t have any classes tomorrow and it’s late and it looks like the keg’s running out. And she looks at me and asks, ‚What’s going on?‘ and I’m thinking Why Not?“ (TRoA, S. 9)

Für Sean ist es nicht wirklich eine Option, allein nach Haus zu gehen. Die Tatsachen, dass das Bierfass fast leer ist, die hübsche Erstsemester-Studentin schon mit jemand anderem gegangen ist und er am Folgemorgen keinen Unterricht hat, geben den Ausschlag, mit Deidre zu schlafen, obwohl er „not into her all that much“ ist. Dieses Verhalten hinsichtlich der Partnerwahl wird Sean während der gesamten Erzählung beibehalten: Er geht auf Frauenjagd und gibt sich im Zweifelsfall auch mit weniger attraktiven Mädchen zufrieden, Hauptsache, er hat Sex. Dabei geht es Sean weniger um die sexuelle Befriedigung, da er im oben genannten Zitat bemerkt „I don’t really want to do that“. Sex ist ein Mittel gegen Langeweile und darüber hinaus anerkannte Verhaltensweise in seiner Peergroup. Es gehört zum guten Ton dazu, nach einer Party mit einem Mädchen zu schlafen. Um sich adäquat zu den milieutypischen Normen zu verhalten, muss Sean praktisch mit einem Mädchen nach Hause gehen, da er sonst den unausgesprochenen Campus-Regeln zuwiderhandeln würde. Dabei spielen weder die Persönlichkeit und der Charakter des Mädchens eine Rolle, noch ob sie bereits einen festen Freund hat, sondern ausschließlich ihr Aussehen, das von Sean stets als Erstes begutachtet wird. Lernt er ein neues Mädchen kennen, beurteilt er zunächst ihren Körper, bevor er anderen Dingen Aufmerksamkeit schenkt (z.B. TRoA, S. 9, S. 40, S. 102, S. 119, S. 120, S. 137). So schläft er im Verlauf der Erzählung mit zahlreichen Studentinnen. Auch Lauren gehört zu seinen Eroberungen und obwohl Sean im Verlauf des Romans ein ernsteres Interesse an ihr zu entwickeln scheint, sogar davon überzeugt ist, eine feste Beziehung mit ihr zu führen, und glaubt, dass sie ihn liebe (TRoA, S. 202f), benennt er kein einziges Mal seine Gefühle zu ihr. Er sonnt sich in ihrer vermeintlichen Liebe,86 ist aber nicht bereit, ebenfalls Emotionen zu investieren. Er beschränkt sich darauf, zuzugeben, er sei „crazy about her“ und „relieved I had a 86 Dass Sean die Lage völlig falsch einschätzt, zeigt eine Szene, in der er ihr einen Song auf der Gitarre vorspielt und dazu singt. Lauren fängt an zu weinen, was Sean als Beweis für ihre Rührung und Liebe zu ihm deutet (TRoA, S. 186). Lauren hingegen beschreibt die Szene anders: Ihr ist die Situation ausgesprochen peinlich und sie beginnt zu weinen, weil sie an Victor denken muss (TRoA, S. 185). Lauren liebt Sean keineswegs und ist sich auch bewusst, dass Sean keine Liebe für sie empfindet. Sean ist in seiner Arroganz jedoch von Laurens Liebe überzeugt.

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decent-looking perhaps permanent girlfriend“ (TRoA, S. 202). Hier deutet sich schon an, was sich kurz darauf bestätigen wird: Ihre Schönheit ist der ausschlaggebende Faktor für sein Interesse an ihr. „[…] she was the first person who wasn’t looking through me. She was really the first person who looked and stopped. It was a hard thing to explain to myself, to deal with, but it didn’t matter. It wasn’t the most important aspect. Her beauty was. It was an all-American beauty, the sort of beauty that can only be found in American girls, with the blond hair, and the breasts that only American girls have. That beautifully proportioned body, thin but not anorexic, her skin, WASP [White Anglo-Saxon Protestant, Anm. d.Verf.] creamy, and delicately pure, in total contrast to her expressions, which always seemed slightly dirty as if she was a bad girl, and this excited me even more. I didn’t care about her background […] all I wanted to do was look at her face, which seemed miraculously, perfectly put together, and at her body, which was constructed just as beautifully if not better.“ (TRoA, S. 203f)

Obwohl Sean den Eindruck hat, Lauren sehe seine Persönlichkeit, ist dies für ihn nicht ausschlaggebend; zwar handelt es sich bei diesem Interesse für seine Persönlichkeit in dem auf Äußerlichkeiten fokussierten Milieu Seans offenbar um eine Ausnahme, was die Beziehung zu Lauren umso wertvoller machen würde.87 Aber diese seltene Aufmerksamkeit weiß er nicht zu schätzen. Stattdessen bewundert er ihr perfektes Gesicht und ihren wunderschön gebauten Körper; ihre Geschichte und ihre Persönlichkeit hingegen sind ihm egal. So kann es nicht verwundern, dass Sean zwar der Auffassung ist, Lauren liebe ihn („I knew she loved me“, TRoA, S. 203), aber mit keiner Silbe seine Zuneigung ihr gegenüber thematisiert. Selbst als er ihr einen Heiratsantrag macht, ist von Liebe keine Rede. Doch schon wenig später, während des Roadtrips, sieht Sean nur noch die hässlichen Seiten an Lauren: Sie muss sich ständig erbrechen, vernachlässigt ihre Körperpflege, weigert sich, mit ihm zu sprechen, trägt ihre Sonnenbrille ohne Unterbrechung (TRoA, S. 304f). Er entschließt sich, sie zu verlassen. Ihre Schönheit ist für ihn verblüht und Lauren somit kein Objekt seiner Begierde mehr. Wenige Tage nach der Abtreibung bändelt er schon mit einem Stadtmädchen an (TRoA, S. 325). Nicht nur hinsichtlich seiner eigenen Vaterschaft, die er nicht zögert, beenden zu lassen, auch im Hinblick auf ungewollte Schwangerschaften in seinem Bekanntenkreis reagiert Sean unsensibel und verweigert seine Einfühlung. So ist die Geschichte der schwangeren Sara, mit der Sean ebenfalls mehrmals Sex hatte, auch bei ihm und seinen Freunden ein Thema, er stellt aber gleich fest, „no one’s too upset or morose about the whole thing. Even Tim makes jokes about it.“ (TRoA, S. 42) Die Abtreibung wird von niemandem als etwas Aufsehenerregendes oder gar Trau87 Der Leser hat an dieser Stelle allerdings längst durchschaut, dass Sean einem Trugschluss erlegen ist. Lauren interessiert sich so wenig für seine Persönlichkeit, wie er sich für ihre.

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riges aufgefasst, der Kindsvater Tim bemerkt nur: „I’ve been through this shit so many times, it doesn’t even faze me.“ (TRoA, S. 42) Anscheinend hat er mehrere Babys gezeugt und anschließend abtreiben lassen; für ihn ist eine Abtreibung keine große Sache mehr, weil er das schon zu oft erlebt hat. Die Abwälzung der Verantwortung auf die Kindsmutter und die gefühlskalte Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch zeigen, dass hier die Verhaltensdimension der Macht dominiert. Die sozialisierende Wirkung der Peergroup dürfte zu der Entwicklung einer solchen Einstellung allerdings maßgeblich beitragen. Immerhin haben nicht nur die jungen Männer, sondern auch die betroffenen Kindsmütter zum Thema Abtreibung die gleiche Auffassung: Sie wird als probates Mittel zur Wiederherstellung des eigenen Wohlbefindens erachtet. 88 Die Einstellung der Macht und die damit verbundene Kaltherzigkeit werden auch aus dem sprachlichen Umgang mit der Angelegenheit deutlich. Die Jungen machen respektlose Witze und bedienen sich sehr harter Ausdrücke für die Abtreibung. Norris fragt: „So when is she getting the fetus ripped out of her?“ (TRoA, S. 42), was von der Terminologie eher an eine Schlachtung als an eine Operation erinnert. Sean und seine Freunde nehmen, ähnlich wie Lauren und ihre Freundinnen, eine Haltung der verweigerten Einfühlung ein, was an dieser Stelle sicherlich teils dem Platzhirschgehabe der Jungen geschuldet ist, teils aber auch der generellen Haltung der Promiskuität und Unvorsichtigkeit im Umgang mit Sex. Passend zu dieser unsensiblen Art ist Sean oft aggressiv, er zerstört in seiner Wut mutwillig Gegenstände (TRoA, S. 54) und benutzt viele Schimpfwörter.89 Das Aggressionspotenzial in Sean wird schließlich extensiviert zu autoaggressivem Verhalten. Nach der Trennung von Lauren unternimmt er drei halbherzige Suizidversuche: Der erste Versuch besteht darin, sich mittels einer Krawatte in seinem Zimmer zu erhängen. Die Krawatte reißt jedoch und Sean landet unsanft „like an idiot“ (TRoA, S. 240) auf dem Boden. Die Ernsthaftigkeit seiner Absichten ist jedoch in Zweifel zu ziehen, da es sich bei diesem Selbstmordversuch um eine Kurzschlussreaktion handelt: Er ist frustriert nach der Trennung, versucht zunächst zu einer Vorlage aus dem Penthouse-Magazin zu masturbieren, scheitert jedoch daran und entscheidet spontan, ohne Angabe von Gründen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Die Art, wie er dies umzusetzen versucht, ist jedoch recht lächerlich. Nur mit Unterhosen bekleidet, mit einer Seidenkrawatte um den Hals, zu dröhnender Musik und mitten in seinem Zimmer, wo jederzeit sein Zimmergenosse Bertrand 88 Nachträglich mag sich allerdings herausstellen, dass die Abtreibung nicht zum Wohlbefinden, sondern nur zu größerem Schmerz beiträgt (wie etwa bei Lauren). 89 Am häufigsten bedient er sich dabei der Beleidigungen „asshole“ (TRoA, S. 45, S. 54, S. 76, S. 106, S. 252) und ferner „bitch“ (TRoA, S. 53, S. 105). Darüber hinaus verwendet er oftmals vulgärer Ausdrücke wie „bullshit“ (TRoA, S. 64, S. 202) oder „goddamned“ (TRoA, S. 53, S. 62).

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hereinkommen könnte – ein Verhalten, das Glaubwürdigkeit vermissen lässt. Nicht nur die Spontaneität des Entschlusses und die ungeschickte Ausführung des Vorhabens sprechen gegen ernste Selbstmordabsichten, auch das Fehlen jeglicher Suizidgedanken auf den vorangegangenen 240 Seiten lassen Seans Versuch als unglaubwürdig erscheinen. 90 Sein zweiter Selbstmordversuch übertrifft den ersten noch an Absurdität. Der Protagonist versucht, sich mit Actifed, einem harmlosen Erkältungsmittel, zu vergiften, erreicht damit aber nur einen mehrstündigen, tiefen Schlaf (TRoA, S. 252). Auch Sean ist klar, dass dieser Selbstmordversuch kaum zum Erfolg führen kann. Zwar überlegt er noch, einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, ihm wird aber schnell bewusst, dass dies wohl nicht nötig sein wird: „I wonder if I should leave a note. Some kind of reason for why I’m doing this, why I’m swallowing all my Actifed. […] I start falling asleep, laughing – am I really trying to O.D. on Actifed?“ (TRoA, S. 252) Als er wieder erwacht, ist ihm dieser Versuch ausgesprochen peinlich. Auch der letzte, kurz darauf folgende Selbstmordversuch entsteht aus einer spontanen Eingebung. Im Badezimmer entdeckt Sean den Rasierer seines Zimmergenossen Bertrand und versucht, sich mit der Rasierklinge die Pulsadern zu öffnen. Die Klinge ist jedoch schon sehr stumpf und hinterlässt kaum Kratzer auf der Haut. Dennoch ist dieser Versuch möglicherweise der ernsthafteste: „I pick up the razor by its silver handle and stare at it for a long time. I move it down my wrist. […] Then move it back to my arm, this time bringing the handle up to the wrist, pressing it hard, trying to break the skin. But it doesn’t. I apply more pressure, but it only leaves red marks. I try the other wrist, pushing with all my strength, almost groaning with exertion, lukewarm water splashing in my eyes. The blade is too dull. I press it down against the wrist, feebly, once more.“ (TRoA, S. 254)

Die fieberhafte Anstrengung, mit der Sean versucht, sich zu verletzten, deutet darauf hin, dass er das Bedürfnis nach Schmerz verspürt. Dabei will er jedoch nicht wirklich einen Suizid durchführen. Die Spontanität seiner autoaggressiven Akte ist untypisch für ernsthafte Suizidversuche, ebenso die Mittel, die er dafür wählt; zumindest bei den ersten beiden Versuchen ist das Scheitern vorhersehbar. Glaubwür90 Im Kontrast dazu steht Mary, die am Ende ihres sechsten Kapitels Selbstmord begeht, indem sie sich in einer Badewanne mit warmem Wasser die Pulsadern öffnet und verblutet. Sie reflektiert in ihren Kapiteln pausenlos über ihren emotionalen Zustand, ihre unglückliche Liebe zu Sean und ihre Verzweiflung, so dass ihr Selbstmord glaubwürdig wirkt. Er ist geplant und dramatisch inszeniert, da sie als Ort die öffentlichen Bäder wählt, zeitlich aber so organisiert, dass sie nicht mit einer Störung zu rechnen hat und daher davon ausgehen kann, ihren Plan allein und in Ruhe in die Tat umsetzen zu können. Die Wahl des öffentlichen Ortes ist einzig als Anklage an ihre Umwelt zu verstehen, nicht jedoch als Hoffnung, in letzter Sekunde gerettet zu werden.

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dig allerdings ist Seans Versuch, sich selbst Verletzungen zuzufügen. Da er seine Gefühle für Lauren niemals thematisiert, sein Interesse ihr gegenüber stets nur mit ihrer Attraktivität begründet und auch den Trennungsschmerz nicht ausformuliert, sondern vom Leser nur erahnen lässt, können sich in Sean Emotionen angestaut haben, die ihre Abfuhr verlangen. Körperlicher Schmerz kann einen geeigneten Katalysator für diese unterdrückten Affekte darstellen. Es wäre auch denkbar, dass Sean den Schmerz durch die Klinge als Selbstbestrafung auskosten will für sein Versagen in der Beziehung zu Lauren. Es scheint, als stünden diese verdrängten Emotionen im Widerspruch zur sonstigen Charakteranlage Seans, der stets als unsensibler und respektloser junger Mann auftritt. Jedoch kann mit Freud argumentiert werden, dass das Ausleben seiner Triebe als Ausdruck verdrängter, an die Oberfläche drückender Affekte zu verstehen ist. Somit werden die in Sean verborgenen Affekte vom Bewusstsein ausgeschlossen, schaffen sich aber einen Kanal durch das Triebverhalten, in diesem Falle durch die Destruktionstriebe. Sean muss sich demnach seiner eigenen Emotionen gar nicht bewusst sein, er wird aber dennoch in den Momenten der Autoaggression von ihnen gesteuert. Auch spricht hierfür, dass Sean für keinen seiner Selbstmordversuche Gründe angibt; er kennt sie gar nicht. Da sie aber alle scheitern, inszeniert er schließlich seinen Tod, indem er sich mit Kunstblut beschmiert (TRoA, S. 257). Eine Katharsis bringt ihm dies aber nicht. In seinem letzten Kapitel stellt er ernüchtert fest: „I haven’t changed.“ (TRoA, S. 325) Sean macht während seiner Erzählung keine Entwicklung durch, er stagniert in einer Phase der Unreife. Dies ist auch an seinem Stil erkennbar, der sich vor allem durch den umgangssprachlichen Ton auszeichnet. Neben den bereits erwähnten, häufig verwendeten Schimpfworten lässt er alltagssprachliche Wendungen einfließen, die seiner Erzählung den Anstrich eines mündlich vorgetragenen Textes geben: Formulierungen wie „sort of“ (TRoA, S. 41, S. 126) oder „I guess“ (TRoA, S. 25, S. 40, S. 41, S. 101, S. 102) dienen einerseits der Unterstreichung der Subjektivität des Geschilderten, andererseits betonen sie den Verbalcharakter der Erzählung. Dazu passend verwendet der Erzähler Ausdrücke wie „whatever the story is“ oder „whatever the hell“ (z.B. TRoA, S. 41). Wie Lauren bedient sich auch Sean häufig Ergänzungen in Klammern und rhetorischer Fragen, um seine Gedanken auszudrücken. Bei ihm entsteht jedoch nicht der Eindruck von Unsicherheit, sondern es handelt sich meist um abfällige Kommentare, mit denen er seine Überlegenheit und Arroganz gegenüber anderen kundtut: „‚God, we used to have… wild times at this place…‘ (This is the part where I always start getting up.) ‚It’s so… different now…‘ (Blah Blah) ‚Those times are gone… those places are gone…‘ he says.“ (TRoA, S. 26)

168 | D AS NICHTS UND DER SCHMERZ . E RZÄHLEN BEI B RET E ASTON ELLIS „Where has he gone? Does he just hang out in the Canfield apartment and drink like a maniac and split on parents weekend and have a whole bunch of friends visiting him every term from boarding school? What the fuck does he do with his life? Little Freshman girls confiding in him and long walks around the dorms after dinner?“ (TRoA, S. 120)

Diese Haltung der Arroganz drückt der Ich-Erzähler darüber hinaus in phrasenhaften Leitsätzen aus, eine weitere Parallele zu Less Than Zero.91 Diese Leitsätze sind im Gegensatz zu Less Than Zero jedoch nicht enigmatisch aufgeladen, sondern fließen immer wieder ein, um Seans offensichtliche Haltung der Überlegenheit zu betonen. Seine Leitsätze lauten „Deal with it“ (z.B. TRoA, S. 10, S. 45, S. 125) und „Rock’n’Roll“ (z.B. TRoA, S. 10, S. 45, S. 46, S. 47, S. 138, S. 216). Sie stehen manchmal zusammen, kommen aber auch einzeln vor. Sie drücken sowohl Abfälligkeit und Desinteresse als auch eine gewisse Schicksalsergebenheit aus: Was auch immer das Leben für Sean Bateman bereithalten mag, er wird damit fertig. Seine Art, mit schmerzhaften Situationen umzugehen (wie etwa die Trennung von Lauren oder die Abtreibung) besteht nicht in reflexiver Verarbeitung der Geschehnisse, sondern in ihrer Verdrängung. „Deal with it“ und „Rock’n’Roll“ stehen für Seans unerschütterliche Fähigkeit, schmerzhafte Erlebnisse zu ignorieren und einfach weiterzumachen. Diese Haltung vereinfacht zwar sein Dasein, verhindert allerdings jegliche Entwicklung, so dass Sean innerhalb seiner Erzählung keine Reife erlangen kann. Seans Mangel an Reife gründet auf der Tatsache, dass er keinerlei Erfahrungen macht, die zu einem Reifezuwachs beitragen könnten. Von ihm wird niemals verlangt, Verantwortung für seine Taten zu übernehmen (z.B. bei der ungewollten Schwangerschaft Laurens), und er lebt stets in der Gewissheit, dass ihm keine Schranken gesetzt sind, weder finanzieller 92 noch juristischer 93 oder moralischer Art. Dies führt bei Sean zu einer Entwicklungsstarre, die sich in einem Verharren in Unreife auswirkt. Das Fehlen jeglicher Konsequenzen hat bei Sean neben entwicklungspsychologischer Unreife auch eine emotionale Unreife zur Folge. Seine oben 91 Zwischen Less Than Zero und The Rules of Attraction wird durch Clay und seinen Leitsatz „People are afraid to merge“ eine Verbindung geschaffen, da Clay ebenfalls ein Kapitel als Erzähler gestaltet und drei Varianten davon einbaut: „People are afraid to walk across campus after midnight“ (TRoA, S. 205), „People are also afraid to eat sushi in New Hampshire“ (TRoA, S. 206) und „People are afraid to merge on campus after midnight“ (TRoA, S. 207). 92 Sean ist Spross einer schwer reichen New Yorker Familie und kann sich neben einem Motorrad auch noch ein Cabrio leisten. 93 Sean verdingt sich zur Aufbesserung seines Taschengeldes als Drogendealer und verkauft Marijuana und Heroin. Eine strafrechtliche Verfolgung muss er allerdings nicht befürchten.

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geschilderte Haltung der Arroganz und der verweigerten Einfühlung erweisen sich in diesem System als wirkmächtig, so dass sich Sean nicht zu einer emotionalen Weiterentwicklung veranlasst sieht. Paul Auch Paul fällt, ebenso wie Sean, durch seine Überheblichkeit auf, allerdings ist er ein gebrochener Charakter. Schon zu Beginn seiner Erzählung stellt er fest, er sei „hapless“ (TRoA, S. 35) und „depressed“ (TRoA, S. 61), versucht dies jedoch durch eine Haltung der maßlosen Arroganz zu kaschieren. Besonders deutlich wird dies in einer Szene, in welcher ein unerfahrener Erstsemester-Student namens Harry mutmaßlich einen Selbstmordversuch unternommen hat; es hat den Anschein, als habe er sich vergiften wollen, da er erfahren hat, dass er adoptiert sei. Paul nimmt hier eine Haltung der verweigerten Einfühlung ein, die bis zur verweigerten Hilfeleistung geht: Er hat ein Date mit Sean und will es unter keinen Umständen verpassen.94 Dafür nimmt er sogar den Tod eines Kommilitonen in Kauf.95 Obwohl seine Freunde Raymond und Donald in heller Aufregung sind, bleibt Paul kalt und desinteressiert, macht sich sogar über den Suizidversuch lustig: „He [Raymond, Anm. d.Verf.] looked like he was going to cry and gave this event (a Freshman suicide? oh, please) a dimension of unwarranted emotion. […] How did he do it, I wondered, heading toward his door, Raymond making weird breathing noises next to me. Try to O.D. on Sudafed96 and wine coolers? What provoked him? C.D. player conk out on him? Did they cancel ‚Miami Vice‘?“ (TRoA, S. 66f)

Kontinuierlich weigert er sich, Harry ins Krankenhaus zu fahren und besteht auf seinem pünktlichen Erscheinen beim Date mit Sean, wird von seinen Freunden aber schließlich gezwungen, beim Transport des bewusstlosen Harry behilflich zu sein. Während der Fahrt zum Krankenhaus hat er sogar die Dreistigkeit zu verlangen, für 94 Auch wenn der Erzähler selbst keinen Grund dafür angibt, weshalb er so penetrant auf seinem Date besteht, bietet sich als Erklärung eine übersteigerte Verlustangst an, die schon einsetzt, bevor die Beziehung überhaupt begonnen hat. Wie aus den vorangegangenen Seiten hervorgeht, ist Paul von seinem Liebhaber Mitchell, für den er seine Beziehung mit Lauren beendet hat, verlassen worden und nun fühlt er sich zurückgewiesen und einsam. Sean ist für ihn eine Chance auf ein neues Verhältnis, gleichzeitig aber auch Quelle der Angst vor erneuter Zurückweisung. 95 Später stellt sich jedoch heraus, dass Harry von kräftiger Konstitution ist und die Überdosis unbeschadet übersteht. Das ist zum Zeitpunkt der beschriebenen Szene allerdings nicht absehbar. 96 Ein in den USA erhältliches, frei verkäufliches Erkältungsmittel.

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den Kauf von Zigaretten anzuhalten, was seine Freunde ihm verweigern. Paul nimmt in seiner Arroganz den Selbstmordversuch des jungen Harry nicht ernst und behauptet abschätzig, „He’s just a Freshman. Freshmen don’t O.D.“ (TRoA, S. 70), als sei dies eine allgemeingültige Wahrheit. Paul ist derartig egoistisch, dass er die Gefahr einer Überdosis ignoriert. Ihm ist sein Date mit Sean wichtiger. Auch Paul zeigt damit sehr ausgeprägt die Verhaltensweise der Macht. Für Paul steht sein eigenes Wohlbefinden im Mittelpunkt und dafür ist der erfolgreiche Flirt mit Sean maßgeblich, so dass er mittels der Verhaltensdimension der Macht versucht, seine Ziele durchzusetzen. Obwohl die Situation für seinen Kommilitonen Harry akut lebensgefährlich ist, weigert Paul sich konsequent, Statusleistungen für Harrys Wohlbefinden zu erbringen. Pauls überhebliche Haltung wird auch in der Beziehung zu Sean offenbar. Ein Missverständnis zwischen den beiden führt zu ihrem Verhältnis. Während Paul denkt, Sean habe ihn zu einem mexikanischen Essen eingeladen („You wanna get a quesadilla?“, TRoA, S. 61), hat Sean ihn eigentlich nur nach einem Bier gefragt („so I ask him if he wants to go with me and get a case of beer“, TRoA, S. 62). So wie die Affäre der beiden beginnt, bleibt sie auch weiterhin missverständlich: Paul beschreibt auf den folgenden Seiten detailliert seine Beziehung zu Sean, geht ausführlich auf den Sex mit ihm ein und sieht die Affäre als „romance“ (TRoA, S. 96). Sean hingegen erwähnt die Affäre mit Paul in keinem einzigen seiner Kapitel. Er stellt ihn nur als flüchtigen Freund dar. Hier ist ein deutlicher Bruch zwischen den Perspektiven erkennbar. Während Paul regelrecht auf Sean und das sexuelle Verhältnis zu ihm fixiert ist, wird aus Seans Kapiteln keine sexuelle Verbindung zu Paul ersichtlich. Es ist für den Leser daher fraglich, ob Sean die Affäre verleugnet oder ob Paul sich in eine Liebesgeschichte hineinsteigert, die so gar nicht stattfindet. Diese Dissonanz lässt sich bis zum Ende des Romans nicht aufklären. Will man unterstellen, dass die Romanze zwischen den jungen Männern tatsächlich existiert und dass Sean die Beziehung einfach verschweigt, muss man vermuten, dass Paul in seiner Arroganz nicht bemerkt, dass Sean das Verhältnis ganz anders beurteilt. Er ist überzeugt von dessen Zuneigung („He liked me.“ TRoA, S. 107). Paul hingegen mag Sean in erster Linie, weil er einen guten Körper hat97 und ein Motorrad besitzt, er hat jedoch kein Interesse an seiner Persönlichkeit (TRoA, S. 98). Hier ist eine eklatante Parallele zu Sean und dessen Beziehung zu Lauren zu sehen. Auch Paul ist nur oberflächlich an Sean interessiert und stellt an späterer Stelle sogar fest, dass die beiden nichts verbindet, nicht einmal Sympathie: „I can’t help it: I don’t like Sean.“ (TRoA, S. 197, Hervorhebung im Original). 97 Paul ist Seans Lüge aufgesessen, er sei ein armer Farmjunge aus den Südstaaten und führt Seans gute Kondition auf die harte Farmarbeit zurück. Der Leser weiß jedoch, dass Sean Paul belogen hat und er weder aus dem Süden stammt – er kommt aus New York – noch jemals Farmarbeit hat leisten müssen – seine Familie ist äußerst wohlhabend.

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Im Vergleich der Beziehungsführung der Protagonisten macht sich erneut der sozialisierende Einfluss der Peergroup bemerkbar. Alle im Roman geschilderten Beziehungen bleiben oberflächlich und bindungsarm, was vermutlich der sozialen Norm der Promiskuität geschuldet ist. Im sozialen Umfeld der Romanfiguren ist ein schneller Partnerwechsel üblich, wobei die Auswahl der Kandidaten stets nach Kriterien wie Attraktivität und Verfügbarkeit sowie dem Grad der sexuellen Befriedigungsfähigkeit erfolgt. Liebe und Zuneigung sucht man als Leser vergeblich, da sie keine Parameter für eine Beziehungsaufnahme darstellen. So kann es nicht verwundern, dass die Figuren zwar beim jeweils Anderen Zuneigung zu erkennen glauben, selbst aber keine für ihren Partner zu entwickeln behaupten. Angesichts der unausweichlichen Trennung würde es für die Protagonisten Kränkung und Schmerz bedeuten, wenn sie Emotionen in eine Bindung investieren würden, die doch zum Scheitern verurteilt ist. Aber obwohl die Figuren eine Haltung der verweigerten Einfühlung aufrechterhalten und sich damit einem dauernden Prozess der Gefühlsarbeit aussetzen, kann dies nicht immer zum gewünschten Erfolg der Unverletzbarkeit führen. Der Abschnitt über Lauren hat gezeigt, dass sie sich zwar um Unnahbarkeit bemüht, von Seans Betrug und der Abtreibung ihres Kindes aber durchaus sehr erschüttert wird. Sean reagiert auf die Trennung von Lauren sogar mit selbstverletzendem Verhalten. Wie noch zu zeigen sein wird, kann auch Paul seine Haltung der Arroganz nicht dauerhaft aufrechterhalten. Der von Paul angestrebte Modus der Arroganz wird nicht nur durch sein Verhalten gegenüber anderen Figuren, sondern auch durch seinen Stil erkennbar. Als Erzähler verwendet er als einziger der drei Hauptfiguren fast durchgängig das „past tense“, was für seine Reflexionsfähigkeit spricht. Dies wird auch deutlich durch ein Kapitel, das fast ausschließlich in der zweiten Person verfasst ist und in welchem er sich selbst anspricht (TRoA, S. 268ff.). Durch die Verwendung des „past tense“ und die Selbstansprache wird Pauls Fähigkeit zur Wahrung von Distanz deutlich: Er hält Abstand, sowohl zu den Geschehnissen der Romanhandlung als auch zu den anderen Figuren. Passend zu dieser distanzierten Haltung bedient er sich eines komplexeren Stils als die anderen beiden Erzähler. Er verwendet viele Nebensätze, häufig das Gerundium und erzählt hypotaktischer als Lauren und Sean. Gerade durch die Verwendung eines komplexen Stils verhindert er die Einfühlung des Lesers, da die Geformtheit seiner Sätze und die Präzision seiner Ausdrücke den Inhalt überlagern. Der Ich-Erzähler Paul drückt sich sehr gewählt aus, will raffiniert und gebildet klingen und gibt sich bei jeder Formulierung größte Mühe. Selbst die zahlreich verwendeten Schimpfwörter und Flüche sind durchkomponiert und rhythmisch: „supremely ugly slutty Sophomore“ (TRoA, S. 11), „that awful fucked-out slut“ (TRoA, S. 29), „scrawny, ugly Drama-fag“ (TRoA, S. 59) oder „narcisstic little sonofabitch“ (TRoA, S. 117) mögen hier als Beispiele dienen. Bei diesen Flüchen fällt die Verwendung von Zischlauten und Plosiven besonders auf, was die Ausdrü-

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cke klingen lässt, als würden sie hervorgestoßen oder ausgespuckt; ihre Abfälligkeit und Pauls Arroganz werden dadurch nochmals betont. Eine weitere Auffälligkeit ist, dass der Ich-Erzähler Paul als einziger Emotionsworte verwendet, auf die Lauren und Sean größtenteils verzichten. Paul benutzt sie jedoch fast ausschließlich zur Beschreibung von anderen und wendet sie ausgesprochen selten auf sich selbst an. Während der Kennenlern-Phase mit Sean beschreibt er diesen beispielsweise als „embarrassed, confused“ (TRoA, S. 80) oder als „nervous and shy“ (TRoA, S. 87), nimmt Sean somit als Unterlegenen wahr, den er an homoerotischen Sex heranführen muss und dem gegenüber er die Position des selbstsicheren, überlegenen Mentors innehat. Zwar gibt Paul auch hin und wieder eigene Gefühle zu, z.B. Eifersucht (TRoA, S. 81), aber diese Stellen bleiben selten und es handelt sich stets um kurz aufflackernde Emotionen, die schnell wieder verschwinden. Selbst die spätere Trennung von Sean verläuft unspektakulär und emotionslos (TRoA, S. 208ff.). Nüchtern beschließen die beiden jungen Männer, sich zu trennen, auch wenn Paul andeutet, er habe Gefühle für Sean. Das Geständnis beeindruckt Sean allerdings kaum und Paul bleibt geknickt zurück. Gerade in dieser Situation muss Paul alle Anstrengungen aufbringen, um per Gefühlsarbeit seine Enttäuschung gegenüber Sean zu verbergen. Da Sean überdeutlich macht, kein Interesse an einer Fortführung des Verhältnisses zu haben, bleibt Paul nichts anderes übrig als zuzustimmen; um die Gunst eines Mannes zu buhlen, der ihn offensichtlich nicht will, wäre zu demütigend. Daher artikuliert er seine Emotionen nicht wörtlich, sondern sie sind vielmehr aus Pauls Körpersprache zu lesen: Er sucht Körperkontakt zu Sean, berührt dessen Bein, streichelt seine Wange. Auch aus seinen Körperbeschreibungen kann man als Leser Schlüsse ziehen – ihm wird schlecht und er friert. Diese Beschreibungen sind, ebenso wie bei Lauren, als auktoriale Textsignale zu verstehen, durch die am Erzähler vorbei eine andere Sicht auf die Sachlage vermittelt wird. Aus dieser Szene wird deutlich, dass Paul zwar stets den arroganten, unverletzlichen jungen Mann markiert, aber keineswegs so kalt und distanziert ist, wie er sich immer gibt. Hier wird der Bruch in seiner Persönlichkeit offenbar: Das zu Beginn seiner Erzählung thematisierte Unglück, das er empfindet, wird gegen Romanende bei der Trennung von Sean wieder aufgegriffen. Dazwischen bemüht sich Paul, eine Maske der Coolness und Unnahbarkeit aufrecht zu erhalten, die er dem Leser durch die gewählte Ausdruckweise zu vermitteln versucht und die er gegenüber anderen Romanfiguren durch zur Schau gestellte Kaltherzigkeit und Arroganz kommuniziert. 5.2.2 Schlussfolgerungen: Doppelte Entfremdungserfahrungen Die vorangegangene Analyse der multiperspektivischen Darstellung konnte zeigen, dass die Erzählung sowohl kontrastiv als auch korrelativ strukturiert ist. Die Kon-

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traste werden vor allem durch die unterschiedliche Wirklichkeitssicht der einzelnen Figuren erzielt: Die Perspektiven der Ich-Erzähler unterscheiden sich eklatant voneinander, oftmals sind sie kaum in Übereinstimmung zu bringen. Vor allem hinsichtlich der emotionalen Lage der Figuren ergeben sich grelle Dissonanzen: Lauren bildet sich ein, Victor zu lieben und er liebe sie, während er kaum noch weiß, wer sie ist; Sean bildet sich ein, Lauren liebe ihn, sie hingegen empfindet ihn als Nervensäge; Paul bildet sich ein, Sean habe Zuneigung zu ihm, der allerdings verleugnet die Affäre mit Paul komplett. Diese Struktur der Missverständnisse und der sich kontrastierenden Wirklichkeitserfahrungen findet sich in der gesamten Geschichte durch die Anordnung der Beiträge, die von einer auktorialen Instanz vorgenommen und nicht durch die homodiegetischen Erzählerfiguren selbst bestimmt wird. Durch weitere Wiederholungen in der Handlung und in der Motivik des Romans ergibt sich hingegen die korrelative Wirkung: Die Leitmotive Alkohol- und Drogenkonsum sowie Promiskuität sind strukturgebend für die Handlung und wiederholen sich regelmäßig; alle drei Haupterzähler ähneln sich in ihrer Beziehungsführung, die oberflächlich und bindungsarm bleibt; des Weiteren zeichnen sich die drei Hauptfiguren durch psychische Problematiken aus, die sich ähneln: Lauren durchlebt eine depressive Episode, Sean zeigt selbstverletzendes Verhalten und Paul ist ein unglücklicher, gebrochener Charakter. Dennoch ist ihr Leiden schwer nachvollziehbar. Schulte schreibt hierzu: „Die Figuren in ‚Einfach unwiderstehlich!‘ wissen zwar um die Hölle, in der sie leben und artikulieren auch ihr Leiden, nur sind sie davon keineswegs existenziell erschüttert. Gerade die Abwesenheit von wirklichem Schmerz führt die Deformation der Wirklichkeit vor.“98

Durch die konsequente Vermeidung reflexiver Thematisierung ihrer psychischen Verfassung stellen sich alle drei Haupterzähler zwar als unglückliche, deprimierte Figuren dar, jedoch nicht als tatsächlich fühlende. Wirklicher Schmerz wird von keinem der drei artikuliert,99 nicht einmal ein generelles Unbehagen an der erfahrenen Welt. Keiner der drei stellt das soziale Umfeld, in dem sie leben, in Frage, und keiner der drei verspürt eine Motivation, aus der „Hölle“ auszubrechen oder etwas zu verändern – die handlungsmotivierende Komponente von Emotion fehlt. Wird der Roman als eine Darstellung von Depression gelesen, ergibt dies jedoch durchaus Sinn: Die in Kapitel 3.3.1 erwähnte Entfremdungsdepression führt zu Identitäts-

98 Schulte, Adoleszenzroman und Postmoderne, S. 42. 99 Als einzige Ausnahme kann das leere Kapitel von Lauren verstanden werden, in welchem sie zwar ihren Schmerz nicht explizit ausdrückt, aber durch ihre kommunikative Verweigerung den Schluss auf großen Schmerz zulässt.

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losigkeit, Gefühllosigkeit und Apathie, alle drei Charakteristika, die sich bei den Protagonisten von The Rules of Attraction durchgängig nachweisen lassen.100 Fürchtete Clay aus Less Than Zero noch um seine Identität, so haben die Figuren aus The Rules of Attraction sie schon längst verloren. Sie sind Stereotype der Collegewelt, verhalten sich ultrakonform zu den vorgegebenen Normen des studentischen Umfelds und zeigen sich charakterlos, ohne Ecken und Kanten. Die Protagonisten stellen sich nicht als unverwechselbare Einzelidentitäten dar, sondern verfügen bestenfalls über eine Gruppenidentität. Hierzu trägt die multiperspektivische Struktur des Romans maßgeblich bei. Durch die raschen Perspektivenwechsel und die oftmals recht kurzen Kapitel kann der Leser keine der Figuren näher kennenlernen. Er befindet sich in einem pausenlosen ‚Schleudergang‘: Unvermittelt wird er in eine Perspektive hineingeworfen und genauso unvermittelt wieder herausgerissen, wobei die einzelnen Perspektiven anscheinend wahllos aufeinander folgen.101 So ist es dem Leser kaum möglich, Sympathien für die Protagonisten zu entwickeln, mit ihnen zu fühlen und sich mit ihnen zu identifizieren. Die Romanfiguren bleiben für den Leser blass. So wie die Figuren untereinander eine Haltung der verweigerten Einfühlung einnehmen, bleibt schließlich auch dem Leser nichts anderes übrig. Hin- und hergeworfen im Schleudergang der Erzählung bleibt er größtenteils ausgeschlossen von der Figurenpsyche, und die Möglichkeit zur Einfühlung wird ihm verweigert. Auf diese Weise entsteht der Eindruck der Identitätslosigkeit der Figuren. Auch Schulte bemerkt diesen Effekt der Erzählung und konstatiert hierzu: „Die Figuren leiden weder an der Wirklichkeit, noch an ihrer Identitätslosigkeit.“102 Während Clay aus Less Than Zero an der Gefahr, seine Identität zu verlieren, leidet und sich vor dem Verlust fürchtet, sind die Figuren aus The Rules 100 Dabei versteht es sich von selbst, dass der Roman in dieser Arbeit nicht als klinisches Dokument gelesen wird. Das Ziel ist es nicht, die Entfremdungsdepression als psychiatrische Diagnose für den Roman und seine Figuren zu stellen, sondern vielmehr die Züge einer Entfremdungsdepression aufzuzeigen, die sich im Textgeschehen nachweisen lassen. Dabei werden weder der Text noch seine Figuren als Patienten behandelt, für die es einen Befund zu diagnostizieren gilt, sondern das Phänomen der Entfremdungsdepression als Interpretationshilfe verwendet, womit die Wirkung des Textes auf den Leser verständlich gemacht werden soll. 101 Wie zu Beginn des vorliegenden Kapitels bemerkt, lässt sich zwar im Hinblick auf Lauren, Sean und Paul jeweils eine lose Geschichte erkennen, jedoch sind die Kapitel der anderen Erzähler zur Ergänzung des Gesamtzusammenhangs notwendig. Laurens Erzählung allein ergibt keine Handlung, genauso wenig wie Seans oder Pauls – erst in der Verbindung der drei wird eine Handlung erzeugt. Die Reihenfolge der drei Hauptperspektiven erscheint jedoch willkürlich und keiner kompositorischen Grundlage zu folgen. 102 Schulte, Adoleszenzroman und Postmoderne, S. 39.

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of Attraction dazu nicht mehr im Stande: Was in Less Than Zero droht, passiert in The Rules of Attraction. Die Erzählung ist somit als Roman einer Entfremdungsdepression lesbar. Alle in The Rules of Attraction vermittelten Perspektiven tragen zum Gesamtbild einer Entfremdungsdepression bei, denn sie sind letztlich nur verschiedene Variationen desselben Syndroms. Der Gewinn des multiperspektivischen Erzählens liegt somit nicht darin, unterschiedliche Wirklichkeitssichten auf dieselbe Sache aufzuzeigen, wie Vera und Ansgar Nünning in ihrer eingangs erwähnten Definition multiperspektivischen Erzählens festhalten, ganz im Gegenteil: Im Fall von The Rules of Attraction führt das multiperspektivische Erzählen den gemeinsamen Nenner der Erzählung vor. Durch die Wiederkehr des ImmerGleichen wird Multiperspektivität nur ‚vorgetäuscht‘; zwar unterscheiden sich die Figurenperspektiven subjektiv hinsichtlich des ‚Erlebens‘, objektiv ist es für den Leser jedoch stets das Gleiche: Partys, Drogen, Sex. Indem verschiedene Erzählerfiguren über die gleichen Erlebnisse berichten, wird durch das multiperspektivische Verfahren die Entfremdungsdepression als das Lebensgefühl einer Generation vermittelt. Gleichzeitig erzeugt das multiperspektivische Erzählen zwar Entfremdung zwischen den Romanfiguren und dem Leser, aber auch Identifikation mit dem Textgeschehen. Während durch die Unmöglichkeit der Einfühlung des Lesers in die einzelnen Figuren ein Gefühl der Entfremdung erzeugt wird, wird durch die strukturelle Einbindung des Lesers, durch die Notwendigkeit der Synchronisierung der Textbestandteile durch den Leser, eine Identifikation mit dem Textgeschehen hergestellt. Der Leser erfährt sich selbst als unverzichtbare Instanz für die Zusammenführung der einzelnen Erzählstränge und wird so durch seine eigene Syntheseleistung in das Textgeschehen eingebunden. Somit hält der Roman für den Leser zwei divergierende Leseerfahrungen bereit: einerseits eine Identifikation mit dem Textgeschehen, andererseits eine Entfremdung von den Erzählerfiguren. Der Identifizierungsprozess, der durch The Rules of Attraction angeregt wird, ist im Vergleich zu Less Than Zero also grundlegend anders. Während dort der Leser zum Voyeur gemacht wird, aber gerade durch die gemeinsame Beobachterhaltung, die durch die wachsenden Zweifel des Protagonisten den Leser in eine Nähe zu ihm rückt, die Chance auf eine Identifizierung mit ihm besteht, ist der Leser in The Rules of Attraction viel mehr als ein passiver Beobachter. Zwar wirken auch hier die Mechanismen der verweigerten Einfühlung und das emotionslose Erzählen als Erschwernis bei der Identifizierung, aber die Textstruktur verlangt vom Leser ein aktives Einbringen. Insofern gewährleistet der Text gerade wegen der strukturellen Abstoßung des Lesers, die das Kennenlernen der Figuren und damit die Identifizierung mit ihnen verhindert, dessen Einbindung. Entfremdung und Identifikation bedingen sich somit gegenseitig.

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Insbesondere hinsichtlich der erfahrenen Entfremdung sind im Vergleich zu Less Than Zero stilistische Unterschiede feststellbar. Clay bedient sich als IchErzähler einer sehr reduzierten, an alexithyme Kennzeichen erinnernden Sprache. In The Rules of Attraction ist ihm nur Lauren als Erzählerin darin ähnlich. Der IchErzähler Paul hingegen ist das totale Gegenteil, er drückt sich gewählt aus und bemüht sich um einen gebildet klingenden Erzählstil. Sean liegt stilistisch zwischen Lauren und Paul mit seinem umgangssprachlichen Gestus. Aber auch ohne die Verwendung alexithymer Merkmale versuchen die Erzähler Sean und Paul, ihre emotionale Verfassung dem Leser vorzuenthalten. Während Sean einfach konsequent alles Emotionale ignoriert, ist es gerade Pauls gebildet klingender Duktus, mit dem er eine Leseridentifikation erschwert. Somit sind alle drei Ich-Erzähler Clay darin ähnlich, dass sie ihre emotionale Verfassung zu verbergen suchen. Durch auktoriale Textsignale wird dem Leser jedoch ein anderer Eindruck vermittelt. Wie Clay sind die drei Protagonisten aus The Rules of Attraction nicht gefühlskalt, sondern bedienen sich nur einer emotionslosen Erzählweise, die sich zwar von der aus Less Than Zero unterscheidet, schlussendlich aber zum gleichen Resultat führt: der Unmöglichkeit der Einfühlung und somit der Entfremdung zwischen Leser und Protagonisten. Allerdings ist trotz dieser Parallele ein grundlegender Unterschied zwischen beiden Romanen zu konstatieren. In Less Than Zero ist die Emotionslosigkeit des Protagonisten, bedingt durch die Struktur des sozialen Umfelds und seine psychologische Disposition, eine Schutzfunktion, die ihn vor Verletzung bewahren soll. In The Rules of Attraction sind die sozialen Strukturen sehr ähnlich geartet. Auch hier ist das Milieu von Macht-Handlungen und Egozentrismus geprägt, die Figuren kreisen um sich selbst und sind ausschließlich am eigenen Wohlergehen interessiert. Trotzdem wäre es überinterpretiert, den Protagonisten die bewusste Entscheidung zur emotionslosen Haltung zu unterstellen, so wie Clay sie in Less Than Zero trifft. Keine Stelle des Romans lässt darauf schließen, dass einer der drei eine bewusste, reflektierte Entscheidung zur Emotionslosigkeit getroffen hätte. Die emotionslose Haltung scheint eher in der Struktur des sozialen Umfelds selbst zu liegen, die die Figuren dazu disponiert. Sowohl Lauren als auch Sean stellen fest, dass es in ihrer Welt unmöglich sei, jemals jemand anderen wirklich zu kennen: [Lauren zu Sean:] „No one ever knows anyone. Ever. You will never know me.“ (TRoA, S. 260, Hervorhebung im Original) [Sean zu Paul:] „No one will ever know anyone. We just have to deal with each other. You’re not ever gonna know me.“ (TRoA, S. 291, Hervorhebung im Original)

Die Protagonisten des Romans haben sich mit der Unmöglichkeit zwischenmenschlicher Bindung abgefunden und verhalten sich somit konform zu den sozialen Be-

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dingungen. Dementsprechend kann auch ihr Verhalten als Maßnahme zum Schutz des Selbst interpretiert werden, denn wenn sie in einem Umfeld leben, in welchem Gefühllosigkeit die Norm ist, wäre es mit großer Gefahr verbunden, als einziger gegen diese Norm zu handeln. Verletzungen und Kränkungen wären die unausweichliche Folge. Auch Lauren, Sean und Paul haben also Verhaltensweisen entwickelt, die sie vor Demütigungen bewahren sollen, nur sind sie sich weit weniger als Clay über diese Umgangsformen bewusst. Damit sind auch die Figuren aus The Rules of Attraction einem dauernden Prozess der Gefühlsarbeit ausgesetzt. Die gesellschaftlichen Normen, bedingt durch die dominante Verhaltensdimension der Macht, schreiben Gefühlsregeln vor, denen zufolge Emotionalität keinen Raum im sozialen Miteinander der Collegewelt haben kann. Auch Lauren, Sean und Paul passen sich durch Gefühlsarbeit an die gegebenen Umstände an. Jedoch erwecken die Protagonisten nicht den Anschein, sich dieses Prozesses bewusst zu sein. Einige der beschriebenen Szenen, wie die Konflikte zwischen Lauren und Sean sowie Paul und Sean jeweils nach der Trennung, lassen darauf schließen, dass sie sich um Unnahbarkeit und Unverletzlichkeit bemühen und Emotionen unterdrücken; ihre Körpersprache vermittelt aber ein anderes Bild. Die durch auktoriale Kommentare eingespeisten somatischen Reaktionen der Figuren lassen einen Rückschluss auf Emotionen zu, die im Text nicht wörtlich benannt werden. Jedoch reflektieren die Protagonisten zu keinem Zeitpunkt der Erzählung über diese augenscheinliche Relation, sie geben dem Leser keinen Hinweis, diese Gefühlsarbeit wissentlich zu vollziehen. Während Clay gegen Romanende den Leser darüber aufklärt, absichtlich nicht fühlen zu wollen, bleiben die Figuren aus The Rules of Attraction eine Erklärung schuldig.

5.3 E IN ERSTES

KLEINES

F AZIT

Wie die Analyse der beiden frühen Romane von Ellis gezeigt hat, konnte die Eingangsthese des vorliegenden Kapitels, die Emotionslosigkeit der Romanfiguren sei eine Maßnahme zum Schutz des Selbst, bestätigt werden. In beiden Romanen ist die äußere Realität der Lebensumwelt der Protagonisten dergestalt konstruiert, dass sie Strategien entwickeln müssen, um sich selbst vor Verletzung und Demütigung zu schützen. Beide Romane zeichnen das Bild einer Gesellschaft, die von Macht dominiert wird: Lieblose familiäre Verhältnisse, vermeintliche Freundschaften, die durch Illoyalität und Bindungsarmut gekennzeichnet sind, die Suche nach dem nächsten Kick, sei es durch Drogen- und Alkoholmissbrauch oder sexuelle Erfahrungen, bestimmen das Dasein der Romanfiguren. Unfähig, aus diesem Umfeld auszubrechen, passen sich die Protagonisten an ihre Umwelt an und konstruieren sie durch kritiklose Adaption selbst mit. Dabei sind psychische Störungen die Folge: Clay

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entwickelt eine Angststörung, Lauren eine Depression, Sean selbstverletzendes Verhalten, Paul zumindest narzisstische Züge. Dabei steht Less Than Zero ganz im Zeichen der Angst vor Identitätsverlust, wohingegen The Rules of Attraction als Roman einer Entfremdungsdepression gelesen werden kann. Trotz dieses konzeptionellen Unterschieds ist allen vier Figuren gemein, dass sie sich selbst Emotionalität versagen oder zumindest die Artikulation von Emotionen unterdrücken. Die Protagonisten sind nicht gefühlskalt, aber sie sind emotionslos: Sie vermeiden Emotionsworte, wollen Gefühle nicht zugeben, versuchen sie vor dem Leser zu verbergen und verhalten sich gegenüber anderen Romanfiguren kalt und verweigern ihre Einfühlung. Verweigerte Einfühlung ist auch für die beiden nachfolgenden Texte American Psycho und Glamorama kennzeichnend, jedoch unterscheiden sich die Hauptfiguren dieser Romane eklatant von Ellis’ frühen Veröffentlichungen. Die folgenden Analysen werden zeigen, dass die Charaktere des dritten und vierten Romans nicht nur emotionslos, sondern gar affektlos erzählen.

6. Affektloses Erzählen – Lust und Qual

Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate. DANTE ALIGHIERI/LA DIVINA COMMEDIA

„ABANDON ALL HOPE YE WHO ENTER HERE“ (AP, S. 3, Kapitalisierung im Original) – mit diesem Satz beginnt Ellis’ dritter Roman American Psycho.1 Der Einstieg mit einem Dante-Zitat ist eine Warnung an den literarisch gebildeten Leser, der die Anspielung auf die Divina Commedia erkennt. Sie bereitet den Leser auf die Hölle des Romans vor: Was auf den folgenden Seiten kommt, wird für den Leser eine Qual sein. Ellis verspricht mit diesem Hinweis nicht zu viel: Vergewaltigung, Folter, Mord, Kannibalismus, Nekrophilie – ein Schreckensszenario, das Dantes Inferno würdig ist. Im Zentrum: Patrick Bateman, Wall Street Broker und Serienmörder, der „boy next door“ (AP, S. 11) und zugleich ein „fucking evil psychopath“ (AP, S. 20), eine janusköpfige Figur, die den Leser mit ihrer Gefühlskälte, ihrer Mitleidlosigkeit, ihrer Grausamkeit schockiert. Wie die folgende Analyse zeigen wird, ist Bateman ein affektloser Ich-Erzähler und ein affektloser Protagonist – er erzählt nicht nur affektlos, er handelt auch so. Er kennt weder Schuld noch Moral, weder Güte noch Gnade: Bateman ist resistent gegen Emotionen. Im Vergleich dazu steht der Nachfolgeroman Glamorama,2 der American Psycho im Hinblick auf das Leitmotiv der Gewalt sehr nahe kommt. Auch Glamorama hätte mit dem Dante-Zitat beginnen können, denn für diesen Roman kann der Leser ebenfalls keine Hoffnung auf ein gutes Ende bewahren: Die Blutherrschaft der Terrororganisation, in deren Fänge der Protagonist Victor Ward gerät, kennt keine Gnade. Dennoch bestehen zwischen den beiden Figuren eklatante Unterschiede, vor allem in Hinblick auf ihren Umgang mit Emotionen. Victor leidet und quält sich an der Gewalt, an deren Ausübung er

1

Von nun an mit der Sigle AP abgekürzt.

2

Im Folgenden mit der Sigle G versehen.

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beteiligt ist; jedoch ist er nicht in der Lage, sich vom Terror abzuwenden. Er bleibt der ewige Mitläufer. Die Parallelen, aber vor allem die Unterschiede beider Romane hinsichtlich der Affektivität der Figuren, der narrativen Affektdarstellung und der Affekterregung beim Leser sollen im folgenden Kapitel herausgearbeitet werden. Dabei wird auf eine Analyse der inhaltlichen Leitmotive verzichtet; Ellis bleibt bei der Konzeption von American Psycho und Glamorama bei seinen bekannten Mustern aus Drogen, Sex und Gewalt. Auch eine Anbindung an die soziologischen Theorien, die im vorigen Kapitel eine hilfreiche Methode zur Erklärung des Verhaltens der Protagonisten waren, wird in diesem Kapitel nicht erfolgen; Ellis siedelt seine Romane erneut im Milieu der Schönen und Reichen an, so dass die sozialen Umstände aus Less Than Zero und The Rules of Attraction auf American Psycho sowie Glamorama übertragbar sind. Im Interessenfokus stehen nun stärker narratologische und stilistische Fragen. Waren die Vorgängerromane noch emotionslos erzählt, wendet sich Ellis nun einer affektlosen Erzählweise zu, die sich bei American Psycho (Kap. 6.1) vor allem durch endlos scheinende, detailgenaue Beschreibungen auszeichnet. In Glamorama (Kap. 6.2) hingegen macht Ellis erneut eine Kehrtwende und baut erstmals eine kohärente, wenn auch schwer durchschaubare Handlung auf, in der das unzuverlässige Erzählen und damit verbunden eine affektive Unglaubwürdigkeit der Hauptfigur im Vordergrund steht.

6.1 A MERICAN P SYCHO Der autodiegetische Erzähler des Romans American Psycho hat zwei Gesichter. Über einen Zeitraum von knapp zwei Jahren3 markiert Patrick Bateman nach außen den erfolgreichen Wall Street Broker. Der Leser erlebt ihn jedoch nie bei der Arbeit, sondern beobachtet ihn bei der täglichen Körperpflege und seinem enormen Sportpensum, begleitet ihn in Szene-Restaurants und Clubs, verfolgt ihn mit seiner Verlobten Evelyn und seiner Geliebten Courtney, mit Arbeitskollegen und Bekannten. Im krassen Gegensatz zu dieser für Yuppie-Verhältnisse normal erscheinenden Fassade ist Bateman aber auch ein Serienkiller, der quer durch die Gesellschaft foltert und mordet. Ihm fallen Prostituierte und Ex-Freundinnen, Bettler und Arbeitskollegen, Schwarze und Asiaten, Homosexuelle, Taxifahrer und Polizisten, Kinder und Hunde zum Opfer. Diese Mischung aus Alltagssequenzen sowie Folterund Mordsequenzen ist dabei nicht als sich entwickelnde Handlung aufgebaut. Wie schon in Less Than Zero und The Rules of Attraction setzen sich die einzelnen 3

Die Erzählung beginnt im April 1987, Bateman ist 26 Jahre alt. Die Geschichte endet im Februar des Jahres 1989 mit der Inauguration George Bushs als Nachfolger von Ronald Reagan. Dies ergibt eine Handlungsdauer von etwa 22 Monaten.

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Kapitel mosaikartig zusammen, folgen scheinbar willkürlich aufeinander. Allerdings gibt Ellis auch für American Psycho einen Hinweis, wie der Roman zu lesen sei. Dies beginnt schon beim Titel des Romans, der auf den Inhalt in doppelter Hinsicht vorbereitet. Der Titel sowie die präludierenden Zitate vor Romanbeginn sind im Folgenden Gegenstand einer näheren Betrachtung. Doppeldeutige Hinweise Hinsichtlich des Romantitels drängen sich vor allem zwei Assoziationen auf. 1. Zunächst spielt er auf Robert Blochs Klassiker Psycho von 1959 und die direkt im Jahr 1960 anschließende Verfilmung durch Alfred Hitchcock an, dessen Protagonist Norman Bates nicht nur eine Verwandtschaft im Nachnamen zu Patrick Bateman aufweist, sondern der ebenfalls über zwei Gesichter verfügt: Nach außen ist er der schüchterne Motelbetreiber, der unter der Kontrolle seiner tyrannischen Mutter steht. Jedoch leidet die Hauptfigur an einer dissoziativen Identitätsstörung, die seine Persönlichkeit in Sohn und Mutter aufspaltet. Die Mutter brachte er vor Jahren aus Eifersucht auf ihren Liebhaber um. Um trotzdem nicht auf sie verzichten zu müssen, stahl und konservierte er ihren Leichnam. In die Rolle der Mutter dissoziierend, ermordet er fortan die jungen Frauen, an denen er sexuelles Interesse hat. Bates’ zwei Gesichter sind somit äquivok: Einerseits ist er – hier die Parallele zu Bateman – unauffälliger Bürger und gleichzeitig Serienmörder, andererseits hat er zwei dissoziative Persönlichkeiten, die voneinander wissen und miteinander interagieren: Er ist Mutter und Sohn in Personalunion. Folglich bereitet der Romantitel nicht nur darauf vor, dass man es als Leser mit einer ambiguen Figur zu tun bekommen wird, sondern verweist durch die Anlehnung an Psycho auch auf die Morde, die sich im Handlungsverlauf ereignen werden. 2. Des Weiteren liegt die Assoziation mit dem geflügelten Wort American Dream und im Umkehrschluss auch mit dessen Antithese American Nightmare nahe. Diese Analogie verweist im zeitgeschichtlichen Kontext des Romans auf die (gescheiterten) Träume, Werte und Ziele, welche die Reagan-Ära hervorbrachte. Unter dem Schlagwort „Reaganomics“ ist heute die Wirtschaftspolitik Ronald Reagans bekannt, der durch massive Steuersenkungen die US-amerikanische Ökonomie anzukurbeln hoffte, für die er im Gegenzug aber die Sozialausgaben senken musste, um den Staatshaushalt auszugleichen. Das Resultat war eine immense soziale und wirtschaftliche Schere, die zwischen Arm und Reich entstand. Während die Reichen immer reicher wurden, wurden die Armen immer ärmer. Somit wäre der Titel als Sozial- und Gesellschaftskritik zu lesen, als Verweis auf die desolaten gesellschaftlichen Zustände im Amerika der 80er Jahre.

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Clare Weissenberg schlägt in ihrer Dissertation noch eine andere Lesart vor, nämlich Bateman als Anlehnung an den Comic-Helden Batman zu verstehen. 4 Auch hier ist der Verweis auf zwei unterschiedliche Identitäten, vereint in einer Person, offensichtlich. Bruce Wayne, Multimillionär und Inhaber der Wayne Corp., ist tagsüber Playboy und Lebemann, nachts hingegen verwandelt er sich dank Hightech-Ausrüstung in den verbrecherjagenden Batman, der seiner Stadt als Beschützer und Rächer dient. Gleichzeitig sind auch die Batman-Comics sehr gesellschaftskritisch, spielt die Handlung doch in der dystopischen und moralisch verkommenen Metropole Gotham City, die als Analogon für jede beliebige Großstadt verstanden werden kann. Die gedanklichen Verknüpfungen, die der Titel im Leser wecken soll, sind bei allen drei Referenzen die gleichen: die Existenz von sich abstoßenden Doppelidentitäten, einem geheimen Leben hinter der Fassade und Kritik an der Fassade. Das Wort „American“ im Titel macht, wie Voßmann richtig bemerkt, das Phänomen des Psycho(pathen) zu einem gesamtamerikanischen Ereignis, charakterisiert es von einem „personalen zum nationalen Zustand“5 und gleichzeitig individualisiert das Wort „Psycho“ das amerikanische Problem der Desozialisierung und der Desintegration der Gesellschaft zu einer privaten Angelegenheit. Diese gesellschaftlichen Zustände kann sich der Protagonist Bateman zunutze machen, um seine persönlichen Triebe auszuleben; gesamtamerikanisches Ereignis und private Angelegenheit werden auf diese Weise zusammengeführt.6 Diesen gesellschaftskritischen Anspruch seines Romans macht Ellis noch vor Romanbeginn anhand eines Zitats aus Fjodor Dostojewskis Notes from Underground7 explizit, aus welchem er einen kurzen Abschnitt dem Roman voranstellt. 4

Weissenberg, Clare: This is not an Exit: Reading Bret Easton Ellis, Disseration auf Microfiche, University of Essey 1997. S. 214. Bateman wird im Roman übrigens tatsächlich zwei Mal mit dem Nachnamen Batman angesprochen (AP, S. 206 und 207). Bezüglich der Assoziation mit Batman wendet Flory zwar ein, der Name Bateman sei von Ellis nicht ursprünglich für Patrick, sondern für seinen jüngeren Bruder Sean erfunden worden, der in The Rules of Attraction eine der Hauptfiguren war und ebenfalls über zwei Gesichter verfügte – nach außen den mittellosen Studenten aus dem Süden, in Wahrheit jedoch schwer reicher Sohn einer Familie der New Yorker Upperclass – weshalb der Name für American Psycho keine Rolle spiele (Flory, Out is in, S. 221); dem lässt sich jedoch entgegensetzen, dass Ellis keinesfalls gezwungen war, Seans Bruder Patrick mit der Hauptrolle für American Psycho zu besetzen. Er hätte sich umstandslos einen anderen Protagonisten mit einem ähnlich motivbehafteten Nachnamen ausdenken können.

5

Voßmann, Paradise Dreamed, S. 115.

6

Young, „The Beast in the Jungle“, S. 121.

7

Dass Ellis sich eines Zitats aus Dostojewskis Notes from Underground (1864) bedient, kann auch als gattungstheoretischer Hinweis verstanden und der Text als Confessio gele-

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„Both the author of these Notes and the Notes themselves are, of course, fictional. Nevertheless, such persons as the composer of these Notes not only exist in our society, but indeed must exist, considering the circumstances under which our society has generally been formed. I have wished to bring before the public, somewhat more distinctly than usual, one of the characters of our recent past. He represents a generation that is still living out its days among us. In the fragment entitled “Underground” this personage describes himself and his views and attempts, as it were, to clarify the reasons why he appeared and was bound to appear in our midst. The subsequent fragment will consist of the actual “notes”, concerning certain events in his life.“ (AP, S. V, Hervorhebungen im Original)

Damit macht Ellis schon vor der ersten Romanseite zweierlei klar: Erstens ist die Hauptfigur, obwohl fiktiv, der Realität der amerikanischen Gesellschaft der 80er Jahre entlehnt, und zweitens ist dieser Protagonist als Repräsentant einer gesamten Generation zu sehen, nämlich der Reagan-Ära. Damit verdeutlicht Ellis, dass er mit seinem Romancharakter Bateman nicht die Ausnahmeerscheinung eines Serienmörders beschreiben möchte, sondern vielmehr eine Zustandsbeschreibung der Gesellschaft vorlegt, für die Batemans Grausamkeiten als Metapher stehen. Weiter zitiert Ellis die Talking Heads8 aus dem Song „(Nothing But) Flowers“, das 1988 auf dem Album Naked erschien: „And as things fell apart / Nobody paid much attention“ (AP, S. V). Dieser Song beschreibt den Verfall Amerikas; wo vormals vermeintliche Errungenschaften der amerikanischen Zivilisation prangten – Fabriken, Shopping Center, Parkplätze – blühen nun Blumen. Dies wird jedoch nicht als Rückkehr des Paradieses auf die Erde verstanden, sondern als Strafe. Der Song endet mit den Worten „Don’t leave me stranded here, I can’t get used to the lifestyle“. Der kurze Ausschnitt aus dem Liedtext, den Ellis als Epigraf verwendet, verweist somit einerseits auf den Verfall der Gesellschaft, andererseits aber auch darauf, dass dieser Umstand niemanden zu kümmern scheint. Diese Lesart lässt sich sen werden. Gegen diese Lesart spricht jedoch der Mangel an formaler Gestaltung: Die Leseransprache fehlt genauso wie ein erklärender Einstieg. Einzig Batemans Bemerkung „[t]his confession has meant nothing…“ gegen Ende des Romans (AP, S. 377, Hervorhebung im Original) bindet an das literarische Bekenntnis an, jedoch indem es seine Bedeutung zunichtemacht. Zudem setzt ein konfessioneller Charakter die Aufrichtigkeit des Erzählers voraus, da andernfalls die Beichte ihren Sinn verlöre; die Glaubwürdigkeit des Berichts ist jedoch in Zweifel zu ziehen (s. die Ausführungen zur Unzuverlässigkeit der Erzählerfigur unter Patrick Bateman: Unzuverlässiger Ich-Erzähler, eindimensionaler Protagonist). Da die Gattungsfrage für die vorliegende Arbeit nichts beitragen kann, wird im Folgenden nicht weiter darauf eingegangen. 8

Dabei handelt es sich um eine US-amerikanische Band, die von 1975-1991 bestand und zu den einflussreichsten und bedeutendsten Bands der USA zählte. Vor allem in den 80er Jahren feierte die Band große Erfolge.

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ohne weiteres auf American Psycho übertragen, wo Obdachlose an jeder Straßenecke zum Erscheinungsbild der Stadt New York gehören, Batemans Mordopfer nicht vermisst werden und er selbst nicht als Verbrecher gejagt wird. Die Dinge fallen auseinander, aber niemand bemerkt es. Dies spiegelt sich ebenfalls in der von Ellis für den Roman gewählten Struktur wider. Routine und Gewalt Die Romanstruktur ist ebenso zerfallen wie die gesellschaftlichen und moralischen Zustände in American Psycho. Die einzelnen, im Durchschnitt etwa sechseinhalb Seiten langen Kapitel (insgesamt sind es 60 Kapitel) folgen meist ohne Bezug zum vorherigen Kapitel aufeinander und ergeben fragmentarisch eine lose zusammenhängende Verbindung diverser Momentaufnahmen. Die Reihenfolge scheint auf den ersten Blick willkürlich gewählt zu sein, jedoch lässt sich Flory zufolge ein ungefährer Handlungsstrang herausarbeiten, der das „Auseinanderbrechen des Protagonisten“ 9 thematisiert. Im ersten Drittel des Romans wird demnach hauptsächlich die Oberflächlichkeit des Milieus charakterisiert, in welchem Bateman sich bewegt. Im zweiten Drittel wird auf die Gleichheit und Austauschbarkeit der Romanfiguren fokussiert und im dritten Drittel wird schließlich Batemans Triebhaftigkeit 10 ins Zentrum gerückt, die ihren Ausdruck in seinen Gewalttaten findet. Dabei hält sich Flory an die von der Kritik vorgegebene Unterteilung der Kapitel in „boredom“- und „violence“- oder „disgust“-Kapitel.11 Die „boredom“- oder treffen9

Flory, Out is in, S. 185.

10 Flory verwendet an dieser Stelle den Ausdruck „innere Qualen“ (ebd.), den ich jedoch für höchst fragwürdig erachte. Da Flory nicht erläutert, wie er zu dem Schluss kommt, dass Bateman innere Qualen erleide, entscheide ich mich für den Begriff „Triebhaftigkeit“, der auch ohne das Vorhandensein von inneren Qualen zutreffend sein dürfte. 11 Ebd., S. 183. Obwohl Flory sich der terminologischen Schwierigkeit dieser Unterteilung bewusst ist, da er bemerkt, dass sich der Ausdruck „violence“ auf die Handlungsebene bezieht, „boredom“ hingegen eher das Gefühl des Rezipienten beim Lesen der ellenlangen Auflistungen von Markenartikeln und Personen beschreibt, bleibt er bei dieser erstmals von Norman Mailer in seinem Vanity Fair-Aufsatz vertretenen Einteilung. Er schlägt jedoch vor, für künftige Arbeiten Stephen Busoniks Empfehlung einer Einteilung in „boredom“ und „disgust“ zu folgen (Busonik, Stephen: Epistemic Structuralism in the Postmodern Novel: The Examples of William Gaddis, J.G. Ballard, and Bret Easton Ellis, Dissertation auf Microfiche, Ohio State University 1993. S. 234). Warum er sich dennoch wenig selbstbewusst für die etablierte, aber offensichtlich unlogische Unterteilung Mailers entscheidet, wird nicht ausreichend begründet. Die einzelnen Kapitel hinsichtlich der antizipierten Leserreaktion zu unterscheiden, erscheint mir jedoch problematisch, da weder Mailer noch Flory klarstellen, ob sie den empirischen Leser meinen, über den nur schwerlich Aussagen getroffen werden können, oder von einem impliziten oder Modell-

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der Routine-Kapitel beschreiben Batemans Alltagsleben, beinhalten Treffen mit Bekannten, seiner Verlobten oder seiner Geliebten, stellen Restaurant- und Clubbesuche, seine Körperpflege, sein Markenbewusstsein und sogar seinen Musikgeschmack ausführlich dar. Wie Flory treffend bemerkt, sind diese Routine-Kapitel den meisten Kapiteln aus Less Than Zero sehr ähnlich. Hier wie dort taumelt der Protagonist von einer Party zur nächsten, nimmt Drogen, vergnügt sich mit Mädchen, verschwendet Zeit und Energie mit Freunden, auf die er nur wenig Wert legt und die er im Grunde kaum kennt. Die Gewalt-Kapitel hingegen unterscheiden sich eklatant von den Gewaltdarstellungen in Less Than Zero. Zwar spart auch Less Than Zero nicht mit Beschreibungen von Grausamkeiten, jedoch bleibt Clay stets in der Rolle des Beobachters (vgl. Kap. 5.1.4), wohingegen Bateman selbst zum Täter wird. Diesbezüglich stellt Flory fest, dass die Gewaltdarstellungen in Less Than Zero durch Leerstellen gekennzeichnet sind,12 da Clay immer dann den Blick abwendet, wenn die Situation für ihn zu schlimm wird. Der Leser muss diese Stellen imaginativ selbst ausfüllen. American Psycho hingegen verfolgt eine Politik der gnadenlosen Konfrontation mit der Gewalt: „Während Ellis dem Leser in Less Than Zero also noch die Möglichkeit gelassen hat, Gewalt als ‚das Andere‘ zu betrachten, nimmt er ihm in American Psycho diese Möglichkeit, indem er den Leser durch die Erzählperspektive zwingt, sich mit dem Gewaltausübenden zu identifizieren.“13

Die Gewalt-Kapitel nehmen zwar nur fünf bis zehn Prozent des gesamten Romans ein,14 sind aber in ihrer schonungslosen Explizität für den Leser schwer zu verkraften.15 Einer der Gründe dafür ist die von Norman Mailer scharf kritisierte Eindimensionalität des Erzählers,16 der Themengegenstand des nächsten Abschnitts ist. Patrick Bateman: Unzuverlässiger Ich-Erzähler, eindimensionaler Protagonist Auch Patrick Bateman ist, ebenso wie Clay, ein autodiegetischer Erzähler, steht also selbst im Mittelpunkt seiner eigenen Erzählung. Ob er als zuverlässiger oder unzuverlässiger Erzähler anzusehen ist, wird in der literaturwissenschaftlichen Leser sprechen. Daher schlage ich vor, bei der Einteilung auf inhaltlicher Ebene zu bleiben und die Begriffe Gewalt und Routine zu verwenden. 12 Flory, Out is in, S. 195. 13 Ebd., S. 198, Hervorhebungen im Original. 14 Murphet, American Psycho, S. 17 u. S. 67. 15 Zur Rolle der Gewalt und der Gewaltdarstellungen s. Kap. 6.1.1, Unterkapitel Grausamkeit des Protagonisten – Gewalt am Leser, Schuld des Lesers. 16 S. Kap. 1.2, Unterkapitel Überblick: Publikations- und Rezeptionsgeschichte.

