Referenzbegehren: Sprache und Gewalt bei Bret Easton Ellis und Christian Kracht 9783412215699, 9783412209476

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Referenzbegehren: Sprache und Gewalt bei Bret Easton Ellis und Christian Kracht
 9783412215699, 9783412209476

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Referenzbegehren Sprache und Gewalt bei Bret Easton Ellis und Christian Kracht

von Immanuel Nover

2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FAZIT-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über   http://dnb.d-nb.de  abrufbar.

Umschlagabbildung: aus: Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hrsg. v. Charles Bally und Albert Sechehaye, Berlin/Leipzig, 1931, S. 78.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Prime Rate Kft., Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-412-20947-6

Inhalt DANKSAGUNG .....................................................................................

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EINLEITUNG – GEWALT, KÖRPER UND ZEICHEN UM 1900 UND UM 2000 ........

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1.

VERORTUNG DER TEXTE – DIE JAHRHUNDERTWENDEN UM 1900 UND UM 2000......... 21 1.1 Einführung.................................................................................. 21 1.2 Dandy und Ästhetizismus............................................................ 23 1.3 Die Dezentrierung des Subjekts – der Verlust des ‚Ganzen‘.......... 34 1.4 Sprache ....................................................................................... 39 1.5 Gewalt......................................................................................... 44 1.6 Die Jahrhundertwende um 2000 – „unser Fin de siècle“?............. 55

TEIL I FRAGMENTIERTE (TEXT-)KÖRPER – BRET EASTON ELLIS....................................................................... 59 2. EINFÜHRUNG ZU BRET EASTON ELLIS.................................... 60 3.

DIE TEXTE VON BRET EASTON ELLIS ...................................... 68 3.1 Stand der Forschung und Textstruktur „Less Than Zero“ ............ 68 3.2 Stand der Forschung und Textstruktur „American Psycho“ .......... 75 3.3 Stand der Forschung und Textstruktur „Glamorama“ .................. 85 3.4 Kontinuitäten ............................................................................. 91

4.

HYPERTROPHE ZEICHEN – SPRACHE UND KOMMUNIKATION BEI BRET EASTON ELLIS ................................................................................ 98 4.1 Sprache und Kommunikation in „Less Than Zero“...................... 98 4.2 Sprache und Kommunikation in „American Psycho“................... 107 4.3 Sprache und Kommunikation in „Glamorama“............................ 119

5.

BLUTIGE EINSCHREIBUNGEN – GEWALT BEI BRET EASTON ELLIS.............................................. 131 5.1 Gewalt in „Less Than Zero“......................................................... 132 5.2 Gewalt in „American Psycho“...................................................... 145 5.3 Gewalt in „Glamorama“.............................................................. 163

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Inhalt

6. ZUSAMMENFASSUNG VON TEIL I ............................................. 173

TEIL II REPRÄSENTATION UND PRÄSENZ – CHRISTIAN KRACHT .................................................................... 177 7. EINFÜHRUNG ZU CHRISTIAN KRACHT.................................. 178 8. DIE TEXTE VON CHRISTIAN KRACHT...................................... 184 8.1 Stand der Forschung und Textstruktur „Faserland“...................... 184 8.2 Stand der Forschung und Textstruktur „1979“............................. 189 8.3 Textstruktur „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“......................................................................... 193 8.4 Kontinuitäten.............................................................................. 195 9. PREKÄRE ZEICHEN – SPRACHE UND KOMMUNIKATION BEI CHRISTIAN KRACHT..................................................................... 202 9.1 Sprache und Kommunikation in „Faserland“............................... 202 9.2 Sprache und Kommunikation in „1979“...................................... 214 9.3 Sprache und Kommunikation in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“.................................................. 230 10. VERSCHWINDEN UND VERLÖSCHEN – GEWALT BEI CHRISTIAN KRACHT............................................. 246 10.1 Gewalt in „Faserland“.................................................................. 246 10.2 Gewalt in „1979“......................................................................... 256 10.3 Gewalt in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“......................................................................... 271 11. ZUSAMMENFASSUNG VON TEIL II ............................................ 281 FAZIT UND AUSBLICK – REFERENZ UND REPRÄSENTATION UM 1900 UND UM 2000..... 287 LITERATUR ............................................................................................ 297 PERSONENREGISTER .......................................................................... 307

Danksagung

Das vorliegende Buch stellt die für den Druck überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und der Università degli Studi di Firenze im Rahmen des Deutsch-Italienischen Promotionskollegs entstanden ist. Die Arbeit an der Dissertation wurde durch die Förderung der Universität Bonn, die mir ein Promotionsstipendium im Rahmen der individuellen Graduiertenförderung gewährte, erheblich erleichtert, wofür ich der Universität Bonn zu großem Dank verpflichtet bin. Mein Dank gebührt auch der FAZITStiftung, die mir nicht nur ein Promotionsabschlussstipendium zukommen ließ, sondern zudem den Druck der Arbeit mit einem Druckkostenzuschuss unterstützte. Meinem Doktorvater Prof. Dr. Helmut J. Schneider danke ich herzlich für die hervorragende Betreuung der Arbeit und für die konstruktive, inspirierende und warmherzige Unterstützung während meiner Promotionszeit. Meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Patrizio Collini möchte ich für die produktive Betreuung meiner Dissertation und für den herzlichen Empfang in Florenz danken: Die Zeit in Florenz wird mir als eine höchst inspirierende und fruchtbare Phase der Promotionszeit stets in bester Erinnerung bleiben. Meinen Kolleginnen und Kollegen an der Universität Bonn, der Universität Florenz und der Universität Münster bin ich für den gewinnbringenden Austausch und für zahllose Anregungen zu Dank verpflichtet. Hierbei möchte ich insbesondere meinem ‚Florenz-Jahrgang‘ und den Lehrenden und Promovierenden des Promotionskollegs in Bonn und Florenz danken. Mein persönlicher Dank gilt den folgenden Personen – ohne Euch und Eure Unterstützung wäre die Arbeit nie das geworden, was sie schließlich geworden ist: Stefania Acciaioli, Johanna Braschos, Sven Glawion, Klaus und Ulla Grabensee, Konstanze Kappenstein, Jochen Kappler, Dorothea Klein, Cristiano und Ulrike Krings-Rocha, Tim Happel, Markus Mause, Sven Neufert, Anna Repossi, Marc Sitzer und Per Tiedtke. Besonders herzlich möchte ich mich bei meiner Familie für die in jeglicher Hinsicht gewährte Unterstützung während des Studiums und während der Promotionszeit bedanken: Georg Nover, Petra Nover-Storp und Thamara Nover, Ihr habt stets an das Projekt und an mich geglaubt – dafür danke ich Euch! Mein ganz besonderer Dank gilt Britta Grabensee, die mich durch alle Höhen und Tiefen der Promotionszeit begleitet hat und mir die Kraft, das Ver-

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Danksagung

trauen und die Motivation für die Arbeit an der Dissertation gegeben hat. Für Deine Unterstützung – und für vieles andere – danke ich Dir von ganzem Herzen!

I’ve forgotten who I had lunch with earlier and, even more important, where. Was it Robert Ailes at Beats? Or was it Todd Hendricks at Ursula’s, the new Philip Duncan Holmes bistro in Tribeca? Or was it Ricky Worrall and we were at December’s? Or would it have been Kevin Weber at Contra in NoHo? Did I order a partridge sandwich on brioche with green tomatoes, or a big plate of endive with clam sauce?1 Bret Easton Ellis Alle zwei Wochen gab es eine freiwillige Selbstkritik. Ich ging immer hin. Ich war ein guter Gefangener. Ich habe versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.2 Christian Kracht Wer nicht wahr ist, wirft sich weg!3 Hugo von Hofmannsthal

Einleitung – Gewalt, Körper und Zeichen um 1900 und um 2000 In der Literatur der Jahrhundertwende um 2000 wird das System der Sprache und seine Funktionalität – das heißt die Kompetenz, die Welt zu fassen, zu benennen und zu kommunizieren – wieder vermehrt diskutiert. Insbesondere die Autoren,4 die Theorien aus dem Bereich der Postmoderne rezipieren und adap1 Ellis, Bret Easton: American Psycho. London 2000, S. 148 f. 2 Kracht, Christian: 1979. Köln 2001, S. 183. 3 Hofmannsthal, Hugo von: Der Kaiser und die Hexe. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. v. Rudolf Hirsch u.a. SW III Dramen 1. Hrsg. v. Götz Eberhard Hübner, Klaus-Gerhard Pott und Christoph Michel. Frankfurt am Main 1982, S. 187. 4 Das theoretische und methodische Setting der Arbeit zielt keineswegs auf eine Diskussion der Autorintention ab; die Nennung der Namen der Autoren bei der Textanalyse folgt lediglich der etwas unscharfen Konvention, die Namen als sprachliches Äquivalent für den jeweiligen Text zu nutzen. Die Arbeit beschäftigt sich mit Texten; die Frage nach dem Autor bzw. dem Verhältnis von Text, empirischen Autor und Autorkonstruktion durch den

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tieren, führen die Auflösung des sprachlichen Systems und Zeichens sowie den Verlust der Möglichkeit der Kommunikation mit dem Anderen in ihren Texten vor. Im Zentrum der Überlegungen steht hierbei die Frage, wie die sprachliche Repräsentation und Kommunikation im Bewusstsein einer sprachkritischen Haltung, die als Krise der Repräsentation und Referenz aufgefasst werden kann, noch ermöglicht werden kann. Die Erkenntnis der defizitären sprachlichen Repräsentation, die bereits zur Zeit der Jahrhundertwende um 1900 von Hugo von Hofmannsthal in „Ein Brief“5 formuliert wurde, provoziert eine Suche nach alternativen Ausdrucksformen – in „Ein Brief“ wird am Ende des Textes die Möglichkeit einer neuen Kommunikationsform, einer ‚neuen Sprache‘, angedeutet –, die eine unmittelbare Präsenz erzeugen und so die problematisch gewordene mittelbare Repräsentation der Zeichen zugunsten einer authentischen und unmittelbaren Realpräsenz aufgeben. Gleichzeitig wird damit das hermeneutische Paradigma, wie etwa Jean-Luc Nancy6 gezeigt hat, durch eine auf Präsenz oder Evidenz basierende Erfahrung abgelöst. Als eine Möglichkeit der Überwindung der Sprachkrise wird der Körper und dessen nicht-sprachliche Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit in der Literatur um 2000 zunehmend diskutiert. Auch hier schließt die Literatur um 2000 wieder an die Literatur um 1900 an: So wird etwa in Hofmannsthals „Elektra“ die Präsenz und Ausdruckspotenz des tanzenden Körpers, dem keine sprachliche Artikulation mehr möglich ist, dargestellt. Über die Präsenz des Körpers gelingt zudem die Reformulierung der Konstitutionsmöglichkeiten des Subjekts; wurde dieses in der Folge poststrukturalistischer Theorien zusammen mit dem Autor noch für „tot“7 bzw. als dezentriert erklärt, so kann sich nun etwa im Schmerz

Text wird lediglich in einem abschließenden Kapitel von Belang sein – aber auch hier wird von einer polysemischen Autorkonstruktion ausgegangen, die den Autor bzw. die Autorinszenierung als mediale Erzeugung eines Diskurses versteht und keinesfalls den empirischen Autor oder die Autorintention in den Blick nehmen möchte. 5 Hofmannsthal, Hugo von: Ein Brief. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. v. Rudolf Hirsch, Christoph Perels und Heinz Rölleke. SW XXXI Erfundene Gespräche und Briefe. Hrsg. v. Ellen Ritter. Frankfurt am Main 1991. 6 Vergl.: Nancy, Jean-Luc: The Birth to Presence. Stanford 1993. Wir befinden uns hier, wie es Hans Ulrich Gumbrecht etwas polemisch formuliert, „Diesseits der Hermeneutik“. Vergl.: Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main 2004. 7 Vergl.: Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. v. Fotis Jannidis. Übersetzt von Matías Martínez und Simone Winko. Stuttgart 2000, S. 185–193.



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das Subjekt und seine Körperlichkeit wieder artikulieren und konstituieren.8 In Texten, die sich mit der Krise der Sprache befassen, wird der Körper oftmals als Ziel und Ort gewaltsamer Eingriffe und/oder ‚Einschreibungen‘ präsentiert; die ‚Kommunikation‘, die verbal nicht mehr möglich ist, manifestiert sich nun in der Gewalt der geschundenen Körper: Die Kommunikation mit dem Anderen erfolgt über die gewaltsamen ‚Einschreibungen‘ in den Körper des Anderen. Theoretisch lässt sich, wie bereits angedeutet, die Literatur und Kunst um 2000 und die Diskussion und Problematisierung der Zeichen sowohl an die Jahrhun8 Gleichwohl soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die von Barthes polemisch festgestellte und propagierte Behauptung des ‚Todes des Autors‘ wohl etwas vorschnell war; zumindest wird seit etwa zehn Jahren wieder vermehrt die „Rückkehr des Autors“ beobachtet. Vergl. Jannidis, Fotis u.a.: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. v. Fotis Jannidis u.a. Tübingen 1999. Eine genaue Lektüre der Texte von Barthes oder Foucault zeigt zudem, dass selbst im Strukturalismus und Poststrukturalismus der Autor in seiner Funktion als diskursive Instanz existiert und ‚anwesend‘ ist. Zudem soll mit Michael Wetzel darauf verwiesen werden, dass die These vom Tod des Autors nicht als „grundsätzliche Negation“, sondern vielmehr als eine funktionale Relativierung“ zu verstehen ist. Wetzel, Michael: „Autor/Künstler“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hg. v. Karlheinz Barck u.a. Bd. 1. Stuttgart 2000, S. 481. Uwe Wirth spricht hier in Anlehnung an Michel Foucault von der „Rettung des Autors als diskursive Instanz“. Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München 2008, S. 19. Jenseits einer autorintentionalistischen Lesart stellt Foucault die Frage nach der diskursiven Funktion des Autors in den Raum: „Es genügt freilich nicht, als leere Aussage zu wiederholen, dass der Autor verschwunden ist. […] Was man tun müsste, wäre, das Augenmerk auf den durch das Verschwinden des Autors leer gelassenen Raum zu richten, der Verteilung der Lücken und Bruchstellen nachzugehen und die durch dieses Verschwinden frei gewordenen Stellen und Funktionen auszuloten.“ Foucault, Michel: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt am Main 2003, S. 242. Giorgio Agamben weist in seinem Aufsatz „Der Autor als Geste“ nach, dass Foucault durch das Zitat von Beckett, mit dem er seinen Text ‚Was ist ein Autor?‘ eröffnet, „das geheime Thema des Vortrags ironisch zu evozieren scheint. ‚Was liegt daran wer spricht, hat jemand gesagt was liegt daran wer spricht.‘ Es gibt also jemanden, der, wenn er auch anonym und ohne Gesicht bleibt, die Aussage gemacht hat, jemanden, ohne den die These, welche die Bedeutung des Sprechenden negiert, nicht hätte formuliert werden können.“ Agamben, Giorgio: Profanierungen. Frankfurt am Main 2005, S. 57.

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dertwende um 1900 als auch an die Jahrhundertwende um 2000 rückbinden. So erfährt die Literatur um 2000 eine Aufnahme virulenter Topoi postmoderner Denker: Hierbei können vor allem Jean Baudrillards Theorie zur Simulation und Hyperrealität, Jean-François Lyotards Feststellung des Verlustes der MetaErzählungen, Giorgio Agambens Formulierung der Figur des ‚homo sacer‘ und Jacques Derridas sprachtheoretische Überlegungen besonders produktiv in die Erzählungen der postmodernen Literatur und Kunst überführt und als Ausdruck einer kritischen Diagnose der Gegenwartsgesellschaft gelesen und ästhetisch fruchtbar gemacht werden. Primär wäre hier auf Baudrillard zu verweisen, der mit seiner Theorie der Simulation und Hyperrealität eine Analyse der postmodernen Welt geschaffen hat, die unter anderem auch im zeitgenössischen Film rezipiert wird. In der erzählenden Literatur des späten 20. Jahrhunderts findet sich die Adaption poststrukturalistischer Sprachtheorien etwa bei Don DeLillo, der das ‚Rauschen‘ der Sprache bereits im Titel seines Textes „White Noise“9 aufnimmt. Der Titel – das ‚weiße Rauschen‘ beschreibt das indifferente Signal, das etwa ein Radio ausstrahlt, wenn sämtliche Kanäle zugleich abgehört werden – verweist auf die Auslöschung des mittels Sprache kommunizierten Sinnes in der sprachlichen Hypertrophie der Postmoderne und schließt somit direkt an die von Bret Easton Ellis dargestellte Welt der Hyperrealität an, in der die Markennamen der Konsumgüter sämtliche sprachliche Botschaften überdecken und Referenz nur noch über Produktnamen hergestellt werden kann. Auch DeLillos drei Jahre zuvor erschienenes Buch „The Names“10 nimmt bereits im Titel Bezug auf die Thematik des Verlustes der sprachlichen Benennbarkeit. Thomas Pynchon stellt sowohl in seinen frühen Erzählungen, die in dem Band „Slow Learner“11 gesammelt sind, als auch in „V“12 und „Gravity’s Rainbow“13 Bezüge zu Sprachtheorien der Postmoderne her. Neben dem Verlust der Sprache ist in der Literatur der Jahrhundertwende um 2000 die Dezentrierung des Subjekts, der Verlust des ‚Ganzen‘, von besonderer Bedeutung; der Frage nach der Identität des Individuums – oder die Darstellung der Auflösung ebendieser – wird emphatisch nachgegangen. Nicht nur in den Texten von Bret Easton Ellis und Christian Kracht steht die Diskussion der problematisch gewordenen Individualität und Identität im Vordergrund; auch David Lynch diskutiert diese in seinen Filmen – als Beispiel seien „Lost 9 10 11 12 13

DeLillo, Don: White Noise. New York 1985. DeLillo, Don: The Names. New York 1982. Pynchon, Thomas: Slow Learner. Boston 1984. Pynchon, Thomas: V. London 1963. Pynchon, Thomas: Gravity’s Rainbow. New York 1995.



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Highway“ und „Mulholland Drive“ genannt. DeLillo und Pynchon verknüpfen die Darstellung der Krise der Sprache ebenfalls mit der Erzählung der brüchigen oder wechselhaften Identitäten, die keine eindeutige und unveränderliche Identität mehr bieten. Die Krise der Sprache und der Metaphysik, die sich als eine Krise der (sprachlichen) Repräsentation und als ein Verlust der Referenz der Zeichen fassen lässt, kann also als virulente Thematik der (postmodernen) Literatur der Jahrhundertwende um 2000 verstanden werden.14 Zugleich lässt sich jedoch, wie im folgenden Kapitel ausführlich gezeigt wird, über diese Diskussion an die Literatur der Jahrhundertwende um 1900 anknüpfen, in der die Krise der Sprache nahezu omnipräsent ist und von Hugo von Hofmannsthal in „Ein Brief“ besonders prägnant und eloquent formuliert wird. Die Feststellung des Verfassers des Briefes, Lord Chandos, dass ihm mit dem fortschreitenden Zerfall der Sprache „völlig die Fähigkeit abhanden gekommen [ist], über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen“15 und dass ihm „die abstrakten Worte [...] im Munde [zerfielen] wie modrige Pilze“16, kann als luzide Diagnose einer sprachlichen Krise gelesen werden, die auch hundert Jahre später noch thematisiert wird. Lord Chandos beschreibt die Auflösung der Sprache, also einen Verlust der Repräsentationsfähigkeit der sprachlichen Zeichen. Die Beziehung der Begriffe zu der außersprachlichen, zu repräsentierenden Vorstellung und Referenz löst sich auf, „sie hatten es nur miteinander zu tun, und das Tiefste, das Persönliche meines Denkens, blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen.“17 Der von Hofmannsthal in „Der Kaiser und die Hexe“ apodiktisch formulierte Anspruch, im Sprechen immer ‚wahr‘ zu sein – „Merk dir nichts als dies, Tarquinius: / Wer nicht wahr ist, wirft sich weg!“18 –, kann von Lord Chandos nicht mehr eingelöst werden: Er kann seine Tochter nicht „auf die Notwendigkeit, immer wahr zu sein, hin14 Foucault führt hierzu aus: „In ihrer ursprünglichen Form, als sie den Menschen von Gott gegeben wurde, war die Sprache ein absolut sicheres und wahres Zeichen der Dinge, weil sie ihnen ähnelte. Die Namen waren auf dem von ihnen Bezeichneten deponiert, wie die Kraft in den Körper des Löwen eingeschrieben ist, wie das Königtum in den Blick des Adlers, wie der Einfluß der Planeten auf der Stirn der Menschen markiert ist: durch die Form der Ähnlichkeit. Diese Transparenz wurde in Babel als Bestrafung für die Menschen zerstört. Die Sprachen wurden voneinander nur getrennt und wurden miteinander unvereinbar insoweit, als zunächst jede Ähnlichkeit mit den Dingen ausgelöscht wurde, die erste raison d’être der Sprache war. Alle Sprachen, die wir kennen, sprechen wir jetzt nur auf dem Hintergrund der verlorenen Ähnlichkeit und in dem Raum, den sie leer gelassen hat.“ Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main 1993, S. 66 f. 15 Hofmannsthal: Ein Brief, S. 48. 16 Ebd., S. 48 f. 17 Ebd., S. 50. 18 Hofmannsthal: Der Kaiser und die Hexe, S. 187.

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führen [...], [da ihm hierbei die ihm] im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflossen, daß [...] [er] den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd“19 seine Tochter geradezu fluchtartig – „bleich im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn“20 – verlassen muss. Diese sich physisch und psychisch äußernde Krise der Benennung bereitet sich allmählich von abstrakten Begriffen, die „ein höheres oder allgemeineres Thema“21 sprachlich fassen, auf die gesamte Sprache an sich aus „wie ein um sich fressender Rost22“23. Am Ende des Briefes äußert Lord Chandos die Hoffnung auf eine ‚neue‘ Form der Sprache und Kommunikation, die ihn aus der Krise der Repräsentation und Referenz hinausführen soll und eine ‚andere‘ Art der sprachlichen Benennung möglich machen soll: „[E]ine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.“24 Hofmannsthals mögliche ‚Lösung‘ der Krise, die auratisch-mystische ‚neue Sprache‘, die am Ende des Briefes anklingt, wird in der Jahrhundertwende um 2000 von Christian Kracht in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“25 aufgenommen und diskutiert. „In diesem [...] Moment [...] hörte ich zum ersten Mal die neue Sprache [...]: Brazhinsky öffnete den Mund, und ich erhielt einen gewaltigen Stoss versetzt.“26 Mittels der ‚neuen Sprache‘, der „Rauchsprache“27, die sich im Raum als res extensa manifestiert, kann eine neue Form der Kommunikation erzeugt werden: „Sprache existiert nicht nur im

19 Hofmannsthal: Ein Brief. S. 49. 20 Ebd., S. 49. 21 Ebd., S. 48. 22 Hofmannsthal greift hier auf die Bildlichkeit aus „Der Kaiser und die Hexe“ zurück: „Und wenn du ein Wesen lieb hast, Sag nie mehr, bei deiner Seele! Als du spürst. Bei deiner Seele! Tu nicht eines Halms Gewicht Mit verstelltem Mund hinzu: Dies ist solch ein Punkt, wo Rost Ansetzt und dann weiterfrißt.“ Hofmannsthal: Der Kaiser und die Hexe, S. 187. 23 Hofmannsthal: Ein Brief, S. 49. 24 Ebd., S. 54. 25 Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln 2008. 26 Ebd., S. 108. 27 Ebd., S. 42.



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Raum, sie ist zutiefst dinglich, sie ist ein Noumenon.“28 Kracht schlägt als neue Kommunikationsform eine Sprache vor, die das ‚Gesprochene‘ tatsächlich existent werden lässt; das ‚Wort‘ wird zum ‚Ding‘ und kann so – durch die Präsenz des „Noumenon“ – die problematische Repräsentation durch die Zeichen mittels seiner Materialität umgehen.29 „Dann können wir das Gesprochene betrachten, um es herumgehen, es schliesslich bewegen. Da es vorhanden ist, können wir es bewegen.“30 Die Krise der Sprache und der Repräsentation – und die Suche nach einer anderen, neuen Form der (unmittelbaren) Kommunikation – bleibt also auch für die Literatur um 2000 von Belang; das Referenzbegehren der Jahrhundertwende um 1900 bleibt ungestillt. Die Linie von der Jahrhundertwende um 1900 zu der Jahrhundertwende um 2000 lässt sich jedoch nicht nur über den Aspekt der Krise der Sprache ziehen: Der Aspekt der Gewalt ist in der Literatur der Jahrhundertwende um 1900 und um 2000 gleichfalls von Bedeutung. Die Gewalt ist in der Literatur des ausgehenden Millenniums nun nahezu omnipräsent und wird als das atavistische und archaische Andere oftmals als ‚Ausweg‘ aus der kommerzialisierten Simulation der Hyperrealität verstanden. David Fincher zeigt in seinem auf dem Buch von Chuck Palahniuk beruhenden Film „Fight Club“31, wie die Protagonisten mittels Gewalt eine Gegenwelt erschaffen, in der sie ein vermeintlich ‚reales‘ Leben erfahren, das sie aus der Alltagswelt des Kommerzes herausführen soll; die atavistische Gewalt soll zu einem unmittelbaren Erleben archaischer Gefühle wie Schmerz und Rausch führen. Doch nicht nur im Film der Postmoderne wird die Gewalt ausgiebig diskutiert und als bedeutsamer Aspekt der Kultur der Gegenwartsgesellschaft verstanden – so lassen sich etwa an dem Film „Hostel“32, der eine blutrünstige und erschreckende Geschichte erzählt, aufschlussreiche Erkenntnisse über die USA der Gegenwart und deren traumatische Kriegs- und

28 Ebd., S. 44. 29 Sabine Schneider und Christian Villiger verweisen in der Einleitung zu ihrem Sammelband „Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts“ bereits auf die Entdeckung der Bedeutung der Materialität der Sprache bei Maurice Blanchot. „Die einzige Möglichkeit, an dieses Jenseits der sprachlichen Repräsentation zu gelangen, bestehe in der Entdeckung, dass Sprache selbst ist, dass Sprache selbst eine Materialität mit sich führt, die nicht Sprache ist.“ Schneider, Sabine und Villiger, Christian: Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2010, S. 11. 30 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 44. 31 Palahniuk, Chuck: Fight Club. New York 1996. 32 Roth, Eli: Hostel. DVD. Sony Pictures 2006.

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Terrorerfahrungen gewinnen33 –, auch in der zeitgenössischen Literatur wird die Gewalt ausführlich thematisiert. Frédéric Beigbeder berichtet in „39,90“34 von einer brutalen Gewalttat, die im Milieu der wohlhabenden und gelangweilten Mitarbeiter einer erfolgreichen Werbeagentur passiert. Michel Houellebecq erzählt in seinem bekanntesten Buch „Ausweitung der Kampfzone“35 von einem verzweifelten Sexualmord. Gewalt und Sprache spielen in der Literatur der Postmoderne offensichtlich eine bedeutende Rolle und stehen oftmals – nicht nur in „Fight Club“ – in enger Wechselwirkung. Die Krise der Sprache erfährt mit ihrer Verbindung zur Gewalt in der Postmoderne ihre ganz eigene Reformulierung: So wird der Gewalt, die als das unmittelbare, atavistische Andere gelesen wird, die Möglichkeit zugeschrieben, Präsenz zu erzeugen und somit eine Kommunikation zu etablieren, die jenseits der Krise der Repräsentation stattfindet. Gewalt, so die Überlegung, repräsentiert nicht, sondern ist unmittelbar präsent. Diesen Aspekt der Gewalt macht sich Rainald Goetz mit seiner Lesung/Performance beim Ingeborg-Bachmann-Preis 1983 zunutze: Das ist doch ein Schmarren, [...] denen was vorzulesen, was eh in meinen Roman hinein gedruckt wird, eine tote Leiche wäre das, [...] ich lege denen doch keinen faulig totig stinkenden Kadaver da vor sie hin, [...] es muß doch BLUTEN, ein lebendiges echtes rotes Blut muß fließen, sonst hat es keinen Sinn, wenn kein gescheites Blut nicht fließt, dann ist es bloß ein Pippifax oder ein ausgelutschter Büstenhalterträger, aber logisch nichts Gescheites, ein Blut ein Blut ein Blut, das müßte raus fließen, Spritz Quill Ström […].36

Der Text von Goetz lässt sich poetologisch und programmatisch als ein Konzept einer unmittelbaren ‚Kunst der Präsenz‘ lesen, die das Geschriebene, den Text, das Buch, aufgrund der Wiederholung, die etwas Unauthentisches und ‚Totes‘ erzeugt, als Möglichkeit der Repräsentation und Kommunikation ablehnt. Authentische Kommunikation lässt sich nur über eine nicht-repräsentative und nicht-mimetische Formulierung herstellen; das Blut, das in Klagenfurt nach

33 Vergl.: Nover, Immanuel: Das zweifache amerikanische Trauma. Der amerikanische Film Hostel als Wiederkehr des Verdrängten und als Spiegel des Selbst. In: Dawn of an Evil Millennium. Horror und Kultur im neuen Jahrtausend. Hg. v. Jörg van Bebber. Darmstadt 2011, S. 191–196. 34 Beigbeder, Frédéric: 39,90. Reinbek bei Hamburg 2001. 35 Houellebecq, Michel: Ausweitung der Kampfzone. Reinbek bei Hamburg 2001. 36 Goetz, Rainald: Subito. In: Ders.: Hirn. Frankfurt am Main 2003, S. 9 f.



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dem Schnitt mit der Rasierklinge von Goetz’ Stirn tropft, erzeugt unmittelbare Präsenz – der Körper spricht.37 Die blutige ‚Tat‘ von Goetz lässt sich somit als Analogie zu Jacques Derridas Ausführungen zu Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“ verstehen. Derrida schreibt: Das Theater der Grausamkeit ist keine Repräsentation. [...] Wie werden Sprache und Schrift alsdann funktionieren? Indem sie wieder zu Gesten werden [...] [I]ndem man das Diaphane entkonstituiert, entblößt man das Fleisch des Wortes [...], den Schrei [...]. Es geht also weniger darum, eine stumme Szene zu bilden, als eine Szene, deren Geschrei noch nicht im Wort zur Ruhe gekommen ist.38

Goetz schließt an Derridas Darstellung der Bedeutung des ‚Schreis‘ bei Artaud an und führt seine Überlegungen zu der Präsenz des Körpers im Fließen des Blutes weiter aus: Da mußte ich wieder an die blutige Folter denken und an das lebendige rote Blut, das irgendwo heraus fließen müßte, damit alles einen Sinn ergäbe. Ohne Blut logisch kein Sinn. Und weil ich kein Terrorist geworden bin, deshalb kann ich bloß in mein eigenes weißes Fleisch hinein schneiden. [...] Ich schneide in die Haut, Blut quillt hervor, und es macht: Fließ Rinn Zisch Lösch.39

Goetz, der eben kein Terrorist ist, erzeugt die Präsenz der gewaltsam geöffneten Haut, aus der das Blut strömt, durch die Selbst-Verletzung, deutet aber bereits die Möglichkeit an, Präsenz über die Verletzung des Anderen zu evozieren – und eben diese Möglichkeit der Kommunikation wird Bret Easton Ellis in „American Psycho“ und „Glamorama“ erörtern.40 Über den mittels der Gewalt evozierten 37 Hubert Winkels weist auf die Relation von Körper, Schrift und Subjekt bei Goetz hin: „Daß der Signifikant, statt auf andere Signifikanten zu verweisen, ins Fleisch schneidet, ist, in kulturgeschichtlicher Perspektive, auch eine kryptotheologische Reprise christlicher Mythen wie der Fleischwerdung des Wortes und der Darreichung von Christi Blut im Abendmahl.“ Winkels, Hubert: Krieg den Zeichen. Rainald Goetz und die Wiederkehr des Körpers. In: Der.: Einschnitte. Zur Literatur der 80er Jahre. Köln 1988, S. 251. 38 Derrida, Jacques: Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main 1972, S. 353 ff. 39 Goetz: Subito, S. 16. 40 Elisabeth List weist auf die Gemeinsamkeit von Schmerz und Gewalt hinsichtlich der Möglichkeit der Generierung von Intensität hin: „[Es] bleibt dem Wunsch nach Erleben oft nur der Schmerz als eine Erfahrung von großer Intensität, will man nicht irgendwelchen Drogen, dem Wahn, oder gar dem rauschhaften Ausagieren von Gewalt und Exzeß verfallen.“

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Schmerz konstituiert sich zugleich das schmerzempfindende und schmerzartikulierende Subjekt: „Man kann nicht vom Schmerz reden ohne zur Kenntnis zu nehmen, daß da jemand ist, die oder der Schmerzen hat. Und dieses ‚jemand‘ ist das mittlerweile allseits totgesagte Subjekt.“41 Zugleich konstituiert sich in dem auf die Seiten des Buches tropfenden Blutes der Autor, der nun wortwörtlich in und mit ‚Blut‘ schreibt – und ganz offensichtlich ‚anwesend‘ ist. Der Aspekt der Gewalt in der Literatur der Gegenwart lässt sich ebenfalls an die Literatur der Jahrhundertwende um 1900 rückbinden. Die Gewalt findet sich dort, insbesondere in dem Modell des Opfers, in unterschiedlichsten Texten. Bei Hofmannsthal ist der Aspekt der Gewalt, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, unter anderem in „Elektra“42 und „Alkestis“43 elementar für den Text. Doch auch bei anderen Autoren der Jahrhundertwende, etwa bei Oscar Wilde, Charles Baudelaire oder Stefan George, lässt sich die Gewalt als wichtiger Topos ausmachen. Die Gewalt wird hier zum einen als Ausweg aus der Erstarrung und dem ‚ennui‘ des ausgehenden 19. Jahrhunderts gelesen – erinnert sei an das letzte Kapitel in Thomas Manns „Zauberberg“, das den Beginn des 1. Weltkrieges erzählt und das bezeichnenderweise mit „Donnerschlag“44 überschrieben ist –, zum anderen kann die Gewalt als Reaktion auf die Krise der Sprache und Repräsentation gedeutet werden. So kann mittels Gewalt eine unmittelbare Präsenz erzeugt werden, die jenseits der Krise der Sprache noch eine Kommunikation gewährleisten soll. Hofmannsthals „Elektra“ endet mit dem „namenlosen Tanz“45 Elektras; allein der ekstatische und unreglementierte Tanz vermag noch das Geschehen mit der ‚Geste‘ des Tanzes auszudrücken – sprachlich lässt sich das Geschehen, die Erfüllung der Rachephantasien, nicht mehr fassen, Elektra verstummt: „Wer glücklich ist wie wir, dem ziemt nur eins: / schweigen und tanzen!“46 List, Elisabeth: Schmerz. Der somatische Signifikant im Sprechen des Körpers. In: Die Wiederkehr des Anderen. Interventionen 5. Hrsg. v. Jörg Huber und Alois Martin Müller. Basel und Frankfurt am Main 1996, S. 226. 41 Ebd., S. 231. 42 Hofmannsthal, Hugo von: Elektra. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. v. Rudolf Hirsch u.a. SW VII Dramen 5. Hrsg. v. Klaus E. Bohnenkamp und Mathias Mayer. Frankfurt am Main 1997. 43 Hofmannsthal, Hugo von: Alkestis. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. v. Rudolf Hirsch u.a. SW VII Dramen 5. Hrsg. v. Mathias Mayer. Frankfurt am Main 1997. 44 Mann, Thomas: Der Zauberberg. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hrsg. v. Heinrich Detering u.a. Band 5.1. Der Zauberberg. Hrsg. v. Michael Neumann. Frankfurt am Main 2002. 45 Hofmannsthal: Elektra, S. 110. 46 Ebd., S. 110.



Einleitung

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Die in Elektras Tanz aufscheinende Präsenz, die im Gegensatz zur Sprache das Geschehen noch (ansatzweise) ausdrücken kann, und die These Hofmannsthals, dass die Sprache die Artikulation nicht immer sicherstellen kann, wird in den Texten von Bret Easton Ellis aufgenommen und diskutiert. Patrick Bateman muss in „American Psycho“ feststellen, dass eine sprachliche Artikulation und eine Kommunikation mit dem Anderen nicht mehr möglich ist; die Namen bezeichnen keine Person mehr, sondern sind zu austauschbaren, frei flottierenden und bedeutungslosen Signifikanten geworden. Bateman versucht nun, mittels Gewalt Schmerz zu erzeugen, um so dem Körper des Anderen ein bedeutungstragendes Zeichen abzuringen. Allein in der Extremsituation der Verletzung, in der Artikulation der Schmerzen, kann noch ein sprachliches Zeichen konstituiert werden, das Bedeutung trägt und kommuniziert. Im Folgenden soll die jeweilige spezifische Relation von Sprache und Gewalt in den Texten von Christian Kracht und Bret Easton Ellis untersucht werden. Das Ziel der Arbeit ist weniger ein detaillierter Vergleich der Texte von Ellis und Kracht, als die Analyse und Darstellung der jeweiligen Struktur des Verlustes der Sprache und Kommunikation sowie die Verbindung dieser zur Gewalt. Die Texte werden somit nicht komparatistisch gelesen, sondern als individuelle Modelle der Systeme Sprache und Gewalt verstanden. Gleichwohl können die exemplarisch diskutierten Texte auch als Modell, das bestimmte Verfahrensweisen herausarbeitet und darstellt, aufgefasst werden und so an andere Texte angelegt werden. Im Zentrum der Arbeit wird die Frage stehen, wie Kommunikation und sprachliche Fassbarkeit noch geleistet werden kann, wenn die Sprache grundsätzlich als defizitär verstanden werden muss. In den Texten von Bret Easton Ellis wird die Auslöschung der Kommunikation in der sprachlichen Hypertrophie der Produktnamen beschrieben; eine eindeutige Benennung der Personen, eine sprachliche Repräsentation, ist nicht mehr möglich. Christian Kracht führt einen unzuverlässigen Erzähler vor, der nicht nur an seiner Kompetenz, sondern an der Möglichkeit, überhaupt noch zu erzählen und die Welt sprachlich fassen und benennen zu können, zweifelt. Die Gewalt dient, so die Kernthese des ersten Teils der Arbeit, bei Ellis dazu, über die unmittelbare Zeichenartikulation des Körpers, der aufgrund der Evokation von Schmerz eine unmittelbare Präsenz erzeugt, die die Repräsentation der Zeichen zugunsten einer authentischen und unmittelbaren Kommunikation über den Körper – bzw. den Schmerz – aufgibt, wieder eine Kommunikation mit dem Anderen zu ermöglichen. Das Eindringen mit dem Messer in den Körper des Opfers lässt sich so ganz buchstäblich als verzweifelter Versuch lesen, einen

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Einleitung

Kontakt mit dem Anderen herzustellen und in den Körper und das Sein des Anderen ‚einzudringen‘. Die Subjektivation47 – mit diesem Begriff beschreibt Judith Butler in Anlehnung an Michel Foucault und Louis Althusser die Erschaffung von Subjekten innerhalb gesellschaftlicher Diskurse – erfolgt hier, so die These, nicht mittels der als defizitär erfahrenen Sprache, sondern durch die gewaltsame und blutige ‚Ansprache‘ an den Anderen. Bei Christian Kracht kann die Gewalt, wie im zweiten Teil der Arbeit gezeigt wird, hingegen als Verfahren der Auslöschung und des Verschwindens verstanden werden. Die als unsicher und nicht fassbar gedeutete Umwelt wird über die Gewalt zunehmend ausgelöscht, um so die Auslöschung der Identität des Erzählers zu erreichen. Am Ende steht nach der ‚tabula rasa‘ die Möglichkeit der Neuschreibung, die Kracht in „1979“ andeutet. Die Aspekte der Sprache und der Gewalt lassen sich in den Texten von Bret Easton Ellis und Christian Kracht, wie angedeutet, zum einen in der Literatur ihrer Zeit verorten und als exemplarische Lektüre der an Sprache und Gewalt interessierten Literatur der Postmoderne lesen, zum anderen lassen sich die Texte jedoch auch an die Diskussion der Krise der Sprache und der Gewalt des Opfers in der Literatur der Jahrhundertwende um 1900 anbinden. Wenngleich die Arbeit sich vorwiegend auf die Analyse der Texte von Ellis und Kracht konzentriert, so wird doch mittels der vorangestellten Verortung der Texte die Linie von der Jahrhundertwende um 2000 zu der Jahrhundertwende um 1900 zumindest andeutungsweise gezogen und die Texte von Ellis und Kracht in einen weiteren Kontext gestellt. Die Kernfrage der Arbeit, die zugleich den Bogen von 1900 zu 2000 spannt, ist die Frage nach der Möglichkeit von sprachlicher Repräsentation und Referenz im Bewusstsein der ‚Krise der Sprache‘. Hofmannsthals bekanntes Diktum bleibt somit auch für die Literatur um 2000 von Belang; das Referenzbegehren der Moderne bleibt ungestillt: „Wuchs dir die Sprache im Mund, so wuchs in die Hand dir die Kette: / Zieh nun das Weltall zu dir! Ziehe! Sonst wirst du geschleift.“48

47 Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main 2010. 48 Hofmannsthal, Hugo von: Eigene Sprache. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. v. Rudolf Hirsch u.a. SW I Gedichte 1. Hrsg. v. Eugene Weber. Frankfurt am Main 1984, S. 87.

1. Verortung der Texte – die Jahrhundertwenden um 1900 und um 2000 Im Folgenden sollen die in der Arbeit gelesenen Texte von Bret Easton Ellis und Christian Kracht, die um die Jahrhundertwende um 2000 entstanden sind, in Bezug zu Texten der Jahrhundertwende um 1900 gesetzt werden. Hierbei werden insbesondere die Kernaspekte der Arbeit, Sprache und Gewalt, zur Zeit der Jahrhundertwenden untersucht. Der Einstieg wird exemplarisch über die Figur des Dandys versucht, der um 1900 in der Literatur äußerst präsent war und, so die These, bei Kracht und Ellis sowohl spielerisch als auch performativ aufgenommen und aus- und dargestellt wird. Die Linien, die zwischen beiden Jahrhundertwenden zu verfolgen sind, die durchaus nicht immer eine Gerade darstellen, sollen nicht die Vorstellung einer ungebrochenen Kontinuität suggerieren; die Figur des Dandys, die bei Kracht als performative und ironische Rollenprosa zu verstehen ist – was, nebenbei bemerkt, in den kritischen Rezensionen zu „Faserland“ oder „Tristesse Royale“ oftmals übersehen wurde –, unterscheidet sich natürlich von den Figuren des Dandys, wie sie etwa bei Oscar Wilde oder Charles Baudelaire vorgeführt werden. Warum Kracht aber die Figur des Dandys wieder aufnimmt und inwiefern diese mit dem ebenfalls untersuchten Aspekt des Ästhetizismus sowie der Dezentrierung des Subjekts zusammenhängt, soll im Folgenden gezeigt werden. Über die Aspekte der Krise der Sprache und der Gewalt lassen sich ebenfalls Linien zwischen beiden Jahrhundertwenden ziehen, die ausführlich diskutiert werden.

1.1 EINFÜHRUNG

Die der Arbeit zugrunde liegenden Texte von Bret Easton Ellis und Christian Kracht entstanden in den gut 20 Jahren zwischen 1985 und 2010 und markieren somit die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Sowohl Ellis als auch Kracht erweisen sich als Vertreter einer theoriegeschwängerten Literatur der Postmoderne und verarbeiten in ihren Büchern die virulenten Theorien von Giorgio Agamben, Jean Baudrillard, Jacques Derrida und Michel Foucault. Insbesondere Ellis nimmt die postmoderne Dekonstruktion der Texte, die Offenlegung des Textes als Text sowie die Dekonstruktion der Erzählerrolle spielerisch auf und lässt so etwa das tatsächliche Ende eines Buchkapitels von einer Nebenfigur auf der Textebene ankündigen – „‚I think this is the logical cutting-

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Verortung der Texte

off point‘, Felix says, slipping away.“49 – oder den Ich-Erzähler durch das bei Filmaufnahmen übliche Kommando „Action“50 erwachen. Die in den Texten verhandelten Themen und Sujets sowie die Zeichnung der zentralen Erzählerfiguren scheinen jedoch auf die Jahrhundertwende um 1900 zurückzuweisen und über die Wiederaufnahme bestimmter Topoi, wie etwa des Ästhetizismus, der Figur des Dandys, der Krise der Sprache und der Diskussion der Gewalt, die bereits in der Literatur um 1900 von Bedeutung waren, eine Linie zu den Texten von Hugo von Hofmannsthal, Oscar Wilde oder Jules A. Barbey d’Aurevilly zu ziehen. Die Beschränkung auf die genannten Themen erfolgt hierbei lediglich aufgrund der Untersuchung ebendieser in Teil I und II der Arbeit und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Andere mögliche thematische Rückbindungen könnten über folgende Aspekte geleistet werden: psychologische und literarische Ambivalenz, Raum- und Zeitstruktur, Grenzübertritte oder Müßiggang.51 Die Frage von Susan Sontag „[H]ow to be a dandy in the age of mass culture“52 ruft mit der Figur des Dandys die virulente Figur der Literatur der Jahrhundertwende um 1900 auf und stellt diese in Verbindung zur Massenkultur der Postmoderne und damit die Frage nach der Linie von 1900 zu 2000 in den Raum. Zugleich diente Sontags Frage als Ausgangspunkt einer Ringvorlesung53, die 2007 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand, und einer daraus entstandenen Publikation mit dem Titel „Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne“54, in der dezidiert nach der Aufnahme des Dandys in der Literatur der Post-/Pop-Moderne gefragt wurde. Wolfgang Welsch führte bereits 1986 aus, dass die Postmoderne aus philosophischer Sicht als eine Weiterführung der Moderne zu verstehen ist. „Daher ist die Postmoderne im Gehalt keineswegs anti-modern und in der Form nicht 49 Ellis, Bret Easton: Glamorama. New York 1998, S. 232. 50 „Wakened suddenly out of a brief dreamless nap by someone calling ‚Action‘ softly (though when I open my eyes and look around the living room there’s no one here)“. Ebd., S. 282. 51 Oliver Neun greift in seinem Buch zu Arthur Schnitzler einige der Aspekte auf. Vergl.: Neun, Oliver: Unser postmodernes Fin de Siècle. Untersuchungen zu Arthur Schnitzlers „Anatol“-Zyklus. Würzburg 2004. 52 Sontag, Susan: Notes on „Camp”. In: Dies.: Against Interpretation and Other Essays. New York 2001, S. 275–292, hier S. 288. 53 Der Titel der Veranstaltung lautete: „Depressive Dandys. Zwischen Literarisierung und Selbststilisierung in der Pop-Moderne“. Veranstaltet wurde die Ringvorlesung durch Erhard Schütz, Inge Stephan, Alexandra Tacke und Björn Weyand. Vortragende waren u.a. Alexandra Pontzen, Holger Schulze, Heinz Drügh, Moritz Baßler und Niels Werber. 54 Tacke, Alexandra und Weyand, Björn (Hrsg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln, Weimar und Wien 2009.



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einfach trans-modern, sondern ist als die exoterische Einlösungsform der einst esoterischen Moderne des 20. Jahrhunderts zu begreifen.“55 Wenngleich seine These neben Zustimmung durchaus auch auf Widerspruch stieß, so sollen die in der Arbeit diskutierten Texte aus der Zeit um 1900 und aus der Zeit um 2000 vor der Folie dieser grundlegenden Überlegungen gelesen werden; die philosophische These wird also für die literaturwissenschaftliche Textarbeit adaptiert. Der Formulierung Baudrillards, der von „unsere[r] Epoche [...] [als] unser[em] Fin de siècle“56 spricht, und somit ebenfalls die Verbindung der Zeiträume um die Jahrhundertwenden behauptet, wird nachgegangen. Die These der Wiederaufnahme der in der Jahrhundertwende um 1900 diskutierten Topoi in den Texten von Ellis und Kracht soll im Folgenden mittels der Figur des Dandys, des Motivs des Opfers und der Diskussion der Krise der Sprache sowie der Gewalt erörtert werden. Vorwegnehmend lässt sich bereits andeuten, dass es sich bei der Aufnahme weniger um eine originalgetreue Wiederholung als um ein spielerisches und oftmals ironisch gebrochenes Zitieren handelt, bei dem es – insbesondere bei der Figur des Dandys – immer auch um den Aspekt der performativen Dar- und Ausstellung der Rollen geht.

1.2 DANDY UND ÄSTHETIZISMUS

Nicht nur die erzählten Figuren in den Texten von Bret Easton Ellis und Christian Kracht werden von den Rezensenten und den Lesern oftmals als ‚moderne Dandys‘ rezipiert, auch die Autoren selbst spielen mit dem Image des reichen Dandys und präsentieren sich entsprechend. So sagt Kracht in einem Interview über seinen ökonomischen Hintergrund: „[I]ch bin ja sehr reich“57 und stellt mit seiner Behauptung nicht nur provokant seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozio-ökonomischen Schicht aus, sondern verweist mit dem Hinweis auf die Langeweile, die Interviews bei ihm auslösen, auf die Figur des blasierten Dandys zurück. Das Außen des Dandys, sein exquisiter Geschmack, der eine Selbststilisierung und Abgrenzung ermöglicht, bietet die erste Möglichkeit der Verortung der Texte von Ellis und Kracht in der Literatur der Jahrhundertwende um 1900. Die Adaption der Figur des Dandys in den Texten von Ellis und Kracht be55 Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. Berlin 72002, S. 6. 56 Baudrillard, Jean: Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene. Berlin 1992, S. 104. 57 Philippi, Anne und Schmidt, Rainer: „Wir tragen Größe 46“. Interview mit Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht. In: Die Zeit. Nr. 37/1999. 9.9.1999.

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Verortung der Texte

schränkt sich jedoch nicht auf diese Oberflächenphänomene, sondern lässt sich zu einem der Kernaspekte der Arbeit, nämlich dem Verlust der Sprache und Kommunikation, in Beziehung setzen. Bei Kracht kann die performative Ausstellung des Dandys als Personifikation der sich in der Sprache abbildenden Rollenprosa gelesen werden. Die stets ironisch gebrochene Ausstellung des Dandys betont die stets gebrochene Sprache; in Teil II der Arbeit wird die Rollenprosa in den Texten Krachts noch näher untersucht. Bei Ellis kann die angestrebte äußere Perfektion – sowohl im ‚Außen‘ der Kleidung als auch im ‚Außen‘ des gestalteten Körpers –, die absolute Selbststilisierung und -inszenierung, als Versuch, die erfahrene Dezentrierung wieder rückgängig zu machen, verstanden werden. Dem Zerfall der Welt, in dem die Sprache und Kommunikation, die Realität und letztlich auch die Identität aufgelöst werden, soll die Zentrierung über das ‚Außen‘ entgegengesetzt werden. In Kapitel 5 wird mit der Analyse der Gewalt in „American Psycho“ dieser These weiter nachgegangen.58 Die Figur des Dandys lässt sich als eine Vereinigung von äußeren – Kleidung und Verhalten – und inneren – Geisteshaltung, Distinktionsbestreben, etc. – Strukturen verstehen. Bereits in einer ersten Definition des Dandys, die mit der Diskussion der Schwierigkeit der Definition des Gegenstandes einsetzt, betont Jules A. Barbey d’Aurevilly in den 1870er Jahren, dass die Figur des Dandys sich nicht auf eine oberflächliche Affinität zur Mode reduzieren lässt, sondern sich stets aus der Verbindung der äußeren und inneren Merkmale ergibt. Menschen, die nur das Vordergründigste sehen, haben geglaubt, es sei vor allem die Kunst, sich gut anzuziehen, eine kühne und geglückte Diktatur in Sachen Putz und äußere Eleganz. Gewiß ist es das auch; aber es ist noch viel mehr. Das Dandytum ist eine ganze Art zu sein, und zwar nicht nur im Bereich des Sichtbaren. Es ist eine ganz aus Nuancen bestehende Art zu sein, wie man sie in alten und hochzivilisierten Gesellschaften findet, in denen die Komödie selten ist und der Anstand gerade noch über die Langeweile triumphiert.59

58 Karl Heinz Bohrer weist in dem Kapitel „Die Subversion des Ästhetizismus: Hermetik, Dandy, Verbrechen“ bereits mit der Kapitelüberschrift auf die Verbindung des Dandys zum Verbrechen und zur Gewalt hin. Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München und Wien 1978, S. 21–41. 59 Barbey d’Aurevilly, Jules A.: Über das Dandytum und über George Brummell. Berlin 2006, S. 27 f.



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Für die Geisteshaltung des Dandys wurde der „Kult der Kälte“60, sein Distinktionsbestreben, seine Teilnahmslosigkeit, sein Ennui und sein „ambige[r] Charakter, der sich zwischen Affirmation und Subversion bewegt“61, festgestellt. Im Gegensatz zur Bohème bleibt der Dandy jedoch Teil der Gesellschaft. Er „hält sich beständig im Randbereich des Erlaubten auf“62, ohne jedoch aufgrund seiner Rolle als „Provokateur, [der aber stets als] [...] ein Provokateur mit Takt“63 auftritt, den „Randbereich“ zu verlassen, die Schwelle zwischen Gesellschaft und Bohème, zwischen Innen und Außen, dauerhaft zu übertreten.64 Moritz Baßler, der in „Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten“65 die Archivfunktion der Popliteratur offenlegt, erkennt in der Literatur der Jahrhundertwende um 1900 und der Popliteratur der Jahrhundertwende um 2000 verwandte ästhetische Konstruktionsprinzipien und -strukturen, die auf Exklusion und Inklusion mittels eines selbst geschaffenen „Gesetzes“ beruhen. Die Linie, die aufgrund der thematischen Gemeinsamkeiten von 1900 zu 2000 ge-

60 Gnüg, Hiltrud: Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur. Stuttgart 1988. 61 Tacke, Alexandra und Weyand, Björn: Einleitung. Dandyismus, Dekadenz und die Poetik der Pop-Moderne. In: Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Hrsg. v. Alexandra Tacke und Björn Weyand. Köln, Weimar und Wien 2009, S. 7–16, hier S. 10. 62 Grundmann, Melanie: Einleitung. In: Dies.: Der Dandy. Eine Anthologie. Wie er wurde, was er war. Köln, Weimar und Wien 2007, S. 1–14, hier S. 9. 63 Barbey d’Aurevilly: Über das Dandytum, S. 54. 64 Günter Erbe definiert den Dandy wie folgt: „Barbey d’Aurevilly und Baudelaire verstehen unter einem Dandy einen Mann von einfacher, unauffälliger, raffinierter Eleganz, einer Eleganz, die Ausdruck einer bestimmten Geistes- und Lebenshaltung ist. Der Dandy ist ein Verhaltenstyp, gekennzeichnet durch überlegenen Geschmack, perfekte Manieren, zynisch-frivolen Konversationston, Kaltblütigkeit und Unerschütterlichkeit in allen Lebenslagen und einen auf die Spitze getriebenen Selbstkult. Der Dandy ist ein notorischer Müßiggänger und eine passionierte Spielernatur. Während die Mehrheit Werte wie Gleichheit, Verantwortlichkeit und Tatkraft hochschätzt, steht der Dandy für Überlegenheit, Unverantwortlichkeit und Inaktivität. Er hält am aristokratischen Distinktionsprinzip fest. Der Dandy kennt weder Verpflichtungen noch Bindungen. Geld interessiert ihn nicht. Der Dandy konzentriert sich ganz auf sich selbst. Strikte Selbstkontrolle, Beherrschung der Affekte, Perfektionierung des Ver­haltens, darauf kommt es ihm an.“ Erbe, Günter: Der moderne Dandy. Zur Herkunft einer dekadenten Figur. In: Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Hrsg. v. Alexandra Tacke und Björn Weyand. Köln, Weimar und Wien 2009, S. 17–38, hier S. 19 f. Ausführlicher untersucht Erbe die Figur des Dandys in seiner Monographie zum Dandy. Erbe, Günter: Dandys – Virtuosen der Lebenskunst. Eine Geschichte des mondänen Lebens. Köln, Weimar und Wien 2002. 65 Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 22005.