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Forschung kontrovers diskutiert. Vereinzelte Stimmen lesen Bateman als glaubwürdigen Erzähler, wie etwa Ursula Voßmann,17 die in ihrer Analyse des Romans davon ausgeht, es handle sich bei dem Roman um eine realistische Darstellung eines Serienmörders. 18 Mehrfach betont sie die Glaubwürdigkeit Batemans als Erzähler seiner eigenen Geschichte,19 wobei sie die Hinweise, die für das Gegenteil sprechen, mit dem Argument zurückweist, dass Bateman sich an kein Publikum wende und daher keine Veranlassung habe zu lügen.20 Abgesehen von der Tatsache, dass Voßmann sich diesbezüglich selbst widerspricht, wenn sie die Darstellung von Batemans Leben als „objektive Abbildung einer Lebenslüge“ 21 liest, merkt Flory zusätzlich an: „Nur weil jemand keinen Grund hat zu lügen, heißt das noch lange nicht, dass seine Aussagen der Wahrheit entsprechen müssen. […] bei Voßmann wird ein Erzähler offensichtlich bereits dann glaubwürdig, wenn er den Leser nicht mit Absicht täuscht.“22

Dementsprechend sieht die Mehrzahl der Kritiker Bateman als unzuverlässigen Erzähler an, wobei jedoch eine Vielzahl an Begründungen für diesen Umstand

17 Neben Ursula Voßmann liest auch Bruno Zerweck Bateman als zuverlässigen Erzähler; er legt jedoch keine Interpretation des Romans vor, sondern nennt ihn in seinem Aufsatz zum unzuverlässigen Erzählen als Beispiel für einen zuverlässigen Erzähler. Da seine Begründung für diesen Umstand nicht am Text erarbeitet, sondern schlicht behauptet wird, gehe ich an dieser Stelle nicht näher auf Zerwecks Auffassung ein. Zerweck, Bruno: „Historicizing Unreliable Narration: Unreliability and Cultural Discourse in Narrative Fiction.“ In: Style Vol. 35 (1) (2001), S. 151-178. 18 Es wird in der Forschung angenommen, dass als reale Vorlage für die Figur des Patrick Bateman der Serienmörder Jeffrey Dahmer diente, der unter dem Namen The Milwaukee Monster bekannt wurde. Zwischen 1978 und 1991 folterte und ermordete er mindestens 17 männliche Opfer, deren Leichen er missbrauchte und teilweise aß. Ein Zusammenhang zwischen Bateman und Dahmer wird unter anderem hergestellt von Baelo-Allué, Sonia: „The Aesthetics of Serial Killing: Working against Ethics in The Silence of the Lambs (1988) and American Psycho (1991).“ In: Atlantis Vol. 24 (2) (2002), S. 7-24. Julian Murphet zitiert aus einem Interview mit Ellis, in welchem selbiger angibt, er habe sich von den Taten realer Serienmörder inspirieren lassen, indem er FBI-Akten und Kriminologiebücher recherchiert habe, da er nicht im Stande gewesen sei, sich solche Grausamkeiten selbst auszudenken. Murphet, American Psycho, S. 17. 19 Voßmann, Paradise Dreamed, S. 39, S. 68, S. 138, S. 156. 20 Ebd., S. 39. 21 Ebd., S. 68. 22 Flory, Out is in, S. 241.

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vorgelegt wird.23 Julien Murphet etwa sieht als ausschlaggebenden Grund die Fehler und Uneindeutigkeiten in dem Bericht des Ich-Erzählers, die sich vor allem im Mordfall Paul Owens24 abzeichnen: Batemans Beschreibungen von dessen Apartment kurz nach dem Mord sowie einige Monate später weichen deutlich voneinander ab, obwohl er behauptet, alle Möbelstücke wiederzuerkennen. Der Schlüssel zum Apartment, den er der Leiche abgenommen hatte, passt nicht mehr, die Prostituierten, die er in Owens Apartment zu Tode folterte und dort verwesen ließ, sind verschwunden. In Übereinstimmung mit Murphet erachtet auch Elizabeth Young die Leerstellen und Widersprüche im Roman als eindeutigen Hinweis für die Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers.25 Darüber hinaus nennt sie die Kombination eines Massenmörders und eines Serienkillers in einer Person als überaus unglaubwürdig. 26 Vartan P. Messier liest Bateman als unzuverlässigen Erzähler wegen der gleichzeitigen Verwendung von „stream of both consciousness and unconsciousness“,27 wodurch für ihn die Grenze zwischen Bewusstem und Unbewusstem verschwimmt. J. Phillips schließlich fasst den Ich-Erzähler vor allem deshalb als unzuverlässig auf, weil eine große Diskrepanz bestehe zwischen der Weise, wie Bateman sich selbst sehe und wie andere ihn sähen. Phillips konstatiert einen scharfen Kontrast zwischen dem „explicit narrative discourse“, also dem, was der Ich-

23 An dieser Stelle kann aus Platzgründen nur eine kurze Auswahl vorgestellt werden. 24 Murphet, American Psycho, S. 46ff. Bateman bringt seinen Arbeitskollegen Paul Owen mit einer Axt um und verwahrt seine Überreste in einem Apartment in Hell’s Kitchen, wo er die Leiche in einem Kalkbad auflöst. Um den Mord zu vertuschen, inszeniert er Owens Abreise nach London. In den folgenden Monaten benutzt er Owens Apartment, um dort Prostituierte zu treffen und zu ermorden. Einige Zeit später wird das Apartment in einwandfreiem Zustand durch eine Immobilienmaklerin angeboten. 25 Young, „The Beast in the Jungle“, S. 116. 26 Ebd., S. 115. Das FBI definiert einen Serienmörder als „an offender associated with the killing of at least four victims, over a period greater than seventy-two hours“ (Seltzer, Mark: Serial Killers: Death and Life in America’s Wound Culture. New York: Routledge 1998. S. 9), was eine Phase der Abkühlung, wie Baelo-Allué formuliert („cooling-off period“, Baelo-Allué, „Aesthetics of Serial Killing“, S. 9), impliziert, nach der der Mörder erneut zuschlägt. Ein Massenmörder hingegen tötet innerhalb eines kurzen Zeitraumes an einem oder wenigen Orten eine größere Anzahl an Menschen, z.B. bei einem Amoklauf, einer Massenhinrichtung oder einem Terroranschlag. Die Kombination eines Serien- und eines Massenmörders in einer Person ist bislang nicht dokumentiert. 27 Messier, Vartan P.: „Violence, Pornography and Voyeurism as Transgression in Bret Easton Ellis’ American Psycho.“ In: Atenea Vol. 24 (1) (2004), S. 73-93. Hier zitiert S. 74.

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Erzähler dem Leser beschreibt, und dem „implicit narrative discourse“, der über Autorkommentare dem Leser ein abweichendes Bild vermittelt.28 All diese Beobachtungen zusammen genommen sprechen dafür, Bateman als unzuverlässigen Erzähler zu betrachten. 29Allerdings ist die Unzuverlässigkeitsdebatte meines Erachtens nach ein Scheinproblem, dessen Klärung für das Verständ28 Phillips, J.: „Unreliable narration in Bret Easton Ellis’ American Psycho: Interaction between narrative form and thematic content.“ In: Current Narratives Vol. 1 (1) (2009), S. 58-68. Hier zitiert S. 64. 29 Jedoch ist es erstaunlich, dass Bateman als Erzähler bislang nur unter dem Gesichtspunkt des faktual unzuverlässigen Erzählens (bei Martinez/Scheffel mimetisch teilweise unzuverlässiges Erzählen; Martinez/Scheffel, Erzähltheorie, S. 102) analysiert wurde. Viel offensichtlicher ist m.E. nach seine moralische Unzuverlässigkeit, die sich in seinem devianten Verhalten äußert. Wird das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens nicht als rein textimmanentes Phänomen erachtet, sondern als Interpretationsstrategie des Lesers gesehen, so wie Ansgar Nünning in seinem einführenden Artikel zum unzuverlässigen Erzählen vorschlägt, muss man auch außertextuelle Faktoren wie das Weltwissen des Lesers, moralisch-ethische Kategorien und psychologische Konzepte hinzuziehen (Nünning, Ansgar: „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens.“ In: Ansgar Nünning/Carola Surkamp/Bruno Zerweck (Hg.): Unreliable Narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT 1998, S. 3-39). Setzt man den Text nun in Relation zu lebensweltlichen Modellen und Konventionen des durchschnittlichen, der Norm – ohne Fragen nach Normalität aufwerfen zu wollen – entsprechenden Lesers, fällt die moralische Verwerflichkeit der Hauptfigur überdeutlich ins Auge. Selbst wenn man sich auf faktual unzuverlässiges Erzählen nicht mag einigen können, dürfte doch zumindest dieser Aspekt außer Frage stehen. Dies hat selbstverständlich auch Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit der Emotionen der Figur. Zur Fragwürdigkeit der Affekte Batemans siehe daher den Abschnitt Fragwürdige Aspekte unter Kap. 6.1.1. Zu moralisch unzuverlässigem Erzählen siehe weiter: Fludernik, Monika: „Unreliability vs. Discordance. Kritische Betrachtungen zum literaturwissenschaftlichen Konzept der erzählerischen Unzuverlässigkeit.“ In: Fabienne Liptay (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München: Edition Text + Kritik 2005, S. 39-59. Gemäß Fluderniks Artikel müsste der Ich-Erzähler von American Psycho wegen seiner „moralischen Alterität“ (ebd., S. 41) als Verbrecher als ideologisch fragwürdiger Erzähler eingestuft werden, der neben des „unreliable reporting[s]“ (ebd., S. 44) – Fehldarstellung der Geschehnisse aus Unwissen oder Lügen sowie Verschweigen von Fakten – auch des „unreliable evaluating[s]“ (ebd., S. 44) schuldig ist: Er nimmt eine „ideologisch konträre Position“ (ebd. ,S. 44) ein. Zu unzuverlässigem Erzählen siehe weiter den in dieser Arbeit vorliegenden Kurzen methodischen Exkurs: Unzuverlässiges Erzählen – Unentscheidbares Erzählen unter Kapitel 6.2.2.

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nis des Romans nicht viel beitragen kann. Für die in dieser Arbeit vorgeschlagene Lesart, die Affektdarstellung und -erzeugung in den Fokus rückt, ist die mutmaßliche Unzuverlässigkeit des Erzählers irrelevant; viel bedeutsamer ist die Eindimensionalität seines Charakters, da sie es unmöglich macht, seine Taten nachzuvollziehen oder Mitleid mit ihm zu empfinden. Weder wird eine tragische Kindheit als Begründung angeboten, noch macht Bateman den Anschein, psychisch krank zu sein. 30 Deshalb muss eine psychoanalytische Interpretation des Charakters, wie Berthold Schöne sie in seinem Aufsatz zur Männlichkeitsdarstellung in American Psycho versucht hat, 31 daran scheitern, dass der Roman dem Leser biografische Hintergründe, psychosoziale Entwicklung und vor allem Emotionalität vorenthält. So haben verschiedene Autoren bereits den Mangel an Emotionen in American Psycho apodiktisch festgestellt, jedoch blieb dieser Aspekt bislang unbeleuchtet. So urteilt Chris McMahon den Protagonisten einfach als „monster“ 32 ab, während Young von seiner „increasing zombiefication“ spricht und erklärt, die abartigsten Morde würden „in an affectless monotone“33 beschrieben. Beide gehen jedoch nicht näher darauf ein, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen kommen. Dieses Vorgehen findet sich auch bei Murphet, der sich darauf beschränkt zu konstatieren, es handele sich um eine „affectless, flattened prose“.34 Während Martin Weinreich Bateman immerhin noch eine einzige Emotion zugesteht, nämlich eine „nameless dread“35 und damit auf die Angstattacken Batemans rekurriert, erklärt Messier die völlige Abwesenheit eines emotionalen Kontexts36 und kann keine Spur von Affektivität,

30 Jedenfalls lassen sich im Text keine Hinweise auf eine Psychose oder eine Persönlichkeitsstörung (etwa Schizophrenie, dissoziative Persönlichkeitsstörung etc.) finden. Offenbar handelt es sich bei Bateman nicht um einen psychotischen Serienmörder, der aufgrund einer Wahnidee seine Morde ausführt. Vielmehr scheint Bateman in die Kategorie der psychopathischen Mörder zu fallen, die aus Lust am Töten morden (Voßmann, Paradise Dreamed, S. 53). 31 Schöne, Berthold: „Serial Masculinity: Psychopathology and Oedipal Violence in Bret Easton Ellis’s [!] American Psycho.“ In: MFS Modern Fiction Studies Vol. 54 (2) (2008), S. 378-397. 32 McMahon, Chris: „Postmodern Evil: Overconsumption in Brett [!] Easton Ellis’ American Psycho.“ In: Perspectives on Evil and Human Wickedness Vol. 1 (1) (2002), S. 6179. Hier zitiert S. 64. 33 Young, „The Beast in the Jungle“, S. 109. 34 Murphet, American Psycho, S. 12. 35 Weinreich, Martin: „‚Into the Void‘: The Hyperrealism of Simulation in Bret Easton Ellis’s [!] American Psycho.“ In: Amerikastudien. American Studies – A Quarterly Vol. 49 (1) (2004), S. 65-78. Hier zitiert S. 71, Hervorhebung im Original. 36 Messier, „Violence“, S. 78.

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keine Referenz auf Emotionen erkennen.37 Es scheint somit ein Konsens darüber zu bestehen, dass der Roman sich sowohl stilistisch als auch inhaltlich durch einen Mangel an Emotionalität auszeichnet, jedoch ist dies bislang kein Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gewesen. Das vorliegende Kapitel möchte diese Forschungslücke schließen. Kategorisierungsproblematik beim Stil Ellis’ Roman American Psycho kann anhand einer Vielzahl von Interpretationsansätzen untersucht werden, die mittlerweile von der Forschung erkannt und ausgeschöpft wird. Ein kurzer Überblick zeigt, dass American Psycho oftmals als Paradebeispiel eines postmodernen Romans angeführt wird. So beschäftigt sich Flory in seiner Dissertation vor allem mit den postmodernen Implikationen im Gesamtwerk Ellis’. Dies tun ihm zahlreiche andere Autoren gleich, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. 38 Eine Reihe von Autoren wiederum entscheidet sich für einen narratologischen Ansatz und liest die Erzählung als Tagebuch39 oder als inneren Monolog,40 gar als Beichte.41 Dabei wurde, wie bereits erwähnt, vielfach der affektlose Stil der Erzählung bemerkt, jedoch ist dieser Stil bislang kein Gegenstand ausführlicher literaturwissenschaftlicher Betrachtung gewesen. Es hat lediglich einige Versuche gegeben, für den Erzählstil des Romans ein Attribut zu finden, das ihn treffend zu beschreiben vermöchte. So bezeichnen Messier und Murphet den Stil beide als „aesthetics of boredom“, 42 wobei dieser Ausdruck dem Stil nicht gerecht werden kann, da er sich nur auf die Passagen bezieht, die unter RoutineKapiteln gefasst werden können. Die Gewalt-Kapitel können mit diesem kategorischen Begriff kaum adäquat beschrieben werden. Daher versucht es Voßmann mit dem Terminus „Tableau-Stil“ und meint damit, dass der Erzähler „scheinbar Ne37 Ebd., S. 74. 38 So beschäftigt sich z.B. Messier mit Gewalt und Pornografie, McMahon mit Konsum. Schöne liest den Roman als Fallstudie männlicher Hysterie, Voßmann als Fallstudie eines Serienmörders. 39 Kuon, Ludwig: René Girard und die Wahrheit des Romans. Der mimetische Konflikt als Handlungsschema in den Romanen von Bret Easton Ellis, American Psycho (1991), Michel Houellebecq, Elementarteilchen (1996) und Vladimir Sorokin, Der himmelblaue Speck

(1999).

Dissertation,

Albert-Ludwigs-Universität

Freiburg

i.Br.

2006

http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/2566/pdf/Dissertation_Kuon_Druck.pdf vom 07.03.2010. 40 Messier, „Violence“, S. 74. 41 Moser, Christian: Kannibalische Katharsis. Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis. Bielefeld: Aisthesis 2005. S. 115. 42 Messier, „Violence“, S. 84 und Murphet, American Psycho, S. 24.

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bensächliches […] scheinbar Hauptsächlichem unterschiedslos gleich[]ordnet“. 43 Zwar scheint für den Protagonisten die Qualität seiner Visitenkarte eine ebenso große Rolle zu spielen wie das Foltern seiner Opfer, aber damit ist die verstörende Wirkung des Textes nicht zu erklären. Es macht nur das Missverhältnis deutlich, mit welchem Bateman die Vorkommnisse in seinem Leben bewertet, d.h. es ist nicht eine stilistische Gleichordnung, etwa durch parataktischen Satzbau, die irritiert und bestürzt, sondern es ist die inhaltliche Gleichordnung. Eine prägnante Beschreibung gelingt auch Flory nicht, der eine zwar zutreffende Beobachtung macht, die jedoch wiederum nur Teile des Textes repräsentiert: Er beschreibt den Stil als „Sprache der Hyperrealität, […] die jenseits ihrer Zitatfunktion keine Aussagekraft hat.“44 Damit bezieht er sich auf das Kopieren von Diskursen: Der Leser erhält fast nie Einblick in Batemans Gedanken, sondern bekommt stets auswendig gelernte Fakten zu Mineralwässern, der richtigen Körperpflege oder der Kleiderordnung dargereicht. Solche „kopierten Diskurse“45 kommen immer dann zur Anwendung, wenn Bateman den Leser an seinen Weisheiten teilhaben lassen möchte,46 oder aber wenn in Gesprächen mit anderen ein Thema fehlt. Dies dient dann jeweils dazu, Batemans fulminante Kenntnisse zu einem bestimmten Thema zur Schau zu stellen, wahlweise vor seinen Gesprächspartnern oder vor dem Leser. Der Ausdruck der „kopierten Diskurse“ erscheint zudem nicht wirklich treffend, handelt es sich doch vor allem um allgemeinverträgliche Meinungen, generelle Ansichten oder Fakten. Da sich Bateman jedoch keineswegs durchgängig auf diese Meinungen, Ansichten oder Fakten beruft, sondern immer nur in für ihn anstrengenden sozialen Situationen, in denen er das Bedürfnis verspürt, sich zu beweisen,47 ist die Bezeichnung „Sprache der Hyperrealität“ zu eng gefasst. 43 Voßmann, Paradise Dreamed, S. 36. 44 Flory, Out is in, S. 235. 45 Ebd., S. 234. 46 Dazu können die Musikkapitel über Genesis (AP, S. 133ff.), Whitney Houston (AP, S. 252ff.) und Huey Lewis and the News (AP, S. 352ff.) gezählt werden, wie auch z.B. Batemans Ausführungen zur morgendlichen Toilette im Kapitel „Morning“ (AP, S. 26ff.). 47 Als kurze Auswahl vgl. etwa die Dinnerszene im ersten Kapitel, in der Bateman einen Vortrag über die Probleme der Welt hält (AP, S. 15f.), ein Gespräch im Restaurant Pastels, in welcher Bateman seinem Kollegen McDermott aufgebracht erklärt, wie die perfekte Pizza zu sein hat (AP, S. 46), oder während einer Autofahrt zum Club Nell’s, während derer Bateman seine Begleiter über bestimmte Mineralwässer aufklärt (AP, S. 246f.). Als Kopist erweist sich Bateman viel eher bei seinen Inszenierungen von Sex oder Folter und Mord; hier holt er sich Anregungen in Pornofilmen (sein Favorit ist der von Ellis erfundene Film INSIDE LYDIA’S ASS – so spielt bei seinen sexuellen Begegnungen stets der Analverkehr mit einer oder mehreren Frauen eine tragende Rolle) und Splatter-

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Das Problem bleibt also bestehen: Die Bezeichnungen, die bislang für die Beschreibung des Erzählstils verwendet wurden, sind immer nur für einen Teil des Romans stimmig oder treffen gar nicht zu. Die folgende Analyse wird sich somit nicht nur um eine aussagekräftige Untersuchung des Stils bemühen, sondern auch einen Vorschlag machen, wie der Stil zukünftig zu benennen sein könnte. 6.1.1 Eine Ästhetik des Pathologischen Ellis entfernt sich mit seinem Roman American Psycho von dem einfachen, unprätentiösen Stil, dessen er sich in Less Than Zero und The Rules of Attraction bediente. Waren dort noch einfache Satzstrukturen und eine schlichte Ausdrucksweise vorherrschend, hat sich Ellis beim Schreiben von American Psycho weiterentwickelt. Nun bedient er sich eines hypotaktischen Stils, indem er kausale Verknüpfungen herstellt, Einschübe verwendet, Haupt- und Nebensätze miteinander kombiniert und häufig das Gerundium einsetzt. Die Sätze sind länger und mit abwechslungsreichen Adjektiven und Adverbien zur anschaulichen Beschreibung der jeweiligen Situation ausgestattet. Als kurzes Beispiel sei hier auf eine Szene im ersten Kapitel verwiesen: Bateman befindet sich mit seiner Verlobten Evelyn, seiner Geliebten Courtney und seinem Freund und Kollegen Tim Price bei Evelyn zu Huse, um dort ein Sushi-Dinner einzunehmen. Evelyn hat zu Batemans und Prices großem Missfallen ein Künstlerpärchen eingeladen, Vanden und Stash, das keineswegs in den elitären Yuppie-Kreis passt, sondern sich grell durch Aussehen und Benehmen oder Slasher-Filmen. Sein Lieblingsfilm dieses Genres ist Brian de Palmas BODY DOUBLE

(1984), in welchem eine Frau mit einer Bohrmaschine zu Tode gefoltert wird. Später

wird er diese Szene mit dem Escort-Mädchen Tiffany und erneut mit einem namenlos bleibenden Mädchen in die Realität umsetzen (AP, S. 305 und S. 328). Darüber hinaus dreht Bateman seine eigenen Snuff-Filme (zum Beispiel beim Mord an Torri und Tiffany, AP, S. 304), die er wiederum in den Foltermord an einer anderen Frau einbaut, indem er sie zwingt, die Ermordung eines Mädchens mit anzusehen, während er sein aktuelles Opfer misshandelt (AP, S. 327f.). Er macht sich auf diese Weise selbst zum Star seiner eigenen Filme, kopiert nicht nur filmische Vorlagen, sondern auch sich selbst. Neben filmischen Vorbildern findet er auch in der amerikanischen Geschichte genügend Vorlagen, an denen er sich orientieren kann. So empfindet Bateman eine morbide Faszination für bekannte amerikanische Serienmörder wie Ed Gein, John Wayne Gacy oder Ted Bundy, denen er nacheifert (AP, S. 92, S. 155, S. 364). Wenn man also von kopierten Diskursen sprechen möchte, wäre es adäquater, dies auf die filmischen und realen Vorlagen zu beziehen, an denen sich Bateman orientiert. Diese werden im Text aufgegriffen und literarisiert, indem ihnen eine präzise, fast schon überzeichnet detailreiche Beschreibung zu Teil wird. (S. hierzu die Ausführungen unter Grausamkeit des Protagonisten – Gewalt am Leser, Schuld des Lesers.)

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von Bateman und seinen Freunden abhebt. Im Folgenden beschreibt Bateman den Bildhauer Stash folgendermaßen: „Stash doesn’t speak. Even though he is probably uncomfortable at the table with us since he looks nothing like the other men in the room – his hair isn’t slicked back, no suspenders, no horn-rimmed glasses, the clothes black and ill-fitting, no urge to light and suck on a cigar, probably unable to secure a table at Camols, his net worth a pittance – still, his behavior lacks warrant and he sits there as if hypnotized by the glistening piece of sushi and just as the table is about to finally ignore him, to look away and start eating, he sits up and loudly says, pointing an accusing finger at his plate, ‚It moved!‘“ (AP, S. 13)

Diese hypotaktische, präzise-beschreibende Erzählweise ist für den gesamten Roman stilbildend und wird auch, wie noch zu zeigen sein wird, in den Szenen größter Brutalität gleichbleibend beibehalten. Gleichzeitig illustriert sie aufgrund der differenzierten Ausdrucksform, dass der Ich-Erzähler im Gegensatz zu den beiden Erstlingsromanen erwachsen ist, über eine sehr gute Bildung verfügt (Bateman hat das Elite-College Harvard besucht) und sich seines sozialen und wirtschaftlichen Status deutlich bewusst ist. Die Charakterisierung Stashs ist zugleich eine Charakterisierung seiner selbst und seines sozialen Umfelds. Die Eigenschaften, über die Stash nicht verfügt, schreibt Bateman sich selbst zu. Er ist ein ausgesprochen gut aussehender, körperbewusster, gepflegter junger Mann, der über Beziehungen und Geld verfügt. Dass sich Ellis und mit ihm seine Figuren vom College-Leben abgewendet haben und erwachsen geworden sind, offenbart auch folgender Kommentar von Price, der sich über das College Camden und die dortigen Studenten lustig macht: „‚Oh god,‘ Timothy moans. ‚I am so sick of hearing Camden-girl problems. Oh my boyfriend, I love him but he loves someone else and oh how I longed for him and he ignored me and blahblah blahblahblah – god, how boring. College kids. […]‘“ (AP, S. 19f., Hervorhebungen im Original)

Dies ist eine knappe, bittere Zusammenfassung der Handlung aus The Rules of Attraction. Offensichtlich haben die Figuren aus American Psycho diese Probleme überwunden und erachten sie nun als lächerlich. Nicht nur hinsichtlich der Satzstruktur, die sich in Less Than Zero durch alexithyme Merkmale auszeichnete, auch im Hinblick auf die Verwendung von Emotionswörtern ist ein eklatanter Unterschied zu verzeichnen. Verzichtete der IchErzähler Clay aus Less Than Zero fast vollständig auf den Einsatz von Emotionswörtern, ist dies bei American Psycho nicht der Fall. Bateman benutzt regelmäßig Emotionswörter zur Beschreibung seiner Gesprächspartner. Ein gutes Beispiel ist eine Szene, in der Bateman sich von seiner Verlobten Evelyn trennt. Unvermittelt

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beschließt er, die Beziehung zu ihr zu beenden, nachdem ihm bei einem gemeinsamen Dinner klar wird, dass sie sich nichts zu sagen haben und nicht einmal ein makabrer Scherz, bei welchem er Evelyn dazu bringt, einen mit Schokolade überzogenen WC-Stein zu verzehren, bei ihm Emotionen für sie auslösen kann. Während des Gesprächs beschreibt er ihre Reaktionen auf seine Äußerungen mit folgenden Worten: „confused“, „angry“, „frantic“, „rising hysteria“, „trying, I think, not to cry“, „desperately“, „tearfully, confused and panicked“ (AP, S. 340f.). Bateman ist also durchaus im Stande, die Emotionen anderer zu ‚lesen‘. Allerdings ist trotz der Verwendung von Emotionswörtern Evelyns tatsächliche Betroffenheit in Zweifel zu ziehen. Als Bateman das Gespräch mit den Worten „We need to talk“ (AP, S. 338) beginnt, reagiert sie genervt und droht damit, das Restaurant zu verlassen, da sie, ohne nachgefragt zu haben, um was es in dem Gespräch gehen soll, davon ausgeht, er wolle sie zu Brustimplantaten überreden. Seine beharrliche Wiederholung des Trennungswunsches („‚It’s over, Evelyn. It’s all over.‘ […] ‚I’m serious,‘ I say quietly. ‚It is fucking over. Us. This is no joke.‘“ AP, S. 338) nimmt sie zunächst nicht ernst, bestellt einen dekoffeinierten Espresso und will das Thema wechseln. Erst als Bateman ihr zusichert, sie könne alle gemeinsamen Freunde behalten, damit der Trennung nichts im Wege stehe, erkennt sie die Ernsthaftigkeit der Lage. Um ihn umzustimmen, beginnt sie eine Szene zu machen, die ihm verdeutlichen soll, wie verzweifelt sie über eine Trennung wäre: Sie schluchzt, zunächst leise, dann effektvoll, nennt ihn „pathological“ (AP, S. 340) und „inhuman“ (AP, S. 341) und markiert schließlich einen bebenden Weinkrampf, bei dem sie jedoch peinlich darauf achtet, ihr Make-up nicht zu beschädigen: „She’s been careful not to let the tears, which actually I’ve noticed are very few, affect her make-up“ (AP, S. 342). Vermutlich ist sie gekränkt über die Trennung, jedoch darf bezweifelt werden, dass sie tatsächlich voll Schmerz über den Bruch ist. Eine Trennung von Patrick Bateman, dem Erben eines Wall Street-Moguls, der über beachtliches soziales Prestige und enormen Reichtum verfügt, bedeutet für sie weniger den Verlust eines geliebten Menschen48 als vielmehr den Verlust einer lukrativen Partie, die sie sich durch eine Heirat zu sichern hoffte. Die Szene, die sie Bateman macht, 48 Das Verhältnis der beiden zueinander ist überaus lieblos; mehrmals versucht Bateman, sich am Telefon zu verleugnen und spielt seinen Anrufbeantworter nach, wenn er merkt, dass Evelyn in der Leitung ist. Die gemeinsamen Dinner mit ihr sind für ihn eine Qual der Langeweile. Neben seiner Geliebten Courtney hat Bateman zudem Sex mit zahlreichen Prostituierten und One-Night-Stands, die er in angesagten Clubs kennenzulernen pflegt. Evelyn hingegen hat mutmaßlich eine Affäre mit Tim Price und zeigt während des gesamten Romans kein Interesse an sexuellem Verkehr mit ihrem Verlobten, geschweige denn persönliches Interesse. Die Unterhaltungen der beiden drehen sich stets um andere Personen oder Belanglosigkeiten, sie teilen niemals Gedanken oder Empfindungen miteinander.

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ist somit kaum als Ausdruck von Kummer und Verzweiflung zu lesen, sondern eher als hilfloser Versuch, einen finanziellen und sozialen Schaden abzuwenden. Die Emotionswörter, die der Erzähler in dieser Szene benutzt, bezeichnen also keine echten Emotionen, sondern vorgetäuschte. Auch seinen eigenen emotionalen Zustand reflektiert der Ich-Erzähler während des Trennungsgesprächs mit den Attributen „[e]xasperated“, „confused“, „offended“, „viciously“, „shocked that I’ve finally gotten through to her“, „uncomfortably“ (AP, S. 340f.). Im Gegensatz zu Clay beschränkt sich Bateman nicht nur auf die Beschreibung seiner Körperreaktionen, sondern benennt konkret Emotionen. Allerdings beziehen sich auch diese Bezeichnungen nicht auf Kummer oder Schmerz über die Trennung, sondern auf die Anstrengung, Evelyn sein Anliegen begreiflich zu machen. Auf ihre Vorwürfe reagiert er zwar verteidigend bis gekränkt, jedoch nicht wirklich berührt: „‚Pathological. Your behavior is pathological.‘ ‚What does that mean?‘ I ask, offended. ‚Abhorrent. You’re pathological.‘ She finds a Laura Ashley pillbox and unsnaps it. ‚Pathological what?‘ I ask, trying to smile. ‚Forget it.‘ She takes a pill that I don’t recognize and uses my water to swallow it. ‚I’m pathological? You’re telling me that I’m pathological?‘ I ask. ‚We look at the world differently, Patrick.‘ She sniffs. ‚Thank god,‘ I say viciously. ‚You’re inhuman,‘ she says, trying, I think, not to cry. ‚I’m‘ – I stall, attempting to defend myself – ‚in touch with… humanity.‘ (AP, S. 340f., Hervorhebungen im Original)

Während Evelyn ihre Vorwürfe auf sein herzloses Verhalten ihr gegenüber bezieht, ist Batemans Referenzrahmen ein anderer. Der Vorwurf, krankhaft und unmenschlich zu sein, ist für ihn eine Beleidigung, da er diese Vorhaltungen auf seine sexuellen Vorlieben und seine sadistischen Taten bezieht. Evelyn jedoch hat keine Kenntnis über sein Doppelleben, sie kann seinen vermeintlich pathologischen Zustand demnach gar nicht beurteilen. Sie hat nur die Absicht, ihn zu kränken, was ihr gelingt, jedoch nicht in der Weise, wie sie es plant: Bateman fühlt sich insgeheim ertappt. Sein Versuch einer Verteidigung fällt dementsprechend schwach aus. Er ist nicht im Stande, den Vorwurf zurückzuweisen, da er weiß, dass Evelyn ungewollt Recht hat. Stattdessen versucht er, ihre Anklage herabzumindern mit der hilflosen Aussage, er sei zumindest in Kontakt mit Menschlichkeit.49 Es wird durch die Ver49 In der deutschen Version, die von Clara Drechsler und Harald Hellmann übersetzt wurde, lautet der Satz: „Ich stehe durchaus in Kontakt mit der … Menschheit.“ (Ellis, Bret Easton: American Psycho. Übers. v. Clara Drechsler und Harald Hellmann. Köln: Kiepen-

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wendung der Emotionsworte somit deutlich, dass Bateman sich während des Trennungsgesprächs außerordentlich unwohl fühlt, jedoch ist er weder bekümmert noch erleichtert über die Auflösung der Verlobung. Obwohl er in der überlegenen Position ist und die Situation und seine Entscheidung kontrollieren kann, sind außer Anstrengung und gelegentlicher Gekränktheit keine weiteren Emotionen spürbar. Die Analyse dieser Szene konnte zeigen, dass ein emotionsloser Erzählstil ausgeschlossen ist, da der Ich-Erzähler von Emotionsworten Gebrauch macht und im Stande und willens ist, seine Empfindungen ebenso wie die von anderen zu benennen. Die verbale Brücke zwischen Gefühl und Ausdruck, die in Less Than Zero gestört war, scheint für den Ich-Erzähler in American Psycho intakt zu sein. Es ist somit nicht das generelle Fehlen von Emotionsworten, das die verstörende Wirkung des Romans zur Folge hat. Vielmehr scheint die Begründung darin zu liegen, dass Bateman zwar Emotionen benennt, diese jedoch vom Leser nicht nachvollzogen werden können. Im Folgenden werden diese Affekte einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Fragwürdige Affekte In einigen Szenen gerät Bateman wegen scheinbarer Nichtigkeiten außer Fassung. Dort durchlebt er starke Affekte, die er benennt oder kurz beschreibt. Üblicherweise handelt es sich dabei um Angstgefühle oder Gefühle der Zurückweisung, die jedoch nicht spezifisch situationsgebunden sind. So ist er den Tränen nahe, als er befürchten muss, im angesagten Restaurant Pastels keinen Tisch zu bekommen (AP, S. 41), und erneut, als seine Bekannte Anne nicht seiner Empfehlung folgen möchte, statt einer Diet Cola eine Diet Pepsi zu bestellen (AP, S. 98). Außerdem erlebt er eine „minor anxiety attack“ (AP, S. 112), als er sich von der Auswahl eines Films in der Videothek überfordert fühlt. Kurz darauf bedient sich der Erzähler zum ersten Mal einer Wendung, die er im Folgenden insgesamt sechs Mal einsetzen wird, um seine Angstgefühle zu bezeichnen: „it fills me with a nameless dread“. Erstmalig gebraucht er diesen Ausdruck beim Lesen eines Artikels in der Post, der von einer neuartigen Ungezieferbedrohung berichtet, die von einer Kreuzung aus Ratte und Taube ausgehe. Bateman ist klar, dass es sich dabei um eine Falschmeldung handelt, jedoch: „it fills me with a nameless dread that someone out there has wasted the energy and time to think this up“ (AP, S. 115). Fünf weitere Male wird er von der „nameless dread“ übermannt: in einem Restaurant, das über große TV-Monitore die Chefköche bei der Arbeit zeigt (AP, S. 137), beim Gedanken daran, ein zweiheuer & Witsch, 2007. S. 470) Diese Übersetzung des Wortes „humanity“ ergibt meines Erachtens wenig Sinn, da dies kaum eine Zurückweisung des Vorwurfs der seelischen Grausamkeit sein kann. Dass er im Kontakt mit anderen Menschen steht, ist ja unbestritten. Vielmehr geht es Evelyn um seine Gefühlskälte während des Trennungsgesprächs. Ich erachte meine Übersetzung daher als treffender.

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stündiges Dinner mit Evelyn durchstehen zu müssen (AP, S. 142), bei der Beobachtung, wie der Privatdetektiv, der das Verschwinden Paul Owens untersucht, die Beine übereinanderschlägt (AP, S. 267), während eines Dinners mit Evelyn bei der Feststellung, dass ihr jegliche Sinnlichkeit fehlt (AP, S. 334) und schließlich beim Hören eines Madonna-Songs, der von dem Gedanken an ein abgelegenes Farmhaus gestört wird (AP, S. 383). Die Situationen weisen keine Gemeinsamkeiten auf, bis auf die beiden Dinner mit Evelyn, wovon er eines absagt, das andere jedoch absolviert. Im zweiten Fall ist es aber nicht das Dinner mit Evelyn selbst, das ihm die Angst verursacht, sondern die Feststellung ihrer mangelnden Sinnlichkeit. Der Auslöser ist also nicht derselbe. Was die Angstgefühle des Protagonisten triggert, ist somit unklar. Für den Leser bleiben diese Angstreaktionen unverständlich, da die Situationen für ihn nicht bedrohlich erscheinen. Gleichzeitig wird dadurch jedoch deutlich, dass die Angst in Batemans Leben eine große Rolle spielt. So erlebt er, nachdem er bereits dreimal von der „nameless dread“ heimgesucht wurde, eine weitere, dieses Mal schwere Angstattacke, während er in Manhattan unterwegs ist. Das gesamte Kapitel „A Glimpse of A Thursday Afternoon“ (AP, S. 148-152) befasst sich mit dieser Thematik und beginnt mitten im Satz mit den Worten: „and it’s midafternoon and I find myself standing at a phone booth on a corner somewhere downtown, I don’t know where, but I’m sweaty and a pounding migraine thumps dully in my head and I’m experiencing a major-league anxiety attack, searching my pockets for Valium, Xanax, a leftover Halcion, anything […].“ (AP, S. 148)

Auf den folgenden Seiten irrt der Protagonist orientierungslos und verängstigt durch die Häuserschluchten, wobei die Beschreibung seiner Panikattacke kaum einer echten entspricht. Das ICD-10 gibt als wesentliche Symptome einer Panikattacke „plötzlich auftretendes Herzklopfen, Brustschmerz, Erstickungsgefühle, Schwindel und Entfremdungsgefühle (Depersonalisation oder Derealisation)“ 50 an. Die Beschreibung des Ich-Erzählers jedoch zeichnet sich vor allem durch Kopfschmerzen, Schweißausbrüche, vermehrten Speichelfluss und Oberbauchbeschwerden aus, ferner Heißhunger und anschließendes Erbrechen sowie Gleichgewichtsstörungen (AP, S. 149-151). Die Symptome stimmen somit nicht überein. Allerdings ist es denkbar, dass die beschriebenen Symptome nicht zu der von Bateman erwähnten „major-league anxiety attack“ gehören, sondern Entzugserscheinungen seiner Me-

50 ICD-10-GM Version 2013. F41.0 Panikstörung. http://www.dimdi.de/static/de/klassi/ icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2013/block-f40-f48.htm vom 12.02. 2013. Zur Depersonalisation siehe die Ausführungen im nächsten Subkapitel Existenzielle Leere.

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dikamentenabhängigkeit darstellen.51 Wie das Zitat zeigt, erlebt er die Panikattacke, während er nach einem Beruhigungsmittel sucht – wobei unklar bleibt, ob die Attacke durch die vergebliche Suche ausgelöst wird oder er durch die Einnahme von Benzodiazepinen die Attacke behandeln möchte. Auch an weiteren Stellen des Romans ist von Panik oder Angstattacken die Rede: Während eines ShoppingMarathons, bei dem eine Xanax-Tablette die aufkommende Panik nicht abwehren kann (AP, S. 177), bei einem Essen im Restaurant Dean & Deluca, die Bateman nur durch intensives Training im Fitnesscenter zu mildern im Stande ist (AP, S. 200), während eines Telefonats mit seinen Freunden Craig McDermott und David Van Patten (AP, S. 310, S. 325) und schließlich während eines Amoklaufs, bei dem Bateman sechs Personen tötet (AP, S. 349, S. 351). Die Tatsachen, dass die Panikattacken situationsungebunden auftreten, sich nicht auf spezifische Umstände beschränken und nicht vorhersehbar sind, deuten darauf hin, dass bei Bateman eine Panikstörung vorliegen könnte.52 Jedoch ist bei all diesen Erwähnungen von Angst oder Panik eines auffällig: Zwar benennt der Ich-Erzähler jedes Mal seine Emotion konkret, allerdings führt er sie kein einziges Mal aus. Stattdessen wird das Emotionswort lapidar in den Satzfluss eingeflochten und ohne weitere Erklärungen fortgefahren, wie folgendes Beispiel zeigt: „Earlier in the day after a meeting with my lawyer about some bogus rape charges, I had an anxiety attack in Dean & Deluca which I worked off at Xclusive [sein Fitnessstudio, Anm. d.Verf.].Then I met the models for drinks at the Trump Plaza.“ (AP, S. 200)

In diesem Textauszug erfährt der Leser nicht nur nebenbei, dass der Protagonist gegen angeblich ‚falsche‘ Anschuldigungen wegen einer Vergewaltigung vorzugehen gedenkt, 53 sondern ebenso nebenbei, dass er eine Angstattacke erleidet. Der

51 Prof. Heather Ashton nennt in ihrem Online-Handbuch zum Benzodiazepin-Missbrauch alle im Text genannten Symptome als physische Entzugssymptome bei einem akuten Entzug von Benzodiazepinen. Zu den psychischen Entzugserscheinungen zählen u.a. auch Panikattacken. (Ashton, Heather: Benzodiazepine: Wirkungsweise und therapeutischer Entzug (Das Ashton Handbuch). University of Newcastle 2008. http://www.benzo. org.uk/german/bzcha03.htm#5 vom 17.05.2011.) 52 Es liegt mir jedoch fern, die Hauptfigur eines Romans wie einen realen Patienten zu betrachten, der eine Diagnose benötigt. Es geht an dieser Stelle nur darum, die Affektivität des Protagonisten einsichtig zu machen. 53 Der Leser zieht die Falschheit der Anschuldigungen aufgrund seines Wissens über Batemans brutale sexuelle Vorlieben natürlich in Zweifel; hier liegt ein erneuter Hinweis für die moralische Unzuverlässigkeit vor, die in Fußnote 29 in diesem Kapitel bereits erwähnt wurde.

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Erzähler fährt anschließend mit seinem Bericht fort, ohne auf eine der beiden Vorkommnisse genauer einzugehen. Wie sich die Angst oder Panik für Bateman anfühlt, erfährt der Leser somit bis auf die oben beschriebene Ausnahme niemals (wobei hier ja der Verdacht besteht, es handle sich nicht um die Schilderung einer Panikattacke, sondern um Entzugserscheinungen). Mit anderen Worten: der Erzähler behauptet Emotionen, der Erzählstil lässt sich damit dem affektlos-postulierenden Erzählen zuordnen. Die behaupteten Emotionen sind für den Leser aber nicht nachvollziehbar, da die Ausgangssituationen nicht als bedrohlich charakterisiert werden, der Trigger für die Panikattacken nicht ermittelt werden kann und auf die Beschreibung von somatischen Reaktionen verzichtet wird. Die Angst bleibt, so wie der Erzähler wiederholt betont, namenlos, unbeschreibbar, damit aber unverstehbar. Dieser Effekt ist auf die bereits erwähnte Eindimensionalität der Hauptfigur zurückzuführen. Da Bateman, obwohl er als autodiegetischer Erzähler prädestiniert dafür wäre, größtenteils auf autoreflexive Kommentare verzichtet, weder Motive noch Gedanken offenlegt, bleibt auch er selbst für den Leser unverstehbar. Als Erzähler ist Bateman ein flacher Charakter, der stets beschreibend an der Oberfläche bleibt; gedankenreiche Selbstbeobachtungen oder tiefgründige Analysen lässt sein Bericht vermissen.54 Trotz aller wortreichen, detaillierten Beschreibungen sind seine Schilderungen banal, denn sie erlangen niemals Tiefenschärfe: So bleibt die Angst, die ihn begleitet, namenlos, weil er selbst keine Worte dafür hat. Existenzielle Leere Genauso unbeschreibbar ist die innere Leere, die Bateman immer deutlicher fühlt. Ein erster Hinweis darauf ist ein Riss in der Decke über seinem Gemälde des Malers David Onica (AP, S. 70, S. 138, S. 218). Weinreich sieht den Riss in der Decke als „image[] of emptiness“, 55 das auf eine „existential void“ 56 rekurriere. Anders gesagt: Gemäß Weinreich empfindet Bateman seine Existenz als hohl und leer, sieht sich durch diese in seiner Identität bedroht. Dabei bleibt es nicht bei einer symbolischen Beschreibung dieser existenzielle Leere; schon bald findet sie ihren 54 Erst gegen Romanende lassen sich vereinzelt introspektive Kommentare finden, in denen Bateman seine Weltsicht darlegt. Selbst diese Gedankenberichte sind jedoch seltsam unbeteiligt und von Emotionen abgelöst: „Fear, recrimination, innocence, sympathy, guilt, waste, failure, grief, were things, emotions, that no one really felt any more. Reflection is useless, the world is senseless. Evil is its only permanence. God is not alive. Love cannot be trusted. Surface, surface, surface was all that anyone found meaning in… this was civilization as I saw it, colossal and jagged…“ (AP, S. 375) So lernt der Leser zwar etwas über die Hauptfigur des Romans, er lernt sie aber dadurch nicht wirklich kennen. 55 Weinreich, „Into the Void“, S. 72. 56 Ebd., S. 71.

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Ausdruck auch in Worten. So spricht Bateman auf S. 179 erstmals, obschon ohne weiterführende Erläuterungen, von einer „existential chasm“, einer „emptiness“. Auch an weiteren Stellen des Romans wird diese Leere erwähnt („I’m empty, devoid of feeling“, AP, S. 277; „I feel empty, hardly here at all“, AP, S. 300); ausführlicher äußert er sich dazu während eines gemeinsamen Sommerurlaubs mit Evelyn in den Hamptons, wo er über seine innere Leere und die damit verbundenen sadistischen Triebe reflektiert. Der Urlaub in den Hamptons ist für den Protagonisten zugleich eine Flucht vor sich selbst, ein vergeblicher Versuch, die Maske der geistigen Gesundheit zu bewahren: „I felt lethal, on the verge of frenzy. My nightly bloodlust overflowed into my days and I had to leave the city. My mask of sanity was a victim of impending slippage.” (AP, S. 279) An dieser Stelle wird deutlich, dass Bateman sich seiner Problematik bewusst ist. Er hat das Gefühl, wahnsinnig, vom Blutrausch beherrscht zu werden, und ist sich klar darüber, dass er nur für andere eine Maske der geistigen Gesundheit aufrecht erhält, unter der Maske jedoch schon längst seine Triebhaftigkeit regiert. Er hält seine Taten also nicht für normal und begreift, dass sie nicht akzeptabel sind.57 Interessanterweise bezeichnet er diese Maske der geistigen Gesundheit als ein Opfer drohenden Abrutschens. Indem er die Maske zu einem Opfer macht, verleiht er ihr etwas Sakrales, das es unbedingt zu erhalten gelte. Da es für Bateman höchste Priorität hat, angepasst zu leben („I… want… to… fit… in“, AP, S. 237), räumt er seiner Außenwirkung größten Stellen57 Eine weitere Textstelle belegt dies: „though it does sporadically penetrate how unacceptable some of what I’m doing actually is, I just remind myself that this thing, this girl, is meat, is nothing, is shit.“ (AP, S. 345) Hier versucht Bateman, aus den Überresten eines Mädchens eine Pastete zu kochen, was ihm misslingt, ihn jedoch nicht daran hindert, das madenüberzogene und verwesende Fleisch zu essen. Obwohl er versteht, dass sein Tun verwerflich ist, hat er das Mädchen so weit entpersonifiziert, dass er vor sich kein menschliches Wesen mehr sieht, sondern nur Fleischmasse, die ihm zum Vergnügen dienen soll. Bateman abstrahiert also von der Menschlichkeit seiner Opfer und verdinglicht sie so weit, dass er ohne Schuldgefühl seinen sadistischen Trieben nachgehen kann. Das Unrechtsbewusstsein, das Bateman sich dennoch bewahrt hat, spricht dabei gegen den Wahnsinn, den er selbst zu verspüren meint. Litte Bateman unter einer Psychose, würde er seine Taten nicht als moralisch bedenklich einstufen, sondern volle moralische Berechtigung, möglicherweise sogar Notwendigkeit für sein Tun empfinden. Die Berechtigung für seine Foltermorde ergibt sich jedoch nicht aus einem verzerrten Moralempfinden, sondern aus der Abwesenheit von Grenzen. Bateman hat das Recht zu foltern und zu morden, weil es ihm niemand verbietet. Er selbst gesteht immer wieder seine Taten gegenüber Fremden oder Bekannten, hinterlässt sogar ein langes, umfassendes Geständnis auf dem Anrufbeantworter seines Anwalts Harold Carnes, jedoch reagiert niemand auf diese Bekenntnisse. Sie werden überhört oder als Scherze missdeutet. Da sich niemand anschickt, ihn aufzuhalten, kann Bateman daraus das Recht ableiten, zu tun, was er will.

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wert ein. Die Maske der Gesundheit ist für seine Konformität unverzichtbar und daher heilig. Er entschließt sich, die Stadt und damit ihre Versuchungen zu verlassen. In den Hamptons versucht er zunächst, diese Maske wiederherzustellen, indem er mit Evelyn Tennis spielt, Strandspaziergänge macht, Essen geht. Jedoch brechen seine sadistischen Triebe schon bald hervor. Da ihm in der Einsamkeit des Strandhauses als einziges Opfer nur Evelyn zur Verfügung steht, die als seine Verlobte sicherlich vermisst werden würde, versucht er seine Triebe zu kanalisieren und umzulenken: Er tötet den kleinen Hund, den er für Evelyn gekauft hat – sie vermisst ihn übrigens nicht –, fängt und grillt eine Qualle, die er anschließend verschlingt, frisst Sand, um ihn anschließend wieder zu erbrechen und erfreut sich daran, der durch Beruhigungsmittel stark sedierten und wehrlosen Evelyn einen Lampenschirm auf den Kopf zu setzen. Diese Versuche können jedoch von seinen Wünschen nicht ablenken, es gelingt ihm nicht, seine Triebe unter Kontrolle zu bringen. Kurz vor der Rückreise nach Manhattan erklärt er in einem Moment introspektiver Beobachtung: „There wasn’t a clear, identifiable emotion within me, except for greed and, possibly, total disgust. I had all the characteristics of a human being – flesh, blood, skin, hair – but my depersonalization was so intense, had gone so deep, that the normal ability to feel compassion had been eradicated, the victim of a slow, purposeful erasure. I was simply imitating reality, a rough resemblance of a human being, with only a dim corner of my mind functioning.“ (AP, S. 282)

Der Protagonist charakterisiert sich an dieser Stelle selbst und stellt dabei fest, dass es ihm nicht mehr möglich sei, klar identifizierbare Emotionen zu fühlen. Den Prozess der Entemotionalisierung bezeichnet er als Depersonalisation. In der Psychopathologie versteht man unter Depersonalisation laut ICD-10 eine neurotische Störung, die mit dem „Verlust von Emotionen, […] Entfremdung und Loslösung vom eigenen Denken, vom Körper oder von der umgebenden realen Welt“58 einhergeht. Damit übereinstimmend charakterisieren Heidenreich, Michalak und Michal Depersonalisation und Derealisiation als „dauerhafte oder ständig wiederkehrende Episoden eines veränderten Bewusstseinszustandes […]. Dieser ist durch ein Gefühl der Losgelöstheit und Entfremdung vom eigenen Selbst (DP) bzw. der Umwelt (DR) gekennzeichnet. […] DP/DR tritt häufig sekundär im Rahmen einer Depression oder Panikstörung auf […].“59 Als wichtigste affektive Symptome nen58 Vgl. Angaben zum Depersonalisations- und Derealisationssyndrom im ICD-10-GM 2013, F48.1. Depersonalisations- und Derealisationssyndrom. 59 Heidenreich, Thomas/Michalak, Johannes/Michal, Matthias: „Depersonalisation und Derealisation: Grundlagen und kognitiv behaviorale Perspektive.“ In: Verhaltenstherapie Vol. 16 (2006), S. 267-274. Hier zitiert S. 267f.

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nen Heidenreich, Michalak und Michal dabei emotionale Taubheit und Mangel an Empathie. 60 Hinsichtlich der Entfremdung von der eigenen Emotionalität scheint der Ausdruck des Erzählers somit treffend gebraucht, auch als Sekundärdiagnose im Zusammenhang mit einer möglicherweise vorliegenden Panikstörung ergibt er Sinn. Jedoch stellen Heidenreich, Michalak und Michal klar, dass es sich um dauerhafte oder wiederkehrende Episoden der Depersonalisation handeln muss, damit eine klinische Indikation vorliegt. Bateman verwendet den Begriff jedoch nicht als Bezeichnung für einen Zustand der temporal begrenzten Veränderung seines Bewusstseins, sondern als Bezeichnung für einen kontinuierlichen Prozess des Emotionsverlustes. Er empfindet seine individuelle Depersonalisation nicht als Episoden der Entfremdung von sich selbst und seiner Umwelt, sondern als fortschreitende Entmenschlichung. So betont er, dass er zwar menschliche Attribute wie Fleisch, Blut, Haut und Haar besitze, dies aber nur Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen erzeuge, da es ihm an Emotionen und der Fähigkeit zur Empathie mangele. Diesen Prozess der Entmenschlichung führt der Erzähler kurz vor Romanende aus, in einem Versuch, dem Leser seine Entwicklung begreiflich zu machen: „… there is an idea of a Patrick Bateman, some kind of abstraction, but there is no real me, only an entity, something illusory, and though I can hide my cold gaze and you can shake my hand and feel flesh gripping yours and maybe you can even sense our lifestyles are probably comparable: I am simply not there. It is hard for me to make sense on any given level. Myself is fabricated, an aberration. I am a noncontingent human being. My personality is sketchy and unformed, my heartlessness goes deep and is persistent. […] My pain is constant and sharp and I do not hope for a better world for anyone. In fact I want my pain to be inflicted on others. I want no one to escape. But even after admitting this […] there is no catharsis. I gain no deeper knowledge about myself, no new understanding can be extracted from my telling. There has been no reason for me to tell you any of this. This confession has meant nothing…“ (AP, S. 376f., Hervorhebungen im Original)

Bateman kommt damit zu dem Schluss, dass er eine leere Hülle ist: eine Anomalie, eine Unmöglichkeit, deren profiliertestes Merkmal die Herzlosigkeit, die Gefühllosigkeit ist. Dabei wird der zentrale Satz dieses Bekenntnisses „I am simply not there“ von Murphet als metafiktionaler Verweis, als Autorkommentar verstanden, der die Fiktionalität des Textes in den Vordergrund rücke.61 Er kann aber auch als Ausdruck einer überdeutlich empfundenen Entfremdung verstanden werden, als bewusstes Empfinden des Verblassens, der Anonymität, der Nicht-Identität, denn bis zum Schluss lernt der Leser die Hauptfigur des Romans nicht kennen. Bateman bleibt für den Leser eine Schablone ohne Persönlichkeit. Die Eindimensionalität der 60 Ebd., S. 269. 61 Murphet, American Psycho, S. 50.

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Figur ist so tiefgreifend, dass der Leser gezwungen ist, eigene Persönlichkeitsanteile in die Figur Patrick Bateman mit einzubringen. Dies zeigen vor allem die Szenen, in denen sich der Protagonist mit obszöner Grausamkeit an seinen Folteropfern vergeht. Diese werden im Folgenden Gegenstand der Betrachtung sein. Grausamkeit des Protagonisten – Gewalt am Leser, Schuld des Lesers Wie das oben angeführte Zitat verdeutlicht, ist der zentrale Beweggrund für Batemans abscheuliche Foltermorde eigentlich recht einfach: „My pain is constant and sharp and I do not hope for a better world for anyone. In fact I want my pain to be inflicted on others. I want no one to escape“ (AP, S. 377). Er will seinen eigenen, für ihn kaum erträglichen Schmerz mit anderen teilen und sieht dafür als einzigen Weg, anderen körperliche Qualen zuzufügen. Dabei verzichtet Bateman auch für diesen Schmerz auf Erläuterungen, er bleibt ebenso namenlos wie seine Angst. Vielleicht ist es gerade dieser Mangel an Tiefenpsychologie, der dazu geführt hat, dass diese Textstelle bislang immer fehlinterpretiert wurde. Denn obwohl es sich bei obiger Textstelle um eine der meistzitierten Stellen aus American Psycho handelt, ist diese Begründung für Batemans Gewalttaten in ihrer Simplizität bisher von der literaturwissenschaftlichen Forschung übersehen worden. Stattdessen wurde eine Vielzahl von Erklärungen für die Grausamkeiten des Protagonisten vorgelegt. So erklärt Messier Batemans Sadismus durch sexuelle Vorlieben. Batemans Fähigkeit, Erregung zu erreichen, korreliere mit Verstümmelung und Folter, so dass Gewalt mehr und mehr der einzige Weg zu sexueller Befriedigung werde.62 Weinreich wiederum sieht Batemans Mordlust als Reaktion auf die existenzielle Leere, der er sich immer bewusster werde und daher immer brutaler reagiere.63 Voßmann meint als Motiv den Wunsch nach Kontrolle und Macht über andere erkennen zu können, weshalb es bei den Sexualmorden auch nicht um den Sex an sich gehe, sondern dass das Töten erregende Wirkung auf Bateman habe.64 Schöne versucht in seiner psychoanalytischen Interpretation die Gewaltakte des Protagonisten als Versuche der männlichen Selbstbehauptung zur Kompensation am empfundenen Mangel maskuliner Gestalt plausibel zu machen. 65 Murphet glaubt, grundlegend für Batemans Morde sei ein Mix aus Neid und Hass, der das Klassenbewusstsein der Yuppies bestimme.66 Kuon schließlich ist überzeugt, Bateman töte nicht aus Mordlust, sondern um erlittene Demütigungen auszugleichen.67 62 Messier, „Violence“, S. 82. 63 Weinreich, „Into the Void“, S. 72. 64 Voßmann, Paradise Dreamed, S. 51f. 65 Schöne, „Serial Masculinity“, S. 381. 66 Murphet, American Psycho, S. 42. 67 Kuon, Der mimetische Konflikt, S. 225.

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Problematisch an all diesen Interpretationen ist, dass sie nicht nah genug am Text bleiben, sondern Spekulationen sind, hilflose Versuche, den Protagonisten zu psychologisieren und damit zu verstehen. Allerdings bietet der Text keinerlei Grundlage für solche Schlussfolgerungen, da er die Unverstehbarkeit des Protagonisten zur Maxime erhebt. Auch wenn unentscheidbar sein mag, ob der Protagonist ein Serienkiller oder ein Fantast ist, auch wenn unverstanden bleibt, was seine Motive sein mögen: Auf der rein textuellen Ebene passieren die Gewaltakte als Gewalt am Leser. Als Buchstaben auf Papier, die in der Vorstellung des Lesers ein Bild formen, sind die Folterungen existent, und in ihrer kaum erträglichen Grausamkeit müssen sie unverstehbar bleiben. Jeder Versuch, den Protagonisten zu psychologisieren und damit erklärbar zu machen, ist ein Versuch der Erklärung oder Entschuldigung der Gewalttaten. Damit jedoch verlieren sie einen Teil ihres verstörenden Potenzials. Gerade die Unerklärbarkeit und Unverstehbarkeit ist es, die entsetzt, verschreckt, fassungslos macht. Indem Emotionen vorenthalten, biografische Hintergründe ausgespart werden, erhalten die Folterszenen in ihrer Extremität eine Wucht, auf die der Leser wiederum affektiv zu reagieren gezwungen ist. Auf diese Weise überträgt der Ich-Erzähler seinen nicht näher bezeichneten Schmerz durch das Leseerlebnis auf den Rezipienten, der beim Lesen Qualen erleidet: Abscheu, Ekel, Widerwillen gegen das Gelesene, aber auch Lust und Faszination daran vereinen sich zu einer emotionalen Grenzerfahrung. Eine Szene aus dem Roman mag dies beispielhaft verdeutlichen. Bateman hat zwei Call-Girls in Paul Owens Apartment eingeladen, den er einige Monate zuvor mit einer Axt ermordet hat. Die beiden Mädchen Torri und Tiffany haben zunächst freiwillig Sex mit ihm, bevor er noch während des Geschlechtsverkehrs brutal wird und Tiffany beim Oralverkehr ihre Schamlippen abbeißt. Die Mädchen geraten augenblicklich in Panik, doch bevor sie flüchten können, blendet er beide mit Pfefferspray und schlägt sie bewusstlos. „Torri awakens to find herself tied up, bent over the side of the bed, on her back, her face covered with blood because I’ve cut her lips off with a pair of nail scissors. Tiffany is tied up with six pairs of Paul’s suspenders on the other side of the bed, moaning with fear, totally immobilized by the monster of reality. I want her to watch what I’m going to do to Torri and she’s propped up in a way that makes this unavoidable. As usual, in an attempt to understand these girls I’m filming their deaths. […] I start by skinning Torri a little, making incisions with a steak knife and ripping bits of flesh from her legs and stomach while she screams in vain, begging for mercy in a high thin voice, and I’m hoping that she realizes that her punishment will end up being relatively light compared to what I’ve planned for the other one. I keep spraying Torri with Mace and then I try to cut off her fingers with nail scissors and finally pour acid onto her belly and genitals, but none of this comes close to killing her, so I resort to stabbing her into the throat and eventually the blade of the knife breaks off in what is left of her neck, stuck in bone and I stop. While

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Tiffany watches, finally I saw the entire head off – torrents of blood splash against the walls, even the ceiling – and holding the head up, like a prize, I take my cock, purple with stiffness, and lowering Torri’s head to my lap I push it into her bloodied mouth and start fucking it, until I come, exploding into it.“ (AP, S. 304)

Die Beschreibung setzt sich noch knapp zwei Seiten fort, bis Bateman auch das andere Call-Girl zu Tode gefoltert hat. Diese erliegt schließlich den schweren Verletzungen, die Bateman ihr mit einer Bohrmaschine im Gesicht zugefügt hat, um durch den unnatürlich vergrößerten Mund in ihre Kehle greifen zu können und die dort befindlichen Venen mit einem Ruck herauszureißen. Kurz bevor sie an diesen Verwundungen stirbt, reißt er mit bloßen Händen ihr Abdomen auf und wühlt in ihren Eingeweiden. Die detailgenaue Beschreibung der Handlungen und die differenzierte Schilderung der körperlichen Vorgänge sowohl beim Opfer als auch beim Täter zwingen den Leser dazu, ein genaues Bild der Folterszene zu entwickeln. Dabei fällt auf, dass Ellis auch bei der Darstellung der Folter denselben präzise-beschreibenden Stil beibehält, den er während der gesamten Erzählung pflegt: hypotaktisch, mit Haupt-, Nebensätzen und Einschüben sowie der häufigen Verwendung des Gerundiums. Neben Adjektiven und Adverbien kommen sogar Vergleiche („like a prize“) und Metaphern („monster of reality“)68 zur Anwendung. Der Stil der Folterszenen unterscheidet sich somit nicht vom Stil der restlichen Erzählung.69 Auch Emotionsworte lassen sich in dem kurzen Auszug finden, jedoch beziehen sich diese ausschließlich auf das Opfer Torri, Batemans Emotionen werden mit keiner Silbe erwähnt. Dies wiederum ist typisch für alle Folter- und Mordszenen im Roman. Flory bezeichnet den Protagonisten daher als „Leer-Charakter […], der vom Leser ausgefüllt wird.“70 Emotionen, die Bateman nicht hat, müssen vom Leser an den Text herangetragen werden. Messier erklärt hierzu: 68 Diese Metapher ist offen für eine Fülle an Interpretationsmöglichkeiten. Eine naheliegende Option ist, Bateman als das „monster of reality“ zu verstehen, da er derjenige ist, der Tiffany bewegungsunfähig gemacht, sie immobilisiert hat. Die Metapher könnte auch für die Hosenträger stehen, die als fesselndes „monster of reality“ personifiziert werden. Genauso könnte man aber auch die gesamte Situation, in der das Mädchen sich befindet, als monströs beschreiben und ihre Schockstarre auf das Entsetzen zurückführen, das ihr die Monstrosität ihrer aktuell realen Situation einflößt. Wer oder was genau das Monster ist, bleibt ganz postmodern der Interpretation des Lesers vorbehalten. 69 Messier schreibt hierzu: „Bateman does not possess an affective filter and uses either a purely formal syntax and quasi-uninflected speech to describe all events, whether taking a shower, having sexual intercourse, or brutally mutilating his victims.“ (Messier, „Violence“, S. 83) 70 Flory, Out is in, S. 204.

206 | D AS NICHTS UND DER SCHMERZ . E RZÄHLEN BEI B RET E ASTON ELLIS „Far from receiving any escape route the reader consequently becomes the focal point of the narrative. The irony of Ellis’ minimalist prose style and Bateman’s unaffected voice is that they relegate the responsibility for feelings and emotions to the reader. In other words, the reader is able to feel what Bateman does not – namely, feelings of disgust and repulsion for the acts of sexual violence. It is the absence of affect on Bateman’s part […] that creates the intimacy between the reader and the protagonist. Without a primary filter of characterization and personality, the reader subsequently becomes Bateman. Moreover, it is also Bateman’s lack of personality […] that not only plunges the reader into filling this blank by becoming Bateman but also makes him or her long for the violence as the only antidote to boredom which plagues the never-ending descriptive passages of the novel.“71

Messiers radikale These, dass der Leser durch den Mangel an Emotionen im Text selbst zu Bateman werde, ist meines Erachtens überzogen. Eine derart vollständige Auflösung in den Romancharakter würde die Aberkennung der Fiktionalität des Textes voraussetzen. Stattdessen macht der Text den Leser gerade durch die Abwesenheit eines charakteristischen, individuellen Protagonisten zum Komplizen. Durch das Fehlen von Persönlichkeit und Emotionen, die die Hauptfigur unverwechselbar machen würden, wird Bateman zu einer weißen Fläche, auf die sich Charaktereigenschaften des Lesers projizieren lassen. So wenig wie Bateman im Gegensatz zu Clay Beobachter ist, kann der Leser Beobachter bleiben. Durch die affektlose Genauigkeit der Beschreibungen und die Affektlosigkeit des Protagonisten wird der Leser gezwungen, eigene Affekte in den Text zu investieren. Dabei spürt der Rezipient allerdings nicht in einem Akt der Empathie die mutmaßlichen Emotionen Batemans nach (Machtgefühl, Erregung, Blutrausch etc.), sondern er reagiert affektiv auf den Text. Um diesen Effekt zu erzeugen, sind im Text verschiedene Lenkungsstrategien angelegt, die die Affektproduktion im Leser anregen sollen. Im Folgenden werden diese kurz ausgeführt. 1. Schockästhetik. Die völlige Auslöschung seiner Opfer, die totale Vernichtung des Körpers mit medizinisch-anatomischer Genauigkeit führt auf der Ebene der Fiktionsemotionen zu Ekel und Abscheu, aber gleichzeitig zu einem Entsetzen, einem Schock, der an die Schockästhetik surrealistischer Filme erinnert. Hier sei der Vergleich mit Luis Buñuels und Salvador Dalís Film UN CHIEN ANDALOU (1929) erlaubt, in welchem in der Eingangsszene ein Mann das Auge einer vor ihm sitzenden Frau mit einem Rasiermesser durchschneidet. Diese Szene löst in ähnlicher Weise einen Schock im Rezipienten aus: In Nahaufnahme und völlig unerwartet, mit chirurgischer Präzision fährt die Klinge durch das Auge der Frau. Die Plötzlichkeit und Detailliertheit der Szene lässt den Zuschauer in fassungslosem Entsetzen zu71 Messier, „Violence“, S. 86f.

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rück. Nach exakt diesem etablierten Muster von Unerwartetheit und Präzision in der Darstellung verfährt auch Ellis. 2. Zweckentfremdung des Werkzeugs. Auch die Zweckentfremdung des Werkzeugs, das bei Buñuel und Dalí ein zur Rasur gedachtes Messer ist, welches nun zur Blendung eingesetzt wird, findet sich bei Ellis, jedoch mit einer bis zur Groteske verzerrten Perfidie. Sein Protagonist bedient sich bei der Folterung und Zerstörung seiner Opfer keiner herkömmlichen Instrumente, sondern beweist grausamen Einfallsreichtum: Allein in der zitierten Szene benutzt er ein Steakmesser, Pfefferspray, eine Nagelschere, Säure und schließlich eine Bohrmaschine. Noch während der Verwunderung darüber, was man alles mit einer Nagelschere anstellen kann, drängen sich gleichzeitig Erinnerungen an eigene Erfahrungen mit diesen Gegenständen auf: Die Nagelschere ist zwar zur Beschneidung des Körpers gedacht, jedoch einzig zur Abtrennung toten Gewebes – nun werden Lippen und Finger mit dieser winzigen Schere amputiert. Unweigerlich fragt man sich als Leser, wie sich der Widerstand von Haut und Muskeln, Sehnen und Knochen unter den kleinen, kaum geschärften Klingen der Nagelschere anfühlen mag, vergleicht den bekannten Druck der Bohrmaschine auf einer Wand mit dem vermuteten Widerstand von Zähnen und Schädeldecke – schon setzen sich Vorstellungen im Kopf des Lesers fest. Er wird verstrickt in die ‚Originalität‘ und ‚Kunstfertigkeit‘ der Morde mit einem Mix aus Verwunderung und Bestürzung, Erstaunen und Betroffenheit. Fiktionsemotionen, ästhetische Emotionen und Meta-Emotionen stürzen den Leser in ein Wechselbad der Gefühle. Mit der Zweckentfremdung des Werkzeugs wird bereits eine Ambiguität in der emotionalen Leserreaktion erzeugt, die jedoch noch weiter führt. 3. Empathieerregung. So wie die technischen Details, die den Vergleich mit eigenen Erfahrungen provozieren, den Leser zu einer fast identifikatorischen Reaktion mit dem Täter verführen, erregen sie geradezu schmerzhaft Empathie mit dem Opfer. Zwar mag kaum nachvollziehbar sein, wie sich eine Häutung oder Köpfung anfühlt, aber kleine Verletzungen wie eine aufgerissene Lippe, einen Schnitt im Finger kennt jeder Leser. Ellis spielt mit den Erinnerungen an den Schmerz solcher Verletzungserlebnisse, indem er sie pervertiert: Aus der aufgerissenen Lippe werden abgeschnittene Lippen, aus dem leicht verwundeten Finger werden amputierte Finger. Auf diese Weise wird das Schmerzgedächtnis angeregt, fast körperlich meint man den Wundschmerz der abgeschnittenen Lippen, der amputierten Finger zu verspüren, obwohl man doch nur die aufgerissene Lippe, den Schnitt im Finger kennt. So wird der Leser geschickt in die Opferrolle hineingedrängt, während er gleichzeitig zur Konvergenz mit dem Täter provoziert wird. 4. Dokumentarischer Erzählstil. Jenseits solcher inhaltlichen Aspekte trägt gerade der dokumentarische Erzählstil dazu bei, gegensätzliche Reaktionen beim Leser auszulösen. Einerseits erleichtert er das Aushalten des Leseprozesses, da durch die fast filmisch wirkende Erzählweise, die von externaler Fokalisierung bestimmt ist,

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eine Distanz hergestellt wird. Andererseits zwingt er den Rezipienten zu einer affektiven Reaktion auf den Text, da er die Lesererwartung an eine emotionale Beteiligung der Hauptfigur nicht erfüllt. Die verweigerte emotionale Einfühlung des Erzählers in den Leser, das damit beim Leser ausgelöste Gefühl der Gefühllosigkeit, ist somit verantwortlich für Irritation und gleichermaßen Faszination beim Rezipienten. Im Leser spielen sich damit erneut zwei diametrale Prozesse ab: Einerseits Gegenwehr gegen die Dynamik des Textes – der Leser empfindet auf der Ebene der Fiktionsemotionen Ekel und Abscheu –, andererseits Identifikation mit ihm – durch die meta-emotionale Lust am Ekel wird die Distanz zwischen Leser und Protagonist aufgelöst, durch das Einbringen eigener Emotionen eine Nähe zum Protagonisten hergestellt. Flory erklärt hierzu, die Wirkung des Romans liege darin, dass er psychopathologische Aspekte im Leser anspreche, 72 mit anderen Worten: Durch das Weiterlesen trotz größtem Ekel und vor allem dem Genuss daran macht sich der Rezipient beim Lesen von American Psycho zum Komplizen bei den Verbrechen der Hauptfigur. Diese Komplizenschaft verdient eine genauere Betrachtung. Da dieser Text nicht passiv konsumiert werden kann, sondern nach aktivem Einbringen des Lesers verlangt, ist es nicht die Hauptfigur, die eine Entwicklung durchmacht, sondern der Leser. Der Roman beginnt mit den Worten „ABANDON ALL HOPE YE WHO ENTER HERE“ (AP, S. 3, Kapitalisierung im Original) und endet mit dem Hinweis „THIS IS NOT AN EXIT“ (AP, S. 399, Kapitalisierung im Original), was ihn als geschlossenes System ausweist. Aus der Hölle von American Psycho gibt es kein Entkommen, weder für den Protagonisten noch für den Rezipienten. Für Bateman gibt es keine Erlösung, sondern nur einen ewigen Kreislauf aus weiteren Restaurantbesuchen, Parties und Foltermorden. Für den Leser hingegen ist das Buch noch lange nicht vorbei, wenn es geschlossen ist; die Vorstellungen, die der Roman evoziert, bleiben im Gedächtnis eingebrannt. Dabei ist es eine erzähltechnische Irreführung des Lesers, dass Batemans Grausamkeit sich während des Romans langsam steigere; es ist aber nicht Batemans Grausamkeit, sondern die Explizität der Gewaltdarstellungen, die sich steigert. Zunächst werden nur Andeutungen darüber verloren, dass Bateman ein Mörder sein könnte. Vor allem im ersten Teil des Romans werden durch interne Fokalisierung die Taten gedanklich antizipiert: Bateman stellt sich vor, wie er Personen aus seinem Umfeld töten könnte, tut es aber nicht.73 Dies ruft 72 Flory, Out is in, S. 204. 73 Zwei Bespiele mögen an dieser Stelle genügen, da sie stellvertretend für eine Vielzahl an Gedankenspielen Batemans stehen: „I have a knife with a serrated blade in the pocket of my Valentino Jacket and I’m tempted to gut McDermott right here in the entranceway, maybe slice his face open; but Price finally waves us in and the temptation to kill McDermott is replaced by this strange anticipation to have a good time, drink some

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Irritation beim Leser hervor, denn es durchbricht die Routine-Kapitel auf unerwartete Weise. Gleichzeitig dienen diese Gedankenberichte als Vorbereitung für den Leser. Was er bislang nur vermuten konnte, wird mit der Misshandlung des Obdachlosen Al (AP, S. 131) bestätigt und kommt keineswegs überraschend.74 Bei den drei nun folgenden Morden sind die Opfer ebenfalls männlich: ein schwuler Hundebesitzer und dessen Sharpei – Mensch wie Hund werden erstochen – (AP, S. 165f.), ein asiatischer Lieferjunge (AP, S. 180f.) und sein verhasster und beneideter Arbeitskollege Paul Owen, den er mit einer Axt niederstreckt (AP, S. 217ff.). Erst ab jetzt treten die Sexualmorde in den Fokus, die trotz gleichbleibender präzisebeschreibender und affektloser Erzählweise größeren Abscheu erregen. Die Verknüpfung mit Sexualität ist es, die diese Morde sehr viel unerträglicher machen als die vorangegangenen. Flory führt aus, dass sich die Schilderung der Sexualmorde langsam steigert.75 Während bei Christie, einem Mädchen vom Straßenstrich, und Sabrina, einem Call-Girl, noch Sex ohne Mord stattfindet und die Folter der beiden ausgeblendet wird (AP, S. 173ff.), findet beim Mord an Batemans Ex-Freundin Bethany kein gemeinschaftlicher Sex statt. Die sexuelle Misshandlung Bethanys, bei der er ihr die Zunge mit einer Nagelschere herausschneidet und sich anschließend oral an ihrem blutigen Mund befriedigt, ist schon Teil der Folter (AP, S. 245ff.). Christie und Elizabeth, eine Bekannte Batemans, haben zunächst lesbischen Sex vor Batemans Augen, bevor die Erzählung einen Schnitt macht und der Leser ohne Übergang mitten in die Folter hineingeworfen wird (AP, S. 288ff.). Bei Torri und Tiffany verschwimmt der Sex mit Gewalt (s.o.), bevor er die Mädchen ermordet; beim Sex mit einem namenlosen Mädchen gehört die Anwendung von Gewalt schon zum sexuellen Spiel, bevor es dem Mädchen zu hart wird und sie aussteigen will – natürlich wird auch sie von Bateman grausam zu Tode gebracht, auf die vielleicht widerwärtigste Weise, die der Roman zu bieten hat: Nachdem Bateman ihr eine hungrige Ratte in die von Säure verstümmelte Vagina appliziert hat, die das champagne, flirt with a hardbody, find some blow [Kokain, Anm. d.Verf.], maybe even dance to some oldies or that new Janet Jackson song I like.“ (AP, S. 52) „I would have broken into Scott and Anne’s studio at around two this morning – after Late Night with David Letterman – and with an ax chopped them to pieces, first making Anne watch Scott bleed to death from gaping wounds, and then would have found a way to get to Exeter where I would pour a bottle of acid over their son’s slanty-eyed zipperhead face. Our waitress is a little hardbody who is wearing gold faux-pearl tasseled lizard sling-back pumps.“ (AP, S. 95, Hervorhebungen im Original) 74 Die Misshandlung Als ist in der Sekundärliteratur häufig als erster Mord missdeutet worden, jedoch wird nicht erwähnt, dass Al an seinen Verletzungen stirbt. Bateman begegnet ihm später sogar wieder und erkennt im blinden und verstümmelten Bettler sein vormaliges Opfer (AP, S. 385f.). 75 Flory, Out is in, S. 201.

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Mädchen langsam von innen auffrisst, zersägt er sie bei lebendigen Leib mit einer Kettensäge (AP, S. 326ff.). Danach flacht die Brutalitätskurve, die mit dieser Szene ihre grausige Klimax erreicht, wieder ab. Beim nächsten Mal steigt der Leser erst ein, als die Folter an einem unbekannten Mädchen bereits vorbei und es getötet ist. Er begleitet Bateman nur noch dabei, wie er sich in einem Akt von Kannibalismus an den Überresten des Mädchens vergeht (AP, S. 344ff.). Flory bemerkt hierzu: „Man sollte hier nicht übersehen, dass die Zunahme an Gewalt und die immer enger werdende Verknüpfung von Sexualität und Brutalität, die der Leser empfindet, durch die Art der Darstellung stattfindet, da der Text immer expliziter wird. Hingegen bleibt die Gewalt, die innerhalb von Batemans fiktiver Welt stattfindet, immer auf einem mehr oder weniger gleichmäßigen Niveau. […] Bateman hat bereits gemordet, bevor der Roman beginnt und er wird auch über den vom Roman abgedeckten Zeitrahmen hinaus weitermorden. Es ist der Leser, nicht der Protagonist, der im Verlauf des Romans eine Entwicklung durchmacht.“76

Wieder ist es der Leser, der die Hauptrolle spielt, nicht der Protagonist. Indem ihm eine langsame Steigerung der Grausamkeit suggeriert wird, erweitert sich unmerklich die Toleranzgrenze des Lesers, bis er, ohne es selbst erfasst zu haben, sie schon überschritten hat. Auch darin besteht eine Mitschuld des Lesers: Das allmähliche Abstumpfen gegen die Brutalität Batemans erzwingt eine Steigerung in der Darstellung, da nur durch noch schlimmere Grausamkeiten der Rezipient in Entsetzen, Abscheu und gleichzeitig Lust am Ekel versetzt werden kann. 6.1.2 Schlussfolgerungen: Affektlosigkeit – Affektfülle Die vorangegangenen Seiten konnten zeigen, dass sich die Routine- und die Gewalt-Kapitel stilistisch nicht voneinander unterscheiden. Ellis verwendet für die Beschreibung des Alltagslebens seines Protagonisten den gleichen Stil wie zur Beschreibung der Mordszenen; die affektlos-beschreibende Stimme des Erzählers verändert sich nicht. Damit wird eine Gleichordnung erzeugt zwischen Alltag und Folter: Der Alltag wird pathologisiert, die Folter veralltäglicht. Indem weder eine stilistische noch affektive Unterscheidung zwischen Alltag und Folter vorgelegt wird, wird das Pathologische zum Alltäglichen und das Alltägliche erscheint pathologisch. Auf diese Weise wird eine Ästhetik erzeugt, die in allem, was in der Erzählung geschieht, das Pathologische in den Vordergrund rückt. Dies zugrunde legend scheint es plausibel, den für das vorangegangene Unterkapitel gewählten Titel Eine Ästhetik des Pathologischen gleichermaßen als Vorschlag zur Bezeichnung des Stils an sich zu verstehen. 76 Ebd., S. 203.

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Dabei nimmt die Affektlosigkeit in American Psycho sowohl für den Erzähler als auch für den Leser in dreierlei Hinsicht eine entscheidende Rolle ein. 1. Zwar verwendet der Erzähler Emotionsworte, weshalb im Gegensatz zu Less Than Zero nicht von emotionslosem Erzählen die Rede sein kann. Er lädt diese Emotionsworte jedoch niemals mit Inhalt auf: Die Angst, die den Protagonisten bestimmt, bleibt namenlos und damit unverstehbar. Was Bateman an Emotionen benennt, ist für den Leser nicht nachvollziehbar, weil er niemals daran teilhat, wie sich die Emotionen für Bateman anfühlen. In American Psycho werden Emotionen stets nur behauptet, jedoch niemals konkret erfahren. Damit ist die Erzählweise dem affektlos-postulierenden Erzählen zuzuordnen. 2. Gleichermaßen unverstehbar ist die Leere, die den Protagonisten auszeichnet. Nicht nur Batemans empfundene existenzielle Leere, sondern auch die Leere seines Charakters machen den Protagonisten zu einer Hülle ohne Persönlichkeit, die vom Leser ausgefüllt werden muss. Sowohl die existenzielle Leere als auch die charakterliche Leere werden von Affektlosigkeit determiniert. In Situationen, in denen gemäß der Lesererwartung ein Affekt fällig wäre, bleibt dieser aus – der Leser wird emotional nicht abgeholt, sondern muss eigene Affekte in den Text einbringen. Gerade indem dem Leser Affekte des Protagonisten vorenthalten werden, wird er gezwungen, starke Affekte in Bezug zum Textgeschehen zu entwickeln. Die Affektlosigkeit der Hauptfigur erzeugt eine Affektfülle im Leser, womit der Leser einerseits als Gegensatz zu Bateman, andererseits aber als Ergänzung zu ihm auftritt. 3. Auch hinsichtlich des Stils ist die Affektlosigkeit zentral. Da sich die Stimme des Erzählers nicht verändert und er ohne affektiven Filter77 vom Alltag wie von Folter berichtet, ist das entscheidende Charakteristikum der Erzählung die Fülle an Beschreibungen. Anstatt dem Leser eine Geschichte darzubieten, werden ihm nur Beschreibungen gereicht: von Personen, von Kleidung, von Menüs, von Wohnungseinrichtungen, von Musikalben, von Fitnessübungen, von Verstümmelungen. American Psycho ist kein Roman mit einer Handlung, sondern eine endlose Beschreibung von Details. Diese Beschreibungen dienen der Abwehr des Lesers, da sie eine Identifikation mit dem Protagonisten erschweren. Das affektlose Erzählen Batemans sorgt also für Unverstehbarkeit von behaupteten Emotionen, für die Investition eigener Persönlichkeitsanteile und Affekte durch den Leser in den Text und für Distanz gleichermaßen wie Nähe. Mehrfach wird der Leser in das Textgeschehen eingebunden: als Lieferant für Emotionen, als Komplize bei Batemans Verbrechen, in letzter Instanz als Fokalisierungspunkt, auf den die gesamte Erzählung zuläuft. 77 Vgl. Messier, „Violence“, S. 83.

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Somit ist die affektive Hauptfigur des Romans nicht ihr Ich-Erzähler und Protagonist, sondern der Leser, der durch affektloses Erzählen in den Mittelpunkt gerückt wird. Er ist es, der Emotionen investiert, dem Charakter Persönlichkeit verleiht, eine Entwicklung durchmacht – er übernimmt die Aufgaben des autodiegetischen Erzählers und wird so zum Miterzähler der Geschichte. Im geschlossenen System von American Psycho operiert der Leser damit als wichtigste Funktion im Roman. Dieses Zusammenspiel von textcharakterisierenden Kräften aus affektlosem Erzählen, einer präzise-beschreibenden Ästhetik des Pathologischen und der erzwungenen Einbindung des Lesers ist es schließlich, das eine Abgrenzung von ihm ebenso wie eine Identifizierung mit ihm verunmöglicht und so das verstörende Potenzial des Romans ausmacht.

6.2 G LAMORAMA Auch Ellis’ vierter Roman entwickelt eine verstörende Wirkung, jedoch bedient er sich dafür, wie das vorliegende Kapitel zeigen möchte, anderer Mittel als sein Vorgänger. Allerdings scheinen zunächst die Gemeinsamkeiten zu überwiegen: Ähnlich American Psycho, dessen erstes Drittel sich mit der Trivialität der New Yorker Upperclass beschäftigt, beginnt auch Glamorama mit einer satirischen Beschreibung der Schönen und Reichen New Yorks, wobei dieses Mal der Fokus nicht auf der Wall Street, sondern auf der Modeindustrie liegt. Vor dem Hintergrund der Mitte der 90er Jahre, als Models nicht mehr nur Kleiderständer, sondern Superstars waren und Namen wie Claudia Schiffer, Naomi Campbell oder Linda Evangelista zu Marken wurden, eröffnet der semi-erfolgreiche Dressman und aspirierende Schauspieler Victor Ward gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Damien Nutchs Ross einen angesagten Club in Manhattan. Neben seiner festen Freundin Chloe Byrnes, die das Supermodel und gleichzeitig ein Türöffner für Victor in die Modewelt ist, unterhält er Affären mit Alison Poole, der Verlobten seines Geschäftspartners Damien, und Lauren Hynde, der besten Freundin Chloes, die gleichzeitig selbst eine Affäre mit Damien hat.78 Victors amouröse Verstrickungen bringen ihn jedoch 78 Dem kenntnisreichen Leser fallen bereits jetzt Rekrutierungen aus dem Personalinventar anderer Ellis-Romane auf: Victor Ward ist jener Victor Johnson, der in The Rules of Attraction auf Europa-Reise war; er hat einen Künstlernamen angenommen, um seinen Vater Samuel Johnson, US-Senator und Präsidentschaftswahlkandidat, nicht in verwandschaftlich-peinliche Bedrängnis zu bringen. Lauren Hynde trat ebenfalls in The Rules of Attraction als eine der drei Haupterzähler auf. Auch Alison Poole ist bereits aufgetaucht; eigentlich die Hauptfigur in Jay McInerneys Roman Story of My Life (1988), erwähnt Patrick Bateman sie in American Psycho als eines seiner Vergewaltigungsopfer (AP, S. 207f.).

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immer mehr in die Bredouille – eine Affäre nach der anderen fliegt auf. Schließlich hat er es sich am Tag der Cluberöffnung mit allen verscherzt; er wird buchstäblich aus der Stadt geprügelt. Da kommt dem chronisch geldknappen Victor das Angebot eines gewissen F. Fred Palakon gerade recht, für 300.000 $ seine ehemalige College-Flamme Jamie Fields, der Victor in The Rules of Attraction während seines Auslandssemesters hinterherreiste, in Europa aufzuspüren. Hier nimmt die Geschichte eine Wende: Der Protagonist besteigt die Queen Elisabeth II und reist nach London, wo er Jamie auch tatsächlich findet. Er ahnt jedoch nicht, dass Jamie Mitglied einer Terrorzelle ist, die vom ehemaligen Model Bobby Hughes angeführt wird. Unabsichtlich verstrickt er sich immer tiefer in die Machenschaften der Model-Terroristen-Clique und wird schließlich als Mitglied rekrutiert. In seiner Funktion als Terrorist ist Victor für zahlreiche Bombenanschläge in Paris und gezielte Morde mitverantwortlich. Palakon, der sich als Drahtzieher hinter sämtlichen Verwicklungen herausstellt und mit allen beteiligten Seiten – Victors Vater, hochrangigen Politikern, ausländischen Investoren, den Terroristen – paktiert, gelingt es zwar, Victor aus den Fängen der Terroristenmodels zu befreien, jedoch zum Preis vieler Menschenleben: Neben Mitgliedern der Terrorzelle müssen auch ihr Anführer Bobby, Jamie und sogar Chloe Byrnes ihr Leben lassen. Victors Freiheit währt allerdings nur kurz. Nachdem er in New York ein geregeltes Leben begonnen hat, wird er entführt und in einem Hotel in Mailand gefangen gehalten. Der Roman endet unvermittelt im Mailänder Hotel, ohne Aussicht auf eine Errettung Victors. Jedoch muss die Zuverlässigkeit des Berichts stark in Zweifel gezogen werden. Der Protagonist und Ich-Erzähler der Geschichte stellt sich als höchst unzuverlässige Instanz heraus, die Fehler bei der Darstellung der Fakten macht, Zusammenhänge nicht durchschaut, Geschehnisse falsch interpretiert und zu allem Überfluss die ganze Zeit glaubt, Hauptdarsteller in einem Film zu sein – Victor richtet sein ganzes Leben nach einem eingebildeten Drehbuch aus und ist überzeut, pausenlos von einer Kameracrew begleitet zu werden. Mit Glamorama entscheidet sich Ellis erstmals dafür, eine sich entwickelnde Handlung zu zeichnen. Damit nimmt Glamorama, wie Flory treffend bemerkt, eine Sonderposition im Gesamtwerk Ellis’ ein:79 Sein vierter Roman ist als Wendepunkt zu sehen, mit dem er sich von seiner vorherigen, fragmentarischen Erzählweise ablöst und nun erstmals einen Plot und Charakterentwicklung etabliert. Flory moniert jedoch, dass es sich bei Glamorama um Ellis’ „am wenigsten verständlichstes [!] und am schwersten zugängliches Werk“80 handle, da einerseits der Protagonist Realität und Fiktion kaum auseinander halten könne, andererseits das Buch eine komplexe Verschwörung beschreibe. Zwar sind dies keine hinreichenden Gründe, die einen Roman zwingend unverständlich machen, aber dennoch hat Flory mit 79 Flory, Out is in, S. 272. 80 Ebd., S. 272.

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seiner Feststellung von Unverständlichkeit und Unzugänglichkeit Recht. Der Roman entpuppt sich als ein unzuverlässig erzählter Text, der vorgibt, „mimetisch unentscheidbar“81 erzählt zu sein. Da es keine expliziten Textsignale gibt, die die Ungereimtheiten des Romans auflösen, drängt sich dem Leser der Eindruck auf, der Text sei der Kategorie des unentscheidbaren Erzählens zuzuordnen. Jedoch lassen sich durch implizite Textsignale die Widersprüche als unzuverlässiges Erzählen des Ich-Erzählers auflösen. Obwohl Glamorama damit eine Herausforderung an die Syntheseleistungen des Lesers darstellt, der während der gesamten Handlung gezwungen ist, Victors Erzählung mitzureflektieren, Lücken interpretativ zu schließen und sich als Detektiv selbst an der Auflösung der Verschwörung zu beteiligen, gibt Ellis auch für diesen Roman wieder Hinweise, wie er ihn verstanden wissen möchte. Diese werden im Folgenden nacheinander beleuchtet, wobei zunächst der Romantitel und anschließend die vorangestellten Zitate analysiert werden. Glamour und Terror Der Titel des Romans ist irreführend und unverständlich, wenn man ihn nicht in seine einzelnen Bestandteile zerlegt, denn der Neologismus aus dem englischen 82 „glamour“ und dem griechischen Wort „horama“ steht für einen Mix aus verschiedenen Bedeutungen. Das Concise Oxford English Dictionary definiert „glamour“ wie folgt: „1. an attractive and exciting quality, especially sexually allure. ► [as modifier] denoting or relating to erotic or mildly pornographic photography or publications. 2. [archaic] enchantment; magic ORIGIN C18:

alt. of GRAMMAR, with ref. to the occult practices assoc. with learning in medi-

eval times“83

Referierend auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes, die sich aus dem lateinischen grammatica (aus dem griechischen grammatikē stammend) sowie dem fran-

81 Martinez/Scheffel, Erzähltheorie, S. 103. Zur Methodik siehe den kurzen Exkurs zu unzuverlässigem und unentscheidbaren Erzählen unter Kap. 6.2.2. 82 Diese Verbindung wurde erstmals von Nielsen erkannt. Nielsen, Henrik Skov: „Telling Doubles and Literal-Minded Reading in Bret Easton Ellis’s [!] Glamorama.“ In: AlainPhilippe Durand/Naomi Mandel (Hg.): Novels of the Contemporary Extreme. London: Continuum 2006, S. 20-29. 83 Soanes, Catherine/Stevenson, Angus (Hg.): Concise Oxford English Dictionary. Oxford: Oxford University Press 2004. S. 603.

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zösischen grammaire zusammensetzt, 84 bedeutet „glamour“ damit Lernen, Wissenszuwachs, Entwicklung.85 Mit anderen Worten: Wer sich der vollen Bedeutung des Wortes „glamour“ bewusst ist, erwartet in diesem Roman nicht nur erotische Szenen, sondern gleichermaßen einen Lern- und/oder Entwicklungsprozess. Entsprechend ist Victor im ersten Drittel des Romans ein blasierter, oberflächlicher und ungebildeter Banause, der sich ausschließlich für seine stagnierende Karriere als Model und Schauspieler sowie seine zahlreichen sexuellen Abenteuer interessiert – auch dies wird mit der sexuellen Komponente des Titels schon angekündigt –, durchläuft jedoch im Verlauf der Handlung eine charakterliche und emotionale Veränderung. Der griechische Part des Neologismus, „horama“, lässt sich mit „Sicht“, „Blick“ oder „Vision“ übersetzen.86 Nielsen interpretiert diesen Teil des Titels in seinem Aufsatz im Sinne der Bedeutung „Sicht“/„Blick“ als Aufforderung an den Leser, die Position eines Beobachters einzunehmen.87 Auch wenn der Leser durchaus in die Haltung eines Beobachters gedrängt wird, ist diese Annahme, wie das vorliegende Kapitel zeigen wird, meines Erachtens unterkomplex. So wird der Leser durch die Komplexität des Romans, ähnlich wie in The Rules of Attraction und American Psycho, zur Interaktion mit dem Text genötigt. Anders jedoch als in The Rules of Attraction, wo der Leser als Syntheseinstanz wirkt, oder als in American Psycho, wo der Leser als Komplize der Hauptfigur und emotionale Quelle für den 84 Ebd., S. 618. Etymologisch entwickelte sich aus dem griechischen grammatikē („Buchstabe“/„Schreibkunst“) das mittelalterliche lateinische Wort grammatica, das die Bedeutung „lernen“ trug. Durch die Assoziation von Wissen mit Magie erhielt das Wort „grammar“ die Zusatzbedeutung „Zauber, Magie“. Im 18. Jahrhundert etablierte sich im schottischen Englisch die Schreibweise „glamour“ und legte die Wortbedeutung auf „Magie“ einerseits und etwas später auf „eine attraktive und aufregende Eigenschaft“ fest. 85 Nielsen interpretiert die Bedeutung des Wortes „glamour“ allerdings anders: Er versteht die ursprüngliche Referenz auf „grammar“ unter Rückbezug auf den griechischen Ursprung als Aufforderung an den Leser, den Roman buchstäblich, also „literal-minded“, zu lesen und sieht in der Konsequenz den Erzähler als zuverlässig an. Dass diese Lesart zwar originell, aber keineswegs einleuchtend ist, wird meine folgende Analyse des Romans zeigen. Nielsen, „Telling Doubles”, S. 21. 86 BibleStudyTools. http://www.biblestudytools.com/lexicons/greek/nas/horama.html vom 04.02.2013. Bei BibleStudyTools handelt es sich um eine amerikanische christliche Webpage, die u.a. einen Übersetzungsservice für hebräische und griechische Bibelworte anbietet. Die Definition von „horama“ lautet „1. that which is seen, spectacle, 2. a sight devinely granted in an ecstasy or in a sleep, a vision“ und wird mit „sight, vision“ übersetzt. 87 Nielsen, „Telling Doubles“, S. 21.

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Roman dient, wird der Leser in Glamorama zum Detektiv gemacht, der die Verschwörung entwirren, dafür Indizien zusammenführen und eigene Interpretationen einbringen muss, um den Text aufzulösen. Das Wort „horama“ wäre somit viel eher in seiner zukunftsweisenden Bedeutung „Vision“ zu interpretieren, die im Rückschluss auf die Bedeutung des Wortes „glamour“ erneut den Veränderungscharakter des Romans hervorhebt. Der Titel Glamorama bezieht sich also demnach weder auf das erste Romandrittel, das sich mit der Oberflächlichkeit der New Yorker Upperclass beschäftigt, noch auf die vom Terror bestimmten Romanteile, sondern vielmehr auf Ellis’ neu etablierte Erzählweise, die nicht nur einen sich entwickelnden Plot, sondern vor allem einen sich entwickelnden Protagonisten einsetzt. Aber nicht nur der Titel ist bedeutsam, sondern auch die präludierenden Zitate, die Ellis seinem Roman voranstellt. Er entscheidet sich für Aussagen zweier gegensätzlicher Figuren der Weltgeschichte, die jedoch beide als (ideologische) Führer wirkten: Krishna und Hitler. „There was no time when you nor I nor these kings did not exist. – Krishna You make a mistake if you see what we do as merely political. – Hitler“ (G, S. XI, Hervorhebungen im Original)

Das Krishna-Zitat ist, ebenso wie der Titel, rätselhaft, wenn man sich mit der Lehre Krishnas nicht auskennt. Ellis hat eine leicht veränderte Variante des Zitats gewählt, deren englische Übersetzung gemäß Holden lautet: „Never was there a time when I did not exist, nor you, nor all these kings; nor in the future shall any of us cease to be.“ 88 Diese Aussage tätigte Krishna gegenüber seinem verzagten Freund Arjuna, der in der Schlacht nicht den Mut zum Angriff fand. Holden interpretiert in Kenntnis der Lehre Krishnas den Satz wie folgt: „Krisna is telling us that death is not an end – life itself continues, and always will, as it always has. The implication here is that reality is not what it appears to be to the senses, or even to the common sense view.“89

Anders gesagt: Selbst wenn das Leben des Individuums vorüber ist, ist das Leben als solches nicht beendet. Leben setzt sich unendlich fort, unabhängig vom Schicksal des Einzelnen. Holden versteht dies mit der Implikation, dass die menschliche 88 Holden, Nigel J.A.: „On the meaning of Krisna’s statement to Arjuna: ‚Never was there a time when I did not exist, nor you, nor all these kings; nor in the future shall any of us cease to be.‘“ In: Anthenaeum Library of Philosophy. http://evans-experientialism. freewebspace.com/holden06.htm vom 15.09.2011. Holden benutzt in seinem Aufsatz die Schreibweise Krisna, die auf das h verzichtet. 89 Ebd.

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Wahrnehmung der Welt beschränkt, da sinnlich ist. Die Realität ist jedoch größer, unbegreifbarer, als mit menschlichen Sinnen erfasst werden kann. Für den vorliegenden Roman bedeutet dies zweierlei: 1. Die Geschichte ist nicht beendet, wenn Romanfiguren sterben; selbst wenn die Hauptfigur Victor sterben sollte, ist die Geschichte, die Verschwörung, größer als er selbst und setzt sich weiter fort. 2. Victors Wahrnehmung der Realität ist unvollständig, selektiv und verzerrt. In diesem Zitat liegt demnach bereits der erste Hinweis auf die erzählerische Unzuverlässigkeit der Hauptfigur. Das Hitler-Zitat90 hingegen erfüllt in erster Linie die Funktion eines Schockmoments. Hitler als Referenz zu wählen, stellt zunächst einmal eine Provokation dar, die mit nationalsozialistischen Inhalten kokettiert. Problematisch dabei ist, dass der Verweishorizont des Zitats zwar eine politische Motivation beinhaltet, diese aber im Romanverlauf nicht näher definiert wird. Auch scheinen weitere Interessen im Spiel zu sein. Die Ziele der Terrororganisation bleiben unklar. Dennoch wird die menschenverachtende Ideologie des Nazi-Regimes in Relation zu den Intentionen der Terrororganisation gesetzt, so dass der Eindruck zurück bleibt, dass um des Tötens willen getötet wird. Daran schließt direkt die zweite Implikation des Zitats an. Sie verweist darauf, dass den Leser erneut – wie schon in den Vorgängerromanen – Darstellungen expliziter Gewalt erwarten. Im Hitler-Zitat vereinen sich somit die Vorausdeutung auf ideologisch gefärbten, politisch undurchsichtigen Terrorismus mit der Aussicht auf die Beschreibung grausamer Szenen. Ellis selbst bemerkt zu den Eingangszitaten darüber hinaus, dass sie die beiden gegensätzlichen Teile seines Romans charakterisieren, wobei das Krishna-Zitat für das erste Drittel steht, in dem scheinbar noch alles ‚gut‘ ist, während das HitlerZitat für die Grausamkeit des anschließenden Teils kennzeichnend ist.91 Ellis selbst spricht also von einer Zweiteilung des Romans; diese lässt sich auch an der Struktur des Romans ablesen, die im Folgenden kurz beleuchtet werden soll.

90 Leider lässt sich das Hitler-Zitat keiner eindeutigen Quelle zuordnen. Da Ellis keine Quellenangabe macht und eine Übersetzung statt eines deutschen Originalsatzes verwendet, gestaltet sich eine Einordnung des Satzes als außerordentlich schwierig. Auch in der Sekundärliteratur zu Glamorama ist diesbezüglich nichts zu finden. Bislang wurde die Frage nach der Quelle des Hitler-Zitats scheinbar nicht aufgeworfen. Meine Nachfrage beim Institut für Zeitgeschichte in München hat ergeben, dass Hitler sich wohl häufiger so oder ähnlich geäußert habe, in diesem Wortlaut war der Satz den NS-Experten des Instituts jedoch nicht bekannt. Die Äußerung kann damit nicht als gesichertes Hitler-Zitat gelten. Insofern beziehe ich mich im Folgenden nur auf den Inhalt des Satzes und dessen Bedeutung für den Roman, gehe jedoch nicht auf die historische Figur Hitler ein. 91 Flory, Out is in, S. 303.

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Zweiteilige Romanstruktur Der bis dato längste Roman von Ellis ist in insgesamt sechs Teile untergliedert, die jeweils an einem anderen Ort spielen. Dabei läuft die Kapitelzählung innerhalb der Teile, bis auf den letzten Teil, jeweils rücklaufend ab. Der letzte Teil nimmt somit eine Sonderposition ein und kann als Epilog verstanden werden, der der eigentlichen Handlung des Romans nachgeschoben ist. Kurz zum Inhalt und strukturellen Stellenwert der sechs Romanteile: Teil I ist mit 34 Kapiteln (33 bis 0) der längste Teil und nimmt ein gutes Drittel der Romanlänge ein. Trotzdem ist die erzählte Zeit recht kurz: Es wird über nur drei Tage berichtet, in denen Victor mit den Vorbereitungen für die Cluberöffnung beschäftigt ist, Fotoshootings wahrnimmt oder sich mit seinen drei Geliebten amüsiert. Die Handlung ist in diesem Teil sehr dicht, der Leser begleitet die Hauptfigur nahezu auf Schritt und Tritt. Dies dient vor allem dazu, dem Leser ein fundiertes Bild des Protagonisten zu vermitteln, der als oberflächlicher, vergnügungssüchtiger, selbstverliebter Ignorant auftritt, der schamlos lügt und praktisch jeden seiner Bekannten und Freunde zu seinem Vorteil auszunutzen versucht – Victor ist wirklich kein Sympathieträger. Diesen Charakterzügen hat er es schließlich zu verdanken, dass sein Geschäft mit Damien Nutchs Ross platzt und er von all seinen Liebschaften abserviert wird. Abgebrannt und verprügelt nimmt er F. Fred Palakons seltsames Angebot an. Teil II spielt mit einer Länge von 17 Kapiteln (16 bis 0) in der Mitte des Atlantiks auf der Queen Elisabeth II. Die Überfahrt von Amerika nach Europa signalisiert eine Wende in der Handlung. Die ersten Hinweise für die Verschwörungsgeschichte werden gestreut: Auf der etwa fünftägigen Reise verschwindet Victors Kreuzfahrt-Flirt, die attraktive Marina Gibson, 92 auf mysteriöse Weise. Darüber hinaus ist dieser Teil des Romans allegorisch zu sehen: Der Protagonist lässt sein altes Leben hinter sich und macht sich auf in ein neues, unbekanntes Leben. Dem Leser wird allerdings, im Gegensatz zum Protagonisten, bereits jetzt klar, dass dieser sich auf ein gefährliches Abenteuer eingelassen hat.93 In dem etwa drei Tage abdeckenden Teil III gerät Victor in die Fänge der Terrororganisation. In London angekommen, hat er Jamie bei einem Science-FictionFilmdreh ausfindig gemacht. Nun nimmt sie ihn in diesem 15 Kapitel (14 bis 0) langen Teil mit zu ihren Freunden in ein Haus in Hampstead, wo Victor ihre Clique, 92 Marina stellt sich zunächst unter dem Namen Marina Cannon vor (G, S. 224), im weiteren Verlauf jedoch behauptet sie, ihr Name sei Gibson (G, S. 237). Victor hinterfragt diesen Umstand nicht. Später stellt sich heraus, dass Marina eine Gegenagentin ist, die Victor vom Erreichen Londons abhalten soll. Für wen Marina arbeitet, wird jedoch nicht enthüllt. 93 Dies greift zurück auf die literarische Tradition von Henry James, der die ‚Alte Welt‘ Europa stets als sündig und gefährlich darstellt.

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bestehend aus den Models Bobby Hughes, Bentley Harrolds, Bruce Rhinebeck und Tammy Devol, kennenlernt. Auf Bitte von Bobby holt er ein asiatisches Topmodel namens Sam Ho aus einem Club ab und wird kurz darauf im Kellerraum der Villa Zeuge am Mord Sam Hos. Dem Protagonisten wird klar, dass er sich mit einer Mörderbande eingelassen hat, kann aber, da er als letzter mit dem lebenden Sam Ho in einem Club gesehen wurde, nicht fliehen. Teil IV ist mit 39 Kapiteln (38 bis 0) der zweitlängste Teil des Romans, in dem die Arbeit der Terrororganisation und Victors Mitgliedschaft im Zentrum steht. In Paris werden unter Anleitung des Chefterroristen Bobby ein Giftanschlag (auf das Hotel Ritz) und vier Bombenanschläge auf vielbesuchte Orte (Institut für Politikwissenschaften, Café Flore, Pariser Metro, ebenfalls Hotel Ritz) ausgeführt, an denen Victor, zumindest an zweien, aktiv beteiligt ist: Beim Attentat auf die Metro platziert er einen Louis Vuitton-Tragebeutel mit einer Streubombe unter einem Metrositz, wo sie 15 Minuten später explodiert, 17 Menschen in den Tod reißt und 130 weitere schwer verletzt. Auch am Giftanschlag auf das Hotel Ritz ist Victor beteiligt: Gemeinsam mit Jamie vergiftet er den Pool während einer Fashion Show. 94 Indes sucht der Protagonist verzweifelt nach einer Möglichkeit, aus der Terrorzelle auszusteigen. Nachdem Bruce Rhinebeck und Tammy Devol im Auftrag Bobbys getötet wurden, trifft Victor seine Ex-Freundin Chloe auf einer Modenschau wieder. Er verspricht ihr, zu ihr zurückzukehren und will aus der Pariser Villa, dem Hauptquartier der Terrorclique, ausziehen. Dort findet er jedoch Bentley Harrolds an eine Bombe gefesselt vor. Er kann seinen Tod nicht verhindern, genauso wenig wie den von Jamie Fields, die im Garten stirbt. Zuvor beichtet sie ihm jedoch, dass sowohl sie als auch Lauren Hynde durch Doubles ersetzt worden seien, die Originale seien tot. Victor vermutet, auch er selbst habe in New York einen Doppelgänger. Bevor er jedoch mit Chloe fliehen kann, stirbt sie qualvoll an einem durch eine Vergiftung verursachten Blutsturz. Victor rächt sich an Bobby, indem er ihn in einem Duell Mann gegen Mann in einer Flughafentoilette ermordet. Dieser Teil des Romans stellt neben terroristischer Gewalt Victors existenzielle Ängste und Schuldgefühle in den Vordergrund. In Teil V, nur 10 Kapitel (9 bis 0) lang, ist Victor nach New York zurückgekehrt, lebt in einer festen Partnerschaft mit Alison Poole und hat an der NYU begonnen, Jura zu studieren. Dass seine neue heile Welt mehr Schein als Sein ist, zeigt ein Attentat auf ihn, dem er knapp entgehen kann, woraufhin er sich mit Eva, der Doppelgängerin Lauren Hyndes, in einem Lokal trifft. Der Roman endet unheilvoll mit Victors Entführung nach Mailand in Teil VI mit 15 Kapiteln (0 bis 14). Victor wird in einem Hotel gefangen gehalten und hat 94 Bei einem späteren Attentat wird das Hotel dann in die Luft gejagt; daran ist Victor allerdings nicht beteiligt. An einem Anschlag auf den Louvre soll Victor ebenfalls eine zentrale Rolle spielen. Dieser Anschlag scheitert jedoch.

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keine Aussicht auf Errettung. Ein Anruf bei seiner Schwester bestätigt, dass sein Double seinen Platz eingenommen hat. Victors Zukunft ist ungewiss. Diese Darstellung der Struktur ist notwendig, um zu verstehen, weshalb man für Glamorama von einer Zweiteilung des Romans ausgehen muss. Auch wenn die Handlung in sechs Teile gegliedert ist, sind es doch zwei Hauptstränge, die den Roman ordnen: Victors Leben in New York, das von Banalität und Oberflächlichkeit bestimmt ist, und Victors Leben mit der Terrororganisation, das von existenziellen Ängsten, Folter, Tod und Verzweiflung geprägt ist. Dabei sind Teil III und IV als thematisch zusammengehörig aufzufassen, nur durch die räumliche Veränderung (London – Paris) kommt die Trennung in zwei Teile zustande. Teil II wäre demnach als Übergang zwischen den beiden großen Romanhälften anzusehen, kann aber noch zum Hauptstrang der Banalität und Oberflächlichkeit gezählt werden, da Victor in diesem Teil noch alten Mustern folgt: Er langweilt sich in seinem Luxus und sucht Ablenkung in einem Flirt. Teil V hat schließenden Charakter, sollte aber zum zweiten Hauptstrang mit Existenzangst und Verzweiflung gerechnet werden, da sich seine Charakterwende direkt aus den Erfahrungen in Europa ergibt. Teil VI wirkt, schon allein wegen der gesonderten Kapitelzählung, als Epilog und nimmt damit eine Sonderposition ein. Eine schematische Darstellung kann dies verdeutlichen: I

II

Hauptstrang 1 Banalität/Oberflächlichkeit

III

IV

V

Hauptstrang 2 existenzielle Ängste/Verzweiflung

VI

Epilog

Abbildung 5: Schematische Darstellung der Romanstruktur in Glamorama

So wird verständlich, weshalb Ellis von zwei großen Hälften seines Romans spricht und nicht von sechs Teilen.95 Die Zweiteilung wird ebenfalls verdeutlicht durch die

95 Flory, Out is in, S. 303. Auch Sonia Baelo-Allué stimmt dieser Zweiteilung zu, wobei sie jedoch eine andere Grenze zieht. Anders als hier teilt sie den Roman nicht nach inhaltlichen/motivischen Aspekten, sondern nach genretheoretischen Gesichtspunkten. Sie macht den Schnitt nach Teil I und fasst von Teil II bis VI alles zum zweiten Hauptteil zusammen: „The double quotation [Krishna und Hitler, Anm. d.Verf.] also mirrors the two thematic concerns of the novel since Glamorama is divided into six parts but it has two clear sections. In fact, it seems like two novels in one: Part 1 is written as a novel of man-

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Charakterentwicklung Victors, der in den zwei Romanhälften eine drastische Wandlung durchmacht. Diese charakterliche Wende soll nun kurz beleuchtet werden, bevor es um Victors Qualität als Erzähler gehen wird. 6.2.1 Charakterentwicklung und Emotionalität Ellis’ vierter Roman Glamorama ist der erste, der eine charakterliche Entwicklung seines Protagonisten skizziert, die in enger Verbindung mit der emotionalen Entwicklung der Hauptfigur steht. Ohne die emotionale Wende, die Victor durchlebt, wäre auch seine charakterliche Veränderung nicht möglich. Daher soll auf den folgenden Seiten dieser emotional-charakterliche Entwicklungsprozess betrachtet werden. The better you look, the more you see Der Protagonist des Romans tritt in der ersten Romanhälfte als oberflächliche, selbstverliebte und arrogante Figur auf, die nicht nur ungebildet, sondern auch äußert egozentrisch ist. Sein häufigster Satz, den er in jeder Lebenslage zur Anwendung bringt, lautet „Spare me“.96 Anhand dessen macht Victor deutlich, dass er von allem verschont werden möchte, was nicht zur Steigerung seines Wohlbefindens beiträgt. „‚That’s not what I meant,‘ Anjanette says. ‚What would Chloe think of –‘ ‚Spare me, baby, but you’re supergreat.‘ I start the Vespa up again. ‚Take your passion and make it happen.‘“ (G, S. 21)

An dieser Textstelle verbindet Victor gleich zwei seiner bevorzugten Äußerungsformen: Auf die Anweisung, ihn zu verschonen, folgt ein nichtssagendes Songzitat,97 eine Methode, derer er sich stets bedient, wenn er nicht weiter weiß. In der Unterhaltung mit dem Topmodel Anjanette versucht er sich so aus der Affäre zu ziehen: Nachdem er einen guten Freund Chloes als verkappten Homosexuellen

ners, whereas Parts 2 to 6 seem to belong to the conspiracy thriller genre.“ Baelo-Allué, Controversial Fiction, S. 142, Hervorhebungen im Original. 96 Nach meiner Zählung fällt diese Äußerung allein in Teil I 35 Mal, auf den S. 7 2x, 10, 12, 14, 20, 21, 22, 29, 30, 32, 41, 42, 43, 52, 60, 61, 62, 63, 65, 70, 73, 84, 92, 97 2x, 106, 116, 127, 134, 156, 164, 167, 195, 199. 97 Flory hat sich die Mühe gemacht, eine Vielzahl der im Roman genannten Songzitate zu identifizieren. Nachzulesen bei Flory, Out is in, S. 295ff. In diesem Fall stammt es aus Irene Caras Song „What a Feeling“ aus dem 1983 erschienenen Tanzfilm FLASHDANCE.

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beschimpft hat („Am I the only one who thinks Jason Priestly98 looks like a little caterpillar?“ G, S. 21) und von Anjanette dafür gerügt wird, verlässt ihn die Lust an der Unterhaltung und er möchte schnell weiterziehen, nicht jedoch, ohne zuvor sein mangelndes Wissen und seine Unfähigkeit zum Mitdenken unter Beweis zu stellen. Anjanette erzählt ihm von einem Modeljob, den sie ergattert hat, Victor hält dies jedoch für einen Scherz: „‚Great, baby, I gotta run. What job, you crazy chick?‘ ‚Guess?.‘ ‚Matsuda? Gap?‘ I grin, limousines honking behind me. ‚Baby, listen, see you tomorrow night.‘ ‚No. Guess?.‘ ‚Baby, I already did. You’re mind-tripping me.‘ ‚Guess?, Victor,‘ she’s shouting as I pull away. ‚Baby, you’re great,‘ I shout back. ‚Call me. Leave a message. But only at the club. Peace.‘ ‚Guess?, Victor,‘ she calls out.“ (G, S. 21, Hervorhebungen im Original)

Hier liegt ein völlig absurdes Missverständnis vor. Während Anjanette Victor klarzumachen versucht, dass ihr Job beim Modehersteller Guess? sei, glaubt Victor, er solle den Job erraten. Diese Szene enthält eine gewisse Komik nicht nur deshalb, weil der modeinteressierte Leser natürlich versteht, was Victor nicht versteht, sondern auch, weil Victor auf einem Terrain, das ihm als Model vertraut sein sollte, auf ganzer Länge versagt. Solche Missverständnisse liegen häufiger vor und betreffen zumeist völlig banale Angelegenheiten, etwa wenn Victor das französische Wort „moi“ nicht versteht und glaubt, bei „moi“ handele es sich um eine Person („Who the fuck is Moi? […] I have no idea who this Moi is, baby.“ G, S. 6). Schon auf den ersten Romanseiten wird auf diese Weise Victors Ignoranz und Primitivität hervorgehoben. Dieser erste Eindruck von Victor als eingebildetem und unwissendem Schönling wird bestätigt durch sein Lebensmotto, das er jedem verkündet, der es (nicht) wissen will: „The better you look, the more you see.“ (G, S. 31, 63, 92, 111) Damit bringt Victor zum Ausdruck, dass die äußere Erscheinung eines Menschen zählt: Je schöner, desto erfolgreicher/beliebter/begehrter ist jemand, desto mehr bekommt er von der Welt zu sehen. Attraktivität versteht die Hauptfigur als Eintrittskarte in das 98 Jason Priestly war in den 90er Jahren mit der TV-Serie BEVERLY HILLS 90210 sehr erfolgreich. Er ist nicht der einzige real existierende Hollywood- oder Rockstar, der in Glamorama Erwähnung findet. Ähnlich wie in American Psycho pausenlos Markennamen in die Erzählung eingeflochten werden, werden in Glamorama die Namen von Schauspielern, Musikern und Topmodels in die Handlung eingebaut und treten etwa bei der Cluberöffnung in New York persönlich auf.

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Jetset-Leben, als Garant für beruflichen Erfolg und als Magnet für Frauen. Das Motto hat aber noch eine zweite, versteckte Bedeutung, über die der Protagonist sich nicht im Klaren ist. Gerade die Tatsache, dass er sein gutes Aussehen zum Beruf gemacht hat, ist es, die ihm den Zutritt in den auserwählten Kreis der Terrorzelle verschafft. Wie Jamie ihm in einer intimen Beichte gesteht, rekrutiert Chefterrorist Bobby seine Mitglieder ausschließlich aus der Modelszene, da Models daran gewöhnt seien, herumzustehen und zu tun, was man ihnen sage (G, S. 352). Victors gutes Aussehen und seine Tätigkeit als Dressman sind somit dafür verantwortlich, was er in Teil III und IV alles ‚sieht‘ – Folter, Mord, Bomben- und Giftanschläge. Bis zum Ende des Romans wird Victor diese Bedeutungsebene seines Mottos nicht durchschauen, da er mit keinem Satz die metaphorische Bedeutung des Mottos reflektiert. Es bleibt dem Leser vorbehalten, sie interpretatorisch zu erschließen. Nicht zuletzt handelt es sich bei diesem Satz um einen metafiktionalen Hinweis, der sich auf den Leser bezieht: „The better you look, the more you see“ kann wörtlich auch als „Je näher du hinsiehst, desto mehr entdeckst du“ verstanden und damit als Aufforderungen an den Rezipienten gelesen werden, die Oberfläche zu hinterfragen, in einem „close reading“-Prozess Details herauszufiltern, die dem unachtsamen Leser entgehen, und so zur Aufklärung der Verschwörung beizutragen. Dies kann allerdings verhängnisvoll enden: Indem durch diese Lesart jedes Detail der Verschwörungsgeschichte mit Bedeutung aufgeladen wird, ist es gleichermaßen eine Anleitung zum Verrückt-Werden. Eine Poe’sche Monomanie99 wäre die Folge, der Leser verlöre sich in Einzelheiten und wäre nicht länger im Stande, das große Ganze des Romans zu überblicken. „The better you look, the more you see“ spielt also auch mit der Unzulänglichkeit des Lesers. Victors Beziehungen zu Frauen Ignorant gegenüber diesen versteckten Bedeutungen sucht sich der Protagonist getreu seinem Motto „The better you look, the more you see“ seine Partnerinnen in erster Linie nach ihrem Attraktivitätsgrad aus. Nicht umsonst umgibt sich Victor ausschließlich mit Topmodels. Alle drei seiner Geliebten sind im Modelbusiness oder der Filmbranche tätig, und auch Marina Gibson, die er an Bord der Queen Elisabeth II umgarnt, sowie Jamie Fields, die er in Europa für sich gewinnen möchte, sind Models. So verwundert es nicht, dass es bei den Beziehungen zu Frauen für 99 Als „monomania“ bezeichnet Poe die krankhafte Fixierung auf Deatils, die den Betroffenen dazu zwingt, sich stundenlang mit bestimmten Einzelheiten zu befassen. In seiner Kurzgeschichte „Berenice“ etwa ist der Protagonist Egeus von einer manischen Besessenheit von den Zähnen seiner Verlobten befallen, die ihn schließlich dazu treibt, ihr bei lebendigem Leib alle Zähne zu ziehen. (Poe, Edgar Allan: „Berenice.“ In: Complete Stories and Poems of Edgar Allan Poe. New York u.a.: Doubleday 1984. S. 171-177. Hier zitiert S. 172.)

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Victor nicht um Liebe und gegenseitigen Respekt geht, sondern vor allem um gutes Aussehen und Erfolg. Optisch sind alle seiner Eroberungen absolute Traumfrauen, charakterlich verfügen sie jedoch über deutliche Schwächen: Chloe ist heroinabhängig und depressiv, Alison ist hysterisch und klammernd, Lauren abweisend und widersprüchlich, Marina ist manipulativ und lügnerisch, Jamie ist Terroristin und Doppelagentin – Victors Frauenwahl lässt zu wünschen übrig. Da er sich jedoch zumindest in Teil I, II und III kaum für die Charaktereigenschaften seiner Geliebten interessiert und selbst keine Emotionen in die Beziehungen zu ihnen investiert, ist der Charakter einer Frau für ihn ohnehin nebensächlich. Das Desinteresse an dem Charakter einer Frau ändert sich auch in Teil IV nicht grundlegend, seine Beziehungsführung hingegen schon. Victor bleibt zwar der ungebildete, naive Trottel, aber aus ihm wird ein gedungener Befehlsempfänger, der sich Bobbys Charisma und Autorität nicht widersetzen kann. In einem (zum Scheitern verurteilten) Eskapismusversuch geht er zunächst zu Jamie, später zu Chloe eine von Abhängigkeit gekennzeichnete Bindung ein. Da Victor in der Modelterrorzelle keinen Verbündeten hat und auch der Kontakt zu Palakon, dem er ohnehin nicht vertrauen kann, eher spärlich ist, klammert sich Victor zunächst an Jamie, die mit Bobby eine Beziehung führt. Aus anfänglich ausschließlich sexuellem Interesse, das Jamie zwecks Samenraubs scheinbar erwidert,100 wird im Verlauf der Handlung die verzweifelte Hoffnung, er könnte mit ihr flüchten, wenn sie Bobby verließe. So eröffnet Victor ihr nach dem Anschlag auf das Institut für Politikwissenschaften, dass er mit ihr zusammen sein wolle, hält sich jedoch außer dem Geständnis, dass er sie wolle, mit Liebesbekundungen seinerseits vornehm zurück. Stattdessen argumentiert er ausschließlich mit Jamies Gefühlen für Bobby, die er für unecht hält, nicht mit seinen eigenen: „‚I want you,‘ I say, wanly smiling, nodding to Claudia Schiffer as she passes by. ‚I want you very badly.‘ […] ‚You don’t love him,‘ I say. ‚I can tell. You don’t love Bobby. It’s a job, right? It’s part of the plan, right? You’re just acting, right?‘ She says nothing. […] ‚I think you’re afraid of him,‘ I say. ‚But you don’t love him.‘“ (G, S. 342f.)

Auf diese Weise muss er sich selbst kaum vor ihr entblößen und kann seine Coolness und Distanz bewahren. Indem er Jamie die Emotionen unterstellt, die er selbst 100 Sie befriedigt Victor nur, um ihm sein Sperma zu stehlen. Das entwendete Sperma wird anschließend in den Anus der Leiche Sam Hos appliziert. Dank des darin enthaltenen DNA-Materials kann die Terrororganisation Victor Ward als Mörder des Asiaten denunzieren und hat somit einen Sündenbock. Gleichzeitig dient es als erpresserisches Druckmittel, um Victor an der Flucht zu hindern.

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eigentlich hat – Angst vor Bobby –, kann er die Bedrohlichkeit der Situation ansprechen, ohne seine eigene Angst eingestehen zu müssen. Darüber hinaus ist eine Zurückweisung leichter zu ertragen, wenn man keine eigene Verletzlichkeit zugeben muss. Indem Victor seine Gefühle unausgesprochen lässt, macht er sich weniger angreifbar. Dass er sich allerdings vor allem aus Verzweiflung an Jamie binden möchte, wird deutlicher nach dem Anschlag auf das Ritz-Hotel, wo Victor und Jamie gemeinsam den Pool vergiften. Auf dem Heimweg bricht Victor zusammen, hyperventiliert, weint und muss sich von Jamie beruhigen lassen. Er fragt sie hoffnungsvoll: „Don’t you want me, baby?“101 (G, S. 367), bekommt aber nur eine ironische Antwort darauf. Schließlich zerstört sie seine Hoffnungen endgültig, als sie ihm bei einer Dinnerparty deutlich macht, dass sein Plan einer gemeinsamen Flucht nicht funktionieren wird. Victor provoziert Jamie mit der Frage, wie viele Menschen bei ihrem gemeinsamen Attentat auf das Ritz wohl gestorben seien („‚You’re in fine form tonight,‘ I spit out, glaring. ‚Do you know how many people died at the Ritz yesterday?‘“ G, S. 413), um ihr das Ausmaß der Zerstörung und die moralische Verwerflichkeit dieses Tuns vor Augen zu halten. Jamie reagiert jedoch, indem sie ihm mitteilt, dass sie eine endgültige Trennung für besser hält: „You and I – we can’t see each other any more“ (G, S. 413). Nachdem diese Option eines Auswegs damit ausgelöscht ist, wendet sich Victor seiner Ex-Freundin Chloe zu, die er zufällig auf einer Fashion Show in Paris trifft. Das gemeinsame Wiedersehen verläuft tränenreich, und auch wenn Victor wieder nicht von Liebe spricht, gibt er doch zumindest zu, dass er Angst habe, sie erneut zu verlieren und bereit für eine feste Bindung sei (G, S. 468). Vor allem jedoch erkennt er, dass sein bisheriges Leben oberflächlich und bedeutungslos war: „I think I was paying too much attention to the way things looked,102 right?“ (G, S. 468) Er 101 Hierbei handelt es sich übrigens wieder um ein Songzitat und zwar aus dem Human League-Song „Don’t you want me“ von 1981. Dass der Protagonist für diese Frage erneut ein Songzitat verwendet, deutet darauf hin, dass ihm langsam klar wird, dass Jamie seine Hoffnungen nicht erfüllen wird. Andernfalls hätte er die Frage sehr viel ernsthafter formulieren können. 102 „The way things looked“ bezieht sich auf Victors Lebensmotto „The better you look, the more you see“ und damit auf seine Fixierung auf Äußerlichkeiten. An dieser Stelle ist somit ein Wandel in seiner Einstellung abzulesen, eine Abwendung von der Trivialität des Aussehens. Gleichzeitig handelt es sich auch um einen metanarrativen Hinweis, der Victors Fehleinschätzung der Fakten thematisiert: Victor war bislang nicht in der Lage, die Fakten richtig zu interpretieren, weil er sich nur oberflächlich mit ihnen beschäftigt hat. Erst jetzt wird ihm klar, was der Leser schon lange vermutet hat: Die Dinge sind nicht so, wie sie oberflächlich erscheinen – „the way they look“ (s. Bedeutung des präludierenden Krishna-Zitats) –, sondern haben eine tiefere Bedeutung, die sich

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beschließt, bei der schwangeren Chloe zu bleiben, auch wenn er weiß, dass er nicht der Vater des Kindes sein kann (G, S. 471). Die Rückkehr zu Chloe hat demnach einen bitteren Beigeschmack: Auch wenn Victor die Bereitschaft zeigt, sich ernsthaft zu binden und die Verantwortung für ein Kind zu tragen, sieht er in der Reunion mit Chloe in erster Linie die Chance, aus der Terrororganisation auszusteigen. Zusammenfassend lässt sich damit hinsichtlich der Frauenbeziehungen des Protagonisten Folgendes konstatieren: Die Frauenfiguren in Victors Leben werden stets instrumentalisiert. Während seine Beziehungen im ersten Erzählstrang der Erhöhung seines Status und Prestiges dienen (das Verhältnis mit Chloe Byrnes öffnet ihm den Weg in den Modeolymp, durch Alison Poole erhofft er sich Einflussnahme auf seinen Geschäftspartner Damien), sein Selbstwertgefühl erhöhen oder seine Qualitäten als Liebhaber bestätigen sollen (hier sind die Affären mit Lauren Hynde und auch Marina Gibson/Cannon zu nennen), also ausschließlich egoistischen Zwecken dienen, sind seine Beziehungen zu Frauen im zweiten Erzählstrang dazu da, ihn aus seiner ausweglosen Situation zu erretten. Über das Verhältnis zu einer einflussreichen Frau – Jamie als Partnerin von Chefterrorist Bobby und Chloe als weltweit erfolgreiches Model, das ihm emotional verfallen ist – sucht er sich aus der Terrorzelle zu befreien. Indem er die Frauen zu Erlöserfiguren stilisiert, bringt er sich selbst in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihnen, das ihn daran hindert, selbstständig nach einer Lösung für sein Problem zu suchen. Beide Frauen bleiben letztlich unerreichbar für ihn. Victor projiziert seine Hoffnungen auf sie, glaubt an ein Heilsversprechen, das keine von beiden ihm je gegeben hat, und überschätzt ihren Einfluss. So verharrt er in einer hoffnungsvoll-abwartenden Starre, ohne selbst die Initiative zu ergreifen, um proaktiv seine Situation zu verändern. Victors Verhältnis zu Frauen hat sich damit umgekehrt: Hatte er in Teil I noch die Fäden in der Hand, war in der Position, sich seine Geliebten aussuchen zu können und Intrigen zu spinnen, ist er nun zum Spielball seiner Affären geworden – Jamie verlässt ihn, ohne ihm zu helfen, und Chloe, die sich von seiner vermeintlichen Reue zwar einwickeln lässt, wird ermordet, bevor sie ihm helfen kann. Affektlosigkeit und Affektentladung Obwohl seine Frauenbeziehungen den ganzen Roman über suspekt bleiben, hat Victor dennoch eine gravierende Veränderung durchlaufen, wie vor allem an seiner emotionalen Entfaltung erkennbar wird. War Victor in Teil I noch der unbeteiligte, coole Typ, der sich von nichts emotional berühren lässt, ändert sich dies mit dem Mord an Sam Ho schlagartig: Victor wird zu einer emotional labilen, weinerlichen Marionette in Bobbys Hand. Nach dem Befreiungsschlag gegen Bobby wandelt er

Victor jedoch erst noch erschließen muss. Zum unzuverlässigen Erzählen Victors s. Kap. 6.2.2.

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sich zu einem selbstsicheren, emotional gefestigten jungen Mann. Ein Blick auf ausgewählte Textstellen soll diesen Entwicklungsprozess verdeutlichen. Affektlosigkeit. Für Victors Gefühlskälte sind die Trennungsgespräche von seinen drei Geliebten kennzeichnend. Als erste trennt sich Alison Poole von ihm, indem sie ihm im Badezimmer seines Clubs während der Eröffnungsparty eine recht hysterische Szene macht. Sie schreit ihn an, schlägt ihn ins Gesicht, heult und bedroht ihn sogar (G, S. 174f.) – Victor lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Stattdessen teilt er ihr gelassen mit: „‚That‘ – I stop, look at her questioningly – ‚doesn’t really mean anything to me‘“(G, S. 175). Damit ist die Beziehung der beiden vorbei. Als nächste hat Lauren genug von ihm und teilt ihm in einem Telefongespräch mit, dass ihr Verhältnis beendet sei: „‚Victor,‘ she continues calmly. ‚We cannot see each other anymore. We cannot talk to each other anymore. This relationship is terminated‘“ (G, S. 199), woraufhin Victor zunächst halbherzig versucht, sie umzustimmen, indem er ihr sagt, er wolle mit ihr zusammen sein und dass Damien, mit dem sie ebenfalls eine Affäre hat, sich seine Hemden schneidern lasse – als sei dies ein Trennungsgrund. Da Lauren auf diese Argumente nicht eingeht, reagiert er wie üblich mit Ablehnung: „‚Spare me, Lauren,‘ I whisper helplessly“103 (G, S. 199). Als letzte ist Chloe seiner überdrüssig. Nachdem sie herausgefunden hat, dass Victor sowohl mit ihrer Konkurrentin Alison als auch mit ihrer Freundin Lauren ein Verhältnis hat, verlangt sie Antworten von ihm, die Victor ihr nicht geben kann. Sie stellt fest: „If there was just some speck of feeling in you, Victor“ (G, S. 201) und kurz darauf: „‚No, you’re sick,‘ she says, staring deeply into the luggage, contemplating the arrangement of clothes, hands on hips. ‚You’re soulsick, Victor.‘ ‚Baby, it’s just‘ – I raise my head to look at her, confused – ‚some bad coke, but whatever.‘ I sigh, giving up. ‚It’s irrelevant.‘ ‚Everything is irrelevant with you.‘“ (G, S. 202)

Chloe hat erkannt, was die Beziehung der beiden unmöglich macht: Victor investiert keinerlei Emotionen in ihre Verbindung. Ihm sind Chloes Gefühle und Bedürfnisse egal. Sie beklagt seine Gefühlskälte und nennt ihn seelisch krank – eine Kritik, die sich Victor nicht zu Herzen nimmt. Sie beendet die Beziehung mit einem letzten Vorwurf, der seine Selbstverliebtheit thematisiert: „A mirror’s your ideal mate“, worauf Victor nur erwidern kann: „Maybe if you didn’t expect so much from me you might not be so… disappointed“ (G, S. 204). Alle drei Gespräche 103 Das Adverb „helplessly“ sollte hier nicht missverstanden werden: Es bezieht sich auf Victors Unfähigkeit, Lauren umzustimmen, da er in seiner Oberflächlichkeit keine schlagenden Argumente finden kann, die bei ihr Wirkung zeitigen. Er ist somit hilflos angesichts seiner Ratlosigkeit und kontert wie üblich mit Abwehr.

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zeigen, dass Victor sich selbst am nächsten ist und wenig Interesse an seinen Mitmenschen zeigt. Er hat weder moralische Bedenken, seine Freundinnen zu betrügen, noch zeigt er Reue oder eine Schuldeinsicht – er handelt völlig affektlos. In Teil I ist Victor ein emotional unreifer, ichbezogener und desinteressierter Mensch, der nur um sich selbst kreist und sein eigenes Wohlbefinden in den Fokus stellt. Mit soziologischen Begriffen argumentiert, ist festzustellen, dass Victor sich im ersten Erzählstrang, ebenso wie die Figuren aus Less Than Zero und The Rules of Attraction, der Verhaltensdimension der Macht bedient, die das eigene Wohlergehen bestärkt, jedoch zu negativen Emotionen bei anderen führt. Affektentladung. Im zweiten Erzählstrang erlebt Victor die Verhaltensdimension der Macht genau andersherum – als Unterlegener. Der brutale Foltermord an Sam Ho, den Victor unfreiwillig miterleben muss, hat ihn schwer traumatisiert. Er reagiert mit einem nur allzu verständlichen emotionalen Zusammenbruch: „I’m trying to leave the room but Bobby blocks my exit and my eyes are closed and I’m chanting ‚please man please man please man,‘ hyperventilating, breaking out into sobs. […] We’re in one of the ash-gray bedrooms upstairs. I’m on the floor hugging Bobby’s legs, convulsing, unable to stop myself from moaning. Bobby keeps feeding me Xanax and for short stretches of time the shuddering subsides. But then I’m in the bathroom – Bobby waiting patiently outside – vomiting until I’m just gagging up spit, retching. When I’m through I lie there in a fetal position, my face pressed against the tiles, breathing erratically, hoping he’ll leave me alone. But then he’s kneeling beside me, whispering my name, trying to prop me up, and I keep clutching him, weeping. He places another pill in my mouth and leads me back to the bedroom, where he forces me to sit on the bed while he leans over me. Sometime during all this my shirt came off, and I keep clawing at my chest, grabbing myself so hard that patches of skin are reddened, on the verge of bruising.“ (G, S. 324)

Interessant an dieser Textstelle ist, dass die Beschreibung des Zusammenbruchs sich einzig auf die somatischen Reaktionen des Protagonisten beschränkt. Wie schon in Less Than Zero muss der Leser komplexe emotionale Vorgänge aus den beschriebenen Körperreaktionen der Figur ableiten. An dieser Stelle macht Victor eine Vielzahl an intensiven affektiven Regungen durch: Direkt nach dem Mord an Sam Ho bricht er zunächst in Panik aus (Hyperventilation, Weinen), sucht dann Trost bei Bobby (Anklammern) und ist von Schuldgefühl überwältigt (Krämpfe, Stöhnen). Anschließend zeigt er starke Ablehnungsreaktionen und Ekel (Erbrechen, Würgen), woraufhin er sich selbst vor Bobby zu schützen versucht (Fötusposition, Abwenden des Gesichts), was wieder auf Angst zurückzuführen ist (unregelmäßige Atmung). Schließlich zeigt er sogar autoaggressives Verhalten (Zerkratzen der Brust), was einerseits für tiefe Verzweiflung, andererseits für den Drang spricht, sich selbst zu bestrafen. Diese starken Affekte von Panik, Schuldgefühl, Ekel und Verzweiflung werden nicht wörtlich benannt, sondern müssen vom Leser erschlos-

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sen werden. Bobby ist in dieser Figurenkonstellation der Mächtige, der seine Position als Chefterrorist stärken will; beim unterlegenen Victor löst dies ausschließlich negative Emotionen aus. Dabei ist die Stellung der Figur Bobby doppeldeutig – einerseits ist er verantwortlich für den Mord und damit für Victors extreme emotionale Reaktion, andererseits ist er als Einziger da, um Victor Trost zu spenden: Er tritt sowohl als hart strafende, wie auch als fürsorgliche Bezugsperson auf. Im Keller der Villa hat er sich als grausamer Henker erwiesen, nun jedoch schenkt er Victor Körperkontakt und Zuwendung. Obwohl Bobby damit oberflächlich Statushandlungen ausführt, um Victor zu stabilisieren und zu trösten, ist er dennoch der Überlegene, der eindeutig die Machtposition einnimmt. Denn: Der Trost ist nur ein Scheintrost – Bobby beabsichtigt keineswegs, Victor Mut zuzusprechen, sondern will ihn in einem Abhängigkeitsverhältnis halten, indem er getreu dem Motto ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ mal hart, mal sanft ihm gegenüber auftritt. Die Methode zeigt Wirkung: Von diesem Zeitpunkt an ist Victor nicht mehr der selbstgefällige, gefühllose Dressman, der Machthandlungen ausspielt, sondern er ist ein emotional labiler Befehlsempfänger Bobbys, der sich dessen Ausstrahlung und Autorität nicht entziehen kann. Der Mord an Sam Ho stellt somit eine Wende dar, die in Victor eine emotionale Veränderung anstößt. Von nun an erlebt er zahlreiche emotionale Zusammenbrüche (z.B. G, S. 367, S. 396f., S. 431ff., S. 441, S. 453), die stets dem Muster des emotionslosen Erzählens aus Less Than Zero folgen: Emotionsworte werden vermieden, dafür stehen die somatischen Reaktionen Victors im Mittelpunkt. Zumeist handelt es sich dabei um Weinkrämpfe und somatische Beschreibungen von Angstgefühlen, wobei das Weinen eindeutig im Vordergrund steht: Victor ist zu einer regelrechten Heulsuse geworden. Das Schlüsselerlebnis des Mords hat ihn innerlich derart erschüttert, dass er nun bei jeder Gelegenheit in Tränen ausbricht. Er weint aus Schuld (G, S. 367), aus Verzweiflung (G, S. 424f.), aus Angst (G, S. 436, 454f.), aus Freude (G, S. 440), aus Reue (G, S. 467). Aus diesem Tal der Tränen findet Victor erst heraus, als er seinen Gegenspieler Bobby in einer Flughafentoilette stellt und in einem Duell Mann gegen Mann ermordet. Durch den Zweikampf gelingt es ihm, sich von Bobbys tyrannischer Herrschaft zu emanzipieren und sich von der Last des Terrorismus zu befreien. Emotionale Stabilität. Victors emotionales Befinden stabilisiert sich, als er in Teil V zurück in New York ist.104 Mittlerweile Student an der NYU und in einer festen Beziehung mit Alison Poole, resümiert er über seine charakterliche Wende und kommt zu folgenden Ergebnissen: 104 Erneut sei hier auf die literarische Tradition Henry James’ verwiesen, der mit der Topografie auch stets eine psychologisch-emotionale Bedeutung verbindet. Die Rückkehr aus dem für Victor bedrohlichen Europa ins scheinbar sichere Heimatland Amerika mag zu seinem Emotionswandel beitragen, da er nun die negativ besetzten Orte seines Traumas verlassen kann.

230 | D AS NICHTS UND DER SCHMERZ . E RZÄHLEN BEI B RET E ASTON ELLIS „‚I know I’ve changed,‘ I tell Deepak [Victors spiritueller Berater, Anm.d.Verf.]. ‚I’m a different person now.‘ Deepak bows slightly again.[…] ‚Don’t fear the reaper, Victor,‘ Deepak says, walking away. I’m nodding mindlessly, a vacant grin pasted on my face, until I turn around and mutter to myself, ‚I am the fucking reaper, Deepak,‘ and a pretty girl smiles at me from underneath an awning and it’s Wednesday and late afternoon and getting dark.“ (G, S. 508)

Victor spielt mit der gemurmelten Antwort auf Deepaks Zitat des Blue Öyster CultSongs „(Don’t Fear) The Reaper“ von 1976 auf seine eigene ungewollte Tätigkeit als „reaper“ („Sensenmann“), also als Terrorist an, als der er für den Tod hunderter Menschen verantwortlich ist. Gleichzeitig bekräftigt er, dass er sich verändert habe und wendet sich damit einerseits von dieser Vergangenheit ab, andererseits ist aber gerade diese Vergangenheit für seine Veränderung maßgeblich. Beide Seiten seiner Vergangenheit, sowohl die oberflächliche New Yorker Zeit, die ihn überhaupt erst in die Fänge der Terroristen hat gleiten lassen, als auch die bedrohliche Zeit in Europa haben zu seiner Veränderung beigetragen, denn: „‚No more drinking binges, I’ve cut down on partying, law school’s great, I’m in a long-term relationship.‘ I slip on a Brooks Brothers T-shirt, ‚I’ve stopped seriously deluding myself and I’m rereading Dostoevsky. […]‘“ (G, S. 509)

Victors Leben verläuft nun in geregelten Bahnen, es hat somit den Anschein, dass Victor aus der turbulenten und gefährlichen Zeit bei der Terrorzelle gelernt hat. Diese charakterliche Kehrtwende vom egoistischen, selbstgefälligen Idioten zum verantwortungsbewussten, erwachsenen Mann, vom gefühllosen, kaltherzigen Frauenhelden zum sensiblen, emotional gereiften Partner glauben zu können, setzt jedoch voraus, dass seine affektive Entwicklung echt und nicht bloß geschauspielert ist. Dass diese Annahme zu bezweifeln ist, werden die folgenden Ausführungen zeigen, die sich mit dem unzuverlässigen Erzählen des Protagonisten befassen werden. 6.2.2 Unzuverlässiges Erzählen: It’s what you don’t know that matters most Schon sehr früh reift im Leser der Verdacht, dass der Roman Glamorama unzuverlässig erzählt sei. Dafür sprechen die im Folgenden näher beleuchteten Leitmotive, die Doppelgängerthematik und der vermeintliche Filmdreh, für den Victor als Hauptfigur gebucht sein soll. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto irritierter muss der Leser werden: Machte der Erzähler zunächst nur den Anschein, verwirrt zu sein oder zu halluzinieren, also unzuverlässig zu erzählen, entsteht später der

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Eindruck, dass der Text unentscheidbar erzählt sei und sich nicht feststellen lasse, welche Ereignisse in der erzählten Realität wirklich stattfinden und welche nicht. Wie der folgende Abschnitt zeigen wird, handelt es sich dabei jedoch um einen geschickten erzählerischen Trick: Der Text ist nur scheinbar unentscheidbar erzählt. Rein textuell lässt sich keine Unentscheidbarkeit nachweisen, da durch implizite Hinweise die Ungereimtheiten als unzuverlässiges Erzählen der homodiegetischen Hauptfigur aufgelöst werden können. Diese Untersuchung der Beschaffenheit von Realität im Roman ist wichtig, da sie vieles aussagt über die Involviertheit des Lesers ins Textgeschehen. Durch die narrative Konstruktion des Textes werden Fragen hinsichtlich der Affektivität oder auch Affektlosigkeit der Hauptfigur aufgeworfen. Die Position, die der Leser zum Text einnimmt, wird maßgeblich bestimmt durch das Problem, ob der Protagonist des Romans ein unzuverlässiger Erzähler ist, da sich vor allem in Bezug auf die Emotionalität der Hauptfigur die Frage stellt, ob den Textsignalen Vertrauen geschenkt werden kann. Für die Feststellung emotionaler Unzuverlässigkeit ist es daher notwendig, zunächst die erzählerische Unzuverlässigkeit nachzuweisen. Vorab soll jedoch ein kurzer methodischer Überblick der Analyse vorangestellt werden, der die narratologische Untersuchung des Romans verständlicher machen wird. Kurzer methodischer Exkurs: Unzuverlässiges Erzählen – Unentscheidbares Erzählen Seit Wayne C. Booth im Jahr 1961 erstmals das unzuverlässige Erzählen vorstellte und mit dem Analysebegriff des „implied author“ verknüpfte,105 hat es viele Arbeiten zum unzuverlässigen Erzählen gegeben. Auf einen Forschungsüberblick wird an dieser Stelle verzichtet, jedoch sollen die wichtigsten theoretischen Arbeiten, die dieser Analyse zugrunde liegen, nicht unerwähnt bleiben. Während Booth das unzuverlässige Erzählen als ein rein textimmanentes Phänomen auffasst, in welchem ein impliziter Autor hinter dem Rücken des Erzählers dem Leser eine andere Version der Geschichte vermittelt als der Erzähler es beabsichtigt – was jedoch voraussetzt, die höchst fragwürdige und vage Instanz des impliziten Autors zu akzeptieren –, verlegt sich Ansgar Nünning auf eine kognitivistische Perspektive, die den realen Leser ins Zentrum rückt. Er begreift das unzuverlässige Erzählen als eine Interpretationsstrategie des Lesers, der die Widersprüche in einem Text aufzulösen versucht, indem er sie mit dem eigenen Weltwissen, eigenen kulturellen und sozialen Normen abgleicht. Wichtig für Nünnings Theorie ist somit der kulturelle Referenzrahmen des realen Lesers, seine moralischethischen Kategorien, seine gesellschaftlich akzeptierten psychologischen Konzep105 Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction. Chicago – London: University of Chicago Press 1961.