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Verortung der Texte

zogen werden kann, stärkt Baßler durch die Beobachtung der Gemeinsamkeiten auf der Konstruktionsebene der Texte. Eine solche Haltung war im letzten Fin de siècle verkörpert in der Gestalt des Dandys und einer entsprechenden ‚Literatur für fortgeschrittene Junggesellen‘. ‚Ein Gesetz, ein sichtbares, ist zu konstruieren, das und trennt, das uns Glaube gibt, trotzdem es unsere Konstruktion ist‘, hieß es damals, in einem letzten Aufbäumen des Geniegedankens, in Carl Einsteins Programmschrift Der Snobb (1909). Für jene Junggesellen, die sich im April 1999 zu einem medienwirksamen Snobismus-Revival im Berliner Hotel Adlon am Brandenburger Tor zusammenfanden, wäre dieser Auftrag gemäß den Bedingungen des jüngsten Fin de siècle umzuformulieren: Ein Gesetz, ein sichtbares, ist zu konstruieren, das uns trennt, das uns Glaube gibt, trotzdem es Effekt unserer Medienkultur ist wie alles andere auch.66

Dieses „Gesetz“, dessen Konstruktionsprinzip stets präsent bleibt und das die Trennung von den Anderen bewirkt sowie der Gruppe „Glaube gibt“, wird von Benjamin von Stuckrad-Barre in „Tristesse Royale“ als Grundlage und Gesetz von Pop erkannt und reformuliert. „Pop basiert gleichzeitig auf dem Prinzip des Ausschließens und des Konsenses.“67 Pop nimmt also das Prinzip der Ex- und Inklusion auf und schlägt so den Bogen zurück zu dem Konstruktionsprinzip der Dandy-Literatur. Als der erste Dandy wird George Beau Brummell gesehen, der sich im Gegensatz zu Oscar Wilde, der ebenfalls sein Leben zur Kunst stilisierte, vollkommen auf die Stilisierung seines Lebens – insbesondere seiner äußerlichen Erscheinung und seines verblüffenden gesellschaftlichen Auftretens – konzentrierte und nicht schaffend tätig wurde. Ein weiterer früher Vertreter des Dandys ist Charles Baudelaire68; um die Jahrhundertwende 1900 erfährt der Kult des Dandys mit Oscar Wilde einen weiteren Höhepunkt und findet zugleich mit der Figur des Dandys 66 Ebd., S. 121 f. 67 Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre. Berlin 1999, S. 27. 68 Baudelaire formuliert in einem Essay eine Definition einer Ästhetik des Dandys: „Der Schönheitscharakter des Dandys besteht vornehmlich in dem Aussehen von Kälte, das dem unerschütterlichen Entschlusse entstammt, durch nichts erregt zu werden. Man kann von einem verborge­nen Feuer sprechen, dessen Vorhandensein man ahnt und das Wärme ausstrahlen könnte, aber dies nicht will. Und gerade das kommt in diesen Bildern zum vollendeten Ausdruck.“ Baudelaire, Charles: Der Dandy. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Kritische und nachgelassene Schriften. München 1925, S. 193.



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Aufnahme in die literarische und künstlerische Produktion. Als exemplarische Figuren können Dorian Gray69 und Lord Henry Wotton70 oder Jean Floressas Des Esseintes71 genannt werden. Doch auch bei Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal findet sich eine Adaption der Thematik in den Texten. Diese wird jedoch weniger als rein emphatische Darstellung eines Dandys gestaltet, da nur einige Züge der Figur des Dandys indirekt über den Ästhetizismus, der gerade bei Hofmannsthal stärker thematisiert wird als die Figur des Dandys, in den Text aufgenommen werden. Zudem wird stets auch die Kritik des Dandys formuliert, die aus der kritischen Diskussion des Ästhetizismus resultiert, der oftmals als elementarer Teil der Figur des Dandys gesehen werden kann. Insbesondere bei Hofmannsthal findet sich eine ausführliche und kritische Analyse des Ästhetizismus, die bereits in den frühen Texten, etwa in „Der Kaiser und die Hexe“ oder in „Der Tod des Tizian“72 angelegt wird. In der deutlichen Kritik des Dandys unterscheiden sich Hofmannsthal und Schnitzler von Wilde und Huysmans.73 Die Figur des Anatol in dem gleichnamigen Text von Schnitzler weist offensichtliche Züge des dekadenten Fin-de-siècle-Lebemannes auf, des „[l]eichtsinnige[n] Melancholiker[s]“74, der sich in einer dekadenten und ästhetisierten Welt des „affektierten Halbdunkel eines sterbenden Nachmittags“75 zwischen „süße[n] Mädl[s]“76 und „Mondaine[n]“77 bewegt und dessen übersteigerte Sensibilität 69 Wilde, Oscar: The Picture of Dorian Gray. In: The First Collected Edition of the Works of Oscar Wilde. Bd. 9. Hrsg. v. Robert Ross. London 1969. 70 Ebd. 71 Huysmans, Joris-Karl: Gegen den Strich. Stuttgart 1992. 72 Hofmannsthal, Hugo von: Der Tod des Tizian. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. v. Rudolf Hirsch u.a. SW III Dramen 1. Hrsg. v. Götz Eberhard Hübner, Klaus-Gerhard Pott und Christoph Michel. Frankfurt am Main 1982. 73 Eine umfassende Untersuchung der Texte von Wilde kann an dieser Stelle nicht geleistet werden; dennoch soll kurz auf auf das im „Author’s Preface“ dem Text vorangestellte Zitat „An ethical sympathy in an artist is an unpardonable mannerism of style“ hingewiesen werden. Der Forderung, in der Kunst keine ethischen Fragen zu diskutieren – und so dem „L’art pour l’art“ zu entsprechen und eine dem Ästhetizismus und dem Dandyismus nahestehende Kunst zu proklamieren –, kommt Wilde in seinem wichtigsten Text „Dorian Gray“ nicht nach, dessen Ende die von Wotton und Gray formulierten ästhetizistischen Sentenzen einer eindeutigen Kritik unterzieht. Wilde, Oscar: Author’s Preface. In: Ders.: The Picture of Dorian Gray. The First Collected Edition of the Works of Oscar Wilde.Bd. 9. Hrsg. v. Robert Ross.London 1969. 74 Schnitzler, Arthur: Anatol. Frankfurt am Main 1993, S. 54. 75 Ebd., S. 55. 76 Ebd., S. 55. 77 Ebd., S. 55.

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Verortung der Texte

und Nerven – Hofmannsthals Feststellung, dass seiner Generation, den „Spätgeborenen, nur zwei Dinge hinterlassen [wurden]: hübsche Möbel und überfeine Nerven“78, lässt sich auch an Schnitzlers Anatol bestätigen – zu keinem endgültigen Entschluss mehr führen können. Der „zu feine[n] Nase“79, der „summarische[n] Verachtung für alles, was nicht Ihr [der seiner Klasse gemäße, I.N.] Kreis ist“80, und der steten Selbstreflexion, die Entscheidungen aufgrund des ruhe- und ausweglosen Reflexionszirkels unmöglich macht, versucht Anatol mit einer Flucht in die andere Welt der Vorstadt, einer Flucht aus der neurotischen und stilisierten Kulturwelt in die Welt der ursprünglichen Natur, zu entkommen. Diese scheitert jedoch und Anatol verweilt weiterhin in einer Welt, die „dem Künstlichen Vorrang vor dem Natürlichen gibt und die Liebe [...] als Spiel betreibt“81. Die Zeichnung der Figuren knüpft somit an die Darstellung des Dandys an. Die mangelnde Tatkraft kann neben dem Ennui, der Ästhetisierung der augenblicklichen Stimmung sowie dem Zweifel an der Existenz und der Erfassbarkeit einer Wahrheit als beherrschendes Charakteristikum Anatols gelesen werden. Auch Hofmannsthal diskutiert mit der Erörterung des Ästhetizismus indirekt die Figur des Dandys in seinen Texten; wie bei Schnitzler wird auch hier neben der Darstellung der Welt des Dandys und seiner Charakterisierung stets eine Kritik – und eine kritische Distanz der Person Hofmannsthal zu dem Erzählten – deutlich. Bereits in dem 1891 entstandenen Gedicht „Der Prophet“82, in dem der siebzehnjährige Hofmannsthal seine Beziehung zu Stefan George und der von George vertretenden ästhetizistischen Kunstphilosophie offenbart, lässt sich die Kritik des Ästhetizismus lesen. Die ebenfalls 1891 verfasste Studie „Gestern“83 schließt an die in „Der Prophet“ formulierte Überzeugung an und stellt das Scheitern eines ästhetizistischen Lebensentwurfes dar. Andrea, die Hauptfigur des Textes, erklärt sich mit seiner Maxime „Das Gestern lügt, und 78 Hofmannsthal, Hugo von: Gabriele D’Annunzio. In: Ders.: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I. 1891–1913. Hrsg. v. Bernd Schoeller und Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main 1979, S. 174. 79 Schnitzler: Anatol, S. 97. 80 Ebd., S. 53. 81 Perlmann, Michaela L.: Arthur Schnitzler. Stuttgart 1987, S. 41. 82 Hofmannsthal, Hugo von: Der Prophet. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. v. Rudolf Hirsch u.a. SW II Gedichte 2. Hrsg. v. Andreas Thomasberger und Eugene Weber. Frankfurt am Main 1988. 83 Hofmannsthal, Hugo von: Gestern. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. v. Rudolf Hirsch u.a. SW III Dramen 1. Hrsg. v. Götz Eberhard Hübner, Klaus-Gerhard Pott und Christoph Michel. Frankfurt am Main 1982.



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nur das Heut ist wahr! / Laß dich von jedem Augenblicke treiben, / Das ist der Weg, dir selber treu zu bleiben“84 frei von jeglichen Bindungen und fordert, dem augenblicklichen Reiz der Stimmung nachzugeben. Die Anderen dienen ihm folglich lediglich als Staffage seiner unterschiedlichen Stimmungen und „sind im Grunde tote, leere Dinge“85. Am Ende des kurzen Textes muss Andrea jedoch das Scheitern seines Entwurfes, der mit dem ästhetischen Genuss an der möglichen Hinrichtung eines Freundes seinen Höhepunkt findet, einsehen: Andrea gewährt einem Freund auf dessen Bitten Obdach und Schutz in seinem Haus. Dies geschieht jedoch nicht aus Mitleid oder Pflichtgefühl, sondern aus der Lust an dem neuen und berauschenden ästhetischen Erlebnis einer Hinrichtung. In der Schilderung des imaginierten Scheiterhaufens, die den Tod des Freundes im und als Text erst erschafft – und damit zeigt, dass das „schützen“ eben nicht dem Schutz dient, sondern ganz im Gegenteil das Erleben und Geschehen der Gefahr sicherstellt und die Tat evoziert –, vermischen sich Religion, Kunst, Dekadenz und Schaulust. Hier sollen sie das Kreuz, die Geißel finden, Den Totenkopf, in blumigen Gewinden! Ein Grabesschauer soll den Saal durchfluten, Und wenn du weckst die heiligtollen Gluten, Und wenn sie einen Scheiterhaufen schichten Aus Bildern, Blumen, Teppichen, Gedichten, Wenn sie vergessen auf ihr eignes Grauen Und taumelnd schlingen einen Büßerreigen ... Die Stirnen in den Staub des Bodens neigen, Zu Füßen dir die blassen, schönen Frauen! ... Ich will dich schützen ... denn das möcht ich schauen.86

„Das bloße Genießen und Sich-treiben-lassen scheitert damit am Bewußtsein und wird einem ethisch-moralischen Urteil unterworfen“87. In „Der Tod des Tizian“ zeigt Hofmannsthal die Gefahr des ästhetizistischen Lebens auf. In der Todesstunde des Malers Tizian, in der er mit der Anfertigung eines Bildes, das den „große[n] Pan“88 zeigt, eine Apotheose des Lebens schafft

84 85 86 87 88

Ebd., S. 13. Ebd., S. 11. Hofmannsthal: Gestern, S. 16. Mayer, Mathias: Hugo von Hofmannsthal. Stuttgart und Weimar 1993, S. 33. Hofmannsthal: Der Tod des Tizian, S. 42.

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und „so dem Leben Leben [gibt]“89, offenbart sich die Differenz zwischen dem schaffenden Künstler Tizian und seinen Schüler, die er von der Stadt abgeschieden in einem exklusiven und abgeschlossenen Raum in einem Garten über der Stadt versammelt hat. Eine deutliche Darstellung des grausamen Scheiterns eines ästhetizistischen Lebensentwurfes formuliert Hofmannsthal in „Das Märchen der 672. Nacht“90. Der Kaufmannssohn, „der sehr schön war“91, wird der „Geselligkeit [...] überdrüssig“92 und entzieht sich sämtlicher Bindungen an seine Außenwelt. Die Ästhetik der Dinge hingegen bekommt für ihn eine Bedeutung, „wie er es nie geahnt hatte.“93 Seine ästhetische Stilisierung des Lebens erstreckt sich bis zu der Imagination des eigenen, ästhetisch gestalteten Todes. Er „sah sich schön, wie ein auf der Jagd verirrter König, in einem unbekannten Wald unter seltsamen Bäumen einem fremden wunderbaren Geschick entgegengehen.“94 Das Leben – das wie in „Der Tod des Tizian“ auch aus Hässlichkeit und Grausamkeit besteht – lässt ihn, der sich ausschließlich in der ästhetizistischen Sphäre des Schönen befand und sich vor dem Leben verschloss, mit seinem ‚hässlichen‘ Tod die bisher gemiedenen Sphären des Lebens erfahren. Nach der absoluten Schönheit erlebt er die absolute Hässlichkeit. Schnitzler und Hofmannsthal formulieren eine Darstellung und Kritik des Dandys und des Ästhetizismus, die sich mit den Begriffen des Ennui, der Ästhetisierung des Lebens, der Absonderung aus dem Leben und dem Zweifel an der Existenz und Fassbarkeit einer Wahrheit zusammenfassend festhalten lässt. Die Texte von Bret Easton Ellis und Christian Kracht knüpfen hundert Jahre später an die Diskussion der Gefahr der Ästhetisierung des Lebens und der damit einhergehenden Aussonderung aus der Gesellschaft an. Der Ästhetizismus, so scheint es, kann nicht als solitäres Phänomen der Jahrhundertwende um 1900 verstanden werden, sondern muss als Struktur eines ästhetischen und gesellschaftlichen Systems begriffen werden. Hiermit soll nicht die enge Verflechtung des ästhetischen Phänomens mit dem sozialen, historischen und politischen System der Zeit marginalisiert, sondern vielmehr der Blick für die Gemeinsamkeiten und Linien geschärft werden. 89 Ebd., S. 50. 90 Hofmannsthal, Hugo von: Das Märchen der 672. Nacht. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. v. Heinz Otto Burger u.a. SW XXVIII Erzählungen 1. Hrsg. v. Ellen Ritter. Frankfurt am Main 1975. 91 Ebd., S. 15. 92 Ebd., S. 15. 93 Ebd., S. 15. 94 Ebd., S. 16.



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Ellis knüpft mit der genauen Zeichnung der Oberfläche – insbesondere des äußeren Erscheinungsbildes der Figuren – an die Literatur der Jahrhundertwende um 1900 an und übernimmt die genaue Beschreibung der Kleidung und Dinge, die bereits für die Texte von Wilde und Huysmans konstitutiv war, aber auch bei Schnitzler95 und Hofmannsthal96 präsent ist. So beschreibt Wildes Dorian Gray die Kleidung von Sibyl Vane bei einem Theaterauftritt ausführlich: When she came on in her boy’s clothes, she was perfectly wonderful. She wore a moss-coloured velvet jerkin with cinnamon sleeves, slim, brown, cross-gartered hose, a dainty little green cap with a hawk’s feather caught in a jewel, and a hooded cloak lined with dull red. She had never seemed to me more exquisite. She had all the delicate grace of that Tanagra figurine that you have in your studio, Basil. Her hair clustered round her face like dark leaves round a pale rose.97

Wildes detaillierte Zeichnung der Figur über die genaue Benennung der Kleidung wird von Ellis wieder aufgenommen, in „American Psycho“ perfektioniert und um die Nennung der jeweiligen Designernamen98 erweitert. [Price is] wearing a linen suit by Canali Milano, a cotton shirt by Ike Behar, a silk tie by Bill Blass and cap-toed leather lace-ups from Brooks Brothers. I’m wearing a lightweight linen suit with pleated trousers, a cotton shirt, a dotted silk tie, all by Valentino Couture, and perforated cap-toe leather shoes by Allen-Edmonds.99

Die ausführlichen Beschreibungen stehen hier jedoch nicht im Dienste eines dem Realismus verpflichteten ästhetischen Anspruches, sondern bilden mit der Abbildung der Oberfläche die Grundlage für die auf eben dieser Oberfläche beruhende Bewertung des Anderen. Das Äußere einer Figur – „He’s lumpy and pale and has a bad cropped haircut and is at least ten pounds overweight; there’s no muscle tone beneath the black T-shirt“100 – und die festgestellten ästhetischen Defizite dienen zur (Ab-)Qualifizierung dieser. Der Wunsch, mit solch einer Person eine Beziehung zu führen, erscheint dem Erzähler unverständlich. „But 95 Schnitzler umreißt die Ästhetik des Raumes oft mit wenigen symbolisch aufgeladenen Begriffen. Vergl.: „Anatol“. 96 Hier sei als Beispiel die Beschreibung der Welt des Kaufmannssohns in „Das Märchen der 672. Nacht“ genannt. 97 Wilde: The Picture of Dorian Gray, S. 120. 98 Auf die Bedeutung der Namen der Designer, die im Gegensatz zu den Namen der Personen stets präsent sind, wird in Kapitel 4.2 dieser Arbeit näher eingegangen. 99 Ellis: American Psycho, S. 30 f. 100 Ebd., S. 15.

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why does she sleep with Stash?“101 Der Erzähler und seine Umgebung werten allein aufgrund der Ästhetik; andere Bewertungskriterien, etwa ethisch-moralische Werte, sind in dem Text nicht aufzufinden. Auch bei Kracht lässt sich die Bewertung des Anderen über die Oberflächenphänomene beobachten. So charakterisiert der Erzähler in „Faserland“ einen Bekannten mit den Worten: „Sergio, das ist so einer, der immer rosa Ralph-Lauren-Hemden tragen muß und dazu eine alte Rolex, und wenn er nicht barfuß wäre, mit hochgekrempelten Hosenbeinen, dann würde er Slipper tragen von Alden, das sehe ich sofort.“102 Kracht ruft mit der Zeichnung von Sergio nicht nur die Figur des Dandys wieder auf, sondern reaktiviert zudem die mit dem Dandy einhergehenden Bewertungskategorien und lässt den Erzähler diese auf Sergio anwenden. Eine Zeichnung von Sergio, die über sein Äußeres hinausgeht, erfolgt nicht; der Leser erfährt lediglich über die Beschreibung der Kleidung und über das vom Erzähler ergänzte hochsignifikante Schuhwerk etwas über Sergio; die zweifelsfreie Zuordnung der passenden Schuhmarke und -form lässt die von Baßler für die Popliteratur festgestellten Archivierungsmechanismen an der Textstelle deutlich werden. Da das Außen aber das Innen ist – oder, anders gedacht, nur noch das Außen existiert – soll die Abbildung des Außen die gesamte Person darstellen. Ein ‚Innenleben‘ ist in „Faserland“ nicht mehr festzustellen und nicht mehr von Interesse. In „Tristesse Royale“ wird die Auslotung der Oberfläche und ihre gleichzeitige Setzung als alleiniges Bewertungskriterium fortgesetzt. Mit der Frage nach der Ästhetik der Banken, „Welche der Deutschen Großbanken hat denn die beste Corporate Identity?“103, wird das Prinzip, die Welt nur noch nach ihrer Ästhetik zu beurteilen, offengelegt; es zeigt sich, dass das ästhetische Prinzip des Dandys sich nicht nur auf das Außen der Kleidung beschränkt, sondern auch auf die Ästhetik von Banken – also Elementen, die eigentlich primär nicht ästhetisch strukturiert sind – angewendet werden muss. Neben der absoluten Ästhetik der Dinge müssen diese jedoch auch im Kontext ihrer jeweiligen Besitzer gelesen werden. „Du kannst dich nicht mehr für eine bestimmte Sache entscheiden, sondern nur noch für die Menschen, die einer Meinung über diese Sache sind.“104 Die Dinge ‚sprechen‘, sie kommunizieren eine (ersehnte) Zugehörigkeit zu einer Gruppe und damit eine Ablehnung einer anderen Gruppe. Über die Dinge erfährt der Besitzer eine Inklusion und eine Exklusion: „[W]enn der Golffahrer schon damit anfängt, die gleiche Musik wie ich zu hören, wäre es ja nicht abwe101 Ebd., S. 15. 102 Kracht, Christian: Faserland. Köln 51995, S. 20. 103 Tristesse Royale, S. 22. 104 Ebd., S. 27.



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gig, daß wir auch ansonsten einiges gemeinsam haben, und deshalb wende ich mich dann von dieser Musik ab.“105 Die ästhetische Wahrnehmung und Bewertung der Welt reduziert sich jedoch nicht auf die Dinge der Warenwelt, sondern manifestiert sich auch in der Ablehnung der Politik. Politische Überzeugungen werden aufgrund einer ästhetischen Abwertung verachtet, die eine dem linken Spektrum zuzuordnende Politik auf einen „Regenbogen-Friedens-Nichtraucher-Ökologen-Sticker“106 reduziert, den der klischeehaft gezeichnete Taxi fahrende Student auf sein Armaturenbrett geklebt hat. Auch die politisch rechten Überzeugungen eines anderen Taxifahrers, der ein „ziemlicher Faschist“107 ist, werden allein aus der ästhetischen Perspektive des ironisch rezipierten Erlebnisses bewertet. „[A]ber irgendwie ist das ganz lässig, so durch die Nacht zu fahren und eklige Zigaretten zu rauchen, und vorne fährt so ein armes dummes Nazischwein in einem Trainingsanzug“108. Kracht und Ellis nehmen also die Setzung des ästhetischen Außen als Bewertungskriterium – bei gleichzeitiger Geringschätzung oder Negierung des Innen – aus der Literatur der Jahrhundertwende auf. Die Provokation, die aus diesem ästhetischen Prinzip entspringt und den Vorwurf der oberflächlichen Popliteratur hervorrief, wird von Ellis und Kracht wohlbedacht eingesetzt und als Instrument zur Artikulation der Distinktionsbestrebungen gebraucht.109 Die Figur des Dandys vereint in sich sowohl die Apotheose des Ästhetischen als auch die Bemühungen um Abgrenzung und kann somit in den Texten der Jahrhundertwende um 2000 produktiv und provokativ adaptiert werden. Wenngleich die Popliteratur an den Diskurs über Ästhetik, Leben, Kunst und Mode, der um 1900 angelegt wurde, anknüpft, so stellt die Reformulierung dieses Diskurses einen Bruch mit der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts dar, die – abgesehen von der Initiierung der frühen Popliteratur von Rolf Dieter Brinkmann – als Gegenbewegung zu den genannten Bewertungsstrukturen verstanden werden kann.

105 Ebd., S. 27. 106 Kracht: Faserland, S. 34. 107 Ebd., S. 41. 108 Ebd., S. 41. 109 Die Entscheidung von Kracht und von Stuckrad-Barre, 1999 als Model für die Modefirma Peek & Cloppenburg zu posieren, stellte für das Publikum ebenfalls eine Provokation dar. Gleichzeitig wurde die Figur des Dandys buchstäblich aus- und dargestellt.

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1.3 DIE DEZENTRIERUNG DES SUBJEKTS – DER VERLUST DES ‚GANZEN‘

Die Ästhetik von Ellis und Kracht übernimmt nicht nur das Äußere der gezeichneten Figuren, sondern führt die virulente Diskussion der Jahrhundertwende um 1900, den Verlust der Bezugssysteme und die Dezentrierung des Subjekts, in der Literatur der Jahrhundertwende um 2000 fort. Nietzsches Definition der literarischen Décadence von 1888 kann somit sowohl im Hinblick auf die Jahrhundertwende um 1900 als auch um 2000 gelesen werden: Womit kennzeichnet sich die litterarische décadence? Damit, daß das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird Souverain und springt aus dem Satz heraus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr110.

Auch Hofmannsthal und Schnitzler diskutieren den Verlust des ‚Ganzen‘ in ihren Texten; bereits in „Poesie und Leben“111 nimmt Hofmannsthal den Begriff des ‚Ganzen‘ von Nietzsche explizit auf und erkennt, dass „der Begriff des Ganzen in der Kunst überhaupt verlorengegangen ist“112. Wie in Nietzsches Zitat deutlich wird, müssen der Verlust des ‚Ganzen‘, der Totalität, und die „Vereinzelung, Individuation und Atomisierung“113 sowie die Dezentrierung des Subjekts in Zusammenhang mit der Krise der Sprache, die insbesondere Hofmannsthal darstellt, gelesen werden. Mit dem Verlust des ‚Ganzen‘ geht der Verlust der Vorstellung einer einheitlichen und beständigen Identität einher; „[d]as Ich ist unrettbar.“114, schreibt Ernst Mach 1885 in seinen „Antimetaphysischen Vorbemerkungen“, die von Hermann Bahr emphatisch rezipiert werden. „Die Vernunft hat die alten Götter umgestürzt und unsere Erde entthront. Nun droht sie, auch uns zu vernichten. Da werden wir erkennen, daß das Element unseres 110 Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. In: Ders.: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 6. Abt., 3. Bd. Der Fall Wagner u.a. Berlin 1967ff, S. 21. 111 Hofmannsthal, Hugo: Poesie und Leben. In: Ders.: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I. 1891–1913. Hrsg. v. Bernd Schoeller und Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main 1979. 112 Ebd., S. 15. 113 Wunberg, Gotthart: Historismus, Lexemautonomie und Fin de siècle. Zum DécadenceBegriff in der Literatur der Jahrhundertwende. In: Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne. Hrsg. v. Stephan Dietrich. Tübingen 2001, S. 55–84, hier S. 74. 114 Mach, Ernst: Antimetaphysische Vorbemerkungen. In: Ders.: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Jena 1903, S. 1–30, hier S. 20.



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Lebens nicht die Wahrheit ist, sondern die Illusion.“115 Neben Machs Überlegungen stellen auch die Erkenntnisse von Sigmund Freud über das Ich und die Behauptung Friedrich Nietzsches vom Tod Gottes das Selbstbild der Menschen der Jahrhundertwende um 1900 massiv in Frage. Die Dezentrierung des Subjekts, die sich bei Schnitzler in dem Ausgeliefertsein der Figuren an eine ästhetische Stimmung manifestiert und eine Bindung an den Anderen grundsätzlich unmöglich macht, geht mit einem Verlust der Sicherheit der eigenen Identität und der Wahrheit des Anderen und des Außen einher. Die vielzitierten Worte aus „Paracelsus“116 verweisen bereits auf den Zusammenbruch der Sicherheiten des Ich und des Anderen, auf die Aufhebung der Trennung zwischen Traum und Wachen sowie auf den Verlust der Unterscheidung von Wahrheit und Lüge. Sinn kann nur noch individuell generiert werden; jegliche Wahrheit, jeglicher Sinn verschwimmt im steten Spiel. Das Bezugssystem wird vollständig aufgelöst. Ein Sinn Wird nur von dem gefunden, der ihn sucht. Es fließen ineinander Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends. Wir wissen nichts von andern, nichts von uns; Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.117

Am deutlichsten zeigt Schnitzler den leeren und spielerischen Taumel, der eben keine Bindung mehr beinhaltet, von einem Partner zum anderen im „Reigen“118. Doch auch das in den Texten Schnitzlers oftmals thematisierte Spiel, sei es im Titel, wie bei „Spiel im Morgengrauen“119 oder „Im Spiel der Sommerlüfte“120, oder sei es als Motiv im Text, etwa das Tennisspiel, mit dem „Fräulein Else“121

115 Bahr, Hermann: Das unrettbare Ich. In: Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Hrsg. v. Gotthart Wunberg. Stuttgart 1981, S. 137– 145, hier S. 148. 116 Schnitzler, Arthur: Paracelsus. In: Ders.: Das Vermächtnis. Dramen 1897–1898. Frankfurt am Main 1994. 117 Ebd., S. 215. 118 Schnitzler, Arthur: Reigen. In: Ders.: Das Vermächtnis. Dramen 1897–1898. Frankfurt am Main 1994. 119 Schnitzler, Arthur: Spiel im Morgengrauen. In: Meistererzählungen. Frankfurt am Main 6 1981. 120 Schnitzler, Arthur: Im Spiel der Sommerlüfte. Frankfurt am Main 1999. 121 Schnitzler, Arthur: Fräulein Else. In: Meistererzählungen. Frankfurt am Main 61981.

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einsetzt, oder das Spiel der Eheleute in der „Traumnovelle“122, verweist auf die gezeigte Thematik. Mit dem Versuch Anatols, mittels Hypnose die ‚Wahrheit‘ über seine Geliebte zu erfahren und der Aufgabe dieses Versuches mit der Erkenntnis, „[d]aß die Weiber auch in der Hypnose lügen“123, also der Erkenntnis, dass es keine ‚Wahrheit‘ gibt und dass die Bindung zu dem Anderen stets in der Unsicherheit der Nicht-Erkennbarkeit des Anderen passiert, erfahren die Figuren die Auflösung „ihr[es] Ich[s] in verschiedenartige Identitäten, was die Frage aufwirft, worin denn eigentlich dann noch der unveränderliche Kern eines individuellen Ichs bestehen soll.“124 Die Empfindung der Vorfahren Anatols, „als sie plötzlich hörten, die Erde drehe sich [...] [–][s]ie müssen alle schwindlig geworden sein!“125, ist der Jahrhundertwende um 1900 nicht fremd; der „Schwindel“ resultiert nun nicht mehr aus der Erkenntnis physikalischer Gegebenheiten, sondern aus dem Bewusstwerden von psychischen und metaphysischen Veränderungen. Die Dezentrierung rührt aus dem Verlust der Bindung an das Leben her; „[w]ir haben gleichsam keine Wurzeln im Leben“126, erkennt Hofmannsthal in einem Essay zu D’Annunzio. Der Verlust der Bindung an das Leben macht eine im Leben verankerte Kunst, wie sie laut Hofmannsthal bei Goethe noch zu finden war, unmöglich. „Welch sicheres Glück bei Goethe, welch sicheres Umspannen des Besitzes, welch seliges Genügen!“127 In der Opposition von Dekadenz und Klassik wird Goethes Einheit und Klarheit deutlich; die Liebe wird nicht – wie in der Dekadenz – als hochkomplexes und krankhaft nervöses System empfunden: „[U]nter den Händen Goethes war sie nichts als ein schöner Baum mit duftenden Blüten und saftigen Früchten, nach gesunden Bauernregeln128 gepflanzt, gepflegt und genossen.“129 „Goethes Hinwendung zur Antike bedeutet nicht Flucht aus der Gegenwart, sondern natürliche Anverwandlung der Vergangenheit.“130 In der Décadence hingegen erweist sich die eklektizistische Rezeption und Adaption von „Dingen“ und Ideen vergangener Zeiten – von 122 Schnitzler, Arthur: Traumnovelle. Frankfurt am Main 91999. 123 Schnitzler: Anatol, S. 48. 124 Lorenz, Dagmar: Wiener Moderne. Stuttgart und Weimar 1998, S. 122. 125 Schnitzler: Anatol, S. 36. 126 Hofmannsthal: Gabrielle D’Annunzio, S. 175. 127 Ebd., S. 181. 128 An dem Begriff „Bauernregel“ ließen sich die verhandelten Oppositionen festmachen: Kunst vs. Leben, Künstlichkeit vs. Natürlichkeit, komplexe Systeme vs. einfache Systeme, Moderne vs. Tradition und Stadt vs. Land. 129 Hofmannsthal: Gabrielle D’Annunzio, S. 182. 130 Kafitz, Dieter: Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2004, S. 429.



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Hofmannsthal mit dem Begriff „Möbelpoesie“131 gefasst – als Instrument zur Flucht aus dem Leben, wie sie etwa die Tizianschüler in „Der Tod des Tizian“ mit der Flucht in den abgeschlossenen ästhetischen Raum des Gartens betreiben. Doch auch wenn die Goethesche Einheit nicht mehr möglich ist, so wird die Flucht aus dem Leben von Hofmannsthal doch stets kritisiert und als ästhetizistische Weltflucht, die in „Der Tod des Tizian“ mit einer Todesorgie in der pestverseuchten Stadt enden sollte, bestraft. Der Verlust des ‚Ganzen‘ und die Flucht aus dem Leben werden zur Jahrhundertwende um 2000 wiederum aufgenommen. Mit der Feststellung des Verlustes der Meta-Erzählungen – wie es etwa Lyotard in „Das postmoderne Wissen“132 ausführt und als wichtige Differenz zwischen Moderne und Postmoderne definiert – wird der Verlust des ‚Ganzen‘ über den individuellen Verlust hinaus, der bereits in der Literatur der Jahrhundertwende um 1900 festzustellen war, zu einem kollektiven Epochenmerkmal erhoben. So mangelt es dem Erzähler in „Faserland“ an der Fähigkeit, eine Bindung zu dem Anderen herzustellen. Auf seiner Reise durch Deutschland verliert er nicht nur seine Bindung an sein Heimatland, sondern auch all seine Freunde; entweder weil er den Kontakt zu ihnen aufgrund letztlich unwichtiger Gründe abbricht, oder weil sie, wie Rollo, von ihm allein gelassen, sterben. Dasselbe gilt für sein partnerschaftliches Leben. Immer, wenn eine Frau in näheren Kontakt zu ihm tritt, flieht er. „Ergibt sich ein Flirt, muß er unverzüglich flüchten, sieht er ein Mädchen, mit dem er etwas anfangen könnte, so verharrt er scheinbar teilnahmslos – er hört nicht zu. [...] Der Junge flüchtete einmal mehr.“133 Diese Unfähigkeit erinnert an Hofmannsthals Claudio in „Der Tor und der Tod“: „Was weiß denn ich vom Menschenleben? / [...] / Konnt mich nie darein verweben.“134 Die Beschreibung des nie „darein verweben [...] niemals daran verloren“ bezeichnet nicht nur die Disposition Claudios, sondern auch die der Erzähler bei Kracht und Ellis. Die Vorwürfe von Claudios ehemaliger Geliebten könnten auch dem Erzähler in „Faserland“ gelten, der sich von einem alten Freund zu dessen Geburtstag einladen lässt, um diesen dann – die labile Psyche des Freundes erkennend – allein, von Drogen beeinträchtigt seinem Selbstmord zu überlassen: „Und daß du mich dann / Fortwarfest, achtlos grausam, wie 131 Hofmannsthal: Gabrielle D’Annunzio, S. 183. 132 Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz und Wien 1986. 133 Hüetlin, Thomas: Das Grauen im ICE-Bord-Treff. In: Der Spiegel. 8/1995, S. 227. 134 Hofmannsthal, Hugo von: Der Tor und der Tod. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hrsg. v. Rudolf Hirsch u.a. SW III Dramen 1. Hrsg. v. Götz Eberhard Hübner, Klaus-Gerhard Pott und Christoph Michel. Frankfurt am Main 1982.

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ein Kind, / Des Spielens müd, die Blumen fallen läßt.“135 Die Charakterisierung Claudios als „Ewigspielender“136 scheint auch auf den Erzähler „Faserlands“ zu passen. Ähnliches gilt für die ästhetizistische Lebensweise Andreas in Hofmannsthals „Gestern“. Der Apotheose des Augenblickes, der Reduktion der zeitlichen Gesamtheit des Lebens auf den momentanen flüchtigen Reiz, verfallen auch die Protagonisten bei Ellis und Kracht. So gibt der Erzähler „Faserlands“ jahrelange Freundschaften aufgrund einer kurzlebigen (ästhetischen) Enttäuschung auf. Der für Hofmannsthal zentrale Begriff der Treue, der bereits in dem frühen Text „Der Kaiser und die Hexe“137 diskutiert wird, stellt bei Kracht die zentrale Leerstelle des Textes dar; Treue ist nur noch in ihrer Negation oder Abwesenheit zu erfahren. Hofmannsthals Verknüpfung der Treue zu dem Anderen mit der Treue – das heißt der Wahrhaftigkeit – des sprachlichen Ausdruckes verbindet das Feld der Krise der Sprache mit dem Begriff der Treue. Kracht schließt in seinen Texten sowohl an Hofmannsthals Begriff der Treue im personalen als auch im sprachlichen Sinne an. „Das Gestern lügt und nur das Heut ist wahr! / Laß dich von jedem Augenblicke treiben, / Das ist der Weg, dir selber treu zu bleiben“138 – dass diese ästhetizistische Lebensweise und die problematische Definition von Treue schließlich bitter bestraft werden, erfahren nicht nur Andrea und Claudio. Bei Ellis und bei Kracht zeigt sich mit dem Verlust der souveränen Erzählhaltung – insbesondere Kracht führt einen Erzähler vor, dem es sowohl an der Erzählkompetenz als auch an der Fähigkeit zur Fassbarkeit der erzählten Welt 135 Ebd., S. 76. 136 Ebd., S. 76. 137 Zur Treue im sprachlichen Ausdruck und in der Bindung zum Anderen: „Bist du außen nicht wie innen, Zwingst dich nicht, dir treu zu sein, So kommt Gift in deine Sinnen, Atmest aus und atmest ein, Und von dem dir gleichen Leben Bist du wie vom Grab umgeben [...] Wer nicht wahr ist, wirft sich weg! [...] Und wenn du ein Wesen lieb hast, Sag nie mehr, bei deiner Seele! Als du spürst. Bei deiner Seele! Tu nicht eines Halms Gewicht Mit verstelltem Mund hinzu: Dies ist solch ein Punkt, wo Rost Ansetzt und dann weiterfrißt.“ Hofmannsthal: Der Kaiser und die Hexe, S. 186 f. 138 Hofmannsthal: Gestern, S. 13.



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mangelt – der Verlust des ‚Ganzen‘. Das ‚Ganze‘ ist weder im Erzähler noch im Text feststellbar; der Text kreist, wie in Teil II der Arbeit gezeigt wird, um ein leeres Zentrum; eine teleologische Struktur ist im Text nicht mehr lesbar. Dieser Verlust bildet sich, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, auch in der Sprache ab.

1.4 SPRACHE

Die Texte von Ellis und Kracht stellen, wie in der Arbeit gezeigt wird, den Verlust der sprachlichen Kommunikation dar. Bei Ellis, so lässt sich vorwegnehmend andeuten, verliert die Sprache aufgrund des Auseinanderbrechens von Signifikat und Signifikant die Möglichkeit der Benennbarkeit, bei Kracht hingegen lösen sich die Erzählkompetenz des Erzählers und die ‚Wahrheit‘ der erzählten Welt in dem fundamentalen Zweifel des Erzählers an der ‚Wahrheit‘ und Existenz der Dinge an sich auf. Bei Kracht steht am Ende die Vision einer ‚neuen Sprache‘, die sich durch ihre physische Struktur auszeichnet. Mit dieser Sprache kann eine andere Form der Kommunikation und Fassbarkeit der Welt erreicht werden, die mit der Einbeziehung des Orakels die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat um eine auratisch-mystische Dimension erweitert. Wenngleich insbesondere Ellis in seinen Texten sprachtheoretische Positionen der Postmoderne rezipiert und adaptiert, so knüpfen Ellis und Kracht dennoch mit der Diskussion der Krise der Sprache an die virulente Diskussion der Jahrhundertwende um 1900 an.139 Die deutlichste Linie lässt sich sicherlich anhand Krachts ‚neuer Sprache‘ ziehen, die direkt auf Hofmannsthals in „Ein Brief“ dargelegten Überlegungen zu einer ‚neuen Sprache‘, „in welcher die stummen Dinge [...] sprechen“140, zurückgeht. So diagnostiziert Lord Chandos in seinem Brief, dass ihm „völlig die Fähigkeit abhanden gekommen [ist], über irgend etwas zusammenhängend zu denken 139 Zur Krise der Sprache in der Jahrhundertwende um 1900 vergl. u.a.: Kacianka, Reinhard und Zima, Peter V. (Hrsg.): Krise und Kritik der Sprache. Literatur zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Tübingen und Basel 2004. Elementar für die Kritik der Sprache um 1900 sind natürlich die Texte von Fritz Mauthner: „‚Im Anfang war das Wort.‘ Mit dem Wort stehen die Menschen am Anfang der Welterkenntnis und sie bleiben stehen, wenn sie beim Wort bleiben. Wer weiter schreiten will, auch nur um den kleinwinzigen Schritt, um welchen die Denkarbeit eines ganzen Lebens weiter bringen kann, der muß sich vom Wort befreien und vom Wortaberglauben, der muß seine Welt von der Tyrannei der Sprache zu erlösen versuchen.“ Mauthner, Fritz: Das philosophische Werk. Band II,1. Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und Psychologie. Hrsg. v. Ludger Lütkehaus. Köln, Weimar und Wien 1999, S. 1. 140 Hofmannsthal: Ein Brief, S. 54.

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oder zu sprechen“141. „[D]ie abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“142 In dem Brief wird also der Verlust der sprachlichen Benennbarkeit der Welt konstatiert; Lord Chandos ist nicht mehr in der Lage, mittels Sprache zu kommunizieren oder seine Welt zu fassen. Selbst einfache Beurteilungen – „Sheriff N. ist ein böser, Prediger T. ein guter Mensch; Pächter M. ist zu bedauern [...] ein anderer ist zu beneiden [...]“143 – kann er nicht mehr treffen. Dies liegt allerdings nicht an seinem mangelnden Urteilsvermögen, sondern an seiner Unfähigkeit – oder an der Unfähigkeit der Sprache selbst –, diese Bewertung zu fassen und zu versprachlichen.144 „Dies alles erschien mir so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich. [...] Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich.“145 Im Zitat wird durch die Beschreibung der fortlaufenden Teilung des ehemals ‚Ganzen‘, das sich in seiner zerfallenden Materialität – und der Bewusstwerdung eben dieser Materialität – gerade nicht manifestiert, sondern auslöscht, und durch die Bildlichkeit die Gemeinsamkeit zwischen Moderne und Postmoderne deutlich. Bereits in der Moderne stellt Hofmannsthal den Verlust des ehemals ‚Ganzen‘ fest, der sich nun in der zerbrechenden Sprache – Teile, die in Teile zerfallen – spiegelt. Das Bild „Die einzelnen Worte schwammen um mich“ zeigt eine Parallele zu den sprachtheoretischen Überlegungen der Postmoderne auf. Jacques Derridas oder Roland Barthes’ frei flottierende Signifikanten ließen sich ebenfalls mit dem Bild des Schwimmens fassen. Hofmannsthal stellt also das Kernproblem der Literatur der Postmoderne – das Spiel der Signifikanten, bei dem die Bedeutung nicht mehr unmittelbar präsent ist, sondern sich aus dem ergibt, was die anderen Signifikanten eben nicht sind – literarisch dar. Lord Chandos kann die Worte – und ihre Bedeutungen – nicht greifen und das Spiel der Signifikanten durch die Wahl eines Signifikanten zum Stillstand bringen; wie in der Überlegung Derridas kreisen die Zeichen ruhelos um ihn.

141 Ebd., S. 48. 142 Ebd., S. 48 f. 143 Ebd., S. 49. 144 „Kein Mensch kennt den anderen.Geschwister, Eltern und Kinder kennen einander nicht. Ein Hauptmittel des Nicht-verstehens ist die Sprache. Wir wissen voneinander bei den einfachsten Begriffen nicht, ob wir bei einem gleichen Worte die gleiche Vorstellung haben. […] Durch die Sprache haben es sich die Menschen für immer unmöglich gemacht, einander kennen zu lernen.“ Mauthner: Kritik der Sprache, S. 56. 145 Hofmannsthal: Ein Brief, S. 49.



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Ein Unterschied besteht jedoch zwischen Postmoderne und Moderne: Die Postmoderne konstatiert den Verlust – dies gilt nicht nur für die Sprache, sondern für viele ‚Projekte‘ der Moderne – ohne diesen als negativ zu bewerten; die Moderne hingegen betrauert den Verlust und ist versucht, das Verlorene wiederzugewinnen – auch wenn sie die Unmöglichkeit dieses Versuches ahnt. So schließt auch Hofmannsthal seinen Brief mit der Hoffnung auf eine transzendent anmutende Sprache, die paradoxerweise erst und nur im „Verstummen des Todes“146 greifbar wird; „eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde“147,148 Ähnliche Untersuchungen – wie sie exemplarisch an einem Text gezeigt wurden – lassen sich auch an anderen Texten der Jahrhundertwende um 1900 durchführen; hier kommen insbesondere Hofmannsthals „Der Kaiser und die Hexe“ und „Der Tod des Tizian“ in Frage. Bei Schnitzler lassen sich zudem in „Anatol“ Parallelen finden. In Hugo von Hofmannsthals „Elektra“ erlebt die namensgebende Titelfigur den Mord an ihrem Vater Agamemnon in der traumatischen Wiederkehr der Gewalttat, die die Identität Elektras zunehmend auslöscht und durch die Funktion der Trauer und der Rache ersetzt. Die absolute Treue zu ihrem Vater, die ihr im Gegensatz zu ihrer Schwester kein „Weiberschicksal“149 erlaubt, konzentriert Elektras Denken auf die Erinnerung der Tat und auf die Imagination der Rache. Das Erleben der Gegenwart wird zugunsten der Repetition der Vergangenheit und der Antizipation der Zukunft ausgesetzt. Die Repetition sowie die Antizipation werden mittels der eloquenten Sprachmacht Elektras, die sich durch eine besondere Affinität zur Sprache auszeichnet, gefasst und erlebt. Mit dem Eintreten ihrer imaginierten Rachephantasien – ihr Bruder Orest tötet Ägisth, während Elektra passiv bleibt und das sorgsam gehütete Mordinstrument ‚vergisst‘ – kann die Sprache das Geschehen nicht mehr fassen und lässt Elektra verstummen. Das sprachliche Zeichen wird durch einen „namenlosen Tanz“150 ersetzt; die letzten 146 Lorenz: Wiener Moderne, S. 153. 147 Hofmannsthal: Ein Brief, S. 54. 148 Lorenz verweist anhand der zitierten Stelle auf das Problem der Meta-Sprache, die bereits bei Ludwig Wittgenstein diskutiert wurde: „[U]m über die Sprache überhaupt Aussagen treffen zu können, benötigt man so etwas wie eine Meta-Sprache. Um deren Bau zu bestimmen aber, wäre man gezwungen, sich ebenfalls der Sprache zu be­dienen – ein schier unlösbares Problem.“ Lorenz: Wiener Moderne, S. 153. 149 Hofmannsthal: Elektra, S. 71 150 Ebd., S. 110

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Verortung der Texte

Worte Elektras benennen und fordern das Verstummen: „Wer glücklich ist wie wir, dem ziemt nur eins: / schweigen und tanzen!“151 Bereits die Bezeichnung von Elektras Tanz als „namenlose[r] Tanz“ verweist auf die Aussetzung der Sprache angesichts der Gewalttat und der Realisierung der Rachephantasien; die Sprache kann den Tanz, der eben kein ‚normaler‘ Tanz mehr ist, nicht mehr fassen und benennen. Die Performance des Tanzes entspricht ebenfalls nicht den gewohnten Strukturen einer tänzerischen Darbietung; „[d]urchaus in Übereinstimmung mit der prinzipiell untänzerischen Konzeption der Titelgestalt hat Gertrud Eysoldt die Bewegungen Elektras auf eine Weise ausgeführt, die zeitgenössische Rezensenten an die Zuckungen von Epileptikerinnen denken ließen“152. Der Tanz bezeichnet jedoch nicht nur das Verstummen der Sprache, sondern ist zugleich Ausdruck des Abbruches der Kommunikation und der Isolation Elektras. Ihr Tanz stellt eben keinen „Reigen [, den sie] führen muß“153, dar; er ist vielmehr wie die Musik, die von Elektra fälschlicherweise in ihr selbst verortet wird, Zeichen ihrer Vereinzelung und Absonderung. In der „pure[n] Präsenz“154 des Tanzes, in der sich „kein Moment des Symbolischen, Darstellerischen oder Zeichenhaften mehr findet“155, in der Performativität des Nichtsprachlichen, kann Elektra jedoch nicht bestehen und muss mit der Realisierung ihrer antizipierten Rache – die vormals stets präsente und prägende Zukunftsvision, die eine Gegenwart nicht zulässt, fällt nun mit ihrer Verwirklichung in der Gegenwart weg und öffnet eine ‚leere‘ Zukunft – im Tanz verlöschen.156 Hofmannsthal diskutiert in „Ein Brief“ und „Elektra“ zwei unterschiedliche Möglichkeiten der Reaktion auf die Krise der Sprache. In „Ein Brief“ steht als visionäre „Lösung“ auf das im Text ausführlich dargelegte Versagen der Sprache – welches paradoxerweise sprachlich äußerst eloquent formuliert wird – die ‚neue Sprache‘, die eine Benennung wieder ermöglichen kann. In „Elektra“ steht hin151 Ebd., S. 110 152 Brittnacher, Hans Richard: Erschöpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Literatur des Fin de siècle. Köln, Weimar und Wien 2000, S. 158. 153 Hofmannsthal: Elektra, S. 110. 154 Mayer: Hofmannsthal, S. 60. 155 Ebd., S. 60. 156 „Meine antiken Stücke haben es alle drei mit der Auflösung des Individualbegriffes zu tun. In der ‚Elektra‘ wird das Individuum in der empirischen Weise aufgelöst, indem eben der Inhalt seines Lebens es von innen her zersprengt, wie das sich zu Eis umbildende Wasser einen irdenen Krug. Elektra ist nicht mehr Elektra, weil sie eben ganz und gar Elektra zu sein sich weihte. Das Individuum kann nur scheinhaft dort bestehen bleiben, wo ein Kompromiß zwischen dem Gemeinen und dem Individuellen geschlossen wird.“ Hofmannsthal, Hugo von: Aufzeichnungen aus dem Nachlass 1905. In: Ders.: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze III. 1925–1929. Hrsg. v. Bernd Schoeller, Ingeborg Beyer-Ahlert und Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main 1980, S. 461.



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gegen am Schluss des Textes die absolute Präsenz in dem explizit nicht-sprachlichen Tanz, der den der Sprache nicht mehr möglichen Ausdruck des Geschehens übernimmt. Zugleich bedeutet die absolute Präsenz in der erlebten Rache jedoch auch das Verlöschen und Schweigen der Figur Elektra.157 Auf die Verbindung von Sprache und Körper und die ‚Artikulationsmöglichkeiten‘ des Körpers weist bereits Mauthner hin; „Was die tote Sprache nicht vermag, wenn sie, gehoben von der Hitze der Lust, flüsternd und lispelnd die Seele des anderen sucht, das gelingt dem lebenden Wirklichen, dem allzulange so verachteten Körper.“158 Beiden Reaktionen ist jedoch das Moment des Schweigens gemein; die ‚neue Sprache‘ kann ihr Potential erst in der Transzendenz entfalten, Elektra tanzt schweigend. Eine weitere Möglichkeit deutet sich in einem Brief von Hofmannsthals an Rilke an: An diesen Gedichten scheint es mir erstaunlich wie Sie dem Gebiet des Kaum-zusagenden einen neuen Grenzstreifen abgewonnen haben, und vielfach bezaubert hat mich die Schönheit und Sicherheit mit der ein subtiler Gedanke wie mit dem bewundernswerten Pinselstrich eines Chinesen hingesetzt ist: Weisheit und rhythmisches Ornament in einem.159

Das graphische Zeichen, das eben nicht mehr nur repräsentiert, sondern dem als chinesischem Schriftzeichen eine unmittelbare ästhetische Qualität und Präsenz inne ist, die sich nicht in dem Signifikat erschöpft und die für den westlichen Leser/Betrachter nicht mehr decodierbar ist, eröffnet einen weitere Weg aus dem aus der ‚Krise der Sprache‘ resultierendem Schweigen. Über das graphische Ornament – die Schrift besteht hier sowohl aus Zeichen als auch aus Bildern – kann sich dem sprachlich nicht Fassbaren angenähert werden. Gleichwohl ist dem Bild und dem bildhaften Schriftzeichen aufgrund seiner mimetischen Komponente jedoch stets die Gefahr eben dieser Bildlichkeit eingeschrieben. 157 Gabriele Brandstetter weist auf die Verbindung von Sprachkrise, Verstummen, Tanzgeste und Schweigen hin: „Am Horizont und im Spannungsfeld von Sprachkrisen und Wucherungen der Diskurse scheint die wortlose Kunst des Tanzes nicht nur eine Alternative zur Legitimationsfrage der Autoren – ‚Wer spricht?‘ – zu bieten. Mehr noch lockt Terpsichore die Dichter mit deren vielleicht höchster und verschwiegenster Sehnsucht: dem Begehren nach beredtem Schweigen. Der sprechende Augenblick der Auslöschung aller Zeichen, das Verstummen im emphatischen Sinn findet Gestalt im Phantasma des Tanzes.“ Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt am Main 1995, S. 287. 158 Mauthner: Kritik der Sprache, S. 40, f. 159 Hugo von Hofmannsthal – Rainer Maria Rilke. Briefwechsel 1899–1925. Hg. v. Rudolf Hirsch und Ingeborg Schnack. Frankfurt am Main 1978, S. 95.

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Die Schrift als Malerei ist also zugleich das Übel und das Heilmittel im phainesthai oder im eidos. Bereits Platon sagte, daß die Kunst oder die Technik (techne) der Schrift ein pharmakon (Droge oder Tinktur, hilfreich oder schädlich) sei. Daß sie beunruhigend sei, wurde bereits seit ihrer Ähnlichkeit mit der Malerei erfahren. Die Schrift ist wie das zoographem, wie die Malerei, welche selbst durch die Problematik der mimesis bestimmt ist (Kratylos 430–432); die Ähnlichkeit ist beunruhigend […].160

Kracht und Ellis knüpfen in ihren Texten an die bei Hofmannsthal angelegten Linien an und führen die Diskussion weiter. Kracht konzentriert sich hierbei eher, wie in Teil II der Arbeit ausführlich gezeigt werden soll, auf die in „Ein Brief“ vorgestellte Lösung. In „Faserland“ und „1979“ demonstriert er den Verlust der Bezugssysteme, den Zweifel des Erzählers an der erzählten Welt und die Vision einer utopischen Weltflucht; in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ finden Krachts Überlegungen mit der Vision einer ‚neuen Sprache‘, die mit ihrer physischen Materialität unmittelbar an Hofmannsthal anknüpft, ihren vorläufigen – und, wie gezeigt wird, nicht unproblematischen – Abschluss. Ellis hingegen schreibt die ‚Lösung‘ der absoluten Präsenz, die Hofmannsthal in „Elektra“ offeriert, fort. Dient bei Elektra der Tanz als Medium des nichtsprachlichen und doch sprechenden Ausdruckes, so diskutiert Ellis, wie in Teil I der Arbeit erörtert wird, die physische Gewalt gegen den Anderen als Mittel der Kommunikation.

1.5 GEWALT

Nach der Diskussion der Sprache wird in der Arbeit der Aspekt der Gewalt bei Ellis und Kracht ausführlich untersucht. Hierbei wird sich zeigen, dass die Gewalt in den Texten der beiden Autoren zwar unterschiedlich motiviert ist – bei Ellis ist sie eng an das Versagen der Sprache gekoppelt, bei Kracht ist sie in Zusammenhang mit dem Verlust der Bezugssysteme zu lesen –, aber dennoch in allen Texten von immenser Bedeutung ist. Wie die Diskussion der Sprache lässt sich auch das Phänomen der Gewalt in der Literatur der Jahrhundertwende um 2000 an die Literatur der Jahrhundertwende um 1900 rückbinden. Die Gewalt lässt sich insbesondere über die Topoi der Gewalt als Gegenmittel zu dem Ennui – das als Motiv auf die Figur des Dandys zurückweist –, der Gewalt als nichtsprachliche und doch kommunizierende

160 Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt am Main 1974, S. 501.



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Präsenz sowie der Gewalt in Form des Opfers an die Formen und Motivationen der Gewalt der Jahrhundertwende um 1900 anschließen. In „Tristesse Royale“ nimmt Alexander von Schönburg das Gefühl des Ennui auf und verweist mit dem vorgeschlagenen ‚Ausweg‘ der Gewalt expressis verbis zurück auf die Zeit kurz nach der Jahrhundertwende um 1900.

Unsere einzige Rettung wäre eine Art Somme-Offensive. Unsere Langeweile bringt den Tod. Langsam komme ich zu der Überzeugung, daß wir uns in einer ähnlichen Geistesverfassung befinden wie die jungen Briten, die im Herbst 1914 enthusiastisch die Rugby-Felder von Eton und Harrow, die Klassenzimmer von Oxford und Cambridge verließen, um lachend in den Krieg gegen Deutschland zu ziehen. [...] Wäre das hier Cambridge und nicht Berlin, und wäre es jetzt der Herbst des Jahres 1914 und nicht der Frühling des Jahres 1999, wären wir die ersten, die sich freiwillig meldeten.161

Von Schönburg schließt hier scheinbar direkt an die oftmals formulierte Befindlichkeit der Jahrhundertwende um 1900 an, wie sie etwa Georg Heym 1910 in seinem Tagebuch festhält: „Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne [...].“162 Doch nicht nur bei Heym ist der Begriff des Ennui oder der Langeweile präsent; auch in Charles Baudelaires „Les Fleurs du Mal“163 wird die Langeweile in „An den Leser“164 genannt und über das erträumte „Blutgericht“165 mit der Gewalt verbunden. Oscar Wilde, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal stellen den Ennui ebenfalls dar und lassen somit die Langeweile – und den ersehnten Ausweg aus dieser, der oftmals mit einem ersehnten Krieg oder erträumter Gewalt in Verbindung steht – als ein wichtiges Thema der Literatur der Jahrhundertwende um 1900 erscheinen. 161 Tristesse Royale, S. 137 f. 162 Heym, Georg: Dichtungen und Schriften III. Hrsg. v. Karl Ludwig Schneider. Hamburg und München 1960, S. 138. 163 Baudelaire, Charles: Die Blumen des Bösen. Stuttgart 1992. 164 Baudelaire, Charles: An den Leser. In: Ders.: Die Blumen des Bösen. Stuttgart 1992, S. 5 f. „Die Langeweile ist’s! – Das Auge tränenreich Raucht sie die Wasserpfeife, träumt vom Blutgericht. Kennst du das heikle Ungeheuer nicht – Scheinheiliger Leser – Bruder, der mir gleich!“ 165 Ebd., S. 6.

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Verortung der Texte

In Thomas Manns „Der Zauberberg“ löst erst der „Donnerschlag“166 des beginnenden ersten Weltkriegs die Sanatoriumspatienten aus der Erstarrung in der ästhetizistischen Langeweile; auch bei Thomas Mann geht also die Lösung aus der Langeweile mit Gewalt einher. Wenngleich von Schönburg mit der Nennung der Langeweile einen der zentralen Begriffe in den Texten von Kracht und Ellis aufnimmt und die Rückbindung an die Zeit um 1900 über die Langeweile und den Krieg überzeugend gelingt, so müssen seine Aussagen dennoch unter der Prämisse gelesen werden, dass in „Tristesse Royale“ diverse Rollen aus- und dargestellt werden und es sich bei von Schönburgs Diktum um Rollenprosa handelt. Einige Zeilen vor der zitierten Stelle schließt von Schönburg die Möglichkeit einer authentischen Rolle, einer authentischen Überzeugung kategorisch aus. „Die todbringende Authentizität? Wir, die wir hier sitzen, sind so unauthentisch, daß es sich gar nicht lohnen würde, uns zu re-modeln.“167 Das heißt, von Schönburg stellt hier – durchaus provokativ – eine Rolle und Überzeugung aus, die aber, wie seine gesamte Identität, nicht authentisch sind. Dennoch bleiben die Begriffe Langweile und Ennui für „Tristesse Royale“ bestimmend; von Schönburg erkennt sie als „de[n] Hauptfeind unserer Generation“168 und liest das Berlin des Jahres 1999 als Ausdruck einer übersättigten Kultur, die sich in ihrer Saturiertheit auf dem Weg in die Dekadenz befindet. Hierbei knüpft er an die Jahrhundertwende um 1900 an. „Wir schauen über die Quadriga und das häßliche Berlin dort unten hinweg und befinden uns ebenfalls am Fin de siècle einer perfekten Kultur, die offensichtlich in ihrer höchsten Endform äußerst langweilig ist.“169 Er vergleicht die Langeweile seiner Generation mit dem „Gefühl, das Marc Aurel hatte, als ihm zum Zeitpunkt römischer Hochkultur – gleichzeitig Beginn ihres Niedergangs – nichts mehr blieb, als versonnene Betrachtungen zu schreiben“170. In Christian Krachts „1979“ sind die Langeweile und die Leere Motivation für die Reise des Erzählers und die Diskussion unterschiedlicher Bezugssysteme. Das Motiv des Ennui und der Leere als Auslöser für die Reise legt Kracht bereits in „Faserland“ an, in dem Alexander, ein Freund des Erzählers, eine endlose Weltreise unternimmt und in fremden und gefährlichen Orten, wie etwa Afghanistan, eine authentische Erfahrung sucht. Die Gewalt wird hierbei nicht wie in „Tristesse Royale“ in Form des Krieges direkt aufgesucht oder her166 Mann: Der Zauberberg. S. 1070. 167 Tristesse Royale, S. 137. 168 Ebd., S. 33. 169 Ebd., S. 33. 170 Ebd., S. 33.



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beigeschrieben, aber dennoch durch den Besuch von Ländern, die sich durch die extreme Gefährdung des Reisenden auszeichnen, hintergründig miterzählt. Das Authentische kann in der Form der Gewalt und der Gefahr erfahren werden. In Christian Krachts und Eckhart Nickels „Ferien für immer“171 werden eben nicht die „angenehmsten Orte der Welt“ – so der Untertitel des Textes – besucht, sondern die Orte, die sich im Allgemeinen durch die Abwesenheit von anderen Touristen definieren lassen und somit meist jenseits der touristisch erschlossenen Gebiete in Krisenregionen befinden. Ähnliches lässt sich für Krachts gesammelte Reisereportagen in „Der gelbe Bleistift“172 festhalten; doch auch der reisende Erzähler in „Faserland“ zeichnet sich durch „seinen kompletten Ennui“173 aus. In „1979“ wird nicht nur die Beziehung des Erzählers zu seinem Freund Christopher als langweilig empfunden – „Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie sehr du mich anödest.“174 –, sondern auch die Reise um den heiligen Berg Kailasch wird als „mühsam und langweilig“175 empfunden. Eine Lösung aus der Langeweile erfährt der Erzähler erst in der Gewalt des chinesischen Umerziehungslagers, in das er interniert und in dem er auf seine pure Körperlichkeit reduziert wird. Über den Aspekt der Gewalt als absolute Präsenz und als Mittel der Kommunikation lassen sich die Texte von Ellis und Kracht ebenfalls an die Texte der Jahrhundertwende um 1900 rückbinden. Hierbei kann der bereits diskutierte Text „Elektra“ von Hofmannsthal als Ausgangspunkt der Linie gelesen werden; Hofmannsthal etabliert das nichtsprachliche Medium des Tanzes als Ausdruck der absoluten Präsenz, mit dem allein noch das überwältigende Geschehen – die von Elektra sehnsüchtig antizipierte gewaltsame Rache an dem Mörder ihres Vaters – gefasst und ausgedrückt werden kann. Die Sprache, so wurde gezeigt, kann das Erlebte nicht mehr erfassen und kommunizieren. „Wer glücklich ist wie wir, dem ziemt nur eins: / schweigen und tanzen!“176 Lediglich der „namenlos Tanz“177 vermag noch die Tat auszudrücken. Ellis diskutiert, wie schon erwähnt, in seinen Texten ebenfalls die Krise der Sprache und der Kommunikation, die bei ihm, wie in Teil I der Arbeit ausführ171 Kracht, Christian und Nickel, Eckhart: Ferien für immer. Die angenehmsten Orte der Welt. Köln 1998. 172 Kracht, Christian: Der gelbe Bleistift. Köln 2000. 173 Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 113. 174 Kracht: 1979, S. 30. 175 Ebd., S. 140. 176 Hofmannsthal: Elektra, S. 110. 177 Ebd., S. 110.

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Verortung der Texte

lich untersucht werden wird, zum vollständigen Verlust der Kommunikation führt. Hofmannsthals Moment der absoluten Präsenz, die sich nur im nichtsprachlichen Tanz ausdrücken lässt, wird von Ellis mit der absoluten Präsenz in und mit der Gewalt, die eine ‚Kommunikation‘ mit dem Anderen wieder ermöglicht, aufgenommen.178 Ellis etabliert mit der Gewalt einen Moment, der aus der sinnlosen Monotonie der sprachlichen Hypertrophie – etwa der steten Aufzählung der Markennamen – herausragt und den Figuren im Text einen ‚Kontakt‘ ermöglicht. Mit der Deutung der Gewalt als dem atavistischen Anderen, das sowohl einen Gegenpol zu als auch einen Ausweg aus der Konsumwelt der Baudrillardschen Hyperrealität bietet, schließt sich Ellis der in der Kunst der Postmoderne virulenten Diskussion der Gewalt an. So zeigt David Fincher in dem Film „Fight Club“, der auf dem Buch von Chuck Palahniuk beruht, wie mittels Gewalt eine Gegenwelt und Gegengesellschaft erschaffen werden, in denen das Ursprüngliche und Unmittelbare der archaischen Gewalt als Erfüllung empfunden werden. Zugleich äußern Buch und Film eine Kritik an der ‚Lösung‘ in Form der Gewalt, indem sie aus der Gegenwelt der entstehenden Fight Clubs allmählich eine totalitäre Organisation erwachsen lassen. In der Literatur der Jahrhundertwende um 1900 findet die Gewalt, die in Form eines Opfers realisiert wird, besondere Beachtung. Das Modell des Opfers, das als Menschenopfer oder als Tieropfer erfolgen kann, findet seinen Niederschlag in unterschiedlichsten Texten. So untersucht etwa Brittnacher, der sich in seiner Habilitationsschrift mit dem Opfer beschäftigt, Hugo von Hofmannsthals „Elektra“, Gustave Flauberts „Hérodias“, Oscar Wildes „Salome“, Stefan Georges „Algabal“ und Gabriele d’Annunzios „Il piacere“ und vergleicht die Bearbeitungen des „Alkestis“-Stoffes von Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Rudolf Borchardt. Anhand dieser Wiederaufnahmen des „Alkestis“-Stoffes wird bereits deutlich, dass die Diskussion des Opfers zwar an antike Stoffe an-

178 Wenngleich das Verhältnis von Sprache und Gewalt bei Judith Butler grundsätzlich anders definiert ist als in den Texten von Ellis, so bleiben Butlers Überlegungen zur Anerkennung des Anderen auch für die Texte von Ellis relevant: „Angesprochen zu werden bedeutet also nicht nur, in dem, was man bereits ist, anerkannt zu werden; sondern jene Bezeichnung zu erhalten, durch die die Anerkennung der Existenz möglich wird. Kraft dieser grundlegenden Abhängigkeit von der Anrede des anderen gelangt das Subjekt zur ‚Existenz‘. Das Subjekt ‚existiert‘ nicht nur dank der Tatsache, daß es anerkannt wird, sondern dadurch, daß es im grundlegenderen Sinne anerkennbar ist.“ Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main 2006, S. 15, f.



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knüpft und ein archaisches Modell mit „überzeitliche[r] Geltung“179 übernimmt, zugleich aber auch eng mit der Zeit der Jahrhundertwende verbunden ist und aus dessen spezifischer Befindlichkeit zu ergründen ist. „Im Modell des Opfers und seinem impliziten Versprechen einer zeremoniellen Bannung der Gewalt hat das Krisenbewußtsein der Zeit zu einer vorübergehenden Aussöhnung mit der drohenden Moderne gefunden.“180 Die Gewalt in den Texten der Jahrhundertwende um 1900 ist somit nicht allein als Darstellung eines individuellen Konfliktes, der mittels Gewalt ‚gelöst‘ wird, zu lesen, sondern ist in ihrer „extremen und hochstilisierten [...] [Form von] exzessiver Gewalt“181 Ausdruck einer überindividuellen und kollektiven Problematik, die auf Tieferes verweist. Offensichtlich entwerfen sie [die Phantasien der Gewalt, I.N.] Szenarien, deren Extremismus auch Auskunft gibt über das Unbegreiflichwerden der Welt und die Erschütterungen der davon Betroffenen. Indem die literarischen Versuchsanordnungen die unbegriffene Gewalt der Realität um die Figur eines Opfers zentrieren, wollen sie an der katechontischen Dimension teilhaben: den Paroxysmus der Gemeinschaft durch die Polarisierung aller Mitglieder gegen einen Sündenbock für einen Augenblick stillstellen, den Untergang der Welt für eine Weile anhalten.182,183

Der Gewalt muss in dem Modell des Opfers eine „eigentümliche ethische Leistung“184 zugestanden werden, die sich aus der „friedens- und sinnstiftenden Leistung des Opfers“185 ergibt. Das Opfer ist also per definitionem sinnvoll und konstitutiv für die Gemeinschaft. Die Legitimation der Gewalt, die im Opfer geschieht, entstammt unmittelbar aus dem sinnstiftenden Opfer. Zugleich nimmt das Modell des Opfers die als verunsichernd erfahrene Ausdifferenzierung der Moderne wieder zurück. „Rituelles und Soziales sind wieder ungeschieden eins, Gläubige und Ungläubige, Herrscher und Beherrschte, Opferer und Geopferte [...] besetzen keine austauschbaren, sondern vom Schicksal unverrückbar vorgegebene Plätze.“186 Das Opfer bietet somit „soziale und me-

179 Brittnacher: Erschöpfung und Gewalt, S. 29. 180 Ebd., S. 9. 181 Ebd., S. 28. 182 Ebd., S. 28. 183 Brittnacher verweist hier auf die Gedanken von René Girard, die dieser in „Das Heilige und die Gewalt“ darlegt. Vergl.: Girard, René: Das Heilige und die Gewalt. Zürich 1987. 184 Brittnacher: Erschöpfung und Gewalt, S. 28. 185 Ebd., S. 29. 186 Ebd., S. 29.

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taphysische Gratifikationen“187 sowohl für die Gemeinschaft als auch für das Individuum. Mit der Realisierung des Opfers erfahren jedoch nicht nur die Opfernden eine Belohnung, sondern auch die Geopferten werden aufgrund ihres Opfers, das eine „Versöhnungsleistung“188 darstellt, mit der Einschreibung ihrer Person „als Heilige“189 in das Gedächtnis der Gemeinschaft begünstigt. „Das Subjekt, das sich mit der Gesellschaft überworfen hat, findet dank der Opferung seinen Platz in der Gemeinschaft.“190 Auch die unbeteiligten Zuschauer profitieren vom Opfer; sie werden „zu Teilnehmern und Profiteuren eines gemeinschaftlichen Rituals“191. „Im Opfer gewinnt das so dramatisch entmachtete Subjekt sein Souveränitätsrecht zurück, sei es in der Macht, andere zu opfern, sei es im Einverständnis mit der Macht, sich selbst dranzugeben.“192 In Hofmannsthals Text „Elektra“, an den die Thesen Brittnachers nun exemplarisch angelegt werden sollen, da „Elektra“ als eine der herausragenden Schilderungen einer Opferung gelesen werden kann, findet sich das Modell des Opfers sowohl in dem Wunsch Klytämnestras, mittels einer Opferung von ihren Albträumen erlöst zu werden, als auch in der zuerst nur sprachlich antizipierten sowie realisierten dann auch real stattfindenden Opferung von Ägisth. Klytämnestras Erzählung des Opfers – „[U]nd folg’ ich / dir nicht und schlachte, schlachte, schlachte Opfer / und Opfer?“193 –, in der sich performativ die bereits vollzogenen und die noch ausstehenden Opfer in der Wiederholung des Verbs manifestieren, offenbart ihr immenses Vertrauen in die Macht des Opfers. Es bedarf nur des ‚richtigen‘ Opfers, um sich aller Unannehmlichkeiten zu entledigen. „Träume / sind etwas, das man los wird. Wer daran leidet / und nicht das Mittel findet, sich zu heilen, / ist nur ein Narr. Ich find mir heraus, / wer bluten muß, damit ich wieder schlafe.“194 Die psychoanalytische Lesart ihrer Symptome, die auf ihr Schuldgefühl verweisen würde, wird von Klytämnestra zugunsten des archaischen Modells des Opfers ignoriert. „[E]in jeder Dämon läßt uns, sobald / das rechte Blut geflossen ist.“195 Ihr Leiden ist so gewaltig, dass ihr Willen zur Opferung in einen wahren Blutrausch ausartet. „Und müßt ich jedes Tier, das kriecht und fliegt, / zur Ader lassen und im Dampfe des Blutes / aufsteh’n und schlafen gehen wie die Völker / des letzten Thule im blutroten Ne187 Ebd., S. 30. 188 Ebd., S. 30. 189 Ebd., S. 30. 190 Ebd., S. 31. 191 Ebd., S. 30. 192 Ebd., S. 31. 193 Hofmannsthal: Elektra, S. 77. 194 Ebd., S. 85. 195 Ebd., S. 80.



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bel: / ich will nicht länger träumen.“196 An Klytämnestras Fragen an Elektra zeigt sich jedoch, dass ihr bewusst ist, das ein Opfer die Befolgung eines minutiös festgelegtes Rituals erfordert – womit die Gesellschaft sowohl das Moment der Vergemeinschaftung im Opfer als auch die Sanktion einer individuellen Gewalttat sicherstellt – und sich nicht in einem individuellen und wahllosen Blutrausch erfüllen kann. So fragt Klytämnestra nach dem „geweihten Tier“197, das geopfert werden muss, nach den Bräuchen, dem „Namen des Opfertieres“198 und nach der vorgeschriebenen Zeit und dem Ort des Opfers. „Und wie das Opfer? und welche Stunde? / und wo?“199 Zudem erkundigt sie sich nach der Person, die das Opfer vollstrecken darf. Das Ritual ist also genau strukturiert; die Zeit, der Ort, das Opfer, der Opfernde, der Adressat des Opfers und die Bräuche bei dem Ritual sind genau festgelegt. Das Moment der Gemeinschaft, auf das Brittnacher in seinen Überlegungen hinweist, findet sich bei Klytämnestras Planung des Opfers noch nicht – bei der Realisierung wäre die Gesellschaft hingegen sicherlich anwesend gewesen. Bei der Opferung von Ägisth durch Orest ist jedoch die Gesellschaft zugegen. So ist das Ritual bereits zu Beginn als gemeinschaftliches Ritual geplant; Elektra, die das Beil, mit dem ihr Vater ermordet wurde, für ihren Bruder hütet, soll das Mordinstrument im rechten Moment übergeben und ist so Teil der Tat. Mit Elektras Apotheose der an der Tat Beteiligten wird die Gemeinschaft erweitert und konstituiert. „[D]er ist selig, / der seine Tat zu tuen kommt! und selig, / wer ihn anrühren darf, und wer das Beil / ihm aus der Erde gräbt, und wer die Fackel / ihm hält, und wer die Tür ihm auftut, selig, / wer an der Türe horchen darf.“200 Elektras Schwester Chrysothemis, die dem Modell des Opfers und der damit einhergehenden Gewalt eigentlich ablehnend gegenübersteht und sich ein „Weiberschicksal“201 erträumt, erfährt in dem kollektiven Rausch der Gewalt der Opferung die Vergemeinschaftung. „Alle, die / Aegisth im Herzen haßten, haben sich / geworfen auf die anderen, überall / in allen Höfen liegen Tote, alle, / die leben, sind mit Blut bespritzt und haben / selbst Wunden, und doch strahlen alle, alle / umarmen sich und jauchzen, tausend Fackeln / sind angezündet.“202 Bereits in der vierfachen Wiederholung des Wortes „alle“ zeigt sich die rauschhafte Vergemeinschaftung, der sich Chrysothemis nun auch nicht mehr entziehen kann; 196 Ebd., S. 80. 197 Ebd., S. 80. 198 Ebd., S. 81. 199 Ebd., S. 81. 200 Ebd., S. 105. 201 Ebd., S. 71. 202 Ebd., S. 109.

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in dem vergossenen Blut, dessen Spuren sich als Zeichen des gemeinschaftlichen Opfers auf „allen“ zeigen, und in den Verwundungen, die „alle“ aufweisen, manifestieren sich das Opfer und die Gewalt, beziehen „alle“ ein und wirken auf „alle“. Um das Gelingen des Rituals des Opfers in „Elektra“ zu gewährleisten, so lässt sich zusammenfassen, ist nicht nur die Befolgung der Regularien des Rituals vonnöten, sondern muss zudem die Gesellschaft in das Opfer einbezogen werden; das Opfer funktioniert nur in einer sozialen Struktur, auf die es einwirken kann. In der Entfaltung einer Sphäre von Blut und Gewalt kann das Ritual dann eine beachtliche Wirkung auf die Opfernden und die Zuschauer zeigen. Auch die Texte von Ellis und Kracht lassen sich unter dem Aspekt des Opfers lesen – allerdings wird das Ritual des Opfers in den Texten der Jahrhundertwende um 2000 nicht genau übernommen, sondern erfährt entscheidende Modifikationen. Insbesondere Ellis schildert in „American Psycho“ Gewalttaten, die in ihrer Bildlichkeit an Rituale einer Opferung erinnern. So berichtet der Erzähler Bateman in dem Kapitel „Lunch with Bethany“, das im Folgenden exemplarisch analysiert werden soll, von der grausamen Gewalt, mit der er seine ehemalige Freundin Bethany quält. Nachdem er sie bewusstlos geschlagen hat, streckt er die Arme der auf dem Holzboden Liegenden aus und legt ihre Hände mit den Handflächen nach oben auf das Holz. „[I] nail three fingers on each hand, at random, to the wood by their tips.“203 Der ausgestreckte Körper, dessen Hände mit Nägeln fixiert sind, verweist als ironisch gebrochene Imitatio Christi auf die Kreuzigung und ruft somit das bekannteste Ritual einer Opferung auf – dessen Bedeutung in der Wiederholung bei jedem Abendmahl204 deutlich wird –, in der Gott seinen Sohn zum Wohle der Menschen opfert. Nach der Fixierung des Körpers beginnt die Ausübung der Gewalt gegen den wehrlosen Körper; Bateman schneidet dem Opfer die Zunge heraus. Der Angriff auf den Körper konzentriert sich auf die Zunge, die Lingua – die beiden Bedeutungen von Lingua, Zunge und Sprache, verweisen bereits auf den Hintergrund der Attacke. Die Zunge ist als Adressat der Gewalt keinesfalls willkürlich gewählt, sondern muss in Zu203 Ellis: American Psycho, S. 245. 204 Die Einsetzungsworte des Priesters zitieren die Worte Christi und betonen das Opfer. „Als sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach’s und gab’s den Jüngern und sprach: Nehmet, esset; das ist mein Leib. / Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus; das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.“ Matthäus Kapitel 26, Verse 26–28. In: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Hrsg. v. der evangelischen Kirche in Deutschland. Stuttgart 1985.



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sammenhang mit dem in Teil I der Arbeit diskutierten Verlust der Sprache und Kommunikation sowie der Gewalt als Mittel der Kommunikation gelesen werden. Bateman zerstört mit seinem Angriff auf Bethany somit das Organ, das die bedeutungslosen Worte der Sprache, die Hypertrophie der Markennamen, akustisch realisiert. Die Gewalttaten Batemans, die als Versuch der Kommunikation gelesen werden sollen, korrespondieren somit mit dem Angriff auf die Zunge. Die Szene zitiert bestimmte Strukturen eines Opferrituals, die eine ‚Lesbarkeit‘ der Gewalt – die Fixierung als Imitatio Christi, die Zunge als Organ der Hypertrophie – erzeugen und die Gewalt nicht als regellosen Exzess erscheinen lassen. Bateman scheint in der Ausübung der Gewalt gewisse Regularien zu befolgen.205 Zudem ist die Gewalt auf ein Ziel hin ausgerichtet; die teleologische Struktur der Gewalt setzt diese deutlich von willkürlich und ziellos ausgeübter „autotelischer Gewalt“206 ab, deren Ziel in sich selbst liegt und „auf die Zerstörung der Integrität des Körpers [des Anderen]“207 abzielt. Dennoch weicht das in „American Psycho“ vollzogene Opfer von der von Brittnacher erstellten Charakteristik ab: In „American Psycho“ vollzieht Bateman das Opfer allein; die Gemeinschaft, für die geopfert wird, ist nicht anwesend. Allenfalls in einer postmodernen medialen Erscheinungsform lässt sich noch eine nicht unmittelbar anwesende Gesellschaft feststellen. „[I] set up the Sony palmsized Handycam so I can film all of what follows.“208 Die Gesellschaft, so ließe sich argumentieren, betrachtet und erlebt das Opfer nur noch in seiner mittelbaren medialen Vermittlung und Wiederholung. Hierdurch wird das Opfer jedoch aus seiner einmaligen und unmittelbaren Einzigartigkeit enthoben und erfährt in der Möglichkeit der Wiederholung den Verlust seiner Bedeutung, die sich aus der Vergemeinschaftung im Opfer – was das unmittelbare Erleben, die räumliche und zeitliche Koexistenz von Opfer, Opfernden und Publikum, voraussetzt – ergibt. Zudem scheint das für den Ritus des Opfers elementare Element der Wiederholung bei Ellis nicht so präsent zu sein wie in der Literatur der Jahrhundertwende um 1900. Der Kontakt über das Opfer mit einer Transzendenz, eine Kommunikation mit dieser, ist ebenfalls im Text nicht ausdrücklich angeführt. Liest man die mediale Fixierung des Geschehens als Versuch Batemans, mit der Wiederholung der Gewalt einen Sinn zu erzeugen, wie in Teil II der Arbeit argumentiert wird – der Adressat des Filmes ist also allein Bateman und nicht 205 Die Befolgung der Opferrituale ist für die Opferung elementar; Bateman macht in dem Text zwar nicht deutlich, welche Rituale er befolgt – wenn er denn welche befolgt –, doch das heißt im Umkehrschluss nicht, dass er keinen Regularien folgt. 206 Vergl. Reemtsma, Jan Philipp: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg 2008, S. 106 ff. 207 Ebd., S. 116. 208 Ellis: American Psycho, S. 246.

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die Gesellschaft –, so lässt sich eine Veränderung des Opferrituals festhalten. Das Opfer erfolgt bei Ellis nicht mehr wie beim Opfer der Jahrhundertwende um 1900 für und mit der Gemeinschaft, sondern ist zu einer individuellen Handlung geworden, mit der persönliche Ziele verfolgt werden. Diese Individualisierung des Opfers ist nicht nur in dem Opfer von Bethany festzustellen, sondern lässt sich für alle Opferszenen in „American Psycho“ festhalten. Im Opfer bei Ellis würde sich so die Verschiebung vom Kollektiv zum Individuum feststellen lassen, die sich mit den theoretischen Überlegungen zum Übergang von Moderne zu Postmoderne in Einklang bringen ließe. Bei Kracht findet sich das Modell des Opfers in „1979“ wieder, in dem der Erzähler ausdrücklich aufgefordert wird, ein Opfer zu bringen, um die kollektive Schuld zu begleichen. „Wir haben uns alle verschuldet, weil wir Amerika zugelassen haben. Wir müssen alle Buße tun. Wir werden Opfer bringen müssen, jeder von uns.“209 Wenig später wird der Gedanke des Opfers, das aus der Schuld erlösen kann, nochmals betont. „[W]ir müssen alle ein Opfer bringen, damit Heilung kommt, Heilung, verstehen Sie? Jeder von uns.“210 Das System des Opfers findet sich in der Vorstellung, eine individuelle Schuld mittels eines Opfers begleichen zu können, wieder; auch die dem Erzähler zur Buße empfohlene Reise um den Berg Kailasch entspricht dem gängigen Modell. Die innere Haltung und Überzeugung des Erzählers, der weder von der Notwendigkeit des Opfers noch von der Form der Buße überzeugt schließlich seine Reise antritt, auf der er keine dem Opfer und der Buße angemessene Gratifikation erhält – „Es kam keine plötzliche Einsicht, ich hatte nicht das Gefühl, etwas zu geben [...] oder die Welt reinzuwaschen [...]. Es war [...] reichlich banal.“211 –, folgt jedoch nicht dem Modell des Opfers. Das Opfer wird von dem Erzähler als sinnlos empfunden, er kann seine Schuld nicht begleichen. Bei der Umrundung des Berges wird der Erzähler verhaftet und in einem chinesischen Umerziehungslager interniert. In der Leere der Wüste und der Gewalt des Lagers erfährt der Erzähler die allmähliche Selbstauslöschung. Der Text endet mit den Worten: „Alle zwei Wochen gab es eine freiwillige Selbstkritik. Ich ging immer hin. Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.“212 Am Ende steht die tabula rasa; der Erzähler hat alle Systeme, die ihm angeboten wurden, abgelehnt und als Bezugssystem ausgeschlossen und etabliert nach der völligen Auslöschung seiner Identität nun – so soll in Teil II 209 Kracht: 1979, S. 98. 210 Ebd., S. 106. 211 Ebd., S. 140. 212 Ebd., S. 183.



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der Arbeit argumentiert werden – eine rudimentäre Ethik, die sich zwar allein auf das Verbot des Verzehrs von Menschenfleisch beschränkt, aber dennoch ein neues ethisch-moralisches System bietet und damit ein geregeltes gesellschaftliches System ermöglicht, das vorher nicht denkbar war. Die Reise des Erzählers, die mit dem Eintritt der prophezeiten „Halbierung“213 den Erzähler gleich zweifach „halbiert“ – der Erzähler halbiert sein Gewicht und verliert seinen Freund –, lässt sich als eine kontinuierliche Opferung der eigenen Person und Identität verstehen. Der Erzähler verliert/opfert sein Lebensumfeld, seine Gesundheit, seinen Freund, seine Freiheit, seine körperliche Unversehrtheit und schließlich seine Identität. Er ist somit zugleich Opfernder als auch Geopferter. In dem Wunsch, Buße zu tun und in der Aufopferung des Erzählers für seine Mitgefangenen – so tritt er etwa seine knapp bemessene Nahrungsration an einen anderen Häftling ab –, wird das Moment der Gemeinschaft, die Brittnacher für das Opfer betont, deutlich. Der Sinn sowie die Gratifikation sind nie auf das singuläre Individuum gerichtet, sondern stets auf das Kollektiv. Die am Schluss des Textes aufscheinende Ethik ist ebenfalls nur vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Systems produktiv zu nutzen. Kracht steht hier dem traditionellen Modell des Opfers deutlich näher als Ellis, der eine Art postmoderne Individual-Variante des Opfers vorstellt, in der der Gedanke der Gemeinschaft vollständig ausgeklammert wird.

1.6 DIE JAHRHUNDERT WENDE UM 2000 – „UNSER FIN DE SIÈCLE“?

Am Anfang der Verortung stand das Diktum von Baudrillard, der von „unsere[r] Epoche [...] [als] unser[em] Fin de siècle“214 spricht, und die Überlegung, ob die von Hofmannsthal in „Ein Brief“ so eloquent formulierte Krise der Sprache, das Zerfallen der Worte „im Munde wie modrige Pilze“215, mit der bei Ellis und Kracht zu konstatierenden Krise der Sprache Gemeinsamkeiten aufweist, sich vielleicht gar als Ausgangspunkt dieser verstehen lässt. Wie verlaufen also die Linien zwischen den Jahrhundertwenden um 1900 und um 2000? Auch wenn in dem kurzen Kapitel hierzu keine erschöpfende Untersuchung geleistet werden konnte, so zeigte sich doch, dass sich die an den Aspekten der Figur des Dandys, der Dezentrierung, der Sprache und der Gewalt erörterten Linien von 2000 zurück zu 1900 ziehen lassen. 213 Ebd., S. 55. 214 Baudrillard: Transparenz des Bösen, S. 104. 215 Hofmannsthal: Ein Brief, S. 49.

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Verortung der Texte

Die für Teil I und II der Arbeit maßgeblichen Aspekte, die Sprache und die Gewalt, erweisen sich bei der Rückkopplung der Texte als besonders ergiebig. So scheint die von Hofmannsthal beschriebene Krise der Sprache tatsächlich ein Problemfeld zu eröffnen, an das auch in der Literatur der Postmoderne noch produktiv angeknüpft werden kann. Die Idee der in „Ein Brief“ vorgestellten ‚neuen Sprache‘, die bei Kracht so emphatisch diskutiert wird, bleibt als ‚Ausweg‘ aus der andauernden Krise der Sprache offenbar äußert attraktiv. Vergleichbares gilt für das Modell des Opfers, das nicht nur für die Literatur der Jahrhundertwende um 1900 von immenser Bedeutung ist, sondern in der Literatur der Jahrhundertwende um 2000 ebenfalls Anwendung findet. Dennoch erweisen sich die Linien, wie an der ironisch-postmodernen Adaption des Modells des Opfers durch Ellis oder durch die performative Ausstellung der Figur des Dandys bei Kracht deutlich wird, selten als ungebrochene Geraden; ein 1900 etablierter Aspekt wird selten völlig unverändert in die Literatur des Jahres 2000 übernommen. So kann am Modell des Opfers gezeigt werden, dass der für das System elementare Aspekt der Gemeinschaft im Opfer und während des Opferns in den Texten von Ellis nicht mehr von Bedeutung ist und sich das Modell des Opfers somit von einer kollektiven zu einer individuellen Veranstaltung gewandelt hat. Der Verlust des Kollektivs lässt sich somit in Zusammenhang mit dem in der Postmoderne festzustellenden Verlust der MetaErzählungen lesen. Letztlich ist mit dem Verlust der Meta-Erzählungen, der mit der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Systeme in individuelle Subsysteme einhergeht, ein Opfer nur noch individuell möglich, da für die Vergemeinschaftung kollektive Überzeugungen, die Meta-Erzählungen, unabdingbar sind. Auch der Kontakt zu einer Transzendenz ist im Opfer der Postmoderne aufgrund des Verschwindens der Meta-Erzählungen – und damit der Verlust jeglicher Transzendenz als Adressat des Opfers – unmöglich geworden. Das postmoderne Opfer kann somit nur noch ein Opfer ohne den Kontakt zu einer Transzendenz und ohne die im Opfer stattfindende Vergemeinschaftung sein. Wenn allerdings in der Postmoderne zwei der wichtigsten Aspekte des Modells des Opfers nicht mehr im Opfer realisiert werden können, so stellt sich die Frage, ob die beschriebene Gewalt sich hierbei noch als Opfer verstehen lässt und ob in der Postmoderne überhaupt noch ein Opfer möglich ist. In der Adaption des Modells des Opfers lässt sich bereits eine gewisse Nähe der Texte zur Moderne respektive Postmoderne konstatieren. Ellis präsentiert eine ironisch-postmoderne Individual-Version des Opfers, für das keine kollektiven Meta-Erzählungen mehr aufzuspüren sind. Kracht hingegen lehnt sich mit seinem Modell des Opfers, für das das Kollektiv unverzichtbar ist, eng an das aus der Moderne bekannte Modell des Opfers an. Die spezifische Form der Gewalt bei Ellis und Kracht lässt sich ebenfalls an die Theorie der Moderne bzw. Post-



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moderne anschließen. Wie in der Arbeit gezeigt wird, stellt die Gewalt bei Ellis als Mittel der Kommunikation eine eher der Postmoderne verpflichtete ‚Lösung‘ aus der Krise der Sprache dar; bei Kracht hingegen lässt sich die Gewalt als Reaktion auf den Verlust der Bezugssysteme eher als eine an die Moderne anknüpfende Version verstehen. Die bei Ellis und Kracht geschilderte Krise der Sprache lässt – insbesondere im Vergleich zu den Überlegungen von Hofmannsthal – ebenfalls eine genaue Verortung der Texte zu. Ausgehend von Lyotards Definition der Unterschiede zwischen Moderne und Postmoderne, die von Welsch aufgenommen und folgendermaßen formuliert werden, lassen sich Ellis und Kracht eher der Postmoderne respektive der Moderne zuordnen: „Solange die Auflösung der Ganzheit noch als Verlust erfahren wird, befinden wir uns in der Moderne. Erst wenn sich eine andere Wahrnehmung dieses Abschieds – eine positive – herausbildet, gehen wir in die Postmoderne über.“216 In „Ein Brief“ von Hofmannsthal wird die Krise der Sprache, der Verlust der Benennbarkeit der Welt, betrauert und als Verlust empfunden; der Verfasser des Briefes hofft auf eine ‚neue Sprache‘, mit der die Kommunikation wiederhergestellt werden kann. Kracht schließt mit seiner Schilderung der Sprachkrise, die ebenfalls als Defizit erfahren und betrauert wird, und der Aufnahme von Hofmannsthals ‚Lösung‘ der Krise durch eine ‚neue Sprache‘ unmittelbar an die Moderne an. Ellis hingegen schildert zwar ebenfalls die Krise der Sprache – die mit der vollständigen Auflösung der Benennbarkeit noch deutlich weiter als bei Kracht fortgeschritten ist –, betrauert diese jedoch nicht mehr, sondern etabliert die Gewalt als neue Form der Kommunikation. Die sporadisch stattfindenden Versuche des Erzählers, das Zerbrechen der Sprache rückgängig zu machen, um so eine sprachliche Kommunikation wieder zu ermöglichen, werden zunehmend eingestellt und durch die Kommunikation der Gewalt ersetzt. Dennoch scheint der Erzähler bei Ellis der einzige inmitten einer Welt zu sein, die sich in postmodernen Sprachspielen und der kommerzialisierten Hyperrealität emphatisch auflöst, der noch eine leichte Trauer über das Verlorene verspürt – und sich damit als ein Erzähler der Moderne in einer postmodernen Welt erweist. Ellis wäre somit als Autor der Moderne zu verstehen, der eine kühle Kritik der Postmoderne in Form einer kommentarlosen Satire formuliert.

216 Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 175.





Turning and turning in the widening gyre The falcon cannot hear the falconer; Things fall apart, the centre cannot hold.217 W. B. Yeats Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss? [...] ‚Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss.‘ Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen ... 218 Friedrich Nietzsche

2. Einführung zu Bret Easton Ellis „Less Than Zero“, das Debüt von Bret Easton Ellis, erscheint 1985, ein Jahr nachdem Jay McInerneys „Bright Lights, Big City“219 nicht nur ökonomisch äußerst erfolgreich war, sondern zudem die urbane Welt der 1980er Jahre220 erst217 Yeats, William Butler: The second coming. In: Ders.: Michael Robartes and the Dancer. Churchtown 2003, S. 30. 218 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Leipzig 1887. In: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. Girogio Colli und Mazzino Montinari. 6. Abt., 2. Bd. Berlin 1967ff, S. 311. (Hervorhebungen im Text) 219 McInerney, Jay: Bright Lights, Big City. New York 1984. 220 Elizabeth Young beschreibt dieses Jahrzehnt wie folgt: „[...] the baying packs of yuppies and estate agents, an army of entrepreneurs in red-braces and jelly-coloured spectacles. They are roaring right-wing platitudes, they are rigid with cocaine. Multitudes of blondes in black lycra jerk and steam in a million tiny clubs. No one sleeps, greed is good [...]. There are orgies of gross eating, a million pound is nothing, the sky bristles with aeroplanes, giant glittering buildings spring up above the cityscapes, only to lie dark and tenantless. A constant confetti of dirty contracts, laundered money and drug profits falls like soiled snow [...]. Above it all the gerontophilic courts of Thatcher and the Reagans kick up their legs in glee as buildings, trains and planes explode and endless showers of Aids babies, homeless lunatics, murderers, beggars, homeboys and hookers, tearing at lesions and bullet wounds, tumble slowly past.“ S. 1 f. Young beschreibt somit die Welt, die Ellis in „American Psycho“ präsentiert. Young, Elizabeth: Children of the Revolution. Fiction takes to the streets. In: Shopping in Space. Essays on America’s Blank Generation Fiction. Hrsg. v. Elizabeth Young und Graham Caveney. New York 1994, S. 1–20.



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mals literarisch darstellt. Leslie A. Fiedlers Beobachtung, dass diese Texte „nicht den Kompromiß des Marktplatzes [fürchten], [sondern] ganz im Gegenteil, [...] dasjenige Genre, das sich der Exploitation durch die Massenmedien am ehesten anbietet, [wählen,] den Western, Science-Fiction und Pornographie“221, trifft nicht nur auf McInerneys Text, sondern auch auf die Texte von Ellis zu.222 Bret Easton Ellis, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 21 Jahre alt, wurde am 7. März 1964 in Los Angeles als Sohn einer wohlhabenden Familie geboren223. Entgegen des Wunsches seiner Eltern, die für ihren Sohn eine Karriere in der Wirtschaft vorgesehen hatten, studierte er am Bennington College in Vermont, das als an der Ostküste der USA gelegenes Liberal Arts College Vorbild für das in Ellis’ Texten erwähnte fiktionale College ist. Er besuchte einen CreativeWriting-Kurs bei Joe McGinnis und schrieb dort als Abschlussarbeit das erste Manuskript zu „Less Than Zero“. McGinnis, selbst als Schriftsteller erfolgreich, schickte den Text, der ursprünglich 400 Seiten umfasste, an den Verlag Simon & Schuster in New York, wo er dann nach einer Überarbeitung und Kürzung auf gut 200 Seiten veröffentlicht wurde. „Less Than Zero“ war, kommerziell gesehen, ein großer Erfolg und machte Ellis zu einer bekannten und wohlhabenden Persönlichkeit, die ihren Erfolg in dem hedonistischen New York der 1980er Jahre exzessiv und öffentlich zelebrierte. Der Erfolg bei den Lesern kann zum einen auf Fiedlers Theorie der postmodernen Literatur, die in dem folgenden Zitat von Young die theoretische Grundlage bildet, zurückgeführt werden, „It [Less Than Zero] appealed straightforwardly to younger readers; it concerned a world they knew, one of drugs and clubs and MTV“224, dürfte aber andererseits auch auf die Thematik des Textes – Oberfläche, Identität, Kommunikation und Gewalt –, die unter der (Pop-) Oberfläche des Textes zwar verborgen, gleichzeitig aber auch mit ihr verwoben ist, zurückzuführen sein. Der Text kann also vom Leser auf unterschiedliche Art rezipiert werden; einerseits ist eine Lesart, die den Roman als „MTV Novel“225, wie ihn ein Kritiker abschätzig bezeichnet hat, ansieht und rein der Abbildung

221 Fiedler, Leslie A.: Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne. In: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hrsg. v. Wolfgang Welsch. Weinheim 1988, S. 62. 222 Anzumerken wäre noch, dass Fiedlers Text, den vertretenden Theorien gemäß, erstmals im Playboy veröffentlicht wurde. 223 Zu Ellis’ Biographie und der Veröffentlichung von „Less Than Zero“ vergl. v.a.: Steur, Horst: Der Schein und das Nichts. Bret Easton Ellis’ Roman Less Than Zero. Essen 1995, S. 10 ff. 224 Young, Elizabeth: Children of the Revolution, S. 3. 225 Powers, John: The MTV Novel arrives. In: Film Comment. Dezember 1985, S. 44.

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der Oberfläche verhaftet bleibt, möglich, zum anderen ist aber, wie die Arbeit zu zeigen versucht, eine tiefer gehende Lesart dem Text inhärent. Die Rezensionen der Kritiker fielen zum größten Teil negativ aus. „Reading the novel is like watching MTV“226 heißt es in einer Rezension die damit fortfährt, dass der Text „[is] written in the inarticulate style of a petulant suburban punk“. Michiko Kakutani, die einflussreiche Kritikerin der „The New York Times“, sieht „Less Than Zero“ als reine Dokumentation deprimierender Wirklichkeit und wünscht sich, dass Ellis „[would] write a story that doesn’t merely depress us with sociological reports“227. Andere Kritiker monieren das Gegenteil: „Prematurely world-weary, these martyrs of anomie and non-existential alienation go from party to party.“228 Das vernichtende Urteil in der „Time“, „In spite of its surface vitality and glitter, Less Than Zero offers little more than its title promises“229, scheint die Meinung vieler Kritiker zusammenzufassen. In Deutschland fielen die Rezensionen recht unterschiedlich aus; wobei auch hier ein Großteil der Kritiker den Roman negativ bewertete.230 Frank Hartmann sieht als Grundlage des Erfolges weniger die Qualität des Autors als die Marketingkampagne des Verlages: „Neu in der Literaturwelt ist, dass diese Erfolge weniger mit der zweifelhaften Qualität der Schreiber [...] zu tun haben dürften als vielmehr mit einem ausgezeichneten Marketing.“231 Matusseks Verriss, „Es ist eine von jungen Autoren [...] verfaßte eunuchoide Anpassungsliteratur an die Industrie der Oberflächenreize, eine Literatur der Gerissenheit, der gelenkigen Gesinnung, der Klugscheißerei, also dem Wesen nach eine Literatur des Verrats“232, verkennt den Sinnzusammenhang von der erwähnten Oberfläche, der Gewalt und dem Zerfall der Sprache völlig und bleibt als Kritik dort, wo sie den Autor wähnt: an der Oberfläche. Sechs Jahre nach Ellis’ Debüt „Less Than Zero“ erscheint 1991 Ellis’ drittes und wichtigstes Buch, „American Psycho“, in dem die schon im ersten Text angelegte Thematik von Oberfläche, Gewalt und zerbrochener Kommunikation weiter entfaltet wird. Ellis’ zweiter Text, „The Rules of Attraction“ kann als Fortführung von „Less Than Zero“ und als Beleg für Kontinuitäten und intertextuelle Bezüge innerhalb der Texte gesehen werden, erweist sich jedoch insgesamt als

226 Anonymous: Brief Reviews. „Less Than Zero“. In: The New Republic. 10.6.1985, S. 42. 227 Kakutani, Michiko: The Young and Ugly. In: The New York Times. 8.6.1985, S. 32. 228 Lehmann, David: Less Than Zero. In: Newsweek. 8.7.1985, S. 70. 229 Gray, Paul: Zombies. In: Time. 10.6.1985, S. 80. 230 Zur Rezeption in Deutschland und zur deutschen Übersetzung vergl.: Steur. Der Schein und das Nichts, S. 213 ff. 231 Hartmann, Frank: Kultbücher! Wunderkinder! In: Observer. Nr. 46 (1988), o. S. 232 Matussek, Matthias: Er sah einfach umwerfend aus. In: Der Spiegel. 26.9.1988, S. 203.



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weniger ergiebig als die beiden anderen Texte und wird deshalb in meiner Arbeit nicht detailliert untersucht. Die Veröffentlichung von „American Psycho“ gestaltete sich sowohl in Amerika als auch in Deutschland schwierig. Ellis’ amerikanischer Verlag Simon & Schuster zahlte Ellis aufgrund des großen ökonomischen Erfolges von „Less Than Zero“ einen Vorschuss von 300.000 Dollar für „American Psycho“, weigerte sich aber wenige Tage vor dem geplanten Verkaufsbeginn, das Buch herauszubringen.233,234 Als Grund für diese Weigerung gab der chairman des Verlages, Richard E. Snyder – nachdem er Ausschnitte des Textes in den Magazinen „Time“ und „Spy“ gelesen hatte –, an, dass es „[would be] an error of judgement to put our name on a book of such questionable taste“235. Die „The New York Times Book Review“ urteilt unter der Überschrift „Snuff This Book!“ ähnlich negativ und bezeichnet „American Psycho“ als „the most loathsome offering of the season“236. Die „Time“ sieht in dem Text „the most appaling acts of torture, murder and dismemberment ever described in a book targeted for the Best-Seller lists“237. Am deutlichsten äußert sich Tammy Bruce von der „National Organisation for Women“; sie versteht den Text als „a howto manual on the torture and dismemberment of women“238 und initiiert einen Boykott des Buches. Norman Mailers Kommentar zeigt eine weitere Seite des 233 Ellis konnte den hohen Vorschuss behalten, obwohl der Verlag das Buch nicht herausbrachte – was, worauf Young hinweist, sicherlich zum Teil auch für die emotional gehaltenen Kritiken verantwortlich ist. „The unashamed greed and envy that lay behind many of these accusations was typical of the de­cade and ironically, one of the principal themes in the novel itself.“ Young, Elizabeth: The Beast in the Jungle, the Figure in the Carpet. Bret Easton Ellis’s American Psycho. In: Shopping in Space. Essays on America’s Blank Generation Fiction. Hrsg. v. Elizabeth Young und Graham Caveney. New York 1994, S. 85–122, hier S. 87. 234 Wie Ellis’ amerikanischer Verlag Simon & Schuster weigerte sich auch Ellis’ deutscher Verlag, Rowohlt, der bis zu diesem Zeitpunkt Ellis’ Bücher herausgebracht hatte, „American Psycho“ zu publizieren. Vergl.: Winkels, Hubert: Leselust und Bildermacht. Literatur, Fernsehen und Neue Medien. Köln 1997, S. 220. 235 Zitiert nach: Leypoldt, Günter: Casual Silences: The Poetics of Minimal Realism from Raymond Carver and the New Yorker School to Bret Easton Ellis. Trier 2001, S. 250. 236 Rosenblatt, Roger: Snuff This Book. Will Bret Easton Ellis Get Away With Murder? In: The New York Times Book Review. 16.12.1990. Section 7, S. 3. 237 Sheppard, R. Z.: A revolting Development. In: Time. 29.10.1990. http://www.time.com/ time/magazine/ article/0,9171,971461-1,00.html. Letzter Zugriff: 18.8.2009. 238 Bruce, Tammy. National Organisation for Women. Dezember 1990. zitiert nach: Young, Elisabeth: The Beast in the Jungle, the Figure in the Carpet. In: Elisabeth Young und Graham Caveney: Shopping in Space. Essays on America’s Blank Generation Fiction. New York 1994, S. 87.

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Missverstehens auf: „Since we are going to have a monstrous book with a monstrous thesis, the author must rise to the occasion by having a murderer with enough inner life for us to apprehend him?“239 Die Kritik des Buches an dem vorgeführten Lebensstil und die Entstehung der Gewalt gerade aus dem nicht existenten Innenleben – das, strukturell betrachtet, im Wechselspiel mit der zerbrochenen Sprache steht – übersehen die genannten Kritiker. Letztlich wurde die gewaltverherrlichende Aussage des Textes allerdings auch von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften gesehen, was in Deutschland zu einer Indizierung von „American Psycho“ von 1995 bis 1998240 führte. 239 Mailer, Norman: „Children of the Pied Piper“. In: Vanity Fair. März 1991, S. 154–159, hier S. 154 ff. 240 Die Indizierung und die Aufhebung der Indizierung durch das Verwaltungsgericht Köln zeigt die Problematik des Textes und einer adäquaten Lektüre nebst Interpretation und Wertung auf. Die Indizie­rung wird aufgrund § 1 Abs. 1 GjS beantragt. Laut Antrag stellt der Text „exzessive und extremste Ge­walttätigkeiten [...] [dar]. Menschliches Leben werde als völlig sinn- und wertlos dargestellt. Men­schen werden wahllos gequält und umgebracht. Insbesondere Frauen werden brutal zu Tode gefoltert. Gewalt werde in den Schilderungen häufig mit sexuellen Handlungen in Verbindung gebracht“. (Bun­ desprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, Entscheidung Nr. 4454 vom 5.1.1995, bekanntge­macht im Bundesanzeiger Nr. 21 vom 31.5.1995, S. 2.) Die oben genannten Beobachtungen sind sicher richtig; es gibt extreme Gewalt, die häufig mit der Sexualität verbunden wird, und sinnloses Töten im Text. Der „Fehler“ der Indizierung, den dann auch das Gericht erkennt und der neben formalen Fehlern zur Aufhebung der Indizierung führt, ist die „Stellenlektüre“ der Bundesprüfstelle, die zu einem ausführlichen Abdruck der brutalsten Szenen im Antrag führt. Losgelöst von ihrem notwendigen Kontext erzeugt diese „Stellenlektüre“ den Eindruck beliebig gereihter Grausamkeit – was sicher der Intention des Textes, worauf der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Mainusch in seinem Gutachten für den Antrag hinweist, entgegenläuft: „[...] der Roman [stellt] in krasser Form die Hohlheit und Eindimensionalität der Konsum- und Warenwelt der achtziger Jahre [dar] [...] und [zeigt] die blinden Stellen der Gewalt in einer Zivilisation [auf ] [...], die keine Utopie mehr besitzt. Die drastischen Gewaltszenen [haben] [...] niemals ein voyeuristisches oder pornographisches Eigengewicht, sondern [erfüllen] [...] in der ästhetischen Komposition des Romans jeweils eine präzise Funktion.“ (Ebd., S. 3.) Im Gegensatz zu dem klaren Gutachten liest die Bundesprüfstelle den Text – angeregt durch die „Stellenlektüre“ – völlig anders: „Inwieweit vom Gesamtkonzept des Buches losgelöst diesen Szenen eine abstrakte und künstliche Wirkungsweise nachgesagt werden kann, bleibt fraglich. Das Abstrakte und Künstliche erhält das Buch nur durch die langwierigen Ausschweifungen über ein vollkommen ödes Yuppie-Leben, diese Wirkung kann aber nur erzielt werden, wenn das Buch vollständig gelesen wird.“ (Ebd., S. 8.) Das Verwaltungsgericht Köln hob die Indizierung am 28. April 1998 sowohl aufgrund formaler Fehler bei der Indizierung als auch aufgrund der Lesart der Bundesprüfstelle auf. „Künstlerische Äußerungen sind interpretationsfähig und interpretationsbedürftig; ein unverzichtbares Element dieser Interpretation ist die Gesamtschau des Werkes. Es verbietet sich daher, einzelne Teile des Kunstwerks aus dessen Zusammenhang zu lösen



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Trotz – oder gerade wegen – der frühen schockierten Verrisse der etablierten Medien, dem empörten Aufschrei des moralisch entrüsteten Amerika oder der erfolgten Indizierung in Deutschland wurde „American Psycho“ nicht nur zu Ellis’ bekanntestem, sondern auch zu seinem erfolgreichsten Buch.241 „Glamorama“, Ellis’ viertes Buch, erscheint 1997, sechs Jahre nach der Veröffentlichung von „American Psycho“, und stellt nach der Abbildung der hedonistischen und zynischen 1980er Jahre in „American Psycho“ nun die 1990er Jahre dar. Ellis bleibt seinem die Texte vereinenden Strukturprinzip treu und zeigt – bei Beibehaltung der Themen Oberfläche, Gewalt und zerbrochene Sprache – die geographische Ausdehnung, die parallel zu den aufeinander folgenden Lebensstationen des Erzählers verläuft, der erzählten Welt. Der Aspekt der Sprache, der in Verbindung mit dem Aspekt der Gewalt für „American Psycho“ bestimmend ist, wird in „Glamorama“ nun mit dem Aspekt der Verwischung von Realität und Fiktion verbunden. Die Nicht-Unterscheidbarkeit von Realität und Fiktion wird von Ellis schon in seinem vorigen Buch angedeutet, erfährt aber in „Glamorama“ nun besondere Beachtung und wird von einem Verwischen der Grenzen zu einer nicht mehr trennbaren ‚Real-Fiktion‘ gesteigert. Eine ‚Wirklichkeit‘ existiert weder für Ward, den Erzähler, noch für den Leser. Mit dem Verfall der Realitätsebenen und dem Wegfall der ‚Wirklichkeit‘ löst sich auch die Identität der Personen auf. Sämtliche Personen spielen Doppel- oder Dreifachrollen; welche dieser Rollen die ‚reale‘ Person beinhaltet, ist nicht mehr rekonstruierbar, da das Konzept einer ‚realen‘ Rolle oder Person, die Vorstellung einer ‚Wahrheit‘ oder ‚Wirklichkeit‘ sich hier in eine postmoderne, zerfaserte ‚Real-Fiktion‘ aufgelöst hat. Ellis führt, wie in meiner Arbeit gezeigt wird, mit dem Text sein Konzept der fortschreitenden Auflösung der Bindungen des Protagonisten an seine Welt und Umwelt weiter fort. Zudem erweisen sich – wie bei den vorigen Texten – die scheinbare ‚Hoffnung‘ oder der scheinbare ‚Ausweg‘, die am Ende des jeweiligen Textes stehen, auch in diesem Text als trügerische Illusion.

und gesondert zu untersuchen [...]. Eben dies hat die BPS jedoch getan. Eine werkgrechte Interpretation unter Berücksichtigung der Gesamtkonzeption findet in der Indizierungsentscheidung nicht statt.“ Verwaltungsgericht Köln: Urteil vom 28.4.1998. Aktenzeichen: 17 K 1394/95, S.12 241 „The story of American Psycho – as opposed to the book itself – uncannily paralleled the fictive themes it explored; it was treated as a fashion statement – controversial, emotive, urgent, very NOW! Early copies became the essential fashion accessory among the hip cognoscenti and then, as it was disseminated among the uncool masses, it was swiftly dropped.“ Young: The Beast in the Jungle, S. 88.