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te, sein lebensweltliches Wissen. Auch wenn Nünning sich damit vom impliziten Autor weg und zum realen Leser hin bewegt, ist doch sowohl bei Booth wie bei Nünning das unzuverlässige Erzählen an einen homo- oder autodiegetischen Erzähler gebunden, dessen Unzuverlässigkeit als erzählerisches Defizit aufgefasst wird.106 Nünning präzisiert Booths Ausgangsthese aber immerhin insoweit, als er auf das Konzept der dramatischen Ironie zurückgreift, das aus der Dramenanalyse bekannt ist. Seines Erachtens nach spielt sich unzuverlässiges Erzählen nach demselben Schema ab wie die dramatische Ironie: Zwischen den Wertvorstellungen und Absichten des Erzählers und den Normen und dem Wissenstand des Lesers wird eine Diskrepanz erzeugt, indem durch bestimmte textuelle Signale, die unbewusste, vom Erzähler nicht beabsichtigte Zusatzinformationen enthalten, dem Leser ein Wissensvorsprung zuteil wird.107 Nachdem der Leser nun die Inkongruenzen als Fall dramatischer Ironie erkannt hat, projiziert er das unzuverlässige Erzählen als integratives hermeneutisches Instrument auf den Text.108 Auch Bruno Zerweck schließt sich dieser Auffassung an und geht sogar noch weiter: Für ihn ist unzuverlässiges Erzählen nicht nur eine interpretative Strategie, die kulturell und historisch variabel ist, sondern textuelle Unzuverlässigkeit ist für ihn ein Effekt interpretativer Strategien. Als grundlegend dafür sieht jedoch auch Zerweck den Referenzrahmen des Lesers, vor allem sein Weltwissen und sein literarisches Wissen.109 Auch Fludernik begreift das unzuverlässige Erzählen als Interpretationsstrategie des Lesers, mittels welcher er die Diskrepanzen im Text zu erschließen und aufzulösen versucht. Sie kehrt jedoch zum impliziten Autor als moralisch richtiger Instanz im Text zurück, die als Maßstab für den Leser zu gelten habe. Entsprechend befasst sie sich in ihrem Artikel „Unreliability vs. Discordance“ unter anderem mit moralisch unzuverlässigem Erzählen,110 das bei Martinez und Scheffel als theoretisch unzuverlässiges Erzählen bezeichnet wird 111 und sich auf die theoretischen Aussagen eines Textes bezieht, also auf moralische und ideologische Äußerungen, Meinungen etc. Vor allem jedoch bemüht sie sich, die Kategorien des unzuverlässigen Erzählens zu präzisieren, und bezieht sich dafür auf einen Artikel von James 106 Weder Booth noch Nünning bieten eine Lösung an, die erzählerunabhängig ist, also auch für personale oder auktoriale Erzählsituationen funktionieren würde. Stattdessen sind sie sich einig, dass unzuverlässiges Erzählen ausschließlich ein Phänomen einer Ich-Erzählung sein könne. 107 Nünning, „Unreliable Narration“, S. 17. 108 Nünning, Ansgar: „‚But why will you say that I am mad?‘ On the Theory, History and Signals of Unreliable Narration in British Fiction.“ In: AAA Vol. 22 (1) (1997), S. 83105. 109 Zerweck, „Historicizing Unreliable Narration“, S. 155. 110 Fludernik, „Unreliability vs. Discordance”, S. 39-59. 111 Martinez/Scheffel, Erzähltheorie, S. 101.

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Phelan und Mary Patricia Martin, die drei Achsen (Faktualität, ideologische Ebene und Objektivität) unterscheiden, die jeweils noch einmal differenziert werden in Fehldarstellung („misreporting“, „misevaluating“, „misinterpreting“) und unvollständige, inkomplette Darstellung („underreporting“, „underregarding“, „underreading“). 112 Fludernik setzt sich mit dieser Differenzierung kritisch auseinander, übernimmt sie im Großen und Ganzen aber, da sie darin eine „nützliche Präzisierung […], die prototypische Varianten von unreliability und textuelle Darstellungsstrategien […] in einleuchtender Weise spezifiziert“, sieht.113 Allen bislang vorgestellten Theorien ist jedoch gemein, dass sie einen homooder autodiegetischen Erzähler voraussetzen. 114 Dies ist für einen unentscheidbar erzählten Text nicht notwendig. Während ein unzuverlässig erzählter Text einen Ich-Erzähler braucht, dessen Darstellung der Ereignisse moralisch oder faktual von einer stabilen, konsistenten Welt hinter der Erzählerrede abweicht und so als unzuverlässig zu entlarven ist, verfügt ein mimetisch unentscheidbar erzählter Text115 erst gar nicht über eine solche stabile, konsistente Welt. Martinez und Scheffel schreiben zu dieser Sonderform des unzuverlässigen Erzählens: „Viele Texte der Moderne und Postmoderne lösen diesen festen Bezugspunkt [eine stabile und eindeutig bestimmbare erzählte Welt hinter der Erzählerrede, Anm. d.Verf.] auf, so daß der Eindruck der Unzuverlässigkeit hier nicht nur teilweise und vorübergehend entsteht, sondern unaufgelöst bestehen bleibt und sich in eine grundsätzliche Unentscheidbarkeit bezüglich dessen, was in der erzählten Welt der Fall ist, verwandelt. Keine einzige Behaup-

112 Phelan, James/Martin, Mary Patricia: „The Lessons of ‚Weymouth‘. Homodiegesis, Unreliablity, Ethics and ‚The Remains of the Day‘.“ In: David Herman (Hg.): Narratologies. New Perspectives on Narrative Analysis. Columbus: Ohio State University Press 1999, S. 88-109. Kurz zur Bedeutung der sechs Unterscheidungsebenen: „unreliable reporting“ (Faktenebene) unterteilt sich in „misreporting“ (Lügen oder Unwissen) und „underreporting“ (Verschweigen); „unreliable evaluating“ (ideologische Ebene) unterteilt sich in „misevaluating“ (Einnahme einer ideologisch konträren Position) und „underregarding“ (unzureichende ideologische Deutung); „unreliable interpreting“ (Objektivitätsebene) unterteilt sich in „misinterpreting“ (Fehldeutung von Fakten) und „underreading“ (unzureichende Deutung von Fakten). 113 Fludernik, „Unreliability vs. Discordance“, S. 45. 114 Zu Versuchen, heterodiegetische Erzähler in das Konzept des unzuverlässigen Erzählens mit einzuflechten, s. z.B. Cohn, Dorrit: „Discordant Narration.“ In: Style, Vol. 34 (2) (2000), S. 307-316. 115 Martinez/Scheffel, Erzähltheorie, S. 103.

234 | D AS NICHTS UND DER SCHMERZ . E RZÄHLEN BEI B RET E ASTON ELLIS tung des Erzählers ist dann in ihrem Wahrheitswert entscheidbar, und keine einzige Tatsache der erzählten Welt steht definitiv fest.“116

Wo also eine solche stabile, eindeutig bestimmbare erzählte Welt fehlt, kann auch kein unzuverlässiges Erzählen auftreten, das nach dem Muster der dramatischen Ironie funktioniert.117 Für dramatische Ironie braucht es feste Bezugspunkte, von der die Erzählerrede abweichen kann. Sind solche textuellen Bezugspunkte nicht vorhanden,118 gibt es nichts, wovon die Erzählerrede divergieren kann – damit ist der Text unentscheidbar erzählt, eine Rekonstruktion des Geschehens wird unmöglich. Somit ist klar: Unzuverlässiges Erzählen und unentscheidbares Erzählen können niemals gemeinsam im selben Text vorliegen, sie schließen sich gegenseitig aus. Schwierig an Martinez’ und Scheffels Erklärungsansatz ist dabei, dass es in der Verantwortung des Lesers liegt, die konsistente erzählte Welt hinter der Erzählerrede zu erkennen, um unzuverlässiges Erzählen identifizieren zu können. Das Problem: Der Leser wird als konstante Größe gehandelt, seine Erkenntnisfähigkeit vorausgesetzt. Die kann jedoch von individuellem Leser zu individuellem Leser divergieren. Somit ist das Unvermögen des Lesers zu entscheiden, was in der erzählten Welt tatsächlich passiert und was nicht, kein hinreichendes Kriterium für unentscheidbares Erzählen. Die Unentschlossenheit des Lesers bezüglich der Ereignisse in der erzählten Welt ist nicht mit der erzählerischen Unentscheidbarkeit des Textes gleichzusetzen. Während sich der Leser durchaus verwirren lassen kann, nicht im Stande ist zu entscheiden, was er glauben kann und was nicht, sendet ein Text doch implizite oder explizite Signale, die ihn als unentscheidbar oder unzuverlässig erzählt ausweisen. Umso interessanter ist der vorliegende Roman, der mit beiden Fällen spielt, dem unzuverlässigen Erzählen und dem unentscheidbaren Erzählen. Da sie nicht beide gleichzeitig im selben Text existieren können, wo es entweder einen festen Bezugspunkt in Form einer stabilen erzählten Welt geben muss oder eben nicht gibt, ist die Herausforderung an den Leser im Fall von Glamorama besonders groß. Es erweist 116 Ebd., Hervorhebung im Original. 117 Palmier, Jean-Pierre: „Gefühle erzählen. Narrative Unentscheidbarkeit und audiovisuelle Narration in Christopher Boes Reconstruction.“ In: Susanne Kaul/Jean-Pierre Palmier/Timo Skrandies (Hg.): Erzählen in Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik. Bielefeld: Transcript 2009, S. 141-158. 118 Etwa durch das Fehlen einer identifizierbaren Chronologie oder Kausalität; durch das Nebeneinander-Stehen mehrerer alternativer Versionen einer Szene ohne Auflösung, welche die eigentliche ist; durch das Fehlen eines äußeren Rahmens, der einen internal folkalisierten Text strukturiert; oder durch fragmentarische Erzählweise, die keine Handlung, kein Thema, kein Motiv aufweist. Dies sind Vorschläge, wie ein Text eine stabil erzählte Welt auflösen und Bezugspunkte entbinden kann.

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sich als außergewöhnlich schwierig, dem unzuverlässigen Erzähler auf die Spur zu kommen, da der Text vorgibt, unentscheidbar erzählt zu sein. Im Folgenden wird diese detektivische Arbeit am Roman nachvollzogen und der Ich-Erzähler als zweifellos unzuverlässig ausgewiesen. Erste Hinweise Schon in Teil I, im ersten Kapitel des Romans, entsteht im Leser der Verdacht, dass die Erzählerfigur nicht zuverlässig ist. Diese Vermutung wird bereits auf S. 7 mit einer Aussage Victors geweckt, die sich auf sein generelles Unwissen bezieht: „I don’t know anything, JD. Nothing, nada. Remember that. I… know… nothing. Never assume I know anything. Nada. Nothing. I know nothing. Not a thing. Never –“ (G, S. 7) Diese Aussage deutet auf das voraus, was sich im weiteren Handlungsverlauf bestätigen wird: Der Protagonist versteht und weiß nichts, er ist und bleibt uninformiert, wird nicht in Ziele und Abläufe eingeweiht, wird stets von Ereignissen überrascht. Er kann keine Schlussfolgerungen ziehen, versteht keine Zusammenhänge – bis zum Ende des Romans bleibt er ein Unwissender, der von den Geschehnissen mitgerissen wird, ohne sie aktiv beeinflussen zu können. Dies führt zu „misreporting“, der falschen oder fehlerhaften Darstellung von Fakten durch Lügen oder Unwissen, gleichzeitig aber auch zu „misinterpreting“ und „underreading“, der Fehldeutung und unzureichenden Deutung von Fakten.119 Anders gesprochen: Sowohl auf der Faktenebene wie auf der Interpretationsebene ist dem Erzähler somit nicht zu trauen. Victors Aussage von S. 7 ist demnach als ein erster Leitsatz zu verstehen, dem die gesamte Romanhandlung folgt. Ein weiterer Leitsatz findet sich auf S. 10, ebenfalls im ersten Kapitel des Romans. Victor hat in seiner Funktion als Geschäftsführer des Clubs Flecken an einer Säule entdeckt, die ihn maßlos aufregen, seine Assistenten jedoch eher unbeeindruckt lassen. In affektierter Verzweiflung fragt er in die Runde, ob diese Flecken nun Realität oder Illusion seien, woraufhin sein persönlicher Assistent JD antwortet: „‚Reality is an illusion, baby,‘ JD says soothingly. ‚Reality is an illusion, Victor‘“ (G, S. 10, Hervorhebungen im Original). Auch dies ist bereits eine Vorausdeutung auf das Kommende. So wird im weiteren Handlungsverlauf immer deutlicher, dass die Hauptfigur Realität und Illusion nicht auseinander halten kann. Besonders eindrucksvoll ist dies an den Leitmotiven des Romans ersichtlich, die als thematische Einheiten immer wieder einfließen. Sie werden zunächst beiläufig erwähnt, dann nachdrücklicher ausgebaut und wirken anfänglich noch unauffällig und glaubwürdig, müssen später jedoch immer klarer als Anzeichen von Victors geistigem Verfall und seinem Realitätsverlust verstanden werden.

119 Fludernik, „Unreliability vd. Discordance“, S. 43f.

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Leitmotive: Sinnliche Fehlwahrnehmungen? Als erstes Leitmotiv wird die allgegenwärtige Kälte eingeführt. Sie kommt erstmals auf S. 17, im ersten Kapitel, zur Sprache. Victor besichtigt die Partyräume im Keller des Clubs und stellt beim Weg nach unten fest: „It’s so cold our breath steams, 120 and when I touch the banister it feels like ice“ (G, S. 17). Diese Aussage ist noch nicht verdächtig; im feuchten Keller mag es durchaus sehr kalt sein, auch das eiskalte Treppengeländer ist realistisch, wenn es aus Metall besteht, da Metall die Wärme der Hand besser weiterleitet als andere Materialien wie z.B. Holz. Jedoch wird der Leser einige Zeilen später aufmerksam, wenn Victor behauptet: „At the bottom, it is so cold that I’ve noticed candles don’t even stay lit, they keep going out as we pass“ (G, S. 17), was jedoch physikalisch unmöglich ist. Kälte löscht kein Feuer. Für das Verlöschen der Kerzen ist wohl eher ein kalter Luftzug verantwortlich.121 Von nun an wird die Kälte im gesamten Roman 53 Mal erwähnt, oftmals beiläufig („It’s freezing in the apartment.“ G, S. 147, S. 157, S. 164) aber manches Mal lassen die Beschreibungen den Wahrheitsgehalt der Aussage bezweifeln: „ It’s so cold in this apartment that frost accumulates on the windows.“ (G, S. 27) „Inside the apartment it’s freezing, […] the windows are covered with huge sheets of ice, and frost layers the kitchen cabinets and the giant glass coffee table, the floor slippery in places.“ (G, S. 200) „Darkness is occasionally broken by lamps situated throughout the apartment. It’s so cold the floor is slippery with ice.“ (G, S. 421)

Dass Victor häufig friert, ist sicher glaubwürdig, schon allein wegen seines geringen Körperfettanteils von sieben Prozent (G, S. 509), jedoch ist es höchst unwahr120 Atemdampf entsteht dann, wenn die umgebende Luft deutlich kälter ist als der Atem, den man ausstößt, wobei der Grad an Luftfeuchtigkeit der Umgebungsluft für die Entstehung des Dampfs mitentscheidend ist. Kann die Umgebungsluft die Luftfeuchtigkeit des Atems nicht aufnehmen, weil sie bereits gesättigt ist, entsteht Dampf. Dies kann bei einer hohen Luftfeuchtigkeit von 70% bereits bei 15°C der Fall sein. S. hierzu die Internetseite des israelischen Physikprofessors Nir J. Shaviv, der an der Hebräischen Universität von Jerusalem lehrt. Auf der von ihm verantworteten Seite lässt sich ausrechnen, bei welcher Temperatur und Luftfeuchtigkeit es zu einer Kondensation des Atems kommt. (Shaviv, Nir: Science Bits. http://www.sciencebits.com/ExhaleCondCalc&calc =yes vom 09.12.2011.) 121 Im Übrigen ist dieser Kommentar Victors auch als Beispiel für „misinterpreting“ zu verstehen, da er die Fakten (verlöschende Kerzen) fehldeutet und auf eine falsche Ursache (Kälte) zurückführt.

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scheinlich, dass bewohnte Apartments so unterkühlt sein sollen, dass sich Frost auf den Fensterscheiben und Eis auf den Fußböden bildet. Offensichtlich leidet Victor unter haptischen und visuellen Fehlwahrnehmungen. Das zweite Leitmotiv, das sporadische Auftauchen von Konfetti, fungiert, im Vergleich zu der zumindest in Teilen erklärbaren Empfindung von Kälte, schon deutlicher als Indikator für Victors verzerrte Realitätswahrnehmung. Erstmals auf S. 99 genannt, wird Konfetti von nun an im gesamten Text 37 Mal Erwähnung finden. Das erste Vorkommen von Konfetti wird in Teil I, Kapitel 19 angesprochen. Victor berichtet in einer Rückschau von seiner Zeit in L.A., die er gemeinsam mit Chloe dort verbrachte. Dabei beobachtet er, „the streets were always – inexplicably – covered with confetti“ (G, S. 99). Was ihm damals noch unerklärlich erschien, ist ihm nun alltäglich; ständig muss er Konfetti von Kleidung entfernen (G, S. 103, S. 298, S. 347), entdeckt Konfetti auf der Straße (G, S. 109), auf Parkbänken (G, S. 124), auf Gehsteigen (G, S. 128, S. 154) – er ist praktisch überall von Konfetti umgeben. Dies ringt Victor keine Verwunderung mehr ab, er ist an den Anblick, selbst an merkwürdigen Orten, gewöhnt und hinterfragt diese Erscheinung nicht mehr. Die Allgegenwart von Konfetti ist jedoch als Signal für Victors Unzuverlässigkeit zu verstehen. In Teil IV gesellen sich zwei weitere Leitmotive hinzu, die Victors mentale Degeneration unterstreichen: ihm schlafen ständig Gliedmaßen ein (G, S. 341, S. 345, S. 360, S. 362, S. 365, S. 376, S. 393, S. 426, S. 434, S. 498, S. 532) und er nimmt häufig den Geruch von Exkrementen wahr, oftmals begleitet von Fliegen (G, S. 360, S. 361, S. 365, S. 372, S. 376, S. 411, S. 435, S. 455, S. 472, S. 473, S. 479). Diese Leitmotive werden sogar miteinander vermischt: „Freezing, I light a cigarette, squint at the Seine, the smell of shit everywhere, the Louvre sitting behind us long and boring, then I imagine a Saab with a poodle in the passenger seat driving by. My foot has fallen asleep.“ (G, S. 372)

An dieser Stelle werden gleich drei der vier Leitmotive miteinander kombiniert. Auffällig ist dabei, dass es sich bei allen vier Leitmotiven um sensorische Fehlleistungen handelt; Victors sinnliche Realitätswahrnehmung ist also offensichtlich beeinträchtigt.122 Darüber hinaus kann den Fehlleistungen allesamt auch symbolische Bedeutung zugeschrieben werden: Die Kälte kann als eine Metapher für die soziale und gesellschaftliche Kälte verstanden werden, die das beschriebene Milieu auszeichnet. Das Konfetti mag für die Oberflächlichkeit dieses Milieus stehen wie auch für die Oberflächlichkeit der Hauptfigur, die eingeschlafenen Gliedmaßen für Victors eigene Gefühllosigkeit und seine Unfähigkeit, verantwortlich zu handeln, der Geruch nach Exkrementen für die moralische Verwerflichkeit sowohl der Ter122 Hierauf hatte bereits das Krishna-Zitat vor Romanbeginn vorbereitet.

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rorzelle als auch von Victors Tun – es ist sinnbildlich ‚beschissen‘. Somit sind die vier Leitmotive nicht nur ein Anzeiger für Victors verzerrte Realitätswahrnehmung, die sich in sensorischen Fehlleistungen äußert, sondern können auch als Metaphern für Kritik, die Ellis erneut mit seinem Roman üben möchte,123 verstanden werden. Neben diesen sensorischen Fehlleistungen, die im Leser den Verdacht bestärken, dass die Erzählerfigur des Romans unter Halluzinationen leide und demensprechend unzuverlässig erzähle, gibt es jedoch weitere Textsignale, die dieser Vermutung scheinbar widersprechen und statt dessen den Text auf den ersten Blick als unentscheidbar erzählt ausweisen: Die Doppelgängermotivik und der angebliche Filmdreh. Beide jedoch lassen sich bei genauer Untersuchung ebenfalls dem unzuverlässigen Erzählen zuordnen. Ein Double? Der Protagonist wird ständig an Orten gesehen, von denen er behauptet, nicht dort gewesen zu sein (G, S. 13, S. 20, S. 44, S. 59, S. 68, S. 90f., S. 110, S. 114f., S. 115f., S. 139, S. 174, S. 175, S. 231, S. 377). Immer wieder trifft er auf Leute, die ihn vergangene Woche in South Beach, Florida gesehen haben wollen oder angeblich mit ihm bei Fashion Shows von Calvin Klein, von Alfaro oder Pravda124 sprachen. Selbst als er in Europa ist, sind Bekannte davon überzeugt, erst kürzlich mit ihm in New York zu Abend gegessen zu haben. Für diese Umstände kann es mehrere Erklärungen geben. Im Sinne Nünnings, der unzuverlässiges Erzählen als eine Interpretationsstrategie des Lesers versteht, 125 wird der Leser versuchen, diese Ungereimtheiten zu naturalisieren und aufzulösen. Zunächst scheint es denkbar, dass es sich schlicht um Verwechslungen handelt, die der Oberflächlichkeit der Modelszene geschuldet sind. Jedoch häuft sich die Anzahl der Personen, die ihn z.B. bei der Calvin Klein Show gesehen haben wollen, dermaßen (Anjanette, G, S. 20; Waverly, G, S. 59; David und Rick, G, S. 68), dass die Möglichkeit einer Verwechslung immer unwahrscheinlicher wird. Aufgrund seines vollen Terminkalenders wäre auch zu vermuten, dass Victor sich einfach nicht mehr erinnert, welche Modenschauen er genau gesehen hat. Seine Sichtungen in Florida oder in New York, während er ganz woanders ist, lassen sich damit jedoch nicht hinreichend erklären. So verwirrt, dass er sich nicht mehr erinnert, in einem anderen Bundesstaat oder gar auf einem anderen Kontinent gewesen zu sein, ist Victor dann doch 123 Der gesamte Romanentwurf kann als Gesellschaftskritik aufgefasst werden: Die dargestellte Realität wirkt inszeniert und durchmedialisiert, trägt regelrecht paranoide Züge. Dies spiegelt die Welt der Schönen und Reichen, die Ellis mit Glamorama satirisch porträtiert, durchaus treffend wider. 124 Nicht zu verwechseln mit Prada – bei Pravda handelt es sich um ein fiktives Modelabel, ebenso wie Alfaro. Calvin Klein hingegen ist ein real existierendes Modelabel. 125 Nünning, „Unreliable Narration“, S. 23.

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nicht. Denkbar wäre auch eine Form der anterograden Amnesie, wie sie von Benzodiazepinen ausgelöst werden kann. 126 Da sich die Hauptfigur von Glamorama hinsichtlich des Medikamentenmissbrauchs nicht von den vorherigen Protagonisten in Ellis’ Romanen unterscheidet und ebenfalls in ausgeprägtem Maße dem Gebrauch von Benzodiazepinen, hauptsächlich Xanax, zuspricht, könnte ein kurzzeitiger Gedächtnisverlust für die Zeit, in der er unter dem Einfluss eines solchen Medikamentes stand, die Erinnerungslücken erklären. Dafür ist allerdings vorauszusetzen, dass 1. Victor zu den fraglichen Zeitpunkten tatsächlich unter Medikamenteneinfluss steht, was sich anhand des Textes nicht nachweisen lässt, und 2. es sich wirklich um Erinnerungslücken handelt – denn es bleibt auch noch eine letzte Erklärungsmöglichkeit, die im Verlauf der Handlung immer glaubhafter wird: die Installation eines Doubles, der an seiner statt an den verschiedenen Veranstaltungen teilgenommen hat bzw. nach Florida und New York gereist ist. Vor allem zwei Umstände deuten darauf hin, dass Victor einen Doppelgänger hat, der von der Terrorzelle eingesetzt wird, um ihn auf unauffällige Weise verschwinden zu lassen: Chloes Schwangerschaft, die in der Zeit zustande kommt, als er in Europa weilt, obwohl sie ihm versichert, in New York mit ihm geschlafen zu haben (G, S. 469f.) und sein Anruf aus dem Mailänder Hotel bei seiner Schwester Sally, bei dem er seinen Doppelgänger am Apparat hat, der gerade bei ihr zu Besuch ist (G, S. 540f.). Vor allem Nielsen vertritt mit Nachdruck die Auffassung, dass die Hauptfigur durch ein Double ersetzt wird. Als Beweis dafür sieht er nicht nur Victors grundlegende Veränderung in Teil V, sondern auch die Tatsachen, dass er sich mit Laurens Double Eva trifft und Namen und Gesichter auswendig lernen muss (G, S. 524ff.). Nielsens These lautet, dass ein Austausch stattgefunden hat: Ein Doppelgänger erzählt Teil V, während der bereits entführte Victor in Italien stirbt.127 Diese Lösung ist zwar erwägenswert, jedoch meines Erachtens bei genauer Betrachtung des Textes nicht haltbar: Auch in Teil V finden sich die leitmotivischen Textsignale für Victors Unzuverlässigkeit. Es ist jedoch höchst unplausibel, dass das Double die gleichen sensorischen Fehlwahrnehmungen haben soll wie das Original. So findet er in seinem neuen Apartment Konfetti (G, S. 522) und beim Treffen mit Eva erwähnt er Kälte, während er eine Fliege verscheucht (G, S. 527). Die Hinweise, die für einen installierten Doppelgänger als Erzähler von Teil V gestreut werden, werden damit wieder dekonstruiert: 1. Victor überlebt einen Anschlag auf sein Leben in seinem neuen New Yorker Apartment, weil er professionell mit einer 25-kalibrigen Walther umgehen kann. Er montiert gekonnt einen Schalldämpfer auf die Waffe, eher er die zwei Angreifer 126 Ashton, Benzodiazepine. http://www.benzo.org.uk/german/bzcha01.htm#12 vom 17.05. 2011. 127 Nielsen, „Telling Doubles“, S. 24 u S. 26.

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kaltblütig mit einem Doppelschuss niederstreckt – so machen es Profis, um sicher zu gehen, dass das Opfer tot ist. Diese Professionalität im Umgang mit einer Gefahrensituation entspricht zwar keineswegs dem Victor, den der Leser als weinerlichen, labilen Schwächling in Teil IV kennengelernt hat; ein Doppelgänger würde jedoch kaum die gleichen Unzuverlässigkeitssymptome zeigen wie er. Das Konfetti, das der Erzähler Sekunden vor dem Attentat in seinem Apartment entdeckt, spricht eindeutig für Victor als Erzähler. Somit muss die gesamte Szene unter dem Verdacht stehen, so gar nicht stattgefunden zu haben – der Leser wird in die Irre geführt und kann nicht entscheiden, ob das Gelesene in der fiktiven Realität wirklich oder ein Phantasma ist. 2. Auch das Treffen mit Eva, Laurens Double, wird durch den Unzuverlässigkeitsanzeiger Kälte und die Fliege, die zumeist zusammen mit dem Geruch nach Exkrementen auftritt, unterwandert. Erneut stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Szene: Trifft Victor sich überhaupt mit einer Eva oder ist es nicht doch seine alte Flamme Lauren Hynde? Dreht sich das Gespräch wirklich um das Auswendiglernen von Namen und Gesichtern oder nicht doch um alte Bekannte, deren Namen Victor schlicht entfallen sind? Der ominöse Doppelgänger, falls er existiert, kann somit nicht Victors Rolle als Erzähler des Romans übernommen haben, wie Nielsen behauptet. Die durch diese doppeldeutigen Szenen angeschnittenen Fragen können allerdings bis zum Romanende nicht beantwortet werden. Hier drängt sich der Eindruck der erzählerischen Unentscheidbarkeit auf. Da der Leser die Geschehnisse des Textes nicht erfolgreich naturalisieren, keine schlüssige Erklärung für die Ereignisse finden und vor allem nicht glaubhaft nachgewiesen werden kann, dass Victor sich seinen Doppelgänger nur einbildet, scheint die erzählte Welt hinter der Erzählerrede ins Wanken zu geraten. Auch für Chloes Schwangerschaft und das Telefonat mit seiner Schwester Sally, die beide für die Existenz eines Doubles zu sprechen scheinen, können andere Erklärungen gefunden werden: Chloe könnte hinsichtlich der Vaterschaft lügen und das Telefonat könnte ein missglückter Telefonscherz sein. Es gibt jedoch keine expliziten Textsignale, die diese Textstellen enträtseln und ihnen eine Lösung zuschreiben würden. Somit bleibt unklar, welche Version in der erzählten Welt die richtige ist. Dem Leser kann es somit nicht gelingen, die durch den Text aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Die genaue und logische Betrachtung des Problems ergibt jedoch, dass Victor unzuverlässig erzählt, nicht dass die erzählte Welt hinter der Erzählerrede instabil sei: Sollte der Protagonist sich seinen Doppelgänger nur einbilden, leidet er an einer Form der Paranoia und ist somit als unzuverlässig einzustufen. Er begeht in diesem Fall „misreporting“ und „misinterpreting“, stellt Fakten demnach falsch dar und interpretiert sie fehl. Sollte das Double hingegen existieren, ist der Text ebenfalls nicht mimetisch unentscheidbar erzählt: In diesem Fall er-

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weist sich Victor hinsichtlich des Doubles nicht als unzuverlässig, sondern er berichtet die Wahrheit. Die erzählte Welt bekommt dadurch aber keine Brüche, sie bleibt stabil und eindeutig bestimmbar. Die Unfähigkeit des Lesers, den Text erfolgreich zu naturalisieren, seine Unentschlossenheit, ist demnach kein hinreichender Beweis für die Unentscheidbarkeit eines Textes – der Text gibt seine Unentscheidbarkeit nur vor. Auch das Motiv des Filmdrehs, in dem Victor angeblich die Hauptrolle spielt, erzeugt diesen widersprüchlichen Effekt. Ein Filmdreh? Von Anfang an wird die Hauptfigur von einer Reporterin des US-Männermagazins Details begleitet, die eine Reportage über ihn verfassen soll. Da Victor Ward ein einigermaßen erfolgreiches Model ist, sogar den Titel des Magazins Youthquake128 ziert und häufig als „It-Boy“ bezeichnet wird, erscheint dies nicht als unglaubwürdig. Auch dass er in einem Einspieler für „Entertainment Tonight“ über seinen Personal Trainer Reed auftritt – in dem kurzen Film geht es um „trainers for celebrities who are more famous than the celebrities they train“ (G, S. 61), dessen Ironie Victor selbstverständlich nicht versteht – und von MTV für die Show „House of Style“ gefilmt wird (G, S. 157-162), könnte noch unter alltäglichem Modelbusiness verbucht werden. Jedoch erscheint es höchst erstaunlich, dass Victor perma128 Im Gegensatz zu Details handelt es sich bei dieser Zeitschrift um ein fiktives Magazin, das in den USA nicht wirklich verlegt wird. Jedoch existiert im Internet eine Homepage des Youthquake Magazins, in welchem das Interview mit Victor Ward nachgelesen werden kann, ebenso wie eine Verlinkung auf die offizielle Homepage von Victor Ward, seinen MySpace-, Facebook- und Twitter-Auftritt. Als Herausgeber des Magazins werden F. Fred Palakon, Bobby Hughes, Bruce Rhinebeck und Bentley Harrolds angegeben, als mitwirkende Autoren treten neben Bret Easton Ellis u.a. auch die (teils verstorbenen) Literaturgrößen Charles Bukowski, Fjodor Dostojewski, Chuck Palahniuk und J.D. Salinger auf. Die Webpage wird regelmäßig aktualisiert und um aktuelle Entwicklungen in der Musik- und Filmszene ergänzt. Dennoch dient sie natürlich ausschließlich dazu, dem Protagonisten des Romans einen Online-Auftritt zu verschaffen. (http://www.youthquakemagazine.com/index.htm vom 07.10.2011.) Dies ist Teil einer geschickten Internetmarketingstrategie des Verlags, der auch verantwortlich ist für die Internetseite TheDevilInYou, in welcher sich der User als Filmproduzent fühlen und eine junge Schauspielerin im Casting demütigen darf. Durch immer weitere Klicks mit Anweisungen kann der die Schauspielerin so zu entwürdigenden Handlungen nötigen. Dies ist als kritisch-satirische Werbemaßnahme für den aktuellen Roman Imperial Bedrooms gedacht, in welcher der Protagonist Clay, nun erwachsen und HollywoodDrehbuchschreiber, eine junge Schauspielerin mit dem Versprechen einer Filmrolle in sein Bett lockt. (http://www.thedevilinyou.com/ vom 07.10.2011.)

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nent – also den ganzen Roman über, der eine Zeitspanne von etwa sechs Wochen abdeckt –, von einer Kameracrew begleitet wird, die ihm Anweisungen erteilt und praktisch alles aufzeichnet, was ihm widerfährt. Was in Teil I zunächst noch als einigermaßen glaubwürdige berufliche Aktivität gelten kann, wird im weiteren Verlauf des Romans immer unwahrscheinlicher. Erstens scheint niemand außer Victor die Filmcrew zu bemerken. Keine der anderen Romanfiguren entdeckt die Kabel auf dem Fußboden, die Mikrofone und Kameras, keine erhält Anweisungen des Regisseurs, keine außer ihm spricht mit dem Kameramann Felix. Diese Umstände sind als implizite Hinweise zu verstehen, dass Victor sich den Filmdreh nur einbildet, zumal zweitens die Filmcrew eine immer zentralere Position in seinem Denken und Erleben einnimmt. Der Protagonist fängt an, die Menschen um sich herum als Statisten oder Crewmitglieder wahrzunehmen (G, S. 191), Gegenstände werden zu Requisiten reduziert (G, S. 216f., S. 229, S. 240, S. 334), er empfängt Befehle des Regisseurs (der niemals namentlich auftritt),129 hört Songs aus dem Soundtrack des Films, der angeblich über ihn gedreht wird, und beschreibt vermeintliche Kameraeinstellungen, die er gar nicht sehen kann: „[…] and the director leans in to me and warns, ‚You’re not looking worried enough,‘ which is my cue to leave Florent. […] ‚Disarm‘ by the Smashing Pumpkins starts playing on the sound track and the music overlaps a shot of the club I was going to open in TriBeCa and I walk into that frame, not noticing the black limousine parked across the street, four buildings down, that the cameraman pans to.“ (G, S. 193)

Allein in Teil II, der auf der Queen Elisabeth II mitten auf dem Atlantik spielt, wird die Filmcrew im Durchschnitt alle zweieinhalb Seiten erwähnt (G, S. 216, S. 217, S. 218, S. 219f., S. 221f., S. 230, S. 231, S. 241, S. 242, S. 244, S. 247, S. 257, S. 261ff., S. 265). Sie rückt buchstäblich immer näher. Dabei wird der Kameramann Felix, der in Victors Realität immer mehr Raum einnimmt, zu seinem Ansprechpartner, der die Funktion eines Orakels ausübt. Er spricht Victor gegenüber undeutliche Warnungen aus, die dieser jedoch nicht ernst nimmt. „‚Haven’t you read the rest of the script?‘ he [Felix, Anm. d.Verf.] asked. ‚Don’t you know what’s going to happen to you?‘ 129 Auch dass der Regisseur namenlos bleibt, ist m.E. wiederum kein Zufall. Indem er eine anonyme Größe bleibt, wird dem Leser vor Augen geführt, dass ein Unbekannter die Strippen in der Verschwörung zieht. Der Regisseur ist dabei nur eine von mehreren undurchschaubaren einflussnehmenden Figuren, neben Victors Vater Samuel Johnson, F. Fred Palakon und Bobby Hughes.

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‚Oh man, this movie’s so over.‘ A semi-restlessness was settling in and I wanted to take off. ‚I’m improvising, man. I’m just coasting, babe.‘ ‚Just be prepared,‘ Felix said. ‚You need to be prepared. […] You need to pay attention.‘ ‚This really isn’t happening,‘ I yawned. ‚I’m taking my champagne elsewhere.‘ ‚Victor,‘ Felix said. ‚Things are getting mildly… er, hazardous.‘ ‚What are you saying, Felix?‘ I sighed, sliding off the barstool. ‚Just make sure I’m lit well and don’t play any colossal tricks on me.‘ ‚I’m worried that this project is… ill-conceived,‘ he said, swallowing. ‚The writers seem to me making it up as it goes along, which normally I’m used to. But here…‘ ‚I’m taking my champagne elsewhere,‘ I sighed, tossing him a $100 chip from the casino. ‚I think things will be getting out of hand,‘ he said faintly, before I walked away.“ (G, S. 221f., Hervorhebung im Original)

Für den Leser erfüllt das Gespräch mit Felix auch eine metanarrative Funktion; er versteht, was Victor nicht verstehen kann, nämlich dass die ‚Geschichte‘, also sowohl der Film über Victor als auch der gesamte Roman, ein übles Ende nehmen wird. Darüber hinaus verweist Victors Aussage „This really isn’t happening“ erneut darauf, dass seine Realitätswahrnehmung nur allzu zweifelhaft erscheint. Später wird auch der namenlose Regisseur zum exklusiven Gesprächspartner Victors – niemand außer ihm erhält vom Regisseur Aufgaben und Verhaltensbefehle. Darüber hinaus gibt der Regisseur das Motto für die zweite Romanhälfte vor, das erneut als Leitsatz fungiert: „It’s what you don’t know that matters most“ (G, S. 322, S. 390, S. 437, S. 459). Auch dies ist wieder ein Hinweis für den Leser, den Victor nicht durchschauen kann: Während er glaubt, improvisieren zu sollen, wird die Hauptfigur willentlich in Unwissenheit gehalten, wird dadurch zu einer funktionierenden Marionette, die Befehle empfängt und ausführt, aber nicht im Stande ist, Zusammenhänge zu erkennen. Dies hat natürlich auch Konsequenzen für Victor als Erzähler. Indem den Dingen, die er eben nicht weiß, größte Wichtigkeit zukommt, entgehen nicht nur ihm, sondern auch dem Leser essentielle Hinweise für die Auflösung der Verschwörung. Da Victor nichts berichten kann, was er nicht weiß, erweist er sich nun als „underreporter“, wodurch seine Erzählung voller Lücken und voll unzureichender Deutungen ist. Noch komplizierter wird die Angelegenheit, als in Paris eine zweite, konkurrierende Filmcrew auftaucht, von der die erste Crew nichts zu wissen scheint und die ebenfalls augenscheinlich nicht von den anderen Romanfiguren bemerkt wird. Charakteristischerweise tritt die zweite Crew nach dem Mord an Sam Ho, der für Victors Veränderung maßgeblich ist, in Erscheinung. Die Einbindung eines weiteren Kamerateams in Victors Realität verdeutlicht damit umso mehr die emotionale Erschütterung, die das Trauma des Mords in ihm ausgelöst hat. So filmt die französische Crew Szenen, die nicht im Skript der ersten Crew stehen, wie etwa Jamies

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intimes Geständnis gegenüber Victor, wie sie Mitglied von Bobbys Terrororganisation wurde (G, S. 351ff.). Vor allem werden aber die Terroranschläge von der zweiten Kameracrew gefilmt. Somit stehen die beiden Kamerateams für die beiden gliedernden Erzählstränge von Oberflächlichkeit einerseits und Verzweiflung andererseits, die für geraume Zeit nebeneinander existieren, sich dann jedoch ablösen. Die Koexistenz der beiden Teams führt nämlich schon nach kurzer Zeit zu Schwierigkeiten. Der Anschlag auf den Louvre scheitert nur deshalb, weil die erste Crew der zweiten ins Gehege kommt; natürlich soll die erste Crew nicht merken, dass ein Terroranschlag bevorsteht, so dass das Attentat abgebrochen werden muss. Um die amerikanische Crew aus dem Weg zu räumen, die im Übrigen ohnedies beschlossen hat, den Filmdreh mit Victor abzubrechen, führt die Terrorzelle einen Anschlag auf das Ritz Hotel aus, dem alle Mitglieder der ersten Crew, die noch nicht abgereist sind, u.a. Felix der Kameramann, zum Opfer fallen. Von nun an ist nur noch die französische Crew übrig, die allein in Teil IV 34 Szenen schießt (G, S. 336, S. 345, S. 348, S. 349, S. 355, S. 393, S. 395, S. 413, S. 415, S. 416, S. 417, S. 419, S. 420, S. 423, S. 431, S. 433, S. 434, S. 438, S. 447, S. 448, S. 451, S. 452, S. 473, S. 489, S. 491, S. 492, S. 493, S. 496, S. 497, S. 498, S. 499). War Victor bislang der manipulierbare Handlanger Bobbys, wird er nun zum Actionhelden für den französischen Regisseur. Nach dem Mord an Chloe, den die Crew tatenlos mit ansieht und filmt, entscheidet er, dass er Bobby gern tot sehen würde und instruiert Victor, ihn zu ermorden. Der Showdown in der Flughafentoilette ist dementsprechend nicht nur beschrieben wie eine Filmszene, voller Action, aber ohne jegliche Erwähnung von Schmerz oder Emotion – sie wird auch als Szene für den französischen Film inszeniert. Victor führt den Tötungsbefehl des Regisseurs aus wie ein Roboter. Obwohl es zu einem blutigen Kampf mit Bobby kommt, bei dem u.a. Victors Schädel mehrmals gegen einen Spiegel und gegen ein Urinal geschlagen, er in den Schwitzkasten genommen, gegen den Kopf getreten, gewürgt und beinahe erschossen wird, ist auf der knapp viereinhalbseitigen Beschreibung (G, S. 493-497) nicht eine einzige Erwähnung von Schmerz, Angst oder Panik zu lesen. „He grabs my collar, then clumsily attempts to get me into a headlock. I shove the hand that’s holding the gun under his chin, pushing him away. He moves this head back, my hand slipping off. I try again, this time with the other hand and harder, and my fist connects with his chin. When Bobby lets go he tears my shirt open and he lunges forward again, grabbing my shoulders and bringing my face up to his. ‚You… are… dead,‘ he says, his voice low and hoarse. It’s like we’re dancing, colliding with each other before we crash into a wall, almost knocking over the cameraman. We keep hugging each other until Bobby maneuvers around and smashes my face against a wall-length mirror, once, twice, my head impacting against it until the mirror cracks and I fall to my knees, something warm spreading across my face.“ (G, S. 493f.)

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Die Szene ist, obwohl von der Hauptfigur Victor geschildert, von externaler Fokalisierung bestimmt, ähnlich wie die Mord- und Folterszenen in American Psycho. Der Fokus liegt auf den Handlungen, nicht auf den Gefühlen der Beteiligten. Gleich einem Schauspieler – als den Victor sich ja auch sieht –, der in einem Actionstreifen schwere Blessuren davonträgt, aber dennoch unverwüstlich seiner Mission nachgeht, weil die Szene ja nicht echt ist, scheint auch Victor keinerlei Schmerz oder Emotion wahrzunehmen. Durch diese Erzählstrategie sollen im Leser visuelle Erinnerungen an ebensolche Filme geweckt werden, in denen der Actionheld ohne Schmerzen zu fühlen seinen Auftrag erfüllt. Ungeachtet der Verletzungen, die Victor erleidet, steht er wie ein John McClane in DIE HARD oder ein John Rambo in RAMBO seinen Mann und tötet seinen Gegenspieler in einem brutalen Zweikampf. Diese visualisierende Erzähltechnik erlaubt es dem Leser, die beschriebene Szene mit einer emotionalen Distanz zu lesen. Indem auf Beschreibungen von Schmerzen oder Angst verzichtet wird, wird die Szene selbst in eine narrative Distanz gerückt. Der Leser wird zum Beobachter, dem empathisches Mitfühlen versagt wird. Diese Szene zeichnet sich somit durch affektlos-vermeidendes Erzählen aus: Durch den Verzicht auf Emotionsworte genauso wie durch den Verzicht auf die Beschreibung körperlicher Reaktionen auf die Verwundungen, die Bedrohung des Lebens, den Verlust der Partnerin durch den gewaltsamen Tod, entsteht der Eindruck, als habe die Figur keinerlei emotionale Regungen, kenne keinen körperlichen und seelischen Schmerz, als fehle der „core affect“. Dies steht in krassem Gegensatz zu den vielen Szenen, in denen die Hauptfigur von starken Affekten übermannt wird. Offenbar ist es dem Protagonisten gleichermaßen möglich, Affekte ein- wie auszublenden, wenn es eine Autorität von ihm verlangt. Obwohl diese Ausführungen zum Filmdreh bisher darauf hindeuten, dass es sich um eine Einbildung Victors handelt und dass der Dreh nicht wirklich stattfindet, gibt es jedoch auch Hinweise, die das Gegenteil implizieren und mimetische Unentscheidbarkeit vortäuschen. So wird er wiederholt von anderen Romanfiguren auf das Drehbuch hingewiesen: „‚Hey, don’t worry,‘ he [Bobby, Anm. d.Verf.] says, ‚[…] It’s in the script.‘ (G, S. 312) „‚You shouldn’t be shocked by any of this, Victor,‘ Bobby says. ‚This was expected. This was in the script. […]‘“ (G, S. 326) ‚„Just stick to the script,‘ Bruce warns her.“ (G, S. 334) „‚That’s not in the script, Victor,‘ she [Jaime, Anm. d.Verf.] warns, smiling wanly too.“ (G, S. 342)

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Dies passt nicht zu der Annahme, dass die anderen Romanfiguren vom Filmdreh nichts wissen und dass dieser nur in Victors Fantasie stattfinde. Hiermit werden die Indizien, die die Ungereimtheiten des Textes als unzuverlässiges Erzählen des IchErzählers ausweisen, durch einen unscheinbaren Satz, der schnell überlesen werden kann, dekonstruiert. Der aufmerksame Leser steht nun vor dem gleichen Problem, das schon durch die Doppelgängerthematik aufgeworfen wurde: Zwar lassen sich zunächst noch Erklärungen für die Widersprüche finden (nämlich dass der überreizte und neurasthenische Victor sich den Dreh in seinem Narzissmus nur einbildet), allerdings ist nicht aufzulösen, weshalb die anderen Romanfiguren einerseits den Filmdreh nicht zu bemerken scheinen, andererseits Victor immer wieder dazu anhalten, das Drehbuch zu befolgen – der Leser reagiert unentschlossen. Zur Lösung führt die metaphorische Bedeutung des Wortes „script“. Das Skript kann auch als Plan, als Handlungsanweisung verstanden werden. Wenn Victor von anderen Romanfiguren darauf hingewiesen wird, sich an das „script“ zu halten, kann dies auch bedeuten, er solle nicht vom Plan abweichen. Das kann einerseits beinhalten, den Handlungsplan der Terroristen zu befolgen und nicht aus der Reihe zu tanzen, andererseits kann es ein metafiktionaler Hinweis des Autors sein, dass hinter der ganzen, für den Leser undurchschaubaren und verworrenen Verschwörungsgeschichte doch ein Plan, ein verrätselter Sinn steckt, an den sich alle Romanfiguren halten müssen, auch wenn weder sie noch der Leser diesen versteckten Sinn erschließen können. Erneut zeigt sich, dass die vermeintliche Unentscheidbarkeit des Textes nur eine vorgetäuschte ist. Der Leser darf sich von den widersprüchlichen Signalen nicht in die Irre führen lassen, sondern muss die Hinweise, die der Text streut, um sie anschließend wieder und wieder zu dekonstruieren, hinterfragen.130 Scheinbar unentscheidbares Erzählen Diese Ausführungen konnten zeigen, dass Victor sein Leben fremdbestimmen lässt – wenn nicht von Bobby Hughes, dem Chefterroristen, dann von (imaginierten) Regisseuren, die ihm Anweisungen erteilen, die von Gesichtsausdrücken bis hin zu Gewaltverbrechen führen. Sie konnten ebenfalls zeigen, dass Ellis’ vierter Roman Glamorama nur scheinbar „mimetisch unentscheidbar“131 erzählt ist. Die sensorischen Fehlleistungen, die als Leitmotive auftreten, weisen den Erzähler als eindeutig unzuverlässig aus: Es ist offensichtlich, dass er halluziniert, möglicherweise wegen Medikamentenmissbrauchs eine verzerrte Realitätswahr130 Letztlich muss dies als offener Prozess ohne Abschluss betrachtet werden. Wie bereits mehrmals erwähnt, sind die vom Text aufgeworfenen Fragen nicht endgültig beantwortbar. Dies sollte jedoch nicht als Mangel an auktorialer Federführung, sondern vielmehr als postmoderne Spielart betrachtet werden, die den Leser herausfordert und an seine Grenzen führt. 131 Martinez/Scheffel, Erzähltheorie, S. 103.

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nehmung und ein gestörtes Erinnerungsvermögen hat, dass er sich Dinge einbildet, die gar nicht da sind. Zwar erwecken der vermeintliche Doppelgänger und der Filmdreh den Anschein, diese These untergraben zu wollen. Bei genauer Betrachtung des Textes zeigt sich jedoch, dass es keine eindeutigen, expliziten Textsignale gibt, die die erzählte Welt als instabil ausweisen. Auch wenn der Leser die durch den Roman aufgeworfenen Fragen nicht alle zufriedenstellend beantworten kann, liegt dennoch eine konsistente erzählte Welt vor, die durch psychotisch-wahnhafte Elemente geprägt wird. Der Leser kann, im Gegensatz zur Hauptfigur, bei genauer Analyse des Textes diese Elemente herausfiltern und den Ich-Erzähler somit als unzuverlässig entlarven. Da die Konsistenz narrativ erzeugt ist, der Protagonist die Welt jedoch nicht narrativ erfahren kann, hat der Leser gegenüber der Hauptfigur einen deutlichen Vorsprung beim Erkennen der halluzinativen Elemente. Nur für Victor bleibt die Unterscheidung zwischen Realität und Wahn unmöglich. Dennoch erzeugen die Doppelgänger- sowie die Filmdrehthematik eine generelle Unentschlossenheit über das Erzählte, da die durch sie aufgeworfenen Fragen nicht textintern beantwortet werden können. Umso interessanter für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist die Glaubwürdigkeit der Affektdarstellung. Die bisherige Analyse konnte nachweisen, dass der Protagonist des Romans eine gravierende Charakterwende durchlebt, die mit einer emotionalen Entwicklung einhergeht. Fraglich ist jedoch, ob diese Emotionen überhaupt echt oder nicht viel mehr simuliert sind, wenn Victor sein Leben nach einem Drehbuch ausrichtet. Daher soll es nun um die emotionale Glaubwürdigkeit des Protagonisten gehen. 6.2.3 Emotionale (Un-)Glaubwürdigkeit Die Hauptfigur stellt sich selbst in Teil I des Romans als eine ungerührte, lässige Person dar, die sich durch nichts emotional bewegen lässt. Selbst die Trennungen von seinen drei Geliebten ringt Victor kaum mehr als Gleichgültigkeit ab. Das am häufigsten von ihm verwendete Adjektiv lautet dementsprechend „vacantly“ (G, S. 25, S. 28, S. 33, S. 34, S. 52, S. 56, S. 62, S. 65, S. 158, S. 194, S. 232, S. 274, S. 285, S. 303, S. 304, S. 321, S. 322, S. 371, S. 410, S. 421, S. 431, S. 537) – nichtssagend. Für diese Gleichgültigkeit wird er hin und wieder von Frauenfiguren des Romans kritisiert, die seine Ausdruckslosigkeit und Gefühlskälte ermüdend bis krankhaft finden: [Chloe:] „I am so tired of looking at that empty expanse that’s supposed to be your face –“ (G, S. 181) „‚If there was just some speck of feeling in you, Victor,‘ she [Chloe, Anm. d.Verf.] sighs, padding over to the closet.“ (G, S. 201)

248 | D AS NICHTS UND DER SCHMERZ . E RZÄHLEN BEI B RET E ASTON ELLIS „‚But it’s not like you broke my heart,‘ I whisper because we’re close enough. ‚That’s because you didn’t have one,‘ she [Jamie, Anm. d.Verf.] whispers back, leaning closer.“ (G, S. 290)

Diese generelle Haltung der Affektlosigkeit wird durchbrochen durch Emotionsanweisungen des amerikanischen Regisseurs, der Victor bereits in Teil I des Romans pausenlos begleitet und filmt. So werden Victor nach der Trennung von Lauren, deren Szene er schon geprobt haben will, angeblich falsche Tränen auf das Gesicht appliziert, die seine Verzweiflung über ihren Verlust markieren sollen: „The camera stops rolling and the makeup girl drops a couple of glycerin tears onto my face and the camera starts rolling again and just like in rehearsals I hang the phone up in such a way that it drops out of my hand, swinging by its cord, and then carefully, gently, I lift it up, staring at it.“ (G, S. 199)

Für die Trennung von Chloe erhält er die Anweisung, verärgert auszusehen, was Victor jedoch nicht gelingt („the director, getting fed up with me, hisses ‚Look anguished‘ and I try but I’m just vaguely unhappy“, G, S. 200). Zwar versucht er, die Order des Regisseurs auszuführen, empfindet die vorgeschriebenen Emotionsäußerungen aber als unauthentisch („started to sob inauthetically“, G, S. 217), da er sie selbst gar nicht verspürt: „Occasionally the crew converges and the camera would follow me at a discreet distance, shots mainly of Victor on the upper-deck star-board railing, trying to light cigarettes, some rolled with marijuana, sunglasses on, wearing an oversized Armani leather jacket. I was told to look sad, as if I missed Lauren Hynde, as if I regretted my treatment of Chloe, as if my world were falling apart.“ (G, S. 219, Hervorhebungen durch d.Verf.)

Schon jetzt sind Victors Emotionen also offensichtlich geschauspielert. Dafür spricht auch die Tatsache, dass er von sich selbst in der dritten Person spricht – als Figur in einem Film. Was die Figur Victor empfindet, fühlt der Schauspieler Victor nicht: Traurigkeit, Sehnsucht oder Reue sind keine eigenen Emotionen, sondern Instruktionen des Regisseurs. Was hier sehr deutlich wird, nämlich dass Victors Emotionen simuliert sind, gilt auch für Victors emotionale Zusammenbrüche, die regelmäßig vom Kamerateam gefilmt werden. So geschehen beispielsweise nach dem Giftanschlag auf das Ritz Hotel: Auf Bobbys Anweisung vergiften Jamie und Victor gemeinsam den Pool des Ritz bei einer Fashion Veranstaltung. Im Anschluss bricht Victor auf der Straße zusammen und macht eine dramatische Szene, die von der Kameracrew gefilmt wird.

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„A montage of Jamie and Victor walking along Quai de la Tournelle, staring up at the turrets of Notre Dame, looking out at barge traffic on the Seine, Jamie trying to calm me down as I freak out, clawing at my face, hyperventilating, wailing “I’m gonna die, I’m gonna die,” and she maneuvers us to a walled-off area somewhere on Boulevard Saint-Michel and we end up shooting my breakdown again, near Quai de Montebello, where I’m fed more Xanax.“ (G, S. 367)

An dieser Textstelle sind zwei Aspekte auffällig. 1. Zunächst einmal werden wieder nur Victors somatische Reaktionen beschrieben: er bedeckt sein Gesicht mit den Händen, hyperventiliert und wimmert, erleidet scheinbar Todesängste. Diese körperlichen Verhaltensweisen werden jedoch in nüchternem, unbeteiligtem Ton vorgetragen in einem einzigen langen Satz, in welchem neben diesen Resonanzen auch andere Handlungen aufgezählt werden. Auf einen Spaziergang an der Seine folgt ein Zusammenbruch; es scheint sich um eine Aneinanderreihung verschiedener Sequenzen des Films über Victor zu handeln. Dass Victor erneut in der dritten Person auftritt, spricht ebenfalls dafür: Victor spielt sich selbst. Die Handlungen lesen sich wie Regieanweisungen aus einem Drehbuch, denen die Darsteller folgen. 2. Vor allem der Wiederholungsbedarf der Szene lässt den Leser mit dem Verdacht zurück, dass Victors Emotionsausbruch wieder nur auf Anweisung eines Regisseurs geschieht, jedoch nicht wirklich von ihm empfunden wird. Die Szene wird ein zweites Mal gedreht, der Zusammenbruch wiederholt sich – offenbar kann Victor Emotionsausdrücke abrufen, wenn es von ihm gefordert wird, auch wenn er den dazu gehörigen Affekt nicht verspürt. Durch die offensichtliche Konstruiertheit der Affektentladung kommt eine Distanz zwischen Rezipient und Romanfiguren/Darsteller zustande. Weil seine Emotionen nur vorgetäuscht sind, wird dem Leser damit die Einfühlung in den Protagonisten verweigert. Wie sich Victor wirklich mit der Verantwortung für den Vergiftungstod zahlreicher Menschen fühlt, muss spekulativ bleiben. Nun mit dem Misstrauen ausgestattet, dass Victors emotionale Entladungen ein Schauspiel darstellen, muss der Leser auch die anderen, zahlreichen Szenen, in denen der Protagonist weint, vermeintlich in Panik gerät oder verzweifelt, in ihrer Glaubwürdigkeit in Frage stellen. So wird manches Mal ausdrücklich die Anwesenheit eines Filmteams bei seinen Nervenzusammenbrüchen erwähnt (G, S. 413, S. 418, S. 431ff., S. 451), andere Male nicht – in solchen Fällen fragt er zumindest nach, ob er gerade gefilmt werde, etwa bei einem Notfalltreffen mit Palakon, von dem er sich Hilfe erhofft:

250 | D AS NICHTS UND DER SCHMERZ . E RZÄHLEN BEI B RET E ASTON ELLIS „‚Is this… is this for real?‘ I’m scanning the room, looking for signs of a camera, lights, some hidden evidence that a film crew was here earlier or is right now maybe in the apartment next door, shooting me through holes strategically cut into the crimson and black walls. ‚What do you mean, Mr. Ward?‘ Palakon asks. ‚›Real‹?‘ ‚I mean, is this like a movie?‘ I’m asking, shifting around in my chair. ‚Is this being filmed?‘“ (G, S. 425)

Victor vermutet überall Kameras. Selbst wenn er keine Anzeichen für die Anwesenheit einer der beiden Filmcrews entdecken kann, glaubt er, von ihnen beobachtet und heimlich auf Zelluloid gebannt zu werden. Dies führt zu der Annahme, dass Victor sogar dann schauspielert, wenn gar keine Crew dabei ist – einzig weil Victor glaubt, ständig gefilmt zu werden. Für den Rezipienten stellen sich nun einige Fragen, welche u.a. schon im vorliegenden Kapitel aufgeworfen wurden und die schwerlich zu beantworten sind: Existieren tatsächlich ein oder gar mehrere Kamerateams, die Victor pausenlos begleiten? Gibt es wirklich einen Regisseur, der Victor als Hauptfigur seines eigenen Films formt, ihn als weinerlichen Schwächling oder als Actionhelden inszeniert? Wenn die Hauptfigur der Überzeugung ist, dass dies zutrifft, welche seiner emotionalen Entladungen sind dann überhaupt glaubwürdig, welche Gefühle echt und welche nur gespielt? Kann tatsächlich die vorher beschriebene charakterliche Wende stattgefunden haben, wenn Victor Opfer eines grenzenlosen Selbstbetrugs ist, oder ist auch diese vermeintliche Charakterentwicklung wieder nur ein vorgespielter Schachzug? Der Roman liefert auf diese Fragen keine Antwort, lässt den Leser unentschlossen zurück, welchen Hinweisen er Glauben schenken kann und welchen nicht. Im Roman ist keine Lösung für das Problem der scheinbaren Unentscheidbarkeit angelegt, weder für die Verschwörung noch für Victors Realitätswahrnehmung. Dennoch gibt es Strategien der Leserlenkung, die den Rezipienten, ähnlich wie bei The Rules of Attraction und American Psycho in das Romangeschehen einbinden. 6.2.4 Schlussfolgerungen: Leserrolle – Leserreaktion Das unzuverlässige Erzählen animiert den Leser, die Ungereimtheiten der Erzählung aufzulösen und eine stichhaltige Erklärung für die Geschehnisse zu finden. Hinsichtlich der Verschwörung wird der Leser damit in die Rolle eines Detektivs gedrängt, der Indizien sammeln und zu einem schlüssigen Ganzen zusammenfügen muss. Der Roman selbst streut reichlich Hinweise, die der Leser erkennen und entschlüsseln muss, da die Hauptfigur dazu nicht in der Lage ist. Der Leser übernimmt somit, ähnlich wie in The Rules of Attraction, eine Synthesefunktion, allerdings mit dem Unterschied, dass er in Ellis’ zweitem Roman schlicht Stränge der

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Romanhandlung synchronisieren musste; durch das multiperspektivische Erzählen wurde in erster Linie die Realitätswahrnehmung des Einzelnen in Frage gestellt und die Mehrdimensionalität der Wirklichkeit reflektiert. Dies gilt jedoch nicht für Glamorama. Hier gestaltet sich die Syntheseleistung des Rezipienten deutlich schwieriger. Schließlich sind die Indizien, die der Leser für die Auflösung der Verschwörung sammeln muss, so vielgestaltig und paradox, dass die Zusammenführung ausgesprochen diffizil ist. Somit wird vom Leser eine kognitive Höchstleistung verlangt. So bleibt beispielsweise im Dunkeln, welche Ziele die Terrororganisation um Bobby Hughes überhaupt verfolgt. Tatsächlich ist es für den Leser unmöglich, ein politisches Ziel der Terrororganisation herauszuarbeiten, ihre Absichten werden niemals enthüllt.132 Einzig ideologische Hinweise lassen sich finden, diese zielen jedoch nur auf Anarchie und den Willen zur Zerstörung ab. Der erste Bombenanschlag in Paris auf das Institut für Politikwissenschaften wird etwa wie folgt kommentiert: „The extent of the destruction is a blur and its aftermath somehow feels beside the point. The point is the bomb itself, its placement, its activation – that’s the statement. […] It’s not the legs blown off, the skulls crushed, the people bleeding to death in minutes. The uprooted asphalt, the blackened trees, the benches splattered with gore, some of it burned – all of this matters just as much. It’s really about the will to accomplish this destruction and not about the outcome, because that’s just decoration.“ (G, S. 337)

Es geht den Terroristen demnach kaum um ein politisches Ziel, sondern einzig um den Terrorismus als Selbstwert. Stephenson schlägt daher vor, die terroristischen Akte als metonymisch für die strukturelle Gewalt innerhalb der westlichen Gesellschaft zu verstehen, womit er soziale Ungerechtigkeit und Ausgrenzung, Diskriminierung, Verarmung, ökonomische und kulturelle Aggression meint. 133 Darüber hinaus ist er der Ansicht, dass „the point of symbolic terrorist actions such as 9/11 is not to bargain for advantages, win military victories, or inflict material damage on the enemy, but first, to signify opposition, showing that Western capitalism is vulnerable in the face of a determined antagonist, and second, to create an alternative world order of fatal struggle through dialectical opposition (the duel).“134

132 Vgl. die Ausführungen zum Hitler-Zitat im Unterkapitel Glamour und Terror. 133 Stephenson, „Symbolic Violence“, S. 279. 134 Ebd., S. 279.

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Die Intention der Terroristen in Glamorama ist es demnach in erster Linie zu zeigen, dass sie dagegen sind – gegen was auch immer. Als Mitglieder der sozialen und finanziellen Elite stellen sie sich mit ihren Terroranschlägen, die gegen die Pariser Universität, das angesagte Café Flore, die Pariser Metro, den Louvre (dieser Anschlag scheitert allerdings), das Ritz-Hotel und schließlich ein Flugzeug verübt werden, gegen die eigene Zivilisation. Stephenson unterstreicht, dass der Terrorismus nicht als politische Aktion zu sehen sei,135 sondern dass die Attentäter rücksichtslose Agenten der Modernisierung, Erzwinger von Konformität seien,136 denen es um die symbolische Funktion gehe, Dominanz zu kennzeichnen und bestehende Ungerechtigkeiten von Reichtum, Privilegien und Macht zu bestärken.137 Der Terrorismus ist demnach nicht politisch, sondern symbolisch motiviert, zielt nicht auf Veränderung ab, sondern ist ausschließlich als ideologisches Statement der Ablehnung, der Opposition zu verstehen. Nicht nur Stephenson, auch Peterson betont in seinem Aufsatz zu Glamorama, dass politische Statements kein Anspruch des Terrorismus im Roman seien. Petersen sieht den Anführer Bobby als charismatischen, internationalen und kosmopolitischen Terroristen ohne politischen Auftrag, der statt eines revolutionären oder emanzipatorischen Projekts eine reine Fantasie-Ideologie verfolge.138 So bleibt der verwirrte Leser mit der Frage zurück, welchen Zweck der Terrorismus der Modelclique dann erfüllen soll, wenn keinen politischen. Selbst wenn es ausschließlich um Machterhalt und die Verstärkung bestehender Strukturen gehen sollte, wird nicht deutlich, warum Errungenschaften der modernen Zivilisation (Hotels, Restaurants, Flugzeuge) die Ziele der terroristischen Aktionen sind. Neben der Aufmerksamkeit, die die Anschläge erregen können, und dem größtmöglichen Schaden, der erzielt werden kann, verhallt die Intention der Attentate ungehört. Auch die Funktion des Mehrfachagenten F. Fred Palakon bleibt bis zu Ende des Romans undurchsichtig. Tritt er zunächst angeblich im Auftrag der Eltern Jamie Fields’ auf, die ihre vermisste Tochter zurückgebracht wünschen, entpuppt er sich im Verlauf der Handlung immer stärker als undurchschaubare Figur, die diametralen Interessen dient. Es stellt sich heraus, dass er auf Anordnung von Samuel Johnson, Victors Vater, den durch die Klatschblätter gereichten und dadurch die Karriere des Senators gefährdenden Sohn außer Landes, nämlich nach Europa schaffen soll. Gleichzeitig missbraucht er Victor als Kurier, um der Doppelagentin Jamie, die sowohl für als auch gegen Bobby Hughes arbeitet, den Prototyp für den neuartigen

135 Ebd., S. 283. 136 Ebd., S. 290. 137 Ebd., S. 280. Diese Interpretation Stephensons ist m.E. nach recht spekulativ, denn es gibt im Text keine Indizien für diese Annahme. 138 Petersen, „Terrorist Pretexts“, S. 141.

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Sprengstoff Remform zukommen zu lassen. 139 Bobby wiederum hat bei F. Fred Palakon ein ‚neues Gesicht‘ für seine Terrorzelle verlangt und Palakon hat Victor geliefert. Auf einem Video, das Bobby und Palakon zusammen zeigt, ist zu beobachten, wie sie einen mündlichen Vertrag miteinander schließen. Dieses Video könnte jedoch auch gefälscht sein, da Victor selbst Zeuge ist, wie Bentley Harrolds Foto- und Videomaterial von Victor manipuliert. Auch was die Finanzierung von Johnsons Wahlkampf ebenso wie die Finanzierung der Terrorakte angeht, hat Palakon seine Hände im Spiel – er paktiert mit allen Seiten, arbeitet für und gegen jeden. Seine Ziele sind ebenso unerklärlich wie die der Terrororganisation. Folgendes Zitat, das sowohl die Vertrauensunwürdigkeit Palakons wie auch die Vielschichtigkeit der Verschwörung als auch die scheinbare Unentscheidbarkeit der gesamten Romanhandlung aufzeigt, bestätigt diese Unerklärbarkeit: „‚So you’re telling me we can’t believe anything we’re shown anymore?‘ I’m asking. ‚That everything is altered? That everything’s a lie? That everyone will believe this?‘ ‚That’s a fact,‘ Palakon says. ‚So what’s true, then?‘ I cry out. ‚Nothing, Victor,‘ Palakon says. ‚There are different truths.‘“ (G, S. 463, Hervorhebung im Original)

Palakons Aussage ist als programmatisch für die Verschwörung wie für die Romanhandlung zu lesen: Es gibt verschiedene Wahrheiten, die sich widersprechen, sich gegenseitig dekonstruieren. Die Hinweise, die dem Leser für die Auflösung der Verschwörung gestreut werden, die dieser fleißig sammelt und zusammenzufügen versucht, können keine alleinige Wahrheit ergeben, da sie sich gegenseitig vertilgen; kaum glaubt man, ein Indiz richtig interpretiert zu haben, taucht das nächste auf, welches das vorherige zunichte macht. Ein weiteres Problem, das die Detektivarbeit des Lesers so schwierig und erfolglos macht, ist die Komplexität der Verschwörung, die derart angewachsen ist, dass der Autor selbst den Überblick darüber verloren hat. Ellis räumt in einem Interview ein, dass er irgendwann die Kontrolle über die Verschwörungsgeschichte verloren hatte, mit der Folge, dass er Hand-

139 Dieser wird in einem Hut versteckt transportiert, den die Doppelgängerin Lauren Hyndes Victor in New York zusteckt. Auf dem Schiff verschwindet der Hut plötzlich, ist offensichtlich von Bobby entdeckt und an sich gebracht worden. Später findet Victor den ausgeweideten Hut im Badezimmer des Chefterroristen wieder. Somit ist der Prototyp in die falschen Hände gelangt; statt in Jamies, die den Sprengstoff gegen Bobby einsetzen sollte, ist er nun in Bobbys Besitz.

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lungsstränge abbrechen musste.140 Auch deshalb bleibt der Roman mit zahlreichen offenen Fragen für den Leser zurück. Neben der Rolle des Detektivs, der erfolglos die Hinweise zu einer schlüssigen Geschichte zu kombinieren versucht, wird der Leser aber auch in die Rolle eines Gutachters gedrängt. Indem durch den ganzen Roman Signale für die Unzuverlässigkeit des Erzählers gestreut werden, die sich in den sensorischen Fehlleistungen der Figur – den Leitmotiven –, äußern, wird der Leser erneut zu einer Naturalisierungsleistung gezwungen. In der Rolle des Gutachters muss er über den Wahrheitsgehalt des Erzählerberichts entscheiden. Im Sinne Nünnings wird er dafür sein eigenes Weltwissen und ihm vertraute Normen und Werte in die Analyse des Romans einbringen und dabei feststellen müssen, dass dem Erzähler des Romans nicht zu trauen ist. Gleich auf mehrfache Weise untergraben die oben genannten Signale die Zuverlässigkeit des Erzählers. Wie an obiger Stelle bereits konstatiert worden ist, liegt sowohl „unreliable reporting“ wie auch „unreliable interpreting“ vor: Der Erzähler stellt Fakten aus Unwissenheit falsch dar, weiß viele Dinge nicht zu berichten und deutet diese Fakten zusätzlich falsch oder unzureichend. Darüber hinaus stellt sich mit der Doppelgängermotivik und dem vermeintlichen Filmdreh eine generelle Ungewissheit über das Erzählte ein, wodurch der Wahrheitsgehalt eines jeden Details in Frage gestellt werden muss. Durch die vorgetäuschte Unentscheidbarkeit des Romans wird es dem oberflächlichen Leser nicht gelingen, mit Gewissheit zu identifizieren, welche Teile der Romanhandlung in der fiktiven Realität tatsächlich stattfinden und welche nur Auswüchse der psychotischen Fantasie des Erzählers sind. Er bleibt unentschlossen, ob Victor tatsächlich Opfer einer Verschwörung ist, sich unfreiwillig einer Terrorzelle anschließt, Schauspieler in einem Film ist – für ihn ist nichts am Ende des Romans unstreitig. Nur der aufmerksame Leser wird diesen erzählerischen Trick der scheinbaren Unentscheidbarkeit durchschauen und sich nicht in die Irre führen lassen durch die sich gegenseitig dekonstruierenden Textsignale, sondern den Ich-Erzähler als unzuverlässig entlarven. Für den Leser, der den narrativen Kniff erkennt, bleiben trotzdem offene Fragen, da er zwar die erzählte Welt als konsistent und stabil begreift, sich aber nicht alle widersprüchlichen Signale auf eine schlüssige Lösung zurückführen lassen. So lassen sich zwar die sensorischen Fehlleistungen der Figur und der Filmdreh als Halluzinationen aufklären, für die Doppelgängerthematik gibt es jedoch zwei mögliche Erklärungen, die nicht nebeneinander existieren können und die der Text nicht auflöst: Entweder es gibt einen Doppelgänger und Victor ist Spielball einer Intrige oder es gibt ihn nicht und der Protagonist leidet an einer ausgeprägten Form paranoider Schizophrenie. Ellis schafft mit Glamorama einen Roman, der zwei Klassen von Lesern provoziert: den idealen Leser, dem Modell-Leser gleich, der auf die Textstrategien an140 Flory, Out is in, S. 310.