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Im Vergleich zu „Less Than Zero“ und „American Psycho“ erfuhr „Glamorama“ sowohl in den Rezensionen der Zeitungen und Zeitschriften als auch in Fachpublikationen wenig Aufmerksamkeit. Dies lag zum einen sicherlich daran, dass das Buch weder über den Neuigkeitsbonus eines Erstlingwerkes noch über das überraschende Moment der exzessiven Gewalt- und Sexualitätsbeschreibungen verfügt. Zum anderen stellt der Text an den Leser hohe Anforderungen; mehr noch als bei „Amercian Psycho“ muss der Leser sich auf eine Unmenge scheinbar belangloser Beschreibungen und Aufzählungen gefasst machen, die bei „Glamorama“ zudem in einen letztlich nicht völlig zu verstehenden Plot rätselhafter Verschwörungstheorien eingebunden sind. Ellis behauptet, er habe schließlich selbst den Aufbau der Verschwörungen nicht mehr verstanden und schließlich den ausufernden Plot seines Textes mit einer einfachen technischen Möglichkeit begrenzt: „I took a black marker and drew a box in the middle of the paper and I decided I was only going to deal with what was in that box and ignore whatever was outside of it and if there were loose ends and stuff wasn’t answered, well, that’s what a conspiracy is about.“242 Michiko Kakutani schreibt – wie schon zu „Less Than Zero“ und „American Psycho“ – auch zu „Glamorama“ eine Rezension für die „The New York Times“, in der sie auch Ellis’ neuesten Text äußerst kritisch sieht. „This glutinous hodgepodge of a book takes all the most glaring flaws of Mr. Ellis’ work [...] and tries to pass them off as a novel.“243 Sie fährt fort, dass „the result is a lugubrious, repetitious tale that crams more celebrity names [...] and more designer labels [...] between two book covers than any book in recent memory“244 – leider verbindet sie die Erkenntnis der Wiederholungen nicht mit einer offensichtlich notwendigen tiefergehenden Interpretation des Textes, sondern sieht sie als lästigen handwerklichen Fehler des Autors. Die Oberfläche des Textes wird hiermit, losgelöst von ihrer strukturellen und inhaltlichen Bedeutung, als alleinige Bewertungsgrundlage gewählt. Das Resümee „Nor does one care about the flimsy morals Mr. Ellis tries to attach to his story“245 zeigt wiederum das Nicht-Verstehen von Kakutani auf. Auch eine zweite Rezension in der „The New York Times“ sieht den Text ausgesprochen negativ. Daniel Mendelsohns Artikel mit dem bezeichnenden 242 Clarke, Jaime: An Interview with Bret Easton Ellis. Afternoon with an Author. 4.11.1996 und 22.10.1998. http://home.c2i.net/ ajohanne/frames_jamieclark.htm. Letzter Zugriff: 11.9.2009. 243 Kakutani, Michiko: BOOKS OF THE TIME; Fashion Victims Take Terrorist Chic Seriously. In: The New York Times. 5.1.1999. Section E, S. 8. 244 Ebd., S. 8. 245 Ebd., S. 8.



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Titel „Lesser Than Zero“246 fasst „Glamorama“ folgendermaßen zusammen: „Ellis goes to an awful lot of trouble to make sure you know how disgusted he is by the superficiality of contemporary culture, and the result is fiction that is – well, disgusting and superficial.“247 Auch Mendelsohn analysiert – wie Kakutani – für sein Urteil allein die Oberfläche des Textes, ohne eine tiefere Ebene des Textes überhaupt in Betracht zu ziehen. Vergleichbare Ansichten zu dem Text lassen sich in anderen amerikanischen Rezensionen finden. In der deutschsprachigen Presse scheinen hingegen die positiven Rezensionen zu überwiegen. So sieht Andreas Winterer in „evolver.at“ unter dem Titel „Blutbespritzte Schönheiten“248 den Text als „ein gelungenes Stück subversiver Literatur“249 und erkennt einen Sinn in den Wiederholungen und der extensiven Abbildung der Oberfläche. Gleichwohl fragt er sich, ob die „postmodernen Spielchen mit Realitätsebenen, Intertext-Bezügen und Zerspielung von Wirklichkeit und Identität“250 stets Sinn haben oder teilweise nur Selbstzweck sind. Thomas Assheuer sieht den Text als wohlkomponiertes Ganzes an, in dem alles von Bedeutung ist und stellt „Glamorama“ in eine Reihe mit David Finchers „Fight Club“, Sam Mendes’ „American Beauty“ und Michel Houellebecqs „Ausweitung der Kampfzone“. „Im semiotischen Inferno von Glamorama bedeutet jedes Wort alles und das Nichts“251 – von sinnlosen postmodernen Spielchen kann hier keine Rede sein. „Und am Ende detonieren auch in Ellis’ Roman die Bomben, als solle die sprachverhexte American Beauty-Gesellschaft zum Schweigen gebracht werden, um noch einmal das Reale, die wirkliche Bedeutung zu erzwingen, die eine und einzige, aber wiederum mörderische Wahrheit.“252

246 Mendelsohn, Daniel: Lesser Than Zero. Bret Easton Ellis’s charakters are still obsessed with appearance, even more so. In: The New York Times. 24.1.1999. http://www.nytimes. com/books/99/ 01/24/reviews/990124.24mendelt.html. Letzter Zugriff: 18.8.2009. 247 Ebd., o. S. 248 Winterer, Andreas: Blutbespritzte Schönheiten. In: Evolver Review. http://www.evolver. at/site /review .php?id=9824. Letzter Zugriff: 18.8.2009. 249 Ebd., o. S. 250 Ebd., o. S. 251 Assheuer, Thomas: Ich Prada, Du Armani. In: Die Zeit: Ausgabe 12.2000. http://www. zeit.de/2000/12 /200012.gewalt_.xml?page=all. Letzer Zugriff: 18.8.2009. 252 Ebd., o. S.

3. Die Texte von Bret Easton Ellis

In diesem Kapitel sollen die wichtigsten Texte von Bret Easton Ellis in chronologischer Reihung vorgestellt werden: „Less Than Zero“, „American Psycho“ und „Glamorama“. In Kapitel 3.1 werden Forschung und Textstruktur zu „Less Than Zero“ vorgestellt, in Kapitel 3.2 werden Forschung und Textstruktur zu „American Psycho“ diskutiert und in Kapitel 3.3. werden Forschung und Textstruktur zu „Glamorama“ besprochen. Im abschließenden Kapitel 3.4 werden die Kontinuitäten zwischen den einzelnen Texten abgebildet. So werden neben einer kurzen inhaltlichen Zusammenfassung jeweils die Kompositionsprinzipien der Texte erläutert, wie zum Beispiel die Strukturierung durch die einzelnen Kapitel, durch Handlungsstränge oder durch die wiederholte Verwendung von Motiven.

3.1 STAND DER FORSCHUNG UND TEXTSTRUKTUR „LESS THAN ZERO“

Ellis’ Debüt wird in wissenschaftlichen Abhandlungen im Allgemeinen deutlich positiver als in den Rezensionen amerikanischer und deutscher Zeitungen gesehen. Allerdings scheint der Text für unterschiedlichste Sichtweisen offen zu sein; so finden sich Arbeiten, die den Text in Zusammenhang mit den Gesetzen der Thermodynamik, insbesondere der Entropie, lesen, wohingegen andere Ellis’ thematische und gedankliche Nähe zu Sartre und Camus sehen. Zumindest sprechen aber sämtliche Untersuchungen, im Gegensatz zu Matussek und anderen Zeitungsrezensenten, dem Text eine tiefere Ebene zu. Eine der ersten wichtigen Überlegungen zu „Less Than Zero“ formuliert Peter Freese 1990 in seinem Aufsatz „Bret Easton Ellis, Less Than Zero: Entropy in the ‚MTV Novel‘?“253. Freese liefert auf nur wenigen Seiten eine recht genaue Analyse des Textes und stellt die Kompositionsprinzipien und die strukturelle Bedeutung der Wiederholung und Variation der fünf motivisch verwandten Aussagen dar: „Disappear Here. The syringe fills with blood. You’re a beautiful boy and that’s all that matters. [im Original kursiv, I.N.]. Wonder if he’s for sale. People are afraid to merge.“254 Am wichtigsten scheint ihm jedoch die Analyse 253 Freese, Peter: Bret Easton Ellis, Less Than Zero: Entropy in the „MTV Novel“? In: Modes of Narrative. Approaches to American, Canadian and British Fiction. Hrsg. v. Reingard M. Nischik und Barbara Korte. Würzburg 1990, S. 68–87. 254 Ellis, Bret Easton: Less Than Zero. London 1995, S. 183.



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des Textes unter dem Gesichtspunkt der Thermodynamik und der Entropie zu sein. So sieht er Zitate wie „I had this dream, see, where I saw the whole world melt“255, „the metal grids in the crosswalks signs were twisting, writhing, actually melting in the heat“256, „the sun is huge and burning, an orange monster“257 oder „a local man tried to bury himself alive in his backyard because it was so hot, too hot‘“258 als Beleg für ein Fortschreiten der Entropie, was sich – physikalisch betrachtet – in den hohen Temperaturen äußert. Das physikalische Phänomen der Entropie, das sich aus den Hauptsätzen der Thermodynamik erklären lässt, wird hier als symbolische Parallele zur ‚Entropie‘ der Gesellschaft gesehen. Nicht nur das physikalische System ist den Gesetzen der Entropie unterworfen, sondern auch die Menschen und ihre Kommunikations- und Verhaltensweisen. Die Welt von „Less Than Zero“ „has already entered the ‚twilight zone‘ of chaos and inertia, in which the available energy has been spent and the entropy of the system is moving towards a maximum.“259,260 Diese Feststellung bezieht sich auch auf die Kommunikation; die Funktion der Gespräche in dem Text ist nicht der Austausch von Informationen – hierzu ist die Kommunikation, strukturell betrachtet, nicht mehr fähig –, sondern reduziert sich auf ein bloßes Hintergrundrauschen zwischen emphatischer Kommunikation und „noise“261. Die Schlussfolgerung, die sich aus diesen Beobachtungen ergibt, ist, dass sich die Welt von „Less Than Zero“ nicht in einem prä-apokalytischen Zustand, dem die Vorstellung des „jüngsten Gerichts“ mit Strafe und Tod – aber auch mit einem neuem Anfang – eingeschrieben ist, sondern in einem Zustand der fortschreitenden „entropy with its irreversible movement towards final chaos and decay“262 befindet.

255 Ebd., S. 103. 256 Ebd., S. 68 f. 257 Ebd., S. 172. 258 Ebd., S. 198. 259 Freese sieht das intermediale Zitat der Fernsehsendung „Twilight Zone“ als symbolische mediale Spiegelung der realen Welt des Textes und als Vermischung der fiktiven Sphäre des Fernsehens mit der Realität „He’s [...] watching ‚The Twilight Zone‘ on the huge TV screen [...] and Rod Serling’s staring at us and tells us that we have just entered The Twilight Zone and though I don’t want to believe it, it’s just so surreal that I know it’s true [...].“ Ellis: Less Than Zero, S. 172. 260 Freese: Entropy in the „MTV Novel“?, S. 81. 261 „What it is, most of the things we say, I guess, are mostly noise.“ Pynchon; Thomas: Entropy. In: Ders.: Slow Learner. Boston 1984, S. 77. 262 Freese: Entropy in the „MTV Novel“?, S. 81.

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Die Überlegungen dieses Aufsatzes, insbesondere zur Entropie, arbeitet Freese in seinem 1997 erschienenen Buch mit dem programmatischen Titel „From Apocalypse to Entropy and Beyond. The Second Law of Thermodynamics in Post-War American Fiction“263 weiter aus. Im Hinblick auf „Less Than Zero“ besteht die Leistung des Textes weniger in einer weitergeführten Analyse und Interpretation von Ellis’ Erzählung als in einer Darstellung der physikalischen Grundlagen der Entropie und ihrer Verwendung in literarischen Texten. Jedoch weist Freese deutlicher als in seinem ersten Aufsatz zu Ellis auf die zwei Erscheinungsformen der Entropie hin, die physikalische Entropie und die Entropie der Informationen. „And this entropy not only works on the thermodynamic but also on the informational level, where it effects an insidious reduction of communicable information.“264 Ein Jahr vor Freeses erstem Aufsatz beschäftigte sich Rafael Pérez-Torres in seiner Dissertation „Screen Play and Inscription: Four Post-1960 Novels“265 neben drei anderen Texten mit „Less Than Zero“. Pérez-Torres sieht in Ellis’ Text verschiedene Elemente der postmodernen Literatur dargestellt. Besonderen Wert legt er hierbei auf die Aspekte der Medien, des Fernsehens, und die Beeinflussung der Sprache und Kommunikation durch die Medien. „Instead, characters in the novel are more like figures playing across a screen, very much like the figures flickering across the TV and movie screens found everywhere in the narrative.“266 In dem kurzen Zitat verweist er nicht nur auf die Omnipräsenz des Fernsehens, das anstatt Informationen nur noch das Gegenteil, ein permanentes Bildflackern liefert, sondern zudem auf die Angleichung der Personen an das sinnentleerte (Null-)Medium Fernsehen; auch die Menschen ‚flackern‘ kontext-, konsequenzenlos und sinnentleert über die Oberfläche des Textes. „They are simulacra267 [im Original kursiv, I.N.] of each other.“268 Der Gedanke einer Realität jenseits der Simulation der Welt und der Medienwelt, einer originären ‚Wahrheit‘, ist nicht mehr fassbar. Pérez-Torres liest den Text als Ausdruck der Hyperrealität im Sinne Baudrillards.

263 Freese, Peter: From Apocalypse to Entropy and Beyond. The Second Law of Thermodynamics in Post-War American Fiction. Essen 1997. 264 Ebd., S. 457. 265 Pérez-Torres, Rafael: Screen Play and Inscription: Narrative Strategies in Four Post-1960 Novels. Stanford 1989. (Dissertation Stanford University 1989) 266 Ebd., S. 84. 267 Zum Begriff Simulakra vergl. u.a.: Baudrillard: Transparenz des Bösen. 268 Pérez-Torres: Screen Play, S. 102.



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Jon Buscall argumentiert in seinem Aufsatz „Pretty Vacant – MTV & De-individualization in Bret Easton Ellis’s Less Than Zero“269 ähnlich und betont insbesondere die Rolle von MTV sowohl für die erzählte Welt als auch für die narrative Struktur. „However, this ‚universe of communication‘ is one of simulations; there being no ‚real‘ external to it: ‚fictions‘ and ‚reality‘ coalesce in a realm of simulacra.“270 Die Ästhetik des Mediums nimmt nun auch Einfluss auf die Gestaltung des Textes: „It projects a continually flowing narrative of hyperreal images that celebrate the ‚look‘ – where image is everything – and the surfaces and textures of texts.“271 Ellis scheint nun, so Buscall, in dem Narrativ, das in Form und Struktur MTV entspricht, zu verschwinden. MTV übernimmt die Rolle und Funktion des Autors indem die in der erzählten Welt und Handlung übermächtigen Erzählstrukturen und -formen nun die Art des Schreibens beeinflussen und sich so der Text dem Medium Fernsehen angleicht. Am Ende ist alles MTV – oder, wie Buscall schreibt: „Or to put it another way, quoting one particular mid-eighties ad-campaign: ‚MTV IS THE WORLD‘.“272 1992 veröffentlichen Elizabeth Young und Graham Caveney ihr Buch „Shopping in Space. Essays on America’s Blank Generation Fiction“, das Aufsätze zu verschiedenen aktuellen amerikanischen Autoren wie Bret Easton Ellis, Jay McInerney, Dennis Cooper und Tama Janowitz enthält. Young erstellt in ihrem Text „Vacant Possession. Less Than Zero – a Hollywood Hell“ auf gut zwanzig Seiten eine kurze Analyse und Interpretation; hierbei untersucht sie unter anderem die postmodernen Elemente des Textes. „Ellis’s Text, while lacking some of the more obvious postmodernist tricks – absurdism, fact/fiction combinations or overt authorial intervention – is nevertheless a remarkably pure representation of the experience of postmodernity.“273 In Ellis’ späterem Text „Glamorama“ finden sich, wie in Kapitel 5 der Arbeit gezeigt wird, sämtliche genannten postmodernen Elemente wieder. In „Less Than Zero“ scheinen jedoch die postmodernen Elemente sowohl weniger präsent als auch von geringerer Bedeutung als in den folgenden Texten zu sein. Es lässt sich zeigen, wie auch Young feststellt, dass die Oberflächenstruktur des Textes nicht von postmodernen Elementen geprägt ist. 269 Buscall, Jon: Pretty Vacant – MTV & De-individualization in Bret Easton Ellis’s Less Than Zero. In: Proceedings from the 7th Nordic Conference on English Studies. 1999. Hrsg. v. S-K. Tankanen und B. Warvik. Anglicana Turkunesia 20. o. O. 1999, S. 223–231. 270 Ebd., S. 223. 271 Ebd., S. 224. 272 Ebd., S. 230. 273 Young, Elizabeth: Vacant possession. Less Than Zero – a Hollywood Hell. In: Shopping in Space. Essays on America’s Blank Generation Fiction. Hrsg. v. Elizabeth Young und Graham Caveney. New York 1992, S. 21–42, hier S. 40.

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Die sich in Ellis’ erstem Text bereits andeutende These der sinnentleerten Kommunikation, die in „American Psycho“ schließlich völlig entfaltet wird, steht natürlich in enger Verbindung zu den gängigen sprachtheoretischen Überlegungen der Postmoderne; letztlich verweist Young jedoch zu Recht auf Ellis’ ‚nostalgische‘ moderne Grundhaltung: It became impossible to distinguish between the ‚real‘ and the ‚apparent‘, between truth and falsehood. [...] There are those who, seduced by language games and the glittering totality of the spectacle, can see nothing beyond it and those like Ellis who appear to have a nostalgia for ‚truth‘ and ‚meaning‘, who judge and reject the hyperreal.274

Horst Steurs 1995 erschienene Untersuchung „Der Schein und das Nichts. Bret Easton Ellis’ Roman Less Than Zero“ beschäftigt sich auf gut 250 Seiten eingehend und ausschließlich mit „Less Than Zero“. Steur liefert en detail eine Analyse des Aufbaus und der Struktur des Textes. Besondere Aufmerksamkeit widmet er den den Text strukturierenden szenischen und verbalen Wiederholungen und Variationen. Er macht deutlich, dass die scheinbar kunstlose „MTV-Novel“ streng komponiert und strukturiert ist. Steurs besondere Leistung besteht jedoch in seiner Analyse der Rolle der Musik in „Less Than Zero“. Im Gegensatz zu nahezu allen früheren Aufsätzen zeigt er, dass die Musik eng mit der jeweiligen Textsituation zusammenhängt und symbolisch deutbar die Textaussage stützt. Die vormalige Einordnung der Musik in das zusammenhanglose ‚Rauschen‘ der Medienwelt, dem Flackern des Fernsehbildschirms gleich, lässt sich nicht halten. Neben einer detaillierten Analyse der Musikstücke und der Verbindung dieser mit dem Textgeschehen und der Textaussage macht Steur deutlich, dass zum Verständnis des Textes bestimmte Kenntnisse unabdingbar sind, da „Less Than Zero“ „die Symbole und die kulturellen Codes einer Generation [enthält], die vielfach nur innerhalb dieser Gruppe verstanden werden.“ Eine der neuesten Untersuchungen ist die 2006 erschienene Dissertation „‚Out is In‘. Bret Easton Ellis und die Postmoderne“275 von Alexander Flory. In Anlehnung an Nicki Sahlins Aufsatz „‚But This Road Doesn’t Go Anywhere‘: The

274 Ebd., S. 33. 275 Flory, Alexander: „Out is In“. Bret Easton Ellis und die Postmoderne. Inaugural Dissertation. Heidelberg 2006. Elektronische Dissertation: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/volltexte/2006/7038/pdf/Out_is_in.pdf Letzter Zugriff: 18.8.2009.



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Existential Dilemma in Less Than Zero“276, in dem sie versucht, eine – nicht ganz überzeugende – Verbindung zwischen Clay und einem existentialistischen Erzähler zu ziehen, vergleicht Flory „Less Than Zero“ mit Ernest Hemingways Text „The Sun Also Rises“. Da Flory Ellis als postmodernen Autor liest, scheint eine existentialistische Sichtweise theoretisch problematisch zu sein, da die „Theorie der Postmoderne“277, die Flory zu Beginn seiner Arbeit auf knapp hundert Seiten darstellt, einer solchen Lesart grundsätzlich konträr steht. Dies erkennt auch Flory nach einem genauen Vergleich mit Hemingways Text: Selbst wenn Clay die Voraussetzungen zum Existentialisten mitbringen würde – was nicht der Fall ist – dann könnte es sich bei ihm dennoch nicht um einen existentialistischen Helden handeln, weil in der Welt von Less Than Zero das Konzept des Existentialismus selbst zum Scheitern verurteilt ist. Weder kann in der Natur authentisches Sein erfahren werden, noch ist es möglich, eine authentische Beziehung zwischen der Sprache und den Dingen herzustellen.278

Abgesehen von Sahlin beruht die Dissertation von Flory hauptsächlich auf den zuvor dargestellten Texten von Freese, Steur und Pérez-Torres. Da seine Arbeit sich ausführlich mit „American Psycho“ beschäftigt, wird sie im entsprechenden Kapitel 3.2 bei der Darstellung der Forschung genauer besprochen. Die Handlung und Struktur des Textes lassen sich einfach darstellen: Der Erzähler, der achtzehnjährige Collegestudent Clay, verbringt die vierwöchigen Weihnachtsferien seines ersten Semesters bei seinen Eltern in Los Angeles. Der Text beginnt mit seiner Rückkehr von seinem in New Hampshire gelegenen College und der Ankunft am Flughafen von Los Angeles. Die Ferien verlebt er bei seiner Mutter und seinen beiden Schwestern in einem luxuriösen Haus auf dem Mulholland Drive; seinen Vater, der getrennt von der Familie lebt, sieht er in dieser Zeit nur gelegentlich. Der unstrukturiert erscheinende Text berichtet in vermeintlich unzusammenhängenden Episoden von dem Leben eines reichen und gelangweilten jungen Mannes und dem seiner Freunde; Clay erzählt von 276 Sahlin, Nicki: „But This Road Doesn’t Go Anywhere“: The Existential Dilemma in Less Than Zero. In: Critique. Studies in contemporary fiction. Bd. 33, Ausgabe 1 (Fall 1991), S. 23–42. 277 Es soll sicherlich nicht behauptet werden, dass es so etwas wie eine einheitliche Theorie der Postmoderne gibt – die Vielzahl der disparaten Theorien spricht offensichtlich dagegen –, nur soll ange­merkt werden, dass nach Florys ausführlicher Darstellung der Postmoderne zu Beginn seiner Arbeit der Eindruck entsteht, dass Florys existentialistische Sichtweise mit keiner der Theorien in Einklang zu bringen ist. 278 Flory: „Out is In“. Ebd., S. 158.

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Restaurantbesuchen, von langen Nächten in beliebten Bars und Diskotheken, von sexuellen Kontakten mit Partnern beider Geschlechter, von Alkohol- und Drogenkonsum und der ständigen (erfolglosen) Suche nach einer neuen Attraktion, einem neuen Amüsement. Ein Leben zwischen Konsum und Rausch, Gewalt und Leere. Der Text besteht aus insgesamt 108 Kapiteln von unterschiedlicher Länge. Den Hauptteil der Erzählung bilden 93 nahezu ausschließlich im present tense erzählte Kapitel, die den Leser durch das benutzte Tempus und die Erzählperspektive unmittelbar in das durch lose verknüpfte Episoden dargestellte Geschehen einbinden. Zwölf Kapitel setzen sich schon graphisch durch die Kursivsetzung ab; sie berichten im past tense einzelne Episoden aus Clays Vergangenheit. In den letzten drei sehr kurzen Kapiteln des Textes wird sowohl das present tense als auch das past tense benutzt. Eine Reflexion des Erlebten, eine Verknüpfung des Einzelnen zu einem stringenten Gesamterlebnis wird von dem Erzähler an keiner Stelle geleistet – weder in den present tense-Kapiteln, wobei bereits die Wahl des Tempus und der IchErzählperspektive einer Reflexion entgegenstehen, noch in den im past tense erzählten Kapiteln, die formal und temporal eine Geschichtlichkeit und Reflexion nahelegen. „Less Than Zero“ erweist sich – entgegen der Annahme vieler Kritiker – als sorgfältig komponierter Text. Die 108 Kapitel teilen sich auf die erzählte Zeit von vier Wochen auf, die Zeit von Clays Weihnachtsferien. Zu Beginn lässt sich die Anzahl der erzählten Kapitel noch arithmetisch genau mit der verstrichenen Zeit verknüpfen. So wird die erste Woche, also ein Viertel der Gesamtzeit, in 27 Kapiteln erzählt. Auf Seite 108, der Hälfte der 208 Seiten (der Text beginnt auf Seite 9; entsprechend besteht der Text aus 200 Seiten, wobei Seite 108 Seite 100 entspricht) ist die Hälfte der Ferienzeit verstrichen. „I realize I’m going to be home for two more weeks.“279,280 Im weiteren Verlauf der Erzählung löst sich die Korrelation von erzählter Zeit und der dafür benötigten Seitenanzahl allmählich auf. „Passivität und Orientierungslosigkeit des Erzählers finden ihr Äquivalent in dem zunehmenden Verlust seines Zeitgefühls für das aktuelle Geschehen in der Handlungsgegenwart. Nur die Abreise bleibt als Fixpunkt in seinem Bewusstsein.“281 Der strukturelle Aufbau des Textes entspricht der Form des InitiationsreiseRomans282. Im Gegensatz zur traditionellen Struktur der Initiationsreise – Aus279 Ellis: Less Than Zero, S.108. 280 Zur Zeitstruktur vergl.: Steur: Der Schein und das Nichts, S.31. 281 Ebd., S. 51. 282 Vergl. Freese, Peter: Die Initiationsreise. Studien zum jugendlichen Helden im amerikanischen Roman. Neumünster 1971.



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zug aus der Heimat, Aufenthalt in der Fremde, Rückkehr in die Heimat – erlebt Clay die Umkehrung. Er kehrt aus dem neuen, fremden Umfeld des Colleges in seine Heimat zurück, um dann am Ende wieder in die Fremde aufzubrechen. Allerdings ließe sich anmerken, wie im Folgenden gezeigt werden soll, dass Clays „home“283, in seiner rein lokalen Bedeutung, bei seiner Familie und seinen Freunden in Los Angeles eben nicht seiner Heimat, seinem Zuhause entspricht, sondern, dass die Fremde des Colleges emotional stärker mit Heimat-Gefühlen besetzt ist. „It was time to go back. I had been home a long time.“284 Der Zustand des Zuhause-Seins wird hier als ein zeitlich zu begrenzender angesehen; Clay will nicht zurück nach Hause gehen, sondern zurück in die Fremde, von Zuhause weg. Das zweite Strukturprinzip des Textes ist die Verwendung von zwei Handlungssträngen, die in der Person des Erzählers verbunden sind. So erlebt dieser zum einen die Brüchigkeit seiner Beziehung zu seiner Freundin Blair und zum anderen das Eintauchen seines Jugendfreundes Julian in eine Welt der Drogen und der Prostitution. Als drittes den Text strukturierendes Prinzip ist schließlich die Wiederholung und Variation von fünf Motiven zu nennen. („Disappear Here“, „The syringe fills with blood“, „You’re a beautiful boy and that’s all that matters“ [im Original kursiv, I.N.], „Wonder if he’s for sale“, „People are afraid to merge.“) Diese bilden Handlungsketten, die, teilweise miteinander verbunden, die Handlung sowohl strukturieren als auch motivieren. Zudem schaffen sie Übergänge zwischen den einzelnen Episoden und fügen diese zu einem wohlkomponierten Ganzen zusammen.

3.2 STAND DER FORSCHUNG UND TEXTSTRUKTUR „AMERICAN PSYCHO“

Wie schon „Less Than Zero“ wird auch „American Psycho“ in der Forschung vollkommenen anders gelesen als in zeitgenössischen Rezensionen. Einer der ersten wichtigen Aufsätze erscheint ein Jahr nach der Veröffentlichung von „American Psycho“ in dem bereits zitierten Sammelband „Shopping in Space. Essays on America’s Blank Generation Fiction: The Beast in the Jungle, the Figure in the Carpet. Bret Easton Ellis’s American Psycho“285. Autorin und Herausgeberin Elizabeth Young erkennt die Bedeutung der Kontinuitäten in Ellis’ Texten; „El283 Ellis: Less Than Zero, S. 207. 284 Ebd., S. 207. 285 Young: The Beast in the Jungle, the Figure in the Carpet, S. 85 ff.

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lis’s work seems to be on a search-and-destroy mission.“286 Die Hoffnung auf ein anderes Leben, die am Ende jedes Textes aufscheint, wird im Folgenden gründlich zerstört. Hauptsächlich untersucht Young jedoch die Sprache und die Figur Patrick Batemans und die des Erzählers. Sie zeigt auf, dass in „American Psycho“ die Einheit aus (Ich-)Erzähler und erzählender Person, Patrick Bateman, auseinanderbricht. Diese Diskrepanz wird bereits im ersten Kapitel des Textes deutlich. Patrick is the narrator, but the author who titles the chapter ‚April Fools‘ is immediately asserting himself as the controlling voice and creating a dissonance between Patrick’s words and authorial meaning. The struggle between Patrick and the author continues, more subtly, throughout the book, underlining its fictionality and providing a counter-point in direct opposition to the stated text. The authorial voice – or rather, the authorial language – constantly foregrounds the fictionality and rhetoricity – the artificiality – of the book.287

Der scheinbare Ich-Erzähler wird durch die kontrapunktische Zweistimmigkeit der Erzählhaltung, die nicht immer genau zuordbar ist, in Frage gestellt. Zusammen mit der episodenhaften Erzählweise und der zerbrochenen Kommunikation und Sprache wird die ‚Künstlichkeit‘ des Textes an ihm selbst demonstriert. Dies gilt auch für die Personen des Textes, die keine ‚realen‘ Charaktere darstellen, sondern nur ‚Text‘ sind. „Patrick is a cipher, rather than a ‚character‘.“288 Young stellt in ihrem weitsichtigen Aufsatz überzeugend die Bedeutung der Sprache und der Erzählhaltung heraus. Sie zeigt auf, dass die Erzählung und die Personen lediglich ‚Zeichen‘ sind; allerdings verbindet sie diese Erkenntnis noch nicht – was in dieser Arbeit geschehen soll – mit der Gewalt und deren Ursache in „American Psycho“. Naomi Mandel weist in ihrem Aufsatz „‚Right Here in Nowheres‘: American Psycho and Violence’s Critique“289 in einer Weiterführung der These Youngs auf die Reduktion der erzählten Welt auf reinen Text hin; so trifft sich Bateman in einem Café namens „Nowheres“. „The café’s name is significant, with its dual assertion of placelessness (‚nowhere‘) and specificity (‚now here‘), both (or each) complicated by the plural.“290 Zugleich betont sie die Kritik der Gewalt, die sich aus dem Text lesen lässt und die enge Verzahnung der Gewalt mit der aus Text 286 Ebd., S. 93. 287 Ebd., S. 94. 288 Ebd., S. 103. 289 Mandel, Naomi: „Right Here in Nowheres“: American Psycho and Violence’s Critique”. In: Novels of the Contemporary Extreme. Hrsg. v. Alain-Philippe Durand und Naomi Mandel. London 2006, S. 9–19, hier S. 9 ff. 290 Ebd., S. 15.



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bestehenden Welt. „Born in violence, formed by text, reforming the real by deforming it, American Psycho’s critique offers violence as critique.“291 1997 veröffentlicht Hubert Winkels in seinem Buch „Leselust und Bildermacht. Über Literatur, Fernsehen und Neue Medien“ den Aufsatz „Armani, Sony, Frauenfolter. Bret Easton Ellis’ Roman der Grausamkeit“292, in dem er die Gedanken Youngs zur Sprache und Sinnlosigkeit weiterentwickelt und auf die enge Verbindung von Sprache und Gewalt hinweist. Winkels erkennt die Unmöglichkeit der Benennbarkeit, die gerade durch die ständige Aufzählung von Namen oder „Namensverweisen, denen jeder Objektbezug abhanden gekommen ist“293, dargestellt wird. Poststrukturalistisch betrachtet, besteht die Kommunikation lediglich aus einer Reihung von Signifikanten ohne Signifikat; Sinn lässt sich somit nicht mehr transportieren. Dies gilt ebenfalls für die Personen, auch sie existieren nur noch als (nicht-bedeutungstragende) Namen. Batemans Gewalt lässt sich, laut Winkels, als Versuch lesen, den Sinn, der nicht mehr kommunizierbar, benennbar und damit fassbar ist, mit dem Messer in der Hand zu stellen; der so erlebte Schmerz stellt eine „zugleich körperlich/psychisch reale[..] und symbolische[...] Erfahrung“294 dar. Winkels geht somit über Youngs Überlegungen zur Sprache und Sinnhaftigkeit hinaus, indem er zeigt, wie Sprache, Sinn und Gewalt miteinander verbunden sind. Günter Leypoldt sieht 2000 in seiner Dissertation „The Poetics of Minimal Realism from Raymond Carver and the New Yorker School to Bret Easton Ellis“ Ellis’ Texte in formaler Hinsicht als Ausdruck einer dem Realismus verwandten Schreibart – „The text resembles the kind of excessive hyperrealism295 we know from such nineteenth-century texts as Flaubert’s Salammbô (1863) or Huysmans’ A rebours (1884)“296 –; die Bedeutung der summarischen Darstellung der erzählten Welt, „the hope that the resulting lists and catalogues of recorded detail will not lead to defunctionalized or dehierachized data, but add to an inherently meaningful deep knowledge“297, ist jedoch bei Ellis eine andere. Die Hoffnung auf „meaningful deep knowledge“ durch die Darstellung von Welt hat Ellis sicher nicht mehr; wenngleich, so Leypoldt, „the kind of radical representational291 Ebd., S. 18. 292 Winkels: Leselust und Bildermacht, S. 219 ff. 293 Ebd., S. 223. 294 Ebd., S. 230. 295 Die Bezeichnung ist an dieser Stelle sicherlich nicht im Sinne Baudrillards zu verstehen, sondern lediglich als extensiver Realismus. 296 Leypoldt: Minimal Realism, S. 257. 297 Ebd., S. 257.

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ism used by Ellis still draws its force from the implication that there is a nexus between the accumulated ‚facts‘ and the ‚truth‘“298 und dass somit die Hoffnung auf ein „bedeutungsvolles tiefes Wissen“ nicht aufgegeben wird. Letztlich führen die gesammelten ‚Fakten‘ jedoch nicht zur Erkenntnis, sondern laufen, wie etwa die Überlegungen zu Batemans Kindheit, ins Leere. Leypoldt verknüpft die „Sinnleere“ jedoch nicht mit der Sprache in „American Psycho“; er liest im Text sogar die Möglichkeit einer ethisch-moralischen Entwicklung Batemans und verkennt so die Bedeutung der Sprache und die (Un-)Möglichkeiten des Textes und der erzählten Welt. Brusseau liest den Text in seinem Aufsatz „Violence and Baudrillardian Repetition in Bret Easton Ellis’s American Psycho“299 als Ausdruck der Thesen Baudrillards zur Simulation und Wiederholung. Er vergleicht die Struktur der Welt von „American Psycho“ mit der von Baudrillard zur Entfaltung seiner These etablierten Welt von Disney World, die eine reine Simulation von Wirklichkeit darstellt und mit der Vorstellung eines authentischen ‚Originals‘ nicht mehr zu fassen ist. „Disney has already begun confusing the real and the unreal, the sayable and the unsayable.“300 Ähnliches lässt sich für die fiktionale Realität in „American Psycho“ beobachten; die Personen in dem Text entstammen der außerfiktionalen Realität, werden als intertextuelles Zitat aus anderen Texten übernommen oder sind rein fiktional. Eine Unterscheidung findet nicht statt und kann aufgrund der Struktur der Welt, der die Möglichkeit eines außerhalb der Simulation stehenden Originals nicht mehr gegeben ist, auch nicht mehr stattfinden. Der Wiederholung, wie etwa der Gewalt in „American Psycho“, fehlt ebenfalls diese ‚Realität‘. „This is repetition without point, without center, without unsaid, without original.“301 Alles wird gesagt, nichts wird nicht-gesagt, alles wird unzählige Male wiederholt – ein Signifikat, eine Referenz oder ein Original ist jedoch im gesamten Text nicht gegeben. Brusseau zeigt die Bedeutung der Wiederholungen und der Simulation überzeugend auf; für ihn ist allein die Wiederholung ohne Signifikat der Text. „American Psycho“ konstituiert sich somit aus einer Endlosschleife referenzloser Repetitionen; der Sinn oder Nicht-Sinn ergibt sich aus eben diesen.

298 Ebd., S. 257. 299 Brusseau, James: Violence and Baudrillardian Repetition in Bret Easton Ellis’s American Psycho. In: Phenomenological approaches to popular culture. Hrsg. v. Michael Thomas Caroll. Bowling Green 2000, S. 35–47, hier S. 35 ff. 300 Ebd., S. 38. 301 Ebd., S. 42.



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Meines Erachtens zeigt jedoch die Sprache, die ebenfalls als signifikatlose Kette von Signifikanten zu lesen ist und repetitiv gebraucht wird, wie Bateman – und damit der Text – versucht, diese Schleife zu verlassen, um über das mittels Gewalt wiedergewonnene Signifikat Sinn zu erzeugen. Alex E. Blazer sieht „American Psycho“ in seinem 2002 erschienenen Aufsatz als literarische Darstellung postmoderner Theorien.302 Die Leere der postmodernen Oberfläche wird durch Bateman personifiziert: „Bateman is an idea and an image, but empty and void of deep identity.“303 Im Gegensatz zur Moderne, die ebenfalls die Leere diskutiert, versucht die Postmoderne nicht mehr, diese auszufüllen, sondern erkennt sie als ihren Ursprung und ihre Basis an. „Postmodernist culture, habitued to the velocity of life, takes emptiness as its foundation and its origin, and is thereby driven by and to images of hyperreality in an exponentially mediated existence.“304 Bateman lebt in Baudrillards Hyperrealität, muss jedoch erfahren, dass der grenzenlose und übersteigerte Konsum von Objekten gefährlich ist, „as we create more and more objects which please us, so too things which terrify us“305. Blazer bezieht sich hier offensichtlich, allerdings ohne es näher auszuführen, auf Baudrillards Thesen zum Konsum und zur SubjektObjekt-Beziehung. Die Gewalt in „American Psycho“ deutet Blazer als Versuch, Kontrolle wiederzugewinnen. When he feels an ‚existential chasm‘ open up before him, usually in a store or among his superficial friends and their inane conversations, he soon feels the urge to kill in order to regain control of himself [...]. Having taken the world’s nothingness inside him via the plague of images, he evacuates that death by killing men, by mutilating and raping women.306

Nach Blazers genauer Darstellung der Simulation und der Hyperrealität vermag seine Interpretation der Gewalt, insbesondere im Hinblick auf seine theoretische Analyse nach Baudrillard, nun nicht völlig überzeugen. Es bleibt unklar, inwiefern ein Kontrollgewinn in einer Welt der übermächtigen Objekte307 durch 302 Blazer, Alex E.: Chasms of Reality, Aberrations of Identity: Defining the Postmodern through Bret Easton Ellis’s American Psycho. In: Americana: The Journal of American Popular Culture (1900–present). Bd. 1, Ausgabe 2. (Fall 2002). http://www.americanpopularculture.com/journal/articles/fall_ 2002/blazer.htm Letzter Zugriff: 18.8.2009. 303 Ebd., o. S. 304 Ebd., o. S. 305 Ebd., o. S. 306 Ebd., o. S. 307 Vergl.: Baudrillard: Transparenz des Bösen, S. 91.

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das Töten der Subjekte gelingen soll. Blazer liest im Text eine Konsumwelt, die durch Simulakren des vierten Stadiums308 bestimmt ist – theoretisch bezieht er sich hier auf Baudrillard –, weicht dann aber von seiner theoretischen Linie ab, um schließlich zu der Diagnose „Patrick Bateman is psychotic, in the clinical sense of the word“309 zu gelangen. Eine Deutung, die in keinerlei Bezug zu seinen Ausführungen zur Hyperrealität steht und so letztlich nicht haltbar ist. Am Ende seines Aufsatzes deutet Blazer eine andere Möglichkeit der Deutung an: „The fourth [possibility] is that he’s just a character in a novel [...] consequently possessing no reality other than that of pure language construct“310 – eine Lesart, die sich sicherlich gewinnbringender mit seiner Analyse verknüpfen lässt als die von ihm vorgeschlagene. Martin Weinreich versucht in seinem 2004 erschienenen Aufsatz „‚Into the Void‘: The Hyperrealism of Simulation in Bret Easton Ellis’s American Psycho“311, Ellis’ Text als literarische Darstellung der Thesen von Jean Baudrillard zur Hyperrealität und Simulation zu lesen. Thematisch steht der Aufsatz dem vier Jahre zuvor erschienenen Aufsatz von Brusseau nahe; allerdings untersucht Weinreich hauptsächlich Hyperrealität und Simulation. Weinreichs Grundthese, dass Ellis den Text schrieb „to convey a cultural critique of the social conditions of postmodern consumer capitalism as outlined by Jean Baudrillard“312 und dass somit das Destillieren der Theorie Baudrillards aus dem Text ein erschöpfendes Interpretationswerkzeug darstellt, führt sicherlich in weiten Bereichen zu wichtigen Erkenntnissen, verkürzt aber die Deutungsmöglichkeiten des Textes an einigen – entscheidenden – Stellen. Am Ende zeigt sich Bateman gefangen in der sinnlosen Wiederholung – hier schließt Weinreich an Brusseau an – der endlosen Simulation. „There is no possibility to stop the senseless metonymy of serial killing and to break out of simulation.“313 Wie schon Brusseau sieht auch Weinreich in der Gewalt lediglich die Wiederholungen Baudrillards aufscheinen; beide fragen nicht nach dem Besonderen der Gewalt, die sicherlich aus dem Raster der anderen Repetitionen, wie etwa der Produkte oder der Restaurants, hinausfällt. Ob der Gewalt eine besondere 308 Vergl.: Ebd., S. 11. 309 Blazer: Chasms of Reality, o. S. 310 Ebd., o. S. 311 Weinreich, Martin: „Into the Void“: The Hyperrealism of Simulation in Bret Easton Ellis’s American Psycho. In: Amerikastudien – American Studies. Bd. 49, Ausgabe 1 (2004), S. 65–78, hier S. 65 ff. 312 Ebd., S. 65. 313 Ebd., S. 76.



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Rolle im Text zukommt, fragen beide nicht. Sie summieren sie lediglich unter den Wiederholungen. Hier hätte ein Suspendieren der Theorie Baudrillards und das Verfolgen des Textes an sich gewinnbringende Erkenntnisse liefern können. Die neueste Untersuchung zu den Texten von Bret Easton Ellis stammt von Alexander Flory. Bei „American Psycho“ stehen für Flory die Aspekte Gewalt und Materialismus, die sich in der Frage, ob „der Protagonist des Romans als realistische Darstellung eines Serienmörders zu verstehen ist oder eher als ein Symbol für den alles verschlingenden Hunger des Kapitalismus“314, manifestieren, im Vordergrund. Die beiden möglichen Antworten auf die Frage zeigen den gedanklichen Rahmen der Untersuchung auf. Der Vergleich Batemans mit (realen) Serienmördern anhand psychologischer und kriminologischer Kriterien wurde schon mehrfach, wie auch Flory darstellt, in der wissenschaftlichen Literatur versucht. Theoretisch sind diese Diskussionen in zweifacher Hinsicht problematisch; zum einen handelt es sich bei Bateman um eine fiktionale Romanfigur, also um Text. Auf diese Fiktion werden nun die etwa vom FBI für reale Personen erschaffenen Einordnungsmuster angewendet – ohne einen Unterschied zwischen einer ‚realen‘ Person und einer ‚fiktiven‘ Figur, einem Text, zu machen.315 Ellis zeigt auf, dass Bateman im Sinne der Postmoderne, wie sie Flory zu Beginn seiner Arbeit darstellt, als Text verstanden werden soll, der mit anderen Texten ‚spielt‘; eine außertextliche Welt – wie sie etwa in der Psychologie der realen Serienmörder aufscheint – scheint für dieses Verständnis wenig hilfreich.316 Die andere mögliche, von Flory favorisierte, Antwort, die Gewalt als Ausdruck des Kapitalismus liest, bringt in Verbindung mit der Theorie Baudrillards wichtige Erkenntnisse, bleibt aber als Erklärung der Gewalt zu ungenau, zu allgemein und zu flach. Flory erkennt letztlich, dass eine psychoanalytische Deutung des Verhaltens Batemans nach den von ihm dargestellten Theorien der Postmoderne problematisch ist und weicht auf die Verhaltensforschung aus. Im Folgenden stellt er den von Konrad Lorenz in „Das sogenannte Böse“317 beschriebenen Aggressionstrieb ausführlich dar und bezieht Lorenz’ Erkenntnisse auf „American Psycho“.318 314 Flory: „Out is In“, S. 8. 315 Und natürlich ohne zu fragen, ob der Autor überhaupt eine „realistische” und psychologisch deutbare Figur erschaffen wollte, oder ob die Darstellung einer Fiktion jenseits der Gesetzmäßigkeiten der Realität nicht einen besonderen Sinn haben könnte. 316 Folglich wird in meiner Arbeit diese Frage nicht von Bedeutung sein. 317 Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. München 1998. 318 Flory; „Out is In“, S. 209: „Es ist kaum anzunehmen, dass das soziale Leben realer Wall Street Broker – auch von den Morden abgesehen – so aussieht, wie das in American Psycho

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Flory versucht, ungeachtet seiner Ausführungen zur Theorie der Postmoderne, die Text-Figur Bateman mit naturwissenschaftlichen Kriterien – die anhand von Wildgänsen erarbeitet wurden und in der Psychologie mittlerweile als veraltet und unzutreffend gelten – zu fassen und erkennt den Aggressionstrieb als Ursache für Batemans Gewalt.319 Im zweiten Teil versucht Flory, Bateman in die gängigen Kategorien von Serienmördern einzuordnen.320 „Bateman wäre nach diesem Schema im Großen und Ganzen wohl als ein territorial hedonistic serial killer mit Tendenzen zum stationary power/control serial killer einzuordnen.“321 Auch wenn Flory im Nachhinein von der Einteilung als Hilfe zum Verständnis des Textes nicht mehr völlig überzeugt ist, scheint sie ihm dennoch „sinnvoll“322 – die Problematik der Vermischung von ‚realen‘ und ‚fiktiven‘ Tätern und deren Analyse anhand des gleichen Inventars diskutiert er auch an dieser Stelle nicht. Der Verweis auf die Möglichkeit der Auffassung von Bateman als ‚Text‘ fehlt ebenfalls. Abschließend unternimmt Flory eine Analyse der Hyperrealität der Warenund Konsumwelt und zeigt, ausgehend von seiner zu Beginn dargestellten These, dass die Gewalt Batemans als Kritik einer kapitalistischen Welt, die Baudrillards Darstellung der Simulation und Hyperrealität entspricht, gelesen werden kann. Ein Ansatz, der dem Text eher gerecht wird als die vorigen. Die besondere Rolle der Gewalt, die hier lediglich als anti-kapitalistisches Moment gelesen wird, und nicht mit den Aspekten der Sprache und Oberfläche verknüpft wird, vermag Flory so jedoch nicht überzeugend darzulegen. „American Psycho“ ist nach „Less Than Zero“ und „The Rules of Attraction“ Ellis drittes Buch und lässt sich als stringente Fortführung – oder Fortsetzung – der vorigen Texte lesen. Die erzählte Welt wird kontinuierlich vergrößert und dargestellt wird und dass die Menschen sich dort tatsächlich so sehr gleichen, dass sie nicht mehr auseinander zu halten sind. Ellis führt Lorenz’ Beobachtung, dass bei steigender Zahl der Bekannten die Qualität der einzelnen Bindung leidet, ins Extrem.“ – Auch hier versucht Flory eine naturwissenschaftliche Deutung, die letztlich unbefriedigend bleibt. Der Ansatz von Pérez-Torres, die Auffassung von Sprache als signifi­katlose „freefloating-signifiers“, scheint hier erfolgsversprechender. 319 Ebd., S. 211: „Wie gezeigt wurde, sorgen Batemans Herkunft und Umfeld dafür, dass sein Aggressionstrieb weit über das Normale hinaus gesteigert wird, mit seinen Morden kann er die aufgestauten Aggressionen aber nicht effektiv abbauen, weil der Aggressionsabbau einen Kampf innerhalb der eigenen Art verlangt.“ 320 Flory nennt Kategorien wie die der „nomadic killers“, der „visionary killers“, der „hedonistic killers“ oder der „power/control serial killers“. Ebd., S. 213. 321 Ebd., S. 213. 322 Ebd., S. 213.



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zerstört zugleich die jeweils am Ende einer Erzählung stehende Hoffnung auf ein anderes Leben. „Less Than Zero“ spielt in der räumlich und zeitlich beschränkten Welt von Clays Familie und Freunden während seiner Ferien in Los Angeles und endet mit der Hoffnung auf das College-Leben an der Ostküste. Eben dieses Leben wird im darauf folgenden Text, „The Rules of Attraction“, geschildert; die Hoffnung wird enttäuscht. Der Text endet wiederum mit der Hoffnung des Erzählers auf das Berufsleben in einer Großstadt – diese Welt wird dann in „American Psycho“ beschrieben. Die erzählte Welt, das Personeninventar, die Kompositionsprinzipien und die Thematik von „American Psycho“ entsprechen letztlich denen aus „Less Than Zero“. Schon auf der ersten Seite von „American Psycho“ wird durch das Graffiti, das Dantes Inschrift der Hölle zitiert, „ABANDON ALL HOPE YE WHO ENTER HERE“323, deutlich gemacht, wo und unter welchen Bedingungen der Erzähler Patrick Bateman lebt: in der Hölle. Alle Romane von Ellis spielen in der Hölle. Ein Ausweg ist niemandem möglich. Der letzte Satz des Textes „THIS IS NOT AN EXIT“324 schließt an den ersten Satz an – er scheint fast eine Ergänzung oder Begründung der im ersten Satz getroffenen Aussage zu sein („ABANDON ALL HOPE YE WHO ENTER HERE“: „THIS IS NOT AN EXIT“). Zugleich schließt der Satz den Text ab.325 Timothy Price, wie Bateman ein neureicher Börsenmakler, benennt, indem er aus einer Zeitung die Ereignisse eines einzigen Tages in New York vorliest, das Pandämonium der Moderne: strangled models, babies thrown from tenement rooftops, kids killed in the subway, a Communist rally, Mafia boss wiped out, Nazis, [...] baseball players with AIDS, [...] faggots dropping like flies in the streets, [...] the cancellation of a soap opera, [...] babysellers, AIDS babies, baby junkies [...].326

Er bricht diese Aufzählung, die die Welt zeichnet, in der „American Psycho“ spielt, ab, um Bateman zu fragen, warum er nicht eine andere Kombination aus Hose und Jackett gewählt hat. Somit steckt Ellis bereits auf den ersten drei Seiten den Rahmen der Erzählung ab: Unendliche, mitleidlose Grausamkeit und extreme stilsichere Oberflächlichkeit. „The first line [...] neatly conjoins the primary themes of blood, despair and banking“.327 323 Ellis: American Psycho, S.3. 324 Ebd., S. 399. 325 Zur weiteren Bedeutung der Sätze vergl. Kapitel 4.2 der Arbeit. 326 Ellis: American Psycho, S.4. 327 Young: The Beast in the Jungle, S. 95.

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Die erzählte Welt von „American Psycho“ ist das hedonistische, oberflächliche und materialistische New York der 1980er Jahre; Geld und Status sind die bestimmenden Faktoren. Der Erzähler des Textes ist der 27-jährige gutsituierte und erfolgreiche Patrick Bateman, der, einem älteren Clay gleich, in unzusammenhängenden Episoden aus seinem Leben zwischen teuren Bars und Restaurants und seiner gutdotierten Anstellung in einem Unternehmen berichtet. Die Struktur des Textes entspricht – wie die Personen und die Thematik – der von „Less Than Zero“; Bateman berichtet bei einer Gesamtlänge von knapp 400  Seiten in 60 zumeist episodenhaft gereihten Kapiteln, ohne dabei einen stringenten Plot zu entwickeln. Der Text wird nahezu durchgängig in der ersten Person Singular im present tense erzählt. Wie schon bei „Less Than Zero“ findet eine Reflexion des Erzählten oder eine Verknüpfung zu einer kohärenten und stringenten Gesamterzählung nicht statt. Grundsätzlich lassen sich zwei Kategorien von Kapiteln in „American Psycho“ ausmachen: Zum einen wird von Batemans Alltag berichtet, zum anderen erfährt der Leser von Batemans Gewalttaten. Die erste Kategorie zeichnet sich durch eine intensive Schilderung von Oberflächenphänomenen aus und lässt sich als textliche Darstellung von Baudrillards Hyperrealität und Simulation verstehen, wohingegen die zweite Kategorie erschreckend detailliert die grausamen Gewaltexzesse beschreibt. Diese Kategorien mit „Boredom“ und „Violence“ zu bezeichnen, wie es etwa Busonik328 und Flory tun, scheint wenig sinnvoll, da diese Begriffe nicht auf die gleiche narrative Ebene abzielen; „Violence“ bezieht sich auf innertextuelle Handlungen, „Boredom“ auf das außertextuelle Empfinden des Lesers.329 Zudem verkennt diese Benennung das wohlkomponierte Zusammenspiel der beiden Kapitelkategorien; die Gewalt entsteht aus eben diesen „boredom“-Kapiteln, die als Ausdruck der signifikatlosen Hyperrealität Terror als sinnstiftende Subversion gegen die Simulation erzeugen. Sie als lediglich „langweilig“ zu lesen wird dem Sinn des Textes nicht gerecht.330 Der Text lässt sich in drei Teile gliedern: Das erste Drittel beschreibt die Lebenswelt Batemans und stellt die oberflächliche Welt des Konsums und Amüsements in der Hyperrealität dar. Das zweite Drittel zeigt vor allem die Austauschbarkeit der Personen – bzw. die zerbrochene Verbindung von Namen und 328 Busonik, Stephen: Epistemic Structuralism in the Postmodern Novel: The Examples of William Gaddis, J. G. Ballard, and Bret Easton Ellis. Columbus 1993 (Diss. The Ohio State University; Microfiche), S. 257 ff. 329 Vergl.: Flory: „Out is In“, S. 183 ff. Flory erkennt die problematische Benennung, benutzt sie jedoch dennoch. 330 Zur Berücksichtigung der engen Verknüpfung der beiden Kategorien wird deshalb in dieser Arbeit von der Benennung Abstand genommen.



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Person, Signifikant und Signifikat – auf und leitet so zu der Gewalt im letzten Drittel des Textes über. Die kurze Darstellung verdeutlicht den engen Zusammenhang der einzelnen Teile und Kapitel. Die Simulation des ersten Teils bedingt das Auseinanderbrechen der Sprache im zweiten Teil. Dies ist wiederum Ursache der Gewalt, die als Reaktion auf die Unmöglichkeit der Kommunikation und als Versuch der Wiedererlangung eines Signifikates, einer Referenz, zu lesen ist.331

3.3 STAND DER FORSCHUNG UND TEXTSTRUKTUR „GL AMORAMA“

In der Forschung wird der Text bislang weniger als „Less Than Zero“ und „American Psycho“ diskutiert. Patricia Pisters liest den Text in ihrem Aufsatz „Glamour and Glycerine: Surplus and Residual of the Network Society: from Glamorama to FIGHT CLUB“332, der 2001 erscheint, als Darstellung einer umfassend medialisierten Welt, die sich mit Manuel Castells’ Theorien zur „Netzwerkgesellschaft“333 erfassen lässt. An „Glamorama“ stellt sie zudem die Bedeutung des „surplus“334 oder „residual“335 heraus. Diese bezeichnen – „surplus“ eher positiv, „residual“ eher negativ konnotiert – „excess over what is required, something extra, more value.“336 In der Betonung des Glamours und der zentralen Rolle von MTV und einem damit einhergehenden Lebensstil sieht Pisters verschiedene Ausformungen des medialen „surplus“ vorliegen; im ersten Teil des Textes erscheint der „surplus value of materialism [...] as empty and cold but nevertheless also hip and cool“337, im zweiten Teil ändert sich dies und der Text „changes into a nightmare“338, in dem eine Trennung zwischen Realität und Fiktion weder vom Leser noch vom Erzähler vorzunehmen ist. 331 Theoretisch lässt sich die beschriebene Entwicklung eng mit Baudrillards Theorie verknüpfen; die Abfolge der einzelnen Stadien, Simulation bzw. Hyperrealität, Verlust des Signifikates und letztendlich Gewalt oder Terror. Vergl.: Der Spiegel des Terrorismus. In: Baudrillard: Transparenz des Bösen, S. 88 ff. 332 Pisters, Patricia: Glamour and Glycerine: Surplus and Residual of the Network: from Glamorama to FIGHT CLUB. In: Micropolitics of Media Culture. Reading the Rhizomes of Deleuze and Guattari. Hrsg. v. Patricia Pisters. Amsterdam 2001, S. 125–141. 333 Castells, Manuel: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Opladen 2001. 334 Pisters: Glamour and Glycerine, S. 133. 335 Ebd., S. 132. 336 Ebd., S. 133. 337 Ebd., S. 135. 338 Ebd., S. 135.