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spricht, den Trick durchschaut und so die Erzählung als unzuverlässig erkennt und den vom idealen Leser abweichenden Rezipienten, der sich von der verwirrenden Erzählstrategie verführen lässt und auf den Trick der scheinbaren Unentscheidbarkeit hereinfällt. Beide Lesertypen müssen jedoch an der kognitiven Aufgabe der Naturalisierung scheitern: Die Entscheidung, inwieweit dem Erzähler zu trauen ist, was stimmt und was nicht, kann in letzter Instanz nicht mit Sicherheit getroffen werden. Dem Rezipienten, gleich welcher Art, werden beim Lesen des Romans damit zwei Rollen zugewiesen, die er beide nicht zufriedenstellend ausfüllen kann: die des Detektivs und die des Gutachters. Als Reaktion darauf spielen sich im Leser vielfältige emotionale Reaktionen ab. Hinsichtlich der Syntheseleistungen und Naturalisierungsaufgaben wird der Leser eine Überforderung empfinden, da die Ansprüche an ihn nicht zu bewältigen sind: Weder ist die Verschwörung aufzulösen, noch ist endgültig klärbar, was tatsächlich passiert und was nicht. Hillebrandt stellt in ihrem Aufsatz zur emotionalen Funktion unzuverlässigen Erzählens fest, dass diese Erzählstrategie im Leser eine emotionale Reaktion auslöst, die sich in Verwirrung und Desorientierung äußert. Sie nennt es „an enduring inner state that stems from the inability of the reader to construe a scheme that covers all information provided by the text.“141 Exakt diese emotionale Reaktion von Überforderung, Verwirrung und Desorientierung wird durch die vorgetäuschte Unentscheidbarkeit des Erzählten im Leser erzeugt, er erfährt negative ästhetische Emotionen. Gleichzeitig jedoch wird der Leser durch die Rollenzuweisung in einer Distanz gehalten. Obwohl von ihm in der Rolle des Detektivs und des Gutachters eine Interaktion mit dem Text gefordert wird, bleibt er, wie in Less Than Zero, stets der außenstehende Beobachter – gerade weil er die Rollenzuweisung nicht erfüllen kann. Anders als Patrick Bateman ist Victor Ward keine aktive Figur, die selbstbestimmt handelt, sondern er wird von den Ereignissen mitgerissen und unfreiwillig in sie verstrickt. Auch gibt er, anders als Bateman, die emotionale Verantwortung nicht an den Leser ab, sondern an einen (eingebildeten) Regisseur, den er über seine Affektäußerungen bestimmen lässt. Zwischen Leser und Hauptfigur entsteht damit eine Distanz, die sich in Unverständnis äußert. Indem der Protagonist verdächtig ist, seine Emotionen nur zu simulieren, kann es dem Leser nicht gelingen, sich in die Figur einzufühlen – immerhin muss er vermuten, dass die beschriebene Emotionalität nicht echt ist. Darüber hinaus legt der erste Romanteil nahe, dass Victors Naturell eher gefühlskalt und affektlos ist, ähnlich wie Bateman, und die Affektentladungen des zweiten Teils nur Part einer Show für einen (imaginären) Film sind. So kann weder eine Einfühlung in noch eine Identifizierung mit der Hauptfigur des Romans gelingen, da eine empathische Reaktion unmöglich wird und durch das beständige Schauspiel Victors ein 141 Hillebrandt, Claudia: Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten. Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel. Berlin: Akademie 2011. Hier zitiert S. 28.

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Kennenlernen des Protagonisten verhindert wird. Der Leser wird somit in einer distanzierten Starre gehalten, aus der er auch durch seine detektivische und naturalisierende Synthesearbeit nicht ausbrechen kann, da diese misslingen muss. Mit Glamorama liegt somit eine völlig neue Dimension der Distanzerzeugung zwischen Protagonist und Leser vor. War in Less Than Zero durch die emotionslose Erzählweise eine Identifikation mit Clay zwar erschwert, aber nicht chancenlos, war in The Rules of Attraction zwar ein Kennenlernen der Romanfiguren durch das multiperspektivische Erzählen beeinträchtigt, dadurch aber immerhin eine Identifikation mit dem Textgeschehen möglich, und war in American Psycho der Leser in einem Zwiespalt aus Empathie mit den Opfern Batemans und emotionaler Komplizenschaft mit dem Täter gefangen, ist in Glamorama erstmals eine Identifizierung nicht nur erschwert, sondern praktisch unmöglich. Dies zugrundelegend, spielen sich im Leser zwei einander ergänzende Prozesse ab: Einerseits wird er durch die Rollenzuweisung als Detektiv und Gutachter in eine beobachtende Haltung gezwungen, kann sich nicht aktiv am Textgeschehen beteiligen, sondern bleibt eine außenstehende Synthese- und Naturalisierungsinstanz. Er kann die Indizien, die im Text gestreut werden, nicht sinnstiftend ordnen und muss an seinen Aufgaben scheitern, was zu Überforderung, Verwirrung und Abgestoßensein führt. Andererseits wird durch diesen Ausschluss des Lesers aus dem Text eine Identifikation sowohl mit dem Protagonisten Victor als auch mit dem Text selbst verhindert. Indem die Affekte der Hauptfigur nur simuliert werden und nicht eindeutig erkennbar wird, was in der fiktiven Realität tatsächlich geschieht, entsteht ein Distanzverhältnis, das den Leser ebenfalls in eine Beobachterposition zwingt. So schließt sich der Kreis aus sich gegenseitig bedingenden Faktoren der Identifikationsblockierung. Das verstörende Potenzial des Romans liegt bei Glamorama also in einer neuen Art der Leserabwehr. Dies zeigt sich besonders deutlich in den Szenen, in denen das Ergebnis der terroristischen Akte beschrieben wird: „A simple flash of light, a loud sound, the BMW bursts apart. […] A stunned silence and then – among the conscious covered with blood, not always their own – the screaming starts. Fifty-one injured. Four people will never walk again. Three others are severely braindamaged. Along with the driver of the BMW, thirteen are dead, including an older man who dies, blocks away, of a heart attack at the time of the blast. (A week later a teacher’s assistant from Lyons will die from head injuries, raising the number of dead to fourteen.)“ (G, S. 337) „People are rammed backward, bent in half, pulled up out of their seats, teeth are knocked out of heads, people are blinded, their bodies thrown through the air into the ceiling and then hurled into the back of the plane, smashing into other screaming passengers, as shards of aluminum keep breaking off the fuselage, spinning into the packed plane and shearing off

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limbs, and blood’s whirling everywhere, people getting soaked with it, spitting it out of their mouths, trying to blink it out of their eyes, and them a huge chunk of metal flies into the cabin and scalps an entire row of passengers, shearing off the tops of their skulls, as another shard flies into the face of a young woman, halving her head but not killing her yet.“ (G, S. 500)

Bei diesen Zitaten handelt es sich um den ersten und den letzten beschriebenen Anschlag der Terrorzelle auf das Institut für Politikwissenschaften in Paris sowie ein Flugzeug. Wie schon in American Psycho ist hinsichtlich der Beschreibung der Gewalttaten eine Entwicklung nachvollziehbar: Während es sich beim ersten Attentat noch um eine reine Bestandsaufnahme des Schadens handelt (Anzahl der Verletzten und Toten), ist die Schilderung des letzten Anschlags gesättigt mit Details – die grausamen Verwundungen werden differenziert beschrieben. Hier befleißigt sich Ellis derselben Technik der langsamen Steigerung der Gewaltdarstellung, die er schon in American Psycho zum Einsatz gebracht hat. Natürlich ist der erste Anschlag auf das Institut für Politikwissenschaften nicht weniger blutig und brutal als der letzte, aber die Grausamkeit der Darstellung wird von Attentat zu Attentat langsam gesteigert, so dass eine schrittweise Gewöhnung an die Brutalität eintritt. Des Weiteren sind ebenso wie in American Psycho die Schilderungen der Anschläge von externer Fokalisierung bestimmt; der Leser wird somit an die Stelle eines Beobachters gerückt, der von außen auf die Geschehnisse blickt. Hierzu trägt auch die unmögliche Erzählperspektive bei; denn obwohl nicht deutlich gemacht wird, dass der Erzähler wechselt, also der Anschein erweckt wird, dass Victor diesen Abschnitt erzählt, kann er als autodiegetischer Erzähler, der das Attentat weder erlebt, geschweige denn überlebt hat, von diesen blutigen Details nichts wissen. An Victors Stelle tritt damit unmerklich ein anonymer, auktorialer Erzähler, der sich selbst nicht zu erkennen gibt. Durch diesen heimlichen Erzählerwechsel tut sich eine Kluft auf zwischen Text und Leser; die bereits bestehende Entfremdung wird weiter vergrößert. Obwohl der Stil dieser Szenen anonymisierend und distanzierend ist, der Leser damit in eine unzugängliche Position gerückt wird, ist die detailreiche, visuelle Darstellung dennoch traumatisierend. Gerade durch die mangelnde emotionale Beteiligung, durch den Wechsel zu einem namenlosen auktorialen Erzähler, durch die erschöpfend genaue Beschreibung der Verletzungen durchleidet der Rezipient beim Lesen einen Schock. Der scharfe Gegensatz aus affektlosem Erzählen durch einen fremden Erzähler und der regelrecht intimen, minutiösen Darstellung des Sterbens löst im Leser eine Abwehrreaktion aus. Wie bei einem realen Schock, der in der Medizin als „akute Belastungsreaktion“142 bezeichnet wird, entsteht im Leser 142 ICD-10-GM Version 2013. F43.0 Akute Belastungsreaktion. http://www.dimdi.de/ static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2013/block-f40-f48.htm vom 12.02.2013.

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eine „Betäubung“, 143 gewissermaßen eine affektive Starre oder Stumpfheit. Die distanzierte Position, in die der Rezipient durch den Text gerückt wird, dient plötzlich als Zuflucht. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der die Entfremdung zwischen Text und Rezipient fördert: Im Gegensatz zu American Psycho ist das Sterben in Glamorama anonym. Erstens handelt es sich um eine Vielzahl an Opfern, die auf grausame Weise zu Tode kommen und nicht um den Leser namentlich bekannte Individuen. Zweitens steht dadurch nicht das Leid des Einzelnen im Mittelpunkt, sondern ein kollektives Sterben. Der Detailreichtum in der Beschreibung des letzten Terroranschlags bezieht sich auf die vielfältigen Arten des kollektiven Sterbens, die durch einen einzigen Akt – eine Explosion – ausgelöst werden können, nicht jedoch auf die vielfältigen Arten des Leidzufügens, die im Fokus von American Psycho standen. So bleiben die Opfer der Attentate anonym. Dies erschwert, neben der schockhaften Betäubung, das Mitleiden ebenso wie der Verzicht auf Schmerzerinnerungen, derer sich Ellis in American Psycho noch bediente. Erzeugte dort gerade das Bekannte eine Empathie mit dem Opfer, ist dies in Glamorama unmöglich, da es keine Vergleichswerte gibt. Keine Schmerzerinnerung kann mit dem ZerfetztWerden bei einem Bombenanschlag in Verbindung gebracht werden, die Vernichtung des Lebens ist zu total, zu unbegreiflich, zu massenhaft, um mit dem einzelnen Opfer zu fühlen. So gelingt es Ellis, selbst bei den grausamsten Szenen des Romans den Leser in einer beobachtenden Distanzhaltung erstarren zu lassen, Empathie zu verhindern und sogar eine Identifikation mit den Opfern zu blockieren. Die Leserabwehr in Glamorama ist so absolut, dass genau darin das verstörende Potenzial des Romans liegt: in der Unfähigkeit des Lesers, eine Identifikation mit dem Protagonisten oder den Opfern herzustellen, in der Unfähigkeit des Lesers, sich in die Figuren des Romans einzufühlen und nicht zuletzt in der Unfähigkeit des Lesers, Mitleid mit den Opfern des Terrors zu empfinden. Glamorama zeichnet sich somit nicht nur durch affektloses Erzählen, sondern vielmehr durch affektloses Lesen aus, einer neuen Stufe der verweigerten Einfühlung – es ist der Rezipient, der dem Textgeschehen unbeteiligt und affektlos gegenübersteht.

6.3 E IN ZWEITES

KLEINES

F AZIT

Die Hypothese, die eingangs dieses Kapitels aufgestellt wurde, lautete, dass beide Akteure, sowohl der Serienmörder Patrick Bateman als auch der (unfreiwillige) Terrorist Victor Ward, affektlos handeln und erzählen. Die vorliegende Analyse konnte diese Annahme bestätigen. Dennoch sind die Unterschiede zwischen den Romanen größer als die Gemeinsamkeiten. 143 Ebd.

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Während in American Psycho der thematische Fokus auf dem Leidzufügen und Sterben einzelner Figuren liegt, auf individuell gestalteter Folter und bestialischen Sexualmorden, konzentriert sich Glamorama auf kollektives Sterben, hervorgerufen durch Akte von Terrorismus. Das Leitmotiv der Gewalt, dem schon im Erstlingsroman von Ellis eine signifikante Rolle zukam, wird mit den beiden mittleren Romanen nun in den Brennpunkt des Interesses gerückt. Bei der Umsetzung des Leitmotivs bedient sich Ellis jedoch verschiedener Methoden: Patrick Bateman ist ein Einzeltäter, der seine krankhaften Fantasien auslebt und den Leser zwingt, an jeder Einzelheit seiner grausamen Taten teilzuhaben. Indem der Roman den Leser zu einem Komplizen des Killers macht, ihn als emotionale Quelle für den Text missbraucht und so für eine verstörende Mischung aus Abgrenzung und Identifizierung gleichermaßen sorgt, kann der Leser nicht als Beobachter verharren, sondern wird aktiv in das Textgeschehen mit eingebunden. In Glamorama ist das genaue Gegenteil der Fall. Hier werden die blutigen Taten von einem Kollektiv ausgeführt, dessen Mitglied die Hauptfigur Victor Ward nur unfreiwillig ist – er selbst wird weder von Sadismus noch von politischen Zielen angetrieben. Dennoch ist er als Teil der Terrorclique mitverantwortlich für zahlreiche Morde. Seine Reue darüber und die Qualen, die er wegen dieser Schuld zu erleiden scheint, sind jedoch höchst unglaubwürdig: Victor ist ein zutiefst affektloser Charakter, der im Verdacht steht, niemals wirklich zu fühlen, sondern stets nur zu simulieren. Für den Leser bedeutet dies eine Ausgrenzung aus dem Text und schließlich eine Übernahme von Victors hervorstechendstem Merkmal, der Affektlosigkeit. Obwohl beide Romane somit das gleiche Thema bearbeiten – die Gewalt –, beide über einen Protagonisten verfügen, der affektlos handelt und erzählt, ist doch die Wirkung für den Leser eine grundlegend andere. Die Affektlosigkeit in American Psycho führt zu einer Affektfülle im Leser – die Affektlosigkeit in Glamorama hingegen ist ansteckend: Der Rezipient reagiert mit affektlosem Lesen. Eine neue Dimension erreicht Ellis mit seinem Folgeroman Lunar Park, der im nächsten Kapitel Gegenstand der Untersuchung sein wird. Mit diesem Roman wendet sich Ellis von seiner emotions- oder affektlosen Erzählweise ab und etabliert einen Roman, der erstmalig seine psychologisch-emotionalen Bereiche klar benennt. Lunar Park kann somit als Wendepunkt in Ellis’ Gesamtwerk gelten.

7. Der autofiktionale Pakt: Lunar Park

Je suis un être fictif. J’écris mon autofiction. SERGE DOUBROVSKY/TEXTES EN MAIN

Bret Easton Ellis ist in seinem fünften Roman Lunar Park1 gleichzeitig Autor, IchErzähler und Protagonist. Mit dem 2005 erschienenen Roman legte er eine autofiktionale Bearbeitung seiner Vergangenheit als skandalumwitterter Erfolgsautor, vor allem jedoch seiner pathologischen Beziehung zu seinem Vater vor, indem er sich selbst in die Rolle eines versagenden Vaters hineinschrieb und so mit den Fehlern seines eigenen Vaters aufräumte. Ellis entwirft sich in Lunar Park selbst als fiktives Wesen, jedoch mit deutlichen Rückbezügen auf die eigene Biografie. Diese Strategie wird von Flory als therapeutische Maßnahme interpretiert,2 indem er sich durch die Imagination einer eigenen Familie mit der kaputten Ursprungsfamilie aussöhnt und gleichzeitig die Chimäre einer eigenen Familiengründung bearbeitet. BaeloAllué hingegen sieht Ellis’ Auftritt als Hauptfigur seines eigenen Romans als narzisstische Bewegung und Beweis dafür, dass er schon immer die implizite Hauptfigur aller seiner Romane war.3 Ferner versteht sie dies als Spiel, mit dem Ellis seine Kritiker, die ihn für einen ebensolchen Narzissten halten, an der Nase herumführt.4 Jenseits solcher autorbezogenen Interpretationen sind jedoch die metafiktionalen Aspekte überdeutlich, mit denen Ellis intertextuelle Bezüge herstellt, den eigenen Schreibprozess reflektiert und die Rolle des Autors für und in seinem eigenen Werk beleuchtet. Darüber hinaus wird durch die Mischung aus Autobiografie und Fiktion ein interessantes Konglomerat hergestellt, das den Leser zu einer Positionierung

1

Von nun an mit der Sigle LP abgekürzt.

2

Flory, Out is in, S. 336.

3

Baelo-Allué, Controversial Fiction, S. 185.

4

Ebd.

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gegenüber dem Roman bewegt, die nicht nur die fiktive Gestalt Bret, 5 sondern auch das Genre berücksichtigt. Dabei spielen erneut die Emotionen der Hauptfigur eine zentrale Rolle. Das vorliegende Kapitel macht es sich zur Aufgabe, den Roman unter Rückgriff auf das Konzept der Autofiktion zu analysieren und die sich daraus ergebende Position des Lesers zum Roman zu bestimmen. Wie die folgende Analyse verdeutlichen wird, ist die Autofiktion in Lunar Park ein zweischneidiges Schwert, das dem Leser einerseits eine große Nähe zur Hauptfigur erlaubt, andererseits durch die Bearbeitung des Stoffes als „horror fiction“6 jedoch zu Irritation und Entfremdung führt.

7.1 N EUE W EGE ,

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Der Roman startet mit einem zynischen Abriss über Brets/Ellis’ Jugend und Karriere als junger Autor, dessen erste Veröffentlichung unerwartet einen derartigen Erfolg erzielt, dass er über Nacht zum Superstar der postmodernen Literaten avanciert. Überfordert von seinem plötzlichen Durchbruch stürzt er sich in Drogen- und Alkoholexzesse, die sich in einer Spirale der Abhängigkeit immer weiter verschärfen, bis von ihm nicht mehr als ein zitterndes Wrack übrig bleibt. In diesem Zustand heiratet Bret die Hollywoodschauspielerin Jayne Dennis,7 eine ehemalige Flamme, die er vor zehn Jahren ungeplant schwängerte und deren Entscheidung für das ungewollte Kind zum Bruch zwischen den beiden führte. Die Beschreibung seiner Ursprungsfamilie, seines Studiums und seiner Karriere entspricht dabei zu großen Teilen der Realität.8 Zwar flicht Ellis schon an dieser Stelle Elemente ein, die nicht der Wahrheit entsprechen (so behauptet der Erzähler, an dem fiktiven College Camden studiert und graduiert zu haben, obwohl der Name von Ellis’ Universität 5

Um eine Namensverwirrung zu vermeiden, werden im Folgenden die Romanfigur als Bret und der reale Autor als Ellis bezeichnet.

6

Zur Definition der Autofiktion s. Kap. 7.2.1. Zur Definition der „horror fiction“ s. Kap. 7.3, Fußnote 74.

7

Jayne Dennis ist eine fiktive Figur. Allerdings gibt es, wie schon in Glamorama für Victor Ward, einen Internetauftritt von ihr. Dies gehört zur Marketingstrategie des Verlags, der bereits Monate vor der Veröffentlichung des Romans die gefälschte Fanseite zu Jayne Dennis launchte, um Google-Treffer zu ihrem Namen zu erzielen. (Apt Ltd.: Jayne Dennis. http://www.jayne-dennis.com vom 10.05.2012.)

8

Flory arbeitet die Übereinstimmungen zwischen den Biografien Brets und Ellis’ detailliert heraus, u.a. die Orts- und Personennamen aus Ellis’ realem Leben, die Beschreibung von Kindheit und Jugend, die Vater-Sohn-Beziehung sowie den Produktions-, Veröffentlichungs- und Bewerbungsprozess seiner Romane. Nachzulesen bei Flory, Out is in, S. 325ff.

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Bennington lautete), dabei handelt es sich jedoch um marginale Abweichungen, die der Fiktionalisierung der Figur Bret dienen und schon sehr früh verdeutlichen, dass Ellis und Bret nicht kongruent zu setzen sind.9 Diese fiktionalen Elemente in der autobiografischen Einleitung des Romans lassen Bret jedoch nicht in einem völlig anderen Licht erscheinen als den realen Ellis. Ganz im Gegenteil: Die Parallelen zwischen Bret und Ellis sind so eklatant, dass es dieser fiktionalen Einschübe bedarf, um Bret als fiktive Figur herauszustellen. Erst die Geburt eines unehelichen Kindes und die spätere Heirat mit Jayne Dennis zeigen an, dass ab jetzt nicht mehr die öffentliche Person Ellis, sondern die Romanfigur Bret im Zentrum steht. Die eigentliche Romanhandlung setzt drei Monate nach der Hochzeit der beiden ein und zieht sich über einen Handlungszeitraum von zwölf Tagen im Herbst 2002 hin. Der Roman spielt vom 30. Oktober bis zum 10. November, also gut ein Jahr nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center.10 Dass es sich um das Jahr 2002 handelt, ist daraus zu schließen, dass Bret an späterer Stelle die Handlung etwa eine Dekade nach dem Tod seines Vaters Robert Martin Ellis verortet, der 1992 unter ungeklärten Umständen verstarb (LP, S. 269).11 Ort der Handlung ist die fiktive Gegend Midland County im Nordosten von New York, wo sich die Patchwork-Familie aus Mutter Jayne, Sohn Robby, Stieftochter Sarah und Bret in einem bürgerlichen Leben einzurichten versucht. Dass Bret diese neue Existenz als Ehemann und Vater zweier Kinder nicht wirklich gelingt, macht schon das zweite Kapitel deutlich, in welchem Bret eine Halloween-Party gibt und diese Gelegenheit nutzt, um – gerade fünf Monate nach seinem letzten Entzug – heimlich Alkohol zu trinken, ein Techtelmechtel mit einer Studentin anzufangen und mit seinem alten Freund Jay McInerney,12 der zufällig in der Stadt ist, eine Kokainorgie zu feiern. Doch nicht nur der Rückfall in alte Verhaltensmuster zeigt, dass Bret der neuen Aufgabe nicht gewachsen ist. Sein Verhältnis zu seinem leiblichen Sohn Robby ist 9

Zwar schlägt Baker vor, den Protagonisten mit dem Autor gleichzusetzen, dies halte ich jedoch für einen falschen Ansatz. Die fiktionalen Aspekte des Romans sind so hervorstechend, dass es für eine Gleichsetzung keine gerechtfertigten Argumente gibt. (Baker, Timothy C.: „The (Neuro)-Aesthetics of Caricature: Representations of Reality in Bret Easton Ellis’s [!] Lunar Park.“ In: Poetics Today, Vol. 30 (3) (2009), S. 471-515. Hier S. 492.)

10 Bret beschreibt, dass sich das Land in einem Schockzustand befinde und von Terrorangst geprägt sei. Anders als in der Realität jedoch, war der Anschlag auf das World Trade Center in Lunar Park der Auslöser für eine Kette weiterer terroristischer Attacken. Beinahe täglich berichten die Zeitungen von weiteren Anschlägen (LP, S. 81ff.). 11 Flory datiert den Roman auf das Jahr 2003, dies halte ich jedoch aufgrund oben genannter Textstelle für eine falsche Einordnung. Flory, Out is in, S. 321. 12 Wie schon in Glamorama greift Ellis auch in Lunar Park wieder auf reale Personen als Romanfiguren zurück, u.a. Jay McInerney, Keanu Reeves, Harrison Ford.

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überaus angespannt und von beiderseitiger Ablehnung gekennzeichnet. Seiner kleinen Stieftochter Sarah bringt er höchstens wohlwollendes Desinteresse entgegen. Auch die Beziehung zu Jayne ist nach drei Monaten Ehe bereits zerrüttet: Nicht nur, dass Bret wieder trinkt, kokst und eine Affäre begonnen hat – der Körperkontakt zwischen ihm und Jayne hat sich schon jetzt auf ein Minimum reduziert. Bret schläft nicht mehr im gemeinsamen Bett, sondern auf einer Klappcouch im Gästezimmer. Lügen und Verärgerung sind an der Tagesordnung. In dieser von emotionalem Stress, Zurückweisung und Vorwürfen charakterisierten Atmosphäre erlebt Bret nun noch einen weiteren Albtraum: Er wird vom Geist seines Vaters heimgesucht, der ihm eine Warnung zukommen lassen möchte, nicht die gleichen Fehler wie er selbst zu machen. Brets/Ellis’ Beziehung zu seinem Vater war von Ablehnung, Misshandlung und Grausamkeit, im günstigsten Fall von Desinteresse gekennzeichnet, und Bret ist nun auf dem besten Wege, diese Verhaltensweisen gegenüber seinem Sohn Robby zu wiederholen. In einer Videobotschaft, die ihm anonym von der Bank in Sherman Oaks jede Nacht um 2.40 Uhr zugesandt wird – im Tresor dieser Bank liegt die Asche des Vaters, die entgegen seinem letzten Willen nicht an der Küste verstreut wurde; um 2.40 Uhr am frühen Morgen war sein Todeszeitpunkt –, ist Robert Martin Ellis wenige Minuten vor seinem Tod zu sehen, wie er als völlig vereinsamter, alkoholabhängiger, depressiver Mann seinem verlorenen Sohn Bret nachtrauert. Sein letztes Wort lautet: „Robby.“ (LP, S. 268) Diese Nachricht aus dem Jenseits wird von den Veränderungen im Haus unterstrichen: Die Villa an der Elsinore Lane, die Bret mit Jayne und den Kindern bewohnt und die erst kurz vor seinem Einzug fertiggestellt wurde, verwandelt sich nach und nach in das Haus in Sherman Oaks, in dem Bret/Ellis in seiner Kindheit und Jugend lebte. Der Teppich und der Anstrich des Hauses verändern die Farbe, die Möbel arrangieren sich um, so dass sie der Anordnung der Einrichtung im Haus in Sherman Oaks entsprechen, die Vorhänge tauschen sich aus gegen alte Exemplare mit 70er Jahre-Muster. Das Haus scheint Bret an seine eigene zerrüttete Kindheit erinnern und ihm vor Augen führen zu wollen, wie verzweifelt und einsam er als Junge war, um in ihm ein Bewusstsein für Robbys Gefühle zu wecken. Hinzu kommt jedoch eine weitere Macht, die Bret verfolgt: Ein Dämon schlüpft in die Gestalt von Romanfiguren, die Bret/Ellis in seiner Funktion als Autor erschaffen hat. Er erscheint wahlweise als Clay aus Less Than Zero, der sich als Collegestudent ausgibt und seinen alten Mercedes 450 SL aus Jugendtagen fährt, als Bateman aus American Psycho, der in Midland County nach dem literarischen Vorbild Menschen brutal ermordet, sogar als Monster aus Brets frühen literarischen Versuchen als Kind. Die mechanische Vogelpuppe Terby, die Bret seiner Stieftochter Sarah zum sechsten Geburtstag schenkt und die sich fortan verändert, wächst, sich mit scharfen Klauen und einem Reißschnabel ausstattet und Bret mehrmals angreift, sowie ein haariges, geiferndes Monster, das Bret und die Kinder attackiert, um sie zu fressen, sind Ausgeburten seiner kindlichen Fantasie. Der Dämon versucht, den Geist daran

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zu hindern, seine Nachricht zu überbringen – Bret ist Opfer zweier sich gegenseitig bekämpfender Kräfte. Letztlich erkennt Bret zwar die Notwendigkeit, sich seinem Sohn zuzuwenden, aber diese Einsicht kommt zu spät. Robby ist so unglücklich, dass er sich zur Flucht entschließt. So wie schon zahlreiche Jungen aus Midland County vor ihm, verschwindet er spurlos – gemäß der Vermutung von Nachbarin Nadine Allen, deren Sohn Ashton nur vier Wochen nach Robby das Weite sucht, nach Neverland, dem verzauberten Land aus J.M. Barries Theaterstück Peter Pan. Diese kurze Zusammenfassung zeigt bereits folgende Punkte auf: Mit Lunar Park wendet sich Ellis einem neuen Genre zu, der „horror fiction“. Dies ist jedoch nicht die einzige Neuerung: Lunar Park ist der erste Roman, der in der Vergangenheitsform verfasst ist. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass es sich bei Lunar Park um eine Autofiktion handelt, in der Ellis Aspekte seines eigenen Lebens in der Rückschau darstellt und verändert. Die Verbindung zweier Genretypen, der Autofiktion mit metafiktionalen Kommentaren und der Horrorstory, macht Lunar Park zu einem genrebrechenden, aber auch genresynthetisierenden Roman, der mit Konventionen spielt. Diese Bearbeitung autobiografischer Themen in fiktionalem Rahmen kündigt Ellis bereits vor Romanbeginn an. 7.1.1 Die Vergangenheit als Heimsuchung Ellis macht den Leser seines Buches schon vor den ersten Zeilen darauf aufmerksam, dass er mit Lunar Park einen Roman verfasst hat, der persönlich zu nehmen ist. Der Roman ist seinem Vater Robert Martin Ellis gewidmet, der 1992 im Alter von 51 Jahren starb. Diese Widmung legt den Grundstein für die Bearbeitung der Vater-Sohn-Beziehung in autofiktionaler Form. Auch wenn Robert Ellis bereits Vorbild für die Figur des Patrick Bateman aus American Psycho war,13 so setzt Ellis sich nun unverhohlen mit der dominanten Vaterfigur in seinem Leben auseinander. Wie schon in den Vorgängerromanen gibt Ellis auch für Lunar Park mit epigrafischen Kurztexten vor Handlungsbeginn Hinweise, die für das Verständnis des Romans wichtig sind. So spielen die präludierenden Zitate auf Ellis’ Biografie und die Bedeutung des Vaters darin an. Das erste Zitat des US-amerikanischen Autors 13 In einem Interview mit Jaime Clarke beantwortete Ellis die Frage, inwiefern sein Vater Robert ein Vorbild für die Konstruktion des Charakters von Patrick Bateman gewesen sei, wie folgt: „[My father] was the ultimate consumer. He was the sort of person who was completely obsessed with status and about wearing the right suits and owning a certain kind of car and staying at a certain kind of hotel and eating in a certain kind of restaurant regardless of whether these things gave him pleasure or not. So the book, in the end, was a criticism of his values.“ (Clarke, Jamie: Ellis Island. An Interview with Bret Easton Ellis, 1998. http://www.reocities.com/Athens/Forum/8506/Ellis/clarkeint2.html vom 24. April 2012.)

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Thomas McGuane aus dem 1978 erschienenen Roman Panama, der ebenfalls über autobiografische Anteile verfügt, bezieht sich auf Ellis’ Image als öffentliche Person: „The occupational hazard of making a spectacle of yourself, over the long haul, is that at some point you buy a ticket too.“ (LP, S. VII) Es verweist auf die Gefahr, dass sich private und öffentliche Person vermischen können, wenn man nur lange genug eine Fassade für die Öffentlichkeit aufrecht erhalten hat, so wie Ellis es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Lunar Park seit zwei Jahrzehnten tat. Das McGuane-Zitat verdeutlicht, dass Ellis mit diesem Roman mit seinem öffentlichen Image als Skandalautor, Frauenfeind, Junkie und Lebemann aufräumen möchte. Indem er sich selbst in der Figur Bret mit eben jenen Attributen ausstattet, die ihm jahrelang von der Presse unterstellt wurden, und sich selbst als zerrüttete, drogenabhängige und emotional unterentwickelte Person darstellt, hält er dem Feuilleton zynisch einen Spiegel vor. Die Überzeichnung der Figur Bret mündet darin, dass er zwar aus den Fehlern seiner Vergangenheit lernt, jedoch nicht im Stande ist, einen neuen Weg einzuschlagen. Bret bleibt, trotz aller Traumata und aller persönlichkeitsverändernden Erfahrungen, am Ende eine zwischen Drogen, Angst und Verzweiflung zerriebene Gestalt. Mit diesen Charaktereigenschaften ausgestattet, zeigt sich Bret als ein Mann, der sich zeit seines Lebens nicht gegen die übermächtige Präsenz seines Vaters auflehnen, sich nicht von dessen Tyrannei emanzipieren kann, sondern stets nur die Flucht antritt,14 um dem Vater zu entkommen. Das lebenslange Primat des Vaters über den Sohn, der auch nach seinem Tod noch Macht über den Sohn ausübt, wird von einem Shakespeare-Zitat angekündigt: „From the table of my memory I’ll wipe away all trivial fond records, All saws of books, all forms, all pressures past That youth and observation copied there. Hamlet, I: v.98“ (LP, S. VII)

Dieses Zitat ist jedoch unvollständig, denn es geht weiter wie folgt: And thy commandment all alone shall live Within the book and volume of my brain, Unmixed with baser matter:15 14 Die erste Flucht war die Entscheidung, sich an dem Liberal Arts College Camden in New Hampshire einzuschreiben, einem Ort, der so weit wie nur möglich von seinem Vater entfernt war (LP, S. 7ff.). 15 Shakespeare, William: Hamlet. Houndmills – Basingstoke – Hampshire: Macmillan, 2008. S. 50. Akt1, Szene 5. Z.107-109.

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Das „commandment“ lautet bei Hamlet16 „remember me“17 und ist eine Anweisung des Vaters an den Sohn, ihn nicht zu vergessen. Der mit Shakespeare vertraute Leser muss also weiterdenken, als das Zitat reicht, und die Anspielung verstehen, die über die simple Parallele hinausgeht, dass beide Figuren, Hamlet und Bret, von den Geistern ihrer Väter verfolgt werden. Es geht weniger um den Spuk, den beide Geschichten gemeinsam haben, sondern um die schmerzliche Aufarbeitung einer Beziehung, die die Figur zu einer Positionierung gegenüber dem dominanten Vater zwingt, der auch nach dem Tod noch Einfluss auf den Sohn hat. Das ShakespeareZitat verdeutlicht damit den Anspruch des Romans, Ellis’ Beziehung zu seinem Vater literarisch zu verarbeiten.18 Nicht zuletzt handelt es sich bei Lunar Park um eine Aufarbeitung der eigenen Jugend und Kindheit, indem Ellis sich selbst nicht nur in die Rolle des versagenden Vaters, sondern auch in die des zurückgewiesenen Sohnes hineinschreibt. Der Titel des Romans spielt auf die Gemeinsamkeiten zwischen Bret und seinem Sohn Robby an, der vielsagend nach dem Großvater Robert benannt ist. Robbys Zimmer ist nach einem Weltall-Thema eingerichtet: „Robby’s room had a space-age theme: planet and comet and moon decals were pasted all over the walls suggesting that you were now floating within a night black sky somewhere deep in space. The carpet revealed itself to be a Martian landscape, impressively detailed with canyons and fissures and craters. Spheres made of glass beads dangled from a glittering, savage-looking asteroid that hung from the ceiling above a king-sized art deco bed fitted with a stylish comforter. Along the ubiquitous Beastie Boys and Limp Bizkit posters were those of various moons: Jupiter’s Io and Saturn’s Titan and the massive rifts of Uranus’s Miranda. […] The remains of a Starbucks iced chai sat next to a giant translucent moon that glowed from the computer – Robby’s screensaver.“ (LP, S. 131f.) 16 Das Zitat aus Shakespeares Hamlet ist nicht der einzige Verweis auf Parallelen zwischen dem Theaterstück und Lunar Park. Eine Vielzahl von Namen ist aus Hamlet entlehnt, etwa die Elsinore Lane, die Fortinbras Mall und weitere. Nachzulesen bei Baelo-Allué, Controversial Fiction, S. 183. Darüber hinaus finden sich Hinweise auf J.M. Barries Peter Pan, sowie Einflüsse von Stephen King und Philipp Roth. Ebd., S. 181ff. Hierbei handelt es sich um metafiktionale Anspielungen auf die Schriftlichkeit des Textes sowie seinen Konstruktcharakter. Mehr dazu unter Kap. 7.2.3. 17 Shakespeare, Hamlet, S. 50. Akt 1, Szene 5. Z. 96. 18 Dieser Anspruch ist von der Literaturkritik jedoch größtenteils übersehen worden. Die Kritikerschaft konzentrierte sich viel mehr auf die Horrorgeschichte, um deren Schwächen herauszuarbeiten und damit den gesamten Roman zu verreißen. Für Ellis selbst steht jedoch weniger die Horrorgeschichte im Vordergrund, sondern die Beziehung zwischen Vater Robert und Sohn Bret (Flory, Out is in, S. 319). So gab Ellis selbst zu, den Schreibprozess von Lunar Park als sehr emotional empfunden zu haben (ebd., S. 340).

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Das Jugendzimmer ist demnach ein Lunar Park, eine Mondlandschaft, und kann auch metaphorisch für seine Lebenssituation gelesen werden: Robby lebt in einem Vakuum, einem dunklen und isolierten Lebensraum, in welchem er abgeschieden von anderen einsam existiert. Auch Bret/Ellis lebte als Kind in solch einer isolierten, kalten Mondlandschaft. Bei einem forschenden Blick in Robbys Zimmer wird ihm klar: „As I stared into the room my immediate thought: the furniture was aligned as it had been in my boyhood room in Sherman Oaks. The formation was identical – the bed placed next to the wall adjacent to the closet, the desk beneath the window that overlooked the street, the television on a low table next to a shelf containing stereo equipment and books. My room had been much smaller and less elaborate (I didn’t have my own refrigerator) but the beige earth tones and the color scheme were exact, and even the lamps resting on the nightstands on both sides of the bed were distinct replicas of the ones I had […]“ (LP, S. 236f.)

Und später, als Bret das Haus seiner Jugend wieder betritt und sein altes Kinderzimmer aufsucht, erkennt er: „Not only was my bedroom just as I had left it as a teenager but it was also Robby’s room as well.“ (LP, S. 412) Indem Bret Robbys Zimmer mit seinem eigenen gleichsetzt, identifiziert er sich auch selbst mit seinem Sohn. Der Titel Lunar Park ist demnach metaphorisch zu lesen für die Einsamkeit und Isolation, die Bret/Ellis in seiner eigenen Jugend durch die notorische Abwesenheit seines Vaters und durch die von Zurückweisung und Misshandlung gekennzeichnete Beziehung zu ihm erfahren hat. Zugleich ist er das verbindende Glied zwischen Bret und Robby, die Achse der Gemeinsamkeiten. Indem Robby als Alter Ego Brets eingeführt wird,19 werden prägende Kindheitserfahrungen Brets/Ellis’ thematisiert und allegorisiert. Demnach hat Baker damit Unrecht, wenn er behauptet, der Romantitel sei nicht mehr als ein Romantitel und referiere nur auf sich selbst.20 Ellis hat im Titel eine Bedeutungsebene versteckt, die Baker offensichtlich übersehen hat. Im Gegensatz zu den vorherigen Romanen erschließt sich der Titel jedoch nicht schon im Vorhinein, sondern erst während des Leseprozesses. Zur Entschlüsselung sind entscheidende Textstellen notwendig, ohne die die Bedeutung des Titels nicht ermittelt werden kann. Insofern referiert der Titel, wenn schon nicht auf sich selbst, so doch immerhin auf den Text. Wie diese ersten Analyseschritte deutlich machen konnten, ist der Anteil autobiografischer Aspekte in Lunar Park so hoch wie in kaum einem anderen Roman von Ellis und definiert sich als Bearbeitung psychologisch-emotionaler Bereiche aus Kindheit und Jugend des Autors sowie als Auseinandersetzung mit der VaterSohn-Beziehung. Daher soll im Folgenden dem Konzept der Autofiktion besondere 19 „Robby was now me. I saw my own features mirrored in his […].“ (LP, S. 237) 20 Baker, „Representations of Reality“, S. 494.

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Aufmerksamkeit geschenkt und im Anschluss daran der Roman unter Rückgriff auf die Theorie der Autofiktion als „horror fiction“ untersucht werden.

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Die Mischung aus autobiografischen und fiktionalen Elementen wird in der Literaturwissenschaft unter dem Begriff der Autofiktion21 zusammengefasst. Im Folgenden soll daher ein kurzer Überblick über das Konzept der Autofiktion die notwendigen Grundlagen liefern, um im Anschluss zu einer Analyse des Romans zu gelangen. 7.2.1 Kurzer methodischer Exkurs: Autofiktion Der Begriff der Autofiktion wurde 1977 von Serge Doubrovksy zur Beschreibung seines Romans Fils entwickelt und bedeutet nichts anderes als eine fiktionalisierte Version der Lebensgeschichte des Autors.22 Während die Autobiografie – zusammengesetzt aus „autós“/„Selbst“, „bíos“/„Leben“ und „gráphein“/„Schreiben“ – dem Anspruch der Wahrheit und Wahrhaftigkeit, der Authentizität gerecht zu werden bemüht ist,23 nimmt die Autofiktion die naturgemäß gegebenen Schwierigkeiten bei der Rekapitulation des eigenen Lebens in schriftlicher Form an. Die Autobiografie ist bei aller Anstrengung um Wahrheit und Wahrhaftigkeit nicht wahrheitsfähig, da die menschliche Erinnerung Prozessen des Vergessens, Verdrängens, Beschönigens und der Einbildung unterworfen ist.24 Hinzu kommt die Notwendig-

21 Weitere Bezeichnungen sind „Nouvelle Autobiographie“ oder „postmodern autobiography“. (Reiser, Frank: Autobiographie nach der Postmoderne. Serge Doubrovksy, Le livre brisé. http://www.gradnet.de/papers/pomo02.papers/serge.pdf vom 19.02.2011.) 22 Hughes, Alex: „Recycling and Repetition in Recent French Autofiction: Marc Weitzmann’s Doubrovskian Borrowings.“ In: The Modern Language Review Vol. 97 (3) (2002), S. 566-576. Hier S. 567. 23 Wagner-Egelhaaf, Martina: „Autofiktion – Theorie und Praxis des autobiographischen Schreibens.“ In: Johannes Berning/Nicola Keßler/Helmut H. Koch (Hg.): Schreiben im Kontext von Schule, Universität, Beruf und Lebensalltag. Berlin: LIT 2006, S. 80-101. Hier S. 81f. 24 Wagner-Egelhaaf, Martina: „Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie.“ In: Ulrich Breuer/Beatrice Sandberg (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Grenzen der Identität und der Fiktionalität. Bd.1. München: Iudicium 2006, S. 353-369. Hier S. 355.

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keit der Selektion,25 da für die Niederschrift des eigenen Lebens stets nur ausgewählte Szenen und niemals die Gesamtheit aller Ereignisse eines Lebens in Frage kommen. Diese Schwierigkeiten autobiografischen Schreibens erhebt die Autofiktion zur Maxime, indem sie durch den bewussten Einsatz fiktionaler Momente Leerstellen füllt, Erinnerung fragmentiert oder vervielfältigt und durchlässig wird für Erfundenes, Vorgestelltes, Geträumtes. Philippe Lejeunes in den 1970er Jahren formulierter „autobiographischer Pakt“ wird dadurch jedoch nicht unwirksam. „Lejeune sieht dann eine Autobiographie gegeben, wenn es zum Abschluss eines autobiographischen Paktes zwischen Text und Leser kommt. Dieser ‚Pakt‘ kommt dann zustande, wenn der Name des Autors mit dem Namen des Protagonisten identisch ist, oder aber ansonsten deutlich wird, dass der Text als Autobiographie gelesen werden will […] Der Leser schließt den autobiographischen Pakt ab und entscheidet sich aufgrund dieses Paktes, den Text als Autobiographie zu lesen.“26

Die Lesart des Textes ist demnach vom Eigennamen des Protagonisten abhängig, von der Identität von Autor, Erzähler und Protagonist in einer Person. Die Autofiktion gewährleistet durch die Einheit von Autor, Erzähler und Protagonist die Unterzeichnung des autobiografischen Pakts. Gleichzeitig kommt jedoch die Unterzeichnung eines fiktionalen Pakts hinzu, wie Jouan-Westlund es nennt: „At the same time, by pretending that the narrator is a fictional character, he also manages to sign the fictional pact.“27 Damit ist die Autofiktion gleichzeitig Fiktion und Geschichte eines wahren Lebens, sie ist weder Roman noch Autobiografie, sondern operiert zwischen den beiden.28 Zwar wird durch den fiktionalen Pakt der autobiografische Pakt verletzt, da der Authentizitätsanspruch der Autobiografie nicht gewährleistet werden kann; diese Verletzung wird vom Publikum jedoch hingenommen, da die Einbindung fiktionaler Elemente nicht verschleiert wird. Wagner-Egelhaaf sieht übereinstimmend damit Autofiktionen als „Texte, die autobiographisch erzählen, aber dabei nicht auf die Lebensgeschichte des Autors/der Autorin fixiert sind.“29 Der Text dürfe nur als Text und nicht als Abdruck des Lebens verstanden werden.30

25 Jouan-Westlund, Annie: „Serge Doubrovsky’s Autofiction: ‚de l’autobiographie considérée comme une tauromachie‘/autobiography as bullfighting.“ In: The Journal of Twentieth-Century/Contemporary French Studies revue d’études francais Vol. 1 (2) (1997), S. 415-432. Hier S. 416. 26 Wagner-Egelhaaf, „Autofiktion oder: Autobiographie“, S. 355f. 27 Juoan-Westlund, „Autofiction“, S. 419. 28 Ebd., S. 420. 29 Wagner-Egelhaaf, „Autofiktion“, S. 98f. 30 Ebd., S. 99.

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Für Doubrovsky selbst spielt die Nähe zur Psychoanalyse eine große Rolle, wie Jutta Weiser feststellt. Sie sieht den großen Unterschied zwischen Autobiografie und Autofiktion im Ausschluss des Bewussten. Während für das Verfassen der Autobiografie ein bewusster Prozess des Erinnerns aus zeitlicher und emotionaler Distanz notwendig ist, ist die Autofiktion gekennzeichnet vom Entzug rationaler Kontrolle. Daher bezeichnet sie die Autofiktion als „Autobiographie des Unbewussten“31 und meint damit, dass der Schreibprozess viel stärker von Assoziation bestimmt ist als von Klarheit, dass das Schreiben selbst stärker in den Mittelpunkt rückt als das Erinnern. Diese Neigung zur „Metaisierung“ 32 und Reflexion des Schreibprozesses hat auch Ansgar Nünning erkannt, der die Autofiktion daher mit dem Titel „fiktionale Metaautobiographie“33 versieht und in der gezielten Verwendung metafiktionalisierender Elemente die „selbstreflexive, kritische Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragestellungen (auto)biographischer Sinnstiftung“ 34 sieht. Eine Autofiktion ist demnach ein romanhafter Text, der sich durch die Einheit von Autor, Erzähler und Protagonist sowie durch autobiografische Anteile auszeichnet, jedoch diese autobiografischen Themen fiktionalisiert, indem Leerstellen der Erinnerung gefüllt, Fakten verändert oder verschoben, neue Szenarien hinzugedacht werden. Im Gegensatz zur Autobiografie ist der Text keinem überhöhten Wahrheitsanspruch unterworfen, sondern unterliegt einer durch den Autor bewusst modifizierten Wahrheit. Durch metafiktionalisierende Elemente wird der Schreibprozess reflektiert, wodurch sich der Text seiner eigenen Schriftlichkeit bewusst macht und dem Leser seinen Konstruktcharakter vor Augen führt. 7.2.2 Autofiktion in Lunar Park Nach der kurzen Einführung in den theoretischen Begriff der Autofiktion soll nun im Folgenden eine detaillierte Analyse des Romans vorgelegt werden, die sich mit 31 Weiser, Jutta: „Psychoanalyse und Autofiktion.“ In: Reiner Zaiser (Hg.): Literaturtheorie und science humaines. Frankreichs Beitrag zur Methodik der Literaturwissenschaft. Berlin: Frank & Timme 2008 S. 43-68. Hier zitiert S. 48. 32 Nünning, Ansgar: „Metaautobiographien. Gattungsgedächtnis, Gattungskritik und Funktionen selbstreflexiver fiktionaler Autofiktionen.“ In: Christoph Parry/Edgar Platen (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. München: Iudicium 2007, S. 269-292. Hier zitiert S. 271. Im Folgenden auf Nünnings Ausdruck „Metaisierung“ verzichtet, da es sich dabei um einen recht holprigen Neologismus handelt, der eine Präposition mit einer Substantivierung verknüpft. Stattdessen wird von Metafiktionalisierung die Rede sein. 33 Nünning, „Metaautobiographien“, S. 272. 34 Ebd., S. 271.

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den im Roman dargestellten Vater-Sohn-Beziehungen auseinandersetzt. Anschließend werden die metafiktionalen Elemente des Romans beleuchtet, die den Text als fiktionale Metaautobiografie herausstellen. Vater Robert – Sohn Bret Der Roman Lunar Park steigt nach einem kurzen metafiktionalen Überblick – auf den in Kapitel 7.2.3 noch eingegangen wird – über seine bis dato erschienenen Romane mit einer Beschreibung des Verhältnisses zwischen Vater Robert Martin Ellis und Sohn Bret Easton Ellis ein. „And in the early fall of 1985, just four months after publication [von Less Than Zero, Anm. d.Verf.] three things happened simultaneously: I became independently wealthy, I became insanely famous, and, most important, I escaped my father.“ (LP, S. 7)

Die Notwendigkeit, dem Einfluss des Vaters zu entweichen und dies als Flucht zu bezeichnen, kündigt schon an, dass das Verhältnis der beiden bestenfalls als angespannt zu beschreiben ist. Auf den folgenden Seiten beschreibt Bret seinen Vater als „problem“ (LP, S. 7): Er belegt ihn mit den Attributen „careless, abusive, alcoholic, vain, angry, paranoid“ (LP, S. 7), stellt ihn als herrschsüchtigen Choleriker dar und beklagt die Kontrollsucht und Tyrannei des Vaters. Selbst nach der Trennung der Eltern ist die geografische Nähe zum Vater für Bret kaum zu ertragen, so dass er nach seinem High School-Abschluss ein College auswählt, das möglichst weit vom Vater entfernt liegt: Camden College in New Hampshire. Aber der jahrelange Negativeinfluss des Vaters auf den Sohn kann damit nicht ungeschehen gemacht werden. Bret stellt fest: „My father had blackened my perception of the world, and his sneering, sarcastic attitude toward everything had latched onto me. As much as I wanted to escape his influence, I couldn’t. It had soaked into me, shaped me into the man I was becoming. Whatever optimism I might have held on to had swept away by the very nature of his being. The uselessness in thinking that escaping him physically would make a difference was so pathetic that I spent that first year in Camden paralyzed by anxiety and depression. The thing I resented most about my father was that the pain he inflicted on me – verbal and physical – was the reason I became a writer.“ (LP, S. 8)

Diese Textstelle macht mehrerlei deutlich: Der Einfluss des Vaters auf den Sohn hat persönlichkeitskonstituierende Ausmaße. Bret überträgt die Verantwortung für seine Persönlichkeitsentwicklung auf den Vater, dem er nicht nur einen tief gehenden Nihilismus zu verdanken hat, sondern auch eine schwere psychische Krise: Angst und Depression bestimmen sein Leben als junger Erwachsener. Schon nach wenigen Romanseiten zeichnet sich damit das emotionale Kernthema des Romans

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ab: Bret ist ein zutiefst verstörter Mensch, der von seinen Ängsten kontrolliert wird. Die wiederum sind auf das Verhältnis zum übermächtigen Vater zurückzuführen. Bei Bret liegt demnach ein schwerwiegender Vaterkomplex vor, der sein ganzes Leben sowohl als Privatmensch wie auch als Autor bestimmt. Wie er selbst zugeben muss, liegt in der Person des Vaters begründet, dass Bret zum Autor wurde; somit hat er bei allem Schmerz und Kummer, den ihm Robert Ellis zugefügt hat, seine berufliche und kreative Existenz ihm zu verdanken. In der Konsequenz bricht Bret den Kontakt zum Vater ab. Mit Beginn seines Studiums im Herbst 1982 herrscht zwischen Vater und Sohn Funkstille, bis mit der Veröffentlichung von Less Than Zero das Verhältnis der beiden eine neue, unerwartete Ebene erreicht. „His negative, disapproving attitude about me then metamorphosed, by the popularity of the novel, into a curiously glowing acceptance that intensified my loathing for him even more. My father created me, criticized me, destroyed me and then, after I reinvented myself and lurched back into being, became a proud, boastful dad who attempted to reenter my life, all within what seemed to me a matter of days.“ (LP, S. 9)

Indem Bret sich selbst als Kreatur seines Schöpfer-Vaters sieht, der sein Geschöpf ebenso gut zerstören wie liebevoll annehmen kann, räumt er seinem Vater eine fast göttliche Macht über ihn ein. Die Erkenntnis, dass die Macht des Vaters nicht nur in Destruktion und Zurückweisung, sondern auch in Akzeptanz und sogar Stolz liegen kann, ist für Bret eine umso größere Kränkung, hat der Vater ihm diese Zuwendung doch stets vorenthalten. Bret reagiert mit Abscheu und entfernt sich durch diese unverhoffte Gunst durch den Vater nur noch weiter von ihm. Umso mehr ist der unerwartete Tod des Vaters im August 1992 für Bret ein Schock. Diese unaufgearbeitete, verdrängte Beziehung so plötzlich beendet zu wissen, stürzt ihn in eine Krise: „I had no idea what to do, who to call, how to cope. I collapsed into shock.“ (LP, S. 20) So bleibt nicht nur die Beziehung zum Vater unaufgearbeitet, sondern auch sein Tod ist ein unverarbeitetes Ereignis in Brets Leben. Nicht im Stande oder willens, den letzten Wunsch seines Vaters nach einer Seebestattung nachzukommen, einigen sich die Geschwister – Bret und seine beiden Schwestern – darauf, die Asche des Vaters in einem Schließfach in der Bank von Sherman Oaks aufzubewahren. Als ein letzter Akt der Rebellion verweigert Bret seinem Vater die Erfüllung des letzten Willens und verdammt ihn zu einem Grab, das ihm angemessen erscheint: Der von Geld und Status besessene Vater soll in einer Bank seine letzte Ruhe finden. So versucht Bret ultimativ, den Vater aus seinem Leben auszuschließen, ihn buchstäblich wegzusperren und so die unverarbeiteten Konflikte einfach auszulöschen.

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Diese Haltung der Unversöhnlichkeit bestimmt in den folgenden zehn Jahren Brets Handeln, vor allem hinsichtlich seines eigenen Sohnes Robby, den er in der Nacht nach Robert Ellis’ Tod in einem verzweifelt-brutalen Liebesakt mit Jayne zeugt. Vater Bret – Sohn Robby Während das in Lunar Park geschilderte Verhältnis zwischen Robert und Bret in vielen Details der Realität der Ellis-Familie entspricht und als autobiografische Beschreibung gelten kann, ist die Einführung des Sohnes Robby ein klar fiktionales Element. Die Ablehnung, die Bret durch den Vater erfahren hat, gibt er nun unreflektiert an den eigenen Sohn weiter und das bereits vor dessen Geburt:35 „And when I returned to New York, I was told by Jayne that she was pregnant and that she intended to keep the child and that I was the father. I begged her to have an abortion. (‚Change it! Fix it! Do something!‘ I screamed. ‚I can’t be doing this! I’ll be dead in two years! Don’t look at me like I’m crazy!‘) […] I raged at Jayne, confronted her with entrapment, insisted it wasn’t mine.“ (LP, S. 22)

Jayne trägt das Kind dennoch aus. Bret weigert sich, Unterhalt zu zahlen, droht mit einer Klage und lehnt es zudem ab, einen Vaterschaftstest zu machen. Eine erfolgreiche Vaterschaftserbringungsklage zwingt Bret schließlich zum Test und liefert den Beweis. Der Streit geht in die nächste Runde. Mit Anschuldigungen und Zurückweisungen erreicht Bret schließlich sein Ziel: Zermürbt gibt Jayne auf und verzichtet auf Unterhalt für ihren Sohn. In den folgenden Jahren ist Bret darum bemüht, die Existenz seines Sohnes geheim zu halten. Nicht einmal seine engste Familie – Mutter und Schwestern – weiß von seinem „secret son“ (LP, S. 24). Im Gegenzug erfährt auch Robby nicht, wer sein leiblicher Vater ist. Dies ändert sich erst im Sommer 2001, als Bret nach einer verzehrenden Drogensucht, ausgelaugt von der Welttournee zu seinem neuen Roman Glamorama, feststellen muss, dass er nicht nur völlig pleite ist, sondern vor allem völlig allein. Erneut stürzt Bret in eine Krise: „I grasped that I was totally alone, I realized, only then, that I was in serious trouble. My wistful attitude about fame and drugs – the delight I took in feeling sorry for myself – had turned into a hard sadness, and the future no longer looked even remotely plausible. Just one thing seemed to be racing toward me: a blackness, a grave, the end.“ (LP, S. 37)

Erst die Erkenntnis, dass bei seinem Lebensstil, der von Heroin und Kokain, Partys, leichten Mädchen und Exzess bestimmt ist, nur die Schwärze eines Grabs auf ihn 35 Cain sieht damit die „violent victim trope“ erfüllt (Cain, „Imperfectly Incarnate“, S. 14).

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wartet, lässt ihn aufwachen. Obwohl er schon Jahre zuvor mit seinem eigenen Tod kokettiert, ihn regelrecht heraufbeschworen hat – „I’ll be dead in two years!“ (LP, S. 22) – erschreckt ihn erst jetzt der Gedanke an den Tod. Bret wird die Leere seines Daseins bewusst; die Einsicht, dass er keine Zukunft hat, deprimiert ihn zutiefst. Depressiv und verzweifelt wendet Bret sich schließlich an Jayne, um zu seiner Überraschung von ihr aufgenommen zu werden. Man einigt sich auf eine Heirat, die im Juli erfolgt, nachdem Bret den x-ten Entzug gemacht und einen Vertrag für einen neuen Roman unterschrieben hat.36 Bret zieht zu Jayne und den Kindern in die Villa an der Elsinore Lane in Midland County, einem Niemandsland der Vorstädte, und versucht sich in einem bürgerlichen Leben als Ehemann und Vater. Vor allem in der Rolle des Vaters findet Bret sich jedoch nicht zurecht. Dass nun nicht mehr er selbst in Mittelpunkt seines Lebens steht, sondern zwei Kinder, vor allem sein leiblicher Sohn Robby, sagt ihm ganz und gar nicht zu: „It was all about what he wanted. It was all about what he needed. Everything I desired was overridden, and I had to accept this.“ (LP, S. 41) Mit dieser Einstellung kann es Bret nicht gelingen, zu seinem Sohn eine Verbindung aufzubauen. Indem er Robby zum Vorwurf macht, dass er nun zurückstecken muss, die gesamte Existenz des Kindes darauf reduziert, seine eigenen Bedürfnisse irrelevant zu machen, blockiert Bret sich selbst in den Versuchen, sich dem Jungen anzunähern. Dementsprechend hat sich nach drei Monaten des Zusammenlebens das Verhältnis der beiden keineswegs entspannt: „We were both scared and wary of each other, and I was the one who needed to make a connection, to mend us, but his reluctance – as loud and insistent as an anthem – seemed impossible to overcome. There was no way of winning him over. I had failed him utterly – his downward gaze whenever I entered a room reminded me of this. And yet I still resented the fact that he – not myself – lacked the courage to make that first move.“ (LP, S. 90)

Obwohl der Protagonist beteuert, verstanden zu haben, dass es seine Aufgabe sei, den ersten Schritt auf das Kind zuzumachen, sucht er doch immer noch nach Gründen, weshalb es Robbys Schuld sei, dass sich ihre Beziehung zueinander nicht verbessert. Bret stellt Robbys Widerwillen als unüberwindbar dar und verübelt ihm den Mangel an Mut, auf den Vater zuzugehen. Das Verhältnis der beiden ist von gegenseitiger Furcht und Misstrauen gekennzeichnet – von Robby eine kindliche Reaktion, die nach zehnjähriger Abwesenheit und Unkenntnis des Vaters völlig menschlich und natürlich erscheint. Die Hauptfigur stellt sich jedoch emotional auf 36 Dabei handelt es sich um einen Roman namens Teenage Pussy, der ein Konglomerat aus allen bisherigen Ellis-Romanen zu werden verspricht und nicht an Sex und Drogen spart. Ellis hat einen solchen Roman nie veröffentlicht und auch Bret wird die Arbeit daran einstellen, um stattdessen Lunar Park zu verfassen.

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die Stufe des Kindes und spricht sich damit selbst das Recht auf eine infantile Reaktion zu. Während Bret also behauptet, die Verantwortung begriffen zu haben, die er hinsichtlich der Beziehung zwischen ihm und seinem Sohn trägt, entlarvt er sich mit diesem Satz doch als völlig verständnislos für seine Pflicht. Gleichzeitig demaskiert er damit seine Unreife und die Unfähigkeit, sich in die Rolle des verantwortungsbewussten, zugewandten Vaters zu finden. Hinzu kommt sein Selbstverständnis als Vater, das der Protagonist unreflektiert vom eigenen Vater übernimmt. Dies zeigt ein Geständnis in einer Sitzung bei der Paartherapie mit Jayne, in der Bret schließlich zugibt, dass er sich selbst in der Vaterrolle ablehnt: „‚Because I don’t think Robby wants me here. I don’t think Robby ever wanted me back.‘ I became so tired when I admitted this to the room that my voice became a whisper. ‚I don’t think the father ever needs to be there.‘ My eyes were watery again. ‚People are better off without them.‘“ (LP, S. 293)

Diese Beichte zeigt, dass der Protagonist seine Vaterrolle keineswegs angenommen hat. Er steht nach wie vor unter dem Eindruck, dass der Vater einem Kind nur Schaden zufügt, da er in seiner eigenen Kindheit einem sadistischen und nachlässigen Vater ausgesetzt war. Die Erfahrung, einen schlechten Vater gehabt zu haben, führt bei Bret zu der Vorstellung, dass es den guten Vater gar nicht geben könne, sondern dass naturgemäß alle Väter Versager seien. So konzipiert er seine eigene Vaterrolle dementsprechend als den versagenden Vater, ohne den das Kind besser dran sei. In Brets Selbstverständnis als Vater ist das Versagen also von vornherein hineingeschrieben. Alle Versuche, die er unternimmt, um Robby näher zu kommen, sind demnach zum Scheitern verurteilt, weil das Scheitern ihnen konzeptionell immanent ist. Schließlich kommt auch eine tränenreiche Aussprache zwischen Bret und Robby zu spät. Robby zieht die Flucht vor, reißt von zu Hause aus und wiederholt damit Brets Verhalten als junger Mann, der die erste Gelegenheit beim Schopfe packte, um dem verhassten Vater zu entkommen. So erweist sich Bret als Alter Ego Roberts und Robby als Alter Ego Brets – die Fehler und Kränkungen der Vergangenheit werden von Generation zu Generation weiter gegeben, das Verhalten innerhalb der Familie wiederholt sich.37 Der Protagonist ist, trotz aller Warnungen durch den Geist des Vaters, nicht im Stande, diese Spirale zu durchbrechen. 37 So sehen es auch Ruth Cain und Henrik Skov Nielsen. „For Ellis, the author’s combined identification with and dissociation from the father in Lunar Park leads to a tragic repeat of paternal history: the narrator Bret’s father is a monstrous presence in his life both before and after death, and Bret is seen to repeat his own father’s mistakes with his son, Robby. […] As Bret has endured lifelong separation from his father, and has in turn in-

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Familiärer Horror Die Horrorgeschichte, in die die Bearbeitung der Traumata aus Kindheit und Jugend des Autors und die pathologische Beziehung zum Vater verpackt ist, ist als Allegorie auf eben diese autobiografischen Themen zu lesen.38 Die unverarbeitete und nach wie vor im Protagonisten schwärende Beziehung zum Vater, der auch nach seinem Tod noch als dräuendes Phantom über Brets/Ellis’ Leben schwebt, wird in der Geistergeschichte aufgegriffen und auf diese Weise materialisiert. Das Empfinden, durch den Tod des Vaters keine Erlösung erlangt, sondern stattdessen weiterhin von seinem Einfluss heimgesucht zu werden, erhält Gestalt im Geist des Vaters. Die Heimsuchung wird buchstäblich – aus dem bloßen Gefühl, sich nicht von der Macht des Vaters befreien zu können, wird literarisch eine Geistergeschichte nach dem Vorbild Hamlets, in welcher der Vater den Sohn mit einer Nachricht,

flicted that distance on his own son, so both he and his son are lost, their relationship only words.“ (Cain, „Imperfectly Incarnate“, S. 18) „This makes a peculiar circular structure in which the relationship between Robby and Bret becomes equivalent to the relationship between Bret and his father Robert. […] Given that Robby (a diminutive of Robert) is, Bret is convinced, named after his father Robert, the circular structure suggests an eternal recurrence of haunting from fathers to sons.“ (Nielsen, Henrik Skov: „What’s in a Name? Double Exposures in Lunar Park.“ In: Naomi Mandel (Hg.): Bret Easton Ellis. American Psycho, Glamorama, Lunar Park. London – New York: Continuum 2011, S. 129-142. Hier zitiert S. 139f.) 38 Darüber hinaus wäre auch eine psychoanalytische Lesart möglich, die in dieser Arbeit nicht verfolgt, jedoch wenigstens erwähnt werden soll. So kann die gesamte Geistergeschichte auch als Innendarstellung einer Psychose gelesen werden, in der die vermeintlichen Geister, die den Protagonisten heimsuchen, den Stellenwert unbewusster, verdrängter Triebe und Wünsche einnehmen. Damit wäre der Ich-Erzähler als mimetisch höchst unzuverlässiger Erzähler einzustufen, der die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit überschritten hat und die Manifestationen seiner Einbildung als reale Ereignisse deutet. Diese Lesart gibt im Übrigen den anderen Figuren des Romans Recht, die Brets seltsames und unverständliches Verhalten als Symptome eines psychotischen Schubs verstehen. Eine Psychose kann im Falle Brets aus der jahrelangen Drogenabhängigkeit resultieren, aber auch aus den traumatischen, unverarbeiteten Kindheitserfahrungen, die nach dem Prozess der Verdrängung (Flucht aus Kaliformien an die Ostküste und Kontaktabbruch zum Vater) wieder in Brets Leben als Erwachsener einbrechen, nachdem er sich seiner Verantwortung als Vater zu stellen hat und in seinem Sohn die eigenen durchlebten Kindheitsängste und -traumata wiedererkennt. Eine solche Interpretation des Romans liegt meiner Kenntnis nach zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Arbeit noch nicht vor. Es ist demnach als Forschungsdesiderat zu identifizieren, diesem Gesichtspunkt eine genauere Analyse zuteil werden zu lassen.

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einer Aufgabe bedrängt. Der Geist ist also metaphorisch zu sehen für das reale Gefühl des Autors, die Beziehung zum Vater nicht ad acta legen zu können. Auch der Dämon hat eine metaphorische Bedeutung. Untrennbar mit dem Vater verknüpft, stellt er die antagonistische Kraft dar, die aus Bret selbst entspringt. Indem er in die Gestalt literarischer Figuren schlüpft, die Bret/Ellis geschaffen hat, kennzeichnet er den Protagonisten als den Quell seiner Kraft.39 Gleichzeitig wird der Vater, den der Sohn sein Leben lang bekämpfte, als Ursache von Brets/Ellis’ literarischem Schaffen hervorgehoben und ist somit indirekt Ursprung der Figuren, die der Dämon beleibt. Zwischen dem Geist und dem Dämon besteht demnach eine enge Verbindung. Ultimativ ist der Dämon als materialisierte Auflehnung Brets gegen seinen Vater zu sehen. Insofern erscheint es logisch, dass der Dämon als Verkörperung der negativen Gefühle Brets gegenüber seinem Vater die Aufgabe hat, die Nachricht des Vaters an den Sohn zu blockieren. Es sind demnach sowohl Geist als auch Dämon metaphorische Elemente der Geschichte, die einerseits das Gefühl der Fremdbestimmung durch den Vater und andererseits die negativen Emotionen gegenüber dem Vater repräsentieren. So verwundert es nicht, dass die Heimsuchung durch den Geist und den Dämon erst ein Ende nimmt, als Bret sich mit seinem toten Vater aussöhnt und die Asche wie gewünscht an der Küste verstreut.40 Erst die Verarbeitung der Beziehung und das Verzeihen der Fehler lässt die spirituellen Kräfte verstummen. Das Verschwinden der Geister steht demnach metaphorisch für die gelungene Aufarbeitung der Geschichte von Vater Robert und Sohn Bret. Nichtsdestotrotz ist die Horrorgeschichte nicht nur Allegorie auf die Beziehung zum Vater, sondern auch Selbstzweck. Henrik Skov Nielsen nennt diese Doppelbedeutung eine „double exposure“, 41 eine Doppelbelichtung. Diesen Terminus entlehnt er aus der Fotografie und meint damit die Überlagerung von Fiktion über die Non-Fiktion. Die non-fiktionale (da autobiografisch gefärbte) Geschichte über den Autor Ellis wird überlagert von der fiktionalen Geschichte über den Charakter Bret.42 Die Horrorgeschichte tritt somit in den Vordergrund, während die autobiografischen Anteile in den Hintergrund gedrängt werden. Auf diese Weise kann die 39 Dies muss Bret schließlich auch schmerzlich selbst erkennen. Im Gespräch mit dem Exorzisten und Dämonologen Robert Miller gelangt er zu der Erkenntnis, dass er selbst der Ursprung des Spuks ist. [Miller:] „Do you understand that, Mr. Ellis? That these spirits might be projections from your inner self?“ (LP, S. 388) [Bret:] „‚But if the house is not the source… what is the source of the haunting?‘ Miller finally said it. ‚You are.‘“ (LP, S. 390). 40 Baelo-Allué geht sogar so weit, von einer Identifizierung Brets mit seinem Vater zu sprechen. Baelo-Allué, Controversial Fiction, S. 180f. 41 Nielsen, „Double Exposures”, S. 129f. 42 Ebd., S. 139.

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Autofiktion in Unkenntnis der Lebensgeschichte Ellis’ auch einfach als Horrorroman gelesen werden, der von Geistern und Dämonen, belebten Puppen, wandelnden Skeletten, schleimigen und haarigen Monstern bevölkert wird. Wird der Text in erster Linie als Horrorroman rezipiert, stellen sich beim Leser die klassischen Reaktionen ein, die eine Horrorgeschichte erzielen soll: Neben der Spannung, die durch die Frage erzeugt wird, ob und wie der Protagonist den Bann der Geister wird brechen können, evoziert der Text einen angenehmen Schauder, eine Lust am Gruseln. Wird der Text jedoch als Autofiktion und die Horrorgeschichte als Allegorie gelesen, gehen die Reaktionen des Lesers über diese ästhetischen Empfindungen hinaus: In Kenntnis der Verflechtungen mit Ellis’ realem Leben wird nicht nur empathisch mit dem Protagonisten mitgefühlt,43 seine Angst und Verwirrung mitempfunden, sondern in einer Übertragung des Gelesenen auf den Autor somit auch Anteilnahme an dessen Schicksal bewirkt. Mit dem autofiktionalen Pakt wird demnach trotz des Bewusstseins über die fiktionalen Elemente der Geschichte eine Nähe zum realen Autor hergestellt, die sich in einer voyeuristischteilnahmsvollen Neugier äußert, mehr über das Leben der literarischen Figur Bret und im Rückschluss damit auch ihrer realen Entsprechung Ellis zu erfahren. 7.2.3 Metafiktion in Lunar Park Neben den autobiografischen Anteilen sind die metafiktionalen Elemente des Romans unübersehbar und weisen den Romans als fiktionale Metaautobiografie aus. Im Folgenden sollen diese Aspekte herausgearbeitet und in ihrer Bedeutung für den Roman untersucht werden. You do an awfully good impression of yourself Die Metafiktionalisierung beginnt schon mit dem ersten Satz des Romans, der im Anschluss direkt kommentiert wird: „‚You do an awfully good impression of yourself.‘ This is the first line of Lunar Park and in its brevity and simplicity it was supposed to be a return to form, an echo, of the opening line from my debut novel, Less Than Zero.“ (LP, S. 3, Hervorhebungen im Original)

Der Verweis darauf, dass es sich bei der ersten Zeile um die erste Zeile handelt, ist mehr als eine manieristische Spielerei, da schon diese ersten Sätze verdeutlichen, dass Lunar Park ein Roman ist, der seinen eigenen Schreibprozess reflektiert. Auf den nächsten Seiten erfolgt eine Rekapitulation aller Anfangssätze von Less Than Zero bis Glamorama, die in ihrer steigenden Komplexität in Relation zu Brets sich 43 Zum Identifikationspotenzial des Textes s. Kap. 7.3.

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verkomplizierendem Leben gesetzt werden. Der Erzähler sagt über sein Leben wie über sein Schreiben: „things were getting out of hand“ und „I wanted to return to that past simplicity“ (LP, S. 5). Das Versprechen, sowohl inhaltlich als auch stilistisch wieder zur Einfachheit seines Debütromans zurückzukehren, hält Ellis gleichwohl nicht ein;44 stattdessen wendet er sich inhaltlich und stilistisch neuen Ufern zu. Flory stellt fest, dass der einstig so berühmte „deadpan style“,45 den Ellis bis zur Vervollkommnung pflegte, und die fragmentarische Erzählweise der früheren Romane abgelöst werden. Auch seine vormals beliebten Themen Drogen, Gewalt und Sex werden bekömmlicher dargestellt oder gleich ganz weg gelassen.46 Baelo-Allué konstatiert ebenfalls, dass der Stil sich verändert habe. Er sei anders, aber gleichbleibend ironisch wie die früheren Erzählungen, die sie den „blank fiction narratives“ 47 zuordnet. Hinzu kommt, dass Ellis erstmals eine emotionale Sprache gebraucht.48 Auch die häufige Verwendung metafiktionalisierender Elemente ist neu; bereits den ersten Satz des Romans zu einem metafiktionalen Kommentar zu machen, hebt die neue Dimension hervor, die Ellis mit Lunar Park erreicht. Der Anfangssatz „You do an awfully good impression of yourself“ (LP, S. 3) wird im zweiten Kapitel erneut als erster Satz verwendet (LP, S. 46) und macht damit klar, dass ab hier der Hauptteil von Lunar Park beginnt.49 Es handelt sich bei 44 Lunar Park kann nicht als Rückkehr zum Minimalismus von Less Than Zero gewertet werden, da im Vergleich zum Debütroman eine Vielzahl von Dialogen zur Anwendung gelangen, reflexive Überlegungen und ironische Kommentare (oftmals in Klammern) sowie der zahlreiche Einsatz von Adjektiven und Adverbien erfolgen. Ein Comeback des lakonischen Stils des Erstlings gelingt Ellis erst mit dem bis dato letzten Roman Imperial Bedrooms. S. hierzu Kap. 8. Auch inhaltlich ist eher eine Abkehr vom Minimalismus des Erstlingsromans zu verzeichnen. Die komplexe Handlung, die gleichzeitig als Allegorie zu lesen ist, widerspricht dem auf S. 3 formulierten Anspruch. 45 Flory, Out is in, S. 317, Hervorhebung im Original. 46 Drogen spielen für den Protagonisten als (Ex-)Junkie zwar eine Rolle, Szenen, in denen er konsumiert, sind jedoch recht selten. Auch die Gewalt ist in Lunar Park stark reduziert und bezieht sich ausschließlich auf die Taten Patrick Batemans (als Romanfigur sowie als dämonische Gestalt). Darüber hinaus ist im gesamten Roman keine einzige saftige Sexszene zu finden. Bis auf ein paar pubertäre Streicheleinheiten mit der CollegeStudentin Aimee Light findet im Roman keinerlei sexueller Kontakt statt. 47 Baelo-Allué, Controversial Fiction, S. 181. 48 Ebd., S. 178. Zur Bedeutung von Emotionen s. Kap. 7.2.4. 49 Passenderweise ist das erste Kapitel mit „The Beginnings“ überschrieben und fungiert als eine Art Prolog, in dem Bret erklärt, wie er zu der Ehe mit Jayne Dennis kam. Rahmend dazu ist das letzte Kapitel „The Endings“ zu sehen, das nach der eigentlichen Handlung, die nur zwölf Tage umfasst, spielt und alle Handlungsstränge zusammen und zu einem Ende führt.

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dieser Aussage um eine ironische Anklage Jaynes, die Brets mangelnden Enthusiasmus thematisiert, sich für die Halloween-Party angemessen zu verkleiden. Er beschließt, einfach als er selbst zu gehen und ist daher wenig originell mit Jeans, TShirt und irritierenderweise einem Mini-Sombrero bekleidet. Die Verkleidung Brets als Bret ist erneut als Kommentar zu verstehen, da der Protagonist im ersten Romandrittel vor allem damit beschäftigt ist, so zu tun, als sei er jemand, der er nicht ist: der treue Ehemann, der liebende Vater, der kreative Autor, der engagierte College-Lehrer. Keine dieser Rollen füllt Bret tatsächlich aus – er hat eine Affäre, zeigt wenig Interesse an den Kindern, sein neuer Roman ist ein aufgewärmtes Gericht aus den vorhergegangenen Texten, seine Studenten hält er allesamt für untalentierte, leicht zu beeindruckende Schleimer – sondern er maskiert sich nur als der neue Vorstadt-Bret. Hinter der Maske regiert jedoch nach wie vor der alte drogenabhängige, egozentrische Manhattan-Bret. Der Anfangssatz „You do an awfully good impression of yourself“ ist vor diesem Hintergrund als programmatisch für die Haltung der Hauptfigur zu sehen, der es zunächst vor allem darum geht, den richtigen Eindruck zu hinterlassen, weniger darum, sich richtig zu verhalten. Romanfiguren aus dem Ellis-Nexus Weitere metafiktionalisierende Elemente sind die vielen Charaktere, die aus früheren Romanen stammen und nun in das Personeninventar Lunar Parks integriert sind. Diese dienen einerseits als intertextuelle Referenzen, die Lunar Park in das Ellis-Universum einreihen, andererseits handelt es sich dabei um metafiktionale Verweise, die den Autor als eine Schöpferinstanz ausweisen, die darüber entscheiden kann, verschiedene textuelle Ebenen miteinander zu verweben. Auf diese Weise wird es möglich, Figuren aus früheren Romanen wiederzubeleben – als echte Menschen, als gefälschte Identitäten, als spirituelle Kräfte. Durch die implizite Verbindung Lunar Parks mit Less Than Zero, The Rules of Attraction und American Psycho wird die Funktion des Autors als textkreierende/-organisierende Instanz auf zwei Ebenen hervorgehoben: 1. Auf der extradiegetischen Ebene entscheidet der Autor Ellis als Verfasser der Romane über das Einflechten von Figuren aus früheren Texten. 2. Auf der intradiegetischen Ebene berichtet die Figur Bret als IchErzähler darüber, dass Figuren aus seinen früheren Texten in sein Leben eindringen. So taucht etwa die Nebenfigur Mitchell Allen aus The Rules of Attraction als Nachbar Jaynes auf; Bret und er waren Studienkollegen am Camden College und Bret erinnert sich, dass Mitchell eine lange Affäre mit einem gewissen Paul Denton gehabt habe – eine der Hauptfiguren aus The Rules of Attraction. Während er Mitchell und Paul nicht als selbst geschaffene Romanfiguren identifiziert,50 gelingt ihm dies bei Clayton, einem vermeintlichen Studenten, durchaus. Clayton taucht unver50 Möglicherweise deshalb, weil Mitchell und Paul Figuren von Ellis, nicht von Bret sind.

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hofft in seiner Sprechstunde im College auf und obwohl Bret den Jungen zunächst noch für einen real existierenden Menschen hält, glückt es ihm immerhin, die Verbindung zu Less Than Zero zu erfassen: „Like Clay in the novel.“ (LP, S. 115) Mit weiter fortschreitender Handlung offenbart sich jedoch, dass Clayton keineswegs Student am hiesigen College ist; stattdessen erkennt Bret die Parallelen zwischen sich und dem Jungen immer deutlicher: Clayton trägt die gleiche Kleidung, die Bret zu College-Zeiten favorisierte (LP, S. 114), fährt das gleiche Auto, das Bret im Alter von 16 Jahren von seinem Vater geschenkt bekam (LP, S. 317), er sieht sogar genauso aus wie Bret als junger Mann (LP, S. 317).51 Spätestens als er Claytons Gesicht in der Videobotschaft seines toten Vaters in einer Spiegelung im Fenster entdeckt (LP, S. 269), keimt der Verdacht, dass Clayton kein real existierender Mensch sein kann. Clayton hätte 1992 höchstens neun oder zehn Jahre alt sein können – wie kommt sein Gesicht in das Video, in dem sein Vater ihn vor dem drohenden Versagen als Robbys Vater warnt? Ein Telefonanruf von Clayton bestätigt diesen Verdacht: [Bret:] „‚Clayton?‘ The voice was ice. ‚That’s one of my names.‘ I stood up. ‚What do you mean? Is this Clayton or not?‘ ‚I’m everything. I’m everyone.‘ A static-filled pause. ‚I’m even you.‘ […] ‚Is this… Patrick?‘ “We’re a lot of people.” (LP, S. 335f.)

Mit diesem Anruf offenbart sich Clayton als Verkörperung des Dämons, der die Gestalt Clays aus Less Than Zero annimmt – Bret kann ihn eindeutig als personifizierte Romanfigur identifizieren. Der Dämon schlüpft darüber hinaus in die Hülle einer weiteren literarischen Gestalt: die von Patrick Bateman. In diesem Körper führt er Morde nach dem literarischen Vorbild American Psychos aus – sogar solche, die in der endgültigen Version des Romans gar nicht mehr enthalten sind, sondern im Überarbeitungsprozess gestrichen wurden. So etwa der Mord an Aimee Light, Brets College-Affäre, die in einem Motel grausam gefoltert und zerstückelt aufgefunden wird. Im ersten, noch auf einer Schreibmaschine entstandenen Entwurf gab es ein Kapitel über einen Mord an einer gewissen Amelia Light; die Crux an diesem Entwurf ist, dass niemand ihn zu lesen bekam, dass Bret als einziger von der Existenz dieser Szene weiß (LP, S. 413). Dass der Dämon in der Gestalt Patrick Batemans diesen Mord kopieren kann, verdeutlicht erneut, dass der Dämon seine Energie aus Bret bezieht.

51 Hierbei handelt es sich um ein Spiel mit dem literarischen Motiv des Doppelgängers, das in der Instanz des „writers“ schließlich seinen Höhepunkt findet. S. hierzu das Subkapitel Der „writer“ unter Kap. 7.2.3.

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Noch eine weitere Figur aus American Psycho nimmt großen Raum in Lunar Park ein: der Privatdetektiv Donald Kimball, der in American Psycho das Verschwinden Paul Owens untersucht. Nun stellt sich ein gewisser Detective Donald Kimball als Polizist des Midland County Sheriff’s Department vor und informiert Bret, mit der Untersuchung einiger mutmaßlich in Verbindung stehender Mordfälle betraut zu sein, die ein Serientäter nach dem literarischen Vorbild American Psychos begehe. Bis bei Bret die Erkenntnis reift, dass Donald Kimball kein echter Polizist, sondern aus seinem Roman entlehnt ist, vergeht eine ganze Woche.52 Der mit Ellis’ Gesamtwerk vertraute Leser braucht hingegen nicht so lange, um die Einflechtung von Figuren aus vorigen Texten zu erkennen. Im Hinblick darauf hat der Rezipient gegenüber dem Protagonisten einen Erkenntnisvorsprung, der einerseits der Spannungssteigerung dient, weil der Leser darauf lauert, wann Bret diesen Umstand begreifen wird. Andererseits zeugt der Erkenntnisvorsprung davon, dass Bret ein wenig sensibler Charakter ist, der das Auftauchen von selbst geschaffenen Figuren in seinem Leben tagelang nicht bemerkt. Dies führt zu einem Gefühl des Befremdens beim Leser, dem das Auftreten der Romanfiguren allzu offensichtlich präsentiert wird und der die mangelnde Einsicht des Erzählers in diese Sachlage recht seltsam finden muss. Schon an dieser Stelle evoziert das Einbauen von Figuren aus dem Ellis-Nexus und die Unkenntnis des Erzählers darüber eine Irritiation beim Leser, muss demnach als Strategie zur Leserlenkung betrachtet werden. Jenseits einer Leserlenkung erfüllt das zahlreiche Auftreten von Charakteren aus vorangegangenen Romanen53 dabei mehrere weitere Funktionen: 1. Ellis bleibt sich in diesem Punkt treu und gewährt, wie schon in vorigen Romanen, Figuren aus seinen Texten Gastauftritte. Durch diese intertextuellen Bezüge schafft er eine Werknähe zwischen allen erschienenen Romanen und reiht Lunar Park in den bereits bestehenden Ellis-Nexus ein. 2. Als metafiktionale Referenzen verweisen die Romanfiguren aus früheren Texten auf die Funktion des Autors als textorganisierende Instanz sowohl auf extra- als auch auf intradiegetischer Ebene. 52 Allerdings stellt sich später heraus, dass Donald Kimball ein echter Mensch namens Bernard Erlanger ist, der die Identität der Romanfigur missbrauchte, um sich seinem Idol Bret Easton Ellis zu nähern. Dass in American Psycho ein Detektiv namens Donald Kimball recherchiert, fällt Bret trotzdem erst auf, als er seinen Roman zur Hand nimmt und die entsprechende Szene nachliest (LP, S. 414f.). 53 Obwohl es sich bei drei der Figuren – Clay, Patrick Bateman und Donald Kimball – gar nicht um die Originale handelt, sondern um Verkörperungen der Originale, sind die Charaktere für Bret mit ihnen gleichbedeutend. Nach seinem Empfinden wird er von ihm geschaffenen Romanfiguren heimgesucht. Daher kann mit gutem Gewissen vom Auftauchen von Romanfiguren aus dem Ellis-Nexus gesprochen werden.

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Darüber hinaus wird der Repräsentation früherer Romanfiguren auch eine Kommentarfunktion zugewiesen, mittels derer der Autor Ellis implizit auf Vorwürfe aus der Kritikerschaft reagiert. 3. Das Auftauchen von Romanfiguren im Leben Brets zeigt, wie sehr der Autor Ellis über seine Romanfiguren definiert wird. Indem Clayton als Alter Ego Brets eingeführt wird, der wiederum das Alter Ego Patrick Batemans ist, kommentiert Ellis damit die Unterstellung, selbst ein perverser Misogyn zu sein.54 Die Gleichsetzung Brets mit seinen Romanfiguren („I’m even you.“, LP, S. 335) ist demnach als satirischer Kommentar auf Ellis’ öffentliche Wahrnehmung als Autor seiner Romane zu betrachten. Hier schließt sich der Kreis zu dem eingangs diskutierten Zitat von Thomas McGuane, mit dem Ellis verdeutlicht, dass er sich in Lunar Park mit seinem öffentlichen Image auseinander zu setzen gedenkt. Die allzu offensichtlichen Übereinstimmungen zwischen Clayton/Bateman und Bret führen damit die öffentlichen Unterstellungen auf zynische Weise vor. 4. Nicht zuletzt ist im Auftreten der Figuren Clayton und Bateman auch ein Kommentar auf die Romane Less Than Zero und American Psycho als autobiografisch gefärbt zu sehen. Ellis spielt mit der durch die Kritikerschaft wiederholt geäußerten Annahme, in diese Romane flössen eigene Erfahrungen ein. Die Einführung Claytons und Batemans als dämonische Alter Egos Brets mag dies vordergründig bestätigen, jedoch sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass auch Bret ein fiktiver Charakter ist und nicht mit Ellis gleichgesetzt werden darf. Gerade die Fiktionalität der Hauptfigur widerspricht also der Annahme, dass Clay aus Less Than Zero und Bateman aus American Psycho Ellis’ Alter Egos sind. Hiermit liegt erneut ein satirischer Kommentar auf die Reaktionen des Publikums vor, das Less Than Zero und American Psycho ungefragt autobiografisch interpretiert.55 ”

Der writer Jedoch nicht nur das Auftreten von Romanfiguren aus dem Ellis-Nexus, sondern vor allem die Instanz des ominösen „writers“ hat metafiktionalisierende Bedeutung. Brets Tendenz, von sich selbst zu abstrahieren, wird erstmalig im dritten Kapitel „Morning“ deutlich, in dem Bret auf sich selbst als „ghost“ (LP, S. 78ff.) referiert. Nach der Halloween-Fete vom Vorabend leidet der Protagonist nun an einem schrecklichen Kater, hervorgerufen durch zu viel Alkohol und Kokain, und da er seine Jeans nicht finden kann, bekleidet er sich behelfsmäßig mit seinem Bettlaken: „I walked out of the room a ghost.“ (LP, S. 78) In diesem Kapitel wird Bret nun “

54 S. die knappe Darstellung der Pressereaktionen auf American Psycho in der Einleitung. Für eine detailliertere Darstellung s. Voßmann, Paradise Dreamed, S. 24ff. 55 So verweist etwa Baker darauf, dass Ellis’ Vorgängerromane oftmals irrtümlich autobiografisch gedeutet wurden. (Baker, „Representations of Reality“, S. 492.)

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wiederholt von sich selbst als „ghost“ sprechen, wobei es sich nicht nur um eine Anspielung auf das Bettlaken handelt, sondern auch auf seine Rolle in der Familie. Bret ist über den Status eines Gespenstes bisher nicht hinausgelangt; er ist zwar anwesend, findet sich aber nicht aktiv in das Familienleben ein.56 Das Familienfrühstück, das im Kapitel „Morning“ beschrieben wird, bedeutet daher Stress für Bret, da er sich, wie oben bereits konstatiert, nicht in der Vaterrolle zurechtfindet. Diese Stresssituation versucht er abzumildern, indem er sich selbst als Abstraktion des Vorstadt-Brets konzipiert, sich selbst ironisiert und in die Rolle des Gespenstes flüchtet. So muss er nur indirekt anwesend sein. Was sich mit dem Gespenst schon andeutet, nämlich dass Bret dazu neigt, in Stresssituationen der Lage zu entweichen, indem er eine Abstraktion von sich entwirft, bestätigt sich in der Funktion des „writers“. Nach seinem panischen Ausbruch während eines Dinners bei den Nachbarn, in dessen Verlauf er einen Einbrecher im Haus zu sehen glaubt und mit einer Pistole bewaffnet die Kinder und den Babysitter verschreckt, konzipiert er eine alternative Version des Geschehenen in der Funktion des „writers“: „I convinced myself I hadn’t seen anything. I had done this many times before (when my father struck me, when I first broke up with Jayne, when I overdosed in Seattle, every moment I thought about reaching for my son) and I was adept at erasing reality. As a writer, it was easy for me to dream up a more viable scenario than the one that had actually played itself out.“ (LP, S. 217)

Auf den folgenden Seiten taucht der „writer“ zunächst sporadisch auf, bis er ab Kapitel 19 „The Cat“ zunehmend Präsenz erhält. Mit der Abspaltung des „writers“ verdoppelt sich Bret, aus dem „I“ wird ein „we“ (LP, S. 304). Dabei handelt es sich jedoch nicht nur um eine mentale Abspaltung, durch die Bret eine Funktion auskoppelt, mittels derer er die Realität verändern kann, sondern der „writer“ erhält eine Materialität außerhalb von Brets Körper/Geist: „The writer, beside me, was thinking things through, forming his own theories.“ (LP, S. 310, Hervorhebung durch d.Verf.) Auch wenn der „writer“ nur für Bret sichtbar ist, wird er auf diese Weise zu einer eigenständigen Instanz mit eigenen Intentionen, eigenem Wissen, eigenen Vorstellungen, die zunehmend die Kontrolle über das Erzählte erlangt. Flory stellt zur Funktion des „writers“ fest, dass er zunächst nur dazu da gewesen sei, um sich selbst etwas vorzumachen – den peinlichen Auftritt nach dem Dinner auszulöschen –, dann jedoch verstärkt als Korrekturinstanz diene, die Ereignisse berichtigt, und schließlich sogar zur Darstellung von Szenen herangezogen 56 Treffenderweise verzichtet Bret auf den Vergleich „like a ghost“ und wählt stattdessen die Metapher „a ghost“. Dies spricht dafür, dass er sich selbst den Status eines Unsichtbaren, eines Gespenstes zuweist.

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werde, die Bret gar nicht miterlebt.57 Der „writer“ wird zunehmend selbstständiger, unabhängiger und verfügt über Informationen, die Bret nicht hat.58 Damit entwickelt er sich, laut Flory, zu einer kommentierenden Kunstfigur, die die Perspektive des Schriftstellers einnehme.59 Dieser Ansicht schließt sich Nielsen an, der in der Funktion des „writers“ die Einschreibung des Autors in den Text sieht. Gemäß Nielsen öffnet der „writer“ damit eine metafiktionale Ebene,60 auf der der Autor Ellis eine Stimme im Text erhält. Baker geht sogar so weit, den „writer“ als Karikatur des Autors Ellis zu sehen.61 Den „writer“ als Stimme des realen Autors zu sehen, geht meines Erachtens nach zu weit. Zweifelsohne handelt es sich um eine metafiktionale Instanz, die den Schreibprozess reflektiert und kommentiert, wie etwa folgende Textstelle verdeutlichen kann: „Look how black the sky is, the writer said. I made it that way.“ (LP, S. 318, Hervorhebungen im Original) Dies referiert fraglos auf den Konstruktcharakter des Textes, auf seine Gemachtheit durch eine Autorinstanz. Nichtsdestotrotz ist der von Bret betrachtete Himmel natürlich für ihn kein fiktionaler, sondern ein in der Romanwelt real existierender. Diese Textstelle kann trotz ihrer Metafiktionalität daher nicht als Äußerung von Ellis betrachtet werden, sondern muss viel eher als Naturalisierungsversuch der Hauptfigur gelten. Wie die oben zitierte Textstelle bereits verdeutlicht, ist Bret geübt darin, die Realität literarisch zu verfremden und sich alternative Versionen von Erlebnissen auszudenken und daran zu glauben. Daher ist der „writer“ als abgespaltene Schriftsteller-Identität Brets zu sehen, die versucht, die Geschehnisse zu naturalisieren und in ein großes Ganzes zu fügen. Der „writer“ mit der Macht, die Realität Brets zu verfremden oder anzugleichen, hat demnach auch die Macht, die Farbe des Himmels als seine Kreation auszugeben – auch wenn die Schwärze des Himmels Zufall sein mag und der Protagonist nur versucht, darin eine Bedeutung zu sehen. Wie diese Textstelle verdeutlichen kann, handelt es sich beim „writer“ um eine schizophrene62 Abspaltung von Brets Identität. Seine Identität als Schriftsteller wird 57 Flory, Out is in, S. 332f. 58 Ebd., S. 333. 59 Ebd., S. 334. 60 Nielsen, „Double Exposures“, S. 135. 61 Baker, „Representations of Reality“, S. 499. 62 Bei der Abspaltung einer Teilidentität Brets handelt es sich nicht um eine dissoziative Persönlichkeitsstörung, wie sie bei schwer traumatisierten Personen, die in ihrer Kindheit extreme Erfahrungen von Misshandlung oder Missbrauch durchleben mussten, vorkommen können. In dem Fall würde Bret zwischen seiner Hauptidentität und dem „writer“ hin und her wechseln; beide Identitäten würden nebeneinander existieren, ohne voneinander zu wissen. Da Bret aber stets in seiner eigenen Identität bleibt und der „writer“ den Stellenwert einer visuellen und akustischen Halluzination einnimmt, ist eher von ei-

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in die Person des „writers“ ausgelagert, was es Bret vereinfacht, mit Stresssituationen umzugehen.63 Wie er es bereits als „ghost“ getan hat, konzipiert Bret eine Abstraktion von sich, der er mehr Macht einräumt als sich selbst. So ist der „writer“ im Stande, Szenen zu beschreiben, an die Bret sich nicht erinnert, und weiß Dinge, die Bret nicht wissen kann. „The ceiling above us suddenly cracked open in a long, jagged strip, dusting our hair with plaster. (I don’t remember seeing this but the writer insisted I had. The writer said, You were gaping.)“ (LP, S. 403, Hervorhebung im Original) „The writer told me that the policemen thought I was taking advantage of them. The writer told me that one of the officers had laughed when they came upon the green light saber on the floor of my office. The writer told me that two of the officers had masturbated to sex scenes in American Psycho.“ (LP, S. 364, Hervorhebung im Original)

Auch wenn Bret behauptet, den Riss in der Decke nicht selbst beobachtet zu haben, so ist doch seine Beschreibung des Risses sehr detailliert und bemerkenswert lebendig. Indem er diese Erinnerung an den „writer“ auslagert, verliert sie jedoch von ihrer Bedrohlichkeit, da sie in die Distanz rückt. Es ist nun der „writer“, der über die Erinnerung verfügt, nicht mehr Bret.64 Das gleiche gilt für die Informationen, die der „writer“ Bret über die Polizisten gibt. Auch wenn es sich um Brets Vorstellung handelt, dass die Cops sich über ihn lustig machen und er Genugtuung aus der Idee bezieht, dass die Männer sich zu den Sexszenen, die aus seiner Feder stammen, ner schizophrenen Psychose auszugehen. Eigene Persönlichkeitsanteile in einen schizophrenen Wahn zu übertragen ist dabei nicht ungewöhnlich. S. hierzu den Eintrag zu Schizophrenie und wahnhaften Störungen im ICD-10, F20.-. http://www.dimdi.de/ static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2013/block-f20-f29.htm vom 12.02.2013. Diese Annahme trägt einer psychoanalytischen Lesart des Romans Rechnung, die zwar in dieser Arbeit nicht verfolgt wird, der Vollständigkeit halber jedoch erwähnt werden soll. 63 Hierzu ist nicht nur der Spuk von Geist und Dämon zu zählen, sondern auch die familiäre Situation. Der „writer“ kommt häufig auch in Szenen mit Robby zum Einsatz. 64 Mehr noch sogar: Wörtlich betrachtet, gibt der „writer“ dem Protagonisten Erinnerungen ein. Dies ist als reflexiver Kommentar auf das Entstehen einer Autofiktion zu lesen, in der Erinnerungslücken fiktional gefüllt werden und auf diese Weise Sinn konstruiert wird. Somit wird sich ferner mit dem Prozess des Erinnerns auseinandergesetzt: Erinnerungen werden nicht als Abbildungen, sondern als subjektive Rekonstruktionen von Vergangenheit verstanden.

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selbst befriedigt hätten, lagert er dies als faktuale Informationen an den „writer“ aus. So erhalten diese Scheinfakten mehr Gewicht für Bret, können als gültig angesehen werden, obwohl es sich schlicht um die Angst vor Lächerlichkeit und den Versuch der Selbstbestätigung handelt. Mit der Abspaltung des „writers“ schafft sich der Protagonist einen Doppelgänger, einen für andere unsichtbaren Gefährten, der seiner Selbstversicherung dient. Dies wird durch den Verdoppelungsaspekt (LP, S. 304) deutlich sowie durch die Materialisierung des „writers“ außerhalb von Brets Körper und Geist. Freud erklärt zur psychologischen Funktion des Doppelgängers, er sei „ursprünglich eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs“, eine „Verdopplung zur Abwehr gegen die Vernichtung“ 65 gewesen. In genau dieser Funktion kreiert Bret den „writer“ als Abstraktion seiner Schriftsteller-Identität. Damit wird ein weiteres Alter Ego zu den bereits im Text angelegten Doppelungen (Robert und Bret, Bret und Robby, Clayton und Bret, Clayton und Bateman) hinzugefügt. Ellis führt mit dem „writer“ als Doppelgänger des Protagonisten ein traditionelles literarisches Motiv ein, das klassischerweise in der Horrorliteratur oder auch der unheimlichen und fantastischen Literatur zu finden ist.66 Ellis verbindet somit ein Mittel aus der Horrorliteratur mit der metafiktionalen Ebene seines Romans und verquickt diese beiden Elemente untrennbar miteinander. Der Horrorteil, der ohnedies eine allegorische Wirksamkeit hat,67 erhält damit noch eine weitere Bedeutungsebene, die auf die Selbstbespiegelung der Figur in ihrer Funktion als Autor literarischer Texte rekurriert. Der „writer“ ist demnach als reflexive Instanz zu lesen. Darüber hinaus verweist die Abspaltung des „writers“ bereits auf das emotionale Kernthema des Romans, die Identitätsangst. Hildenbrock erläutert dazu, dass die Isolation des Individuums eine zentrale Rolle beim Doppelgänger-Motiv spiele: Die Figuren seien „ihrer Umwelt ent65 Freud, Sigmund: „Das Unheimliche.“ In: Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hg.): Studienausgabe Band IV. Psychologische Schriften. Frankfurt a.M.: Fischer 1997, S. 241-274. Hier S. 258. 66 Sigmund Freud führt in seinem Aufsatz zum Unheimlichen den Doppelgänger als klassisches Motiv auf, der mit „Ich-Verdopplung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung“ zum „Schreckbild“ geworden sei. Beispielhaft verweist Freud auf die Novellen E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann sowie Die Elixiere des Teufels (ebd., S. 257 u. 258). Auch Gina Wisker nennt den Doppelgänger in ihrer Einführung in die „horror fiction“ als gängiges Motiv. Sie führt als prominentes Beispiel Stevensons The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde an. (Wisker, Gina: Horror Fiction. An Introduction. New York – London: Continuum 2005. S. 168.) Für eine detailliertere Darstellung des Doppelgängermotivs siehe Hildebrock, Aglaja: Das andere Ich. Künstlicher Mensch und Doppelgänger in der deutsch- und englischsprachigen Literatur. Tübingen: Stauffenburg 1986 sowie Forderer, Christof: Ich-Eklipsen. Doppelgänger in der Literatur seit 1800. Stuttgart: Metzler 1999. 67 Vgl. das Subkapitel Familiärer Horror unter Kap. 7.2.2.

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fremdet; […] nur scheinbar in einen familiären oder gesellschaftlichen Kontext eingebunden“ und ihnen fehle „die nötige Ichstärke, derer es bedarf, um die eigene Identität [zu] wahren“.68 Die Auslagerung des „writers“ ist demnach ein Zeugnis über das Unvermögen der Hauptfigur, ihre psychische Einheit zu erhalten: Die Auftrennung in Privatmensch und Schriftsteller und die damit einhergehende Identitätsspaltung muss in der Konsequenz zu einer fundamentalen Verunsicherung über das Selbst führen.69 Jedoch nicht nur hinsichtlich der Identitätsangst des Protagonisten spielt der „writer“ eine entscheidende Rolle. Er erfüllt auch im Hinblick auf den Leser eine wichtige Funktion. Zunächst sorgt er als traditionelles literarisches Motiv der unheimlichen, fantastischen oder Horrorliteratur für Unbehagen. Der „writer“ als Doppelgänger muss als Bedrohung der Identität des Protagonisten aufgefasst, seine psychische Gesundheit in Zweifel gezogen werden. Insofern entlarvt der „writer“ den Erzähler als unzuverlässig in zweierlei Hinsicht: Erstens wird durch die Implikation des „writers“ die Realität der fiktionalen Welt vorsätzlich verfremdet. Zweitens ist sich der Protagonist über diese Verfremdung nur teilweise im Klaren. Auch wenn er den „writer“ zunächst mit voller Absicht einsetzt, kann er doch mit Fortschreiten der Handlung nicht mehr von ihm abstrahieren, zwischen schizophrenem Wahn und Wirklichkeit nicht unterscheiden und macht sich auf diese Weise abhängig von ihm.70 Der Erzähler wird damit zum wissentlich-unwissentlichen „misreporter“. Dies untergräbt das Vertrauen des Lesers in den Erzähler, der nun an Stelle des Protagonisten dazu aufgefordert ist, diese Unterscheidung zwischen Wahn und Wirklichkeit zu treffen. Zusammenfassend erfüllt der „writer“ vier Funktionen: 1. Der „writer“ kommentiert und reflektiert auf metafiktionaler Ebene den Schreibprozess und hat damit metafiktionalisierende Bedeutung. Er verweist auf den Konstruktcharakter des Romans. 2. Gleichzeitig ist auch die Abspaltung des „writers“ selbst als metafiktionaler Kommentar zu verstehen, da Ellis auf diese Weise die Trennung von Schriftsteller und Privatmensch hervorhebt und implizit herausstellt, dass diese beiden nicht als deckungsgleich zu betrachten sind.71 3. Für den homodiegetischen Erzähler ist der „writer“ als schizophrene Abspaltung der Schriftsteller-Identität eine Abstraktion, die dazu dient, Stresssituationen erträglicher zu machen. Dieser abgespaltenen Identität räumt der Protagonist größere 68 Hildebrock, Das andere Ich, S. 272. 69 S. hierzu Kap. 7.2.4. 70 S. Fußnote 38 in diesem Kapitel, in der vorgeschlagen wird, den Roman als Darstellung einer Psychose zu lesen. Die Unzuverlässigkeit des Erzählers unterstützt diese Lesart. 71 S. die Ausführungen zum McGuane-Zitat unter Kap. 7.1.1.

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Macht ein als er sich selbst zugesteht. Indem er stressbeladene Erinnerungen an den „writer“ auslagert oder Vorstellungen und Ideen als durch den „writer“ mitgeteilte Fakten darstellt, versichert er sich seiner selbst. Gleichzeitig jedoch weist die Abspaltung des „writers“ den Erzähler als unzuverlässige Instanz aus. 4. Mit dem „writer“ wird eine Version des traditionellen literarischen Doppelgängermotivs eingeführt, das die Horrorebene des Romans mit der Metaebene verbindet. Es dient einerseits zur Reflexion, andererseits als Verweis auf die im Text angelegte Identitätsangst der Hauptfigur und erzeugt darüber hinaus beim Rezipienten Unbehagen. Wie dieses Kapitel darlegen konnte, handelt es sich bei Lunar Park nicht nur um eine Autofiktion, sondern auch um eine fiktionale Metaautobiografie. Ellis verarbeitet mit seinem fünften Roman die Beziehung zum eigenen Vater, indem er sich selbst in die Rolle des versagenden Vaters und gleichzeitig in die Rolle des zurückgewiesenen Sohnes hineinschreibt. Darüber hinaus räumt er mit den Vorurteilen gegenüber der Privatperson Ellis auf, indem er sich selbst als Romanfigur mit den ihm unterstellten negativen Charakteristiken ausstattet und sich in der Figur Brets schrill überzeichnet, so dass dem Publikum ein satirischer Spiegel über die eigene Voreingenommenheit vorgehalten wird. Mit metafiktionalen Elementen wie der Reflexion über die eigene Schreibweise, Gastauftritten von Figuren aus vorherigen Romanen sowie der Instanz des „writers“ als metafiktionale Kommentarfunktion weist er den Text als fiktionale Metaautobiografie aus. Vor diesem Hintergrund soll nun eine Analyse der Affekte des Protagonisten und der emotionalen Sprache des Romans erfolgen, um im Anschluss die Position des Lesers gegenüber dem Text zu bestimmen. 7.2.4 Emotionen: Identitätsangst Lunar Park unterscheidet sich grundlegend von den vorherigen Romanen hinsichtlich des Einsatzes von Affektivität und der Verwendung von Emotionsworten. Im Gegensatz zu den Hauptfiguren der anderen vier Romane ist Bret ein überraschend emotionaler Charakter, der überdies als Erzähler elaboriert von seinen Affekten berichten kann. So wird schon auf den ersten Seiten des Romans das emotionale Kernthema des Romans hervorgehoben: Angst. Wie die eingangs zitierte Textstelle zur Beziehung zwischen Vater Robert und Sohn Bret (LP, S. 8) veranschaulichte, erlegte die Übermacht des Vaters dem Sohn schwere Angstgefühle und Depressionen auf. Was Bret schon als junger Mann erdulden musste, zieht sich nun wie ein roter Faden durch den Roman: Allein das Wort „fear“ wird nach meiner Zählung 34 Mal gebraucht, Synonyme (wie „afraid“, „alarm“, „anxiety“, „anxious“, „dread“, „dreadful“, „frightened“, „horror“, „panic“, „panicked“, „scared“, „terror“) tauchen

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73 Mal auf – Emotionsworte zur Beschreibung von Angst finden sich demnach über 100 Mal im Text. Schon diese lexikalische Häufung verweist auf die Wichtigkeit des Themenkomplexes Angst. Neben Attributen zur Angstdarstellung befleißigt sich der Erzähler einer Vielzahl von Emotionsworten, zunächst jedoch vor allem zur Beschreibung von anderen Figuren (Ehefrau Jayne, Hund Victor, Affäre Aimee, Kinder Sarah und Robby, Kumpel Jay McInerney). Dabei handelt es sich hauptsächlich um negative Emotionsworte. Als Beispiel mag die Beschreibung Jaynes im zweiten Kapitel dienen, in welchem Bret eine Halloween-Party veranstaltet. Jayne wird von Bret mit den folgenden Attributen belegt: „confused“ (LP, S. 46), „worry“ (LP, S. 48), „passive aggression“ (LP, S. 48), „fearful“ (LP, S. 50), „accusatory“ (LP, S. 70) – der Erzähler verliert kein einziges positives Wort über seine Frau. Diesem Duktus der Negativbeschreibungen wird Bret im gesamten Roman folgen. Die wenigen positiven Schilderungen beziehen sich zumeist auf Erleichterung72 oder vereinzelte positive emotionale Erfahrungen von z.B. Stolz (LP, S. 46). Dabei ergibt sich bei der emotionalen Beschreibung der Figuren durch den Erzähler folgendes Muster: So lange Bret die Kontrolle über die Situation hat oder dies zumindest so empfindet, beschreibt er vor allem die anderen; hat er die Kontrolle nicht (mehr), beschreibt er in erster Linie sich selbst. Ein kurzes Beispiel soll dies belegen: Im Party-Kapitel hat Bret zunächst die Kontrolle über die Situation. Es gelingt ihm, sich heimlich mit Punsch zu versorgen, den er zur Tarnung in eine leere Dose alkolholfreien Biers füllt, seinen Dealer unerkannt in sein Büro zu schmuggeln und dort Drogen zu kaufen, die Studentin Aimee Light im Badezimmer zu küssen und mit seinem Kumpel Jay McInerney in der Garage unbemerkt Kokain zu schnupfen. Bis dahin läuft die Party für Bret perfekt und so richtet sich die Mehrzahl der Beschreibungen auf andere Figuren. Erst als die kleine Stieftochter Sarah verängstigt von ihrem mechanischen Stofftier Terby berichtet, das lebendig geworden sei und versucht habe, sie zu beißen, wendet sich das Blatt. Genötigt von Sarahs Gejammer sieht Bret sich veranlasst, das Kinderzimmer zu überprüfen – auf seinem Weg flackern die Wandleuchten, an denen er vorbei geht, gespenstisch, in Sarahs Zimmer ist das Fenster offen, ein Bücherregal ist umgestoßen, ein Kissen ist zerfetzt und die Überreste sind voll Schleim. Der Terby hockt auf dem Boden, eingeschaltet und surrend. Als Bret das Stofftier abschalten will, stellt er fest, dass es warm ist und etwas unter den Federn pulsiert. Bret kann sich diese seltsamen Umstände nicht erklären; stattdessen fokussiert sich sein Bericht auf seine eigenen Reaktionen:

72 Z.B. nach dem Konsum von Kokain (LP, S. 55) oder wegen einer Ausrede für die Verbannung ins Gästezimmer (LP, S. 67).

292 | D AS NICHTS UND DER SCHMERZ . E RZÄHLEN BEI B RET E ASTON ELLIS „I realized, somewhat sickeningly, that I would have to pass the thing in order to get out of the room. Stepping forward, I neared it cautiously, as if it were alive, when suddenly it moved. It started wobbling on its claws toward me. I gasped and backed away. I was freaked out but only momentarily, since I realized someone had just left the thing on.“ (LP, S. 75)

In wenigen Sätzen stellt Bret seinen emotionalen Zustand dar und verwendet dafür sowohl Emotionsworte („sickeningly“, „cautiously“, „freaked out“) als auch Beschreibungen somatischer Reaktionen (nach Luft schnappen, zurückweichen). Beides illustriert sehr gut Brets Angstgefühle und ist als eine Neuerung im Schreibstil Ellis’ zu werten. Hatte er sich bislang darauf beschränkt, entweder Emotionsworte zu benutzen oder aber somatische Reaktionen zu benennen, liegt hier erstmals eine Kombination aus beidem vor. Diese neue Gründlichkeit bei der Darstellung von Emotionen weitet sich mit Fortschreiten der Handlung immer mehr aus. So beschreibt der Erzähler etwa in der bereits erwähnten Telefon-Szene seine emotionale Reaktion wie folgt: Neben der wiederholten Verwendung des Emotionswortes „fear“ (LP, S. 335 2x, S. 336) sowie der Worte „anger“ und „scared“ (beide LP, S. 336) schildert er seine Angst mit erhöhtem Herzschlag, zusammengeballter Faust, brüchiger Stimme und zitternden Händen, Tränen und Nägelkauen.73 Je weiter der Roman fortschreitet, desto mehr verliert Bret die Kontrolle über die Geschehnisse. Mehr und mehr tritt die Spukgeschichte in den Vordergrund, Bret wird immer stärker von den Geisterscheinungen und den dämonischen Gestalten verfolgt, und obwohl er sich nach Kräften dagegen zu wehren versucht (er engagiert einen Exorzisten), gelingt es ihm letztlich nicht, die Kontrolle zurückzugewinnen: Er wird im Haus an der Elsinore Lane vom Dämon attackiert und überlebt nur schwer verletzt; Robby reißt aus und verschwindet spurlos; seine Ehe mit Jayne Dennis überlebt dieses Trauma nicht und wird geschieden. Diesem stetigen Kontrollverlust ist es zu verdanken, dass zunehmend Brets Emotionen und Befindlichkeiten in den Vordergrund rücken und vor allem seine Ängste dezidiert dargelegt werden. Identitätskrise und Identitätsangst Wie oben bereits konstatiert, ist Brets Vater Robert die Quelle seiner Angst, jedoch gleichzeitig Grund für seine Karriere als Autor. Hieraus ergibt sich eine tiefgreifende Identitätskrise bei der Hauptfigur, die einerseits den Vater mit all seinen Charaktereigenschaften ablehnt, ihm regelrechten Hass entgegenbringt, andererseits jedoch 73 Weitere Beispiele für diese Art des Erzählens finden sich verstärkt in den Kapiteln 15, 16, 17, 21, 23, 24, 25, 26, 27 und 29, in denen ebenfalls Erlebnisse von Angst im Vordergrund stehen.

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den Vater als Born seiner Kreativität anerkennen muss. Das im Roman angelegte emotionale Kernthema der Angst hat ihren Ursprung in diesem Widerspruch. Indem der Protagonist den Vater für seine Persönlichkeitsentwicklung verantwortlich macht, ihm seinen Nihilismus und sein destruktives und autoaggressives Verhalten zuschreibt, in ihm aber gleichzeitig die Ursache für seine Affinität zum Schreiben sieht, richtet er seine wesentlichen Charakterzüge nach Robert Ellis aus. Da Bret seinen Vater jedoch ablehnt, ergibt sich daraus implizit eine Ablehnung gegenüber sich selbst. Die Identifizierung mit dem Vater führt so zu einer Identitätskrise: Bret macht die gleichen Fehler wie Robert im Umgang mit seinem Sohn, da er nicht im Stande ist, die Beziehung aufzuarbeiten; so wird er dem verhassten Vater allerdings noch ähnlicher. Diese Spirale aus Angleichung und daraus resultierender Ablehnung verschärft sich immer weiter, bis aus der Identitätskrise eine regelrechte Identitätsangst nach dem Vorbild Less Than Zeros geworden ist. Wie in Kapitel 5.1 zu Less Than Zero dargelegt wurde, ist das zentrale Thema des Debütromans die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität. In Lunar Park wird dieses Thema wieder aufgegriffen und durch die enge Verknüpfung Brets mit seiner/Ellis’ Romanfigur Clay entwickelt. Mehrere Textstellen verweisen auf die Verbindung zwischen Bret und Clay, die eine Identifizierung Brets mit seiner/Ellis’ Romanfigur nahelegen. So etwa eine Szene, in der Bret mit den Kindern zur Mall fährt und unterwegs seine Affäre Aimee Light in ihrem BMW sieht, neben ihr auf dem Beifahrersitz ein junger Mann. Bret reagiert mit einem Anfall von Eifersucht und folgt Aimee: „I couldn’t concentrate on anything except the fact that I kept thinking I had been in that car with Aimee Light. I thought the guy in the passenger seat was myself.“ (LP, S. 167) „I realized who was in the passenger seat of Aimee Light’s BMW. It was the boy who had come to my office wanting me to sign a book. It was the boy who came to a Halloween party dressed as Patrick Bateman. The same boy that Aimee Light claimed she had never seen before. It was Clayton.“ (LP, S. 170)

Diese Textstelle ist die erste, die die enge Verbindung zwischen Bret und Clay(ton) aufzeigt. Hier kann zunächst noch von einem Wunschdenken gesprochen werden – Bret wünscht sich, er wäre der Mann auf dem Beifahrersitz gewesen und muss schmerzlich erkennen, dass es ausgerechnet Clayton war, ein vermeintlicher Student, den er nicht recht einordnen kann. Hier stellt sich bei Bret ein erstes Misstrauen gegenüber dem jungen Mann ein, das jedoch noch diffus und auf seine Eifersuchtsreaktion bezogen ist.

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Mit den Email-Anhängen ändert sich dies. Bret entdeckt Videobotschaften in den Emails, die er regelmäßig nachts um 2.40 Uhr von der Bank in Sherman Oaks erhält. In einer Reflexion im Fenster erkennt Bret ein Gesicht: „For one moment the video showed me that I had been there that night. But the face wasn’t mine. His eyes were black, and the face belonged to Clayton.“ (LP, S. 269)

Erneut glaubt Bret zunächst, sich selbst in der Gestalt im Video zu sehen, so wie er zuvor zunächst hoffte, selbst der Beifahrer in Aimees Auto gewesen zu sein. Wieder muss er jedoch erkennen, dass es Clayton ist, der sich eingeschlichen hat. Das Misstrauen Brets wird verstärkt: Wie ist Clayton in das Video gelangt, das 1992 entstanden sein muss? Nach dem Telefonanruf ist klar: Clayton existiert nicht wirklich, sondern ist eine von mehreren Verkörperungen des Dämons, der Bret heimsucht. Auch der „writer“ verweist auf die Nähe zwischen Clay und Bret. Nachdem Bret und die Kinder vom Dämon in Gestalt eines haarigen Monsters, das Bret in seiner Kindheit erfand, angegriffen werden, entspinnt sich eine Diskussion zwischen Bret und seiner Abstraktion, dem „writer“, an dessen Ende dieser fragt: „Hadn’t you once wanted to ‚see the worst‘? […] Didn’t you once write that somewhere?“ (LP, S. 371, Hervorhebung im Original) Hierbei handelt es sich um eine Anspielung auf Clays Wunsch in Less Than Zero, das Schlimmste zu sehen (LTZ, S. 172) – er begleitet seinen heroinabhängigen Freund Julian zu einem Freier und erlebt mit, wie dieser sich prostituiert. Die Assoziation des „writers“ von Bret mit seiner Romanfigur Clay ist überdeutlich: Er fragt ihn, ob er, Bret, nicht das Schlimmste habe sehen wollen und setzt ihn so mit Clay gleich. Da der „writer“ jedoch nur eine Abstraktion Brets ist, handelt es sich im Grunde um Brets Schlussfolgerung, sich mit Clay auf eine Stufe zu stellen. Schließlich, während der finalen Attacke des Dämons auf Bret, erkennt der Protagonist endlich, was der Roman die ganze Zeit schon suggerierte und was er selbst zunehmend vermuten musste: Bret und Clay(ton) sind ein und dieselbe Person. „Because Clayton was – and always had been – someone I had known. He was somebody who had always known me. He was somebody who had always known us. Because Clayton and I were always the same person.“ (LP, S. 434, Hervorhebung im Original)

Letztlich identifiziert sich Bret mit Clayton und dadurch auch mit Clay. Indem schon sehr früh, nämlich bei Claytons erstem Auftauchen in Brets Büro, die Verknüpfung zum Romanhelden Clay aufgemacht wird („Like Clay in the novel.“, LP,

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S. 115) und zwischen Clayton und Bret signifikante Parallelen bestehen (gleicher Kleidungsstil, gleiches Auto, herrischer Vater, Ähnlichkeiten im Aussehen), die auch zwischen Clayton und Clay erkennbar sind (gleiches Auto, schwierige Beziehung zum Vater), lässt sich schlussendlich Bret mit Clay gleichsetzen. So schließt sich der Themenkomplex der Angst: Die durch die antagonistische Beziehung zum Vater hervorgerufene Identitätskrise, die letztlich zu einer schizophrenen Abspaltung der Identität des Schriftstellers von der Identität als Privatmensch führt, steigert sich durch die Identifikation mit der Romanfigur Clay, dessen größte Angst der Verlust der eigenen Identität darstellte, schließlich zu einer Identitätsangst. In letzter Konsequenz ist das emotionale Kernthema des Romans, die Angst, damit als Anschluss an den Debütroman Less Than Zero zu sehen und die in Lunar Park vorgelegte Bearbeitung der Angstthematik als weitere Spielart der Identitätsangst, die schon Clay verfolgte. Wie in Less Than Zero ist diese Identitätsangst jedoch nicht wörtlich im Text elaboriert, sondern muss vom Leser durch implizite Hinweise erschlossen werden. War in Less Than Zero die Angst vor Identitätsverlust durch enigmatisch aufgeladene Satzwiederholungen („People are afraid to merge“, „Wonder if he’s for sale“ und „Disappear here“; vgl. Kap. 5.1.3) zu entschlüsseln, kann dies in Lunar Park nur durch die Referenz auf Less Than Zero gelingen. Der Leser, der Less Than Zero nicht kennt, wird zwar die Angst als emotionales Kernthema erkennen, jedoch die Spezifität der Angst nicht erfassen können. Vom Leser werden also auch in Lunar Park diverse Syntheseleistungen verlangt, die er zum umfassenden Verständnis des Romans zu leisten hat: Er muss den Roman als Autofiktion sowie als fiktionale Metaautobiografie erkennen, er muss die Geistergeschichte als Allegorie auf die Vater-Sohn-Beziehung verstehen, er muss die Instanz des „writers“ als metafiktionalen Kommentar sowie als schizophrene Abstraktion der Hauptfigur interpretieren und schließlich muss er das Kernthema der Angst unter Rückgriff auf den Erstlingsroman Less Than Zero als Identitätsangst entlarven. Diese hohen Anforderungen an den Leser wirken sich auch auf seine Haltung gegenüber dem Roman aus.

7.3 S CHLUSSFOLGERUNGEN : L ESERIDENTIFIKATION – L ESERIRRITATION Obwohl sich Lunar Park vordergründig als unterhaltsamer, spannender Horrorroman gibt, der mit seinen ironischen Zwischentönen seinem Publikum manches Schmunzeln entlockt, entpuppt sich auch Ellis’ fünfter Roman bei genauer Betrachtung als komplexer Text, der seinem Leser ein Maximum an Interaktion und Syntheseleistung abverlangt. Neu ist erstmals das hohe Maß an Emotionalität, das der Text sowohl durch die Verwendung zahlreicher (zumeist negativer) Emotionsworte sowie gleichzeitig

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durch die Beschreibung somatischer Reaktionen vermittelt. Es kann daher bei Lunar Park weder von emotionslosem, noch von affektlosem Erzählen gesprochen werden. Ellis’ fünfter Roman fällt somit als erster aus dem bis dato etablierten Muster aus Emotionsvermeidung, -verschlüsselung oder -abwehr heraus. Damit kommt Lunar Park eine Sonderstellung auch innerhalb der vorliegenden Arbeit zu, die sich vorrangig mit affekt- oder emotionslosem Erzählen bei Ellis befasst. Gleichzeitig nimmt der fünfte Roman auch eine Ausnahmeposition im Gesamtwerk Ellis’ ein: Gerade die Emotionalität der Hauptfigur verleiht der Autofiktion eine größere Glaubwürdigkeit. Anders herum gedacht, zeichnet sich der Text möglicherweise gerade deswegen durch größere emotionale Expressivität aus, weil er den stärksten Selbstbezug aufweist. Egal von welcher Seite das Pferd aufgezäumt wird – die Sonderstellung des Romans dürfte unbestritten sein. Lunar Park schafft es als einziger Text, das Muster des emotions- oder affektlosen Erzählens zu durchbrechen und zu überschreiten. Der Trend zur Affektdarstellung war zwar schon in Glamorama erkennbar; dort musste die Affektivität der Hauptfigur durch das unzuverlässige Erzählen jedoch stark in Zweifel gezogen werden. Die Etablierung einer emotionalen Glaubwürdigkeit des Protagonisten hingegen bedeutet für das Identifikationspotenzial des Textes eine Neuerung. Während sich in den ersten vier Romanen die Störung der Identifikation des Lesers mit dem Protagonisten immer weiter steigerte, bis in Glamorama der Leser schließlich selbst eine affektlose Haltung einnehmen musste und die Identifikationsstörung dadurch zu ihrem Höhepunkt gelangte, ermöglicht Lunar Park zum ersten Mal eine Identifikation des Lesers mit der Hauptfigur. Der Roman stellt seinen Protagonisten Bret als sich entwickelnde Figur dar, die sich von einem drogenabhängigen, von einem Vaterkomplex geplagten Egozentriker zu einem zwar gescheiterten, aber sich seiner Verantwortung bewussten Vater bildet. Eine Charakterentwicklung war bereits in Glamorama zu beobachten und dieser Reform bleibt Ellis in Lunar Park treu. Während die Charakterentwicklung Victors rückblickend jedoch hinterfragt werden musste und sein affektloses Verhalten eine Identifizierung des Lesers mit ihm blockierte, kann die Entwicklung Brets ohne Zweifel anerkannt werden. Dies allein trägt jedoch nicht zur Identifikation des Lesers mit ihm bei, da Bret sich von einer unsympathischen, egoistischen Knallcharge kaum zu jemand Besserem entwickelt: Zurückgefallen in seine Drogensucht lebt er einsam in seinem New Yorker Apartment und trauert seinem verlorenen Sohn hinterher, zerrieben von Verzweiflung und Angst. Der mitleiderregende Zustand, in dem der Protagonist sich am Romanende befindet, mag Empathie beim Leser auslösen, für eine Identifikation mit ihm reicht dies allein dennoch nicht aus. Dafür sorgt die neu etablierte emotionale Erzählweise, die Bret, trotz all seiner Fehler, als ausgesprochen menschlich erscheinen lässt. Die Verbindung von Emotionsworten mit Beschreibungen somatischer Reaktionen sowie vor allem deren Häufigkeit erlauben erstmalig ein Einfühlen in den Protagonisten. Indem seine von

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Angst bestimmte Gefühlswelt dezidiert dargelegt wird, wird dem Leser ein Einblick in die Psyche der Hauptfigur gewährt, in der sich der Leser wiederzuerkennen erlauben darf. Auch wenn der Großteil der Leserschaft kaum auf Brets außergewöhnliche Erfahrungen – Ruhm, Reichtum, zerstörerische Drogensucht, Ehe mit einer Hollywoodschauspielerin, Kontakt mit Geistern und Dämonen – wird zurückgreifen können, so dürften die Erlebnisse der Adoleszenz, die Bret in das Erwachsenenleben hineinträgt, den meisten Lesern bekannt erscheinen: der Versuch, sich vom Elternhaus zu lösen, die Erkenntnis über den Einfluss der Eltern auf die Persönlichkeitsentwicklung, die Konstruktion von neuen Rollen als Erwerbstätige/r, als Mutter oder Vater. Diese Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz, wenn auch scharf überzeichnet, sind hinter der Horrorgeschichte deutlich erkennbar und tragen zur Identifikation mit der Hauptfigur bei. Hinzu kommt der autobiografische Pakt, den Leser und Protagonist unterzeichnen: Bret versichert seine Ehrlichkeit, beteuert die Wahrhaftigkeit und Authentizität seines Berichts, so wie es von einer autobiografischen Erzählung erwartet wird. „Regardless of how horrible the events described here might seem, there’s one thing you must remember as you hold this book in your hands: all of it really happened, every word is true.“ (LP, S. 45)

Dieser Schwur der Wahrheit, der Brets Glaubwürdigkeit zu unterstreichen gedacht ist, ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Auch wenn bereits im Prolog „The Beginnings“ fiktionale Elemente eingeführt werden und der Leser sich somit, trotz der Übereinstimmung von Autor, Erzähler und Protagonist im Namen, darüber im Klaren ist, dass es sich keineswegs um eine Autobiografie, sondern um eine Autofiktion handelt, das Wahrheitsversprechen somit von Beginn an relativiert werden muss, ist der Leser gerade wegen des autobiografischen Paktes dazu geneigt, sich mit dem Protagonisten zu identifizieren. Das Bewusstsein darüber, dass dieser Pakt nicht eingehalten werden kann, dass das Beschriebene größtenteils fiktional und nicht genuin autobiografisch ist, hindert den Leser nicht daran. Durch die offene Zurschaustellung der fiktionalen Elemente erhält der Rezipient die Chance, wahr von unwahr zu unterscheiden – er fühlt sich nicht hintergangen, da die fiktionalen Aspekte nicht verschleiert werden, sondern ist bereit, sich nichtsdestotrotz mit dem Protagonisten zu identifizieren. Der Bruch des autobiografischen Pakts erscheint verzeihlich, da die offensichtlich fiktionale Horrorgeschichte als Allegorie auf die Vater-Sohn-Beziehung zu lesen ist. Allerdings kommt dem Wahrheitsversprechen die Horrorgeschichte auf andere Weise in die Quere. Das Problem, das sich hier ergibt, ist ein genretechnisches: Als

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reine „horror fiction“,74 in der das Auftauchen übernatürlicher Entitäten durchaus plausibel erscheint, kann Lunar Park als autofiktionale Bearbeitung der Traumata aus Kindheit, Jugend und Adoleszenz Ellis’ schlechterdings verstanden werden. Mit 74 Die „horror fiction“ als Genre zu definieren, ist erstaunlich schwierig. Birgit Grein formuliert das Problem der Definition eines Genres zunächst generell: Ein Genre werde konstruiert, indem eine Gruppe von Texten, die einige Merkmale teilen und mit einem Satz expliziter Normen konform gehen, zusammengefasst werde. Werden die Kriterien dafür jedoch zu exakt definiert, fielen einige Texte durch das Raster, werden sie zu weit gefasst, verliere die Definition ihren erklärenden Wert. Hinsichtlich der „horror fiction“ ergebe sich das Problem, dass es fast unmöglich sei, wiederkehrende Themen als Genreanzeiger festzulegen, noch hülfen formale Merkmale weiter. Auch das offensichtlichste Kriterium, der Horroreffekt beim Leser, erzeuge Probleme: Eine Definition, die sich auf die emotionale Reaktion des Lesers berufe, könne in der Komplikation resultieren, dass einige Leser den intendierten Effekt erführen, während andere, aus welchen Gründen auch immer, Horror oder Terror nicht empfänden. (Grein, Birgit: Terribly Effective. A Theory, Exemplary Study and Defense of Contemporary Horror Fiction. Trier: WVT 2000. Hier S. 3.) Gina Wisker sieht diesen Umstand wiederum nicht als sonderlich problematisch an. Sie differenziert den lebensweltlichen Horror vom literarischen und proklamiert für letzteren neben seinem Ursprung in den „gothic tales“ des 18. Jahrhunderts eine psychologische Dimension: Die „horror fiction“ sei als Genre eine Konstruktion, Projektion und Repräsentation, deren Wurzeln im populären Bewusstsein, vor allem aber im populären Unbewussten lägen. Es dramatisiere verdrängte Ängste und Sehnsüchte. Wisker greift auf eine Definition von Linda Holland-Toll zurück: „Horror fiction will be handily defined as any text which has extreme or supernatural elements, induces (as its primary intention and/or effect) strong feelings of terror, horror or revulsion in the reader, and generates a significant degree of unresolved disease within society.“ (Holland-Toll, Linda: As American as Mom, Baseball and Apple Pie: Constructing Community in Contemporary American Horror Fiction. Bowling Green, OH: Bowling Green State University Popular Press 2001. S. 6. Hier zitiert nach Wisker, Horror Fiction, S. 5f.) Dabei sieht sie jedoch ebenso wie Grein eine motivische Vielfalt, die von realitätsnahen Themen (Folter, Vergewaltigung, Mord, Selbstmordattentate, Kometeneinschläge etc.) bis zu übernatürlichen und fantastischen Themen reichen könne, die unbewusste Ängste, das Andere, das Unerwartete und Unbekannte aufgriffen (Wisker, Horror Fiction, S. 13). Für die vorliegende Arbeit schließe ich mich beiden Autorinnen an: Auch wenn in dieser Arbeit eine endgültige Definition des Genres „horror fiction“ nicht vorgelegt werden kann, da weder motivische noch formale Kriterien das Genre abschließend definieren können, scheint mir die Arbeitsdefinition von Holland-Toll ausgesprochen brauchbar. „Horror fiction“ verstehe ich demnach als Textform, in der extreme oder übernatürliche Elemente mit der Absicht, im Leser Gefühle von Horror zu erzeugen, eine zentrale Rolle spielen. Dies trifft auf Lunar Park in jeder Hinsicht zu.

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der autobiografischen Bearbeitung ist jedoch das Auftreten von Geistern und Dämonen nicht vereinbar, da, die reale Lebenswelt des Autors Ellis vorausgesetzt, solche Erscheinungen unmöglich sind. Der Verfremdungseffekt erscheint zu krass für eine Autofiktion. Wird die Horrorgeschichte nicht als Allegorie auf die VaterSohn-Beziehung erkannt, ist der Bruch zu extrem, um die beiden Genres zu synthetisieren. Wie unter Kapitel 7.1 schon kurz angerissen, handelt es sich bei Lunar Park somit um einen genrebrechenden Roman, da er Konventionen des Horrorromans sowie der Autofiktion untergräbt. Andererseits liegt mit Lunar Park gleichzeitig ein genresynthetisierender Roman vor, da er trotz aller Widersprüche beide Aspekte in sich vereint. Trotz der Identifikation mit dem Protagonisten ist bei Lunar Park eines daher nicht gewährleistet: der sichere Umgang des Lesers mit dem Text. Die Wahl einer Horrorgeschichte für die Darstellung der traumatischen Vater-Sohn-Beziehung führt beim Leser zu Irritation und Befremden. Der Versuch, die Geschehnisse in Lunar Park unter Rückgriff auf sein literarisches Wissen zu naturalisieren, muss misslingen, da sich der Roman keiner der beiden Genrekategorien eindeutig zuordnen lässt. So wird durch das Spiel mit Genrekonventionen der Leser herausgefordert: Seine Position zum Text wird durch widersprüchliche Reaktionen bestimmt. Während es einerseits zum ersten Mal möglich ist, sich mit dem Protagonisten der Geschichte zu identifizieren, sich in ihn einzufühlen, also erstmals das Credo der verweigerten Einfühlung abgelöst wird, ist es hingegen nicht möglich, den Text eindeutig zu kategorisieren. Die Hybridität des Textes hemmt eine endgültige Identifizierung des Lesers mit dem Text, weil die Zusammenführung der Genres nur funktionieren kann, wenn der erzählerische Trick der Allegorie erfolgreich entschlüsselt wird. Selbst wenn dies gelingt, bleibt beim Leser Irritation über das Gelesene zurück. Dieses Resultat wird vor allem durch die zahlreichen Doppelungen im Roman erzeugt: Das Spiel mit Alter Egos, Doppelgängern, Doppeldeutigkeiten führt zu Verwirrung, Verunsicherung und Unbehagen. Ellis hat mit Lunar Park daher nur den Spieß umgedreht: Auf subtile Weise gelingt es ihm auch in diesem Roman, den Leser vom Text zu entfremden.

7.4 E IN DRITTES

KLEINES

F AZIT

Wie das vorliegende Kapitel zeigen konnte, ist Ellis mit seinem fünften Roman Lunar Park eine ganze Bandbreite an Neuerungen gelungen: Er wendet sich thematisch und genremäßig neuen Ufern zu, baut die in Glamorama etablierte Charakterentwicklung differenzierter aus, gebraucht erstmalig eine emotionale Sprache mit einem Mix aus Emotionsworten und Beschreibungen somatischer Reaktionen, lässt eine Identifizierung des Lesers mit dem Protagonisten zu, verhindert statt dessen aber eine eindeutige Kategorisierung des Textes. Dabei bleibt er aber auch altge-

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dienten Mustern treu: Mit einer Persiflage auf das Vorstadtleben übt er Kritik an der amerikanischen Gesellschaft;75 die bereits in The Rules of Attraction aufgeworfene und in allen nachfolgenden Romanen immer schärfer gestellte Frage nach der subjektiven Perzeption der Realität wird mit der Horrorgeschichte auf eine neue Ebene geführt. Flory spricht bei diesen beiden Motiven von zwei Hauptsträngen, die das Gesamtwerk Ellis’ durchzögen.76 Maßgeblich für diese Arbeit ist jedoch die neu aufgestellte Emotionalität, durch die Lunar Park besticht. In diesem entscheidenden Punkt weicht der Roman grell von seinen Vorgängern ab, was der Tatsache geschuldet sein mag, dass Ellis mit Lunar Park autobiografische Erfahrungen verarbeiten wollte. Die Romanfigur Bret mag sich gegenüber seinen Mitmenschen verantwortungslos, kaltherzig, desinteressiert oder egoistisch benehmen – affektlos ist er hingegen nie. Ganz im Gegenteil, wird doch sein Verhalten vor allem durch unverarbeitete Affekte aus Kindheit und Jugend bestimmt. Auch als emotionslos lässt sich Bret nicht beschreiben, da er, im Gegensatz zu Clay, seine Emotionen ganz klar zu benennen vermag. Bei Bret handelt es sich demnach um Ellis’ fortgeschrittensten, ausgereiftesten und elaboriertesten Erzähler, der sich selbst kennt und dies auch in Worte zu fassen im Stande ist. Dass es trotzdem nicht zu einer vollständigen Identifizierung kommen kann, ist einem erzählerischen Trick des Autors zu verdanken, der zwei miteinander unvereinbar scheinende Genres kombiniert: die Autofiktion und die „horror fiction“. Wie Kapitel 7.2.2 darlegen konnte, kann die Horrorgeschichte als Allegorie auf die autobiografischen Traumata aus Kindheit und Jugend verstanden werden, so dass diese Operation schließlich die Verknüpfung der beiden Genres ermöglicht. Dennoch bleibt beim Leser durch das Brechen von Genrekonventionen und die damit verbundene Doppelungsstrategie Irritation und Entfremdung zurück. Damit reiht sich Lunar Park wiederum in den Gesamtkorpus von Ellis’ Werken ein, der es versteht, seine Leser auf verschiedenste Weise zu befremden, und der mit jedem Roman eine andere Ebene der Verstörung erreicht. Während Lunar Park also als Wendepunkt im Gesamtwerk gesehen werden muss, kehrt Ellis mit seinem bis dato letzten Roman Imperial Bedrooms zu seinen Wurzeln zurück. Sowohl stilistisch als auch inhaltlich wendet er sich seinen Anfängen zu: Im Zentrum steht erneut seine erste Romanfigur Clay, mittlerweile erwachsen. Aus dem verstörten, bemitleidenswerten Jungen ist inzwischen ein grausamer, affektloser Mann geworden, der die Eigenschaften von Ellis’ notorisch gefühlskalten Protagonisten auf die Spitze treibt. Wie das folgende Kapitel zeigen wird, ist Imperial Bedrooms damit als eine Hinwendung zu den etablierten Themen sowie als Rückkehr zum Minimalismus der frühen Jahre zu betrachten.

75 Baelo-Allué, Controversial Fiction, S. 179. 76 Flory, Out is in, S. 344.

8. Zurück in die Zukunft: Imperial Bedrooms

The most durable thing in writing is style, and style is the single most valuable investment a writer can make with his time. RAYMOND CHANDLER/RAYMOND CHANDLER SPEAKING

Der lakonische und minimalistische Erzählstil, der Ellis als jungen Autor berühmt machte, auf den er in seinen letzten beiden Romanen jedoch verzichtete, findet in seinem jüngsten Roman Imperial Bedrooms 1 seinen Höhepunkt. In Imperial Bedrooms verschmelzen die in Less Than Zero und American Psycho etablierten stilistischen Charakteristika des emotions- und affektlosen Erzählens zu einer Legierung, die einen Leseeffekt von Horror und Faszination erzielt. Dabei handelt es sich um eine Wiederbelebung des epigrammatischen Stils der Frühwerke, gleichzeitig jedoch um dessen Neuerfindung. Stilistisch betrachtet, ist Imperial Bedrooms dank der Kombination der Stilmerkmale von Less Than Zero und American Psycho der extremste Roman von Ellis. Doch auch inhaltlich sind neue Extreme zu verzeichnen. Ellis bleibt seinen Leitmotiven Drogen, Sex und Gewalt treu, verpackt diese allerdings in eine neue Form. Der Protagonist Clay, ein grausamer und von der Lust an Macht und Kontrolle getriebener Mann, hat nur noch wenig mit dem orientierungslosen und schutzbedürftigen Jungen aus Less Than Zero gemeinsam; was Clay dort passiv geschehen ließ, führt er nun aktiv aus. Die Parallelen zu Patrick Bateman aus American Psycho sind ebenfalls nur oberflächlich. Zwar zeichnet sich auch Imperial Bedrooms durch ausgeprägte Gewalt aus, die Hauptfigur ist jedoch kein pathologischer Serienmörder. Ihre Handlungen übertreten die Grenze des moralisch Vertretbaren, berühren die Grenze zum Illegalen, überschreiten sie gar ins Strafbare – dennoch ist Clay ein erschreckend normaler Typ.

1

Von nun an mit der Sigle IB versehen.

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Ellis’ letzter Roman Imperial Bedrooms ist damit in Stil und Inhalt an vergangenen Erfolgen orientiert, gleichzeitig aber in der Figurenkonzeption radikal und innovativ. Das vorliegende Kapitel macht es sich zur Aufgabe, diese neue Radikalität herauszuarbeiten und im Vergleich mit und in Abgrenzung zu Less Than Zero und American Psycho zu untersuchen.

8.1 E INE ÄSTHETIK DER E XTREME Ellis’ jüngster Roman Imperial Bedrooms wurde geschrieben und vermarktet als Sequel zu Less Than Zero.2 Tatsächlich kehrt der Protagonist Clay, nun erwachsen und ein erfolgreicher Drehbuchautor, über Weihnachten in seine Heimatstadt Los Angeles zurück und trifft alte Freunde – soweit deckt sich die Rahmenhandlung mit dem Erstling. Jedoch handelt es sich bei Imperial Bedrooms weniger um eine Fortsetzung als vielmehr um ein „complex remake of the original book“.3 Colby bezeichnet den Roman als „self-reflexive echo of Less Than Zero“ 4 und verweist damit auf die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen beiden Romanen. Dieser unpräzise Terminus, der Imperial Bedrooms auf einen Nachhall des Debütromans reduziert, soll an dieser Stelle jedoch verabschiedet und durch den narratologisch treffenderen Begriff der Überschreibung ersetzt werden. Im Folgenden werden die Parallelen und Unterschiede zwischen den Romanen knapp beleuchtet. 8.1.1 Imperial Bedrooms als Überschreibung von Less Than Zero Bereits der Titel weist eine Verbindung zum Debütroman auf. Bei Imperial Bedrooms handelt es sich, ebenso wie bei Ellis’ Erstling, um ein Zitat: Der Titel ist dem Album Imperial Bedroom entlehnt, das der britische Rocksänger Elvis Costello 1982 veröffentlichte. Das Album ist eine Fortsetzung zu dem 1981 erschienenen Album Trust, von dem Clay in seinem Jugendzimmer ein Poster hängen hat (LTZ, S. 11). Sowohl bei dem Album als auch bei dem Roman handelt es sich um Fortsetzungen. Die erneute Wahl Elvis Costellos als kulturelle Referenz im Titel deutet ebenfalls auf eine inhaltliche und stilistische Nähe voraus. Colby merkt darüber hinaus an, dass der Titel Imperial Bedrooms auch als Kritik gelesen werden könne. Stand der Buchtitel in Less Than Zero für die emotionale Verwahrlosung der Romanfiguren, spielt er nun, so Colby, auf die sexuelle Ausbeutung in der HollywoodFilmindustrie an:

2

Colby, Underwriting, S. 165.

3

Ebd.

4

Ebd., Hervorhebung im Original.

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„As the title suggests, sexual relations function in Imperial Bedrooms as objective correlatives of American neoimperial relations. The sexual politics of the novel reflect an imperialist discourse between those in the movie industry, producers, and directors who hold the power of entry into their world, and actresses and actors who need to obtain a part in the movies to gain access into that world. Clay’s relations with the aspiring actresses are exemplary of the exploitative relations.“5

Der Titel deutet also bereits sexuelle Verwicklungen an, die in ihrer Ausbeutungsstruktur dem Protagonisten zum Vorteil gereichen. Er als Drehbuchautor und mächtige Person der Hollywood-Maschinerie ist in der Lage, jungen bedürftigen Schauspielerinnen Rollen in seinen Filmen gegen Sex zu vermitteln. Diese Position nutzt Clay, wie die Handlung zeigt, eiskalt aus. Somit liegt auch im Titel dieses Romans bereits implizit der Hinweis auf die Affektlosigkeit des Protagonisten versteckt. Auch durch die dem Roman vorangestellten Zitate wird eine Verbindung zu Less Than Zero eröffnet. Das erste Epigraf ist Elvis Costellos Song „Beyond Belief“ vom titelgebenden Album Imperial Bedroom entnommen:„History repeats the old conceits, / the glib replies, the same defeats…“ (IB, S. XI) Diese Ankündigung verweist auf die inhaltliche Nähe der beiden Romane und beinhaltet das Versprechen, die alte Geschichte aufzubereiten. So werden neben den Leitmotiven des Debütromans selbst die repetitiv eingesetzten Leitsätze aus Less Than Zero aufgegriffen und variiert:6 „Disappear here“ steht als Warnung auf Clays Badezimmerspiegel (IB, S. 104); der einprägsame erste Satz aus Less Than Zero „People are afraid to merge“ kehrt in abgewandelter Form als letzter Satz in Imperial Bedrooms wieder: „I never liked anyone and I am afraid of people.“ (IB, S. 169) Sogar auf Clays Bedürfnis, das Schlimmste zu sehen („I want to see the worst“, LTZ, S. 172) wird erneut eingegangen. Seine Affäre Rain Turner fragt ihn, „What’s the worst thing you’ve ever done?“ (IB, S. 59) und später, „What’s the worst thing that ever happened to you?“ (IB, S. 120) Damit wird Clays Bedürfnis, das Schlimmste zu sehen, einerseits umgewandelt in das Verlangen, das Schlimmste zu tun, was eine Charakterwende vom Beobachter zum Täter andeutet. Andererseits zeigt die Frage Rains eine Wende in der Geschichte auf: Clay ist nicht nur Täter, sondern auch Opfer – das Schlimmste widerfährt ihm selbst. Das zweite Epigraf markiert eine Neuerung. Das Zitat stammt aus Raymond Chandlers 1953 erschienenem Roman The Long Goodbye: „There is no trap so deadly as the trap you set for yourself.“ (IB, S. XI) Chandler gilt heute als wichtiger Schriftsteller der „hard-boiled fiction“. Dabei handelt es sich um ein Sub-Genre der „detective fiction“, das in den 1920er Jahren entstand und seine Blütezeit in den 5 6

Ebd., S. 172, Hervorhebung im Original. Auch Baelo-Allué geht kurz auf die Wiederkehr der Leitsätze ein. Baelo-Allué, Controversial Fiction, S. 191f.