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Glamorama witnesses the implication of the media in our ‚culture of real virtuality‘ and the embeddeness of the network enterprises when the surplus value – glamour through commodities and cameras – turns into a paranoid nightmare of manipulation and fascist violence through the camera’s never ending surveillance.339

2002 veröffentlicht Mike Grimshaw seinen Aufsatz „Cultural Pessimism and Rock Criticism. Bret Easton Ellis’ Writing (as) Hell.“340, in dem er auf „Less Than Zero“, „American Psycho“ und „Glamorama“ eingeht. Er sieht eine Verbindung der Texte bezüglich der Notwendigkeit – und Unmöglichkeit – der Benennbarkeit in einer Welt der Baudrillardschen Spektakel. Diese Benennbarkeit wird nun auf unterschiedliche Weise durchgeführt; „Bateman does it by killing. Glamorama does it by branding.“341 Grimshaw liest das „Branding“ mit Markennamen nun parallel zu der Gewalt, die, so meine noch zu entfaltende These, die Kommunikation wiederherstellen soll. Das „Branding“ stellt nun in der Tat wieder eine Kommunikation dar, da es Menschen mit Funktions- oder Markennamen benennt; allerdings könnten diese auch als Simulacren gelesen werden, die einem ‚wahren‘ Namen entgegenstehen und somit der Welt der Hyperrealität zugerechnet werden müssen. Letztlich erwies sich damit das „Branding“ – wie in „American Psycho“ – als Nicht-Kommunikation. Eine andere Lesart präsentiert Angela Woods 2003 in ihrem Aufsatz „‚I am the fucking reaper‘“342. Sie versucht anhand der Theorien zur Schizophrenie von Deleuze, Guattari, Jameson und Baudrillard die schizophrene Logik der erzählten Welt aufzuzeigen. Der Erzähler Victor Ward entspricht, so Woods, in seiner Fragmentierung und seiner Hingabe an „the sensory stimuli of postmodernity“343 der schizophrenen Logik. Im Folgenden zeigt sie nun die Struktur und Funktion des Terrorismus auf, der ebenfalls – wie die Modeindustrie – dieser schizophrenen Logik folgt. In „Glamorama“ verwischen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion; dies geschieht hauptsächlich durch den Gebrauch von technischen Geräten, die nicht nur Fotografien und Filme, sondern auch die ‚Realität‘ an sich manipulieren können. Die Vorstellung einer ‚Realität‘ oder ‚Wahrheit‘ ist, wie der Text zeigt, in 339 Ebd., S. 135. 340 Grimshaw, Mike: Cultural Pessimism and Rock Criticism. Bret Easton Ellis’ Writing (as) Hell. In: Ctheory.net. http://www.ctheory.net/articles.aspx?id=346. Letzter Zugriff: 18.8.2009. 341 Ebd., o. S. 342 Woods, Angela: „I am the fucking reaper“. In: Colloquy. Bd. 8 (Mai 2004). www.colloquy.monash. edu.au/issue008/index.html. Letzter Zugriff: 18.8.2009. 343 Ebd., o. S.



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„Glamorama“ nicht mehr zu halten. Ausgehend von der Aufgabe der Vorstellung der ‚Wahrheit‘ und ‚Authentizität‘, der Ontologie, eines Bildes, das mittels Bildbearbeitung veränderbar und damit nicht mehr per definitionem ‚wahr‘ ist, muss auch die Vorstellung der ‚Wahrheit‘ eines Filmdokumentes und letztlich sogar die des gesamten – auch persönlichen – Lebens aufgegeben werden. Die Aufhebung der Grenzen zwischen ‚Realität‘ und ‚Fiktion‘ oder Simulation bewirkt eine Veränderung in der Wahrnehmung der Konsequenzen; „Hyperreality [...] does not annihilate the capacity to act, but it radically alters the way in which the consequences of any action are perceived.“344 Mit Fortschreiten der Handlung verliert der Erzähler, „ontologically insecure, addicted to psychiatric drugs and bereft of an intellectual arsenal“345, nun zunehmend die Fähigkeit, die dünne Grenze zwischen ‚Realität‘ und ‚Fiktion‘ zu sehen. Woods interpretiert die ständig präsenten Filmteams als schizophrene Symptome: „complex and contradictory delusions that defend Victor from the reality“346. Der Terrorismus entspricht ebenfalls der schizophrenen Logik, er operiert ohne Logik oder Struktur und ohne erkennbare politische Ziele. Woods zieht hier über ein Zitat von Baudrillard zur Mode die Verbindung von der Modeindustrie zum Terrorismus: „Like Baudrillard’s description of fashion, terrorism here becomes‚ crazy, viral [and] mediationless‘ because ‚it never passes via the mediation of meaning.‘“347 Insbesondere die viralen Strukturen des Terrorismus, die sich in der sich ausbreitenden Gruppe der Model-Terroristen wiederfinden lassen, und die Sinn- und Bedeutungslosigkeit scheinen für die Bedeutung der Gruppe im Text wichtig zu sein. Die verübten Anschläge lassen sich nicht in ‚real‘ oder ‚fiktiv‘ bzw. simuliert trennen; scheinbar ‚wirkliche‘ Tote liegen zwischen künstlichen Körpergliedern. Die ‚Realität‘ wird aufgelöst und gleichzeitig mittels Hinzufügung ausgeweitet. Das ‚echte‘ Attentat besteht nun aus zweierlei nicht mehr unterscheidbaren Toten: den Menschen und den Puppen. Da die Trennung zwischen beiden wegfällt, ergibt sich eine extensive ‚Real-Fiktion‘. ‚It is the tactic of the terrorist model,‘ writes Baudrillard, ‚to bring about an excess of reality, and have the system collapse beneath that excess of reality.‘ The schizophrenic model-slash-terrorist [...] certainly brings about an excess of reality (a proliferation of images and corpses, an abundance of inconclusive explanations, a multitude of narrative voices) which dramatically intensifies ontological insecurity.348 344 Ebd., o. S. 345 Ebd., o. S. 346 Ebd., o. S. 347 Ebd., o. S. 348 Ebd., o. S.

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Ausgehend von seinen Beobachtungen zur Erzählperspektive in „Glamorama“ legt Henrik Skov Nielsen den Fokus seines Aufsatzes349 auf „Verdoppelungen“ im Text. So werden, wie in meiner Einleitung zu „Glamorama“ dargelegt, nicht nur Personen im Text verdoppelt, sondern auch die Erzählperspektive. Als Besonderheit erkennt Nielsen die letztgenannte Verdoppelung, die, über eine postmoderne Spielerei hinausgehend, mit der Struktur und Thematik des Textes eng verbunden ist. „In Glamorama, these features operate at the thematic level, with important implications for the way in which the story is told and read.“350 Die Frage des Erzählers Victor Ward, der nicht des Französischen mächtig ist, „Who the fuck is Moi?“351 lässt sich – wörtlich gelesen – als Kern des Textes verstehen; Ward fragt nach seiner Identität, nach seinem Ich-sein, und gleichzeitig wird der Leser „with a prophecy of another disunity in the character [konfrontiert]: ‚I’ is another“352. Die Verdoppelung auf der Ebene der erzählten Welt und der Personen wird im Text deutlich gemacht: Restaurants heißen „Doppelgangers“353, Wards Band nennt sich „Impersonators“. Auch im Namen des Erzählers lässt sich die Verdoppelung lesen; er trägt zwei Namen, Victor Ward und Victor Johnson; „his new surname, like Poe’s William Wilson, begins with the letter W, ‚the double you.‘“354 Der Erzähler Ward verdoppelt sich im Folgenden sowohl als (erzählte) Person als auch als Erzähler; die Erzählperspektive, die scheinbar eindeutig aus einem in der ersten Person berichtenden Ich-Erzähler besteht, löst sich auf und verdoppelt sich. Der Leser erfährt vom Erzähler Dinge, die dieser nicht wissen kann, wie etwa die Träume einer schlafenden Person, oder den Bericht aus einer die Erzählperspektive auflösenden Perspektive: „I walk into that frame, not noticing the black limousine parked across the street.“355 Such passages present the reader with a paradoxical narrator, one both omniscient and ignorant: there are two voices present in this sentence. This fact has important implications for the theme of the double in Glamorama, producing a peculiar effect: the double takes over not just the identity and life of Victor Ward but the narration of the narrative, which itself becomes doubled and double-voiced.356 349 Nielsen, Henrik Skov: Telling Doubles and Literal-Minded Reading in Bret Easton Ellis’s Glamorama. In: Novels of the Contemporary Extreme. Hrsg. v. Alain-Philippe Durand und Naomi Mandel. London und New York 2006, S. 20–30. 350 Ebd., S. 20. 351 Ellis: Glamorama, S. 5. 352 Nielsen: Telling Doubles and Literal-Minded Reading, S. 22. 353 Ellis: Glamorama, S. 6. 354 Nielsen: Telling Doubles and Literal-Minded Reading, S. 23. 355 Ellis: Glamorama, S. 168. 356 Nielsen: Telling Doubles and Literal-Minded Reading, S. 24.



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Das Kernthema des Textes ist laut Nielsen nicht nur die Tatsache, dass Personen verdoppelt werden – und das Verwischen der Grenze zwischen ‚Original‘ und ‚Kopie‘ und damit letztlich die völlige Aufhebung der Trennung von ‚Realität‘ und ‚Fiktion‘ –, sondern mehr noch die Möglichkeit der Verdoppelung. „Glamorama is a narrative about replaceability rather than replacement, the destruction of a narrator rather than a narrative of destruction.“357 Am Ende des Textes, so Nielsens These, wird das ‚Original‘ des verdoppelten Erzählers – und damit des Ich-Erzählers – eliminiert; „the double has finally triumphed and overtaken the identity of the first person.“358 In den Darstellungen zum Stand der Forschung zu „Less Than Zero“ und „American Psycho“ wurde schon auf die Dissertation von Alexander Flory eingegangen. Flory macht zwar, wie Nielsen, einige erhellende Beobachtungen zur Erzählperspektive, konzentriert sich jedoch im Wesentlichen auf die Durchführung seiner These, dass „Glamorama“ die Verwischung von Fiktion und Realität zeigt. Den Verlust der Referenz, die die Signifikanten von „Less Than Zero“ bis zu „Glamorama“ erfahren, benennt und belegt Flory. Im ersten Text beziehen sie sich noch auf Signifikate, sind aber aufgrund der Gleichheit der Beschreibungen nahezu austauschbar; in „American Psycho“ „verweisen die Kleidungsstücke als Signifikante nur noch scheinbar auf Signifikate“359 und in „Glamorama“ „verweisen die Namen der Celebrities als Signifikanten schon gar nicht mehr auf Menschen, [sondern haben] [...] im Sinne dieser Analogie [...] keine Signifikate mehr, sondern verweisen einzig und allein zurück auf sich selbst“360. Allerdings verbindet er diesen Verlust nicht mit anderen Aspekten, etwa dem der Gewalt, sondern liest ihn lediglich als Darstellung der Simulation bzw. der Hyperrealität. Somit schließt er seine Betrachtungen auch nicht mit Nielsens These, dass das Original des verdoppelten Erzählers am Ende eliminiert wird und die Kopie das Leben des Originals weiterführt, sondern liest den Text als Darstellung der verwischenden Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Letztlich übernimmt bei Flory nicht die Kopie das Leben – und die Rolle des Erzählers –, sondern ein Victor Ward, der eine merkwürdige Wandlung erfahren hat. Die Handlung von Ellis’ viertem Text ist außerordentlich verworren und aufgrund der Vermischung von Fiktion und Realität, die weder für den Leser noch

357 Ebd., S. 25. 358 Ebd., S. 26. 359 Flory: „Out is In“, S. 293. 360 Ebd., S. 293.

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für den Erzähler unterscheidbar sind, schwer in einen stringenten Plot aufzulösen. Als Erzähler fungiert der 28-jährige Victor Ward, der als Model arbeitet und als Freund des Models Chloe Byrnes in der oberflächlichen Welt der Stars und Models zuhause ist. Im Laufe des Textes wird jedoch deutlich, dass die Erzählperspektive nicht der scheinbaren Perspektive des Ich-Erzählers entspricht. Zumeist wird im present tense berichtet; allerdings sind Erinnerungen, die im past tense erzählt werden, in den Text eingebunden und nicht – wie etwa in „Less Than Zero“ – vom Text abgesetzt. Im Gegensatz zu „Less Than Zero“ und „American Psycho“ ist „Glamorama“ weniger durch einzelne nur lose verknüpfte Episoden komponiert; abgesehen vom ersten Teil des Textes, der eine Einführung in die erzählte Welt liefert und sich in der Art der Erzählweise – und der erzählten Welt –als Fortsetzung von „American Psycho“ liest, erfordert der komplexe Plot eine fortschreitende Handlung, die einen stringenten Verlauf der Erzählung notwendig macht. Der Text zeichnet sich durch eine Häufung von Zitaten aus. Diese entstammen zumeist dem Bereich der Pop-Kultur, wie etwa Zitate aus Liedern bekannter Rock- oder Popgruppen, und werden – teilweise leicht verändert – ohne Kennzeichnung in den Text eingebunden. Vor allem der Erzähler Ward äußert sich häufig in Zitaten; dies geht soweit, dass es ihm gelingt, ganze Unterhaltungen nur mit Zitaten zu bestreiten. „Glamorama“ gliedert sich in sechs Teile; Teil eins ist mit 34 Kapiteln der längste. Die Zählung der Kapitel verläuft in den ersten fünf Teilen abwärts, so beginnt sie im ersten Teil mit Kapitel 33 und endet mit Kapitel 0. Der Ort der Handlung ist in diesem Teil New York; die erzählte Zeit beträgt laut Ellis exakt 36 Stunden.361 Der erste Teil des Textes erzählt die geplante Eröffnung eines Clubs, die Ward organisiert. Ward versucht jedoch – gegen den Willen seines Auftraggebers – einen eigenen Club zu eröffnen und betrügt ihn zudem mit seiner Freundin. Am Ende des ersten Teils bekommt Ward den Auftrag, eine frühere Bekannte in Europa zu suchen. Teil zwei beschreibt Wards Überfahrt nach Europa auf der Queen Elizabeth II. Die 17 Kapitel dieses Teils werden wie im ersten Teil abwärts gezählt. Im dritten Teil ist Ward nun in London angekommen und beginnt seine Suche. Er trifft auf Jamie Fields, die er aus seiner Zeit am College kennt und die ihn schließlich mit einem ehemaligen Model namens Bobby Hughes bekannt macht. Hughes stellt sich alsbald als Anführer einer terroristischen Vereinigung von Models heraus, die Anschläge auf die Symbole des Kapita361 Vergl.: Clarke: An Interview with Bret Easton Ellis. 4.11.1996 und 22.10.1998.



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lismus begehen und hierbei auch vor Mord nicht zurückschrecken. Dieser Teil setzt sich aus 14 Kapiteln zusammen, die ebenfalls abwärts gezählt werden. Der vierte Teil erzählt die weiteren Geschehnisse in Zusammenhang mit den Model-Terroristen. Er besteht aus 39 Kapiteln, die wiederum abwärts gezählt werden (Kapitel 38 bis 0). Die Verwirrungen nehmen deutlich zu, Ward erfährt von der Möglichkeit, Menschen zu ‚doppeln‘ – offensichtlich wurde auch er durch einen Doppelgänger während seiner Abwesenheit in New York ersetzt – und tötet Hughes, den Anführer der Terroristen. Wer allerdings alles in die Machenschaften verstrickt ist, ist weder für Ward noch für den Leser restlos aufzuklären. Im kurzen fünften Teil, der sich in zehn Kapitel gliedert, befindet sich Ward wieder in New York, wo er die Universität besucht und scheinbar eine Wandlung erfahren hat. Nachdem Ward auf zwei Attentäter trifft, die er tötet, flieht er aus der Stadt. Im sechsten Teil, in dem die Kapitel zum ersten Mal aufwärts von 0 bis 15 gezählt werden, findet sich Ward in einem Hotelzimmer in Mailand wieder. Der Text endet mit Wards Betrachtung von einem Gemälde, das einen Berg zeigt, den er als die Zukunft deutet.

3.4 KONTINUITÄTEN

Eine genaue Lektüre und Analyse der einzelnen Bücher Ellis’ zeigen, dass sich die oftmals aus vermeintlich unzusammenhängenden Episoden bestehenden Einzeltexte zu einem ‚Gesamttext‘ zusammenfügen. Dies lässt sich sowohl auf thematischer als auch auf formaler und struktureller Ebene zeigen. So diskutiert Ellis in seinen Texten – hierbei sind, wie schon erläutert, insbesondere „Less Than Zero“, „American Psycho“ und „Glamorama“ von Bedeutung – die Problematik der Sprache und der Gewalt, also, wie anhand der in den folgenden Kapiteln untersuchten Aspekte gezeigt werden soll, die Möglichkeit der intersubjektiven Verbindung und Kommunikation. Die am Ende eines jeden Textes stehende ‚Rettung‘ oder ‚Lösung‘ wird jeweils im folgenden Text dekonstruiert; Elizabeth Young bezeichnet Ellis’ Vorgehen als „search-and-destroy mission“362. Auf der Ebene der Komposition lassen sich ebenfalls Kontinuitäten auffinden. Im ersten Teil dieses Kapitels sollen nun die kompositorischen Kontinuitäten gezeigt werden, die die geschlossene Welt Ellis’ demonstrieren. Haupt362 Young: The Beast in the Jungle, S. 93.

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sächlich soll auf das Personeninventar und die kontinuierliche Vergrößerung der erzählten Welt eingegangen werden. Betrachtet man das Personeninventar der Texte, so lassen sich zwei Strukturprinzipien feststellen: das Strukturprinzip der Kontinuität und das der ‚geklonten‘ Figuren. Die Kontinuität lässt sich an der wiederholten Verwendung der gleichen Figur in verschiedenen Texten zeigen; Ellis erzeugt so Linien, die die Texte durch die Personen verbinden. Ellis zweiter Text „The Rules of Attraction“ kann hier als „Nexus“363 verstanden werden, mit dem Ellis alle Hauptfiguren – und viele Nebenfiguren – miteinander verknüpft. Die ‚geklonten‘ Figuren verweisen auf die starken Gemeinsamkeiten der erzählten Personen, die aus einem gemeinsamen ‚Ursprung‘ zu entstammen scheinen. Das Personeninventar in Ellis’ Texten besteht stets aus einer quantitativ gesehen recht kleinen Gruppe, die sich wiederum aus homogenen Figuren zusammensetzt. Aus dieser Gruppe stammt – unter Hinzufügung einiger Nebenfiguren, die starke Ähnlichkeit mit den Hauptfiguren aufweisen – das Personal sämtlicher Texte. Der Erzähler in Ellis’ erstem Text „Less Than Zero“ ist Clay. Aufgrund seines Studiums an einem Ostküsten-College (die Ostküste stellt im Text den intellektuellen Gegenpol zur oberflächlichen Westküste dar), erscheint Clay anders als seine ehemaligen Freunde, die er in seiner alten Heimat Los Angeles wiedertrifft. In Ellis’ zweitem Text, „The Rules of Attraction“, der an einem College an der Ostküste, also dort, wo Clay seine Erlösung von der in „Less Than Zero“ gezeigten Welt erhofft hat, spielt, existiert eine Nebenfigur mit dem Namen Clay. Durch dessen Verbindungen zu anderen teilweise schon aus „Less Than Zero“ bekannten Figuren, wird deutlich, dass die Figur Clay im ersten und zweiten Text identisch ist. Allerdings hat Clay an der Ostküste – entgegen der Hoffnung, die am Ende von „Less Than Zero“ steht – nicht seine Erfüllung gefunden; er wird als „geek from L.A“364, „blond dude from L.A.“365 und „dumb guy from L.A.“366 bezeichnet.367 Zudem werfen ihm seine Kommilitonen vor, dass er zu viel Zeit 363 Vergl. Flory: „Out is In“, S. 169. 364 Ellis, Bret Easton: The Rules of Attraction. New York 1987, S. 137 365 Ebd., S. 248. 366 Ebd., S. 9. 367 „[S]o Clay has little chance of maturation as a character. Ellis is dealing with forces which, both in life and in fiction, render Clay barely discernible as a character at all. This is made explicit in the succeding novel, The Rules of Attraction, in which Clay appears as a comical no-account person, a joke, incapable of any sort of personal growth and the concept of the ‚hero‘ striving towards maturity is finally, in his case, deconstructed and negated.“ Young: Vacant Possession, S. 24.



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im Schwimmbad, Fitness-Center und Solarium verbringe und stets kurze Hosen trage. Somit entspricht Clay – zumindest aus der Sicht der Studenten von der Ostküste – dem typischen Klischee des reichen Kaliforniers; er unterscheidet sich damit keineswegs mehr von seinen Freunden aus Los Angeles, die er, wie auch ihr Leben, in „Less Than Zero“ noch verachtet hat. Es zeigt sich, dass Ellis mittels der Figur Clay nicht nur „Less Than Zero“ und „The Rules of Attraction“ miteinander verbindet, sondern zusätzlich die dialektische Diskussion der Themen Sprache und Gewalt – und ihre jeweilige ‚Lösung‘ – in der Sicht des Textes auf eine Figur spiegelt. So wird Clays Ostküstenhabitus, der in „Less Than Zero“ betont wird, im folgenden Text vollständig dekonstruiert; Clays Kommilitonen – und der Text – sehen ihn so, wie er seine Freunde in „Less Than Zero“ gesehen hat. Die Figur Clay bleibt gleich;368 wie die ‚Lösungen‘ – Sprache als Kommunikation in „Less Than Zero“, Gewalt als Kommunikation in „American Psycho“ – ändert sich aber die Sicht des Textes und des Lesers auf die Figuren. Die Konstante der Linie der Figuren erfährt eine andere Deutung. Ellis verfährt mit den anderen Figuren ähnlich. Zum einen erzeugt er durch die Verwendung derselben Figur in verschiedenen Texten eine Linie, die sämtliche Texte miteinander verzahnt, zum anderen lässt er seine Figuren keine Entwicklung oder Veränderung erfahren, so dass sie in allen Texten – abgesehen von dem mit der jeweiligen Lebenssituation einhergehenden Alter – absolut gleich bleiben. Jedoch ändert sich, wie exemplarisch und ausführlich an Clay gezeigt, die Sicht des Textes auf die Figur. So kann eine Figur in einem späteren Text eine andere Deutung erfahren – am deutlichsten ist dies an Clay zu sehen. Sean Bateman, einer der Erzähler in „The Rules of Attraction“, ist der Bruder von Patrick Bateman, der Hauptfigur von „American Psycho“, in dem Sean Bateman ebenfalls in einer kurzen Szene auftritt. Auch Sean hat keine Veränderung in seinem Leben erfahren und führt sein Collegeleben, das durch Musik, Drogen und Sex geprägt ist, weiter fort. Sein Motto „Rock ’n’ Roll“369, das er in „American Psycho“ seinem Bruder gegenüber äußert, stammt ebenfalls noch aus seiner Collegezeit – also aus „The Rules of Attraction“. Victor Ward/Johnson ist ebenfalls ein Erzähler in „The Rules of Attraction“. Allerdings ist er die gesamte Erzählung über nicht im College, sondern in Europa, von wo aus er von seiner Reise berichtet. Er stellt somit eine singuläre Position dar. Jedoch erfährt der Leser viel über Victor Ward/Johnson in den 368 „He can only go deeper and deeper into surfaces and this he does, to shattering effect, in American Psycho.“ Ebd., S. 41. 369 Ellis: American Psycho, S. 229.

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Kapiteln der anderen Erzähler, insbesondere von Lauren, die, wie Bertrand, ein weiterer Erzähler in „The Rules of Attraction“, in „Glamorama“ nochmals eine Rolle bekleidet. Bertrand, der in „The Rules of Attraction“ in Lauren verliebt war, zeigt sich in „Glamorama“ Victor Ward/Johnson gegenüber unfreundlich. Offensichtlich hat er nicht vergessen, wie dieser die ihm nachtrauernde Lauren in „The Rules of Attraction“ behandelt hat. Sympathien und Antipathien bleiben in Ellis’ Texten, genau wie die Charaktere, konstant. Die wichtigste Figur bei Ellis ist jedoch der Erzähler in „American Psycho“, Patrick Bateman. Dieser ist in insgesamt drei Texten, „The Rules of Attraction“, „American Psycho“ und „Glamorama“, präsent. Patrick Bateman hatte als Bruder von Sean Bateman bereits einen kurzen Auftritt in „The Rules of Attraction“, wo er für ein Kapitel als Erzähler fungiert. Hierbei wurde sein Habitus als erfolgreicher Yuppie bereits angelegt. In „Glamorama“ wird Patrick Bateman wiederum erscheinen, ohne jedoch nach „American Psycho“ eine Entwicklung erfahren zu haben. Stärker als die anderen Figuren ist Patrick Bateman auch intertextuell verknüpft. So arbeitet er in einer Firma namens „Pierce and Pierce“. In einer Firma gleichen Namens war auch Sherman McCoy, der Protagonist in Tom Wolfes „The Bonfire of the Vanities“370 beschäftigt. Zudem kennt Patrick Bateman Personen aus anderen der sogenannten „brat-pack“-Texte371. Vanden Smith, eine Nebenfigur in „Less Than Zero“ und „The Rules of Attraction“, erlebt mit ihrem Freund Stash in „American Psycho“ ein gemeinsames Abendessen mit Patrick Bateman. Auch Vanden Smith und Stash haben keine Veränderung ihrer Charaktere erfahren. Stash könnte neben seiner Nebenrollen zudem der Stash aus Tama Janowitz’ „Slaves of New York“372 sein. Zudem scheint Patrick Bateman Alison Poole zu kennen, die die Hauptfigur in Jay McInerneys „Story of my Life“373 ist. Die deutlichen intertextuellen Bezüge – sowohl zu Ellis’ eigenen Texten als auch zu denen anderen Schriftsteller – zeigen Patrick Batemans Existenz und Status auf. „It seems as though Ellis is re-inforcing the fact that Patrick’s only ‚existence‘ is within fiction.“374 Die intertextuellen Zitate demonstrieren Patrick Batemans fiktionalen Charakter, der sich als textliches Zitat lesen lässt. Allerdings existiert er nicht nur lediglich in einer intertextuellen Fiktion, also in

370 Wolfe, Tom: The Bonfire of the Vanities. New York 2008. 371 Zum „brat-pack“ zählen außer Bret Easton Ellis insbesondere Jay McInerney, Tama Janowitz, Jill Eisenstadt und Mark Lindquist. 372 Janowitz, Tama: Slaves of New York. New York 1986. 373 McInerney, Jay: Story of my Life. New York 1988. 374 Young: The Beast in the Jungle, S. 108.



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einem Text und nicht in einer ‚realen‘ fiktionalen erzählten Welt, sondern ist zudem selber keine ‚reale‘ Person. „Patrick is a cipher, rather than a ‚character‘.“375 Zusätzlich zu den Linien – und der Kontinuität –, die das gleichbleibende Personeninventar erzeugt, lassen sich zwischen den einzelnen erzählten Figuren starke Gemeinsamkeiten ausmachen. Dies gilt sowohl für die wichtigsten Erzähler, Clay, Sean Bateman, Patrick Bateman und Victor Ward/Johnson, als auch in besonderem Maße für das sonstige Personeninventar der einzelnen Texte, das jeweils eine auffallend homogene Gruppe bildet. Auch Clay erkennt in „Less Than Zero“ die Ähnlichkeit seiner Bekannten. „There are mostly young boys in the house [...] and they all look the same: thin, tan bodies, short blond hair, blank look in the blue eyes, same empty toneless voices, and then I start to wonder if I look exactly like them.“376 Das herrschende Ideal der Gesellschaft manifestiert sich in der Beschreibung eines jungen Mannes: „[H]e’s really young and blond and tan and has blue eyes and incredibly straight white teeth“377. Die Betonung der „incredibly straight white teeth“ erinnert – insbesondere in ihrer Kombination mit der entindividualisierten Austauschbarkeit der identitätslosen Jugendlichen – an Baudrillards Feststellung „Aus Mangel an Identität haben die Amerikaner ein wunderbares Gebiß.“ Die Charakterisierung der Figuren erfolgt im Text lediglich über das äußere Erscheinungsbild, was sich in wenigen – immer gleichen – Merkmalen, wie „blond“, „tan“ und „young“ erschöpft. Wie im späteren „American Psycho“ erfährt der Leser nichts über das Innenleben der Figuren; die Identität beschränkt sich auf die äußerlichen Faktoren. Somit kreiert Ellis eine äußerst homogene und identitätslose Gruppe. Figuren, die den genannten Kriterien nicht entsprechen, erfahren die Exklusion aus dem Kreis und werden als die Anderen wahrgenommen.378 Die Ähnlichkeit, die bis zur Austauschbarkeit geht, wie sie in „American Psycho“ vorgeführt wird, resultiert nicht nur aus der visuell wahr-

375 Ebd., S. 103. 376 Ellis: Less Than Zero, S. 152. 377 Ebd., S. 16. 378 So weigert sich Clay bei einem „fat, sad-faced Japanese girl“ (Less Than Zero, S. 20) zu bestellen. Die Bedienung verfehlt aufgrund ihrer Nationalität und damit ihres Hauttons, aufgrund ihres Übergewichtes und ihres (offensichtlichen) Unwohlseins gleich mehrere Kriterien und wird von Clay ignoriert. Ähnliches gilt für die Mexikaner, die aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres sozialen Standes ebenfalls diskriminiert werden. „‚There are too many fucking Mexicans here, dude.‘ [...] ‚Let’s kill ’em all.‘ Trent [...] laughs and nods.“ Ellis: Less Than Zero, S. 184.

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nehmbaren äußeren Gleichheit379 – Körperform, Haare, Augen –, sondern auch aus den wenigen inneren Aspekten der Figuren, die äußerlich sichtbar werden – eine psychische Gleichheit, die sich in der „empty toneless voice“ und dem „blank look in the blue eyes“ äußert. Die fehlende innere Individualität und Identität spiegelt sich im Äußeren. Auch wenn Clay zu Beginn des Textes noch seine innere und äußere Differenz zu seinen Freunden betont hat, so sieht er sich nun in der homogenen Gruppe aufgehen.380 Der Gleichklang der Namen der Personen („Rip“, „Spit“, „Spin“, etc.) zeigt das Verwischen der Identität auch auf akustischer und semiotischer Ebene an. „While the names of the characters are essentially non-referential and the names of the cultural artifacts that litter the narrative are hyper-referential, they both serve as free-floating cultural signifiers.“381 In „American Psycho“ gleichen sich die Charaktere einander noch weiter an; sie sind optisch kaum noch zu unterscheiden und werden ständig mit anderen verwechselt.382 Die Namen zeichnen sich in „American Psycho“ nicht – wie in „Less Than Zero“ – durch ihre Homophonie aus, sondern durch den Verlust der Verbindung von der zu bezeichnenden Person und ihrem jeweiligen Namen. 379 Die sonnengebräunte Haut scheint ein wichtiges Schönheitsmerkmal im Freundeskreis von Clay zu sein. So wird er direkt nach seiner Ankunft in Los Angeles mehrmals auf seinen blassen Teint – „You look pale“ (S. 10) – angesprochen. Im Gegensatz zu seiner Ostküstenblässe, die seine Differenz offensichtlich macht, verfügen sämtliche anderen Figuren über den erforderlichen Hautton: „Blair’s USC friends, who are ‚all tan and blond‘ (14), Blair’s father’s boyfriend, who is ‚really young and blond and tan‘ (16), Clay’s father, who is ‚completely tan and has had a hair transplant’ (42) [and] Dimitri, who ‚is really tan and has short blond hair’“. Freese: From Apocalypse to Entropy and Beyond, S. 457. 380 „The only roles available to people are those of audience, consumer and star. Individual character, encouraged towards a sense of dramatic projective participation within the simulations [...] has also come to function as pure signifier without identity, without soul.“ Young: Vacant Possession, S. 30. 381 Pérez-Torres: Screenplay and Inscription, S. 101. 382 Als nur zwei der zahlreichen Beispiele für Verwechslungen aufgrund der Ähnlichkeiten des homogenen Bekanntenkreises sei folgendes zitiert: „‚Is it Victor Powell?’“ [...] The man passes [...] with a troubled look on his face that momentarily curls his lips into a slight smile and he glances at Price almost as if they were acquainted but just as quickly he realizes that he doesn’t know Price and just as quickly Price realizes it’s not Victor Powell [...]. ‚It looked a lot like him.‘“ (Ellis: American Psycho, S. 7 f.) „‚What the fuck is Morrison wearing?‘ Preston aks himself. ‚Is that really a glen-plaid suit with a checkered shirt?‘ ‚That’s not Morrison,‘ Price says. ‚Who is it then?‘ Preston asks [...]. ‚That’s Paul Owen,‘ Price says. ‚That’s not Paul Owen,‘ I say. ‚Paul Owen’s on the other side of the bar. Over there.‘“ (Ellis: American Psycho, S. 36.)



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Signifikant und Signifikat beziehen sich hier, wie in Kapitel 4.2 genauer gezeigt wird, nicht mehr aufeinander. „There are too many people, there are too many things and they have both become interchangeable.“383 Die Linie der zunehmenden Auflösung der Identität erreicht in „Glamorama“ ihren Endpunkt; der Begriff der Identität lässt sich – wie in Kapitel 5.3 untersucht wird – in der ‚Real-Fiktion‘ des Textes, dem der Unterschied zwischen Realität und Fiktion und zwischen Original und Kopie fremd ist, nicht mehr halten. Auf der Oberflächenebene der Texte lassen sich als weitere Kontinuitäten, die die Texte aneinander binden und eine wohlkomponierte Entwicklung erfahren lassen, zwei weitere Strukturprinzipien ausmachen. So stellt Ellis in seinen Texten verschiedene aufeinander folgende Lebenssituationen dar. „Less Than Zero“ spielt in der Welt der achtzehnjährigen Collegestudenten. In „American Psycho“ wird die Station, die mit dem Ende des Colleges folgt, thematisiert; Bateman und seine Freunde haben mit ca. 27 Jahren gut dotierte Anstellungen in Wirtschaftsunternehmen gefunden. „Glamorama“ knüpft hieran unmittelbar an und erzählt aus der Welt der 30 bis 40-jährigen Models und Stars. Zugleich lässt sich die kontinuierliche Ausdehnung des erzählten Raumes beobachten. Der Raum der Handlung in „Less Than Zero“ konzentriert sich auf einige Viertel von Los Angeles und stellt somit einen eng umgrenzten Ort dar. In „American Psycho“ wird die erzählte Welt deutlich vergrößert und besteht nun aus der gesamten Stadt New York City. „Glamorama“ öffnet den Raum wiederum noch weiter; die Handlung findet nun in Europa, den USA und auf dem Ozean statt.384

383 Young: Vacant Possession, S. 29. 384 Zum erzählten Raum vergl.: Nover, Immanuel: „Nicht-Orte“ – die Struktur des Raumes bei Bret Easton Ellis als Spiegelung der Kommunikation. In: Gelebte Milieus und virtuelle Räume. Der Raum in der Literatur- und Kulturwissenschaft. Hrsg. v. Klára Berzeviczy, Zsuzsa Bognár und Péter Lőkös. Berlin 2009, S. 243–257, hier S. 243 ff.

4. Hypertrophe Zeichen – Sprache und Kommunikation bei Bret Easton Ellis In diesem Kapitel soll die Rolle der Sprache und Kommunikation in den Texten untersucht werden. Es soll gezeigt werden, wie die Sprache – ausgehend von „Less Than Zero“, über „American Psycho“ hin zu „Glamorama“ – zunehmend ihre Möglichkeiten der Kommunikation, der intersubjektiven Bindung und der Erfassung und Benennung verliert. So scheint eine ethisch-moralische Erfassung und Bewertung von Welt und die Kommunikation dieser in „Less Than Zero“ noch, wenngleich schon in eingeschränktem Maße, möglich zu sein. In den späteren Texten bricht diese vollständig weg. Zugleich scheint sich die Benennung in der zunehmenden Überdeterminierung zu verlieren; Menschen können nicht mehr mit ihrem (richtigen) Namen angesprochen und benannt werden – ihre Namen verschwimmen im unendlichen Signifikantenmeer der Hyperrealität.

4.1 SPRACHE UND KOMMUNIKATION IN „LESS THAN ZERO“

„Less Than Zero“ beginnt mit einer sprachlichen Äußerung von Clays Freundin Blair, die der Erzähler gedanklich wiederholt/vorwegnimmt: „People are afraid to merge on freeways in Los Angeles“385. Obwohl die Äußerung zeitlich gesehen nicht die erste erzählte Handlung ist – die Handlung beginnt mit Clays Ankunft am Flughafen, wo Blair ihn abholt, wohingegen der Satz erst beim Auffahren auf den freeway fällt, also nach dem Abholen am Flughafen –, erfährt der Satz aufgrund seiner symbolischen Bedeutung die Setzung an die prägnante Stelle des Textanfanges. Im zweiten Satz des Textes wird die herausragende Bedeutung des Satzes durch Clays Kommentar, dass Blairs Satz „is the first thing I hear when I come back to the city“386, nochmals betont. Vier Zeilen später wird der Satz wortwörtlich zitiert; diesmal wird er mittels Anführungszeichen als wörtliche Rede markiert. Der Kommunikation und der (gesprochenen) Sprache – der parole im Sinne Saussures – scheinen im Text also besondere Bedeutung zuzukommen. Ellis legt jedoch mit dem leitmotivisch fungierenden ersten Satz nicht nur die Diskussion der Sprache und Kommunikation an, sondern stellt zudem die wichtigsten Themen des Textes vor. 385 Ellis: Less Than Zero, S. 9. 386 Ebd., S. 9.



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So lässt sich der Satz auf der ersten Ebene als Kommentar zu der während des Sprechaktes stattfindenden Aktion des Einfahrens auf den freeway verstehen; „merge“ wäre somit mit „auffahren“ oder „einfädeln“ zu übersetzen387 und bietet eine technische Information zum amerikanischen Autobahnsystem. Auf der zweiten Ebene bezieht sich der Satz – symbolisch gelesen – jedoch auf die Unfähigkeit der Menschen, eine Verbindung mit anderen Menschen einzugehen, und die damit einhergehenden psychischen und sozialen Probleme. „Merge“ wäre in dieser Lesart als „verbinden“ oder „vereinigen“ zu lesen. Die vom Erzähler auffallend oft wiederholte Verkürzung des zitierten Satzes zu „People are afraid to merge“ betont durch das Auslassen der situations- und ortsspezifischen Information „on freeways in Los Angeles“ die metaphorische Bedeutung des Satzes, die nun in der Verkürzung evident wird. Da Sprache – wie im Folgenden gezeigt werden soll – die Basis der intersubjektiven Kommunikation und Verbindung darstellt, verweist der erste Satz vorwegnehmend auf Ellis’ Kernthema: die unmöglich gewordene Kommunikation und die Bindungslosigkeit. Das dritte Kapitel, in dem Clay von Blair an seinem Elternhaus abgesetzt wird, beginnt mit dem Satz „Nobody’s home.“388, Clays Mutter und Schwester sind zusammen einkaufen gegangen, anstatt ihn nach seiner viermonatigen Abwesenheit Zuhause zu empfangen. „They are ‚afraid to merge‘“389. Auch mit seinem Freund Julian kann Clay nicht in Kontakt treten. „I pick up the phone [...] but there’s no answer.“390 „[N]o answer“ lässt sich neben der eigentlichen situativen Bedeutung – niemand nimmt den Telefonhörer ab – auch symbolisch lesen: Clay erhält tatsächlich nach seiner Ankunft von niemanden eine „Antwort“, seine Kommunikations- und Kontaktversuche verhallen ungehört und unbeantwortet – die Sprache vermag nicht mehr die intersubjektive Kommunikation zu leisten.391 Der zitierte Satz, insbesondere der 387 Die von Sabine Hedinger in der deutschen Übersetzung verwendete Form „Auf den freeways in Los Angeles werden die Leute auch immer rücksichtsloser.“ gibt den Inhalt sicherlich nicht richtig wieder. Abgesehen von der inhaltlichen Verfälschung erfasst die Übersetzung nicht die leitmotivische Funktion des ersten Satzes, obwohl er im Text noch häufig wiederholt wird. Die Übertragung des Inhaltes von dem Verhalten der Autofahrer auf den freeways auf das allgemeine Sozialverhalten – wie sie in „Less Than Zero“ im weiteren Verlauf des Textes geleistet wird – ist aufgrund der Übersetzung in der deutschen Textfassung nicht möglich. Zur Problematik der Übersetzung von „Less Than Zero“ vergl.: Steur: Der Schein und das Nichts, S. 218 ff. 388 Ellis: Less Than Zero, S. 10. 389 Freese: Entropy in the ‚MTV-Novel‘?, S. 73. 390 Ellis: Less Than Zero, S. 11. 391 Die Absenz der Eltern der Jugendlichen – zumeist wissen diese nicht einmal den Aufenthaltsort ihrer Eltern – ist im Text mehrmals festzustellen: „‚It’s Christmas. Do you know

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zweite Teil, „but there’s no answer“, lässt sich als Schlüsselsatz des Textes, der in komprimierter Form metaphorisch das Kernthema ausdrückt, verstehen. Das Kapitel endet folgerichtig mit der Erinnerung an den ersten Satz des Textes. „I can still hear people are afraid to merge and I try to get over the sentence, blank it out.“392 Da dies, wie Clay auch im weiteren Verlauf des Textes feststellen wird, nicht so einfach gelingt, greift er zur ‚Selbstsedierung‘ mittels MTV und Valium. „I turn on MTV and tell myself I could get over it and go to sleep if I had some Valium.“393 Auch Clay selbst erkennt die Vielfalt der Bedeutungen dieses nebensächlich erscheinenden ersten Satzes. So kommentiert er Blairs Äußerung: „Though that sentence shouldn’t bother me, it stays in my mind for an uncomfortably long time. Nothing else seems to matter.“394 An dem ersten Satz des Textes lässt sich zeigen, wie Sprache und Kommunikation in „Less Than Zero“ funktionieren. Blairs Äußerung, die eigentlich an eine konkrete situative und lokale Situation gebunden ist und einen praktischen und technischen Kommentar zum aktuellen Geschehen liefert, wird von Clay nicht solcherart rezipiert, sondern erfährt eine metaphorische Lesart, die eine Bedeutung generiert, die in Blairs Kommentar sicherlich nicht intendiert war. Zudem ‚bearbeitet‘ Clay das Gehörte kreativ und kürzt Blairs Aussage um den ortsspezifischen Bezug; hierdurch wird der Satz mehrdeutiger und zeigt sich offen für Clays metaphorische Lesart. Ellis stellt somit direkt zu Beginn des Textes sein Kommunikationsmodell und seine Vorstellungen von Sprache und Kommunikation dar. Ein einfaches Sender-Empfänger-Modell, in dem der Empfänger die gesendete Botschaft decodiert und so versteht, wie sie vom Sender ‚gemeint‘ war, kann das Beschriebene sicher nicht fassen. Vielmehr scheint es, dass Sprache und Kommunikation in einen mehrdeutigen, indifferenten und kreativen Prozess eingebunden sind; die Zeichen erfahren kreative Umdeutungen und Umwandlungen vom Empfänger und haben letztendlich mit dem ursprünglich gesendeten Sinn wenig gemein. Die Signifikate – oder die Referenz – sind nur noch lose mit den Signifikanten

where your parents are?‘ Griffin invites Clay to come to his house after a party because his parents are in Rome for Christmas (37). Daniel thinks his parents are in Japan, ‚Shopping,‘ or maybe in Aspen. ‚Does it make any difference?‘(55) he asks [...] Kim gives a New Year’s Eve Party in an unfurnished house while her mother is away in England with someone named Milo. ‚At least that’s what I read in Variety‘ (82) she explains.“ Sahlin: The Existential Dilemma, S. 28. 392 Ellis: Less Than Zero, S. 12. 393 Ebd., S. 12. 394 Ebd., S. 9.



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verknüpft und in ihrer Setzung vom Empfänger beeinflussbar; die Kommunikation gestaltet sich, wie im Text deutlich wird, somit äußerst schwierig. Die Bedeutung der ‚richtigen‘ Benennung wird in einer Szene deutlich, in der sich Clay an ein Treffen mit seinen Großeltern erinnert. Auch in diesem Kapitel wird mittels des einleitenden Satzes vorwegweisend die Rolle der Sprache und Benennnbarkeit betont. „I awoke to the sound of voices outside.“395 Die Stimmen, von denen Clay aufwacht, gehören zu seinen Großeltern und einem befreundeten Regisseur, der von dem Tod eines jungen Stuntmans berichtet. Clays Großvater fragt ihn nach dem Namen des Stuntmans, worauf die Stimmen und Geräusche abbrechen. There was a long silence and I could only feel the desert breeze and the sound of the jacuzzi heating and the pool draining [...] and I prayed that the director remembered the name. For some reason it seemed very important to me. I wanted very badly for the director to say the name.396

Doch die erwartungsvolle Stille, die nach der Frage entstanden ist, kann nicht mit Stimmen und Sinn gefüllt werden. Die Absenz der Erinnerung und des Sinnes spiegelt sich in der Absenz der Geräusche in der Natur. „The director opened his mouth and said, ‚I forgot‘.“397 Der tragische Unfallhergang, der zu dem Tod des Stuntmans geführt hat, scheint hier für Clay weniger wichtig als der Name und damit die Benennbar-, Fassbar- und Erinnerbarkeit an sich zu sein. Der Wunsch nach der Benennung des Toten mit seinem Namen – die Verbindung des Signifikates mit seinem Signifikanten – gewinnt hier eine Qualität, die auf Patrick Batemans Empfinden in „American Psycho“ vorwegweist. Zugleich erinnert die kurze Antwort „I forgot“ an Clays missglückten Versuch, seinen Freund Julian telefonisch zu erreichen, der mit dem Kommentar „no answer“398 endet. „I forgot“ und „no answer“ zeigen das Scheitern der Kommunikation und Sprache auf: Weder lässt sich ein Kontakt mit dem Anderen herstellen, noch lässt sich dieser erinnern. In der ersten Gewaltszene im Text, die in Form eines Videofilmes rein medial stattfindet, versagen Sprache und Kommunikation vollständig. Clay sieht mit seinen Freunden auf einer Party ein Snuff-Video, in dem ein sechzehnjähriger 395 Ebd., S. 145. 396 Ebd., S. 145. 397 Ebd., S. 145. 398 Ebd., S. 11.

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Junge und ein fünfzehnjähriges Mädchen von einem Mann vergewaltigt und misshandelt werden. Clay reagiert auf das Gesehene, indem er den Raum verlässt. Eine Intervention – sei es eine Ansprache an die Konsumenten oder sei es das Beenden der Wiedergabe – erfolgt nicht. Dies ist umso bezeichnender, als es sich bei dem Video um ein Snuff-Video handelt, also nicht um einen fiktionalen Film, sondern um medial dokumentierte Realität. Mit dem Video, dessen Authentizität auch von den Konsumenten diskutiert wird, etabliert Ellis das Moment des Verwischens der Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Für Clays Freunde ist es nicht ersichtlich, ob sie gerade reale Folterszenen betrachten oder ob es sich lediglich um die mediale Simulation von Gewalt handelt. Während der Wiedergabe erfolgt keinerlei sprachliche Äußerung, und mit dem Ende des Films wird lediglich dessen Authentizität diskutiert. Auch Clay schweigt und erfährt mit dem Verlassen des Raumes auf der Terrasse eine nahezu idyllische Vermischung der medialen Realität mit der Außenwelt: „I can hear the waves and the sea gulls crying out and I can hear the hum of the telephone wires and I can feel the sun shining down on me and I listen to the sound of the trees shuffling in the warm wind and the screams of a young girl coming from the television.“399 Am Ende der Szene steht also keine Benennung des Erlebten, keine Reflexion oder Intervention; wie in Clays Erinnerungen an den Tod des namenlosen Stuntmans erfolgt auch hier nur Schweigen – „no answer“. Clay hat die Hoffnung auf die sprachliche Fassbarkeit von Welt und die Möglichkeit einer Intervention mittels Sprache und Kommunikation jedoch noch nicht aufgegeben. So reagiert er wenig später, als die vormalige mediale Simulation der Gewalt real ausgeführt wird – Clays Freunde vergewaltigen ein zwölfjähriges Mädchen –, mit einer direkten Ansprache an einen Freund. Der sprechende Name des Freundes, Rip, verweist mit seinen beiden Beutungsfeldern – Rip erinnert an die Grabinschrift „Rest in Peace“, abgekürzt R.I.P., und ist zugleich als das englische Verb „to rip“ zu lesen – bereits auf die Sphäre der Gewalt und des Todes. „‚Why?‘ is all I ask Rip.“400 Clay fordert von seinem Freund Rip eine Begründung oder Erklärung für sein Verhalten ein; Rip antwortet jedoch lediglich mit einer seine Überraschung und Verwirrung offenbarenden Gegenfrage – die Frage nach den Gründen für die Handlungen oder nach deren ethisch-moralischem Fundament scheint offensichtlich unerwartet zu kommen. „What?“401 Clay fragt dennoch nach. „Why, Rip?“402 Clay versucht beharrlich, das Geschehen und den Grund für das Verhalten seiner Freunde zu verstehen 399 Ebd., S. 140. 400 Ebd., S. 189. 401 Ebd., S. 189. 402 Ebd., S. 189.



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und äußert eine ethisch-moralische Wertung. Bezeichnenderweise versagt seine Stimme beim ersten Versuch, seine Überzeugungen zu verbalisieren und zu kommunizieren. „It’s . . .‘ my voice trails off.“403 Die Wörter, respektive seine Gedanken, verlieren – die amerikanische Redewendung wörtlich verstanden – ihren Pfad, da das zu Sagende nicht nur in der Situation ungewohnt und aus Rips Sicht unpassend ist, sondern die Gedanken Clays den für ihn neuen Bereich des Ethisch-Moralischen betreten, der für ihn (noch) jenseits einer sprachlichen Fassbarkeit steht. Clay tastet sich – immer noch mit einiger Unsicherheit und Verzögerung – den Pfad weiter. „It’s . . . I don’t think it’s right.“404 Nach den drei Auslassungspunkten erfolgt nun Clays ethisches Urteil. Die ethisch-moralische Vorstellung eines ‚Richtig/Falsch‘ oder ‚Gut/Böse‘ wird hier erstmalig in den Text eingeführt. Sein Adressat Rip nimmt die ethisch-moralische Dichotomie jedoch nicht auf, sondern versteht „right“ völlig anders. „‚What’s right? If you want something, you have the right to take it. If you want to do something, you have the right to do it.‘“405 Rips Handlungsgrundlagen scheinen nicht ethisch fundiert zu sein, sondern sich auf einen egozentrischen Sozialdarwinismus zu beschränken, der als Pervertierung des American Dream gelesen werden kann und den grenzenlosen Konsum von Dingen und Menschen propagiert.406 Hier verschlingt der Kapitalismus – wie auch in „American Psycho“ – buchstäblich seine Kinder. „This, Ellis is saying, is the prevailing ethos, the bottom line. This is what people are like now; there is no alternative.“407 Clay versucht dennoch weiterhin, Rips Handeln zu verstehen und weist ihn darauf hin, dass er im materiellen Sinn alles hat und nichts zu nehmen braucht. „‚But you don’t need anything. You have everything‘“408. Rips Antwort, er habe eben nicht alles, denn „‚I don’t have anything to lose.‘“409, zeigt Rips Lebenssituation und mangelnde Verknüpfung mit seiner Umwelt auf. In seiner Erkenntnis, dass er nichts zu verlieren hat, offenbart sich, dass er keinerlei Bindungen an seine Mitmenschen und seine Umwelt hat; der kapitalistische Sozialdarwinismus macht es ihm unmöglich, Bindungen einzugehen. Rip gleitet bindungs- und referenzlos zwischen

403 Ebd., S. 189. 404 Ebd., S. 189. 405 Ebd., S. 189. 406 Rip zeigt sich hier als Vorläufer von Bateman in „American Psycho“. „[P]rinciples, distinctions, choices, morals, compromises, knowledge, unity, prayer – all of it was wrong, without any final purpose. All it came down to was: die or adapt.“ Ellis: American Psycho, S. 345. 407 Young: Vacant Possession, S. 40. 408 Ellis: Less Than Zero, S. 189. 409 Ebd., S. 190.

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seinen Mitmenschen umher – linguistisch betrachtet ließe er sich als signfikatlosen Signifikanten beschreiben, oder als „free-floating signifier[]“410. Die Kommunikation in „Less Than Zero“ gestaltet sich grundsätzlich schwierig; den meisten Gesprächen mangelt es an informativem Gehalt, oftmals kreisen die Gespräche um ein leeres Zentrum ohne Sinn zu kommunizieren. So lässt sich Clays erster Kontakt mit seiner Mutter, der auf etwas mehr als einer Buchseite wiedergegeben wird, auf zwei Fragen seiner Mutter – nach seinem Weihnachtswunsch und nach einer Party –, die beide nicht wirklich beantwortet werden („Nothing“411 und „It wasn’t very good“412), reduzieren. Ein Austausch von Informationen lässt sich nicht feststellen. Oftmals stockt die Konversation, was sich in dem wiederholten Gebrauch von Formeln wie „say/says nothing“, „don’t/doesn’t say anything“ oder „there’s a pause“ ausdrückt. The numerous dialogues between Clay and his friends never become real exchanges of ideas and opinions, but constitute instead frightening examples of the speechlessness of an almost autistic generation living in a world in which true meaning has long been buried under the relentless onslaught of never-ceasing but useless ‚information‘.413

Freese sieht die „Entropie der Information“ – des ‚waste‘ – als Spiegelung der in „Less Than Zero“ dargestellten Entropie der Natur. In dem Überfluss, das heißt, in der sinnlosen Hypertrophie der gesendeten Informationen und Botschaften, geht der Sinn verloren. Neben der interpersonalen Kommunikation etabliert Ellis eine weitere Form der Kommunikation, die in der auffallend intensiven Rezeption von scheinbar Unbedeutendem, wie etwa Reklametafeln oder Graffitis, besteht. I drive fast. I come to a red light, tempted to go through it, then stop once I see a billboard that I don’t remember seeing and I look up at it. All it says is ‚Disappear Here‘ and even though it’s probably an ad for some resort, it still freaks me out a little [...].414

Clays Reaktion auf die Werbung ist deutlich stärker als seine Reaktionen während der Misshandlung und Vergewaltigung des Mädchens. Die Aufforderung auf dem Schild scheint für ihn eine Bedeutung zu haben, die über die intendierte Botschaft – etwa: „Besuche das Ferienparadies“ – hinausgeht und in dem Zitat 410 Pérez-Torres: Screen Play and Inscription, S. 101. 411 Ellis: Less Than Zero, S. 18. 412 Ebd., S. 19. 413 Freese: From Apocalypse to Entropy and Beyond, S. 457. 414 Ellis: Less Than Zero, S. 38.



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durch Clays Blickrichtung, „I look up at it“ verdeutlicht wird. Das plötzliche Anhalten des Autos, der Blick nach oben und die emotionale Aufwallung Clays lassen die Reklametafel und ihre Aufschrift als Epiphanie erscheinen. Wie an „American Psycho“ im folgenden Kapitel ausführlich gezeigt wird, erweisen sich in Ellis’ Texten die Werbetafeln und Graffitis – also die eigentlich unbedeutenden und vandalistischen Einschreibungen der Postmoderne – als hochsignifikant: eine sinntragende Form der Kommunikation gegenüber der sinnentleerten interpersonellen Kommunikation. Neben der Sprache an sich gestaltet sich auch die Rolle der Empfänger oder Adressaten von Sprache schwierig; insbesondere die Figuren, die aufgrund ihrer personalen Beziehung zum Erzähler, also etwa sein Vater oder seine Mutter, oder aufgrund ihrer Profession, wie Clays Psychiater, der Kommunikation verpflichtet wären, verweigern die Aufnahme dieser völlig. So berichtet Clays Psychiater anstatt Clay zuzuhören, wozu ihn seine Funktion eigentlich verpflichtet, ausgiebig von seiner Idee zu einem Drehbuch. Er versucht Clay, dessen familiärer Hintergrund in der Filmindustrie ihm wohlbekannt ist, zu einer Zusammenarbeit – angeblich aus therapeutischen Gründen – zu bewegen. Clay erkennt die Pervertierung der Therapeuten-Klienten-Situation, in der der Reiz des Geldes und der Prominenz den Therapeuten dazu verführen, in seiner Praxis während der Therapie seinen persönlichen (monetären) Interessen nachzugehen, und weigert sich nun ebenfalls, in Kommunikation mit dem Psychiater zu treten. „I mumble something, blow some of the clove smoke towards him and look out of the window.“415 Die ‚Charakterisierung‘ des Psychiaters, die bei seinem ersten Auftritt im Text erfolgt – „[he] has a beard and drives a 450 SL and has a house in malibu“416 – sagt weniger über ihn und seine Qualifikation als über seinen finanziellen Erfolg und Status aus. Auch der Bart muss im Zusammenhang mit dem betont modischen und jugendlichen Auftreten und Kleidungsstil417 als ironisches Zitat des Freudschen Therapeutenbartes gelesen werden. Die Geschichte und Wissenschaft der Psychologie und Psychiatrie scheinen nur als ironische Simulation in dem Bart aufzuscheinen. Profunde Kenntnisse des Fachgebietes und eine professionelle Empathie fehlen völlig. So erzählt der Psychiater während einer Therapiesitzung Clay von „his mistress and the repairs being done on the house

415 Ellis: Less Than Zero, S. 109. 416 Ebd., S. 25. 417 „My psychiatrist’s wearing a red V-neck sweater with nothing on underneath and a pair of cut-off jeans.“ Ebd., S. 122.