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1930er Jahren hatte.7 Philipps erklärt den ungewöhnlichen Namen dieses Genres folgendermaßen: „Hard-boiled fiction was so named because the tough detective-hero developed a shell like a hard-boiled egg in order to protect his feelings from being bruised by the calloused and cruel criminal types he often encountered.“8

Durch das Romanzitat verknüpft Ellis seinen jüngsten Roman einerseits mit dem Genre der „hard-boiled fiction“, rückt seinen Protagonisten Clay damit in die Position des Detektivs, der ein Rätsel lösen muss. Andererseits zeichnet sich die „hardboiled fiction“ durch einen unsentimentalen Umgang mit Sex und Gewalt aus und ist weniger interessiert an der tatsächlichen Lösung des Rätsels als vielmehr an der Darstellung des Detektivs bei seinen Begegnungen mit den Widernissen der modernen Gesellschaft.9 So verwundert es kaum, dass Imperial Bedrooms keine endgültige Lösung eines Rätsels präsentiert, sondern die Andeutung zum Stilverfahren macht. Dementsprechend bleiben nicht nur die zahlreichen Mordfälle in Imperial Bedrooms ungelöst, für deren Aufklärung es zwar Indizien, aber keine Beweise gibt, sondern auch der Charakter des Protagonisten lässt sich nicht entschlüsseln und bleibt schleierhaft.10 Hinzu kommt die im Genre angelegte Gefühllosigkeit des Helden. Im Gegensatz zu dem Jungen aus Less Than Zero, der seine emotionslose Haltung als Schutzfunktion zur Abwendung von Schmerz einsetzte, und dem klassischen Detektiv der „hard-boiled fiction“, der seine Gefühllosigkeit zum Schutz gegen den Sumpf der Kriminalität benötigt, braucht der Protagonist in Imperial Bedrooms keinen Schutz gegen Verletzung, Entsetzen oder Korruption. Der erwachsene Clay handelt affektlos, weil dies in seinem Charakter angelegt ist. Darüber hinaus kann das Zitat nicht nur auf der referentiellen, sondern auch auf der kontextuellen Ebene gedeutet werden: Die Rede ist von einer tödlichen Falle, die man sich selbst stellt. Dies verweist einerseits wiederum auf den Roman als 7

Philipps, Gene D.: Creatures of Darkness. Raymond Chandler, Detective Fiction and Film Noir. Lexington: The University Press of Kentucky 2000. S. 2.

8

Ebd., S. 3.

9

Ebd., S. 2. Zur „hard-boiled fiction“ siehe weiter: Hamilton, Cynthia S. : Western and Hard-Boiled Detective Fiction in America. From High Noon to Midnight. Houndmills u.a.: MacMillan Press 1987 sowie McCann, Sean: Gumshoe America. Hard-boiled Crime Fiction and the Rise and Fall of New Deal Liberalism. Durham – London: Duke University Press 2000 und Knight, Stephen: „‚A Hard Cheerfulness‘: An Introduction to Raymond Chandler“ In: Brian Docherty (Hg.): American Crime Fiction. Studies in the Genre. Houndmills u.a.: MacMillan Press 1988.

10 S. hierzu Kap. 8.2, in dem die Leerstellen in Bezug auf die Charakterdarstellung Clays untersucht werden.

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Detektivgeschichte, in der Fallen gestellt werden, andererseits nimmt es bereits das Ende des Romans vorweg: Auch Clay wird in einer Falle sitzen, aus der er sich nicht mehr wird befreien können. Die Unterschiede zu Less Than Zero sind augenfällig: Bei Imperial Bedrooms handelt es sich nicht mehr um einen postmodernen Adoleszenzroman, sondern der Text spielt mit Genrekonventionen der „hard-boiled fiction“.11 Ferner deutet sich schon vor Romanbeginn eine Charakterwende beim Protagonisten an, der vom Beobachter zum Täter avanciert, vom schutzbedürftigen Jungen zum affektlos agierenden Mann. Und noch ein weiterer Unterschied sticht hervor: Zwar zeichnet sich auch Imperial Bedrooms durch extrem kurze Kapitel aus, 12 besteht genauso wie Less Than Zero entweder aus fast elliptisch erscheinenden kurzen Sätzen oder regelrechten Schlangensätzen, die mit der Konjunktion „and“ verbunden werden, verwendet hauptsächlich das „simple present“ oder das „present continuous“. 13 Während Less Than Zero jedoch nur aus Fragmenten besteht, die in einer scheinbar willkürlichen Ordnung organisiert sind und kausale Verknüpfungen vermissen lassen, hat Imperial Bedrooms eine durchgehende Handlung.14 Damit bleibt Ellis trotz der stilistischen und inhaltlichen Rückkehr zu seinem Debütroman den Veränderungen der letzten Romane Glamorama und Lunar Park treu. Kurz zum Inhalt: Clay, nun Mitte 40 und wohnhaft in New York, kommt anlässlich eines Castings für seinen neuen Film The Listeners,15 für den er das Drehbuch verfasst hat und als Produzent tätig ist, über die Weihnachtsfeiertage nach Los Angeles. Dort trifft er seine Freunde aus Jugendtagen wieder: Seine Ex-Freundin 11 Der Gattung des Detektivromans selbst lässt sich der Roman allerdings nicht zuordnen, da der klassische Detektiv letztlich fehlt. Die Rolle des Detektivs wird nur zitiert, von der Hauptfigur jedoch nicht übernommen. 12 Mit einer durchschnittlichen Kapitellänge von 1,4 Seiten sind die Kapitel sogar noch kürzer als die aus Less Than Zero. 13 Baelo-Allué verweist ebenfalls knapp auf diese Gemeinsamkeiten (Baelo-Allué, Controversial Fiction, S. 192). 14 Ebd., S. 193. 15 Sowohl Colby als auch Baelo-Allué sehen hier eine Rekurrierung auf frühere Texte, insbesondere Ellis’ Kurzgeschichtensammlung The Informers. Clay bemerkt zu seinem neuen Film „there’s a vampire in it“ (IB, S. 21), was Colby als Abruf der „vampire trope of Ellis’s [!] earlier novels“ sieht (Colby, Underwriting, S. 179). Dies kann nur auf The Informers bezogen sein, in der es eine Kurzgeschichte gibt, die von einem Vampir handelt („The Secrets of Summer“, TI, S. 202-226). Auch Baelo-Allué ist der Meinung, The Listeners sei „remarkably similar to The Informers“ (Baelo-Allué, Controversial Fiction, S. 190, Hervorhebung im Origial), geht jedoch nicht näher darauf ein, worin diese Ähnlichkeiten bestehen sollen. M.E. nach ist die Erwähnung eines Vampirs als einziger Beleg für eine Adaption von The Informers ein recht invalides Indiz.

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Blair ist mittlerweile mit seinem alten Kumpel Trent Burroughs, einem erfolgreichen Hollywood-Agenten, verheiratet. Julian Wells, seit einem Jahr clean, führt einen exklusiven Callgirl/-boy-Ring, der aspirierende Schauspieler und Schauspielerinnen an zahlungskräftige Kunden vermittelt. Rip Millar, von zahlreichen Schönheits-OPs geradezu entstellt, ist im Immobiliengeschäft tätig und hat wechselnde Affären mit blutjungen Mädchen. Mit seinen alten Bekanntschaften, die untereinander eher verfeindet als befreundet sind, taumelt Clay, mittlerweile Alkoholiker, von Party zu Party. Auf einer dieser Partys lernt Clay die junge und recht erfolglose Schauspielerin Rain Turner kennen, mit der er kurz darauf eine Affäre beginnt. Mit dem Versprechen, ihr eine Rolle in The Listeners zu verschaffen, lockt er sie ins Bett. Allerdings stellt sich nach kurzer Zeit heraus, dass Rain eigentlich die feste Freundin von Julian ist, der sie in seinem Callgirl-Ring sowohl mit dem zwischenzeitlich ermordeten Hollywood-Produzenten Kelly Montrose als auch mit Rip Millar verkuppelt hat, um eine Filmrolle für sie herauszuschlagen. Clay ist nur der nächste auf der Liste, der Rain Hollywood-Ruhm verschaffen soll. Rip jedoch ist so vernarrt in Rain, dass er auch vor Mord nicht zurückschreckt, um sie für sich zu gewinnen: Mutmaßlich verantwortlich für das Verschwinden und den Foltermord an Kelly Montrose, veranlasst er auch die Ermordung von Julian Wells, bei der Clay sich als Verschwörer mitschuldig macht. Mit dem Wissen um Rips buchstäbliche Bereitschaft, über Leichen zu gehen, liefert er Julian an ihn aus. Das Problem: Die Rache an Julian und Rain hat einen hohen Preis. Clay als Sündenbock missbrauchend, inszeniert Rip Clays Hauptschuld an der Ermordung Julians, indem er den Mord an Julian filmen und als Voice-Over eine Anrufbeantworternachricht Clays ablaufen lässt, in der er Julian droht, ihn umzubringen. Clay braucht dringend ein Alibi. Das bietet ihm Blair, mit der er vor zwei Jahren eine Affäre hatte, die er kaltschnäuzig beendete und Blair das Herz brach. Das Alibi gewährt Blair jedoch nicht, ohne etwas von Clay zu verlangen: sexuelle Gefälligekeiten. So verkauft Clay sich schlussendlich selbst. Das Romanende zeigt, dass Clay nicht nur Täter, sondern auch Opfer seiner eigenen Intrige ist. Die Falle, die er Julian Wells gestellt hat, entpuppt sich als seine eigene. Damit schließt sich der Kreis zum Eingangszitat von Chandler, aber auch zu den ersten sechs Kapiteln des Romans, die in einem metafiktionalen Einstieg Less Than Zero und dessen Verfilmung beleuchten. Überraschenderweise teilt Clay nämlich mit, dass der Erzähler aus Less Than Zero gar nicht er selbst gewesen sei, sondern ein Bekannter, der sich für Clay ausgegeben und aus seiner Perspektive die Erlebnisse der vier Wochen rund um Weihnachten 1984 geschildert habe. Clay kommentiert diesen Umstand wie folgt: „That’s how I became the damaged party boy who wandered through the wreckage, blood staining from his nose, asking questions that never required answers. That’s how I became the

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boy who never understood how anything worked. That’s how I became the boy who wouldn’t save a friend. That’s how I became the boy who couldn’t love the girl.“ (IB, S. 3f.)

Obwohl Clay zugibt, dass die Fakten im Roman korrekt gewesen seien (IB, S. 3f.), fühlt er sich offensichtlich falsch dargestellt. Auffällig an dieser Textstelle ist die Benutzung der Anapher, die trotz der Abgrenzung zu der literarischen Darstellung Clays in Less Than Zero eine Nähe zwischen dem jungen vermeintlichen Nachahmer und dem älteren Original herstellt. So hatte der junge Clay sich ebenfalls anaphorisch verwendeter Leitsätze bedient, so dass an dieser Stelle zumindest eine stilistische Parallele zwischen beiden Erzählern erzeugt wird. Colby deutet diese Textstelle folgendermaßen: „Clay’s use of anaphora parallels Clay’s use of negative anaphora that he used to identify himself at the outset of Less Than Zero. Defining himself against the writer’s portrayal of him, Clay’s textual authority diminishes as the gap between Clay of Imperial Bedrooms and Clay of Less Than Zero is collapsed through the anaphoric repetition. Furthermore, replace “boy” with “man” in this passage and the description reads as an outline of his character in the central narrative of Imperial Bedrooms.“16

Erstens sieht Colby keinen eklatanten Unterschied zwischen dem jungen und dem älteren Clay, da der Ich-Erzähler sich durch die Verwendung der Anapher selbst verrät und dadurch Gemeinsamkeiten zugibt, die er auf der Kontextebene verneint. Zweitens versteht sie diese Textstelle treffend als Zusammenfassung der Handlung von Imperial Bedrooms. Clay offenbart sich damit bereits auf den ersten Seiten des Romans als Opfer und als Täter: Er empfindet sich als Opfer einer Fehldarstellung, die ihn in ein schlechtes Licht rückt; als Inhaltszusammenfassung von Imperial Bedrooms betrachtet, impliziert das Zitat jedoch Clays Täterschaft. Colbys Einwand, der Roman sei weniger als Fortsetzung und eher als vielschichtiges Remake von Less Than Zero zu betrachten, ist demnach gerechtfertigt. Obwohl der Roman in Titel und Inhalt, in Aufbau und Stil an Ellis’ Erstling angelehnt ist, ist er dennoch keine konsequente Fortführung, sondern eher eine komplexe Überarbeitung des Stoffes, in der die Handlung von Less Than Zero wiederaufbereitet wird. Die Überschreibung des Debütromans mit einer neuen Version lässt sich im Besonderen an den Handlungen der Hauptfigur, aber auch am Erzählstil des Textes nachweisen. Daher soll im Folgenden diesen beiden Aspekten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

16 Colby, Underwriting, S. 169, Hervorhebungen im Original.

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8.1.2 Affektloses Handeln Affektloses Handeln ist ein Handeln ohne emotionalen Beweggrund. In die Kategorie der affektlos agierenden Protagonisten fallen Patrick Bateman, der ohne affektive Motivation grausame Foltermorde begeht, und Victor Ward, der bei vorgetäuschter Emotionalität letztendlich doch nichts fühlt. Auch Clay in Imperial Bedrooms lässt sich dieser Kategorie des affektlosen Protagonisten zuordnen. Beispielhaft dafür sollen zwei Handlungsstränge des Romans untersucht werden, die seine emotionale Kälte und sein affektloses Agieren demonstrieren: Clays Affäre mit Rain Turner und das Verhältnis zu seinem alten Jugendfreund Julian Wells. Der Fall Rain Turner Die Affäre mit der jungen Schauspielerin Rain Turner baut von Beginn an auf einer Lüge auf: Clay lockt sie ins Bett mit dem Versprechen, ihr eine Rolle in seinem Film The Listeners zu verschaffen, obwohl er sehr wohl weiß, dass Rain für diese Rolle nicht in Frage kommt: „she’s too old for the part she thinks she’s going to get.“ (IB, S. 57) Hoffnungsvolle, erfolglose junge Schauspielerinnen zu manipulieren und zu kontrollieren, ist für Clay ein wohlbekanntes Spiel. Er weiß um die Bedürftigkeit unbekannter Schauspielerinnen und kennt sich im HollywoodBusiness gut genug aus, um zu wissen, dass hübsche neue Gesichter, die es allzu zahlreich in Hollywood gibt, einen Fürsprecher brauchen, um den Aufstieg zu schaffen. So inszeniert sich der Protagonist als Fürsprecher junger, unerfahrener Schauspielerinnen, um diese Position zu seinem Vorteil auszunutzen: „Her need is so immense that you become surrounded by it; this need is so enormous that you realize you can actually control it, and I know this because I’ve done it before.“ (IB, S. 52f.) Es geht Clay nie darum, seine Bettgespielinnen wirklich in einem Film unterzubringen, sondern sie aufgrund ihrer Abhängigkeit zu ihm und ihrer Gutgläubigkeit zu kontrollieren. Daraus zieht er lustvollen Genuss. Dies zeigt sich in seinem Verhältnis zu Rain in voller Ausprägung. Zu Beginn der Beziehung scheinen die Fronten noch klar verteilt und auch Rain scheint sich des Ausnutzungsverhältnisses voll bewusst zu sein. Mehr noch: Sie übernimmt aktiv eine Rolle und wettet an der SexFilmrollen-Börse mit. „We sit in my office naked, buzzed on champagne, while she shows me pics from a Calvin Klein show, audition tapes a friend shot, a modeling portfolio, paparazzi photos of her at Blist events […] and then it always seems we’re back in the bedroom. ‚What do you want for Christmas?‘ she asks. ‚This. You.‘ I smile. ‚What do you want?‘ ‚I want a part in your movie,‘ she says. ‚You know that.‘“ (IB, S. 53)

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Der Preis ist also klar, beide Parteien haben ihr Angebot gemacht: Clay kriegt Sex gegen eine Filmrolle, Rain kriegt eine Filmrolle gegen Sex. Um ihren Wert zu steigern, schickt Rain Clay sogar Nacktfotos von sich (IB, S. 41f.) und zeigt damit ihre generelle Bereitschaft, ihren Körper als Ware zu handeln. Diese scheinbar ebenbürtige Verhandlung17 kippt jedoch ins Ungleichgewicht, als Clay herausfindet, dass Rain eigentlich die feste Freundin seines alten Freundes Julian Wells ist und sich als Callgirl für ihn prostituiert. Julian hat Clay und Rain zusammengebracht, um ihr eine Rolle in Clays Film zuzuschustern – Rain verkauft sich nicht nur für eine Filmrolle, sie wird vielmehr für eine Filmrolle verkauft. Clays Reaktion: Er nötigt Rain mit der Drohung, ihre Filmrolle platzen zu lassen, zum Sex. „When she arrives at my place, newly bronzed, her hair blown out, she’s wearing a strapless dress, but I’m still in a robe, drinking vodka, stroking myself. She doesn’t want to have sex. I turn away and tell her I’m not going [zu einer Party, von der Clay versprochen hat, Rain den Produzenten des Films vorzustellen, Anm. d.Verf.] if we don’t. She downs two shots of Patrón in the kitchen and then strides into the bathroom and takes off her dress […]“ (IB, S. 89)

Noch fügt sich Rain ohne Diskussion Clays Befehl. Dass sie Tequila trinkt, um die Situation erträglicher zu machen, illustriert jedoch, dass sie nicht aus freien Stücken gehorcht. Um seine Machtposition ihr gegenüber auszubauen, konfrontiert Clay sie kurz darauf mit seinem Wissen über die Beziehung zu Julian und genießt ihre Hilflosigkeit. „‚You’re panicking.‘ I smile, pulling away from her. ‚Look at this: you’re really panicking.‘ ‚Listen, I’ll do whatever you want,‘ she says. ‚What do you want? Just tell me what you want and I’ll do it.‘“ (IB, S. 91)

Diese beiden Textstellen zeigen, dass Clay sich in der Rolle des Mächtigen gefällt. Er bedient sich der Handlungsdimension der Macht, um Rain zu kontrollieren und zu Handlungen zu zwingen. Triumphierend ergötzt er sich an den negativen Emotionen, die er damit bei ihr generiert. Panik in ihr auszulösen, freut ihn, da er durch diesen Spielzug ihre Abhängigkeit zu ihm vergrößert hat und sein Spiel mit Kontrolle und Manipulation dadurch eine neue Ebene erreicht: Das scheinbar gegenseitige Ausnutzungsverhältnis wird zu einem offensichtlich einseitigen Ausbeutungsverhältnis, in dem Rain für ihren hohen Einsatz keine Gegenleistung erhält. Der

17 Dass die Verhandlung nur scheinbar ebenbürtig ist, zeigt das oben angeführte Zitat, in dem Clay offenbart, dass er seinen Preis nicht zahlen will: Rain ist keine Option für die zu besetzende Rolle.

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Protagonist findet immer mehr Gefallen an dem Spiel, je höher Rains Einsatz ist und je größer seine Gewissheit, sie kontrollieren zu können: „‚I’ll make a call to Mark. I’ll make another call to Jon. I’ll call Jason.‘ I pause. ‚And then I’ll cancel everything.‘ She immediately moves into me and says she’s sorry and then she’s guiding me toward the bedroom and this is the way I always wanted the scene to play out and then it does and it has to because it doesn’t really work for me unless it happens like this.“ (IB, S. 119)

Es wird deutlich, dass Clay schließlich die Kontrolle über seine Gespielin braucht, um überhaupt Erregung zu empfinden. Dies zeigt der Nebensatz „it has to because it doesn’t really work for me unless it happens like this.“ Der Protagonist hat sich in seinem System aus Manipulation und Kontrolle selbst vom Funktionieren dieses Systems abhängig gemacht. Ohne das Gefühl, seine Partnerin unterwerfen und beim Sex beherrschen zu können, ist Lust für Clay nicht möglich. Dieses Bedürfnis geht soweit, dass Clay die Grenze zwischen Nötigung und Vergewaltigung überschreitet und die nach dem Verschwinden Julians verzweifelte Rain auf dem Fußboden seines Apartments missbraucht (IB, S. 155). Die Vergewaltigung als ultimative Form der Kontrolle über einen anderen Menschen ist letztlich die Konsequenz aus dem Kreislauf aus Macht, den Clay in der Beziehung zu Rain aufgebaut hat. Hier zeigt sich Clays Charakterwende vom Beobachter zum Täter: Hatte er in Less Than Zero gegen die Vergewaltigung eines zwölfjährigen Mädchens zögernd protestiert und sogar die Beobachterhaltung durch das Verlassen des Zimmers aufgegeben, wird er nun selbst zum Täter und führt die Handlungen aus, die er als junger Mensch zaghaft zurückwies. In seinem Verhältnis zu Rain erweist sich Clay als affektlos agierender Protagonist. Er setzt die Handlungsdimension der Macht gezielt ein, um die junge Frau zu kontrollieren und zu demütigen, erzeugt eine Spirale aus Abhängigkeit und negativen Emotionen bei ihr, die ihm erlauben, seine Position als Mächtiger zu stärken und ihre Position zu schwächen. Dies wiederum erhöht ihre Abhängigkeit von Clay. Der Protagonist hat damit einen Kreislauf geschaffen, in dem die sich gegenseitig bedingenden Faktoren der Abhängigkeit und der negativen Emotionen für Rain nicht zu überwinden sind. Dabei hält Clay durchgängig eine Haltung der verweigerten Einfühlung aufrecht: „Afterwards she says she feels disconnected from reality. I tell her it doesn’t matter.“ (IB, S. 27) Obwohl für ihn kognitiv nachvollziehbar ist, was sein Verhalten in den jungen Schauspielerinnen auslöst, interessiert ihn dies nicht. Die Affektlosigkeit, die sich in der Beziehung zu Rain Turner schon äußert, verfestigt sich im Hinblick auf Julian Wells. Während Clay sich Rain gegenüber grausam verhält, da er durch die Kontrolle über sie einen Lustgewinn erzielt, ist für seinen Verrat an Julian kein affektiver oder triebhafter Beweggrund erkennbar.

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Clays affektloses Verhalten erreicht im Verrat an Julian eine erbarmungslose Klimax. Der Fall Julian Wells Schon zu Romanbeginn wird auf das tragische Ende von Julian Wells verwiesen, an dem sich Clay mitschuldig macht. Nachdem der Ich-Erzähler die Romanverfilmung von Less Than Zero kritisch beleuchtet und den recht kitschig-pathetischen Tod der Filmfigur Julian bemängelt hat, verkündet er: „The real Julian Wells didn’t die in a cherry-red convertible, overdosing on a highway in Joshua Tree while a choir soared over the sound track. The real Julian Wells was murdered over twenty years later, his body dumped behind an abandoned apartment building in Los Feliz after he had been tortured to death at another location.“ (IB, S. 9)

Auf dieses nüchterne Statement folgt eine Beschreibung der Leiche Julians, die von einigen Studenten gefunden und auf den ersten Blick für eine zerknüllte amerikanische Flagge gehalten wird: Das Weiß und Rot erklärt sich der Ich-Erzähler aus dem blutverschmierten weißen Anzug, das Blau aus dem blutleeren, fast schwarz verfärbten Gesicht des Toten. In dem Zeitungsartikel, den er zitiert, steht nur, die Studenten hätten ihren Fund für eine Flagge gehalten, die Begründung dafür erschließt Clay jedoch selbst und offenbart damit eine tiefergehende Kenntnis über den Mord an Julian: Dass der Anzug der Leiche nachträglich übergestreift wurde, das Opfer am Tag der Verschleppung aber etwas anderes trug, dass die amerikanischen Farben aus der brutalen Misshandlung des Opfers entstanden,18 Detailwissen über die 18 Die Farben der amerikanischen Flagge mit einem Mordfall zu verknüpfen, ist als subtiler Trick des Autors zu verstehen, mit dem er, wie schon in seinen vorigen Romanen, Kritik an der bestehenden Gesellschaft der USA übt. Im Jahr 2010 erschienen und geschrieben unter dem Eindruck der Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2007 mit der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers in den Fokus des öffentlichen Interesses rückte, kann diese Verbindung als unterschwellige Kritik am Staat verstanden werden, der tausende Bürger nicht vor dem Absturz in die Armut bewahren konnte. Indem die amerikanische Flagge mit Tod und Zerstörung assoziiert wird, verurteilt Ellis damit den Umgang des Staats mit der Krise. Da die im Roman angelegte Gesellschaftskritik für die hier vorgeschlagene Interpretation nicht weiter von Bedeutung ist, wird auf eine tiefergehende Ausdeutung verzichtet. Kritische Aspekte des Romans können jedoch nachgelesen werden bei Colby, Underwriting, S. 165-188. Darüber hinaus kann die Verwendung der amerikanischen Flagge als ein Symbol mit hohem Zeichencharakter als intertextuelle Referenz auf das „American“ in American Psycho gedeutet werden. Zumindest zwischen den Foltermorden in Imperial Bedrooms und denen in American Psycho wird damit eine Ähnlichkeit unterstellt, die auf das Ausmaß der Grausamkeit der Taten verweist.

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Verletzungen – all dies steht nicht im Zeitungsartikel. Clay weiß diese Einzelheiten, denn: „I had put Julian there, and I’d seen what had happened to him in another – and very different – movie.“ (IB, S. 10) Damit bekennt Clay auf der einen Seite eine Mitverantwortung an der Ermordung Julians, auf der anderen Seite verweist er damit auf den Snuff-Film, der von dem Foltermord gedreht wurde und den er sich angesehen hat. Die oben zitierte Vorausdeutung auf Julians Tod und Clays kurz darauf eingeräumte Mitschuld daran lassen jedoch ein Schuldeingeständnis oder Reue vermissen. Die sachliche Beschreibung und die lakonische Bemerkung „I had put Julian there“ verdeutlichen drastisch Clays verweigerte Einfühlung, zumal ein affektiver Beweggrund für Clays tödlichen Verrat dem Leser vorenthalten wird. Die lapidare Äußerung illustriert nur, dass der Protagonist eiskalt geworden ist; er hat seine Passivität aus Less Than Zero abgelegt und beteiligt sich nun aktiv an der Vernichtung eines Menschen. Was auf den ersten Romanseiten nur angedeutet wird, wird im weiteren Handlungsverlauf zunehmend explizit: Der Filmproduzent Kelly Montrose, mit dem Rain eine Affäre hatte, nachdem sie sich mit Rip Millar einließ, wird ermordet, ebenso ihre Mitbewohnerin Amanda Flew, ebenfalls eine Ex-Affäre von Rip Millar, und von beiden Bluttaten wird ein Snuff-Video im Internet veröffentlicht. Die Spur führt zu Rip, den Clay im Verdacht hat, beide Morde in Auftrag gegeben zu haben, um den Weg zu seiner Angebeteten Rain frei zu machen. Obwohl der Protagonist erkannt hat, wie gefährlich Rip ist, lässt er sich auf einen Deal mit ihm ein. Nachdem er eingesehen hat, dass er sein Verhältnis mit Rain Turner nicht fortführen kann, da er sich andernfalls selbst zum Ziel von Rip macht,19 erklärt er sich bereit, Julian an Rip auszuliefern. Er arrangiert ein Treffen zwischen Rip und Julian, in dessen Verlauf Julian gekidnappt und anschließend zu Tode gefoltert wird. Warum Clay Rip bei seinem Plan hilft, wird jedoch nicht ersichtlich. Um sich selbst aus der Schusslinie zu bringen, wäre es ausreichend, einfach mit Rain Schluss zu machen. Rip sieht Clay ohnehin nicht als ernsthaften Konkurrenten um Rain: „‚I told you already I don’t view you as a threat,‘ Rip says. ‚You can keep doing whatever you want with her. I don’t care because you’re really not in the way.‘“ (IB, S. 127) Er weiß, dass Rain sich nur mit Clay eingelassen hat, weil sie sich eine Filmrolle von ihm erhofft. Verliebt ist sie hingegen in Julian. Aus diesem Grund sieht er Julian als die viel größere Bedrohung um Rains Gunst an: „‚But Julian… she likes him.‘ Rip pauses. ‚She’s just using you. Maybe that’s what gets you off. I don’t know. Will she get what she wants? Probably not. I don’t know. I don’t care. But 19 Rip spricht eine deutliche Warnung aus: „‚It just means I wanted to warn you,‘ he says. ‚You’ve officially been implicated.‘“ (IB, S. 130) Auch Trent weist Clay auf die Gefahr hin, sich weiterhin mit Rain Turner abzugeben: „As of now, you’ve officially made yourself a target.“ (IB, S. 141)

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Julian? For some reason that I can’t fathom she really likes him. […]‘“ (IB, S. 127, Hervorhebung im Original)

Die Entscheidung Clays, Julian an Rip auszuliefern, wird nicht unter Druck gefällt; weder wird er von Rip bedroht, noch verspricht Rip ihm etwas als Gegenleistung – Clay tut es einfach. Von diesem Entscheidungsprozess wird der Leser ausgeschlossen. Hier entsteht eine Leerstelle, die der Distanzerzeugung zwischen Leser und Protagonist dient. Indem die Teilhabe an dieser schwerwiegenden Entscheidung verwehrt wird, verhindert dies die Einfühlung des Lesers in den Erzähler. Clay bleibt undurchschaubar, unverstehbar. So begreift der Leser auch erst während der Entführung Julians, was die Hauptfigur gerade tut. Geschickt werden Clays Absichten zunächst verschleiert: Er empfängt Julian in seinem Apartment, verspricht ihm zu helfen, seine Schulden zu begleichen und die Flucht mit Rain zu unterstützen (IB, S. 145ff.). Erst als er erwähnt, Rip wolle noch einmal mit Julian sprechen, um Differenzen auszuräumen (IB, S. 147), keimt im Leser der Verdacht, dass Clays Intention nicht so fürsorglich ist, wie er vorgibt. Kurznachrichten, die Clay während des Treffens mit Julian erhält, untermauern diese Befürchtung: „I’m looking at the response I just received. Is he with you now? I text back: Give me the address. […] And then: You’ll bring him here? An address in Los Feliz appears on the screen barely a second after I text back: yes.“ (IB, S. 149, Hervorhebungen im Original)

Auch wenn Rip als Absender dieser Textnachrichten nicht benannt wird, ist für den Leser doch offensichtlich, dass Rip gerade die Auslieferung Julians an ihn überwacht.20 Clay fährt Julian zum mit Rip vereinbarten Treffpunkt und lässt ihn dort aussteigen. „Behind Julian three young Mexican guys are climbing out of the car into the circle of light from a lamppost. Julian notices them, only mildly annoyed, and then turns back to me. ‚Clay?‘ ‚Go fuck yourself.‘ The moment I say this Julian grabs the door I’ve already locked and for one moment he leans far enough into the car so that he’s close enough to touch my face, but the men pull him back and then he disappears so quickly it’s as if he was never here at all.“ (IB, S. 154)

20 Ein Telefonanruf Rips nach der gelungenen Entführung bestätigt diese Vermutung (IB, S. 155).

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Diese Beschreibung der Entführung ist nüchtern und emotionslos. Clay scheint nicht davon berührt zu werden, dass er gerade die Ermordung seines Schulfreundes in die Wege geleitet hat. Weder Emotionsworte noch Beschreibungen somatischer Reaktionen lassen auf eine affektive Beteiligung am Geschehen schließen.21 Einzig das Verb „to touch“, das hier im Sinne des Tastsinns verwendet wird, stellt eine Nähe zwischen dem Protagonisten und seinem Opfer her. Die verhinderte Berührung des Gesichts, das Streicheln, die Ohrfeige, implizieren eine Gefühlsebene, die durch die Doppelbedeutung des Verbs ausgelöst wird: Obwohl auf der Wortebene der Tastsinn referenziert wird, schwingt auf der Deutungsebene das emotionale Fühlen mit. Jedoch bleibt unbestimmt, auf welche Art der Berührung – die zärtlichfreundschaftliche oder die aggressiv-feindliche – hier angespielt wird. Damit muss auch die angedeutete Gefühlsebene unbestimmt bleiben. Im Gegensatz zu Less Than Zero, wo durch explizite somatische Beschreibungen die verborgene emotionale Ebene stets recht mühelos zu präzisieren war, lässt sich hier die Leerstelle nicht auffüllen. Darüber hinaus wird die Entführung als Verschwinden metaphorisiert. Mit Blick auf Less Than Zero klingt in diesem Satz auch die Identitätsangst an, unter der Clay als junger Mann litt („Disappear here“). Die Angst vor Identitätsverlust und Auslöschung hat Clay nur scheinbar überwunden; er sublimiert sie in einem Destruktionsverhalten, indem er Julian diese Auslöschung zufügt. Das Snuff-Video, das Clay einige Tage später anonym zugeht, bestätigt, dass es sich bei dem Foltermord an Julian nicht nur um einen brutalen Mord, sondern um die Vernichtung eines Menschen handelt. „They had drawn lines with a black marker all over his body – the ‚nonlethal entry wounds‘ as the Los Angeles County coroner’s officer was quoted in the Los Angeles Times article about the torture-murder of Julian Wells. These are the stab wounds that will allow Julian to live long enough to understand that he will slowly bleed to death. There are more than a hundred of them drawn all over his chest and torso and legs as well as his back and neck and the head which has been freshly shaved, […] and when Julian starts screaming, weeping for his dead mother, the video goes black. When it resumes Julian’s making muffled sounds and that’s when I realize they’ve cut out his tongue and that’s why his chin is slathered with blood, and then within a minute he’s blinded. In the final moments of the disk the sound track 21 Einzige Ausnahme: Clay stellt Julian als „mildly annoyed“ dar. Da sich dieses Emotionswort jedoch auf Julian und nicht auf Clay bezieht, ist seine Haltung als emotionslos zu verstehen. Selbst aus der Beschimpfung „Go fuck yourself“ ist nur wenig Information über Clays Verfassung zu ziehen. Indem auf die Beschreibung der Prosodie verzichtet wird, kann es sich sowohl um eine hasserfüllte, verächtliche Beleidigung, aber auch um eine matte Ankündigung des Kommenden handeln. Mit diesem Satz überlässt Clay Julian sich selbst – er ist vor allem als Abwendung von seinem Freund zu verstehen.

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is of the threatening message I left on Julian’s phone two weeks ago and accompanied by my drunken voice the hooded figures start punching him randomly with the knives, chunks of flesh splattering the floor, and it seems to go on forever until the cement block is raised over his head.“ (IB, S. 163f.)

Der Foltermord zeigt, dass es dabei um die vollständige Auslöschung eines Menschen geht: Ihm wird sein Recht auf Sprache genommen, seine Fähigkeit zu sehen, sein Körper wird in einen blutigen Fleischklumpen verwandelt, von Messern regelrecht filetiert, sein Gesicht mit einem Zementblock zerschlagen und unidentifizierbar gemacht. Bei diesem Mord geht es nicht nur darum, jemanden möglichst grausam zu Tode zu bringen und größtmöglichen Schmerz zu erzeugen: Es geht darum, das Opfer zu entmenschlichen, zu verdinglichen zu einem Stück Fleisch, das zerlegt wird, ihm seine Identität zu rauben. Nicht ohne Grund war die Leiche so entstellt, dass sie mit einer Flagge, einem Ding, verwechselt wurde. Die Angst, die Clay in Less Than Zero vor dem Verlust der Identität verspürte, setzt er nun als Mithelfer an Julians Ermordung konsequent in Taten um: Er beteiligt sich aktiv an der Tilgung seines Freundes. Bis zum Romanende wird er dem Leser allerdings keinen Grund für den Verrat liefern. Er zieht nicht einmal lustvollen Gewinn aus der Beobachtung des Mordes. Noch einmal macht er sich zum Voyeur bei Julians ultimativer Erniedrigung; während er bei der Demütigung Julians durch den Freier in Less Than Zero aus seinem Voyeurismus jedoch Befriedigung zog, bringt ihm der Voyeurismus bei der Entmenschlichung Julians keinen Genuss, nicht einmal Abscheu. So erweist sich Clay als der absolut affektlos agierende Protagonist: Weder werden affektive Beweggründe erkennbar für den Verrat an Julian, noch löst der Voyeurismus eine emotionale Reaktion aus. Baelo-Allué bemerkt zu Clays Entwicklung: „Clay becomes the villain […] crossing the line between detective and criminal.“ 22 Auf der einen Seite ist die Aufgabe des Protagonisten in der Rolle des Detektivs, das Rätsel um Kelly Montroses Tod zu lösen. Zwar gelingt es ihm nicht vollständig, den Mord aufzuklären, jedoch kann er die Verbindung zu Rip Millar ziehen und erkennen, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach für den Mord verantwortlich ist. Auf der anderen Seite wird er selbst zum Vergewaltiger und sogar zum Mittäter bei einem Mord. BaeloAllué stellt weiter fest: „At the beginning of the novel Clay complains that the author in Less Than Zero turned him into the boy ‚who wouldn’t save a friend‘ and ‚couldn’t love the girl‘. At the end of Imperial Bedrooms this is what he becomes.“23 Hierin geht sie mit Colby konform, die vorschlägt, besagte Textstelle, auf die Baelo-Allué sich bezieht, als Zusammenfassung von Clays Charakter zu verstehen. Diese Interpretation geht meines Erachtens jedoch nicht weit genug. Der Pro22 Baelo-Allué, Controversial Fiction, S. 196. 23 Ebd., Hervorhebungen im Original.

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tagonist ist nicht einfach nur ein Schurke oder gemeiner Krimineller, er ist nicht einfach eine Person, die einen Freund nicht rettet und das Mädchen nicht lieben kann. Er ist ein Mensch ohne Gewissen, ohne Moral, der Frauen ausnutzt, der einen Freund in vollem Bewusstsein seiner Hinrichtung ausliefert und das einfach nur – weil er es kann. Hier wird der Unterschied zu Patrick Bateman deutlich. Die Taten von Bateman sind zwar schlimmer, da sie über Vergewaltigung und Mittäterschaft an einem Mord weit hinausgehen, jedoch ist die Hauptfigur aus American Psycho ein Serienmörder – ein Mörder muss morden. In der Konzeption der Figur als Serienkiller ist es unausweichlich, dass Bateman seine Taten begeht. Auch wenn Batemans Morde unverstehbar bleiben und bleiben sollen, ist doch klar, dass er aus einem Zwang heraus handelt. Patrick Bateman hat keine Wahl. Clay jedoch hat die Wahl durchaus. Er handelt weder aus Zwang noch aufgrund äußeren Drucks oder innerer Triebe. Clay handelt einfach, ohne affektiven Beweggrund oder emotionale Motivation. Damit erweist er sich als der ultimativ affektlose Protagonist. 8.1.3 Stil: Affektloses Erzählen Die in Less Than Zero etablierte monotone Erzählweise, die aus vornehmlich kurzen, fast elliptischen Sätzen oder aus extrem langen, durch die Konjunktion „and“ miteinander verbundenen Teilsätzen besteht, wird in Imperial Bedrooms wiederbelebt. „The cell vibrates in my pocket. I glance at it curiously. A text from Julian, a person I haven’t had any contact with in over a year. When do you get back? Are you here? Wanna hang? Almost automatically the landline rings. I move into the kitchen and look at the receiver. PRIVATE NUMBER. PRIVATE NUMBER.“ (IB, S. 14, Hervorhebungen im Original) „The premiere is at the Chinese tonight and it’s a movie that has something to do with confronting evil, a situation set up so obviously that the movie becomes safely vague in a way that will entice the studio to buy awards for it, in fact there’s a campaign already under way, and I’m with the director and the producer of The Listeners and we drift with the rest of the crowd across Hollywood Boulevard to the Roosevelt for the after-party where paparazzi cling to the hotel’s entrance and I immediately grab a drink at the bar while the producer disappears into the bathroom and the director stands next to me talking on the phone to his wife, who’s in Australia.“ (IB, S. 15, Hervorhebung im Original)

Obwohl sich der Autor also der gleichen Techniken wie aus Less Than Zero bedient, wird ein auffälliger Unterschied deutlich: Vermied der Ich-Erzähler aus Less Than Zero noch prinzipiell Adjektive und Adverbien, was den Erzählduktus umso distanzierter und teilnahmsloser erscheinen ließ, verwendet der Erzähler in Imperial Bedrooms offen Adjektive und Adverbien. Außerdem ist der Stil nicht mehr so

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gleichbleibend parataktisch wie in Ellis’ Erstling. Während in Less Than Zero die Teilsätze syntaktisch hierarchielos miteinander verbunden werden, zeichnet sich Imperial Bedrooms durch zahlreiche Nebensätze aus. Die Satzstruktur ist komplexer und hypotaktischer.24 In der Verwendung von Adjektiven und Adverbien sowie in der Satzstruktur lässt sich eine Nähe zu American Psycho erkennen. Somit werden in Imperial Bedrooms die Stiltechniken aus Less Than Zero und American Psycho zusammengeführt. Kommunikationsverweigerung als stilbildende Strategie Die an Alexithymie erinnernde Erzählweise aus Less Than Zero, reduktiv und funktional, ist in der Satzstruktur zwar noch erkennbar, jedoch wirkt sie nun durch die Verwendung von Adjektiven und Adverbien deutlich lebendiger. Im Gegensatz dazu wird die in Less Than Zero bereits etablierte Kommunikationsvermeidung weiter verstärkt. Ist dort „I don’t say anything“ zwar einer der häufigsten Sätze im gesamten Roman, kommt diese Aussage nun, gemeinsam mit Variationen wie „I pause“, „I stop“, „There’s a long silence“ etc., auf über einem Drittel der Seiten des Romans vor (IB, passim). Das heißt, kaum eine Unterhaltung zwischen Romanfiguren kommt ohne Unterbrechungen, Pausen und Phasen der Stille aus. Konnte in Less Than Zero noch von einer Kommunikationsvermeidung gesprochen werden, so handelt es sich in Imperial Bedrooms eher um eine Kommunikationsverweigerung. Dies kommt vor allem in der Rätselstruktur des Mordes an Kelly Montrose zum Ausdruck. Jeder scheint Informationen zu Kellys Ermordung zu haben, jedoch will niemand so richtig mit der Sprache herausrücken.25 Clay, der versucht herauszufinden, wie Rain Turner mit der Ermordung Kellys in Verbindung steht, erhält stets nur Teilinformationen, die sich schwer zu einem Gesamtbild zusammensetzen lassen. Die Kommunikationsverweigerung, die sich hinsichtlich des Verbrechens an Kelly Montrose offenbart, steht symptomatisch für das Kommunikationsverhalten der Romanfiguren. Bis zum Ende gibt es keinen klaren juristischen Beweis für Rips Schuld am Tod von Kelly Montrose, Amanda Flew und Julian Wells. Obwohl seine Verstrickung in die Taten offensichtlich zu sein scheint, ist die Kommunikationsverweigerung der Romanfiguren so milieukonstituierend, dass es zu keiner Belastung Rips kommt. Sie dient damit dem Machterhalt; als Strategie der Handlungsdimension der Macht ist die Kommunikationsverweigerung innerhalb des Romans als Politik der Statusreproduktion zu sehen: Indem Kommunikation kategorisch ver24 Dies mag dem Alter des Ich-Erzählers geschuldet sein, der nun Mitte 40 ist, es mag aber auch daran liegen, dass der jüngere Clay, wie der ältere Clay behauptet, gar nicht er selbst war, sondern ein Bekannter, der sich nur für ihn ausgab. 25 Julian reagiert ausweichend (IB, S. 112), Blair spricht unverständliche Warnungen aus (IB, S122), Trent lässt nur kryptische Andeutungen fallen (IB, S. 135, 137f.).

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weigert wird, werden bestehende Machtstrukturen gefestigt und die eigene vorteilhafte Position gestärkt. Dass bei dieser Taktik Menschen zu Tode kommen, wird als vertretbares Opfer in Kauf genommen. Darüber hinaus hat die Kommunikationsverweigerung unter den Romanfiguren auch Auswirkungen auf den Leser. Durch die vielen Unterbrechungen und Pausen werden Leerstellen im Text eröffnet, die die Gespräche zwischen den Figuren fragmentarisch erscheinen lassen. Hinzu kommt, dass Gespräche häufig über mehrere Kapitel verteilt sind, was auf der formalen Ebene ebenfalls zu einer Demontage führt. Sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der formalen Ebene sind die meisten Gespräche der Figuren damit lückenhaft; diese Fragmentierung überträgt sich auf das Leseerlebnis, das der Rezipient gezwungenermaßen als bruchstückartig erfährt. Die fragmentarische Kommunikation zwischen den Figuren einerseits und das zerlegte Leseerlebnis andererseits behindert sowohl den Kontakt zwischen den Figuren als auch zwischen Text und Leser. Kommunikationsverweigerung als stilbildende Strategie ist auch hinsichtlich der Expressivität von Emotionen feststellbar. Der jüngere Clay bedient sich einer emotionslosen Erzählweise, bei der er Emotionswörter vermeidet, stattdessen jedoch den Leser durch die Beschreibung somatischer Reaktionen wissen oder wenigstens erahnen lässt, was in ihm vorgeht. Auf solche Informationen verzichtet der ältere Clay fast gänzlich. Ausgesprochen selten geht er auf Körperreaktionen ein, so etwa als er feststellen muss, dass er regelmäßig von einem blauen Jeep verfolgt wird: „I realize I’m panting“ (IB, S. 50), „my hair is wet and my hands are shaking“ (IB, S. 101). Diese Reaktionen – Keuchen, Schwitzen und zitternde Hände – deuten auf Angst hin. Auch als Clay Julian die Falle stellt, um ihn zu verraten, bemerkt er: „My hand is shaking so hard I can’t hold the brush.“ (IB, S. 150) In vereinzelten, für den Protagonisten emotional aufgeladenen Momenten, geht er knapp auf somatische Empfindungen ein, die meiste Zeit jedoch enthält er dem Leser solche Informationen vor. Hin und wieder finden sich stattdessen Handlungen, die auf eine emotionale Beteiligung schließen lassen, hauptsächlich Wut: „I throw a glass against the wall“ (IB, S. 73), „I’m suddenly gripping the iron railing“ (IB, S. 83), „I can’t unclench my fists“ (IB, S. 84). Diese Äußerungen sind zwar keine Beschreibungen von Körpergefühlen, dafür jedoch von Verhaltens- oder Ausdrucksmerkmalen von Emotionen, die demnach einen Rückschluss auf das emotionale Befinden der Hauptfigur zulassen. Offenbar drückt Clay seine Angst durch Körperbeschreibungen aus, seine Wut jedoch eher durch Handlungen. Dennoch sind solche Textstellen ausgesprochen selten. Von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen, verweigert der Erzähler die Kommunikation über seine Empfindungen und verhindert damit eine Einfühlung durch den Leser. Andererseits kommen jedoch überraschend häufig Emotionsworte zum Einsatz. Eine Vielzahl dieser Worte bezieht sich allerdings auf andere Romanfiguren: „Trent […] reveals his disgust“ (IB, S. 18), „An annoyance I never detected in Julian an-

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nounces itself“ (IB, S. 34), “the invitation caused a low-level anxiety in Rain” (IB, S. 56), „Blair looks away, embarrassed“ (IB, S. 73). Mit fortschreitender Handlung benennt der Erzähler jedoch auch eigene Emotionen konkret. Am häufigsten, wie schon in Lunar Park, wird dabei die Emotion Angst mit dem Wort „fear“ erwähnt, die Clay sich selbst immerhin zwölf Mal zuschreibt. Was zunächst aussieht, als wolle es in Anlehnung an Less Than Zero der nächste Leitsatz für Imerpial Bedrooms werden, wird jedoch schon nach dreimaligem Gebrauch stark variiert: „The fear returns“ (IB, S. 13, S. 16) und „the pale fear returns“ (IB, S. 16) werden zu „causes my fear to return“ (IB, S. 64) und „the fear returning“ (IB, S. 97). Von den zwölf expliziten Angstäußerungen folgen damit nur fünf dem konkreten Muster der Wiederkehr. Die restlichen sieben Angstäußerungen erhalten größtenteils andere Bewegungsverben zur Umschreibung: „The fear is swarming“ (IB, S. 30), „The fear, the big black stain of it, is rushing forward“ (IB, S. 83), „the fear pushing forward“ (IB, S. 126), „the fear begins swirling around“ (IB, S. 135). Damit ergibt sich auch für die anderen Angstäußerungen ein Muster, wenn auch eines, das schwerer zu durchschauen ist. Einerseits verleiht die intuitiv anmutende, da unpräzise Beschreibung der Angst die Fähigkeit der eigenständigen, aktiven Bewegung und überträgt ihr damit wesenhafte Züge, andererseits charakterisiert es durch die Wahl der Bewegungsverben die Angst näher: alles umkreisend, vorwärtstreibend, drängend und damit äußerst bedrohlich. Trotz dieser Charakterisierung ist die Angst schwer fassbar, denn eine Frage bleibt: Wovor fürchtet sich Clay überhaupt? Hier drängt sich der Vergleich mit Patrick Bateman auf, der von einer wiederkehrenden „nameless dread“ heimgesucht wird, jedoch nicht im Stande ist, seine Angstattacken zu beschreiben. Der IchErzähler von American Psycho beschränkt sich darauf, seine Emotionen zu behaupten und verzichtet auf eine dezidierte Darstellung seiner Affekte. Dieser Technik des affektlos-postulierenden Erzählens bedient sich auch Clay: Er behauptet, von einer wiederkehrenden Angst befallen zu werden, doch bleibt auch diese Angst namenlos. Er ordnet ihr keinen rezidivierenden Auslöser zu – die Wiederkehr bleibt unbegründet und damit unverstehbar. Für den Leser tut sich auch hier eine Leerstelle auf. Entweder ist der Protagonist nicht im Stande, die Ursachen seiner Angst zu lokalisieren und sie selbst zu explizieren, so dass die Angst für den Erzähler selbst den Wert einer Unbestimmtheitsstelle einnimmt. Oder der Protagonist erkennt ein Schema im Auftauchen der Angst, das dem Leser jedoch vorenthalten wird. Hier entstünde dann ein Wissensrückstand des Rezipienten gegenüber der Hauptfigur, durch den sich eine empathische Kluft zwischen den beiden öffnen würde. In beiden Fällen jedoch wird die Einfühlung des Lesers in den Protagonisten blockiert, indem Informationen über die Angstattacken ungewiss bleiben oder unterschlagen werden. Gerade im Hinblick auf explizit geäußerte Emotionen stellt sich somit auf Leserseite ein Unverständnis darüber ein, warum Clay so fühlt, wie er behauptet zu

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fühlen. Dieses Unverständnis hemmt die Einfühlung des Lesers und führt so zu einer emotionalen Distanz zwischen Figur und Rezipient. Dieser Stil der Kommunikationsverweigerung wirkt sich auch auf die Beschreibung der grausamen Taten aus, die Clay im Verlauf des Romans selbst ausführt. Daher soll im Folgenden Clays affektloses Handeln unter dem Gesichtspunkt des Stils beleuchtet werden. Affektloses Handeln – Affektloses Erzählen Wie im vorigen Kapitel herausgearbeitet wurde, handelt es sich bei Clay um einen ultimativ affektlos agierenden Protagonisten. Auf der Stilebene wird diese Affektlosigkeit unterstrichen durch einen Stil-Mix aus Elementen der Romane Less Than Zero und American Psycho. Beispielhaft hierfür ist eine Textstelle, in der Clay seine Affäre Rain zum wiederholten Mal zum Sex zwingt: „Rain arrives wearing sweats and no makeup and she’s trying to keep it together with the audition set for tomorrow and she didn’t want to come over but I told her I would cancel it if she didn’t and she’s been fasting so we don’t go out for dinner and when I first touch her she says let’s wait and then I make another threat and the panic is cooled only by breaking the seal off a bottle of Patrón and then I just keep fucking her on the floor in the office, in the bedroom, the lights burning brightly throughout the condo, the Fray blaring from the stereo, and even though I thought she was numb from the tequila she keeps crying and that makes me harder. ‚You feel this?‘ I’m asking her. ‚You feel this inside you?‘“ (IB, S. 130f.)

Die Szene wird in einem einzigen langen Satz beschrieben, dessen Teilsätze mit der Konjunktion „and“ verbunden werden. Dies erinnert an die funktionale Sprache aus Less Than Zero, jedoch finden sich in diesem Abschnitt auch Relativsätze, kausale Verknüpfungen, Aufzählungen. Dies stellt eine Nähe her zu der komplexeren Sprache aus American Psycho. Die Art und Weise der Szenenbeschreibung besteht also aus Stilelementen beider Vorgängerromane. Durch den reduktiven, funktionalen Stil wird eine Gleichordnung hergestellt zwischen den verschiedenen Informationsbausteinen, die dieser Abschnitt enthält: Die Tatsachen, dass Rain ein Sweatshirt trägt und fastet, werden syntaktisch genauso gewichtet wie der Umstand, dass Clay sie bedroht. Diese syntaktische Gleichordnung lässt eine inhaltliche Gleichordnung entstehen. Anscheinend sind diese Informationen für Clay alle gleich wichtig. Indem Nebensächlichkeiten der gleiche Bedeutungsstatus zugewiesen wird wie die Bedrohung und Nötigung der jungen Frau, wirkt die grausame Tat Clays ebenso belanglos. Die beiläufige Bemerkung ihrer Panik und ihres Weinens lassen ihre Emotionen bedeutungslos erscheinen, wodurch Rain als Opfer von Clays Machtspielen zumindest in den Augen des Protagonisten abgewertet wird. Für den Leser stellt gerade die Schieflage von gleichgültiger Darstellung und grausamer Handlung die Unerbittlichkeit der Hauptfigur heraus. Das kaltblütige Verhalten des Protago-

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nisten wird durch die Wahl der Formulierungen und durch den Satzbau hervorgehoben; affektloses Handeln und affektloses Erzählen stützen sich somit gegenseitig. Hierzu tragen auch Clays Fragen „You feel this? […] You feel this inside you?“ (IB, S. 131) bei, die ähnlich wie in der Entführungsszene mit der Doppeldeutigkeit des Verbs „to feel“ spielen. Erneut wird auf der Wortebene auf Sensualität verwiesen, da Clay offensichtlich seinen Penis meint, der schmerzhaft den Körper Rains penetriert. Gleichzeitig referenzieren diese Fragen jedoch das Gefühl der Erniedrigung, das durch den erzwungenen Sex in der jungen Frau ausgelöst wird. Im Unterschied zur Vorgängerszene spielen die Fragen jedoch nicht auf eine verborgene emotionale Ebene beim Protagonisten an, sondern dienen dazu, die Demütigung Rains einsichtig zu machen. Indem Clay auf diese Weise Rains Emotionen der Lächerlichkeit preisgibt, unterstreicht er damit seine eigene Affektlosigkeit. Diese gegenseitige Unterstützung von affektlosem Handeln und affektlosem Erzählen wird zu einer untrennbaren Verbindung innerhalb des Erzählens gesteigert. Clay bucht ein Call-Girl und einen Call-Boy, um sich mit den beiden in einer Villa in der Wüste zu vergnügen. Schnell jedoch wird aus den lasziven sexuellen Spielen eine sadistische Folter: „At night the moon would hang over the silver-dimmed desert and the streets were empty and the girl and the boy would get stoned by the fire pit and sometimes dogs could be heard barking over the wind thrashing in the palm trees as I pounded into the girl and the house was infested with crickets and the boy’s mouth was warm but I didn’t really feel anything until I hit him, always panting, my eyes gazing at the steam rising from the pool at dawn. […] I’d tell the boy to beat the girl and I watched as he threw her to the floor and then I told him to do it again. One night the girl tried to escape from the house and the boy and I chased her down the street with flashlights and then onto another street where he tackled her just before dawn. We dragged the girl quickly back inside the house and she was tied up […] Smeared with shit, I was pushing my fist into the girl and her lips were clinging tightly around my wrist and she seemed to be trying to make sense of me while I stared back at her flatly, my arm sticking out of her, my fist clenching and unclenching in her cunt, and then her mouth opened with shock and she started shrieking until the boy lowered his cock into her mouth, gagging her, and the sound of crickets kept playing over the scene.“ (IB, S. 157f.)

Von einem Moment auf den anderen kippt die Schilderung von einer friedlichen Landschaftsbeschreibung zu einem Angriff auf das Callgirl. Die Plötzlichkeit, mit der die Brutalität des Protagonisten über den Leser hereinbricht, ist schockierend. Der Bruch zwischen Naturbeschreibung und Gewalt ist so extrem, weil er so unerwartet kommt: als Gliedsatz, der mit der Konjunktion „as“ beginnt. So bricht die Misshandlung des Mädchens jäh in die Beschreibung der Umgebung ein und um-

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gekehrt. Hier entsteht eine Symbiose zwischen der Alltagswelt und der sadistischen Lustwelt des Erzählers. Alltag und Sadismus wechseln sich gegenseitig ab, bedingen sich in ihrer Spannung aber auch gegenseitig: Wie schon aus American Psycho bekannt, wird durch diese Textstelle Alltägliches pathologisiert und Pathologisches veralltäglicht – die beiden Pole gehören untrennbar zusammen und bedingen sich gegenseitig. Letztlich gewinnt die sadistische Lustwelt die Oberhand: Clay macht den Jungen, den er zuvor ebenfalls misshandelt, zu seinem Komplizen bei der Vergewaltigung des Mädchens. Darin spiegelt sich einerseits die Täter-OpferKonzeption der Figur Clay, indem das „violent victim trope“, das Cain in Lunar Park erfüllt sah,26 reanimiert wird, andererseits wird die Komplizenschaft zwischen Protagonist und Leser aus American Psycho reflektiert. Während in American Psycho der Leser zum Opfer der Gewalt des Erzählers wurde, sich dadurch aber mitschuldig an den Bluttaten des Protagonisten machte,27 geschieht dies nun auf der Inhaltsebene von Imperial Bedrooms. Der Callboy als Opfer der Gewalt des Protagonisten macht sich mitschuldig an dessen Tat. Dennoch ist die Lustwelt Clays auf der Textebene nicht als lustvoll erkennbar. Er sagt über sich selbst „I didn’t really feel anything“, beschreibt seinen Blick als „flatly“ – Clay stellt sich selbst als unbeteiligt und leidenschaftslos dar. Die Beschreibung entbehrt der Darstellung somatischer Reaktionen,28 verzichtet auf Emotionsworte, selbst Lust-Unlust-Äußerungen lässt der Text vermissen – diese Szene zeichnet sich durch affektlos-vermeidendes Erzählen aus. Die Misshandlung des Mädchens wird sachlich, detailliert und präzise geschildert. Interessanterweise beinhaltet der Bericht jedoch die emotionale Reaktion des Opfers: Schock und Kreischen sind die Folge. Hier zeigt sich in Anlehnung an Less Than Zero, dass Clay keineswegs gefühlsblind, unfähig ist, die Emotionen anderer zu erkennen. Er weiß sehr wohl einzuordnen, was er bei seinem Gegenüber auslöst. Affektlos daran ist – und dies ist der krasse Gegensatz zu Less Than Zero –, dass es ihn nicht interessiert. Er scheint keinen Lustgewinn aus der sadistischen Handlung und den daraus resultierenden negativen Emotionen des Mädchens zu erzielen. Während er aus der Kontrolle und der Machtausübung über Rain noch Lust schöpfen konnte, scheint ihm dies bei dem Callgirl nicht zu gelingen. Er misshandelt das Mädchen nicht aus triebhafter Lustmaximierung, sondern ohne affektiven Beweggrund. Durch die Unterschlagung einer emotionalen Motivation wirkt diese Textstelle besonders befremdlich.

26 Cain, „Imperfectly Incarnate“, S. 14. 27 Vgl. Kap. 6.1.1, Unterkapitel zu Grausamkeit des Protagonisten – Gewalt am Leser, Schuld des Lesers. 28 Bis auf die Bemerkung „always panting“, dies ist jedoch wohl der Anstrengung der Prügel zuzuschreiben und weniger als emotionale Reaktion zu lesen.

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Die Lustwelt wird schließlich von der Alltagswelt abgelöst mit der Rekurrierung auf die zirpenden Grillen, die schon zu Eingang der Szene Erwähnung fanden. Damit schließt sich der Kreislauf aus Pathologisierung und Veralltäglichung, der über die affektlose Beschreibung der Szene erreicht wird. Affektloses Handeln und affektloses Erzählen werden in diesem Abschnitt untrennbar miteinander verwoben, machen sich gegenseitig zur Voraussetzung des anderen. Ohne affektloses Handeln wäre in dieser Szene das affektlose Erzählen halb so wirkungsvoll und umgekehrt. Beide Elemente bedingen sich in ihrer befremdlichen Wirkung gegenseitig. Um diesen Effekt zu erzielen, werden in Imperial Bedrooms affektloses Erzählen und affektloses Handeln in einer radikalen Ausprägung miteinander verflochten. Die stilistische Nähe sowohl zu Less Than Zero als auch zu American Psycho lässt den Erzählstil des Romans als neues Extrem erscheinen, da aus beiden Vorgängern die verstörenden und distanzierenden Elemente herausgegriffen und miteinander verstrickt werden. Auf diese Weise erreicht der Roman einen neuen, anderen Grad des Affektlosen, dessen Auswirkungen auf den Leser in den Schlussfolgerungen untersucht werden sollen.

8.2 S CHLUSSFOLGERUNGEN : ABSTOSSUNG DES L ESERS – F ASZINATION DES L ESERS In Imperial Bedrooms vereinen sich die stilkonstituierenden Elemente der Vorgängerromane, für die Ellis in jungen Jahren berühmt wurde: Der lakonische, funktionale Stil aus Less Than Zero wird wiederbelebt, jedoch mit Stilelementen aus American Psycho verknüpft. Die notorische Kommunikationsvermeidung aus Less Than Zero wird sogar gesteigert zu einer regelrechten Kommunikationsverweigerung, die die Gesprächskultur der Figuren in Imperial Bedrooms kennzeichnet, aber auch symptomatisch ist für den Umgang des Textes mit dem Leser. Indem zahlreiche Leerstellen eingerichtet und Informationen vorsätzlich vorenthalten werden, entsteht ein Wissensdefizit beim Rezipienten. Das emotionslose Erzählen aus Less Than Zero wird abgelöst und stattdessen das affektlose Erzählen, das American Psycho auszeichnete, wieder aufgegriffen. Darüber hinaus wird das affektlose Erzählen mit Szenen des affektlosen Handelns verwoben, so dass der Effekt des Affektlosen sowohl auf stilistischer als auch auf inhaltlicher Ebene intensiviert wird. Wie eingangs dieses Kapitels zitiert, handelt es sich bei Imperial Bedrooms weniger um eine Fortsetzung und mehr um ein „complex remake“29 oder eine selbstreflexive Überschreibung des Debütromans. Zwar werden die Leitmotive wieder

29 Colby, Underwriting, S. 165.

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aufgegriffen, sogar Schockszenen aus Less Than Zero werden reanimiert. 30 Dennoch handelt es sich bei Imperial Bedrooms nicht um eine reine Wiederauflage des Erstlingsromans. Trotz der Parallelen zu Less Than Zero wird deutlich, dass die Hauptfigur Clay nicht mehr der orientierungslose, hilflose Junge ist, der er einmal war, sondern sich zu einem grausamen, kontroll- und machtbesessenen Mann entwickelt hat. Diese Charakterentwicklung findet jedoch nicht im Roman statt, sondern geht zwischen den beiden Büchern vor sich – der Leser bleibt von dieser Entwicklung ausgeschlossen. So entsteht auch zwischen den Texten eine Leerstelle, die das Kommunikationsdefizit zwischen Text und Leser noch einmal vergrößert. Statt den Charakter der Figur Clay an sein früheres Ich anzulehnen, werden Entsprechungen zur Hauptfigur aus American Psycho geschaffen: Der Protagonist begeht grausame Taten und berichtet darüber in einem affektlos-gleichgültigen Duktus. Dennoch sind diese Parallelen nur oberflächlich. Zwar handelt es sich sowohl bei Bateman als auch bei Clay um affektlos agierende Protagonisten, jedoch ist Bateman ein Serienmörder und daher von seiner Figurenanlage her gezwungen, seine Bluttaten zu begehen. Clay hingegen ist ein ganz normaler Mann, der weder blutige Fantasien hat noch jemals die Neigung zeigt, andere Menschen zu zerfleischen. Er hat lediglich eine Vorliebe für Dominanz und Sadismus, die er ungefragt auslebt. Zwar kommen auch dabei Menschen zu Schaden, er ist jedoch selbst nicht aktiv an Folter und Verstümmelung beteiligt. Selbst seine sexuellen Ausschweifungen sind abgesprochen: Das Callgirl und der Callboy, die er in einer Villa in der Wüste missbraucht, haben dies vertraglich mit ihm vereinbart und werden für ihre Dienstbarkeit bezahlt. Dies entlarvt Clay zwar als Mann mit ungewöhnlichen sexuellen Vorlieben, der über unsympathische Charakterzüge verfügt – macht ihn jedoch nicht zu einem Psychopathen. Seine Taten wirken daher umso abstoßender. So wenig, wie der Leser über die Entwicklung des Protagonisten erfährt, erfährt er auch über den Charakter der Figur. Die Kommunikationsverweigerung des Romans weitet sich auch auf die Charakteranlage Clays aus. Mit Ausnahme seiner Trinksucht, seiner Macht- und Kontrollbesessenheit und des Einflusses einer wiederkehrenden, aber unbestimmbaren Angst, erfährt der Leser ausgesprochen wenig über den Protagonisten. Diese Leerstellen fallen vor allem auf durch die Hinweise, die unregelmäßig über den Charakter Clays gestreut werden: So wird angedeutet, dass Clay zu einer Schauspielerin namens Meghan Reynolds ein ähnliches Ausbeutungsverhältnis hatte wie zu Rain, bevor sie ihn verließ (IB, S. 22, S. 104f.). Außerdem scheint Clay ein Problem mit Impulskontrolle zu haben: Wie Trent offenbart, hat Clay zwei Jahre zuvor eine Schauspielerin so schlimm verprügelt, dass sie eine Fehlgeburt erlitt (IB, S. 143). Diese Hinweise zu Clays Charakter lassen die Unge30 Etwa die Vergewaltigung der Zwölfjährigen, die in der Vergewaltigung Rains ihre Duplikation findet, oder das Snuff-Video, das sogar drei Mal erneuert wird: als Snuff-Film von Kelly Montrose, von Amanda Flew und von Julian Wells.

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wissheiten über ihn noch deutlicher hervortreten. Indem nur implizite Hinweise über den Protagonisten vermittelt werden, wird erkennbar, wie wenig eigentlich explizit über seinen Charakter evident wird. Clay bleibt eine undurchschaubare Figur, über die der Text nur wenig enthüllt. Für den Leser ergeben sich daraus diametrale Konsequenzen. Einerseits wird durch die Kommunikationsverweigerung die Einfühlung des Lesers in den Protagonisten verhindert. Durch den kategorischen Ausschluss des Lesers von wichtigen Entwicklungs- und Entscheidungsprozessen, von Informationen über Charakter, Emotionen und Selbstbild des Protagonisten wird die Hauptfigur zu einer unverstehbaren Chiffre gemacht. Der Leser, der versucht, den Protagonisten zu entschlüsseln, wird dabei freilich auf Granit beißen: Beharrlich verweigert der Erzähler die Kommunikation mit dem Leser und stößt auf diese Weise den Leser vom Text ab. Hinzu kommt, dass der Erzähler sich als moralisch höchst unzuverlässige Instanz entpuppt, dessen Wertvorstellungen und Normen gravierend von denen des durchschnittlichen Lesers divergieren.31 So wird eine Identifizierung des Rezipienten mit der Hauptfigur erschwert, da sich der Leser nicht in dessen Weltbild und Einstellungen wiedererkennen kann. Diese Abstoßung ist jedoch nicht nur Resultat der zahlreichen Leerstellen und der moralischen Unzuverlässigkeit, die Distanz und Unverständnis erzeugen, sondern auch des affektlosen Erzählens, das mit dem affektlosen Handeln des Protagonisten untrennbar verwoben wird. Indem von einem einigermaßen normalen, wenn auch unsympathischen Mann kaltblütige Entscheidungen gefällt und grausame Taten begangen werden, für die jegliche affektive Begründung fehlt und die in einem affektlosen Modus beschrieben werden, werden zwei Aspekte zusammengefügt, die nicht zusammen passen wollen: Clay ist zwar ein Unsympath, aber kein Psychopath – wie ist es möglich, dass dieser scheinbar so normale Mensch so agiert, wie er es tut? Durch die affektlose Erzählweise wird der Effekt des affektlosen Agierens intensiviert. Nicht nur durch die Handlungen der Figur, sondern auch und gerade aufgrund der affektlosen Erzählweise fühlt sich der Leser von ihr abgestoßen. Andererseits führt ausgerechnet das affektlose Erzählen zu einer konträren Reaktion: Die ästhetische Ungenauigkeit, durch die dieser Roman sich auszeichnet, erzeugt Faszination beim Leser. Die Komposition aus detailgenauer Beschreibung mit winzigen Leerstellen, die die Szenen offen für Interpretation lassen, ist weniger brutal als die Gewaltdarstellung aus American Psycho. Die Wucht, mit der der Leser von den Beschreibungen in American Psycho getroffen wurde, wird in Imperial Bedrooms abgelöst von einem viel subtileren Horror, der weniger Ekel, sondern viel mehr Neugier, Interesse und angenehmen Schauder auslöst. So wird etwa die Folter, die auf dem Snuff-Video 31 Auf eine erneute Erläuterung des moralisch unzuverlässigen Erzählens wird an dieser Stelle verzichtet. S. Fußnote 29 im Kap. 6.1., Unterkapitel zu Patrick Bateman: Unzuverlässiger Ich-Erzähler, eindimensionaler Protagonist.

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von Amanda Flew zu sehen ist, zwar detailliert, aber weniger rücksichtslos dargestellt: „Amanda is in a motel room nude and incoherent and being shot up by men wearing ski masks. She has a seizure […]. And then the seizures become more intense and during one of them an eyeball is dislodged, bulging from its socket […].“ (IB, S. 143)

In diesem Beispiel wird die Blendung des Opfers benannt, aber nicht mit der Explizität und unappetitlichen Originalität American Psychos in Worte gekleidet. Zum direkten Vergleich soll hier eine Szene aus American Psycho dienen, in der Bateman den Obdachlosen Al blendet. „I pull out a long knife with a serrated edge and, being very careful not to kill him, push maybe half an inch of the blade into his right eye, flicking the handle up, instantly popping the retina. […] His eye, burst open, hangs out of its socket and runs down his face and he keeps blinking which causes what’s left of it inside the wound to pour out like red, veiny egg yolk. I grab his head with one hand and push it back and then with my thumb and forefinger hold the other eye open and bring the knife up and push the tip of it into the socket, first breaking its protective film so the socket fills with blood, the slitting the eyeball open sideways […].“ (AP, S. 131)

Während Bateman gemäß der in American Psycho etablierten Ästhetik des Pathologischen mit detailgenauer Präzision den Vorgang der Blendung formuliert, dabei seine Technik und die erzeugte Wunde minuziös beschreibt und keinen Aspekt des Ablaufs offen lässt, so dass dem Leser eine geradezu filmische Szene vor dem inneren Auge aufgezwungen wird, beschränkt sich der Erzähler Clay darauf zu erklären, das Auge werde entfernt. Die Entfernung des Auges ist somit einerseits ein Detail innerhalb eines komplexen Foltervorgangs, andererseits wird dieses Detail jedoch nicht präzise ausformuliert, sondern überlässt es der Fantasie des Lesers, wie die Blendung genau vonstatten geht. Diese Textstelle ist exemplarisch zu sehen für die Weise, wie der affektlose Stil in Imperial Bedrooms im Leser Faszination, einen regelrechten Kitzel auszulösen vermag. Die im Roman ausgeführten Gewalttaten sind nicht weniger blutig und brutal als die aus American Psycho – die Sprache ist es hingegen schon. Diese Verknappung als ästhetisches Verfahren erlaubt es dem Rezipienten, solchen Szenen mit größerer Freiheit zu begegnen: Im Gegensatz zu American Psycho wird es durch den Verzicht auf den sprachlich brutalen Exzess möglich, die Einzelheiten der Folter zu verdrängen. Wer die Vorstellung der Blendung nicht erträgt, kann dank der ästhetischen Ungenauigkeit den exakten Vorgang ausblenden. Gleichzeitig bleibt es dem Leser überlassen, die Leerstellen selbst aufzufüllen. Wer die Vorstellung der Blendung durchaus erträgt, wird vom Text aufgefordert, die eigene Imagination einzusetzen. Das Resultat besteht

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demnach nicht in der Abstumpfung des Lesers, die in American Psycho immer neue und schlimmere Gewaltorgien provozierte, sondern vielmehr im Kitzel und in der Lust, die diese Szenen im Leser evozieren. Thomas Anz bezeichnet diesen Effekt in seiner Untersuchung zu Literatur und Lust als „böse Lust“ und beschreibt damit die „Faszination des Schrecklichen“, 32 aus der die Literatur seit jeher einen Großteil ihrer Anziehungskraft beziehe. Er begründet dies mit der Ästhetik des Erhabenen, die eine „Art von Lust, die sich mit der Unlust des Schreckens mischt“,33 auslöse. Das Erhabene ist nach Lyotard eine Lust, die „an etwas gebunden [ist], das stärker ist als die Befriedigung: an den Schmerz und das Nahen des Todes.“34 Die von den Gewaltszenen in Imperial Bedrooms ausgelöste Lust kommt demnach durch den Schmerz und durch die Todesbedrohung der Figur zustande, die vom Leser empathisch mitempfunden wird, jedoch aus der sicheren Distanz des Leseerlebnisses heraus und dank der subtileren Beschreibung der Szenen nicht als ekelerregend verspürt wird. Hinzu kommt bei allen Folterszenen die Zwischenschaltung eines weiteren Mediums: das des Films. Stets wird die Folter nicht als selbstverübte Tat, so wie in American Psycho, präsentiert, sondern als visuelles Erlebnis, an dem der Protagonist nur passiv teilnimmt. Auch dies hat wiederum zweierlei Konsequenzen. Einerseits rückt es die Hauptfigur in die Position des Beobachters, die sie schon in Less Than Zero innehatte. Auf diese Weise wird Clays Integrität zumindest teilweise bewahrt, da er sich selbst nicht die Hände schmutzig macht. 35 Andererseits wird trotz der Darstellung im Präsens das Gesehene in die Vergangenheit verlegt – es handelt sich nicht um eine Live-Schaltung, sondern um eine Aufzeichnung. Was Clay zu sehen bekommt, ist also schon passiert. Diese Medialisierung der Folter erzeugt eine Unausweichlichkeit, die American Psycho nicht hat. Während dort noch gehofft, gezittert werden kann, dass Bateman sein Opfer verschonen und doch am Leben lassen möge, ist in Imperial Bedrooms die Tat schon vollendet, bevor sie überhaupt zur Sprache kommt. Noch bevor also der Snuff-Film gestartet wird, steht 32 Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München: Beck 1998. S. 125. 33 Ebd., S. 129. 34 Lyotard, Jean-François: „Das Erhabene und die Avantgarde.“ In: Jacques Le Rider/Gérard Raulet (Hg.): Verabschiedung der (Post-)Moderne? Eine interdisziplinäre Debatte. Tübingen: Narr 1987, S. 251-274. Hier zitiert S. 261. 35 Die sadistischen Sexspiele mit den beiden Prostituierten sind nicht als Folter zu betrachten, da dies vorher vertraglich vereinbart wurde und die beiden als Dienstleister eines bestimmten Gewerbes wissen, auf was sie sich einlassen. Selbst als es dem Mädchen zu viel wird, reicht es aus, das Gehalt nachzuverhandeln, um sie zum Bleiben zu bewegen (IB, S. 157). Somit ist auf Basis der wirtschaftlichen Vereinbarung durchaus von gegenseitigem Einverständnis auszugehen.

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die Endgültigkeit des Ausgangs schon fest. Daran kann nicht mehr gerüttelt werden. Für den Leser verursacht die Medialisierung der Folter damit einerseits eine gewisse Erleichterung, dass der Protagonist selbst nicht zum Folterknecht wird, wodurch der Leser in eine mäßigende Distanz zum Gelesenen treten kann. Andererseits bewirkt die Medialisierung eine Hilflosigkeit, da beim Lesen der Snuff-Szenen jegliche Hoffnung auf einen erträglichen Ausgang vergeblich ist. Die Hilflosigkeit kann sich zu einer regelrechten Schrecklähmung steigern, wenn dem Leser zu Bewusstsein kommt, dass gerade durch die mäßigende Distanz der Medialisierung die Unausweichlichkeit des blutigen Endes vorprogrammiert ist. So wie das affektlose Erzählen gleichermaßen Befremden wie Faszination auslöst, evoziert die Medialisierung der Folter Erleichterung wie Hilflosigkeit zugleich. Die neuen Extreme, die der Roman bietet, sind somit von dreierlei Natur: 1. Auf stilistischer Ebene werden die distanzierenden und verstörenden Merkmale von Less Than Zero und American Psycho miteinander verbunden. Das stilistische Extrem besteht somit aus einer Kulmination der zentralen Stilelemente aus Less Than Zero und American Psycho sowie der Verknüpfung von affektlosem Handeln und affektlosem Erzählen. 2. Auf der inhaltlichen Ebene werden grausame Handlungen nicht mehr von einer Ausnahmefigur begangen, sondern von einem erschreckend normalen Protagonisten. Das inhaltliche Extrem besteht demnach in der Neudefinition des affektlos agierenden Protagonisten. 3. Auf der rezeptionsästhetischen Ebene zeichnet sich der Roman durch eine komplexe Wirkungsstruktur aus, die einerseits durch verhinderte Identifikation mit dem Protagonisten und durch die Verweigerung der Einfühlung durch den Leser Abgestoßensein und Befremden, andererseits durch den subtilen Einsatz von Horror Faszination und „böse Lust“ erregt, während durch die Medialisierungsstrategie der Folter Hilflosigkeit bis hin zur Schrecklähmung, gleichzeitig aber auch Erleichterung über das Distanzierungsverfahren erweckt wird. Das rezeptionsästhetische Extrem besteht also in der Möglichkeit, neben den negativen Fiktionsemotionen, die der Roman beim Leser auslöst, erstmals auch die grausamen Textstellen zu genießen.

8.3 E IN LETZTES

KLEINES

F AZIT

Der letzte bis dato erschienene Roman von Ellis ist, wie das vorliegende Kapitel zeigen konnte, ein Roman der Extreme. Sowohl inhaltlich als auch stilistisch gelingt der Anschluss an die Beststeller- und Skandalromane der 80er und frühen 90er Jahre, ohne dabei jedoch Altbewährtes einfach wiederzukäuen, sondern indem Schockmotive und -themen, Stil und Form wiederaufbereitet und radikalisiert wer-

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den. Damit ist Imperial Bedrooms einerseits als nostalgische Reproduktion, andererseits als im Rahmen des Gesamtwerkes innovativer Text zu betrachten: Durch die deutliche Rückkehr zum Minimalismus der Anfänge, die extreme Kürze der einzelnen Kapitel und des gesamten Romans lehnt sich Imperial Bedrooms unverkennbar an Less Than Zero an. Dass der Text dennoch nicht als Fortsetzung, sondern treffender als Überschreibung zu betrachten ist, veranschaulichen die vielen Unterschiede, die sich bei genauer Analyse des Textes als unübersehbar erweisen. Der Roman ist somit nicht nur rückwärts, auf vergangene Erfolge hin, sondern auch vorwärts ausgerichtet, indem stilistische und inhaltliche Charakteristika miteinander kombiniert und neu definiert werden und auf diese Weise systematisch Altes mit Neuem verbunden wird. Jedoch nicht nur hinsichtlich Inhalt und Stil ist eine Entwicklung nachzuvollziehen, sondern auch in Bezug auf die Einbindung oder absichtliche Abwehr des Lesers. Wurde in Less Than Zero noch zaghaft Distanz aufgebaut, in American Psycho hingegen der Leser einem Wechselbad aus Schuld, Empathie und Ekel ausgesetzt, geht Imperial Bedrooms auch diesbezüglich neue Wege. Das bewährte Muster der verweigerten Einfühlung ist auch in diesem Roman maßgeblich, führt zu Distanz und Unverständnis. Gleichzeitig erlaubt der Roman jedoch einen ästhetischen Genuss, da zwar präzise und detailgenau, aber nicht ekelerregend formuliert wird. Somit vereinen sich Leserabstoßung und Leseranbindung zu einer Waage mit zwei Polen, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern stattdessen den Leseprozess bereichern. Imperial Bedrooms ist weder ein Roman, der den Leser quält, so wie American Psycho durch die Folterszenen oder Glamorama durch die Undurchschaubarkeit des Plots, noch ein Roman, der zur Identifikation mit dem Protagonisten einlädt, wie Lunar Park. Er ist ein Roman, der bewusst mit Ambiguitäten spielt und dem Leser keine definitive Wertungsposition zuweist, sondern ihn auffordert, sich zwischen Abstoßung und Faszination immer wieder selbst einzuordnen. Unter diesem Gesichtspunkt ist Imperial Bedrooms der unentschlossenste Roman von Ellis. Aus dieser Kombination aus Konsequenz und Unentschlossenheit ergibt sich schließlich das letzte Extrem des Textes: Er ist wie ein Magnet, anziehend und abstoßend zugleich, je nachdem aus welcher Richtung man sich ihm nähert.

9. Schluss: THIS IS NOT AN EXIT

Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, was wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? […] Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. FRANZ KAFKA/BRIEFE 1902-1924

Roger Rosenblatts polemische Rezension in der New York Times1 zeigt, dass Ellis’ Roman American Psycho genau so ein Buch ist, wie es im Kafka-Zitat beschrieben wird. Sein emotional geleiteter, aufgeregter Verriss des Romans macht dies überdeutlich. Dass es zahlreichen weiteren Lesern so ging, bewies die allgemeine Reaktion des Feuilletons, das sich Rosenblatts Meinung mehrheitlich anschloss. American Psycho wurde als beißendes und stechendes Buch, als Faustschlag auf den Kopf, als schmerzhaftes Leseerlebnis wahrgenommen. Auch Ellis’ andere Romane riefen negative Leserreaktionen hervor, wie die Rezensionen im Feuilleton überwiegend demonstrierten. Während Kafka gerade solche Literatur jedoch als besonders wertvoll erachtete, wurden die Bücher von Ellis allgemein als minderwertig, gar als sittenwidrig verurteilt: Von Boykott und Zensur bedroht und öffentlich geschmäht, wurde ihnen die Würdigung durch die Kritikerschaft und das Interesse der Literaturforschung zunächst jahrelang vorenthalten. Dass sie trotz negativer Berichterstattung reißenden Absatz fanden, ist einerseits der Sensationslust des Publikums zuzuschreiben, das sich mit eigenen Augen von der Brutalität der Ro1

Rosenblatt, „Snuff This Book”, s. Einleitung.

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mane überzeugen wollte, ist andererseits jedoch der wachsenden Erkenntnis geschuldet, dass Ellis’ Bücher eben nicht nur „beißen und stechen“ – jeder Text ist auf die ihm eigene Weise eine Axt.

9.1 Z USAMMENFASSUNG DER E RGEBNISSE : D AS N ICHTS UND DER S CHMERZ Der Reiz der Romane liegt in Grenzerfahrungen des Lesens, die durch teils widersprüchliche, teils schwer erträgliche emotionale Reaktionen geprägt werden. Sie werden mittels gezielter Textstrategien im Leser provoziert. Dabei ist die in der Einleitung angesprochene Überbietungsstruktur der Texte im Rahmen des Gesamtwerks in der Analyse nachvollziehbar geworden: Von zaghafter Distanzerzeugung zwischen Protagonist und Leser über ein Füllhorn an Leseraffekten wie Schuld, Empathie und Ekel bis hin zu totaler Abstumpfung des Rezipienten gegen die Grausamkeiten des Textes mündet die Kurve schließlich in einem Wechselspiel aus Leseranbindung und -abstoßung, in dem Faszination und Widerwillen miteinander ringen. Diese Grenzerfahrungen werden durch das emotions- und affektlose Erzählen bewirkt. Dabei handelt es sich um Analysekategorien, die aufbauend auf der Differenzierung der Begriffe Affekt, Emotion und Gefühl in dieser Arbeit entwickelt wurden, um zwei verschiedene Erzählmodi zu benennen und voneinander abzugrenzen: Emotionsloses Erzählen bezeichnet den Verzicht auf Emotionsworte, aber die dennoch im Text implizit enthaltene Emotionalität des Protagonisten, während affektloses Erzählen das Fehlen affektiver Beweggründe für die Handlungen des Protagonisten beschreibt. Das affektlose Erzählen wurde weiter ausdifferenziert in affektlos-vermeidendes Erzählen, das völlig auf die Schilderung von Emotionen und affektiven Beweggründen verzichtet, und affektlos-postulierendes Erzählen, das zwar Emotionen behauptet, sie auf der Sinnebene aber unterwandert. Sowohl das emotions- wie auch das affektlose Erzählen erweisen sich als Mechanismen zur emotionalen Lesersteuerung. Dabei wird der Leser auf verschiedenen Ebenen emotionalisiert: Auf der Ebene der Fiktionsemotionen als Reaktion auf die im Text dargestellte Handlung, auf der Ebene der ästhetischen Emotionen als Reaktion auf die künstlerische Gemachtheit des Textes und auf der Ebene der Meta-Emotionen als Reaktion auf die eigene kognitiv-reflexive Verarbeitung des Gelesenen und die daraus resultierenden eigenen emotionalen Reaktionen. Neben der emotionalen Lesersteuerung durch das emotions- und affektlose Erzählen hat die Analyse außerdem eine Steuerung des Lesers im Hinblick auf seine Identifizierung mit den autodiegetischen Erzählern der Romane aufgezeigt. Bis auf eine Ausnahme (Lunar Park) wird in allen Romanen durch Techniken des gezielten Ausschlusses des Lesers von Entscheidungs- und Entwicklungsprozessen, durch Verschleierung oder

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Verrätselung von Figurenemotionen oder durch fragmentarisierte Erzählweise die Identifizierung des Lesers mit den Protagonisten erschwert. Die Strategien der Leserlenkung erweisen sich demnach als sehr komplexe, sowohl die Emotionen des Lesers als auch seine Identifizierung mit den Figuren ansprechende Mechanismen. Die einzelnen Romananalysen gelangten dabei konkret zu folgenden Ergebnissen: 1. In den beiden Erstlingsromanen Less Than Zero und The Rules of Attraction wird der Modus des emotionslosen Erzählens dazu benutzt, um über die emotionalen Befindlichkeiten der Erzählerfiguren hinwegzutäuschen. Um sich gegen Verletzung, Demütigung und Schmerz zu schützen, geben die Protagonisten der Romane vor, gefühlskalt zu sein. Durch implizite Textsignale wird dem Leser jedoch suggeriert, dass es sich dabei nicht um echte Gefühlskälte, sondern um eine Erzählhaltung handelt, die die emotionale Verfassung der Figuren verschleiern soll. Solche Textsignale sind die Beschreibungen somatischer Reaktionen und Handlungen, die auf die Emotionen der Protagonisten schließen lassen. Hinsichtlich der Leserlenkung ist in beiden Romanen die Evokation von Distanz zwischen Leser und Protagonisten zentral. Dabei wird in Less Than Zero eine Verrästelungstechnik angewendet, um den Leser in eine distanzierte Beobachterhaltung zu rücken, während in The Rules of Attraction das mehrperspektivische Erzählen für die Distanzerzeugung zwischen Protagonist und Leser verantwortlich ist. In beiden Romanen wird so die Identifizierung des Lesers mit den Hauptfiguren erschwert. 2. Die beiden Folgeromane American Psycho und Glamorama zeichnen sich durch affektloses Erzählen aus. Beide Romane greifen die Gewalt als Leitmotiv auf, setzen es jedoch sehr verschieden um. Während in American Psycho die pathologischen Taten eines Serienmörders im Vordergrund stehen, fokussiert Glamorama auf terroristische Akte einer Gruppe und kollektives Sterben. Das affektlose Erzählen führt ebenfalls zu sehr unterschiedlichen Effekten: Das affektlos-postulierende Erzählen in American Psycho evoziert eine Affektfülle im Leser, da er als emotionale Quelle des Textes zum Komplizen des Erzählers mit schlechtem Gewissen gemacht wird. Gerade die starken emotionalen Reaktionen auf den Text erschweren jedoch die Identifizierung mit dem Protagonisten: Nicht das empathische Mitfühlen der Figurenemotionen, sondern durch Techniken der Schockästhetik, der Empathieerregung mit dem Opfer, der Zweckentfremdung des Werkzeugs und des dokumentarischen Erzählstils erreichte Abstumpfung und Schuldgefühle des Lesers stehen im Zentrum. In Glamorama hingegen löst das affektlos-postulierende Erzählen eine Affektlosigkeit im Rezipienten aus. Aufgrund der Unzuverlässigkeit des IchErzählers Victor müssen die postulierten Emotionen nachträglich als unglaubwürdig eingestuft werden. Zusätzlich wirkt das affektlos-vermeidende Erzählen distanzerzeugend, so dass zwischen Leser und Protagonist eine empathische Kluft entsteht.

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Dies wirkt sich erschwerend, gar verunmöglichend auf die Identifizierung des Lesers mit der Hauptfigur aus. 3. Der fünfte Roman Lunar Park fällt aus der bis dato etablierten Erzählweise heraus und lässt sich keiner der beiden Analysekategorien des emotions- und affektlosen Erzählens zuordnen. In ihm werden die psychischen und emotionalen Bereiche des Protagonisten klar benannt. Auch die autofiktionale Bearbeitung der VaterSohn-Beziehung als Horrorgeschichte sorgt für eine Sonderposition des Romans im Gesamtwerk von Ellis. Die deutlich autobiografischen Anteile des Textes machen ihn zu einem persönlichen Zeugnis, das durch die Wahl des Genres jedoch brüchig und durchlässig wird. Seine Sonderstellung hervorhebend, ist dieser Roman der einzige, der eine Identifizierung des Lesers mit dem Protagonisten zulässt. Die Herausforderung an den Rezipienten liegt im Falle Lunar Parks eher in der abgefragten Synthese der gegensätzlichen Textsorten Autofiktion und Horrorstory. 4. Mit Imperial Bedrooms kehrt Ellis wieder zum Modus des emotions- und affektlosen Erzählens zurück, indem er erstmals beide Erzählweisen miteinander verknüpft und die distanzierenden und verstörenden Elemente aus den Romanen Less Than Zero und American Psycho miteinander verbindet. Dabei verzichtet der Erzähler jedoch auf den sprachlichen Exzess, mit dem in American Psycho die Foltermorde beschrieben werden. Indem durch Techniken der ästhetischen Ungenauigkeit gezielte Leerstellen bei der Beschreibung von Folter und Mord eröffnet werden, die es der Imagination des Lesers überlassen, gefüllt zu werden, bietet sich erstmals die Möglichkeit, auch diese Textstellen mit einer lustvollen Faszination zu lesen. Da die autodiegetische Erzählerfigur jedoch eine hohle Chiffre bleibt, deren Charakter und Entwicklung dem Leser vorenthalten werden, kann auch hier keine Identifizierung des Lesers mit dem Protagonisten stattfinden. Ellis’ Romane wirken also wie die Axt, die das gefrorene Meer im Leser aufbricht: Er wird zu einer Positionierung gegenüber den Texten gezwungen, die nicht immer angenehm, sondern oftmals gar schmerzhaft, keineswegs leicht zu bewältigen, stets heikel, manchmal problematisch oder sogar beängstigend ist – die Romane hinterlassen im Rezipienten eine Wunde, die mit dem Zuschlagen des Buches nicht zwangsläufig verheilt. Das Nichts, das die Texte heraufbeschwören – die emotionale Sprachlosigkeit, die Unverstehbarkeit von Affekten, die mangelnden emotionalen Beweggründe –, wird kompensiert durch den Schmerz des Lesers: Erinnerungen an das Gelesene und an die eigene Teilhabe daran haben sich eingenistet und schwären fortan weiter. Faulkners Wahl für den Schmerz in Bevorzugung gegenüber dem Nichts2 transformiert sich bei Ellis in die Wahl des Nichts für die Romanfiguren, aber die Wahl des Schmerzes, mal schwach, mal intensiv, für den Leser. So erhält Ellis’ Schlusswort aus American Psycho „THIS IS NOT AN EXIT“ (AP, S. 399, Kapi2

S. Eingangszitat Kap. 4.

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talisierung im Original) schließlich Bedeutung für den gesamten Romankorpus: Nach der Beendigung des Leseprozesses ist die Grenzerfahrung des Lesens für den Rezipienten nicht vorbei. Der erzeugte Schmerz wird dem Leser erhalten bleiben. Das Schließen des Buches ist kein Ausgang aus dem Text. Jenseits der Analyse: Die Meta-Botschaft der Angst In der vorliegenden Arbeit wurden die Romane von Bret Easton Ellis als Gesamtwerk untersucht, innerhalb dessen die einzelnen Texte als miteinander verwobene Versatzstücke betrachtet wurden. Erst unter dieser Herangehensweise wird die Meta-Botschaft des Gesamtwerkes deutlich: Ellis beschäftigt sich praktisch in all seinen Romanen mit einem sehr emotionalen Thema – der Angst. Sie kehrt in allen Büchern in unterschiedlicher Ausprägung wieder. In Less Than Zero hat der junge Protagonist und Ich-Erzähler Clay mit seiner Angst vor dem Verlust der eigenen Identität zu kämpfen; Patrick Bateman wird in American Psycho von einer “nameless dread” heimgesucht; Victor Ward erlebt in Glamorama die Angst als Charaktermerkmal, auch wenn in der Rückschau die Authentizität der durchlebten Emotionen als fragwürdig eingestuft werden muss; in Lunar Park geriert sich die Identitätskrise der Hauptfigur Bret zu einer Identitätsangst, die einerseits an Less Than Zero anschließt, andererseits nicht nur den möglichen Verlust der eigenen Identität thematisiert, sondern in einer schizophrenen Ausprägung die Auflösung der Identität des Protagonisten in die des Vaters zelebriert; schließlich erfährt der mittlerweile erwachsene Clay in Imperial Bedrooms die Wiederkehr einer unbenannten Angst. Selbst in The Rules of Attraction, in der die Angst keine explizite Rolle spielt, ist sie als Teil der Entfremdungsdepression, die alle drei Hauptfiguren symptomatisch durchleben, implizit vorhanden. Insgesamt gelingt Ellis also ein interessantes Spiel mit Emotionen: Während er auf der stilistischen Ebene unauffällig bleibt, die Thematisierung und Präsentation von Emotionen vermeidet, sie allenfalls behauptet, ohne in die Tiefe zu gehen, und er auf der inhaltlichen Ebene dem Leser die Einfühlung in seine Figuren verweigert, indem er die Identifizierung mit ihnen erschwert und affektive Beweggründe vorenthält, dreht sich auf der Meta-Ebene jeder seiner Romane um die Angst. Die hintergründige Bearbeitung eines gemeinsamen emotionalen Themas verknüpft die Romane damit auch jenseits inhaltlicher und stilistischer Verflechtungen miteinander und weist die Texte somit erneut als Elemente eines übergeordneten literarischen Nexus aus. Die beiden in der Einleitung formulierten Ziele können damit als erreicht bewertet werden. Die methodische Zielsetzung beinhaltete die inhaltliche Abgrenzung der Begriffe Affekt, Emotion und Gefühl voneinander sowie die Entwicklung der Analysekategorien des emotions- und affektlosen Erzählens. Dies ist im theoretisch-methodischen Teil der Kapitel 2 bis 4 gelungen. Gemäß der praktischen Ziel-

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setzung sollten die Romane von Ellis als Gesamtwerk untersucht und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei wurde die Überbietungsstruktur der Romane hinsichtlich Motivik und emotionaler Lesersteuerung durch eine narratologische sowie rezeptionsästhetische Analyse offengelegt, indem die neu entwickelten Analysekategorien des emotions- und affektlosen Erzählens an den Texten von Bret Easton Ellis erprobt wurden. Die vorliegende Arbeit hat damit einen wesentlichen Teil zur Analyse und zum Verständnis des Romanwerks von Bret Easton Ellis beigetragen. Nicht nur wird erklär- und verstehbar, warum die Romane im Feuilleton derart negative Resonanz hervorriefen. Auch die krassen emotionalen Leserreaktionen, auf die die Ablehnung zurückzuführen ist, konnten als gezielte Lesermanipulation durch methodische Lenkungsstrategien entlarvt werden. Die heftige mehrstufige Emotionalisierung des Lesers ist gewollt; nicht zuletzt spiegelt sie das Oberthema der Angst, das das gesamte Romanwerk von Ellis durchzieht.

9.2 AUSBLICK

UND OFFENE

F ORSCHUNGSFRAGEN

Auch wenn die in dieser Arbeit gesetzten Zielvorgaben erreicht werden konnten, bleiben weitere Forschungsdesiderate zu identifizieren. Dies betrifft sowohl methodische und theoretische wie auch praktische Fragestellungen, die im Folgenden skizziert werden sollen. 9.2.1 Methodische und theoretische Forschungsdesiderate Die hier entwickelten Analysekategorien des emotions- und affektlosen Erzählens bedürfen weiterer Überprüfung und Erprobung anhand anderer literarischer Beispiele. Dabei wäre es einerseits wünschenswert, Textformen jenseits der Gattung des Romans heranzuziehen und Novellen und Kurzgeschichten, aber auch Dramen und Lyrik als Untersuchungsgegenstände zu wählen. Dies könnte dazu beitragen, die Analysekategorien des emotions- und affektlosen Erzählens weiter zu schärfen und ihre Anwendbarkeit auch für andere Textformen zu bestätigen. Andererseits könnten die Analysekategorien des emotions- und affektlosen Erzählens auch hilfreich sein bei der Analyse anderer Romane, die ebenfalls starke emotionale Leserreaktionen provozieren. Bezogen auf den europäischen Raum kämen da etwa Jonathan Littells Täterroman Les Bienveillantes 3 in Frage, der die Verbrechen des Nazi-Regimes aus der Perspektive eines aktiv daran beteiligten SD-Mannes beleuchtet, oder Matias Faldbakkens Skandinavische Misanthropie, 4 der mit seiner 3 4

Littell, Jonathan: Les Bienveillantes. Paris: Gallimard, 2006. Faldbakken, Matias: The Cockahola Company. Übers. v. Hinrich Schmidt-Henkel. München: Heyne, 2005, ders.: Macht und Rebel. Übers. v. Hinrich Schmidt-Henkel. Mün-

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dreistufigen Romanfolge die politisch-anarchische Rebellion des Einzelnen thematisiert. Im US-amerikanischen Raum bieten sich natürlich Texte an, die von Mitgliedern des Brat Packs verfasst wurden, etwa Jay McInerneys Story of My Life5 oder Tama Janowitz’ Kurzgeschichtensammlung Slaves of New York,6 aber auch Texte von Autoren, die nicht unter dem deutlichen Einfluss Ellis’ stehen, etwa Jonathan Franzens ernüchternder Familienroman The Corrections 7 oder Cormac McCarthys postapokalyptischer Albtraum The Road.8 Nicht alle Erzähler der hier genannten Texte sind Ich-Erzähler; so wird etwa bei Faldbakkens Erstling, bei Franzen und McCarthy die Handlung von einer heterodiegetischen personalen Erzählsituation bestimmt. An solchen Romanen ließe sich überprüfen, ob die Analysekategorien auch jenseits der auto- oder homodiegetischen Erzählsituation anwendbar sind. Außerdem wäre interessant zu hinterfragen, ob es sich bei den Erzählmodi des emotions- und affektlosen Erzählens um postmoderne Erscheinungen handelt oder ob sich diese Erzählweise auch in älteren Texten nachweisen lässt. Hier wäre eine Überprüfung von Autoren des frühen bis mitteleren 20. Jahrhunderts denkbar, z.B. William Faulkners Sanctuary9 oder Albert Camus’ L’Étranger.10 Darüber hinaus ist es sicher lohnend zu untersuchen, ob sich die hier entwickelten Analysekategorien des emotions- und affektlosen Erzählens um eine weitere Kategorie, das gefühllose Erzählen, erweitern ließen. Da es sich gemäß der Komponententheorie aus der Emotionspsychologie beim Gefühl um ein nicht näher bezeichnetes, hedonistisches Element handelt, das als Basis der Emotion und dem Affekt innewohnt, müsste dargelegt werden, um was genau es sich bei gefühllosem Erzählen in Abgrenzung zu emotions- und affektlosem Erzählen handeln würde. Nach einer theoretischen Einordnung sollte eine solche neu entwickelte Kategorie ebenfalls praktisch anhand einschlägiger literarischer Beispiele überprüft werden. Die in dieser Arbeit vorgenommene Differenzierung der Begriffe Affekt, Emotion und Gefühl könnte auch aus einer anderen Perspektive erfolgen. Hier wurde sich größtenteils auf Erkenntnisse aus der aktuellen Emotionspsychologie gestützt, die sich mit Ettes Forderung nach einer Vernetzung der Lebens- mit den Literaturwissenschaften begründet. 11 Allerdings lässt sich ohne den Rückgriff auf Freuds Affektkonzeption, die stark von der antiken Affektlehre beeinflusst ist, der Affekt chen: Heyne, 2007, ders.: Unfun. Übers. v. Max Stadler. München: Heyne, 2010. Alle drei Romane bilden zusammen die Romanreihe Skandinavische Misanthropie. 5

McInerney, Jay: Bright Lights, Big City. London: Bloomsbury, 2007.

6

Janowitz, Tama: Slaves of New York. London: Bloomsbury, 2002.

7

Franzen, Jonathan: The Corrections. New York: Farrar, Straus and Giroux, 2001.

8

McCarthy, Cormac: The Road. London: Picador 2006.

9

Faulkner, William: Sanctuary. London: Vintage 2011.

10 Camus, Albert: L’étranger. Paris: Gallimard 1996. 11 Ette, „Literaturwissenschaft”, S. 15. S. Einleitung.

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nicht einleuchtend von der Emotion trennen. Inhaltlich sind beide Termini einander sehr verwandt. Es wäre daher zu untersuchen, wo die Grenze zwischen Affekt und Emotion verläuft, möchte man beide Begriffe nicht synonym verwenden. Wird ein anderer Standpunkt bei der Differenzierung der Termini eingenommen, der sich nicht auf Emotionspsychologie und Psychoanalyse beruft, stellt sich im Anschluss die Frage, ob sich die darauf aufbauenden Analysekategorien des emotions- und affektlosen Erzählens, so wie hier entwickelt, noch aufrecht erhalten lassen oder ob sie modifiziert werden müssten. Auch die literaturwissenschaftlichen Konzepte, auf die in Kapitel 4 eingegangen wurde, bedürfen weiterer Auseinandersetzung. Hinsichtlich des „paradox of fiction“ wurde ausführlich dargelegt, dass zwar außer Frage steht, dass literarische Texte im Leser Emotionen erzeugen, jedoch ist noch nicht abschließend geklärt, wie dies geschieht. Katja Mellmanns Ansatz 12 ist zwar vielversprechend, jedoch aufgrund ihrer Bezugnahme auf den Attrappenbegriff recht umständlich und zudem leicht irreführend. Darüber hinaus eignet sich ihr Ansatz einzig zur Erklärung reflexhaft erzeugter Emotionen, nicht jedoch zur Erklärung komplexer sozialer Emotionen. In Kapitel 4 konnte zwar dargelegt werden, wie komplexe Meta-Emotionen im Leser evoziert werden, allerdings ist nicht endgültig geklärt, wie komplexe Fiktionsemotionen entstehen. Diesbezüglich müsste das „paradox of fiction“ weiterer kritischer Auseinandersetzung unterzogen werden. Auch das „paradox of tragedy“ lässt noch viele Fragen offen. Die bislang vorliegenden Erklärungen beziehen sich zumeist auf konversionsorientierte Argumente, die Hume, der das „paradox of tragedy“ erstmalig formulierte, selbst in seiner Abhandlung Of Tragedy anführt, oder auf kompensatorische Ansätze auf Basis von Aristoteles’ Poetik.13 Keine dieser Erklärungsansätze vermag das „paradox of tragedy“ befriedigend zu erschließen. Auch Martin von Koppenfels’ Lösung,14 die er in seinem Essay zu Littells Les Bienveillantes vorstellt, lässt sich zwar auf infame Ich-Erzählungen und mit ihnen verwandte Texte applizieren, jedoch nur bedingt auf andere Textsorten. So bleibt die Frage offen, wie sich das „paradox of tragedy“ etwa im Hinblick auf Romane wie Anna Karenina lösen lässt, die offensichtlich keine infamen Ich-Erzähler installieren, daher nicht die Identifizierung mit den Protagonisten erschweren und den Rezipienten nicht über eigene Abgründe zum Lesen verführen. Neben diesen methodischen und theoretischen Forschungsdesideraten sind jedoch auch offene Forschungsfragen speziell im Hinblick auf die Analyse der Texte von Bret Easton Ellis auszumachen. Auch sie sollen hier vorgestellt werden.

12 Mellmann, Emotionalisierung und Mellmann, „Emotionale Attrappe“. S. Kap.4.2. 13 Levinson, „Emotion in Response to Art“, S. 29ff. und Packer, „Paradox of Tragedy“. 14 Von Koppenfels, Schwarzer Peter, S. 67.

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9.2.2 Praktische Forschungsdesiderate Zwar hat sich seit den 2000er Jahren das Forschungsinteresse an den Texten von Ellis enorm gesteigert, aber dennoch ist die Forschungslage bisher sehr lückenhaft. Lediglich der Skandalroman American Psycho ist mit einer Vielzahl an Publikationen bedacht worden, seine anderen Romane und vor allem die Kurzgeschichtensammlung The Informers sind jedoch sehr vernachlässigt worden. Zu allen Texten bestehen meines Erachtens noch offene Forschungsfragen. Less Than Zero So wäre es für Less Than Zero in narratologischer Hinsicht wünschenswert, die Stimme des Erzählers genauer zu untersuchen. Der Ich-Erzähler Clay befindet sich auf der Schneide zwischen Zuverlässigkeit und Unzuverlässigkeit. Seine moralische Integrität ist sicherlich zweifelhaft, aber auch seine Realitätswahrnehmung ist verdächtig – er wird stark von Albträumen beeinflusst, glaubt an Werwölfe und ordnet seiner Identitätsangst seine Wirklichkeitsinterpreation unter.15 Eine genaue Analyse solcher Textsignale würde näheren Aufschluss über die (Un-)Zuverlässigkeit des Erzählers bieten. Aber auch strukturell sind noch Fragen offen: So hat Steur eine Vielzahl popkultureller Verweise herausgearbeitet, bleibt jedoch hinsichtlich deren Bedeutung recht unpräzise. Er vertritt die These, dass die kulturellen Codes dem Roman eine kunstvollere Tiefenstruktur verleihen, als oberflächlich erkennbar sei,16 bleibt bei der Analyse besagter Tiefenstruktur selbst aber recht banal. Der von Steur proklamierte Verweishorizont der kulturellen Codes bedarf daher einer profunderen Untersuchung. Generisch lässt sich Less Than Zero dem postmodernen Adoleszenzroman zuordnen, während er stilistisch der blank fiction zugehörig ist. Interessant wäre hier eine Untersuchung, inwiefern Genre und Stil einander unterstützen und wie traditionelle Motive des Adoleszenzromans in seiner postmodernen Ausprägung stilistisch umgesetzt werden. Da Less Than Zero kurz nach seinem Erscheinen auch bereits verfilmt wurde,17 wäre zudem ein intermedialer Vergleich im Hinblick auf Parallelen und Unterschiede im Handlungsverlauf und der Charakterzeichnung sowie die mediale Umsetzung der Leitmotive und des stilistischen Minimalismus aufschlussreich.

15 Schnatwinkel, Sarina: „On the road. Teenage Ennui und Angst bei Bret Easton Ellis’ Less Than Zero und Christian Krachts Faserland.“ In: Kritische Ausgabe, Sonderheft Angst Vol. 19 (2010) http://www.kritische-ausgabe.de/artikel/road vom 21.02.2013. 16 Steur, Der Schein und das Nichts, S. 98, S. 212, S. 250f. 17 LESS THAN ZERO (USA 1987, R: Marek Kanievska).

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The Rules of Attraction Ellis’ Nachfolgeroman The Rules of Attraction ist bisher sehr stiefmütterlich behandelt worden, wie die verschwindend geringe Anzahl an Publikationen beweist. Insofern wäre eine Bearbeitung sowohl narratologischer als auch inhaltlicher Themen wünschenswert. Auf narratologischer Ebene wären die einzelnen Erzählerstimmen zu untersuchen. Zusammen ergeben sie eine unzuverlässige Erzählung, die die Wirklichkeitswahrnehmung des Individuums hinterfragt und daher vom Leser synthetisiert und sinnstiftend geordnet werden muss. Da die vielen Erzähler in der Gesamtheit eine unzuverlässige Erzählung erzielen, stellt sich die Frage, ob auch die Einzelstimmen unzuverlässig sind oder nur in ihrer Kombination den Eindruck erwecken. Diesbezüglich müssten Textsignale herausgearbeitet werden, die die (Un-)Zuverlässigkeit der separaten Ich-Erzähler belegen. Auch auf inhaltlich-motivischer Ebene sind noch Forschungslücken zu identifizieren. Wie Schulte postuliert, ist auch The Rules of Attraction dem postmodernen Adoleszenzroman zuzuordnen.18 Hier wäre es sinnvoll, die Motive des Adoleszenzromans in Relation zum multiperspektischen Erzählen zu setzen und zu hinterfragen, wie sich die Entwicklungsaufgaben der Adolszenz für die jeweiligen Hauptfiguren stellen und wie sie bearbeitet werden, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen sind. Darüber hinaus kann The Rules of Attraction als Kritik am College-Leben und als Mikrokosmos metonymisch für die US-amerikanische Gesellschaft der 1980er Jahre gelesen werden. Diese Lesart ist bisher deutlich zu kurz gekommen. Selbst Colby reißt sie in ihrer Analyse der Texte als politische Statements nur oberflächlich an. 19 The Rules of Attraction wurde ebenfalls verfilmt,20 so dass auch hier ein intermedialer Vergleich insbesondere hinsichtlich des multiperspektivischen Erzählens reizvoll wäre. American Psycho Zu American Psycho wurde ausgesprochen viel veröffentlicht, zumeist jedoch zu inhaltlichen und motivischen Gesichtspunkten. Die meisten Publikationen befassen sich mit den Aspekten der Gewalt oder des Konsums, da es sich dabei um die bei-

18 Schulte, „Adoleszenzroman und Postmoderne“, S. 32. 19 Colby, Underwriting, S. 23-57. Sie handelt The Rules of Attraction gemeinsam mit Less Than Zero und der Kurzgeschichtensammlung The Informers ab, arbeitet sich dabei jedoch vornehmlich an gemeinsamen Motiven ab, die sie in allen drei Büchern checklistartig vorstellt. 20 THE RULES OF ATTRACTION (USA 2002, R: Roger Avery).

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den augenfälligsten Merkmale des Romans handelt. Andere Elemente des Romans wurden bislang allerdings vernachlässigt. So sind die komischen Aspekte in American Psycho bislang nicht untersucht worden. Es gibt durchaus einigen Szenen, die den Leser zum Schmunzeln bringen: Die schrägen Titel der Patty Winters Show, die sich Bateman täglich ansieht,21 die Konfrontation mit der chinesischen Bedienung in der Reinigung, bei der sie und Bateman völlig aneinander vorbei kommunizieren (AP, S. 82ff.), die Szene, in der Visitenkarten wie die Größe des männlichen Geschlechts miteinander verglichen werden (AP, S. 44f.), die regelrechte Farce, in die sich der Geschlechtsakt mit Courtney wandelt (AP, S. 101ff.) – all diese und weitere Situationen sind komisch. Hier wäre es lohnenswert, die Verknüfung von Humor und Tabu zu beleuchten, zu analysieren, inwiefern komische und ernste, komische und Abscheu erregende Elemente im Roman zueinander in Beziehung stehen. Interessant wäre auch eine Untersuchung, ob American Psycho in der Tradition der Bekenntnisliteratur steht. So versteht etwa Moser den Roman als Beichte, 22 erläutert aber nicht, wie er zu dem Schluss kommt. Andere Wissenschaftler lesen den Roman als Tagebuch23 oder als inneren Monolog.24 Eine abschließende Einordnung hat bislang also offensichtlich noch nicht stattgefunden. Darüber hinaus könnte es ausgesprochen fruchtbar sein, Jean Baudrillards Medientheorie der Hyperrealität auf den Roman anzuwenden. 25 Die Hyperrealität beschreibt nach Baudrillard eine Kopie ohne Original, ein Simulacrum.26 Die dauernden Verwechlsungen im Roman, das Kopieren von Diskursen, die intermedialen Referenzen könnten unter diesem Blickwinkel gewinnbringend interpretiert werden. Neben den beiden Erstlingsromanen ist auch American Psycho verfilmt worden.27 Die beim Sundance Film Festival uraufgeführte Produktion erlangte schnell 21 Ein knapper Überblick soll hierfür genügen: „a new sport called Dwarf Tossing“ (AP, S. 167), „a boy who fell in love with a soap box“ (AP, S. 297), „a machine that lets people talk to the dead“ (AP, S. 326), „Bigfoot was interviewed on The Patty Winters Show this morning“ (AP, S. 381, Hervorhebung im Original), „On The Patty Winters Show this morning a cheerio sat in a very small chair and was interviewed for close to an hour“ (AP, S. 386, Hervorhebung im Original). Die Patty Winters Show inklusive des Themas der jeweiligen Sendung wird in fast jedem Kapitel in American Psycho genannt. 22 Moser, Kannibalische Katharsis, S. 115. 23 Kuon, Der mimetische Konflikt, S. 218. 24 Messier, „Violence“, S. 74. 25 Weinreich, „Into the Void“ bleibt bisher einer der wenigen, der Baudrillards Medientheorie auf American Psycho appliziert. 26 Baudrillard, Jean: Simulacra and Simluation. Michigan: University of Michigan Press 1995. 27 AMERICAN PSYCHO (USA 2000, R: Mary Harron).

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Kultstatus und ist dementsprechend schon häufiger Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung gewesen. Dabei stand oftmals das unzuverlässige Erzählen des Films im Vergleich zum Roman im Fokus.28 Daher wäre hinsichtlich eines intermedialen Vergleichs aufschlussreich, ob und wie sich die in Kapitel 6.1.1 herausgearbeitete Ästhetik des Pathologischen in der Adaption fortsetzt, etwa durch Ausleuchtung und Farbfilter, Kameraeinstellungen oder Musik. The Informers Praktisch keine wissenschaftliche Aufmerksamkeit hat Ellis’ Kurzgeschichtensammlung The Informers erfahren. Daher gibt es für die Kurzgeschichten großen Nachholbedarf. Sie können sowohl allein als auch im Werkzusammenhang gelesen werden, da auch in The Informers die einzelnen Geschichten durch wieder auftretende Figuren miteinander verknüpft werden. Darüber hinaus erhält Tim Price, Nebenfigur aus American Psycho, zwei Gastauftritte. Inhaltlich besonders interessant für die Analyse sind Kurzgeschichten wie „The Secrets of Summer“ und „The Fifth Wheel“. In „The Secrets of Summer“ bleibt ungeklärt, ob die Hauptfigur Jamie ein echter Vampir ist oder sich nur für einen hält. Am Ende der Kurzgeschichte behauptet Jamie sogar, der biblische Dämon Legion zu sein. Dieser Text ist der einzige, in dem Ellis ein mystisches Wesen zu Wort kommen lässt. Sonst sehr um realistische Darstellung bemüht, bleibt es in „The Secrets of Summer“ offen, ob der Protagonist an einer psychotischen Persönlichkeitsstörung leidet, die ihn wahnhaft glauben lässt, ein Vampir oder Dämon zu sein, oder ob er wirklich eine solche Kreatur ist. Das Spiel mit unzuverlässigem Erzählen ist zwar bei Ellis nicht ungewöhnlich, der Sprung ins Fantastische hingegen schon.29 Auch „The Fifth Wheel“ unterscheidet sich hinsichtlich der Wahl der 28 Ferenz, Volker: „‚Did you know I’m utterly insane?‘ Formen, Funktionen und kulturelle Kontexte von unreliable narration in Mary Harrons Film AMERICAN PSYCHO.” In: Jörg Helbig (Hg.): „Camera Doesn’t Lie“: Spielarten erzählerischer Unzuverlässigkeit im Film. Trier: WVT 2006, S. 5-40. Ders.: “Fight Clubs, American Psychos and Mementos. The Scope of Unreliable Narration in Film.” In: New Review of Film and Television Studies, Vol. 3 (2) (2005), S. 133-159.

Kooijman, Jaap/Lane, Tarja: „American Psycho: A

Double Portrait of Serial Yuppie Patrick Bateman.“ In: Post Script Vol. 22 (3) (2003), S. 46-56. 29 Im Sinne einer Maximaldefinition von fantastischer Literatur wäre zwar auch Lunar Park dem Fantastischen zuzuordnen, weil durch die Erscheinung von Geistern und Dämonen

Naturgesetze verletzt werden. Im Rahmen einer engeren Definition, wie sie etwa Tsvetan Todorov vornimmt, ist allerdings die „Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat“ (Todorov, Tsvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Übers. v. Karin Kersten. Frankfurt a.M.: Fischer 1992. S. 26, Hervorhebung im

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Charaktere, denn dieser Text ist der einzige, der nicht im Milieu der Schönen und Reichen angesiedelt ist. Der Ich-Erzähler gehört zur weißen Unterschicht; die Verbrechen, an denen er beteiligt ist, haben daher nichts Erhabenes an sich, sondern sind von Verzweiflung und Hilflosigkeit geprägt. The Informers könnte also auf thematische und leitmotivische Diskrepanzen im Vergleich zum Gesamtwerk überprüft werden. Neben inhaltlichen Aspekten sind auch strukturelle Gesichtspunkte interessant. So greift die Kurzgeschichte „Letters from L.A.“, die in Briefform aufgebaut ist, die fragmentarische Struktur von Ellis’ frühen Texten explizit auf. Der fragmentarische Aufbau steht jedoch im Gegensatz zum Inhalt: In dieser Geschichte macht die Protagonistin Anne eine drastische Veränderung durch, die sie in ihren Briefen an Sean (aus The Rules of Attraction) beschreibt. Hier greift Ellis bereits seinen Romanen Glamorama und Lunar Park vor, in denen er seine Hauptfiguren ebenfalls eine Entwicklung durchleben lässt. Diese Kurzgeschichte wäre demnach daraufhin zu untersuchen, inwiefern sie als Vorbild für die späteren Romane gedient haben könnte, aber auch inwiefern Struktur und Inhalt zusammenhängen. Die sehr persönliche Kommunikation mit dem Leser, der die Rolle des niemals antwortenden Sean einnimmt, ist in dem Zusammenhang ebenfalls untersuchenswert. Jenseits einer isolierten Betrachtung einzelner Texte wäre auch für The Informers, so wie Colby es für die Romane getan hat, eine Ausarbeitung der immanenten Gesellschaftskritik wünschenswert. Außerdem ist auch The Informers für den Film adaptiert worden.30 Es handelt sich dabei um einen Episodenfilm, der, ebenso wie seine Vorlage, die einzelnen Original) ausschlaggebend für fantastische Literatur: „Die Unschlüssigkeit des Lesers ist also die erste Bedingung des Fantastischen.“ (Ebd., S. 31) Erst wenn der Leser den ontischen Status des Geschehenen in Zweifel ziehen muss und eine nicht auflösbare Ambiguität feststellt, handelt es sich um fantastische Literatur. In diesem engen Definitionsrahmen ist nur die Kurzgeschichte „The Secrets of Summer“ genuin fantastisch, da in ihr bis zum Schluss unklar bleibt, ob man es mit einem übernatürlichen Wesen oder einem Psychotiker zu tun hat. Lunar Park als Horrorgeschichte mit dem akzeptierten Erscheinen von übernatürlichen Phänomenen hingegen wäre dem Fantastisch-Wunderbaren zuzuordnen, also Texten, „die sich als fantastisch präsentieren und mit der Anerkennung des Übernatürlichen enden.“ (eEd., S. 49) Wird die Horrorgeschichte stattdessen allegorisch und nicht wörtlich verstanden, so wie hier geschehen, ist der Roman überhaupt nicht dem Fantastischen zuzuordnen, denn: „Das Fantastische impliziert also nicht allein das Vorkommen eines unheimlichen Ereignisses, das beim Leser und beim Helden Unschlüssigkeit bewirkt, sondern auch eine Art zu lesen, die man vorläufig negativ so defininieren kann: sie darf weder ‚poetisch‘ noch ‚allegorisch‘ sein.“ (Ebd., S. 32) Eine allegorische Lesart schließt das Fantastische damit aus. 30 THE INFORMERS (USA 2008, R: Gregor Jordan).

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Kapitel miteinander verknüpft, aber keine kohärente Handlung aufbaut. Für einen intermedialen Vergleich wäre interessant, welche Elemente aus der Kurzgeschichtensammlung übernommen und wie sie in Zusammenhang gesetzt werden. Glamorama Der Verschwörungsroman Glamorama ist aufgrund seiner Thematisierung des Terrorismus zumeist als Prätext zum Anschlag auf das World Trade Center gelesen worden. 31 Auch wenn man Ellis keine prophetischen Fähigkeiten unterstellen möchte, verdient der symbolische Wert des Terrorismus eine genauere Untersuchung. Von den unklaren Intentionen und Motivationen der Terrorzelle abstrahierend, wäre der Terrorismus als Selbstwert zu beleuchten, seine Funktion im Roman als kritisches Element oder sein Stellenwert als Bestandteil einer wahnhaften Psychose des Protagonisten zu überprüfen. Auf topografischer Ebene wäre es interessant, die Wahl Frankreichs als Ort der schlimmsten Anschläge zu evaluieren. Frankreich mit seiner nach wie vor sehr ausgeprägten Klassengesellschaft, in der die einzelnen Klassen wenig durchlässig sind und Aufsteiger signifikant seltener vorkommen als Absteiger, könnte als Äquivalent zu den USA mit ihrer durch die Reagan-Politik zementierten Schere zwischen Arm und Reich verstanden werden. Hier wäre zu hinterfragen, warum Ellis seine vernichtende Gesellschaftskritik nach Europa verlegt, anstatt die Handlung in seiner Heimat zu verorten. Auf der generisch-narratologischen Ebene wäre die Frage zu stellen, inwiefern sich der Verschwörungsroman mit dem unzuverlässigen Erzählen der Hauptfigur vereinbaren lässt. Hierfür wäre zunächst das Genre des Verschwörungsromans definitorisch zu schärfen, um anschließend zu untersuchen, ob das unzuverlässige Erzählen die Darstellung der mutmaßlichen Verschwörung unterstützt und welche Auswirkungen dies auf rezeptionstheoretischer Ebene hat.32

31 Etwa von Petersen, „Terrorist Pretexts“, S. 133-144. 32 Auch Glamorama soll verfilmt werden, wie Ellis am 12. Oktober 2011 über seinen Twitter-Account verkündete: „Just finished reading Roger Avary's adaptation of ‚Glamorama‘ which he will direct next year. Hilarious, horrific, sad. He's a mad genius.“ (Bret Easton Ellis

über

Twitter

am

12.10.2011.

https://twitter.com/BretEastonEllis/statuses/

124373071040753664 vom 25.02.2013) Der Film wird bei IMDb als „in development“ gelistet und soll angeblich 2014 erscheinen. (International Movie Database, GLAMORAMA

(2014): http://www.imdb.com/title/tt0339073/ vom 25.02.2013) Im Falle der Fertig-

stellung des Films ist auch hier ein intermedialer Vergleich mit der Romanvorlage spannend, sowohl im Hinblick auf die Umsetzung der mutmaßlichen Verschwörung als auch hinsichtlich der Unzuverlässigkeit des Protagonisten.

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Lunar Park Der Horrorroman Lunar Park ist in dieser Arbeit als Allegorie auf die Vater-SohnBeziehung, die in autofiktionaler Form im Roman verarbeitet wird, gelesen worden. Jedoch ist auch eine Lesart denkbar, die die Horrorgeschichte als Teil einer Psychose versteht. Diese Interpretation ist in der vorliegenden Arbeit nur angerissen worden.33 An diese Lesart ließe sich gut eine narratologische Untersuchung über die (Un-)Zuverlässigkeit des Ich-Erzählers anschließen. Ebenfalls gut daran anknüpfen würde eine psychoanalytische Interpretation der Geistererscheinungen im Roman. Wird der Text als Darstellung einer Psychose verstanden, könnten die Manifestationen der Psychose eine metaphorische Bedeutung haben. Das haarige Monster, das wandelnde Skelett, die belebte Puppe sind alles Figuren aus frühen literarischen Versuchen der Hauptfigur. Sie könnten demnach für verdrängte Kindheitstraumata stehen und bedürften in diesem Interpretationskontext einer genaueren Betrachtung. Jenseits der Lesart einer Psychose oder einer Allegorie und ihrer autofiktionalen Anteile könnte die Horrorgeschichte einer kritischen generischen Überprüfung unterzogen werden. In diesem Rahmen wären die klassischen Motive der Horrorliteratur und ihre Umsetzung interessant. Da von der Kritik treffend angemerkt wurde, der Roman sei mit solchen Motiven förmlich überladen und verhandele sie zusätzlich sehr stereotyp,34 ist die Annahme naheliegend, dass der Roman weniger eine Horrorgeschichte und mehr die Persiflage einer Horrorgeschichte darstellt. Die übertreibenden und ironisierenden Elemente der Geschichte müssten dafür konkret herausgearbeitet werden. Ohnehin ist Lunar Park ein Roman, in dem die komischen Elemente unübersehbar sind. Dies beginnt schon mit dem meta-fiktionalen Einstieg, in dem Ellis die Berichterstattung über die eigene Person spöttisch nacherzählt: „I was taken seriously. I was a joke. I was avant-garde. I was a traditionalist. I was underrated. I was overrated. I was innocent. I was guilty. I had orchestrated the controversy. I was incapable of orchestrating anything. I was considered the most misogynist American writer in existence. I was a victim of the burgeoning culture of the politically correct.“ (LP, S. 18)

33 Vgl. Fußnote 38 in Kap. 7.2.2. 34 So erklärt etwa David Amsden für das New York Magazine, „the prose and horror-story plot grow increasingly ramshackle and overstuffed“. (Amsden, David: „Fly like an Ego.“ In:

New

York

Magazine,

21.08.2005.

http://nymag.com/nymetro/arts/books/

reviews/12515/ vom 25.02.2013) Dem schließt sich Adam Mars-Jones im Guardian an und ergänzt, Ellis habe sich bei klassischen Horrorfilm-Motiven bedient, etwa „the possessed toy from Child's Play, the traumatised house from Poltergeist, the visceral transformations from Alien, even a lighting effect from Cocteau's Beauty and the Beast”. (Mars-Jones, Adam: „Beauty and the beastly.“ In: The Guardian, 09.10.2005. http://www.guardian.co.uk/books/2005/oct/09/fiction.breteastonellis vom 25.02.2013.)

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Diesen scharfzüngig-sardonischen Ton behält der Ich-Erzähler über große Strecken der Handlung bei, spart nicht an einer gehörigen Portion Selbstironie35 und bringt sich selbst immer wieder in unmögliche Situationen. Lohnenswert wäre also der Blick auf die Komik, sowohl hinsichtlich der Horrorgeschichte als Persiflage, aber auch und vor allem hinsichtlich der Weiterentwicklung des Stils. Was sich bei American Psycho mit beiläufig eingestreuten komischen Elementen schon andeutete, wird in Lunar Park zum Stilmoment: Bret Easton Ellis kann offenbar auch witzig erzählen.36 Imperial Bedrooms Ellis’ bis dato letzter Roman Imperial Bedrooms ist bislang kaum wissenschaftlich untersucht worden, was daran liegen mag, dass er erst wenige Jahre auf dem Markt ist. Colby hat den Roman allerdings bereits als Kritik am neo-imperialistischen Kapitalismus der USA im neuen Jahrtausend verstanden.37 Auch weniger globale Kritik könnte im Text herausgearbeitet werden, etwa an den Mechanismen der Hollywood-Industrie, mit denen Ellis im Zuge seiner Romanverfilmungen selbst regelmäßig in Kontakt gerät. Die zu Romanbeginn geäußerte Behauptung, der Ich-Erzähler aus Less Than Zero sei jemand anders, der sich nur für ihn ausgegeben habe (IB, S. 3), stellt die 35 Etwa wenn er zugibt, auf der Welttournee zu Glamorama von einem Aufpasser bewacht zu werden, der dafür sorgen soll, dass Bret keine Drogen nimmt – woran dieser natürlich scheitert, so dass er regelmäßig völlig absurd anmutende Memos an das Verlagshaus Knopf schicken muss, die Bret in seiner Berichterstattung genüsslich wiedergibt (LP, S. 32f.) oder wenn er in Ermangelung eines Traums, den er mit seiner Psychiaterin besprechen könnte, sich einfach ein skurriles Szenario einfallen lässt (LP, S. 114). 36 Ob diese Komik auch in der geplanten Verfilmung umgesetzt wird, kann in einem intermedialen Vergleich herausgearbeitet werden. IMDb listet auch LUNAR PARK als „in development“ und gibt als Veröffentlichungstermin das Jahr 2013 an. (International Movie Database, LUNAR PARK (2013): http://www.imdb.com/title/tt0493762/ vom 25.02.2013.) Erneut ist Roger Avery als Regisseur und auch als Drehbuchautor im Gespräch. (Bret Easton Ellis über seinen Twitter-Account am 17.07.2012: „Director/writer of ‚Lunar Park‘ is Roger Avary who has written a great, scary-as-hell script. He plans to shoot in September.“

https://twitter.com/BretEastonEllis/status/225453039903981570

vom

25.02.2013.) Neben den komischen Aspekten der Vorlage wäre eine Analyse des Protagonisten aufschlussreich: Wird er eher als wahnhafter Psychotiker dargestellt, der sein Umfeld verzerrt wahrnimmt und dessen Visionen von Geistern und Dämonen Ausgeburten seines Krankheitsbildes sind oder wird die Geschichte als Horrorstory rezipiert und dementsprechend die im Roman als authentisch verkaufte Heimsuchung durch Geist und Dämon als persönliches Familienschicksal der Hauptfigur präsentiert? 37 Colby, Underwriting, S. 165-188.

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Glaubwürdigkeit des Erzählers in Frage: Entweder hat Clay seine Beteiligung an den Geschehnissen aus Less Than Zero erfolgreich verdrängt oder aber er lügt – in beiden Fällen macht er sich damit zum „misreporter“. Diese Annahme zugrunde legend, müsste die (Un-)Zuverlässigkeit des autodiegetischen Erzählers untersucht werden zusammen mit den zahlreichen Leerstellen, die der Text eröffnet. Diese dienen sicherlich zur Spannungssteigerung, was dem Thriller-Genre geschuldet ist, dem Imperial Bedrooms als postmoderne Version einer „hard-boiled fiction“ zugehört, sie untergraben aber auch die Zuverlässigkeit der Erzählung. An dieser Stelle wäre die Frage interessant, inwiefern das (un-)zuverlässige Erzählen der Hauptfigur den Spannungsbogen des Thrillers beeinflusst. Zwar scheint auch Clay ein unzuverlässiger Erzähler zu sein, jedoch steht er im Gegensatz zu den Protagonisten aus American Psycho, Glamorama und Lunar Park nicht unter dem Verdacht, ein Psychotiker zu sein – seine narrativen Eigenarten sind nicht damit zu erklären, dass er verrückt ist. Seine Art des unzuverlässigen Erzählens bedürfte daher einer genauen Untersuchung, die das Genre der „hard-boiled fiction“ mit berücksichtigt.38 Neben den Ergebnissen dieser Arbeit sind also noch zahlreiche spannende, überraschende und innovative Erkenntnisse über die Literatur von Ellis zu erwarten. Ein letztes Zitat von Bret Easton Ellis selbst soll dies veranschaulichen: „As a writer the thing that I hate most is when people demand: but what is THE MOTIVATION of the character? My answer is: supply your own.“39

38 Auch Imperial Bedrooms ist für eine Verfilmung im Gespräch, jedoch stehen bisher weder Regisseur noch Cast (nach Gerüchten über eine Zusammenführung der Originalbesetzung aus LESS THAN ZERO für die Fortsetzung, MTV Movies Blog am 14.04.2009, http://moviesblog.mtv.com/2009/04/14/bret-easton-ellis-finishes-less-than-zero-sequelwants-robert-downey-jr-back/ vom 26.02.2013) noch ein Erscheinungsjahr fest (International Movie Database, IMPERIAL BEDROOMS, http://www.imdb.com/title/tt1417766/ vom 26.02.2013). Sollte der Roman tatsächlich adaptiert werden, könnte ein intermedialer Vergleich zeigen, inwieweit der Film das Genre der Vorlage aufgreift, ob in Anlehnung an die „hard-boiled fiction“ ein „film noir“ daraus entsteht oder eher ein klassischer Thriller, wie mit der (Un-)Zuverlässigkeit der Hauptfigur umgegangen wird und ob die kritischen Elemente des Romans aufgegriffen oder vernachlässigt werden. 39 Bret Easton Ellis über seinen Twitter-Account am 15.02.2013, Kapitalisierung im Original. https://twitter.com/BretEastonEllis/status/302242949843009536 vom 26.02.2013.

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Figurenregister

AIMEE LIGHT:

AL: ALANA: ALISON POOLE:

AMANDA FLEW:

ANJANETTE: ANNE: ASHTON ALLEN: BENTLEY HARROLDS: BERTRAND: BETHANY: BLAIR: (LTZ, IB)

(LP) Studentin am College, schreibt ihre Abschlussarbeit über Bret Easton Ellis; hat Affäre mit Bret, wird in einem Motel grausam ermordet (AP) Obdachloser, der von Bateman niedergestochen wird (LTZ) Freundin von Clay aus L.A., lässt eine Abtreibung machen (G) offizielle Freundin von Damien Nutchs Ross, Model; heimliche Affäre von Victor; eigentlich Hauptfigur in Jay McInerneys Roman Story of my Life (IB) Mitbewohnerin von Rain Turner; in gefährliche Drogengeschäfte verstrickt; außerdem Ex-Geliebte von Rip Millar, wird mutmaßlich in seinem Auftrag ermordet (G) Model, mit dem Victor auf der Straße eine sinnlose Unterhaltung führt (AP) Bekannte von Bateman, die sich seiner Empfehlung, eine Diet Pepsi zu bestellen, nicht fügen möchte (LP) Sohn der Nachbarn und bester Freund von Robby; verschwindet vier Wochen nach Robby (G) Model, Agent der Terrororganisation; wird von Bobby Hughes ermordet (TRoA) Ich-Erzähler; Austauschstudent aus Frankreich, Seans Zimmergenosse (AP) Ex-Freundin von Bateman, die er nach einem gemeinsamen Lunch foltert und ermordet (Ex-)Freundin von Clay; wünscht sich eine Wiederaufnahme der Beziehung; in IB mit Trent verheiratet, gibt Clay ein kostspieliges Alibi für die Nacht, in der Julian ermordet wird

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BLAIRS MUTTER: BLAIRS VATER: BOBBY HUGHES: BRIAN METRO:

BRET EASTON ELLIS:

BRIGID: BRUCE RHINEBECK: CHLOE BYRNES: CHRISTIE: CLAY:

CLAYS GROßMUTTER: CLAYS GROßVATER: CLAYS MUTTER: CLAYS SCHWESTERN: CLAYS VATER: CLAYTON:

COURTNEY: CRAIG MCDERMOTT: DAMIEN NUTCHS ROSS:

(LTZ) Alkoholikerin; lebt von ihrem Mann getrennt (LTZ) Filmproduzent; hat eine Affäre mit einem jungen Schauspieler namens Jared (G) Ex-Model, Chef der Terrororganisation; wird in einem Kampf Mann gegen Mann von Victor getötet (TI, „Discovering Japan“) Ich-Erzähler und erfolgreicher Rockstar, dessen Freizeitbeschäftigungen aus der Misshandlung und Demütigung von Groupies bestehen (LP) Hauptfigur und Ich-Erzähler des Romans; berühmter Schriftsteller mit Drogenvergangenheit, der nach der Hochzeit mit einer Hollywoodschauspielerin erfolglos ein bürgerliches Leben zu führen versucht (TRoA) Kommilitonin von Sean (G) Model, Agent der Terrororganisation; wird im Auftrag Bobbys ermordet (G) offizielle Freundin Victors, Topmodel; wird von Bobby Hughes vergiftet (AP) Straßenprostituierte, die von Bateman gefoltert und ermordet wird (LTZ, TRoA, IB) Hauptfigur und Ich-Erzähler; 18jähriger Sohn einer schwerreichen Familie aus Los Angeles, studiert an der Ostküste in Camden, verbringt die Weihnachtsferien in L.A.; in TROA Nebenfigur; wird meist als „guy from L.A.“ bezeichnet; gerät in IB nach einer verhängnisvollen Affäre in Schwierigkeiten (LTZ) bereits verstorben; Clay hatte zu ihr ein liebevolles Verhältnis (LTZ) ebenfalls bereits verstorben; ehemals Besitzer mehrerer Hotels und Casinos in Nevada (LTZ) lebt in der Villa auf dem Mulholland Drive; Clays Eltern leben seit einem Jahr getrennt (LTZ) etwa 13 und 15 Jahre alt; Namen bleiben ungenannt (LTZ) Filmproduzent; lebt in einem Penthouse downtown (LP) Verkörperung des Dämons, der Bret heimsucht; gibt sich als Student am College aus, fährt Brets alten Mercedes 450 SL (AP) Geliebte von Bateman (AP) Kollege und Freund von Bateman (G) Geschäftspartner Victors, mit dem er einen Club in Manhattan eröffnet

F IGURENREGISTER

DANIEL: DAVID VAN PATTEN: DEIDRE: DERF: DIRK: DONALD KIMBALL:

DONALD: ELIZABETH:

EVA: EVE: EVELYN: F. FRED PALAKON: FELIX: FINN: FRANKLIN: GRAHAM: GRIFFIN: HAROLD CARNES:

HARRY: HUNDEBESITZER:

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(LTZ) Freund von Clay aus Camden, ebenfalls wohnhaft in L.A. (AP) Kollege und Freund von Bateman (TRoA) One-Night-Stand von Sean; wird auch Dede Dedire, Deedum oder einfach D genannt (LTZ) Freund von Clay aus L.A. (TI) Freund des Ich-Erzählers Tim (AP, LP) Detektiv, ermittelt wegen des Verschwindens von Paul Owen; ermittelt in LP vorgeblich in Mordfällen in Midland County, stellt sich später jedoch als der Mörder Bernard Erlanger heraus, der den Namen Donald Kimball als Pseudonym benutzt (TRoA) Freund von Paul (AP) Bekannte von Bateman, die er dazu bringt, mit der Straßenprostituierten Christie vor seinen Augen Sex zu haben, um sie anschließend grausam zu ermorden (G) Doppelgängerin von Lauren Hynde (TRoA) Ich-Erzählerin; Pauls Mutter (AP) Verlobte von Bateman (G) Drahtzieher hinter sämtlichen Verwicklungen, undurchschaubar (G) Kameramann der amerikanischen Filmcrew, warnt Victor vor Gefahren (LTZ) Julians Zuhälter, will auch Clay ins Gewerbe locken (TRoA) Eroberung von Judy, später mit Lauren liiert (TI) Freund des Ich-Erzählers Tim (LTZ) Bekannter von Clay, mit dem er einen homoerotischen One-Night-Stand hat (AP) Anwalt von Bateman, dem er auf dem Anrufbeantworter dutzende Morde gesteht, was dieser als Scherz auffasst (TRoA) Freshman; unternimmt einen Selbstmordversuch, nachdem er erfahren hat, dass er adoptiert ist (AP) homosexueller Besitzer eines Sharpeis; wird von Bateman mit einem Messer getötet, nachdem dieser seinen Hund ausgeweidet hat

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(TRoA, G) Mädchen, dem Victor in Europa hinterher reist; in G Model, Doppelagentin; arbeitet für und gegen die Terrororganisation; in einer Beziehung mit Bobby Hughes, wird von ihm ermordet JAYNE DENNIS: (LP) Hollywoodschauspielerin und Brets Ehefrau JOANA: (TRoA) neue, 25jährige Freundin von Laurens Vater JUDY: (TRoA) Laurens beste Freundin, hat einen One-NightStand mit Sean JULIAN WELLS: (LTZ, IB) ehemals bester Freund von Clay; heroinsüchtig, prostituiert sich; in IB fester Freund von Rain Turner; Leiter eines exklusiven Call-Girl-Rings, wird von Rip Millar entführt und zu Tode gefoltert KELLY MONTROSE: (IB) ermordeter Hollywood-Produzent; hatte eine Affäre mit Rain Turner, die ihn sein Leben kostete KIM: (LTZ) Freundin von Clay aus L.A. LAUREN HYNDE: (TRoA, G) Hauptfigur und Ich-Erzählerin; eigentlich verliebt in Victor, hatte vor Beginn des Romans eine Beziehung mit Paul, beginnt während der Handlung eine Affäre mit Sean; in G beste Freundin von Chloe, Schauspielerin und Model, heimliche Affäre von Victor LAURENS MUTTER: (TRoA) Verlegerin einer Zeitschrift, lebt getrennt von ihrem Ehemann LIEFERJUNGE: (AP) Chinese; wird fälschlicherweise für einen Japaner gehalten und daher von Bateman ermordet LINDSAY: (LTZ) Bekannter von Clay aus L.A. MÄDCHEN: (LTZ) bleibt namenlos; One-Night-Stand von Clay MANN IM MOTEL: (LTZ) Kunde von Finn, den Julian und Clay gemeinsam besuchen; Julian prostituiert sich, Clay schaut zu MARINA CANNON/GIBSON: (G) lernt Victor auf dem Schiff nach Europa kennen, Teilzeitmodel; Agentin, die Victor von London fernhalten soll MARY: (TRoA) Ich-Erzählerin; begeht Selbstmord aus unerwiderter Liebe zu Sean MEGHAN REYNOLDS: (IB) Ex-Affäre von Clay, die er auf die gleiche Weise ausnutzte wie Rain Turner MITCHELL ALLEN: (TRoA, LP) Ich-Erzähler; Ex-Liebhaber von Paul, Grund für die Trennung von Lauren und Paul; in LP Nachbar von Bret MURIEL: (LTZ) Freundin von Clay aus L.A., heroinabhängig und magersüchtig NADINE ALLEN: (LP) Nachbarin JAIME/JAMIE FIELDS:

F IGURENREGISTER

NOEL: NORRIS: PATRICK BATEMAN:

PAUL OWEN:

PAUL:

PSYCHIATER: RAIN TURNER:

RAYMOND: REGISSEUR 1: REGISSEUR 2: RIP MILLAR:

ROBBY:

ROBERT MARTIN ELLIS: ROBERT MILLER: ROSS: ROXANNE: RUPERT:

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(TRoA) One-Night-Stand von Lauren (TRoA) Kumpel von Sean; macht respektlose Bemerkungen über Saras Abtreibung (TRoA, AP, G) Ich-Erzähler, älterer Bruder von Sean; in AP Wall Street-Broker und Serienmörder; hat in G einen Gastauftritt (AP) Kollege von Bateman, handelt den ominösen Fisher-Account; wird von Bateman mit einer Axt ermordet (TRoA) Hauptfigur und Ich-Erzähler; bisexuell; hatte vor Beginn der Erzählung ein Verhältnis mit Lauren, dann mit Mitchell, beginnt während der Erzählung eine Affäre mit Sean (LTZ) bleibt namenlos; ist für Clay nicht besonders hilfreich (IB) erfolglose junge Schauspielerin Anfang 20; arbeitet für Julian Wells’ Call-Girl-Ring, erhofft sich durch Affären mit einflussreichen Männern eine HollywoodKarriere (TRoA, TI) Freund von Paul in TRoA, Freund von Tim in TI (G) gehört zur amerikanischen Filmcrew, bleibt namenlos (G) gehört zur französischen Filmcrew, bleibt namenlos (LTZ, IB) Clays Drogendealer und skrupelloser Geschäftsmann; in IB von Schönheits-OPs entstellter Immobilienhändler, für zahlreiche Morde verantwortlich (LP) Brets zehnjähriger leiblicher Sohn mit Jayne, den er nach Jahren der Verleugnung als Sohn anerkennt; verschwindet am Ende des Romans unauffindbar (LP) Brets verstorbener Vater; sucht ihn als Geist heim, um ihn vor Fehlern zu warnen (LP) Exorzist; versucht, den Geist und den Dämon, die Brets Haus heimsuchen, auszutreiben (LTZ) Bekannter von Clay; findet in einem Hinterhof die Leiche eines Drogentoten (TRoA) Ich-Erzählerin; Freundin von Lauren (TRoA) Seans Drogendealer, bei dem er beträchtliche Schulden hat

370 | D AS N ICHTS UND DER S CHMERZ . E RZÄHLEN BEI B RET E ASTON ELLIS

SABRINA: SAM HO: SAMUEL JOHNSON: SARA: SARAH: SEAN:

SPIN: SPIT: STASH: STEVE: STUART: TAMMY DEVOL: TIFFANY: TIM PRICE:

TONY: TORRI: TRENT BURROUGHS:

VANDEN: VICTOR WARD:

(AP) Prostituierte, die von Bateman gefoltert und ermordet wird (G) asiatisches Topmodel, Sohn des koreanischen Botschafters; wird von der Terrorzelle gefoltert und ermordet (G) Senator und Präsidentschaftswahlkandidat, Victors Vater; sorgt dafür, dass Victor die USA verlässt (TRoA) Freundin von Lauren, schwanger von Tim; lässt eine Abtreibung vornehmen (LP) 6jährige Stieftochter von Bret (TRoA, AP) Hauptfigur und Ich-Erzähler; hat zunächst ein Verhältnis mit Paul, das er verleugnet, danach eine Beziehung mit Lauren, die er schwängert; hat in AP einen Gastauftritt (LTZ) Freund von Clay aus L.A., vergewaltigt eine Zwölfjährige (LTZ) Freund von Clay aus L.A (AP) Bildhauer; Bekannter von Evelyn (TRoA) Freshman, One-Night-Stand von Lauren; später mit Judy liiert (TRoA) Ich-Erzähler; heimlich verliebt in Paul (G) Model, Agentin der Terrororganisation; wird im Auftrag Bobbys ermordet (AP) Escort-Girl, das von Bateman gefoltert und ermordet wird (TRoA, AP, TI) Kumpel von Sean in TRoA; Kollege und Freund von Bateman in AP; Ich-Erzähler in der Kurzgeschichte „At the Stillpoint“, in der er sich am Todestag eines Freundes mit drei Kumpels trifft (TRoA) Kommilitone von Sean (AP) Escort-Girl, das von Bateman gefoltert und ermordet wird (LTZ, IB) Freund von Clay aus L.A., begeistert vom Snuff-Film; in IB erfolgreicher Hollywood-Agent und Ehemann von Blair (AP) Studentin am College Camden, Freundin von Stash; Bekannte von Evelyn (TRoA, G) Ich-Erzähler; hatte im Sommer eine Liebelei mit Lauren, kann sich aber kaum noch an sie erinnern; in G Hauptfigur und Ich-Erzähler, semi-erfolgreiches Model, das in den Sog einer Terrororganisation gerät

F IGURENREGISTER

ZWÖLFJÄHRIGE:

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(LTZ) Vergewaltigungsopfer; wird von Rip entführt, sediert und gefesselt, um anschließend vergewaltigt zu werden

Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß August 2014, ca. 260 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel November 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2014-07-01 12-08-08 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c1370626346364|(S.

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3) ANZ2791.p 370626346372

Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Dezember 2014, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Heinz Sieburg (Hg.) Geschlecht in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen November 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Oktober 2014, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2014-07-01 12-08-09 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c1370626346364|(S.

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3) ANZ2791.p 370626346372

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)

Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014

Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften ­– die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 2

Dezember 2013, ca. 200 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2375-8 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht.

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