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in Tahoe“418; eine andere Sitzung beendet er, indem er den um Hilfe schreienden Clay mit den Worten „Let’s talk about something else“419 und „Come on Clay [...]. Don’t be so . . . mundane.“420 zurückweist. Wie zu Beginn des Kapitels verweigern Clays Eltern und seine Schwestern ihm ebenfalls, mit ihnen in Kontakt zu treten; bei seiner Ankunft befindet sich niemand Zuhause. Doch auch später bleibt eine Kommunikation aus; bezeichnenderweise verfügt Clay als einziger über einen Namen; seine Mutter, seinen Vater und seine Schwestern nennt er lediglich mit dem ihre familiäre Funktion und Stellung bezeichnenden Begriff421. Eine individuelle Identität wird ihnen so verwehrt. In „Less Than Zero“ kann die Musik, die im Text stets präsent ist, sei es über den Konsum von MTV, sei es über die Erwähnung von Konzerten oder Musikgruppen, als eine weitere Form der Kommunikation, hauptsächlich zwischen dem Erzähler und dem Leser, gesehen werden. Die Musik – sowohl die Gruppen als auch die einzelnen Musiktitel, die genannt werden – ist hoch signifikant und eröffnet eine weitere Bedeutungsebene. Diese ist jedoch nur mit dem entsprechenden popkulturellen Wissen zu entschlüsseln; Ellis setzt eine profunde Kenntnis der zeitgenössischen Popmusik voraus und könnte somit als impliziten Leser einen Angehörigen seiner Generation und seines Kulturkreises vor Augen gehabt haben. Steur weist in seiner Untersuchung422 die mit der jeweiligen Situation verknüpfte Bedeutung der Stücke ausführlich nach. So nimmt der Titel „Less Than Zero“ den Namen eines Stückes von Elvis Costello423 auf, das „dezidiert Stellung gegen Rassismus und Faschismus“424 bezieht und damit eine Bedeutung transportiert, die mit den üblichen rassistischen und homophoben Äußerungen der Figuren nicht in Einklang steht. Ellis zeigt also bereits mit der Wahl seines Titels auf – sofern dem Leser die Verbindung zu Costello gelingt –, dass eine einfache Übertragung vom Erzähler auf den Autor und eine simple Lektüre, die die (ethisch-moralischen) Leerstellen nicht gedanklich füllt, son-

418 Ebd., S. 25. 419 Ebd., S. 123. 420 Ebd., S. 123. 421 Grundsätzlich wird in dem Text im familiären Rahmen – im Gegensatz zu Clays Freunden, die alle, selbst die Figuren, die nur kurz im Text erscheinen, eingeschlossen, Namen tragen – nur von den genealogischen Zuordnungen „Grandfather“, „Grandmother“, „father“, „mother“, „sisters“ „son“ etc. gesprochen. 422 Steur: Der Schein und das Nichts, S. 143 ff. 423 Costello, Elvis: Less Than Zero. Auf: Ders.: My Aim Is True. CD. Stiff Records/Columbia Records 1977. 424 Steur: Der Schein und das Nichts, S. 150.



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dern dem Verfasser als amoralische Schreibweise zum Vorwurf macht, nicht die angemessene und intendierte Lesart darstellt.

4.2 SPRACHE UND KOMMUNIKATION IN „AMERICAN PSYCHO“

Der erste Satz des Textes „ABANDON ALL HOPE YE WHO ENTER HERE“425 lässt sich – insbesondere in Verbindung mit dem letzten Satz von „American Psycho“ „THIS IS NOT AN EXIT“426 – auf unterschiedlichen Ebenen lesen. Zuerst ließe er sich als Beschreibung der Welt, in der Bateman lebt, verstehen. Der Satz verweist auf die Hoffnungslosigkeit der Gesellschaft, aus der es scheinbar keinen Ausweg gibt. Zudem schließt der Satz nicht nur den Erzähler, sondern auch den Leser ein; er spricht ihn direkt an und warnt ihn – „ABANDON ALL HOPE“. Doch der Text warnt nicht nur vor dem Bild, das er zeichnen wird. Vielmehr warnt der Text den Leser vor dem Eintreten in den Text. „WHO ENTER HERE“; „HERE“ ließe sich also als der Text an sich, nicht als die Erzählung verstehen. Die Warnung lässt sich somit auf drei Ebenen decodieren: Zuerst wird Bateman, der den Satz liest und als Ich-Erzähler dem Leser mitteilt, vor seiner Umwelt und dem kommenden Geschehen gewarnt. Dann wird der Leser vor dem, was Bateman ihm berichten wird, gewarnt. Und schließlich wird der Leser vor seinem zwangsläufigen Eintritt in den Text gewarnt – „ENTER“ würde, wie im ersten Fall, wortwörtlich verstanden; der Leser liest den Text nicht nur, sondern wird Teil desselben. Der Leser kann, wie der Erzähler, aus dem Text nicht heraustreten; er sieht sich in dem Narrativ gefangen. This is an act of great aggression and confidence on the part of the author revealing a controlling ego which asserts its right over both characters and readers. [...] the reader does not ever get out in the sense that it is thereafter impossible to apprehend the eighties without some reference to their memories of the book.427

Doch ist der Leser nicht nur in dem Sinne Youngs gefangen; er ist Teil des Textes, seine außertextliche Reaktion auf den Text füllt die vom Text gesetzte Leerstelle. Verweigert der Text etwa sämtliche Kommentierungen und Bewertungen von Handlungen – die Erzählung bricht nach Batemans grausamen Taten abrupt ab, um im nächsten Kapitel längere Referate über bekannte Pop-Künstler zu 425 Ellis: American Psycho, S. 3. 426 Ebd., S. 399. 427 Young: The Beast in the Jungle, S. 93.

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halten –, so muss die Reaktion des Rezipienten die Leerstelle füllen. Sie wird elementarer Teil des Textes. Der Text spricht somit direkt zum Leser und integriert ihn in sich. Des Weiteren zeichnet sich der Satz durch seinen Ursprung aus; Ellis wählt als Einstieg in den Text ein intertextuelles Zitat aus Dante Alighieris „Divina Commedia“. Ellis macht somit bereits im ersten Satz deutlich, dass es sich bei der zu erzählenden ‚Geschichte‘ um Text handelt; der Text offenbart sich im Zitat – der Text spricht über andere Texte428 – als Text. Die ‚fiktionale Realität‘ der Erzählung demonstriert ihren artifiziellen Charakter. Zudem erfährt der zitierte Satz429, der in großen roten Lettern als Graffiti auf die Wand der Chemical Bank geschrieben steht, einen neuen Kontext, indem er aus dem High-Culture-Feld in das Low-Culture-Feld überführt wird – womit Ellis bestimmten Überlegungen zur Postmoderne, etwa von Leslie Fiedler, zu entsprechen scheint.430 Das Graffiti auf der Wand, der Satz aus Dantes „Die Göttliche Komödie“, ließ sich, wie gezeigt wurde, auf vielfältige Weise lesen. Seine Bedeutungen verweisen auf Thematik und Inhalt des Textes, sprechen über das Textverständnis von Ellis und nehmen die Erzählung vorweg. Das Graffiti erweist sich also – im Gegensatz zur Sprache und Kommunikation, wie im Folgenden gezeigt werden wird – als bedeutungstragend. Hiermit unterscheidet sich der Schriftzug von den gängigen, nicht decodierbaren Graffiti, wie sie Baudrillard beschreibt.431 Er 428 „Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes.“ Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hrsg. v. Dorothee Kimmich, Rolf Günther Renner und Bernd Stiegler. Stuttgart 2008, S. 334–348, hier S. 334. 429 Nicht nur die zitierte Stelle aus Dantes „Die Göttliche Komödie“ ist eng mit „American Psycho“ verbunden, auch die Bedeutung der folgenden Zeilen Dantes lässt sich bei Ellis wiederfinden. „‚Ihr, die ihr eingeht, laßt die Hoffnung schwinden!‘ / So stand geschrieben über einer Pforte / In dunkler Schrift ‚O Meister!‘ sprach ich drob, / Zu hart ist mir die Deutung dieser Worte.“ Alighieri, Dante: Die Göttliche Komödie. Deutsche Übersetzung v. Hermann Gmelin. Stuttgart 1980. 430 Ellis scheint die Forderung von Leslie Fiedler, der eine Einteilung der Kunst in High Culture und Low Culture ablehnte, mit der Aufnahme des Zitates zu erfüllen. Vergl.: Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben! 431 „Denn SUPERBEE SPIX COLA 139 KOOL GUY CRAZY CROSS 136 – das bedeutet nichts, ist nicht einmal Eigenname, sondern symbolische Matrikel, gemacht, um das gewöhnliche Benennungssystem aus der Fassung zu bringen. Diese Terme haben keinerlei Originalität: sie stammen alle aus dem Comic-Strip, wo sie eingeschlossen waren in Fiktion, doch brechen sie explosiv aus ihr hervor, um in die Realität projiziert zu werden wie



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zeichnet sich eben nicht durch ‚leere Signifikanten‘ aus, sondern, ganz im Gegenteil, durch hochgradig sinntragende Signifikanten. Im Gegensatz zu den im Text allgegenwärtigen Schriftzügen der Markennamen – und im Gegensatz zu den sprachlichen Äußerungen der Figuren im Text – kommuniziert das Graffiti eine sinnvolle Botschaft. Sinn scheint sich nur noch im vandalistischen Gewaltakt des illegalen Beschreibens von Wänden zu offenbaren. Hierdurch wird Bedeutung und Sinn nicht nur aus seiner vermuteten Sphäre – etwa des Gespräches – in die Sphäre der sinnlosen, vandalistischen „leeren Signifikanten“432 gesetzt, sondern erfährt zudem eine (zweifache) Verbindung zur Gewalt. Diese entsteht sowohl durch den illegalen Vandalismus – also durch Gewalt gegen die Unversehrtheit des Eigentums – als auch durch die Gewalt gegen die Ästhetik des unbeschädigten Stadtbildes. Schreiben ist nur noch mittels Gewalt möglich; nur der illegale Gewaltakt des Erstellens eines Graffitis vermag noch Sinn zu kommunizieren. Obschon die Botschaft der Schrift sich durch den Verlust des Autors auszeichnet – es ist für den Empfänger nicht festzustellen, wer spricht, respektive schreibt – ist sie sinntragend. Nachdem der Erzähler das Graffiti gelesen hat, wird sein Blick auf die Schrift plötzlich von einem Bus versperrt, der an der Seite eine Werbung für das Musical „Les Misérables“433 trägt. Die sinnhafte Botschaft wird von der Werbung für ein Armut und Elend ästhetisierendes Spektakel verdeckt. Die ‚Kommunikation‘ Batemans mit dem Graffiti, das Lesen der Botschaft, wird von der Sinnlosigkeit des Kapitalismus unterbunden.434 Die Welt des Kapitalismus und des Geldes wird mit dem sprechenden Nachnamen von Timothy Price, der sich mit Baein Schrei, als Einwurf, als Anti-Diskurs, als Absage an jede syntaktische, poetische und politische Elaboriertheit, als kleinstes, radikales, durch keinerlei organisierten Diskurs einehmbares Element. Irreduzibel aufgrund ihrer Armut selbst, widerstehen sie jeder Interpretation, jeder Konnotation, und sie denotieren nichts und niemanden: weder Denotation noch Konnotation, derart entgehen sie dem Prinzip der Bezeichnung und brechen als leere Signifikanten ein in die Sphäre der erfüllten Zeichen der Stadt, die sie durch ihre bloße Präsenz auflösen.“ Baudrillard, Jean: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Berlin 1978, S. 26. 432 Ebd., S. 26. 433 Auch hier schafft Ellis mit dem Verweis auf das Musical – und natürlich indirekt auf Victor Hugo – wieder die Verbindung von High und Low Culture. Zudem stellt Ellis mit dem bei Batemans Freunden außerordentlich beliebten Musical eine ironische Kritik des Kapitalismus dar. Batemans Freunde se­hen gerne die mediale und ästhetisierte Darstellung von Armut und Elend aus der Vergangenheit, ignorieren jedoch die Armut ihrer unmittelbaren Umgebung. 434 Vergl.: „Mehr als die Mauern, die sie tragen, ist die Werbung selbst eine Mauer, eine Mauer aus funktionalen Zeichen, deren Wirkung in der Decodierung sich erschöpft.“ Baudrillard: Kool Killer, S. 28.

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teman im Taxi befindet, in den Text eingeführt. Price hält einen Monolog über seine Fähigkeiten. „I’m resourceful, [...] I’m creative, I’m young, unscrupulous, highly motivated, highly skilled. [...] I’m an asset.“435 Doch der Blick von Bateman und Price wird erneut unterbrochen – und damit endet auch der überhebliche Monolog von Price. Ihr Blick fällt nun nicht mehr auf das Werbeplakat, sondern wiederum auf ein Graffiti. „Price calms down, continues to stare out the cab’s dirty window, probably at the word FEAR sprayed in red graffiti on the side of a McDonald’s.“436,437 Nicht nur über das Medium des Graffitis, sondern auch über die Farbe der Schrift verbindet Ellis die Schriftzüge von „ABANDON ALL HOPE YE WHO ENTER HERE“ und „FEAR“. Nachdem Price das Graffiti „FEAR“ gelesen hat, ändern sich Thematik und Ton seines Monologes – „FEAR“ schleicht sich in seine Gedanken. „I mean the fact remains that no one gives a shit about their work, everybody hates their job, I hate my job [...]. What do I do? Go back to Los Angeles? Not an alternative.“438 Doch auch dieses Graffiti wird wieder durch die Bewegung eines Busses439, der eine Werbung für „Les Misérables“ trägt, verdeckt. Im Unterschied zu der Plakatwerbung auf dem ersten Bus ist diesmal die Werbung nicht unberührt; diesmal trägt auch sie ein Graffiti. „[N]ot the same bus because someone has written the word DYKE over Eponine’s face.“440 Die vandalistischen Graffiti haben nun auch die vormals 435 Ellis: American Psycho, S. 3. 436 Der Ort, an dem das Graffiti angebracht wurde, ist, wie das Werbeplakat, als recht eindeutige Kapitalismuskritik zu lesen. Young merkt an, dass Ellis seine Kritik zu Beginn des Textes vielleicht etwas zu einfach gestaltet. „At this stage in the novel some of Ellis’s literary devices are a bit brash, a bit crude. He is painting in broad strokes.“ Young: The Beast in the Jungle, S. 95. 437 Ellis: American Psycho, S. 3. 438 Ebd., S. 3. 439 In den ersten Zeilen des Textes demonstriert Ellis eine Erzählweise, die sich stark am Film orientiert. So zeigt sich das Geschehen durch Blicke, die durch sich bewegende Fahrzeuge gelenkt werden, motiviert. Der erste Blick auf das Graffiti wird durch einen Bus unterbrochen, der wiederum das auf seiner Seite angebrachte Filmplakat in das Bewusstsein des Erzählers – und damit in den Text – einbringt. Mit der zweiten Bewegung – der Bus fährt weiter – wird ein neuer Blick eröffnet; der Erzähler liest das Graffiti „FEAR“. Dieser Blick wird kurz darauf wiederum von einem zweiten Bus unterbunden, der sich zwischen das Auge des Erzählers und das Graffiti schiebt. Die Blicke des Erzählers – und damit der erzählte Blick und Text – zeigen sich durch die äußeren Umstände der Bewegungen des Verkehrs und damit durch Zufälligkeiten motiviert. Der Erzähler sucht keinen Sinn, sondern gibt sich den Zufällen des Blickes hin; das Erzählen fixiert diese in Text. Ellis betont die filmische Technik der Erzählung, die im gesamten Text zu finden ist, audrücklich: „Like in a movie another bus appears, another poster [...] replaces the word.“ (S. 3 f.) 440 Ellis: American Psycho, S. 4.



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unversehrte Werbung ‚infiziert‘ und überschrieben. „Mit den Graffiti bricht in einer Art von Aufstand der Zeichen das linguistische Ghetto in die Stadt ein.“441 Baudrillards Zeilen – wiederum gegen den Sinn gelesen442 – beschreiben das Einbrechen der bei Ellis sinntragenden Graffiti. In den Anfangszeilen des Textes etabliert Ellis mit dem Graffiti, das in das Leben des Erzählers – und in den Text – plötzlich einbricht, das Moment des ‚Fremden‘ oder Anderen, das auch in „Less Than Zero“, etwa mit der Aufschrift „Disappear Here“ auf einer Reklametafel, zu beobachten ist. Dieses ‚Fremde/ Andere‘ steht im Gegensatz zu den konventionellen Kommunikationsformen, wie dem Gespräch, das sich bei Ellis als sinnentleert offenbart.443 Ellis kehrt die gängigen Zuordnungen – das Graffiti ist sinnlos, die Kommunikation sinnvoll – um und etabliert das ‚Fremde/Andere‘ als alleinigen Bedeutungsträger. Noch im ersten Kapitel – „April Fools“ – zeigt Ellis mit einem kurzen Monolog Batemans zur politischen Lage der USA, wie sich die Sprache, respektive der Sinn des Gesagten, im Sprechen, in den artikulierten Signifikanten, auflöst. Well, we have to end apartheid for one. And slow down the nuclear arms race, stop terrorism and world hunger. Ensure a strong national defense, prevent the spread of communism in Central America, work for a Middle East peace settlement, prevent U.S. Military involvement overseas. We have to ensure that America is a respected world power. [...] We have to [...] promote civil rights while also promoting equal rights for women but change the abortion laws to protect the right to life. [...] Most importantly we have to promote general social concern and less materialism in young people.444

441 Baudrillard: Kool Killer, S. 28. 442 Wie bereits gezeigt, versteht Baudrillard die Graffiti grundsätzlich als sinnlos; der NichtSinn der Graffiti schreibt sich in die sinntragende Stadt ein. Bei Ellis ist der Sinngehalt von Graffiti und Stadt/Kommunikation/Werbung anders besetzt; die Graffiti tragen Sinn. 443 Ironisch zugespitzt zeigt sich die Weigerung seiner Umwelt, mit ihm die Kommunikation aufzunehmen, an Batemans vergeblichem Versuch, einen Tisch im Restaurant Dorsia zu reservieren. „‚Dorsia,‘ someone answers [...] ‚Please hold.‘ [...] [I]t takes every ounce of courage I can muster to stay on the line and not hang up. I’m on for five minutes, my palm sweaty, sore from clenching the cordless phone so tightly [...]. The voice comes back on the line and says gruffly, ‚Dorsia‘. I clear my throat. ‚Um, yes, I know it’s a little late but is it possible to reserve a table for two [...]?‘ [...] There is a pause – [...] but then he starts giggling, low at first but it builds to a high-pitched crescendo of laughter which is abruptly cut off when he slams down the receiver.“ Ellis: American Psycho, S. 75. 444 Ebd., S. 15 f.

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Batemans Ausführungen zur amerikanischen Innen- und Außenpolitik scheinen auf den ersten Blick auf einer liberalen sozial-engagierten Haltung zu beruhen, die weder die Tischrunde – abgesehen von Courtney, „Courtney’s smiling and seems pleased“445 – noch der Leser so erwartet hätten. Eine genaue Lektüre der Textstelle zeigt jedoch, dass Batemans Forderungen nicht miteinander zu vereinen sind. Die Forderungen „slow down the nuclear arms race [...] stop terrorism [...]. Ensure a strong national defense [...]. ensure that America is a respected world power“ und „prevent U.S. military involvement overseas“ oder „promoting equal rights for women but change the abortion laws to protect the right to life“ lassen sich kaum in Einklang bringen und bezeichnen konträre Positionen. Bateman fordert somit sowohl die Erfüllung einer Position als auch die Erfüllung der Konträrposition. Das nukleare Wettrüsten zu beenden und gleichzeitig eine starke nationale Verteidigung sicherzustellen, lässt sich, zumindest in der Gedankenwelt der Konservativen in den 1980er Jahren in den USA, schwerlich miteinander vereinbaren. Wenn für Bateman gegenteilige Positionen gleich richtig und wichtig sind, bedeutet dies letztlich, dass die Forderungen sich gegenseitig aufheben und sich am Ende der scheinbar aussagekräftige politische Monolog – Courtney scheint ihn tatsächlich als solchen zu verstehen und zeigt sich somit von den Formen der (post-)politischen Diskussion in den Massenmedien geprägt446 – in leere Signifikanten auflöst; eine Bedeutung oder eine Repräsentanz kann den Ausführungen Batemans nicht zugesprochen werden. Die leere und beliebige Kette der Signifikanten steht losgelöst von den Signifikaten. Ähnliches lässt sich an folgenden Zeilen zeigen: ‚What the fuck is Morrison wearing?‘ Preston asks himself. ‚Is that really a glen-plaid suit with a checkered shirt?‘ ‚That’s not Morrison,‘ Price says. ‚Who is it then?‘ Preston asks [...]. ‚That’s Paul Owen,‘ Price says. ‚That’s not Paul Owen,‘I say. ‚Paul Owen’s on the other side of the bar. Over there.‘447

445 Ebd., S. 16. 446 „It [Patrick’s monolog] is delivered in a media monotone and denotes an abyss between Patrick’s daily life and any apprehension of the political realities behind it. This dissociation between life as it is lived on the city streets, between this and the media avalanche that snows us, soothes us, providing a seamless, self contained, meaningless background commentary, this dissociation is the reality – for Patrick and everyone else.“ Young: The Beast in the Jungle, S. 98. 447 Ellis: American Psycho, S. 36.



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Die ursprüngliche Frage – und damit der Sinn der Kommunikation –, ob Owen/ Morrison nun einen Glencheck-Anzug in Kombination mit einem karierten Hemd trägt, verschwindet im Flottieren der Namen. Die Referenz geht im Gleiten der Verschiebungen der Signifikanten verloren. Zudem wird das Verschwimmen der Identitäten und Namen kommentarlos hingenommen; niemand korrigiert die falschen Namen, die losgelöst von der zu bezeichnenden Person stehen und damit ihre Funktion als Unterscheidungsmerkmal und Instrument der Benennung und Fassbarkeit verloren haben. Die Namen fungieren in „einem geschichtslosen, erklärungs-, beschreibungs- und deutungsfreien System“.448 Der Verlust des Namens geht mit dem Verlust der Identität einher. „I simply am not there.“449 „There is an idea of a Patrick Bateman, some kind of abstraction, but there is no real me, only an entity.“450 Der Entität mangelt es an „real me“, so wie es dem Signifikanten und den Namen an Referenz mangelt. An „Less Than Zero“ wurde gezeigt, wie Clay – in der Tradition der Moderne – versucht, mittels Sprache die Benennbarkeit von Welt wiederherzustellen. Obschon, wie an Batemans Monolog demonstriert wurde, die Sprache sich in „American Psycho“ bereits deutlich weiter als in „Less Than Zero“ aufgelöst hat, versucht Bateman dennoch, zumindest zu Beginn des Textes, die Kommunizierbarkeit von Welt – und damit die Verbindung der Signifikanten mit ihren Signifikaten – wieder zu ermöglichen. ‚Okay. Would you like to hear the specials?‘ he [the waiter, I.N.] asks. [...] ‚For appetizers I have the sun-dried tomatoes and golden caviar with poblano chillies and I also have a fresh endive soup –‘ ‚Wait a minute, wait a minute,‘ I say, holding up a hand, stopping him. ‚Hold on a minute.‘ ‚Yes sir?‘ the waiter asks, confused. ‚You have? You mean the restaurant has,‘ I correct him. ‚You don’t have any sun-dried tomatoes. The restaurant does. You don’t have the poblano chillies. The restaurant does. Just, you know, clarify.‘451

Bateman korrigiert die ‚Ungenauigkeit‘ des Kellners – dieser benutzt die 1. Person („I have“) anstatt der 3. Person Singular („the restaurant has“) – nachdrücklich, obwohl sie dem Verständnis des Satzes nicht entgegensteht. Es scheint Bateman also weniger um das Beheben eines Kommunikationsproblems als um die 448 Winkels: Leselust und Bildermacht, S. 225. 449 Ellis: American Psycho, S. 377. 450 Ebd., S. 376. 451 Ebd., S. 235.

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‚richtige‘ Benennung an sich zu gehen. Das Gleiten der Signifikate soll gestoppt werden, indem das jeweilige Signifikat mit einem – dem ‚richtigen‘ – Signifikanten verbunden werden soll. Die vom Kellner benutzte Synekdoche wird von Bateman als eine falsche – oder verschobene – Verknüpfung von Signifikat und Signifikant angesehen und folglich als eine der Benennbarkeit von Welt entgegenstehende Trope gelesen. Eine ähnlich motivierte Korrektur von ‚falschen‘ Benennungen lässt sich in der folgenden Szene beobachten: ‚Listen, I’ve seen the bastard sitting in his office on the phone with CEOs, spinning a fucking menorah. [...]‘, Preston says suddenly [...]. ‚You spin a dreidel, Preston‘, I [Bateman] say calmly [...]. ‚Oh my god, Bateman, do you want me to go over to the bar and ask Freddy to fry you up some fucking potato pancakes?‘ Preston asks, truly alarmed. ‚Some ... latkes?‘ ‚No‘, I say. ‚Just cool it with the anti-Semitic remarks.‘ ‚The voice of reason.‘ Price leans forward to pat me on the back. ‚The boy next door.‘452

Auch hier korrigiert Bateman die Benennungen seiner Freunde und erteilt zudem den antisemitischen Kommentaren Prestons eine Absage. Die ironischen Einwürfe von Price, „The voice of reason“ und „The boy next door“, beschreiben auf der Oberflächenebene die Diskrepanz zwischen Batemans augenblicklichem (moralischem) Verhalten und seinen Gewaltexzessen, zeigen zugleich jedoch auf, dass Bateman nicht als psychotischer Serienmörder zu verstehen ist. Bateman ist tatsächlich „the boy next door“; seine Gewalttaten sind, wie im folgenden Kapitel der Arbeit gezeigt wird, als Versuch der Kommunikation zu lesen.453 Am Ende der zitierten Szene – Bateman antwortet auf Price „Yeah, a boy next door who according to you let a British corporate finance analyst intern sodomize him up the ass“454 – geht Batemans sprachliche und moralische Intervention in einem anzüglich-witzigen Kommentar unter. Offensichtlich lässt sich – wie Clay bereits in Less Than Zero erfahren musste – ethisch-moralisches Handeln nicht mehr mittels Sprache konstituieren und kommunizieren; das Gegenüber ist als Adressat eines ethischen Diskurses nicht mehr ansprechbar. 452 Ebd., S. 37. 453 Hiermit unterscheidet sich Bateman signifikant von einem Großteil der in der amerikanischen Litera­tur oder im Film dargestellten serial killers, die zumeist aufgrund ihrer pathologischen psychischen Disposition ihre Gewalttaten verüben. Auch die von Bateman zitierten Massen- und Serienmörder, wie etwa Ed Gein, Ted Bundy, Son of Sam und Charles Manson, scheinen diesem Typus zuzuordnen zu sein. 454 Ellis: American Psycho, S. 37.



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Die Sprache löst sich nun zusehends auf. Die Referenzen verschwimmen und machen eine Benennung unmöglich; eine Aussage über ein Ereignis kann nicht mehr getroffen werden. I’ve forgotten who I had lunch with earlier and, even more important, where. Was it Robert Ailes at Beats? Or was it Todd Hendricks at Ursula’s, the new Philip Duncan Holmes bistro in Tribeca? Or was it Ricky Worrall and we were at December’s? Or would it have been Kevin Weber at Contra in NoHo? Did I order a partridge sandwich on brioche with green tomatoes, or a big plate of endive with clam sauce?455

Die im Zitat genannten Namen, sowohl die der Personen als auch die der Restaurants, verfügen über keine Referenz; sie sind nicht nur austauschbar und beliebig, sondern werden nur an dieser einen Stelle im Text gebraucht. Keines der Restaurants, keine der Personen wird nochmals im Text genannt werden – sie sind lediglich (leere) Simulationen von Namen. Die scheinbar dem Realismus oder Naturalismus verpflichtete Darstellung der Vergangenheit bewirkt in ihrer Hypertrophie den Zerfall jeglichen Sinnes.456 Die Vergangenheit ist nicht mehr erinnerbar; eine Identität oder eine individuelle Geschichte lässt sich nicht mehr fassen, Bateman befindet sich in einer immerwährenden Schleife der Gegenwart. Die Reflexion der eigenen Taten und damit die Entwicklung eines normativen ethischen Systemes ist Bateman versagt – eine Entwicklung ausgeschlossen. „Justice is dead. [...] Reflection is useless, the world is senseless. Evil is its only permanence. God is not alive. [...] Surface, surface, surface [...].“457 Im Kapitel „Another Night“ versucht Bateman – von Ellis in einer ausführlichen Schilderung über 17 Seiten dargestellt – einen Tisch in einem Restaurant zu bestellen. Aufgrund der Überfülle des Angebotes an Möglichkeiten, die sich in der Fülle der Namen der Restaurants manifestieren, kann letztlich keine Wahl getroffen werden. Die Überdeterminierung der Namen erzeugt am Ende Leere.458

455 Ebd., S. 148 f. 456 Sie entsprechen somit Baudrillards viertem Stadium der Werte. „Im vierten Stadium, dem fraktalen oder vielmehr viralen oder noch besser bestrahlten Stadium des Wertes gibt es überhaupt keinen Bezugspunkt mehr, der Wert strahlt in alle Richtungen, in alle Lücken, ohne irgendeine Bezugnahme auf irgend etwas, aus reiner Kontiguität.“ Baudrillard, Jean: Transparenz des Bösen, S. 11. 457 Ellis: American Psycho, S. 375. 458 „Der wesentliche Schritt zu einer Wissenschaft von der Schrift oder Grammatologie, den er [Derrida] unternimmt, liegt darin, daß er Schrift nicht mehr als Zeichen auffaßt, das für eine Sache steht, diese repräsentiert, sondern als Spur, die auf etwas verweist, das

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Die Reihung von leeren, referenzlosen Signifikanten zeigt strukturell Gemeinsamkeiten zur Literatur des Realismus und Naturalismus; die Auswirkung der hypertrophen Benennungen ist jedoch bei Ellis – im Gegensatz zum Realismus und Naturalismus459 – nicht die erhöhte Fassbarkeit des beschriebenen Objektes. Bateman versucht, eine genaue Benennung zu erreichen, bewirkt jedoch durch die Überdeterminierung und Hypertrophie der Namen nur das Verschwinden der Referenz, des Sinnes.460 Im Versuch, sich dem Sinn mittels einer immer feineren Beschreibung weiter anzunähern, verliert er diesen. Im Bewusstsein dieses Verlustes wird eine weitere, noch feinere Beschreibung gewählt – und die Referenz verschwindet in der Masse der Beschreibungen immer weiter. So beschreibt der Erzähler im Kapitel „Morning“ auf knapp fünf Seiten ausführlich seine Wohnungseinrichtung und die Produkte, die er jeden Morgen im Bad benutzt.461 In der Überfülle der (Produkt-)Informationen geht der Inhalt und Sinn des Erzählten für den Leser – und letztlich auch für den Erzähler – vollständig verloren.462 Jedes Produkt, das zur noch genaueren Schilderung der statisch nicht präsent ist, sondern weiterverweist innerhalb eines Gefüges von Verweisungen.“ Kimmerle, Heinz: Jacques Derrida. Hamburg 62004, S. 39. 459 Im Realismus und Naturalismus wird im Allgemeinen versucht, mittels einer genauen Benennung den Sinn des Beschriebenen zu erfassen und darzustellen. 460 So wird die Kleidung jeder Person, die die Szene betritt, vom Erzähler genau beschrieben und benannt – dennoch bleiben die Personen, da eben nur ihre Kleidung und nicht ihre Persönlichkeit beschrieben wird, austauschbar. „Courtney opens the door and she’s wearing a Krizia cream silk blouse, a Krizia rust tweed skirt and silk-satin d’Orsay pumps from Manolo Blahnik. [...] Evelyn stands by a blond wood counter wearing a Krizia cream silk blouse, a Krizia rust tweed skirt and the same pair of silk-satin d’Orsay pumps Courtney has on. Her long blond hair is pinned back into a rather severe-looking bun [...]“ Ellis: American Psycho, S. 8 f. 461 „The painting overlooks a long white down-filled sofa and a thirty-inch digital TV set from Toshiba; it’s a high-contrast highly defined model plus it has a four-corner video stand with a high-tech tube combination from NEC with a picture-in-picture digital effects system (plus freeze-frame); the audio includes built-in MTS and a five-watt-perchannel on-board amp. A Toshiba VCR sits in a glass case beneath the TV-set; it’s a superhigh-band Beta unit (…). A hurricane halogen lamp is placed in each corner of the living room. Thin white venetian blinds cover all eight floor-to-ceiling windows. A glass-top coffee table with oak legs by Turchin sits in front of the sofa, with Steuben glass animals placed strategically around expensive crystal ashtrays from Fortunoff [...].“ Ebd., S. 25. 462 „Wenn die Dinge, die Zeichen, die Handlungen von ihrer Idee, ihrem Begriff, ihrem Wesen, ihrem Wert, ihrer Referenz, ihrem Ursprung und ihrer Bestimmung befreit sind, treten sie in endlose Selbstreproduktion. Die Dinge funktionieren weiter, während die Idee von ihnen längst verlorengegangen ist.“ Baudrillard: Transparenz des Bösen, S. 12.



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morgendlichen Rituale Batemans genannt wird, überlagert und überdeckt das zuvor Erzählte und lässt den Sinn weiter schwinden. Am Ende steht ein inhaltsloses ‚Rauschen‘ von Produktnamen463, eine endlose Repetition464, die keinen Sinn kommuniziert: Die Signifkanten stehen losgelöst von ihren Signifikaten; der Sinn geht, mit Baudrillard gesprochen, in der „Simulationsepidemie“465 verloren.466 Lediglich die Furcht ist nicht benennbar und steht somit jenseits der hypertrophen Benennung mittels signifikatloser Namen. „Staring out the window of the cab, lost in thought, the silence I’m causing filling me with a nameless dread, numbly, by rote, I list the following. ‚You forgot Alpenwasser, Down Under, Schat [...].‘“467 Die namenlose Furcht ist als Gegenpol der Markennamen zu lesen und etabliert neben der Hypertrophie der Marken und der sinntragenden Gewalt einen dritten Typus der Benennung. Die Stille, die die Furcht bewirkt, beendet und bekämpft Bateman mit einem wahrhaft hypertrophen Feuerwerk an Markennamen, deren Sinnlosigkeit – eine Reihung von Mineralwassernamen – evident ist. Im Gegensatz zur Furcht verfügen diese jedoch über Namen und können somit genannt werden, um die Stille – die auch eine Stille der Nennung von Markennamen ist – zu überdecken. Bateman erlebt den Verlust der Referenz, der mit dem Verlust der Verortbarkeit einhergeht. Die Namen der Bars und Restaurants führen den Verlust des Ortes teilweise bereits im Namen. „We stop at an outdoor café, Nowheres, on the Upper West Side“.468 Während einer Taxifahrt erlebt Bateman den Zustand der Ortlosigkeit. 463 Das Gleiten der Signifikate wird, wie Young zeigt, selbst in Nebensächlichkeiten dargelegt: „[S]hoes by ‚Susan Warren Bennis Edwards‘ becomes shoes by ‚Warren Susan Allen Edmonds’ and then shoes by ‚Edward Susan Bennis Allen‘.“ Young: The Beast in the Jungle, S. 102. 464 „Ellis turns the function of repetition, which usally is a device of making sense, against itself in order to create a form of repetition that ultimately spirals into meaninglessness. Repetition becomes pure reproduction without variation [...].“ Weinreich: The Hyperrealism of Simulation, S. 75. 465 Baudrillard: Transparenz des Bösen, S. 10. 466 Dieser Verlust des Sinns wird in den in „American Psycho“ omnipräsenten TV-TalkShows ironisch dargestellt. So berichtet Bateman von einer Show, in der ein Cheerio – also eine Frühstückscerealie – in einem kleinen Sessel sitzt und interviewt wird, und von einem Interview mit der Phantasiegestalt Bigfoot. Durch diese Episoden wird nicht nur ein Kommentar zu den Shows gegeben, sondern zudem die Verlässlichkeit des Erzählers in Frage gestellt. 467 Ellis: American Psycho, S. 248. 468 Ebd., S. 372.

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Buildings pass by in a gray-red blur, the cab passes other cabs, the sky changes color from blue to purple to black back to blue. At another light – a red one he races straight through – we pass, on the other side of the West Side Highway, a new D’Agostino’s on the corner where Mars used to be and it moves me to tears, almost, because it’s something that’s identifiable and I get as nostalgic for the market (even though it’s not one I will ever shop at) as I have about anything [...].469

Bateman erfährt die Auflösung der räumlichen Identität; die Straßen lösen sich in verwischende Häuser auf, die einzigartige Identität verlöscht in ihrer Verdoppelung.470 Ellis benutzt zweimal kurz nacheinander das Wort „other“ bzw. „another“ („the cab passes other cabs“ und „At another light“). Durch die textliche Verdoppelung des Taxis und der Ampel nähern diese ihre Singularität der verwischenden Fülle der Häuser an. Ihr individueller Gehalt und Sinn geht in der Menge verloren. Ein Ort ist nicht mehr fass- und benennbar. Ähnlich wie die Überdeterminierung der Sprache, die bei der Beschreibung und Benennung der Kleidung471 der Freunde Batemans zu beobachten ist, und die durch ihre genaue Benennung eben keinen Sinn erschafft, sondern diesen in der Überfülle untergehen lässt, wird hier auch der Raum überdeterminiert. Das zweite im Zitat zu beobachtende Moment stellt das des ‚Wunsches nach Verortung‘ dar. Bateman wünscht sich dringend einen Ort, der „identifiable“ ist – selbst wenn er seiner normalen Umwelt nicht entspricht. Der Raum wird in 469 Ebd., S. 391. 470 Das Gleiten der verwischenden Häuser, ihre Auflösung im „gray-red blur“, und damit der Verlust der Referenz, die sich hier in Stein manifestieren und einen (sinnhaften) Ort bilden soll, weist Parallelen zu Derridas Gedanken auf. „[D]ie Erfahrung der unendlichen Derivation der Zeichen, die umherirren und die Schauplätze wechseln und wechselseitig ohne Anfang und ohne Ende ihre Vergegenwärtigung verzaubern“ wird hier bildlich dargestellt. Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls. Frankfurt am Main 1979, S. 164. 471 Giacomo Leopardi verwies bereits auf die Verwandtschaft von Mode, Tod und Vergänglichkeit in seinem „Dialog zwischen der Mode und dem Tod.“: „Mode: Kennst du mich nicht? [...] Ich bin die Mode, deine Schwester. Tod: Meine Schwester? Mode: Ja: Erinnerst du dich nicht, daß wir beide Kinder der Vergänglichkeit sind?“ Leopardi, Giacomo: Dialog zwischen der Mode und dem Tod. Gesänge – Dialoge und andere Lehrstücke. München 1987, S. 288–292, hier S. 288. In „Glamorama“ wird die Verbindung von Mode und Tod in den mit Kontaktgift behandelten Armanianzügen symbolisiert. „[T]he deaths I haven’t taken part in: [...] the Armani suits saturated with so much poison that the victim who wears it can absorb it through the skin by the end of a day.“ Ellis: Glamorama, S. 367.



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dieser Textstelle ‚gelesen‘ und als ‚Text‘ verstanden. Er soll leisten, wozu die Sprache nicht mehr in der Lage ist: einen festen Punkt, eine Referenz zu schaffen.472 Doch der Raum kann dies nicht leisten und verliert seine Referenzqualität; so wie die Namen frei von Person zu Person flottieren, verliert sich auch Bateman in den labyrinthischen Straßen New Yorks: „[A]nd it’s midafternoon and I find myself standing at a phone booth on a corner somewhere downtown, I don’t know where, but I’m sweaty.“473

4.3 SPRACHE UND KOMMUNIKATION IN „GL AMORAMA“

Nachdem Ellis in „Less Than Zero“ und „American Psycho“ hochsignifikante Sätze an die prägnante Stelle des Textanfanges gestellt hat, versucht er nun, in „Glamorama“ dieses Kompositionsprinzip etwas zu verschleiern. So beginnt der Text mit einem zwölfzeiligen assoziativ montierten Satz des Erzählers Victor Ward. Der Humor – und der scheinbar betont von dem Kompositionsprinzip abweichende banale einleitende Teil des Gedankenstroms, „Specks – specks all over the third panel, see?“474 – sollen scheinbar die Bedeutung des Satzes und die Thematik des Textes überdecken; dennoch enden die zwölf Zeilen mit Wards Frage „though I’m getting the distinct impression by the looks on your sorry faces that why won’t get answered – now, come on, goddamnit, what’s the story?“475 – und erweisen sich somit als signifikant. Die Frage nimmt nicht nur die die Lektüre abschließende Frage des Lesers nach dem ‚Warum“ des verwirrenden und teilweise unerklärlichen Textgesche472 Diese Referenz kann der Ort – wie die Sprache – nicht anbieten. Bereits in der erzählten Struktur des Ortes New York City, die als Rhizom verstanden wird, spiegelt sich diese Unmöglichkeit. Im Gegensatz zu „Less Than Zero“, in dem die Charakteristik von Los Angeles sich in der zentrumslosen urbanen Flächigkeit ausdrückt und damit dem „realen“ Eindruck des Besuchers entspricht, kann die in „American Psycho“ gezeichnete Welt von New York weniger mit der außertextlichen Welt in Einklang gebracht werden. Eine labyrinthische Struktur von Manhattan, insbesondere von „Midtown“, scheint aufgrund der schachbrettartigen Straßenstruktur wenig mit der Realität gemein zu haben. Folg­lich scheint es an dieser Stelle angebracht, auf die geringe Relevanz der außertextlichen Wirklichkeit zu verweisen; Ellis komponiert eine Welt, die zwar die Namen der Realität trägt, aber dieser nicht entspricht. Folglich wäre eine stark an der exakten „realen“ Geographie orientierte Vorgehensweise, die die innertextliche fiktive Räumlichkeit ignoriert, sicherlich wenig ergiebig und würde zu falschen Schlüssen verleiten. 473 Ellis: American Psycho, S. 148. 474 Ellis: Glamorama, S. 5. 475 Ebd., S. 5.

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hens vorweg – und deutet bereits zu Beginn an, dass es hierauf keine Antwort geben wird –, sondern verweist zudem auf den artifiziellen Textcharakter der Erzählung: „what’s the story?“. Der Text offenbart sich als „story“, als Text. Zugleich wird die Frage nach der ‚Geschichte‘, dem Plot, gestellt; die Frage ließe sich somit auch als Reaktion auf die rhizomartig476 ineinander verschachtelten Einzelgeschichten verstehen. Die „story“ verschwindet in der schwer verständlichen Hypertrophie der Suberzählungen. Da sich der Erzähler – wie im Folgenden noch gezeigt werden wird – ausgesprochen häufig in Zitaten aus dem Bereich der Popkultur äußert, lässt sich Wards Frage als Zitat entschlüsseln. Er zitiert den ersten Teil des Titels des zweiten äußerst erfolgreichen Albums der britischen Band Oasis: „(What’s the Story) Morning Glory?“477. Ellis zeigt also bereits in den ersten Sätzen des Textes auf, dass die Vorstellung einer Authentizität, eines Originals, respektive einer Kopie, in „Glamorama“ nicht zu halten ist; die ‚authentischen‘ Äußerungen der Figuren mischen sich mit den Kopien der Zitate. Wenige Zeilen später erfolgt der eigentliche Schlüsselsatz der Erzählung. „‚Who the fuck is Moi?‘ I ask. ‚I have no fucking idea who this Moi is, baby.‘“478 Die Kernthemen von „Glamorama“, Identität und Identitätsverlust, die Aufspaltung des Erzählers in mehrere Figuren, die Vermischung von Realität und Fiktion und der Verlust der Kategorien Wahrheit und Fälschung, werden in Wards Frage aufgerufen. Die Frage „Who the fuck is Moi?“ stellt sich Ward – und dem Leser – während der gesamten Lektüre; eine Antwort wird es, wie im ersten Satz angekündigt, nicht geben. Zwei Zeilen nach Wards Frage nach seiner Identität wird das Thema forciert wiederholt. „‚But just tell me who Moi is, baby,‘ I exclaim. ‚Because I’m, like, shvitzing.‘“479 Die Erklärungen seiner Mitarbeiter „‚Moi is Peyton, Victor,‘ JD says quietly.“480 und „‚I’m Moi,‘ Peyton says, nodding. ‚Moi is, um, French.‘“481 verweigern die einfache und logische Erklärung, dass „Moi“ die französische Entsprechung von „Ich“ ist, und lassen die Bedeutung des leeren Signifikanten „Moi“ gleiten. Versteht man die Erklärungsversuche wörtlich – und „Moi“ nicht als französisches Wort, sondern als bedeutungsund referenzlose Chiffre – so hat „Moi“ hier drei unterschiedliche Bedeutungen. Zuerst steht „Moi“ für „Peyton“ („Moi is Peyton“). Weiterhin bedeutet „Moi“ „I“. („I’m Moi“). Und schließlich hat es die Bedeutung „french“. („Moi is [...] 476 Zum Begriff Rhizom vergl.: Deleuze, Gilles und Guattari, Félix: Rhizom. Berlin 1977. 477 Oasis: (What’s the Story) Morning Glory?. CD. Helter Skelter/Sony Music 1995. 478 Ellis: Glamorama, S. 5. 479 Ebd., S. 5. 480 Ebd., S. 5. 481 Ebd., S. 5.



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french“). Ellis zeigt mit dem Wortspiel, das seinen Sinn unter der humoristisch dargestellten mangelnden Fremdsprachenkenntnis Wards versteckt, dass die Signifikanten gleiten und über keine Referenz mehr verfügen; Ellis schließt hier an das Gleiten der Namen in „American Psycho“ an und macht deutlich, dass die Problematik der Sprache und Kommunikation in „American Psycho“ auch in „Glamorama“ weiterhin besteht. Die doppelte Spaltung des Erzählers, die sich zum einen in der Verwendung von zwei Nachnamen, Ward und Johnson, manifestiert und zum anderen in der offenkundigen Verdoppelung der Person des Erzählers offenbart – bereits zu Beginn des Textes wird Ward auf Begegnungen angesprochen, die nie stattgefunden haben – deutet sich in der Spaltung der IchIdentität in „I“ und „Moi“ an. „In this manner, the reader, anticipating disunity in the plot, is confronted with a prophecy of another disunity in the character: ‚I‘ is another.“482 Im darauf folgenden Satz wird die Bedeutung des ersten Satzes, in dem sich Ward über Flecken auf einem neu errichteten Panel beschwert, von Wards Mitarbeiter JD umgekehrt. „Are you sure these specks aren’t supposed to be here? [...] [M]aybe it’s supposed to be [...] in or something?“483 Ward nimmt die mögliche Deutung, dass die Flecken vom Designer intendiert und damit „in“ sind, auf. „Wait. [...] You’re saying these specks are in?“484 Einen kurzen Moment scheint die ästhetische Bewertung der Flecken aufgrund der Überlegung, dass sie „in“ sind, zu kippen, doch dann bleibt Ward bei seiner ursprünglichen Ansicht. Die kurze Textstelle zeigt, dass die ästhetische Wertung nicht aufgrund der Flecken an sich erfolgt, sondern mit deren Kontext zusammenhängt. Die Flecken können sowohl als Flecken – also als Fehler – als auch als ironische und intendierte – also als Design – Kunst gelesen werden. Sie bedürfen einer Interpretation, die jederzeit zwischen den Polen Fehler und Design wechseln kann. Eine dauerhafte ‚wahre‘ Deutung wird von der möglichen ironischen Lesart unterminiert. Das Gespräch über die Bewertung der Flecken wird mit Wards Frage an die junge, die Club-Eröffnung begleitende Reporterin vorerst abgeschlossen. Auf ihre Antwort, dass sie nicht sicher sei, wie die Flecken zu bewerten sind, reagiert Ward wiederum mit einem Zitat, diesmal aus dem Stück „California Girls“ von den Beach Boys. Die Authentizität der Antwort Wards wird durch ihren Charakter als Zitat untergraben; Ward äußert erneut nicht seine originäre ‚wahre‘ Meinung, sondern recycelt eine bereits existierende Aussage. Die Reporterin beendet den Wortwechsel, indem sie deutlich macht, dass sie in die Probleme der Eröff482 Nielsen: Telling Doubles and Literal-Minded Reading, S. 22. 483 Ellis: Glamorama, S. 5. 484 Ebd., S. 5.

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nung nicht involviert ist. „I don’t think I’m really part of the story“485. Wörtlich verstanden erklärt somit eine Figur im Text, dass sie nicht Teil des Textes sei, und legt damit den artifiziellen Charakter des Textes offen. Die Reporterin erkennt sich selbst als fiktionale Figur in einem Text und damit als Text. Hieraus folgt wiederum, dass die anderen Figuren ebenfalls als Text zu verstehen sind. Die Hypertrophie der Namen und Marken in „American Psycho“, die, wie in Kapitel 4.2 dargestellt wurde, über keine Referenz mehr verfügen und als signifikatlose Signifikanten gelesen werden, ist auch in „Glamorama“ festzustellen. Allerdings ist die Überdeterminierung der Markennamen486, wie sie in „American Psycho“ etwa in den umfassenden Benennungen der Kleidungsstücke auffällt, nun den Namen von Berühmtheiten gewichen.487 So verliest Wards Mitarbeiter alphabetisch geordnet die Liste der Gäste, die zugesagt haben, zur Eröffnungsparty zu kommen: Naomi Campbell, Helena Christensen, Cindy Crawford, Sheryl Crow, David Charvet, Courtney Cox, Harry Connick, Jr., Francisco Clemente, Nick Constantine, Zoe Cassavetes, Nicholas Cage, Thomas Calabro, Christi Conway, Bob Collacello, Whitfield Crane, John Cusack, Dean Cain, Jim Courier, Roger Clemens, Russell Crowe, Tia Carrere and Helena Bonham Carter but I’m not sure if she should be under B or C.488

485 Ebd., S. 6. 486 Dennoch ist die Mode in dem Text von entscheidender Bedeutung. Baudrillards Überlegungen zur Mode und ihre Verbindung zur leeren Oberfläche der Zeichen lassen sich am Text belegen. „Das Modevergnügen ist sicherlich kulturbedingt, aber verdankt es sich nicht noch mehr diesem unmittelbaren Konsens, der in dem Spiel der Zeichen aufscheint? Die Moden verschwinden im Übrigen wie Epidemien, wenn sie die Vorstellungskraft verwüstet haben und der Virus sich erschöpft hat. [...] Unser großartiges Soziales liegt in dieser ultraschnellen Oberflächenzirkulation der Zeichen (und nicht der ultralangsamen Zirkulation des Sinns).“ Baudrillard: Transparenz des Bösen, S. 81. 487 In Anlehnung an die Beschreibung von Batemans Wohnung in „American Psycho“ erfährt die Wohnung von Wards Freundin Chloe eine ähnlich ausführliche Beschreibung. Die Hypertrophie der Markennamen ist ebenfalls festzustellen. „Stills from Chloe’s loft in a space that looks like it was designed by Dan Flavin: two Toshiyuki Kita hop sofas, an expanse of white-maple floor, six Baccarat Tastevin wineglasses – a gift from Bruce and Nan Weber – dozens of white French tulips, a StairMaster and a free-weight-set, photography books [...], a Fabergé Imperial egg [...] a large portrait of Chloe by Richard Avedon.“ Ellis: Glamorama, S. 39. 488 Ebd., S. 8.



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In der Hypertrophie der Namen kommt dem einzelnen Namen keine Bedeutung mehr zu; wie die Kleidungsstücke in „Amercian Psycho“ – etwa ein Anzug von einem bekannten Designer – existieren sie zwar, besitzen aber keine Relevanz für die Erzählung, sondern bestehen lediglich aus einem ‚leeren‘ Signifikanten. Scheinen die einzelnen Namen für den Leser zuerst über eine außertextliche Referenz zu verfügen – in dem Zitat benutzt Ellis die Namen tatsächlich existierender Prominenter – so verlieren sie doch in ihrer Masse und aufgrund ihres einmaligen und folgenlosen Auftrittes im Text jegliche Bedeutung. Ellis erlaubt sich mit dem Leser ein postmodernes Spiel mit der außertextlichen Realität – so muss die im Zitat genannte Cindy Crawford nicht unbedingt mit dem den Lesern bekannten Model identisch sein. Die Referenzen, die der Leser zu erkennen glaubt, und die Bedeutung, die er ihnen zuschreibt, sind nicht belegbar; der Name Cindy Crawford bleibt – wie die beschriebene Kleidung in „American Psycho“ – ein ‚leerer‘, signifikatloser Name. Die Austauschbarkeit der Namen, die mangelnde Charakterisierung der Figuren, macht sie zur Oberfläche und zur Ware. Das Ende des ersten Kapitels – das in komprimierter Form die Kernthesen des Textes beinhaltet – schließt mit einer Diskussion über die Bewertung eines Künstlers und über die Dichotomie „out“ und „in“. JD glaubt, dass die Zauberkunststücke des Künstlers „in“ sind: „I think comparatively it’s pretty in.“489 Ward widerspricht nicht JDs Wertung, erklärt aber, dass „in“ nun „out“ sei, die Wertung und Bedeutung von „in“ und „out“ sich also umgekehrt haben. „‚But in is out‘, I explain.“490 Überrascht fragt JD nach, „What are you saying, Victor? [...] In is . . . not in anymore?“491 Ward bestätigt dies. „No, in is out. Out is in. Simple, non?“492 Die ursprüngliche Bedeutung der Adjektive ist nicht mehr fest mit den Ajektiven verbunden; das Signifikat „in“ hat sich mit dem Signifikanten „out“ zusammengeschlossen. Aus JDs Reaktion lässt sich schließen, dass diese Verbindung für ihn neu ist und die vormalige Bindung von dem Signifikanten „in“ mit dem Signifikat „in“ ersetzt hat. Das Gleiten der Signifikate hat eine neue Konstellation hervorgebracht. Die Technik der Montage von Zitaten, die zumeist aus dem Kontext der Popmusik stammen, setzt Ellis, wie gezeigt wurde, bereits direkt zu Beginn des Textes ein. „[W]hat’s the story?“493 Grundsätzlich lassen sich die Zitate in zwei Gruppen einteilen: Zitate, die bedeutungstragend in den Text eingebunden wer489 Ebd., S. 15. 490 Ebd., S. 15. 491 Ebd., S. 15. 492 Ebd., S. 15. 493 Elbd., S. 5.

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den, und Zitate, die als sinnlose Solitäre nicht eingebunden sind. Oftmals stellen die Zitate nur eine kurze popkulturelle Anspielung dar und sind nicht in das jeweilige Gespräch verwoben. Im folgenden Dialog sind jedoch, wie Flory ausführlich nachgewiesen hat494, Wards Antworten vollständig aus Zitaten montiert und gehen über eine kurze Anspielung hinaus: ‚That’s not a good idea, Victor.‘ JD runs ahead of me. ‚He was very insistent that there be no interruptions.‘ ‚Turn the beat around, JD.‘ ‚Um ... why?‘ ‚Because I love to hear percussion.‘ ‚Don’t do this, Victor,‘ JD pleads. ‚Damien wants to be left alone.‘ ‚But that’s the way, uh-huh uh-huh, I like it, uh-huh uh-huh.‘ ‚Okay, okay,‘ JD pants. ‚Just get that fabulous ass over to Fashion Café, nab DJ X and do not sing Muskrat Love.‘ ‚Muskrat Suzy, Muskrat Sa-a-am…‘ ‚Victor, I’ll do whatever you want.‘ ‚London, Paris, New York, Munich, everybody talk about – pop music.‘ I tweak his nose and march toward Damien’s chamber. ‚Please, Victor, let’s go the other way,‘ JD says. ‚The better way.‘ ‚But that’s the way, uh-huh uh-huh, I like it.‘495

In dem kurzem Dialog versucht JD Ward davon abzuhalten, das Zimmer seines Chefs Damien Ross zu betreten, da dieser sich dort einer Affäre hingibt. Wards Antworten „Turn the beat around“ und „Because I love to hear percussion“ stellen offensichtlich keine adäquaten Erwiderungen dar und sind nicht mit den Fragen und Aufforderungen von JD verknüpft; die Zitate stehen losgelöst vom Kontext. Wards Zitat „But that’s the way, uh-huh uh-huh, I like it, uh-huh uhhuh.“ scheint zwar eine Reaktion auf JDs Bitte „Don’t do this“ zu sein und sprachlich mit dieser verbunden zu sein, dennoch zeigt sich, dass der Inhalt des Gesagten keinerlei Sinn trägt. Das Zitat erweist sich als bedeutungsleere Kette 494 „‚Turn The Beat Around‘ stammt aus dem Jahr 1976 und war der einzige Hit von Vicki Sue Robinson. Aus dem Text dieses Liedes stammt auch der Satz ‚love to hear percussion‘ (das Lied wurde 1994 von Gloria Estefan noch einmal aufgenommen). ‚That’s the way, uh-huh uh-huh, I like it, uh-huh uh-huh‘ ist von KC & The Sunshine Band, ‚Muskrat Suzy, Muskrat Sa-a-am...‘ ist aus Willis Alan Ramseys ‚Muskrat Candlelight‘, und der Satz ‚London, Paris, New York, Munich, everybody talk about – pop music‘ ist von Robin Scott, der unter dem Pseudonym ‚M‘ Anfang der Achtziger diesen einen Hit hatte.“ Flory: „Out is In“, S. 297. 495 Ellis: Glamorama, S. 107.



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von Signifikanten; eine wirkliche Kommunikation findet in dem Gespräch nicht statt.496 Die Absence des Sinnes wird auf Wards Schiffspassage von New York nach London bildlich dargestellt. Die glatte und stumme Oberfläche des Meeres steht jenseits einer möglichen Einschreibung oder Benennung. Everything surrounding the ship is gray or dark blue [...] and once or twice a day this thin strip of white appears at the horizon line but it’s far in distance you can’t be sure whether it’s land or more sky. [...] It’s impossible to believe that any kind of life sustains itself beneath this flat, slate-gray sky or in an ocean so calm and vast, that anything breathing could exist in such limbo, and any movement that occurs below the surface is so faint it’s like some kind of small accident, a tiny indifferent moment, a minor accident [...] and below us the trail the ship leaves behind is a Jacuzzi blue that fades within minutes into the same boring gray sheet that blankets everything else surrounding the ship.497

Die Spur des Schiffes auf der Oberfläche des Meeres verliert und verwischt sich augenblicklich wieder in das „boring gray sheet“; eine dauerhafte Einschreibung ist nicht möglich. Das Meer erscheint hier als gedächtnisloses Medium, das eine Fixierung des ‚Geschriebenen‘ – und damit eine Lesbarkeit und ein Verständnis – nicht zu leisten vermag; die ‚Schrift‘ verwischt, der ‚Sinn‘ löst sich im Grau der Oberfläche auf. „Da die Spur kein Anwesen ist, sondern das Simulakrum eines Anwesens, das sich auflöst, verschiebt, verweist, eigentlich nicht stattfindet, gehört das Erlöschen zu ihrer Struktur.“498

496 Die Sinnleere eines Gespräches wird auch in folgendem Dialog überdeutlich: „‚Hey man, I am a rock. I am an island.‘ ‚Who’s gonna dispute that?‘ ‚That’s me, Damien. All dos, and no don’ts.‘ ‚Are you down with OPP?‘ ‚Hey, you know me.‘ ‚Crazy kid,‘ he chuckles. ‚Lucidity. Total lucidity, baby.‘ ‚I wish I knew what that meant, Victor.‘ ‚Three words, my friend: Prada, Prada, Prada.‘“ Ellis: Glamorama, S. 49. Das MTV-Interview mit Ward zeigt einen ähnlichen Verlust jeglicher Sinnhaftigkeit auf. Vergl. Ebd., S. 139 ff. 497 Ebd., S. 189. 498 Derrida, Jacques: Die différance. In: Postmoderne und Dekonstruktion. Hrsg. v. Peter Engelmann. Stuttgart 1990, S. 107.

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So lässt sich die Textstelle im Hinblick auf die Problematik der Sprache und Kommunikation in „Glamorama“ lesen: So wie die Spur des Schiffes im Grau verschwimmt und sich nicht fassen und verstehen lässt, so verschwimmt auch die Kommunikation. Die Signifikate hinterlassen keine sinnhafte Spur; sie sind nicht lesbar. Abgesehen von einigen Wellenbewegungen auf der Textoberfläche zeigen sie, wie an dem aus Zitaten montiertem Dialog zwischen JD und Ward demonstriert wurde, keine Auswirkungen auf die Kommunikation und das Textgeschehen. Zugleich lässt sich die Textstelle als Kommentar zum Schreiben und zum Text in seiner materiellen Form, als Buch „Glamorama“, verstehen. Ellis zeigt die Unmöglichkeit einer dauerhaften sinnhaften Fixierung der Schrift auf. Der Text ‚verschwindet‘ und ist nicht mehr lesbar; aufgrund der ‚(ver)schwimmenden‘ Materialität ist er letztlich auch nicht mehr schreibbar – der Text erklärt sich selbst als kurzes folgenloses Aufschäumen von Signifikanten. Unter der Oberfläche des Textes und der Erzählung ist außer einer kurzen, zufälligen und indifferenten Bewegung nichts vorstellbar: „any movement that occurs below the surface is so faint it’s like some kind of small accident, a tiny indifferent moment, a minor accident“499. Auch hier ließe sich wieder auf den Dialog zwischen JD und Ward verweisen, in dem unter der Oberfläche der montierten Zitate alles „faint“ bleibt und keinen Sinn offenbart. Der Sinn der Kommunikation verschwindet wie das Leben unter dem flachen grauen Himmel. „It’s impossible to believe that any kind of life sustains itself beneath this flat, slate-gray sky.“500 Im Grau löst sich der Text auf. Auf die Materialität des Textes bezogen, verschwimmt die zur graphischen Darstellung der Zeichen notwendige Opposition von weiß und schwarz, von hellem Papier und dunkler Druckerschwärze, in den nicht mehr lesbaren Farbmittelwert Grau. Den Verlust der Fass- und Benennbarkeit der Welt mittels Sprache zeigt auch die folgende Textstelle auf. „I’m barely aware of anything. I could be in Malibu lying on a beach towel. It could be 1978 or 1983. The sky could be black with spaceships. I could be a lonely girl draping scarves over a dorm room lamp.“501 Neben der Sprache lösen sich hier die Realität, der Raum, die Zeit und die Identität des Erzählers auf. Das strukturierende innere Koordinatensystem zerfällt, die Strukturen Raum, Zeit und Identität zerbrechen. Die Ich-Identität von Ward, die als ein Ich in einer definierten Zeit und an einem definiertem Ort begriffen werden kann, kann die Konstitution des Subjekts nicht mehr leisten. 499 Ellis: Glamorama, S. 189. 500 Ebd., S. 189. 501 Ebd., S. 329.



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Die Figur des Erzählers verschwindet in den indifferenten Strukturen und zeigt so die Unzuverlässigkeit und Brüchigkeit des Narrativs, der erzählten Welt und des Erzählers auf. Mit der Auflösung der Erzählung und der Identität des Erzählers verschwimmt auch die die Welt strukturierende, wertende und erfassende Begrifflichkeit. So ist die Vorstellung einer ‚Wahrheit‘ nicht mehr haltbar. „What this implies simply is that truth equals chaos and that this is a regression.“502 Die Wahrheit, in der zitierten Stelle die Nennung des Auftraggebers, offenbart nicht eine verständliche Ordnung, sondern erweist sich als ihr Gegenteil: im ‚Chaos der Wahrheit‘ geht jeglicher Sinn und jegliche Zuordnung verloren. Performativ stellt Ellis dieses ‚Chaos der Wahrheit‘ mittels des scheinbar ungeordneten und unverständlichen Plots der Erzählung dar. Der Leser erfährt beim Lesen die ‚Wahrheit‘ des Textes als Chaos und vice versa. An einem Gespräch über die Möglichkeiten der Bildmanipulation zeigt Ellis wenig später den Zerfall der ‚einen‘ Wahrheit auf; Wahrheit wird nun ein veränderbarer und relativer Begriff, eine transzendentale Wahrheit ist nicht mehr gegeben. Die Veränderung der Bilder erschafft eine neue Realität. „The sex-scene photo is scanned again [...]. In five minutes my head – in profile – is grafted seamlessly onto the shoulders of the average-looking guy fucking Sam Ho.“503 Eine neue Realität, eine neue Welt entsteht.504 „He’s adding graininess, he’s erasing people, he’s inventing a new world, seamlessly. ‚You can move planets with this‘ [...] ‚You can shape lives. The photograph is only the beginning.‘“505 Die Vergangenheit wird relativ. „Where you there or where you not? [...] It all depends on who you ask, and even that really doesn’t matter anymore.“506 Im Text scheinen die Möglichkeiten der Bildbearbeitung auch auf reale Menschen übertragbar zu sein; so ist es offensichtlich möglich, Menschen zu ‚kopieren‘ oder zu verdoppeln. „I think they double people. I mean, I don’t know how, but I think they have ... doubles. That’s not Sam Ho ... that’s some502 Ebd., S. 401. 503 Ebd., S. 357. 504 „Bentley starts tapping keys, landing on new photos. He enhances colors, adjusts tones, sharpens or softens images. Lips are digitally thickened, freckles are removed, an ax is placed in someone’s outstretched hand, a BMW becomes a Jaguar which becomes a Mercedes which becomes a broom which becomes a frog which becomes a mop [...], license plates are altered, more blood is spattered around a crime-scene photo, an uncircumcised penis is suddenly circumcised. [...] I’m shaking hands with Arabs and wearing sunglasses and pouting, gasoline trucks lined up behind me“. Ebd., S. 357. 505 Ebd., S. 358. 506 Ebd., S. 358.

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one else ... .“507 Lösten sich in „American Psycho“ lediglich die Benennungen der Personen auf, so lösen sich nun in „Glamorama“ die Identität und die Rolle der einzelnen Personen auf. Eine Unterscheidung zwischen ‚Original‘ und ‚Kopie‘, zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘ ist nicht mehr möglich. ‚So you’re telling me we can’t believe anything we’re shown anymore?‘ I’m asking. ‚That everything is altered? That everything’s a lie? [...]‘ ‚That’s a fact,‘ Palakon says. ‚So what’s true, then?‘ I cry out. ‚Nothing, Victor,‘ Palakon says. ‚There are different truths.‘ ‚Then what happens to us?‘ ‚We change.‘ He shrugs. ‚We adapt.‘ ‚To what? Better? Worse?‘ ‚I’m not sure those terms are applicable anymore.‘508

Mit der Pluralisierung der Wahrheit und der Aufgabe der Begriffe und Vorstellungen von „lie“, „true“, „better“ und „worse“ lässt sich in „Glamorama“ eine Affinität zu einigen theoretischen Überlegungen der Postmoderne, etwa bei Gilles Deleuze oder bei Jean Baudrillard, feststellen. „Es gibt keinen Maßstab mehr für Wahrheit, Kausalität oder Verantwortlichkeit.“509, so Jean Baudrillard. Die Pluralisierung510 der einst singulären absoluten Wahrheit – und das gedankliche Konzept, das den Pluralismus einführt – bewirken die Veränderung und die Anpassung der Menschen an das neue Verständnis und den Wegfall absoluter transzendentaler Gewissheiten. Mit dem Verschwinden dieser brechen sämtliche ethisch-moralischen Systeme und Codes zusammen. „Because no one 507 Ebd., S. 373. 508 Ebd., S. 406. 509 Baudrillard, Jean: o. T. (Aus seiner Rede anlässlich der Preisverleihung des Siemens-Medienkunstpreises 1995.) In: Medienkunstpreis 1995. Hrsg. v. Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe. Karlsruhe 1995. Das weitere Zitat lautet: „Es gibt keinen Maßstab mehr für Wahrheit, Kausalität oder Verantwortlichkeit. Es gibt kein Mittel mehr, um die Dinge entweder auf die Seite des Wahren oder auf die des Falschen zu sortieren. Weder im historischen noch im fraktalen Raum bestehen die Dinge noch aus einer, zwei oder drei Dimensionen – sie schweben in einer Zwischendimension.“ 510 Vergl.: Baudrillard: Preisverleihung.: „Wir sind mit einer Art fraktaler Wahrheit konfrontiert: Sowenig wie ein fraktales Objekt eine, zwei oder drei Dimensionen (in ganzen Zahlen) besitzt, sondern etwa 1,2 oder 2,3 Dimensionen, so ist auch ein Ereignis nicht ganz wahr oder falsch, sondern oszilliert zwischen einer, zwei oder drei Oktaven der Wahrheit. Der Raum zwischen wahr und falsch ist kein Raum der gegenseitigen Beziehungen mehr, sondern ein Raum der zufälligen Verteilung.“



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cares about ‚better‘. No one cares about ‚worse‘ [...]. Not anymore. It’s different now.“511 Die Referenzen von „better“ und „worse“ lösen sich auf, da sie zur Bewertung nicht mehr aufgerufen werden; die Begriffe verlieren ihr divergentes Potenzial und werden von entgegengesetzten Extremwerten zu indifferenten – und bedeutungslosen – Grauwerten. Zu Beginn des Textes zeigte Ellis in dem Gespräch zwischen Ward und JD über die Flecken auf dem Panel, dass eine (ästhetische) Wertung relativ ist und sich kontextabhängig ändern kann. Die Kategorien ‚gut‘ und ‚schlecht‘ sind nicht absolut zu denken, sondern können jederzeit von einem Pol zum anderen umschlagen. Letztlich kollabiert die Umschlagbewegung in einem nicht mehr definierten ‚Über-Wert‘, der die Dichotomie aufhebt und vereint, sie jedoch zugleich auch auflöst. „Out is in.“512 Oder, wie eben gezeigt wurde: „no one cares about ‚better‘. No one cares about ‚worse‘.“513 Zugleich lösen sich auch der Begriff der Wahrheit und die Identität des Individuums auf. An der zitierten Textstelle zur Schiffspassage konnte die nicht mehr mögliche Einschreibung, der Verlust der Memorabilität demonstriert werden; die Schrift und der Text hinterlassen wie das Schiff keine dauerhafte und lesbare Spur. Auch die Identität des Erzählers löst sich auf und verschwindet. „Who the fuck is Moi?“514 Ward erfährt eine dreifache Auflösung/Verdoppelung, so spaltet sich seine Identität zu Beginn des Textes in „I“ und „Moi“, sein Nachname wird von Ward in Johnson geändert und er erfährt von der Existenz seines Doppelgängers515, der zum Schluss des Textes sein Leben vollständig übernimmt und ihn ersetzt. Wie genau die einzelnen Ebenen der Matrix „I“/„Moi“, Ward/ Johnson, Original/Doppelgänger miteinander verknüpft sind, ist für den Leser – und für den Erzähler – nicht ersichtlich. Performativ stellt der Text diese Unsicherheit und die Auflösung/Verdoppelung zum einen durch die verwirrende und nicht auflösbare Struktur der Erzählung und zum anderen durch die Aufnahme des Prinzips des nicht unterscheidbaren Doppelgängers, der das Leben eines Anderen übernimmt, in dem Text und dem Rezeptionsvorgang dar: Der Erzähler der letzten Kapitel könnte 511 Ellis: Glamorama, S. 407. 512 Ebd., S. 15. 513 Ebd., S. 407. 514 Ebd., S. 5. 515 Das Motiv des Doppelgängers ist im Text durchgehend präsent: „Victor is to meet Chloe at ‚Doppel-gangers‘, his band is called ‚Impersonators‘, The Who’s ‚Substitute‘ is mentioned. The protagonist’s very name enacts this motif in two ways: because he has changed his name, he is known as both Victor Johnson and Victor Ward; his new surname, like Poe’s William Wilson, begins with the letter W, ‚the double you.‘“ Nielsen: Telling Doubles and Literal-Minded Reading, S. 23.

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auch der Doppelgänger des Erzählers sein – doch dies kann der Leser erst rückblickend entscheiden. Wenn – und dies ist nicht eindeutig zu klären – am Ende der Doppelgänger die Rolle des Erzählers übernimmt, dann wurden nicht nur die Personen im Text, sondern auch der Leser außerhalb des Textes getäuscht.

5. Blutige Einschreibungen – Gewalt bei Bret Easton Ellis In diesem Kapitel soll die Entstehung und Bedeutung der Gewalt in den drei Romanen von Bret Easton Ellis untersucht werden. Hierbei soll zum einen die qualitative und quantitative Steigerung der Gewalttaten, angefangen bei „Less Than Zero“ über „American Psycho“ bis zu „Glamorama“, zum anderen die aktive oder passive Rolle des Erzählers in den jeweiligen Gewalt-Exzessen von Bedeutung sein. Die enge Verbindung der Gewalt zur Kommunikation, die, wie in Kapitel 4 und 5 gezeigt wurde, weder den intersubjektiven Kontakt noch eine ethisch-moralische Erfassung und Bewertung der Umwelt des Erzählers zu leisten vermag, soll ebenfalls gezeigt werden. Die Gewalt und der Körper516 werden im Folgenden stets unter einer semiotischen Perspektive verhandelt; die Gewalt wird als Verfahren der Referenzerzeugung verstanden und weder unter soziologischen noch unter psychologischen Gesichtspunkten diskutiert. Das Verhältnis von Text, Gewalt und Körper ist für die weiteren Überlegungen elementar. Christiaan L. Hart Nibbrig definiert das Verhältnis von Text und Körper wie folgt: Der Körper, Instrument des Greifens, Gegenstand des Greifens, bleibt allem Begreifen äußerlich als das schlechthin Andere des Begriffs von ihm. Das ist’s denn auch, das theoretische Skandalon: daß er selber sprachlos bleibt im Reden über ihn. Literatur kann ihn auf Umwegen zur Sprache bringen. Nicht so sehr, indem sie ihn zum Thema macht, sondern vielmehr, indem sie ihn ersetzt: durch Text. Mit Wunden und Narben oder glatt und mürb und gepanzert. Gewiß, das ist metaphorisch gesagt. Aber läßt sich vom Körper überhaupt anders reden als umweghaft metaphorisch? Wenn es stimmt, daß der Körper nur bewußt wird als Spur eines Abwesenden, präsent nur wird in Re516 Seit den 1980er Jahren hat die Diskussion des Körpers Konjunktur in den Literaturwissenschaften. Die Debatte um den Körper in der Literatur ist theoretisch recht unterschiedlich fundiert: So lässt sich ein Beginn unter anderem im Feminismus und der Psychoanalyse verorten. Mittlerweile ist der Körper jedoch im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Ausweitung der Disziplinen allseits in den Fokus gerückt; insbesondere in den Gender Studies und den Postcolonial Studies ist er von Belang. Doch auch in den breit rezipierten Texten von Michel Foucault und Giorgio Agamben gerät der Körper unter dem Stichwort der Biopolitik in den Blick. Zu einer kurzen Darstellung der Geschichte der Diskussion des Körpers: Vergl. Köhler, Sigrid G.: Körper mit Gesicht. Rhetorische Performanz und postkoloniale Repräsentation in der Literatur am Ende des 20. Jahrhunderts. Köln, Weimar und Wien, 2006.

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präsentationen, die ihn ersetzen und zugleich sein Fehlen markieren, dann ist er, folgt man Derrida, vom gleichen Wesen wie die Schrift. Text ist der Körper des Körpers.517

Die Arbeit kehrte das in dem Zitat anklingende Verhältnis von Körper und Text beziehungsweise Repräsentation um: Es ging weniger um das Ersetzen des Körpers durch Text – wobei der Körper dann tatsächlich abwesend bliebe –, sondern vielmehr um die performative Potenz des Körpers, der der textlichen Repräsentation der Zeichen entgeht, als unmittelbares ‚Sein‘ verstanden werden kann und als Körper ‚anwesend‘ ist.518 Der Körper tritt aus der Zeichenstruktur von Signifikant und Signifikat heraus und bezeichnet nicht mehr, der Körper ist. Somit wäre nicht, wie im Zitat behauptet, „Text […] der Körper des Körpers“519, sondern der Körper (als Körper) wäre der Körper des Körpers. In der Diskussion der Texte von Bret Easton Ellis wird der Körper hauptsächlich als Körper des Opfers, also als verletzter, geöffneter oder zerstörter Körper thematisiert. Der Körper wird in den Texten von Ellis jedoch auch als stilisierter, geformter – und zu formender –, ausgestellter und sprechender Körper verhandelt. Die ‚hard bodies‘ der Kellnerinnen und die perfekt geformten ‚harten‘ Körper der muskulösen Protagonisten können wie die Markenkleidung nicht nur als Repräsentation des sozioökonomischen Status verstanden werden, sondern werden selbst direkt in das ökonomische System eingespeist und erhalten dort ihren spezifischen Wert. Der Körper wird zur handelbaren Ware – die Parallele zu den Berufsfeldern der Protagonisten liegt auf der Hand –, deren Wert mittels geschickter Modifikationen beeinflusst werden kann. In den Texten von Ellis wird der stilisierte Körper und sein ‚Handelswert‘ ausführlich diskutiert; Felder, in denen der Körper von Belang ist, sind unter anderem Pornographie, Sport, Sexualität und generell der Kontakt oder die Kontaktaufnahme mit anderen Personen.

5.1 GEWALT IN „LESS THAN ZERO“

Die Gewalt in „Less Than Zero“ lässt sich in drei Kategorien einteilen: die Gewalt der verweigerten Kommunikation, die sexuell-autoaggressive Gewalt und die Gewalt gegen Menschen. Zu Beginn des Textes dominiert die Gewalt der 517 Hart Nibbrig, Christiaan L.: Die Auferstehung des Körpers im Text. Frankfurt am Main 1985, S. 18. 518 Die Überlegungen zur Perfomativität des Körpers lassen sich theoretisch unter anderem an Erika Fischer-Lichtes „Ästhetik des Performativen“ oder an Gabriele Brandstetters „Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde“ anbinden. 519 Hart Nibbrig: Die Auferstehung des Körpers im Text, S. 18.



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verweigerten Kommunikation, die eng mit der in Kapitel 4.1 gezeigten gestörten Kommunikation und dem Verlust der Benennbarkeit und Fassbarkeit der Welt zusammenhängt. In der Mitte der Erzählung wird mit dem Erzählstrang zu Clays Freund Julian, der sich als Prostituierter betätigt und seinen Körper an ältere Männer verkauft, das Moment der sexuell-autoaggressiven Gewalt eingeführt. Gegen Ende des Textes wird die deutlichste und exzessivste Form der Gewalt, die Gewaltausübung gegen Menschen, dargestellt. Mit dem ersten Satz des Textes, „People are afraid to merge on freeways in Los Angeles“520, der, wie im Kapitel zur Sprache und Kommunikation ausführlich dargelegt wurde, neben der situations- und ortsspezifischen Information zum Autobahnsystem eine symbolisch zu lesende sozial-psychologische Information zur Unfähigkeit der Menschen, eine Bindung mit anderen einzugehen, bietet, wird das Moment der Gewalt behutsam in die Narration eingeführt. „People are afraid to merge“, so die oft im Text wiederholte verkürzte Form des ersten Satzes – die Menschen haben Angst sich zu verbinden, zu vereinigen. Die allgemeine unpersönliche Form „people“ lässt sich auf den engen Kreis von Clays Freunden und Familie übertragen; in seinem Elternhaus findet er niemanden vor – „Nobody’s home“521 –, der ihn nach seiner langen Abwesenheit begrüßt. Die subtile Form der Gewalt besteht hier in der Abwesenheit der Anderen und in ihrer Weigerung, mit ihm in Kontakt zu treten und die Kommunikation aufzunehmen. Die Gewalt äußert sich auch in der Weigerung seiner Familie, seiner Freunde oder seines Psychiaters, also der Personen, die eigentlich die Kommunikation aufgrund ihrer Rolle leisten sollten, mit ihm in Kontakt zu treten. Die Kommunikation passiert stattdessen größtenteils nur noch in ihrer medialen Simulation. Die einzigen moralisch-ethischen Richtlinien werden von zwei TVPredigern präsentiert, die nur noch als ironische Simulation von Religion, Ethik und Moral gelesen werden können. [T]here are these two guys, priests, preachers maybe, on the screen, forty, maybe fortyfive, wearing business suits and ties, pink-tinted sunglasses, talking about Led Zeppelin records, saying that, if they’re played backwards. They possess alarming passages about the devil.‘ [...] The man begins to talk about how he’s worried that it’ll harm the young people. ‚And the young are the future of this country,‘ he screams, and then breaks another record. 522

520 Ellis: Less Than Zero, S. 9. 521 Ebd., S. 10. 522 Ebd., S. 87.

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In der Schilderung der Außenwelt wird die Gewalt gespiegelt und die künftige sich steigernde Entwicklung vorweggenommen. „A heavy gust of wind rocks the car for a moment [...]. Blair has to stop the car since there are these five workmen lifting the remains of palm trees that have fallen during the winds and placing the leaves and pieces of dead bark in a big red truck.“523 Auch später im Text bleibt die Natur ein unheimlicher und unheilvoller Spiegel der Gewalt. „The dog would bark all night and when I’d wake up to tell it to be quiet, it would look freaked out, its eyes wide, panting, shaking“524. Die Menschen strahlen ebenfalls eine animalisch-unheimliche Gewalt aus und tragen vampirhafte Züge. „[O]ne of the girls in line stares at me and smiles, her wet lips, covered with this pink garish lipstick, part and she bares her upper teeth like she was some sort of dog or wolf, growling, about to attack“525. Die erste Gewaltszene, die über die Gewalt der verweigerten Kommunikation hinausgeht, erlebt Clay als passiver Beobachter. Bezeichnenderweise ist die Schilderung der Szene als kursiv gesetztes und im past-tense erzähltes Erinnerungskapitel deutlich von der fortlaufenden Erzählung abgesetzt. Gewalt erfährt der Erzähler zu Beginn somit lediglich in der passiven Beobachterrolle und als Erinnerung; die Gewalt wird also gleich zweifach aus der Narration enthoben und isoliert. Clay berichtet von einem Autounfall, den er zusammen mit seinen Schwestern auf einer nächtlichen Autofahrt durch die Wüste in Palm Springs erlebt hat. „The front windshield was smashed open and a Mexican woman was sitting on the curb, on the side of the highway, crying. There were two or three kids, Mexican also, standing behind her, staring at the fire, gaping at the rising flames“526. Clay hält entgegen des Wunsches seiner Schwestern nicht an, obwohl auch er schauen will. „I had an urge to stop, but I didn’t. I slowed down, and then drove quickly away and pushed back in the tape my sisters had taken out when they first saw the flames, and turned it up, loud, and drove through every red light until I got back to our house.“527 Die Erinnerung an den Unfall und an ein totes Kind, das Clay gesehen zu haben meint, beschäftigen ihn noch lange. „I don’t know why the fire bothered me, but it did, and I had these visions of a child, not yet dead, lying across the flames, burning.“528 Das Erlebte bewirkt eine starke emotionale Reaktion bei Clay, sowohl während der nächtlichen Autofahrt, also unmittelbar beim Sehen des Unfalls, als 523 Ebd., S. 10. 524 Ebd., S. 70. 525 Ebd., S. 178. 526 Ebd., S. 76. 527 Ebd., S. 76. 528 Ebd., S. 76.



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auch in seinen späteren Erinnerungen und Verarbeitungsmechanismen. Sein „urge to stop“, der nicht aus dem Motiv des Helfens, sondern aus seiner Schaulust entspringt, zeigt, wie sein plötzlicher Fluchtinstinkt und sein Versuch, das Gesehene mittels lauter Musik zu überdecken und zu überschreiben, den hohen emotionalen Wert, den die Gewalt des Unfalls bei Clay auslöst. Die Gewalt fasziniert, „I had an urge to stop“, und stößt gleichzeitig ab, „[I] drove quickly away“. Clay kann die Gewalt jedoch nicht verarbeiten und hat Visionen von einem in den Flammen verbrennenden Kind. Zudem bewirkt der Kontakt mit der seinen emotionalen Haushalt überfordernden Gewalt eine intensive Beschäftigung mit weiteren Gewaltphänomenen. Er beginnt, Zeitungsartikel zu sammeln, die sich mit Gewalt und Tod beschäftigen: „one about some twelve-year-old kid who accidentally shot his brother [...]; another about a guy [...] who nailed his kid to a wall [...] and then shot him [...] and one about a man who calmly and purposefully ran over his ex-wife“529. Das Sammeln der Ausschnitte scheint eine Strategie zur psychischen Verarbeitung und damit, mit Freud gedacht, zum Vergessen der traumatischen Erlebnisse zu sein; es stellt also eine Art Selbsttherapie dar. Zugleich manifestieren die Artikel jedoch den mit dem Unfall eingeführten Aspekt der Gewalt und dehnen die Beschäftigung mit dieser sowohl für den Leser – rezeptionsästhetisch verstanden – als auch für den Erzähler aus. In der innerfiktionalen Realität Clays führt das Sammeln somit zum Vergessen der Gewalt, in der außerfiktionalen Realität des Lesers bewirkt das Sammeln jedoch das Gegenteil, die Gewalt steigert sich deutlich – bereits rein quantitativ durch die ausführliche Schilderung des Inhaltes der Artikel – und wird stärker präsent. Die erste Gewaltszene, in der die Gewalt nicht aus einem nichtintendierten Unfall herrührt, sondern willentlich erzeugt und als Selbstzweck erlebt wird, findet medial statt. Auf einer Party sieht Clay mit seinen Freunden ein SnuffVideo530, in dem ein Mann einen sechzehnjährigen Jungen und ein fünfzehnjähriges Mädchen vergewaltigt und misshandelt. Wie in Kapitel 4.1 gezeigt wurde, erfolgt bei den Zuschauern keinerlei Reaktion oder Intervention auf das Gezeigte; Clay verlässt lediglich kommentarlos den Raum der Wiedergabe. 529 Ebd., S. 77. 530 Susan Sontag weist darauf hin, dass die Pornographie, die in den Texten Ellis’ omnipräsent ist und sich hier in Form des Snuff-Videos in ihrer extremsten Form zeigt, in direkter Verbindung zum Tod und nicht zum Sexuellen und damit zum Leben steht. Sie bemerkt, „daß es in der Pornographie letztlich nicht um das Sexuelle geht, sondern um den Tod“ und dass „jedes wahrhaft obszöne Bestreben [...] auf die Befriedigung im Tod gerichtet [ist], die der Befriedigung des Eros folgt und sie übertrifft.“ Sontag, Susan: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt am Main 92009, S. 74 f.

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Die Szene beginnt mit der Ankündigung der Gewalt: „Hey, Trent, it’s on, dude“531. Das kommende Geschehen wird als Spektakel verstanden und rezipiert; erwartungsvoll treffen sich die Partygäste im Schlafzimmer und schauen gespannt auf den großen Bildschirm, auf dem die Übertragung des Videos zu sehen ist. Clays Beschreibung des Filmgeschehens ist sachlich und neutral und entspricht formal dem minimal realism532: „There’s a young girl, nude, maybe fifteen, on a bed, her arms tied together above her head and her legs spread apart, each foot tied to a bedpost. She’s lying on what looks like newspaper.“533 Clays kühle und emotionslose Schilderung des Videos beschränkt sich auf die Beschreibung des Gesehenen, seine physische oder psychische Reaktion auf die Bilder benennt er nicht. Die Gewaltszene, die in der passiven Rezeption eines Snuff-Videos besteht, in der also von den Protagonisten keine aktive Gewalt ausgeübt wird, stellt in dem Text den Beginn der sich steigernden Gewalt dar. Das Medium der Gewalt, der Film, ist deutlich markiert, „The film’s in black and white and scratchy“534; somit bleibt der Charakter der Gewalt als mediale Wiedergabe sowohl den innerfiktionalen Rezipienten als auch dem außerfiktionalen Leser stets bewusst. Der Film stellt sich selbst in seinen Filmspezifika als Film – und damit als Fiktion – aus. Zugleich stellt der Film jedoch ein hybrides Medium dar, da er als Snuff-Video Realität abbildet, die lediglich medial dokumentiert wird. Somit ist das Video einerseits aufgrund der Bewusstwerdung des Mediums der Fiktion, andererseits aufgrund des spezifischen Charakters des Videos der Realität zuzurechnen – die Gewalt schwankt in dieser Szene zwischen den Polen Realität und Fiktion. Clays Beschreibung des Filmes erfolgt weiterhin im neutralen Ton des minimal realism und betont mit der Erfassung der filmischen Techniken das Medium. „The camera cuts quickly to a young, thin, nude, scared-looking boy, sixteen, maybe seventeen, being pushed into the room by this fat black guy [...] the boy stares at the camera for an uncomfortably long time“535. Bei der Erwähnung des Blickes des Jungen in die Kamera erfolgt die erste Benennung einer emotionalen Reaktion von Clay, die die neutrale Schilderung unterbricht. Clays Reaktion erfolgt jedoch nicht auf eine auffallend grausame Szene, sondern, ganz im Gegenteil, auf eine Szene, in der die Gewalt kurz suspendiert ist. Er reagiert auf den Blick des Anderen in die Kamera, der zum einen den Kontakt zwischen dem Jungen/Opfer und dem Rezipienten/Täter herstellt – er schaut Clay, der 531 Ellis: Less Than Zero, S. 152. 532 Vergl. hierzu: Leypoldt: Casual Silences, S. 236 ff. 533 Ellis: Less Than Zero, S. 153. 534 Ebd., S. 153. 535 Ebd., S. 153.



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mit der Kamera schaut, direkt in die Augen – und der zum anderen mit dem Blick auf und in das Medium das Medium selbst präsentiert und exponiert. Für eine „uncomfortably long time“ steht Clay in einer Beziehung zu dem Anderen; das anonyme Opfer schaut ihn an und er schaut – über den Bildschirm – scheinbar zurück. Der reale Charakter des Videos offenbart sich in der Exposition des Mediums durch den Blick des Jungen – in einem fiktionalen Film wäre ein Blick in die Kamera eher nicht gestattet; der Blick zeigt also, dass es sich tatsächlich um ein Snuff-Video handelt. Der Blick macht den Film zur Realität und offenbart den Jungen als reales Opfer, mit dem Clay nun über den Blick in Kontakt steht. Mit dieser Setzung beginnt eigentlich erst die Gewalt, die sich von nun an als real und im Bezug zum Rezipienten erweist. Nach der Vergewaltigung der beiden Jugendlichen, die wiederum emotionslos und im Stil des minimal realism beschrieben wird, „and then he has sex with him [the boy] and then he has sex with the girl“536, erfolgt eine Folterszene, die als Vorwegnahme der in „American Psycho“ folgenden Szenen gelesen werden kann. „And then he takes out an ice pick and what looks like a wire hanger and a package of nails and then a thin, large knife and he comes toward the girl“537. Die Reaktion der anderen Zuschauer ist bemerkenswert: „Daniel smiles and nudges me in the ribs.“538 Clay verlässt jedoch den Ort der Wiedergabe „as the black man tries to push a nail into the girl’s neck“539. Eine weitere Reaktion erfolgt nicht; selbst Clays Freundin Blair verlässt lediglich das Zimmer. Am Ende der Szene steht die in Kapitel 4.1 beschriebene merkwürdige nahezu idyllische Vermischung der Gewalt des Videos mit der scheinbar harmonischen Außenwelt. In der Vermischung zeigt sich jedoch, dass es ein ‚Außen‘, das jenseits der Gewalt steht, nicht gibt; die Gewalt, die Schreie des Mädchens, werden Teil des ‚Außen‘, das ‚Außen‘ wird Teil der Gewalt. I sit in the sun and light a cigarette and try to calm down. [...] I can hear the waves and the sea gulls crying out and I can hear the hum of the telephone wires and I can feel the sun shining down on me and I listen to the sound of the trees shuffling in the warm wind and the screams of a young girl coming from the television.540

Eine Reflexion oder eine Intervention erfolgt nicht; dennoch versucht Clay „to calm down“, eine emotionale Reaktion auf die Gewalt ist also festzustellen, 536 Ebd., S. 153. 537 Ebd., S. 153. 538 Ebd., S. 153. 539 Ebd., S. 153. 540 Ebd., S. 154.

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wenngleich sich diese nicht in einer Aktion äußert. Die anderen Rezipienten zeigen stärkere Reaktionen, die sich zwischen sexueller Erregung und der Diskussion über die Authentizität des Filmes bewegen. Am Ende steht der Wunsch, dass der Film Realität zeige, authentisch sei: „I mean, like, how can you fake a castration? They cut the balls off that guy real slowly. You can’t fake that.“541 Die nächste Gewaltszene erlebt Clay nicht nur als Beobachter, sondern als Bestandteil des Arrangements. Er begleitet seinen heroinabhängigen Freund Julian, der sein Geld verdient, indem er seinen Körper an ältere Männer verkauft, zu einem Kunden in ein Hotelzimmer. Im Vergleich zur vorigen Szene hat sich die Personen- und Gewaltstruktur geändert. So ist Clay zwar immer noch passiver Beobachter, wird aber in dieser Rolle integraler Bestandteil der Szene. Im Gegensatz zur Rezeption des Videos, die keinen Einfluss auf das Video und die Gewalt hat, ist sein Schauen nun in die Gewalt eingebunden. Zudem ist die Gewalt nicht mehr lediglich in der medialen Repräsentation erlebbar, sondern real ‚sicht-‘ und ‚erfahrbar‘; die Distanz, die sich durch das Medium Film und dessen Betrachtung auf einem Bildschirm ergab, fällt nun weg. Die anonymen Protagonisten werden durch Clays Freund Julian ersetzt; der kurze Kontakt, der sich durch Clays Blickwechsel mit dem Opfer in dem Gewaltvideo ergab, wird durch den engen persönlichen Kontakt von Clay und Julian übertroffen. Die Gewalt ist personell und strukturell enger an Clay angebunden – wenngleich er selbst aktiv keine Gewalt ausübt. Clay ist sich seiner Intention völlig bewusst: „That I want to see if things like this can really happen [...] that I want to see the worst.“542 Clays Motivation beruht nicht auf dem Wunsch, Julian beizustehen oder gar zu retten, sondern entspringt allein seiner egoistischen Neugier, „the worst“ zu erleben. „Ellis’s characters are driven to extremes in their efforts to experience something. To feel.“543 Allein das Extremum kann noch Gefühle produzieren. Clay verhindert jedoch nicht die Gewalt, die in der sexuell-autoaggressiven544 Prostitution Julians besteht, sondern wird Teil dieser und macht ihre Entstehung erst möglich. Seine 541 Ebd., S. 154. 542 Ebd., S. 172. 543 Young: Vacant possession, S. 33. 544 In „Less Than Zero“ sind autoaggressive Handlungen auffallend oft festzustellen. So kann der ständige exzessive Drogen- und Alkoholmissbrauch ebenso wie die Essstörungen einiger weiblicher Figuren und die promiskuitive Sexualität als Symptom dieser verstanden werden. Steur weist in seiner Untersuchung 35 Belege zu Kokain, fünf zu Heroin und 28 zu „joint“ nach. Steur: Der Schein und das Nichts, S. 81 f.



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Einbindung in die Szene wird durch die genauen ‚Regieanweisungen‘, die Julians Kunde Clay erteilt, deutlich. „Oh no, this won’t do. Why don’t you sit over there, near the window. [...] No music. I want you to hear it all. Everything.“545 Die Reduktion Julians auf ein zu kaufendes Objekt, dessen erforderliche Qualität allein in der äußeren Ästhetik besteht, bewirkt eine Ästhetisierung und Skulpturalisierung des Körpers des Individuums. „Yes, you’re a very beautiful boy [...] and here, that’s all that matters.“546 Die Gewalt nimmt die Identität Julians nicht wahr und zerstört diese in dem Akt der Ästhetisierung des Körpers und dem folgenden Missbrauch der Mensch-Skulptur. In seiner emotionslosen Neugierde „to see the worst“ und der Degradierung seines Freundes Julian zu einem Objekt, das ihm eben dieses zeigen soll, entspricht auch Clays Verhalten strukturell dem des Kunden; auch Clay ‚benutzt‘ Julian und übt so, gerade durch seine passive Beobachterrolle, Gewalt aus. Zugleich weist das Schauen des Voyeurs eine Nähe zum Kauf, zum Konsum, des Anderen auf und ist somit strukturell in die hedonistische Konsumwelt des Textes eingebunden. Der Kauf der Dinge, der ausführlich im Text dargelegt wird, wird auf die Möglichkeit des Kaufes der Menschen ausgeweitet. Kurz vor dem Beginn der sexuellen Aktivitäten begibt sich Clay in das Badezimmer des Hotelzimmers und versucht vergeblich, sich zu übergeben. Das Motiv des Sich-Übergebens lässt sich unterschiedlich lesen. Zuerst lässt sich Clays Ekel, den die sexuelle Käuflichkeit Julians und seine eigene Einbindung in diese hervorrufen, als Ursache festhalten. Versteht man mit Freese das Motiv im Sinne der Initiationsreise als „purificatio [...], [wodurch sich] der Held gleichsam aller Überreste eines nun überwundenen Zustandes entledigt“547, so lässt sich das Scheitern dieser Bemühungen als verpasste Initiation Clays deuten; der Übertritt in den neuen Zustand misslingt. Folglich findet keine Entwicklung statt – ob diese nun vom moralisch indifferenten zum ethisch-moralischen Handelnden oder, ganz im Gegenteil, zum völlig wertfreien Nihilisten wie Julian oder Rip führen soll, lässt der Text offen. Die moralische Indifferenz der Erwachsenen in „Less Than Zero“ legt allerdings den Schluss nahe, dass die Entwicklung sicher nicht zum Moralisten geführt hätte. Zugleich lässt sich in der Vomitation die Exposition des Körpers, der im Text mittels Drogen- und Alkoholmissbrauch, Essstörungen, exzessiver Promiskuität und Gewalt bestraft und negiert wird, lesen. Der Körper wird durch das Erbrechen wieder präsent und steht aufgrund seiner Reaktion wieder im Fokus der Erzählung. Der körperliche Akt stellt in der Szene den einzigen Kommentar zu 545 Ellis: Less Than Zero, S. 175 f. 546 Ebd., S. 175. 547 Freese: Der Initiationsreise-Roman, S. 171.

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dem Geschehen dar; im Vomieren stellt der Körper – im Gegensatz zum Gewissen Clays – die Unhaltbarkeit der gezeigten Zustände performativ aus und füllt somit die Leerstelle, die Clays Erzählung schafft. Bezeichnenderweise vermag jedoch selbst der Körper in seiner archaischen Äußerung nicht mehr einen ‚lesbaren‘ Kommentar zu kommunizieren; das Erbrechen gelingt nicht,548 „I wipe my mouth and then come back into the room“549. Am Ende der Szene versagt die sprachliche Fassbarkeit, die Erzählung reduziert sich auf kurze, unkommentierte, parataktisch andeutende Momentaufnahmen. I light a cigarette. The man rolls Julian over. Wonder if he’s for sale.550 I don’t close my eyes. You can disappear here without knowing it.551

Wenig später wird die in der Wiedergabe des Snuff-Videos dargebotene simulierte Gewalt nun aktiv und real ausgeführt. Das Setting der Szene weist große Ähnlichkeit mit Clays Beschreibung des Settings im Video auf. „There’s a naked girl, really young and pretty, lying on the mattress. Her legs are spread and tied to the bedposts and her arms are tied above her head.“552 Der neutral-sachliche Ton entspricht wiederum dem minimal realism. Spin, ein Freund von Clay, spritzt dem zwölfjährigen Mädchen etwas, vermutlich Heroin, in den Arm. Kurz danach beginnt er den sexuellen Missbrauch des Mädchens mit der Aufforderung „You

548 Baudrillard findet noch ein anderes Motiv für das Erbrechen: „Es stimmt auch, daß uns nichts mehr richtig anekelt. In unserer eklektischen Kultur, die der Auflösung und Promiskuität aller anderen Kulturen entspricht, ist nichts inakzeptabel, daher wächst der Ekel und die Lust, diese Promiskuität, diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Schlimmeren und diese Zähigkeit der Gegensätze auszukotzen. Und in diesem Maße wächst auch der Ekel über den nicht vorhandenen Ekel.“ Baudrillard: Transparenz des Bösen, S. 86. 549 Ellis: Less Than Zero, S. 176. 550 Ellis nimmt hier ein Motiv wieder auf, das den gesamten Text über präsent ist. Clay hört es zuerst von seiner Schwester – „I wonder if he’s for sale“ (S. 23) –, wobei sich die Vermutung eigentlich nicht wie bei Clay auf seinen Freund Julian bezieht, sondern auf einen anderen Jungen. Das Motiv der Käuflich­keit der Menschen und damit ihre Extension im Turbo-Kapitalismus von der Ding-Ware zur Menschen-Waren symbolisiert die gezeichnete Welt und zeigt, dass die Welt von „Less Than Zero“ als Vorläufer der Welt von „American Psycho“ gelesen werden kann. 551 Ellis: Less Than Zero, S. 176. 552 Ebd., S. 188.



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can watch if you want“553 an seine Freunde. Clay nimmt die Rolle des Schauenden, die, wie an der Prostitution Julians im Hotel gezeigt wurde, zwangsläufig integraler Bestandteil der Gewalt wird und Clay somit zum Täter macht, im Gegensatz zu den vorigen Gewaltszenen nicht an, sondern verlässt den Raum. Clays Freund mit dem sprechenden Namen Rip, in dessen Schlafzimmer die Vergewaltigung stattfindet, folgt Clay und beginnt das in Kapitel 4.1 ausführlich analysierte Gespräch über Recht und Moral. Gegen Ende des Textes mehren sich die Hinweise auf Gewalt und Tod, die scheinbar beiläufig in die Erzählung eingefügt werden. So beginnt ein Kapitel mit einer unkommentierten Aufzählung diverser Vorkommnisse: Before I left, a woman had her throat slit and was thrown from a moving car in Venice; a series of fires raged out of control in Chatsworth, the work of an arsonist; a man in Encino killed his wife and two children. Four teenagers [...] died in a car accident[...]. Muriel was readmitted to Cedars-Sinai. A guy, nicknamed Conan, killed himself at a fraternity party at U.C.L.A.554

Die Gewalt durchzieht den Text und wird zunehmend mit der Erzählung verwoben. Sie erfährt eine Bedeutungssteigerung, da sie sowohl mittels der innerfiktionalen Medien verbreitet als auch von den Figuren aufgenommen und produziert wird. „I see a story about how a local man tried to bury himself alive in his backyard because it was ‚so hot, too hot.‘“555 Die Progression der Gewalt wird durch ihre prägnante Setzung an das Ende der Erzählung und an die jeweiligen Kapitelanfänge besonders signifikant. Das Ende der Erzählung wird bereits frühzeitig durch die jeweiligen Satzanfänge der oftmals nur aus einigen Zeilen bestehenden Kapitel angekündigt.556 Hierbei wird das Ende von Clays Aufenthalt, der das Ende der Erzählung markiert, aus verschiedenen zeitlichen Perspektiven betrach553 Ebd., S. 189. 554 Ebd., S. 195 f. 555 Ebd., S. 198. 556 Rückläufig gezählt: Kapitel 15: „The week before I leave [...]“ S. 192. Kapitel 13: „The week before I leave [...]“ S. 193. Kapitel 11: „Before I left [...]“ S. 195. Kapitel 9: „The last week [...]“ S. 197. Kapitel 5: „Before I leave [...]“ S. 202. Kapitel 4: „[...] the night before I leave“ S. 205. Kapitel 3: „And before I left [...]“ S. 206. Kapitel 2: „When I left [...]“ S. 207. Kapitel 1 Ende: „After I left [...]“ S. 208.

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tet. In der Ankündigung liegt die Abreise noch in der Zukunft, „The week before I leave“557, dann erfolgt die zeitgleiche Beschreibung, „When I left“558, und schließlich der Rückblick in die Vergangenheit, „After I left“559. Das Ende wird somit als fester Punkt in der Zeitlichkeit der Narration etabliert, um den sich die Erzählung organisiert. Um diesen Punkt werden Gewaltszenen und Szenen, in denen der Verfall und die Dekadenz der Gesellschaft – „On Beverly Glen I’m behind a red Jaguar with a license plate that reads DECLINE and I have to pull over.“560 – dargestellt werden, angelegt. Der Fluchtpunkt dieser Szenen ist Clays Abreise aus Los Angeles; auf diesen Punkt ist sowohl die Struktur der Erzählung als auch Clays Handeln und Denken561 zunehmend ausgerichtet. So wird der Spruch, den Clay auf einer Werbetafel gelesen hat, nochmals aufgenommen – „Disappear Here“562 – und, von seiner ursprünglichen Bedeutung gelöst, wörtlich verstanden. Clay will nun aus Los Angeles verschwinden, um dort nicht zu verschwinden.563 Die Ambivalenz des „Disappear Here“, das als Flucht und als Verschwinden gelesen werden kann, kumuliert in den letzten Kapiteln und verbindet sich mit der Sphäre der Gewalt. Am Ende stehen Bilder, die symbolisch das sprachlich und gedanklich nicht mehr Fass- und Erinnerbare ausdrücken. There was a song I heard when I was in Los Angeles by a local group. The song was called ‚Los Angeles‘ and the words and images were so harsh and bitter that the song would reverberate in my mind for days. [...] The images I had were of people being driven mad by living in the city. Images of parents who were so hungry and unfullfilled that they ate their own children. Images of people, teenagers my own age, looking up from the asphalt and being blinded by the sun. These images stayed with me even after I left the city. Images so violent and malicious that they seemed to be my only point of reference for a long time afterwards. After I left.564 557 Ebd., S. 192. 558 Ebd., S. 207. 559 Ebd., S. 208. 560 Ebd., S. 199. 561 „It was time to go back. I had been home for a long time.“ Ebd., S. 207. 562 Ebd, S. 204. 563 Seine Freundin Blair deutet sein allmähliches Verschwinden an. „Everything was allright for a while. You were kind. [...] But it was like you weren’t there.“ Der letzte Satz in dem Kapitel zu Julians Prostitution benennt es genau: „You can disappear here without knowing it.“ Ebd., S. 204 und S. 176. 564 Ebd., S. 207 f.



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Clays individuelle und persönliche Erlebnisse seines Besuches in Los Angeles werden nach seiner Rückkehr an das College von Bildern überdeckt und überschrieben. Nicht seine Erinnerungen, die sich aus seinen ‚realen‘ Erlebnissen zusammensetzen, sondern Bilder, die offensichtlich einer Medialisierung entstammen, vermögen die ‚Wahrheit‘ über Los Angeles besser auszudrücken. Die Artifizialität des konstruierten Bildes erfasst und kommuniziert die Realität besser als die Sprache und die damit verbundene Erinnerung. An Clays Versuch, mit Rip nach dessen Vergewaltigung eines jungen Mädchens eine Diskussion über Ethik und Moral zu führen – „I don’t think it’s right.“565 – konnte gezeigt werden, dass die Sprache diese Themen kaum noch greifen und kommunizieren kann. In Clays Fragen fallen die Auslassungspunkte auf, der Sprache fehlen die Wörter; die Punkte zeigen die entstandene Leerstelle graphisch auf. Am Ende des Textes verliert die Sprache nun völlig die Macht, das Geschehen der Gewalt zu erfassen und zu benennen; am Ende stehen nur noch Bilder. Die Bilder zeigen die allumfassende Gewalt und den Verfall auf. Die Familie erweist sich als kannibalische Falle, die Wärme und das Licht der Sonne als gefährliche Strahlung566 – Natur und Gesellschaft, gerade in ihren scheinbaren leben- und schutzspendenden Instanzen, offenbaren sich als Quellen der Zerstörung und des Verfalls. „‚Hungry ... unfullfilled ...‘ This is the centre. This is now the only certainty.“567 Diese Bilder bleiben für Clay der „only point of reference for a long time afterwards.“568 Diese Macht gewinnen die Bilder der Gewalt aus ihrem Status, der sich aus der exzessiven Gewalt ergibt, und der sie aus der Leere der Normalität und der Nicht-Benennbarkeit enthebt. Dies vermag neben der Gewalt lediglich der Drogenmissbrauch, die Pornographie und die extensive Promiskuität569, also Felder, die alle direkt oder indirekt mit der Gewalt verknüpft sind. Insbesondere die Pornographie, die die sexuellen Einschreibungen in den Körper der Darstellerin, die in ihrer Rolle auch als Opfer gesehen werden kann, darstellt und medial fixiert, wird von nahezu sämtlichen Figuren im Text rezipiert. In der pornographischen Darstellung offenbart sich die weibliche Annahme der absoluten 565 Ebd., S. 189. 566 Zur Hitze und Entropie vergl.: Freese: Entropy in the „MTV Novel“?, S. 81 ff. und Freese: From Apocalypse to Entropy and Beyond, S. 452 ff. 567 Young: Vacant possession, S. 36. 568 Ellis: Less Than Zero, S. 208. 569 „Only something which is entirely itself, entirely predictable and entirely immune to being drenched with words and images can hope to satisfy, which is why the use of hard drugs is so omnipresent in advanced consumer societies despite all the rhetoric, so hypnotic in other fields, directed against them.“ Young: Vacant possession, S. 36.

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männlichen Macht570 – und in der Rezeption der Filme571, vor allem mit weiblichen Zuschauern, die Spiegelung dieser Machtstrukturen im Publikum. Der Rezipient übt beim Betrachten symbolisch die Macht aus, die der männliche Darsteller aktiv ausübt; in der Rezeption lässt sich also über den symbolischen Erhalt von Macht eine Fassbarkeit der Welt, ein fester Punkt, konstruieren. Zugleich stellt die Pornographie – wie auch das Einstechen mit der Spritze in den Körper beim Drogenmissbrauch – jedoch auch ein Eindringen in den Körper dar, das jenseits seiner primären sexuellen Funktion in Zusammenhang mit dem gewaltsamen Eindringen mit dem Messer in den Körper des Opfers, wie es Bateman in „American Psycho“ praktiziert, gelesen werden kann. Das Eindringen in den Körper des Anderen, so die These, die an „American Psycho“ belegt werden soll, stellt den Versuch der Kompensation der missglückten Kommunikation dar; eine Verbindung mit dem Anderen ist nur noch mit Gewalt möglich. Das ‚Innere‘ des Anderen zeigt sich nur noch in der pornographischen Aufnahme oder im gewaltsam aufgeschnittenen Körper.572 In „Less Than Zero“ legt Ellis eine Welt an, in der die Sprache die Benennung, insbesondere die Benennung und Diskussion der Gewalt, nicht zu leisten vermag. Die Gewalt, der Drogenmissbrauch, die Pornographie573 und die Promiskuität stehen jedoch jenseits der Nicht-Benennbarkeit, da sie, wie in den letzten Sätzen des Textes deutlich wird, Bilder schaffen, die, im Gegensatz zur Sprache, die Erfassung und Kommunikation der Welt noch gewährleisten können. Die Gewalt wird somit als machtvolles Instrument der nichtsprachlichen Kommunikation etabliert. Einzig Bilder – vor allem Bilder, die aufgrund ihres gewaltsamen Charakters eine besondere Kraft entfalten, eine Kraft, die so stark

570 Vergl.: „The [woman’s] body in porn ‚speaks‘ this willing contraction of the self in gestures of total receptivity to the male – spread legs, for example.“ Bordo, Susan: Reading the Male Body. In: The Male Body: Features, Destinies, Exposures. Hrsg. v. Laurence Goldstein. Ann Arbor 1994, S. 265–306, hier S. 276. 571 In der Rezeption der pornographischen Filme findet ein Konsum von Körpern statt, der strukturell dem hypertrophen Konsum der Dinge ähnelt. Die Körper werden zur Ware und wie Ware konsumiert. Der käufliche Erwerb von pornographischen Magazinen in „American Psycho“ zeigt die Käuflichkeit der menschlichen Körper – und damit der Menschen – auf. 572 Der englischsprachige Begriff für Pornographie, „hard-core“, lässt sich mit der These der Arbeit trefflich verbinden. Bateman versucht den „harten Kern“ des Anderen zu erkunden – die Pornographie behauptet mit ihrem Namen, diesen zu zeigen. 573 Die Pornographie ist in „Less Than Zero“ – und auch später in „American Psycho“ – so virulent, dass sich Sontags Feststellung, dass die „Pornographie [...] zu einem Phänomen der Gruppenpathologie, zur Krankheit einer ganzen Kultur [wird]“, am Text belegen lässt. Sontag: Kunst und Antikunst, S. 50.



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ist, dass sie nicht mehr zu verbalisieren ist – verfügen über das Potenzial, die Welt zu beschreiben. Clay erfährt die Gewalt als passiver und verstörter Beobachter; er übt keine Gewalt aktiv aus. Die Funktion, die die Gewalt im folgenden Text „American Psycho“ für Patrick Bateman einnehmen wird, ist in den letzten Zeilen von „Less Than Zero“ bereits angelegt. Der Text hat den allgemeinen Verfall sämtlicher Institutionen gezeigt; lediglich die Gewalt kann – zu Clays Unbehagen – die Bindung und Kommunikation der Menschen noch leisten. Bateman wird die Gewalt, wie sie in „Less Than Zero“ etabliert wurde, aufnehmen und zu seinem Instrument machen. Er wird Clays passive Beobachterrolle aufgeben und selbst Gewalt ausüben. Der theoretische Rahmen der Gewalt bleibt jedoch erhalten; Bateman ist der aktive Bruder von Clay.

5.2 GEWALT IN „AMERICAN PSYCHO“

In „American Psycho“ erfährt der Erzähler die Gewalt nicht mehr wie in „Less Than Zero“ als passiver Beobachter, sondern übt selbst aktiv Gewalt exzessiv aus. Die spezifische Form der Gewalt, die sich in extensiven Folterszenen manifestiert, führt die in „Less Than Zero“ angelegte Misshandlung und Folterung fort und etabliert diese, wie gezeigt werden soll, als Mittel der Kontakt- und Kommunikationsaufnahme in einer Welt, in der, wie in Kapitel 4.1 und 4.4 dargestellt wurde, die Sprache als Medium der Kommunikation versagt. Bereits im ersten Satz des Textes ist die Gewalt präsent: „ABANDON ALL HOPE YE WHO ENTER HERE“574. Die Gewalt, vermittelt durch Sprache respektive Schrift, richtet sich gegen den Erzähler Patrick Bateman, seinen Freund Timothy Price und gegen den Leser. Die vielfältigen Lesarten des zitierten Satzes wurden bereits in Kapitel 4.2 untersucht; im Hinblick auf die Gewalt sei jedoch nochmals betont, dass sämtliche Lesarten – und der Charakter der Schrift als vandalistisches Graffiti – eine Sphäre der Gewalt offenbaren. Zugleich eröffnet Dantes Überschrift auch die Möglichkeit, den Text als Höllenfahrt zu lesen. New York würde somit die Hölle darstellen, die Figuren im Text die gequälten Insassen der Hölle. Der letzte Satz „THIS IS NOT AN EXIT“575 würde den geschlossenen und ausweglosen Raum der Hölle mit der geschlossenen Erzählung verbinden. Die Gewalt würde hierbei explizit durch den ersten Satz, der uns den Ort der Handlung, die Hölle, offenbart, eingeführt werden. 574 Ellis: American Psycho, S. 3. 575 Ebd., S. 399.

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Die Sprache zeigt sich von Gewalt geprägt, die Graffitis im ersten Kapitel lauten neben dem zitierten Satz „FEAR“576 und „DYKE“577. Price, wie Bateman ein neureicher Börsenmakler, benennt, indem er aus einer Zeitung die Ereignisse eines einzigen Tages in New York vorliest, das gewaltsame Pandämonium der Moderne: „strangled models, babies thrown from tenement rooftops, kids killed in the subway, [...] Nazis, [...] baseball players with AIDS [...], various maniacs, faggots dropping like flies in the streets, [...] baby-sellers, black-market babies, AIDS babies, baby junkies“578. Die gezeichnete Welt, in der „American Psycho“ spielt, ist eine Welt der Gewalt, des Todes und der Grausamkeit. Von den ersten Sätzen an ist die Gewalt im Text angelegt; in den folgenden Sätzen des ersten Kapitels wird sie thematisch entfaltet und vertieft, so dass sich die Prophezeiung des Anfangssatzes erfüllt und mit dem letzten Satz des Textes „THIS IS NOT AN EXIT“579 ein geschlossenes System bildet, aus dem ein Austritt nicht möglich ist.580 Wie in Kapitel 4.2 der Arbeit gezeigt wurde, dominiert zu Beginn des Textes die Gewalt des Konsums und die damit einhergehende Gewalt der Hypertrophie der Namen; zu einer ersten Szene der körperlichen Gewalt kommt es erst auf Seite 126 mit der Misshandlung des Obdachlosen Al. Die Gewalt findet in dieser Szene in einem Raum statt, der sich aufgrund seiner geographischen und sozialen Situation – Bateman befindet sich in einem vernachlässigten Viertel in der 12th Street – grundlegend von den anderen Räumen im Text unterscheidet.581 Der Raum wird zusätzlich durch eine Charakterisierung, die Anleihen bei Raumbeschreibungen in Thriller- oder Horrortexten macht, der Erzählung enthoben. „My watch has stopped so I’m not sure what time it is.“582 Die strukturbildende Instanz der Zeit fällt bereits mit Betreten der Szene weg; Bateman bewegt sich nun in einem atemporalen Raum. Die zweite ordnende Instanz, der Raum, wird durch das Personal, „Black guys pass 576 Ebd., S. 3. 577 Ebd., S. 4. 578 Ebd., S. 4. 579 Ebd., S. 399. 580 „This in one short chapter, all the major thematic constituents of the book are carefully delineated and interwined. It’s an adult world, an amoral world, a status-driven, foodobsessed world, a world of interchangeable people, a misogynistic world despite its apparent equal opportunities for women and finally a brutal, violent and terrified world.“ Young: The Beast in the Jungle, S. 99. 581 Symbolisch zeigt sich der Unterschied zu den Räumen, in denen sich Bateman normalerweise bewegt, an der Behandlung des Plakats von Les Misérables. Bei Bateman und seinen Freunden hängt das Plakat hinter Glas aufgehängt in der Wohnung, hier liegt es abgerissen auf dem uringetränkten Bürgersteig. 582 Ellis: American Psycho, S. 128.



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by offering crack“583, und durch die Leere und Stille, „The streets are empty; the only noise breaking up the silence is an occasional taxi cruising towards Union Square.“584, deutlich als unheimlicher und gefährlicher Ort markiert. Nach den afro-amerikanischen Drogenhändlern trifft Bateman, dessen rassistische und homophobe Tendenzen evident sind, als nächstes auf ein homosexuelles Paar. „A couple of skinny faggots walk by while I’m at a phone booth checking my messages, staring at my reflection in an antique store’s window.“585 Bateman versucht, mittels des Abhörens seines Anrufbeantworters, Kontrolle zu gewinnen und einen Kontakt zu seiner gewohnten Welt herzustellen. Doch diese Bemühungen gehen im unheimlichen Lachen des Paares unter. „One of them whistles at me, the other laughs: a high, fey, horrible sound.“586 Die gezeichnete Welt erinnert immer stärker an die Welt der unheimlichen Horrortexte. „The moon, pale and low, hangs just above the tip of the Chrysler Building.“587 Nach dem Wegfall der temporalen Ordnung und der Verwandlung des Raumes in eine unbekannte und unheimliche Horrorlandschaft, verlöscht nun auch das Licht. „A streetlamp burns out.“588 Die Orientierungslosigkeit Batemans verstärkt sich weiter, er irrt über den „cracked, urinestained sidewalk“589 und erfährt den halbdunklen, dreckigen und gefährlichen Raum als Feind. In der Charakteristik des Raumes zeigt sich zum einen die Ausnahmesituation, in der sich Bateman befindet, zum anderen spiegelt der unstrukturierte, dunkle, schweigende und nicht lesbare Raum die Kommunikation wieder, die, wie der Raum, für Bateman nicht mehr lesbar und verstehbar ist. In diesem Raum findet Bateman nun den Obdachlosen Al vor. Vor der optischen erfolgt die olfaktorische Charakterisierung. „The stench of some kind of cheap alcohol mixed with excrement hangs here like a heavy, invisible cloud and I have to hold my breath“590. Trotz seines Ekels versucht Bateman nun, den Obdachlosen anzusprechen und eröffnet die Kommunikation mit der Vorstellung seiner Person. „‚Hello,‘ I say, offering my hand [...] ‚Pat Bateman.‘“591 Ungeachtet der ausbleibenden Reaktion seitens des Obdachlosen geht das Gespräch nach dieser direkten Ansprache und Vorstellung normal weiter. „‚You want some money?‘

583 Ebd., S. 128. 584 Ebd., S. 128. 585 Ebd., S. 128. 586 Ebd., S. 128. 587 Ebd., S. 128. 588 Ebd., S. 128. 589 Ebd., S. 128. 590 Ebd., S. 128 f. 591 Ebd., S. 129.

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I ask gently. ‚Some ... food?‘“592 Bateman scheint sogar Mitleid mit Al zu haben und reicht ihm eine Fünf-Dollar-Note. „‚Is that what you need?‘“593 Auf die Antwort Als, dass er hungrig sei, antwortet Bateman einfühlsam, dass es ja auch kalt draußen sei und fragt Al, warum er keine Arbeit habe. Obschon der Erzähler behauptet, er frage „genuinely interested“594, zeigt doch der zynische Scherz, den Bateman mit der Frage verknüpft, „Insider trading? Just joking.“595, dass sich die Atmosphäre des Gespräches zu wandeln beginnt. Die Kommunikation gestaltet sich aufgrund Als Indisposition und seiner physischen und psychischen Notlage zunehmend schwieriger, seine Wortbeiträge reduzieren sich auf die Artikulation seines elementaren Bedürfnisses: „I’m hungry.“596 Bateman reagiert gereizt auf den Abbruch der Kommunikation. „‚I know that, I know that [...]. Jeez, you’re like a broken record. [...]‘ My impatience rises.“597 Er versucht vehement, das Gespräch weiterzuführen, indem er die Gesprächsführung übernimmt. „Listen [...] What’s your name? [...] Speak up [...] Come on.“598 Schließlich versiegt das Gespräch erneut in Als redundanten Beiträgen. „You’re so kind, mister. You’re kind. You’re a kind man.“599 Bateman erkennt nun die Sinnlosigkeit des Gespräches und das Versagen der verbalen Kommunikation. Er reagiert mit Gewalt, die sich zuerst in verbaler Gewalt äußert und dann zu einem körperlichen Angriff auf Al ausgeweitet wird. „Do you know how bad you smell? [...] The stench, my god ... [...] You reek of ... shit. [...] [S]top crying like some kind of faggot [...] Al ... I’m sorry. It’s just that ... I don’t know. I don’t have anything in common with you.“600 Eine Kommunikation ist aufgrund der fehlenden ‚Gemeinsamkeit‘ nicht möglich.601 Bateman erkennt Al nicht als mögliches Gegenüber, als möglichen Adressaten an, sondern spricht ihm die Fähigkeit zur Kommunikation ab. Nach dem Scheitern der sprachlichen Kommunikation erfolgt nun eine andere Form 592 Ebd., S. 129. 593 Ebd., S. 129. 594 Ebd., S. 129. 595 Ebd., S. 129. 596 Ebd., S. 129. 597 Ebd., S. 130. 598 Ebd., S. 130. 599 Ebd., S. 130. 600 Ebd., S. 130 f. 601 Der Obdachlose Al stellt in seiner Konsumverweigerung und in seinem selbstgewählten Ausschluss aus der kapitalistischen und statushörigen Gesellschaft den Gegenpol zu Bateman und seinen Freunden dar. Der Verzicht auf den hypertrophen Konsum, der eine der Hauptbeschäftigungen der Figuren ist, und der Verzicht auf die Definition der Anderen und des Selbst mittels Konsum, Geld und Status ist für Bateman eine sein Leben und sein Verständnis in Frage stellende Provokation. Al ist Batemans Gegenbild; alles was er ist, ist Bateman nicht – und umgekehrt.



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der Kontaktaufnahme. Bateman unterscheidet sich hier von Clay, der in „Less Than Zero“ das Scheitern der Kommunikation, etwa im Gespräch mit Rip über Ethik und Moral, tatenlos beobachtet und hinnimmt. Bateman versucht, den ‚Kontakt‘ mit dem Anderen mittels Gewalt wiederherzustellen. Die Gewaltszene wird ausführlich und explizit beschrieben. I pull out a long, thin knife with a serrated edge and, being very careful not to kill him, push maybe half an inch of the blade into his right eye, flicking the handle up, instantly popping the retina. [...] I start stabbing him in the stomach [...] I keep stabbing at the bum now between his fingers, stabbing the back of his hands. His eye, burst open, hangs out its socket and runs down his face and he keeps blinking which causes what’s left of it inside the wound to pour out like red, veiny egg yolk. I grab his head with one hand and push it back and then with my tumb and forefingers hold the other eye open and bring the knife up and push the tip of it into the socket, first breaking its protective film so the socket fills with blood, then slitting the eyeball open sideways, and he finally starts screaming once I slit his nose in two [...].602

Bateman benutzt zur Ausübung der Gewalt ein Messer anstatt einer Pistole, die nicht nur sicherer, das heißt als Waffe aufgrund der aussichtslosen Gegenwehr ungefährlicher zu handhaben wäre, sondern auch schneller und „sauberer“603 wäre. Das Messer erfordert einen viel engeren Kontakt aufgrund der geringen räumlichen Distanz zwischen Opfer und Täter; Bateman befindet sich somit bei seinem Angriff maximal auf Armlänge von Al entfernt. Die Distanz des Messerangriffes entspricht der Distanz einer Unterhaltung. Die gescheiterte Kommunikation wird nun, räumlich betrachtet, in der ‚Kommunikation‘ des Angriffes wiederholt und ausgeführt. Der Stich in das Auge des Opfers bewirkt den Blick des Angreifers auf die Angriffsstelle, in das Auge und in das Gesicht. Bateman schaut beim Angreifen sein Gegenüber genau an, er tritt mittels der Blicke mit ihm in Kontakt und etabliert die Beziehung, die aufgrund der mangelnden ‚Gemeinsamkeit‘ vorher nicht möglich war. Im gewaltsamen Blick erkennt er Al als den Anderen an und ‚spricht‘ mit ihm. Es fällt auf, dass in der gesamten Szene, die im Text über knapp zwei Seiten geht, eine verbale Äußerung von Bateman oder von dem Opfer – und sei es nur ein Schmerzenslaut – nicht erwähnt wird, die Gewalt findet in absoluter Stille statt. Die Sprache ist suspendiert und aufgrund ihres Versagens durch die ‚Sprache‘ der Gewalt ersetzt worden. 602 Ellis: American Psycho, S. 131. 603 Die Dichotomie „sauber“/“schmutzig“, die für den Text von besonderer Bedeutung ist, wird hier erstmals eingeführt. Im Folgenden soll diese noch weiter besprochen werden.

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Das Auge, das in der Gewalt der Blicke nun zerstört wird, steht in der zitierten Stelle weiterhin im Fokus. Das Opfer kann nun nicht mehr zurückschauen, es kann Bateman nicht mehr sehen und nicht mehr mit ihm ‚sprechen‘. Al kann Bateman somit nicht mehr als Anderen und Adressaten etablieren; hierdurch wird die Kommunikation einseitig auf Bateman beschränkt und erfährt ihren drohenden Abbruch. Bateman reagiert, wie bereits beim Abbruch der verbalen Kommunikation, mit gesteigerter Gewalt. In dem ausführlichen Zitat, und mehr noch in der Textstelle in „American Psycho“, in der die Gewalt über zwei Seiten explizit ausgebreitet wird, lässt sich die besondere Funktion der Gewalt festmachen. Ausgehend von Youngs Überlegungen zum Drogenkonsum, „Only something which is entirely itself, entirely predictable and entirely immune to being drenched with words and images can hope to satisfy“604, lässt sich die Gewalt als strukturell verwandt mit dem Drogenkonsum und der Pornographie und als Gegenmittel und Gegenbewegung zur Hypertrophie der Namen lesen. Die Gewalt steht jenseits einer Auflösung in hypertrophe Wortspiele und jenseits einer Signifikatverschiebung. Sie ist, wie später noch ausführlich gezeigt wird, letztlich als unmittelbare evidente Äußerung ihrer selbst zu lesen.605 Die extreme Wirkung der Gewalt auf Bateman wird dem Leser durch die ausführliche Schilderung performativ dargestellt. Der Leser erfährt, indem er von Ellis an die Grenzen des noch Erträglichen geführt wird und dann gezwungen wird, diese zu überschreiten, die Aussetzung der Erzählung in der Gewalt, die jeglichen Text oder Plot in einer unmittelbaren psychischen Ekel- und Schockreaktion untergehen lässt. Die innerfiktionale Gewalt wirkt auch außerfiktional 604 Young: Vacant possession, S. 36. 605 Vergl.: Erika Fischer-Lichte zur Performance Lips of Thomas, die 1975 in der Galerie Krinzinger in Innsbruck präsentiert wurde. Die Künstlerin Marina Abramović entkleidet sich und ritzt sich mit einer Rasierklinge einen fünfzackigen Stern in ihren Bauch. „Blut quoll hervor.“ (S. 9) Dann beginnt sie sich mit einer Peitsche auszupeitschen, „Blutige Striemen erschienen.“ (S. 9) „Wenn die Geste, mit der Marina Abramović sich einen fünfzackigen Stern in die Haut ritzt, als eben dies wahrgenommen wird – und nicht etwa als eine symbolische Handlung, welche die die Einschreibung des Staatssymbols in den individuellen Körper einer Staatsangehörigen bedeuten soll –, so wird sie nicht als in-signifikant wahrgenommen, sondern als eben das, was sie vollzieht. [...] Die Dinge bedeuten das, was sie sind bzw. als was sie in Erscheinung treten. Etwas als etwas wahrzunehmen heißt also, es als bedeutend wahrzunehmen. In der Selbstreferentialität fallen Materialität, Signifikant und Signifikat zusammen. Die Materialität fungiert nicht als ein Signifikant, dem dies oder jenes Signifikat zugeordnet werden kann. Vielmehr ist die Materialität zugleich als das Signifikat zu begreifen, das mit der Materialität für das wahrgenommene Subjekt, das sie als solche wahrnimmt, immer schon gegeben ist.“ Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main 2004, S. 244 f.



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auf den Rezipienten und zeigt so ihre immense Macht, die jenseits einer (Nicht-) Benennbarkeit liegt. Der Leser erfährt die innerfiktionale Gewalt als ‚real‘; er reagiert auf diese unmittelbar. In dem schockierten Zuschlagen des Buches durch den Leser wird die Wirkung der Gewalt, der es aufgrund ihres spezifischen Charakters gelingt, aus dem Buch in die Realität zu diffundieren, sichtbar. Die Art der Beschreibung der Gewalt entspricht den Beschreibungen Clays in „Less Than Zero“ und ist aufgrund ihrer neutralen, emotionslosen und kühlen Art dem minimal realism zuzuordnen. Die Auswirkungen der Gewalttat auf Patrick Bateman sind erstaunlich. „I feel heady, ravenous, pumped up, as if I’d justed worked out and endorphines are flooding my nervous system, or just embraced that first line of cocaine, inhaled the first puff of a fine cigar, sipped that first glass of Cristal.“606 Die Gewalttat wird als genauso anregend und stimulierend empfunden wie die teuren, exklusiven künstlichen Stimulanzien, die Bateman gewöhnlich konsumiert. Es fällt auf, dass die Stimulans nicht mit natürlichen Rausch- oder Glückszuständen verglichen wird, sondern nur mit den ‚künstlichen Paradiesen‘ der Drogen. Ein ‚normales‘ Körpergefühl, das auf die körpereigenen, natürlichen Gefühle reagiert, scheint Bateman abhanden gekommen zu sein. Zudem werden durch die Verbindung der Gewalt mit den künstlichen Stimulanzien ihre Gemeinsamkeiten deutlich; beide bewirken den extremen psychischen und physischen Ausnahmezustand, den die Drogen, die Promiskuität und die Gewalt bereits in „Less Than Zero“ hervorgerufen haben. Bateman sucht nach der Tat das soziale Umfeld seines Opfers auf und besucht ein McDonald’s-Restaurant, wo er einen Vanille-Milchshake, „‚Extra-thick,‘607 I warn the guy“608, bestellt. Sowohl der Raum als auch das konsumierte Produkt stellen einen eindeutigen Gegensatz zu den teuren Restaurants und den exquisiten Speisen, die der kalorienbewusste Yuppie Bateman normalerweise besucht und zu sich nimmt. Bateman imitiert sein Opfer Al, „I decide to go somewhere Al would go“609, und adaptiert dessen Gewohnheiten. „[A]nd take it to a table up front, where Al would probably sit“610. Bateman versucht, indem er Als Leben

606 Ellis: American Psycho, S. 132. 607 Bereits diese Spezifizierung seiner Bestellung zeigt seine Fremdheit und Unkenntnis auf; es ist in einem McDonald’s-Restaurant im Gegensatz zu einem „normalen“ Restaurant im Allgemeinen nicht möglich, eine individuelle Variation seiner Getränke oder Speisen zu bekommen. 608 Ellis: American Psycho, S. 132. 609 Ebd., S. 132. 610 Ebd., S. 132.

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übernimmt – gerade weil er mit Al nichts gemeinsam hat611 – Al als Gegenüber zu etablieren, er sucht mittels des McDonald’s-Besuches eine gemeinsame Basis zu schaffen, die eine Kommunikation ermöglichen kann. Mit dem Verzehr des Milchshakes knüpft Bateman gedanklich wieder an der Prä-Gewalt-Kommunikation an; Al und er haben etwas gemeinsam und können so kommunizieren. Der Versuch, mit der Gewalt die Kommunikation herzustellen, wäre somit überflüssig gewesen. In der Langeweile612, die Bateman jedoch nach kurzer Zeit im Restaurant überfällt, offenbart sich, wie gering die Gemeinsamkeiten sind – Al hätte sicher gerne einige Zeit in der Wärme des McDonald’s verbracht. Bateman trägt von seiner Tat noch sichtbare Spuren an sich; an seinen Jackettärmeln sind Blutspuren festzustellen. Die Bedienung schaut ihn misstrauisch an, „[H]e studies the stains on the Soprani jacket in a way that suggets he’s going to say something about it.“613 Doch als er einen anderen Kunden bedienen muss, „[he] puts out his cigarette and that’s what he does.“614 Die Reaktion, die das Erkennen der Blutflecken, die auf ein Verbrechen hindeuten, fordert, wird durch das banale Ereignis des Erscheinens eines neues Kunden ausgesetzt. Die Erfüllung der kapitalistischen Pflichten des Angestellten überdeckt dessen Gefühl für Gerechtigkeit; der Kunde ist wichtiger als das Unrecht. Nicht nur Bateman, sondern auch die gesamte Gesellschaft scheinen ihr Gefühl für Recht und Moral, das ein Eingreifen erzwingen müsste, vollständig verloren zu haben. Mit dem Ausdrücken der Zigarette der Bedienung endet ähnlich abrupt und folgenlos auch die Erzählung des Ereignisses, bzw. das Kapitel. Eine Reflexion oder eine Erklärung des Erzählten erfolgt nicht. Der Erzähler wendet sich wie die Bedienung nun kommentarlos anderen Geschehnissen zu. Im folgenden Kapitel mit dem Titel „Genesis“ erfolgt auf vier Seiten eine ausführliche und durchdachte Analyse des künstlerischen Schaffens der gleichnamigen Band – ein Kompositionsprinzip, in dem eine popkulturelle Analyse direkt auf Gewalt folgt, welches Ellis auch für die folgenden Gewaltkapitel beibehält.615 Die Kapitel über die Pop-Bands unterscheiden sich im Ton und in der Struktur von den übrigen Kapiteln und bilden so, neben den Kapiteln der Hypertrophie der Namen und des Konsums und neben den Gewaltkapiteln, eine dritte Kategorie der Kapitel. 611 „I don’t have anything in common with you.“ Ebd., S. 131. 612 „I grow bored, tired, the evening seems horribly anticlimatic“. Ebd., S. 132. 613 Ebd., S. 132. 614 Ebd., S. 132. 615 Auf die Gewalt gegen Al folgt ein Kapitel über Genesis, auf die Gewalt gegen Bethany ein Kapitel über Whitney Houston und auf Batemans Massenmord ein Kapitel über Huey Lewis and the News.



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[They are] written in the style of middlebrow AOR rock journalism [...]. The language is sophisticated and emotional – ‚It’s an epic meditation on intangibility, at the same time it deepens and enriches the meaning of the preceeding three albums ...‘ – and much more concerned with feeling and maturity.616

Die Überlegungen zu dem Genesis-Song „Man on the Corner“ konterkarieren Batemans Empfindungen und sein Verhalten hinsichtlich des Obdachlosen. Das Lied, „a moving ballad [...], profoundly equates a relationship with a solitary figure (a bum, perhaps a poor homeless person?), ‚that lonely man on the corner’ who just stands around“617. Die Themen „loneliness, paranoia and alienation“618, die in der Gewaltszene – und im gesamten Text – keine Beachtung finden und die die im Text auffallende Leerstelle bilden, werden nun in der Analyse des Songs benannt und diskutiert. Im Gegensatz zu dem Text „Less Than Zero“, in dem die Musik eine weitere Bedeutungsebene erschließt und in dem mittels der Musik – etwa durch den Titel „Less Than Zero“ – ein Hinweis auf die ethisch-moralische Leerstelle gegeben und zugleich eine kritische Lesart empfohlen wird, ist die Musik in „American Psycho“ nicht direkt ‚lesbar‘. Sie stellt also nicht, wie die kritischen Musikstücke in „Less Than Zero“, die zum großen Teil avantgardistischen Musikrichtungen mit politischem Potenzial entstammen, einen direkten Gegenpol zu den nihilistischen Figuren dar. Das einfache Kompositionsprinzip des Korrektivs – das ‚gute‘ antirassistische Musikstück, das sich gegen die ‚böse‘ rassistische Figurenäußerung behauptet – gibt Ellis in „American Psycho“ im Allgemeinen auf, obschon im Kapitel zu Genesis die Überlegungen zu dem Obdachlosen noch in der Struktur von „Less Than Zero“ gedacht sind. Als Gegenpol zur Gewalt in „American Psycho“ findet sich in den Musikkapiteln eine gewisse gedankliche Sensibilität und Tiefe. Den eigentlichen Gegenpol stellt jedoch das eloquente Nichts der Kapitel dar, in dem die Gewalt des vorangegangenen Kapitels verschwimmt und verschwindet. Anstelle eines Kommentars oder einer Rechtfertigung der Gewalt erfolgt die tiefgehende und sensible Analyse von belanglosen und oberflächlichen Popgruppen. Auf die Gewalt gegen den Obdachlosen Al erfolgt Batemans Misshandlung von zwei Prostituierten. Im Gegensatz zur Sexualität, die über knapp vier Seiten ausführlich und explizit geschildert wird, deutet Ellis die Gewalt am Ende des Kapitels nur kurz an. So werden die Utensilien der Tat, „the nail gun [...] a sharpened coat hanger, a rusty butter knife, matches from the Gotham Bar and Grill 616 Young: The Beast in the Jungle, S. 112. 617 Ellis: American Psycho, S. 134. 618 Ebd., S. 134.

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and a half smoked cigar“619, und das Ergebnis erwähnt: „Tomorrow Sabrina will have a limp. Christie will probably have a terribly black eye and deep scratches across her buttocks caused by the coat hanger.“620 Der genaue Ablauf der Gewalt, die Leerstelle im Text, bleibt jedoch der Phantasie des Lesers überlassen. Die Misshandlung Als führt die extreme und genau beschriebene Gewalt in den Text ein, die Szene mit Christie und Sabrina die explizit dargestellte Sexualität. Die schockierende Verbindung von Gewalt und Sexualität – also die Kombination der Inhalte der beiden Kapitel – wird Ellis wenig später präsentieren. Vorab erfolgt jedoch mit der Tötung von Batemans Arbeitskollegen Paul Owen nochmals die Wiederaufnahme der exzessiven Gewalt.621 Die erste Gewalttat, in der Gewalt und Sexualität verbunden werden, ist die Misshandlung von Bethany, einer Bekannten Batemans aus seiner Studentenzeit. Vor dem Ausbruch der Gewalt in Batemans Wohnung treffen sich beide in einem Restaurant, wo Bateman plötzlich und unerwartet – sowohl für den Leser, dem solche Überlegungen von Bateman bislang fremd waren, als auch für Bethany – einige erkenntnisphilosophische Fragen aufwirft. „I mean, does anyone really see anyone? Does anyone really see anyone else? Did you ever see me? See? What does that mean? Ha! See? Ha! I just don’t get it. Ha!“622 Versteht man „see“ als „sehen“ oder „erkennen“ – und nicht wie die deutsche Übersetzung, die grundsätzlicher von „geben“ spricht, „Hat es mich je gegeben?“623 – lassen sich Batemans Überlegungen auch auf die zerbrochene Kommunikation, wie sie in Kapitel 4.2 dieser Arbeit dargestellt wurde, beziehen. Bateman fragt nun, angesichts der zahllosen Verwechslungen, die eine individuelle Identität in Frage stellen, zu Recht, ob er sieht/erkennt und ob er gesehen/erkannt wird und ob die Vorstellung einer Identität noch zu halten ist. Die Bedeutung der Verben sehen und erkennen scheint in „American Psycho“ zu verschwinden; ein Erkennen ist 619 Ebd., S. 176. 620 Ebd., S. 176. 621 „The ax hits him midsentence, straight into the face, its thick blade chopping sideways into his open mouth, shutting him up. Paul’s eyes look up at me, then involuntarily roll back into his head, then back at me, and suddenly his hands are trying to grab at the handle, but the shock of the blow has sapped his strength. [...] This is accompanied by a horrible momentary hissing noise actually coming from the wounds in Paul’s skull, places where bone and flesh no longer connect, and this is followed by a rude farting noise caused by a section of his brain, which due to pressure forces itself out, pink and glistening, through the wounds in his face.“ Ebd., S. 217. 622 Ebd., S. 238. 623 Ellis, Bret Easton: American Psycho. Deutsch von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Köln 141998, S. 332.



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nicht mehr möglich. Mit der unbefriedigenden Antwort Bethanys, „That has a certain kind of tangled logic to it, I suppose.“624, bricht das Gespräch ab. Auf Bethanys Hinweis, dass Batemans Bild von Onica falsch aufgehängt sei – eine Kapitalismuskritik, denn es zeigt ganz offensichtlich, dass Bateman das Bild nicht aus einem Interesse an der Kunst, sondern lediglich aus Statusgründen erworben hat –, beginnt die erste Gewalttat, in der die Sexualität und die Gewalt ineinander übergehen und miteinander verbunden werden. Bateman schlägt Bethany bewusstlos und nagelt sie mittels eines Bolzenschussgeräts am Boden fest. Zudem betäubt er sein wehrloses und fixiertes Opfer mit Tränengas. The fingers I haven’t nailed I try to bite off, almost succeeding on her left thumb which I manage to chew all the flesh off of, leaving the bone exposed, and then I mace her, needlessly, once more. I place the camel-hair coat back over her head in case she wakes up screaming, then set up the Sony palm-sized Handycam so I can film all of what follows. Once it’s placed on its stand and running on automatic, with a pair of scissors I start to cut off her dress and when I get up to her chest I occasionally stab at her breasts, accidentally (not really) slicing off one of her nipples through the bra. She starts screaming again once I’ve ripped her dress off, leaving Bethany in only her bra, its right cup darkened with blood, and her panties, which are soaked with urine, saving them for later. [...] I take advantage of her helpless state and, removing my gloves, force her mouth open and with the scissors cut out her tongue, which I pull easily from her mouth and hold in the palm of my hand […]. Then I fuck her in the mouth, and after I’ve ejaculated and pulled out, I mace her some more.625

Neben der Gewalt fällt in dem Zitat die filmische Aufnahme der Misshandlung auf, die Bateman bei einem späteren Gewaltakt dem Opfer vorführt. In der Medialisierung wird die Gewalt für Bateman nicht nur aus der Rolle des Betrachters sichtbar, sondern erfährt in ihrer wiederholten Wiedergabe einen repetitiven Charakter. In der Repetition der Gewalt, in dem wiederholten Betrachten dieser, soll sich der Sinn der Gewalt offenbaren, der in der unmittelbaren Ausübung der Gewalt nur kurzzeitig erlebbar ist. Der Moment der Gewalt soll fixiert und zeitlich ausgedehnt werden. Wenn die Gewalt als Mittel der Kommunikation, so die These der Arbeit, Sinn erzeugt, so muss dieser aus dem kurzen Augenblick des Schmerzenslautes gelöst und dauerhaft fixiert werden. Der Moment der Ge-

624 Ellis: American Psycho, S. 238. 625 Ebd., S. 246.

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walt generiert, so hofft Bateman, in der Repetition Sinn.626 Es zeigt sich jedoch, dass der Sinn der Gewalt nicht filmisch fixiert werden kann; Bateman wird auch weiterhin Gewalt ausüben müssen, um den Sinn zu erfahren – ein Betrachten der Aufnahme reicht hierzu offenbar nicht aus. In dem Zitat fällt die direkte Verbindung von Sexualität und Gewalt, der fließende Übergang, der eine Trennlinie verwischt und Sexualität und Gewalt zu einem einheitlichen exzessiven Gesamterlebnis werden lässt, auf. Die psychischen und physischen ‚Ausnahmezustände‘ der Sexualität und der Gewalt, die in „Less Than Zero“ als Gegenpol zur Hypertrophie der Namen und des bedeutungslosen Konsums etabliert werden und nur in der Misshandlung und Vergewaltigung des jungen Mädchens kurz kombiniert werden, werden hier nun dauerhaft zusammengefügt. In dem der Gewalt vorausgehenden Gespräch und in Batemans verzweifeltem Wunsch, Bethany zu einem Besuch seiner Wohnung zu überreden, wird deutlich, dass die Gewalt auf den missglückten Versuch, mit dem Anderen“ mittels der Kommunikation in Kontakt zu treten und eine Beziehung zu diesem zu schaffen, folgt und eine Reaktion auf die nicht mehr mögliche Kommunikation und Kontaktaufnahme darstellt. „Die Gewalt [...] ist sicherlich die nach außen gewendete Gestalt seines eigenen Wunsches, buchstäblich beeindruckbar (von anderen berührt) zu sein.“627 Die Gewalt ist bildlich zu lesen; so nagelt Bateman Bethany, die seine Wohnung nur kurz besuchen und Bateman bald verlassen will, mit Nägeln am Boden fest. Sein „Verzehr“628 und „Konsum“629 des Opfers ist sein Versuch, das 626 Bateman zeigt sich hier in der Tradition von de Saussures platonisch-cartesianischer Vorstellung eines transzendentalen Signifikates. Hierbei würde die Wiederholung, so de Saussure, Sinn erzeugen. Derrida weist jedoch darauf hin, dass diese – wie auch Bateman erfahren muss – keinen Sinn, sondern eine endlose Sinnverschiebung erzeugt. 627 Winkels: Leselust und Bildermacht, S. 230. 628 Das Einverleiben des Anderen lässt sich auch in der Tradition archaischer Opferrituale lesen. Das Opfer wird mittels Verzehr in den eigenen Körper aufgenommen, da es das darstellt, was der Verzehrende sein möchte. Freud stellt ähnliches in „Totem und Tabu“ fest. Vergl.: Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Frankfurt am Main 92005. 629 Der „Konsum“ der Opfer steht in Verbindung zur Konsumierbarkeit der Welt. „Patrick Batemans ‚amerikanische Psychose‘ gründet darin, daß er das Klischee vom KonsumLebensstil des Wall Street Börsenmaklers nicht metaphorisch, sondern ‚wörtlich‘ nimmt: Sein Konsum ist echter Kannibalismus. Die Eigendefinition über den seriellen Konsumrausch findet ihre Fortsetzung in der Selbstfindung mittels des anthropophagen Rausches des Serienmordes.“ Poole, Ralph J.: Zerleiben und Zerschneiden. Von der nekrophagen Lustanhäufung zur seriellen Lektüresucht. In: Verschlungene Grenzen. Anthropophagie in Literatur und Kulturwissenschaften. Hrsg. v. Annette Keck, Inka Kording und Anja Prochaska. Tübingen 1999, S. 175–202, hier S. 181.



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Innere des Anderen“ zu ‚sehen‘ und zu ‚erkennen‘. Das Innenleben der Figuren in „American Psycho“ stellt die Leerstelle des Textes dar und ist weder für den Leser noch für die anderen Figuren lesbar oder existent. Die Welt besteht nur aus dem Außen der teuren Kleidung und der optimierten Körper630, ein Innen wird im gesamten Text nicht erzählt. Selbst der Körper, der als untrennbare Einheit von Außen und Innen gelesen werden muss, erfährt in dem Versuch seiner Optimierung mittels Kosmetik und Fitnesstraining631 seine Auslöschung; der Körper wird entkörperlicht und als leere ästhetisierte Hülle präsentiert. Zugleich soll jedoch mit der angestrebten Perfektionierung und Stilisierung des Körpers ein Gegengewicht zu der Dezentrierung des Subjekts geschaffen werden; dem Verlust der Zentrierung des ‚Innen‘ soll somit mit dem Versuch der Zentrierung – und Kontrolle – des ‚Außen‘ entgegengewirkt werden. Die in der Verortung dargestellte Figur des Dandys findet bei Ellis ihre an die spezifische Thematik gebundene Aufnahme und Reformulierung. Die Wiederkehr des Körperlichen findet sich dann umso drastischer in den Gewalt- und Folterszenen wieder, in denen der aufgeschnittene menschliche Körper mit all seinen Körperflüssigkeiten vorgeführt wird. Winkels’ Feststellung, „Das Gestylte, Glatte, Präparierte wird in Gestalt des Anderen zerstört, und der Sinn- und schmerzimmune Eine besudelt sich ein übers andere Mal“632, lässt sich nur unter Berücksichtigung der Entkörperlichung des Protagonisten und der damit einhergehenden Exklusion des ‚schmutzigen‘ Körpers verstehen, der dann in der Gewalt umso präsenter aufscheint. Der Text lässt sich als Versuch lesen, den

Vergl. zum Kannibalismus: Moser, Christian: Kannibalische Katharsis. Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis. Bielefeld 2005. 630 Batemans extensives Fitnesstraining, die versuchte Perfektionierung seines Körpers, die auch als Abwehrmechanismus des „hard-body“ gegen seine Umwelt zu verstehen ist, wird im Text mehrmals aus­führlich beschrieben. Baudrillard weist auf den Zusammenhang zwischen Folter, Industriegeräten und Fitnessgeräten hin. „Es führt eine direkte Linie von den mittelalterlichen Folterinstrumenten zu den modernen Fließbandgeräten und von da zu den Techniken der Körperwiederaufbereitung mittels me­chanischer Prothesen.“ Baudrillard, Jean: Amerika. Berlin 2004, S. 56. 631 Die natürliche Präsenz des Körpers ist vollständig verloren; im Versuch ihrer Rückgewinnung mittels Fitnesstraining an mechanischen Geräten kann der Körper nur noch als „Auswuchs von Maschinen“ verstanden werden. Da die Wiederherstellung der körperlichen Präsenz im Training an den mechanischen Geräten versucht wird, wird diese umso schwächer, je intensiver ihre Rückgewinnung betrieben wird. Batemans in- und extensives Training bewirkt also anstatt der angestrebten Präsenz des Körpers die zunehmende Entkörperlichung. Vergl.: Blask, Falko: Jean Baudrillard. Hamburg 1995, S. 74. 632 Winkels: Leselust und Bildermacht, S. 232.

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vermissten inneren Kern des Anderen aufzuspüren, um mit diesem eine Verbindung einzugehen. An „Less Than Zero“ wurde gezeigt, dass die Pornographie, der Drogenkonsum und die Gewalt als Mittel zum Eindringen in das ‚Innere‘ des Anderen zu lesen sind. Ähnliches lässt sich für die Talkshows in „American Psycho“, in denen die Beteiligten den Zuschauern ihre geheimsten inneren Wünsche und Probleme offenbaren, feststellen. Batemans Konsum dieser Sendungen zeigt seinen unbändigen Wunsch, das ‚Innere‘ – und sei es auch nur das ‚Innere‘ einer verzweifelten Hausfrau in einer TV-Show – eines Anderen zu erfassen. Der mysteriöse „Fisher-Account“, den ein Kollege von Bateman verwaltet und mit dem er extreme Neidgefühle bei Bateman und seinen Freunden weckt – Gefühle, die aufgrund ihrer Intensität und aufgrund der Tatsache, dass Batemans Kollegen alle extrem viel Geld mit der Verwaltung vergleichbarer Accounts verdienen, nicht allein ökonomisch zu begründen sind – scheint symbolisch für das ‚Innere‘ der Ökonomie zu stehen und deren Kern zu bilden. Die Tötung von Owen, dem Verwalter, stellt den scheiternden Versuch dar, dem Account und dem Kern der Ökonomie näherzukommen. Bateman erkennt, dass die Kommunikation einen Zugang zu dem ‚Innen‘, sofern es denn existiert, nicht ermöglichen kann und sucht das ‚Innen‘ nun ‚direkt‘ mittels des Eindringens in den Körper. In den folgenden Gewaltakten steigert sich der ‚Konsum‘ bis zum tatsächlichen Kannibalismus633; der Wunsch, in das ‚Innere‘ der Opfer vorzudringen, wird konsequent verfolgt. „I start by skinning Torri a little, making incisions with a steak knife and ripping bits of flesh from her legs and stomach.“634 Bateman versucht, die äußere Hülle des Körpers, die Haut, zu entfernen, um das ‚Innere‘ sichtbar zu machen. „I cut all the flesh off around her mouth [...] and once I’m satisfied with the size of the hole I’ve created [...] a reddish-black tunnel of twisted tongue and loosened teeth, I force my hand down, deep into her throat, until it disappears up to my wrist“635. Er versucht nun das ‚Innere‘ zu berühren und versteht die Berührung des ‚Inneren‘ ganz wörtlich, er greift in den Kopf des Opfers.636 Ein Kontakt mit dem ‚Inne633 Die Reduktion des menschlichen Opfers auf seine Körperlichkeit, sein verzehrbares Fleisch, wird sprachlich vorbereitet. Bateman findet Christie bezeichnenderweise im dem New Yorker Stadtteil Meat-Packing District, wo sich die Lagerhallen und Märkte für Fleischwaren befinden. Christie wird sprachlich eindeutig vorgestellt. „Behind her, in four-foot-tall red block letters painted on the side of an abandoned brick warehouse, is the word M E A T“. Ellis: American Psycho, S. 168. 634 Ebd., S. 304. 635 Ebd., S. 305. 636 Büchner legt in „Dantons Tod“ Danton ein ähnliches Vorgehen in den Mund: „Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen



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ren‘ des Anderen ist nur durch das gewaltsame Eindringen mit dem Messer in den Körper möglich. In einer weiteren Szene verzehrt Bateman den Körper des Opfers und trinkt ihr Blut. „I spend the next fifteen minutes beside myself, pulling out a bluish rope of intestine, most of it still connected to the body, and shoving it into my mouth, choking on it. [...] I want to drink this girl’s blood as if it were champagne“637. Die Zerstückelung und Einverleibung fremder Körper ist nicht nur die Fortsetzung und Folge der Sinnlosigkeit leerer Kommunikation, sie ist auch [...] so etwas wie der verzweifelte Versuch eines semiotischen Gegenzaubers in ‚Blut und Wunden‘, dessen in der Opferperspektive vertrautes Urbild christlicher Herkunft ist.638

Doch der „semiotische Gegenzauber“ gelingt nicht immer; so zeigt sich in dem Kapitel „Killing Child at Zoo“ dass Bateman, der im Töten und im Schmerz des Opfers Sinn sucht, welcher sich aus der intersubjektiven Verbindung des Opfers zu anderen Menschen ergibt, mit dem Töten eines Kindes den gesuchten Sinn – und die vermisste Kommunikation – nicht erreichen kann. Bateman tötet ein Kind mit seinem Messer und beobachtet danach die Reaktion der Mutter auf das verletzte und sterbende Kind. Um dies aus nächster Nähe erleben zu können, gibt sich Bateman ungeachtet des Risikos als Arzt aus. „I can see the exact moment when the expression on the mother’s face changes into fear […]. The mother makes a sound I cannot describe – something high-pitched that turns into screaming.“639 Der Anblick der Angst in dem Gesicht der Mutter und ihre sprachliche Reaktion auf und aus dieser stehen für Bateman im Fokus des Interesses. Der Ausdruck der Angst/Furcht bildet den Gegenpol zu der ununterscheidbaren Hypertrophie der Simulacra der Menschen und der Gefühle. Einzig noch die Angst ist lesbar. Die akustische Reaktion auf die Gewalt, geboren aus der Angst/Furcht der Mutter, steht, im Gegensatz zu nahezu allen sprachlichen Äußerungen im Text, jenseits der Auflösung und des Gleitens der Signifikate. Diese Reaktion ist, wie die Angst/Furcht, unmittelbar lesbar.640 Die archaische Reduktion der Sprache auf den Schmerzenslaut – bezeichnenderweise kann der und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren. –“ Bateman knüpft hier an Danton an und setzt dessen Forderungen in die Tat um. Büchner, Georg: Dantons Tod. Stuttgart 1993, S. 5. 637 Ellis: American Psycho, S. 344. 638 Winkels: Leselust und Bildermacht, S. 234. 639 Ellis: American Psycho, S. 299. 640 Somit steht die Angst als unmittelbar lesbare – d.h. nicht repräsentierende – Äußerung in Verbindung zum ‚Theater der Grausamkeit‘, wie Derrida zeigt: „Das Theater der Grau-

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Erzähler den Laut nicht mit seiner Erzählsprache definieren und beschreiben; da er kein Teil der Sprache ist, lässt er sich nicht mittels Sprache wiedergeben – zeigt die Verbindung von Signifikant und Signifikat, wie sie etwa auch in der Performance von Marina Abramović festzustellen ist. Der nicht-sprachliche Laut transportiert somit mehr Sinn als die sprachliche Äußerung. In der Reduktion offenbaren sich das Signifikat und der Sinn.641 Dennoch bleibt das Töten des Kindes letztlich unbefriedigend und unergiebig. Though I am satisfied at first by my actions, I’m suddenly jolted with a mournful despair at how useless, how extraordinary painless, it is to take a child’s life. This thing before me [...] has no real history, no worthwhile past, nothing is really lost. It’s so much worse (and more pleasureable) taking the life of someone who has hit his or her prime, who has the beginnings of a full history, a spouse, a network of friends [...].642

Für Bateman ergibt sich der Schmerz nicht nur aus der Art der Gewalt an sich, sondern auch aus der sozialen und emotionalen Einbindung des Opfers in sein Netzwerk. Ohne eine persönliche Geschichte trägt der Körper des Opfers wenig Sinn, verfügt über wenige menschliche Kontakte und kann wenig Sinn im Erleiden der Gewalt generieren. Das Töten an sich stellt nicht Batemans Ziel dar, es ist „useless“ das Kind zu töten. Bateman sucht den Schmerz, da dieser als sinnstiftend erfahren wird; das Töten ist der Versuch, etwas zum Sprechen zu bringen. Der Versuch – der im Schmerzenslaut der Mutter kurz gelingt –, die Bedeutung eines Zeichens wieder mit dem Zeichen zu verknüpfen, um dieses dann zu verstehen. Die Gewalt generiert Schmerz, der als unmittelbare physische, psychische und symbolische Erfahrung einzig noch Sinn – ein lesbares Zeichen – zu schaffen vermag. „Nur symbolische Gewalt vermag Singularität zu erzeugen“643, die der unlesbaren „Simulationsepidemie“644 der hypertrophen Zeichen ein lesbares Zeichen entgegensetzt. Das Eindringen mit dem Messer in den Körper ist als Versuch zu lesen, die allmächtige stumme Oberfläche zu samkeit ist keine Repräsentation. Es ist das Leben selbst in dem, was an ihm nicht darstellbar ist.“ Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 353. 641 „In unserer Mythologie wird die Gewalt unter demselben Vorurteil begriffen wie Literatur und Kunst: Man weiß ihr keine andere Funktion zuzuschreiben als die, etwas Fundamentales, Inneres, Wesentliches auszudrücken, dessen erste, wilde und unsystematische Sprache sie wäre. [...] Sie ist unmittelbar Zeichen [...].“ Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen. Frankfurt am Main 1981, S. 142. 642 Ellis: American Psycho, S. 299. 643 Baudrillard, Jean: Der Geist des Terrorismus. Wien 22003, S. 31. 644 Baudrillard: Transparenz des Bösen, S. 10.



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durchdringen, um so endlich die Tiefe zu erreichen, die für Bateman bislang unerreichbar blieb. Der archaische Schmerzenslaut, der jenseits einer Signifikatverschiebung steht und somit nicht nicht-verstehbar, nicht nicht-erinnerbar und nicht nicht-kommunizierbar ist, stellt die einzig verbliebene mögliche Form der Kommunikation und der intersubjektiven Verbindung dar. Die Kommunikation und das Gedächtnis funktionieren nur noch über Schmerz.645 Am Ende des Textes versucht Bateman, den Schmerz gegen sich selbst zu wenden. Er versucht, indem er seine Taten auf dem Anrufbeantworter eines Freundes gesteht, die Anderen zu zwingen, mit ihrer Reaktion ein bedeutungstragendes Zeichen zu setzen. Die Strafe wäre das bisher vermisste moralische Zeichen und Handeln einer Gesellschaft, die so gezwungen wird, mit ihm in Verbindung zu treten und die Kommunikation mit ihm aufzunehmen. Letztlich ist das Geständnis – und wäre die Strafe – genau das Gleiche wie die Tat selbst: der verzweifelte Versuch, die allmächtige Oberfläche zu durchdringen, um so endlich die Tiefe zu erfahren, die Bateman in den (misshandelten) Frauenkörpern nicht gefunden hat. Doch die Gesellschaft verweigert ihm diese Tiefe, ignoriert seinen moralischen Anspruch und hält ihn weiterhin in der Welt der sinnentleerten Zeichen. „THIS IS NOT AN EXIT“646. Batemans Versuche, zu dem vermissten Kern vorzudringen, sei es mittels Pornographie, Drogenmissbrauch oder Gewalt, scheitern. Am Ende steht die Wüste: ... where there was nature and earth, life and water, I saw a desert landscape that was unending, resembling some sort of crater, so devoid of reason and light and spirit that the mind could not grasp it on any sort of conscious level and if you came close the mind would reel backward, unable to take it in.647

Die absolute und unfruchtbare, lebensfeindliche Leere und Absenz der Wüste erstreckt sich über sämtliche Level des Menschlichen; von den biologischen Grundvoraussetzungen wie Wasser und Leben über die intellektuelle und ratio645 Zur Funktion des Schmerzes zur Bildung eines Gedächtnisses – und damit zur (versprachlichten) Erinnerung: „Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss? [...] ‚Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss.‘ Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen.“ (Hervorhebungen im Original) Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 311. Das aus der Medizin bekannte Schmerzgedächtnis verweist ebenfalls auf die Macht des Schmerzes, Erinnerungen zu speichern. 646 Ellis: American Psycho, S. 399. 647 Ebd., S. 374.

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nale Stufe des Bewusstseins bis hin zur Metaebene des Lebenden, zur Erfassung des eigenen Lebens. Das Bewusstsein kann die Leere der Wüste nicht mehr erfassen; eine Annäherung an diese bewirkt ein rückwärtiges Weggehen. Baudrillards Analyse der Wüste, „Denn die Wüste ist nur das eine: eine ekstatische Kritik der Kultur, eine ekstatische Form des Verschwindens.“648, wird hier aufgenommen. Bei Ellis wird jedoch die ethisch-moralische Leere der Wüste, die mit dem geographischen Raum korrespondiert, stärker betont. Nothing was affirmative [...] Sex is mathematics. Individuality no longer an issue. [...] Define reason. Desire – meaningless. [...] Justice is dead. Fear, recrimination, innocence, sympathy, guilt, waste, failure, grief, were things, emotions, that no one really felt anymore. Reflection is useless, the world is senseless. Evil is its only permanence. God is not alive. Love cannot be trusted. Surface, surface, surface was all that anyone found meaning in ... this was the civilisation as I saw it, colossal and jagged ...649

Ethik, Moral, sämtliche Gefühle und Überzeugungen sind in der Leere der Wüste und der Welt verschwunden.650 „Sex is mathematics. [...] God is not alive.“ Dann verschwindet auch Bateman. „... there is an idea of a Patrick Bateman, some kind of abstraction, but there is no real me, only an entity“651 – „I simply am not there.“652 Eine tiefere Wahrheit oder Erkenntnis erfährt Bateman durch sein Geständnis jedoch nicht; die Leere der Wüste ist auch in ihm selbst; eine Katharsis oder gar eine Änderung kann nicht erreicht werden.653 „But even after admitting this [...] and coming face-to-face with these truths, there is no catharsis. I gain no deeper knowledge about myself, no new understanding can be extracted from my telling. [...] This confession has meant nothing ...“654

648 Baudrillard: Amerika, S. 15. 649 Ellis: American Psycho, S. 375. 650 „There are no more barriers to cross. All I have in common with the uncontrollable and the insane, the vicious and the evil, all the mayhem I have caused and my utter indifference toward it, I have now surpassed. I still, though, hold on to one single bleak truth: no one is safe, nothing is redeemed.“ Ebd., S. 377. 651 Ebd., S. 376. 652 Ebd., S. 377. 653 Der Text bleibt am Ende offen und geht in den folgenden Text, „Glamorama“, über. Bateman, der eben noch seine Taten gestanden hat, tritt weniger später in „Glamorama“ auf, ohne dass eine Änderung seiner Lebensumstände – etwa durch einen Gefängnisaufenthalt oder einen Erkenntnisprozess – festzustellen ist. Die Figur bleibt gleich; er bietet Zigarren an und trägt einen teuren Armani-Anzug mit eigenartigen Flecken auf dem Revers. 654 Ellis: American Psycho, S. 377.



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5.3 GEWALT IN „GL AMORAMA“

In „Glamorama“ zeigt Ellis, dass das Verständnis der Gewalt als Mittel der Kommunikation und als Gegenpol zur Hypertrophie der Namen, wie sie in „American Psycho“ zu lesen ist, eine dunkle Kehrseite hat, die die Kommunikation zwar ermöglicht, ihren Sinn oder ihre Wahrheit jedoch in einer Auflösung der Grenzen von Realität und Fiktion verschwimmen und untergehen lässt. Zu Beginn des Textes ist eine abstrakte nichtkörperliche Gewalt vorzufinden. So lässt sich Wards Frage, „though I’m getting the distinct impression by the looks on your sorry faces that why won’t get answered – now, come on, goddamnit, what’s the story?“655, als gewaltsame Infragestellung der Erzählung lesen. Zugleich präsentiert sich, wie in Kapitel 4.3 gezeigt wurde, der Text als Text. Die abstrakte Gewalt wird in den folgenden Sätzen noch radikaler und verneint nun dezidiert die individuelle Identität des Erzählers. „Who the fuck is Moi? [...] I have no fucking idea who this moi is, baby.“656 Das Thema der Erzählung, die gewaltsame Auflösung der Identität und der Realität und Fiktion, ist somit bereits in den ersten Sätzen angelegt. Die erste Erwähnung körperlicher Gewalt erfolgt, Thema und Stil des Textes angemessen, als ironisches Zitat aus „American Psycho“ und setzt zu dessen Verständnis die genaue Kenntnis von Batemans Taten voraus. „Patrick Bateman [...] hands me a cigar, weird stains on the lapel of his Armani suit that costs as much as a car.“657 Die Welt in „Glamorama“, von der Bateman ein selbstverständlicher Bestandteil ist, unterscheidet sich nicht von der Welt in „American Psycho“ – die Präsenz Batemans und die Flecken auf seinem Anzugkragen symbolisieren die Diffusion der Gewalt und des Konsums in den folgenden Text und die folgende Welt.658 In einem Kapitel, das im past tense Erinnerungen aus der Vergangenheit berichtet, wird die Gewaltthematik weiter eingeführt. Das Erinnerungskapitel schließt an die kursiv gesetzten Memory-Kapitel in „Less Than Zero“ nicht nur aufgrund der Verwendung des past tense an. Sowohl in „Less Than Zero“ als auch in „Glamorama“ werden in diesen Kapiteln Geschehnisse aus der Vergangenheit des Erzählers berichtet, die – im Gegensatz zu der gängigen Methode des Rückblickes oder flash-back – für das Verständnis der Erzählung nicht von Bedeutung 655 Ellis: Glamorama, S. 5. 656 Ebd., S. 5. 657 Ebd., S. 39. 658 „I liked the idea that Patrick Bateman had moved into this fashiony world [in „Glamorama“, I.N.] and by extension that he could probably inhabit any world.“ Clarke: An Interview with Bret Easton Ellis.

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sind. Vielmehr wird durch die mit der Erzählung nur lose verknüpften Erinnerungen eine weitere Ebene etabliert, in der assoziativ und andeutungsweise ‚Tieferes‘, oftmals nur eine indifferente Stimmung, aufscheint, das erst im späteren Verlauf mit der Erzählung sinnvoll verbunden werden kann. So berichtet Ward im ersten dieser Kapitel von einem Aufenthalt in Los Angeles mit seiner Freundin Chloe Byrnes. Die Gewalt wird nicht direkt benannt, sondern nur in ihren Auswirkungen angedeutet. „Most people were mellow and healthy […]. Others were so hysterical – sometimes covered with lumps and bruises – that I couldn’t understand what they were saying to me“659. Die Gewalt wird in dem Zitat direkt mit der Kommunikation verbunden; Ward kann die von der Gewalt gezeichneten Hysterischen nicht verstehen. Bereits an dieser Szene lässt sich erkennen, dass die Gewalt als Mittel, eine Kommunikation zu etablieren und in Kontakt mit dem Anderen zu treten, wie es Bateman etwa bei der Mutter des Kindes, das er im Zoo tötet, oder bei der gefolterten Bethany versucht, in „Glamorama“ nicht mehr funktioniert, sondern, ganz im Gegenteil, eine Kontaktaufnahme verhindert. Am Ende des Erinnerungskapitels werden disparate Gewaltaspekte assoziativ montiert. Ten or eleven producers were found dead in various Bel Air mansions. [...] A friend of Chloe gave birth to a dead baby. I left ICM. People told us that they either were vampires or knew someone who was a vampire. Drinks with Depeche Mode. So many we vaguely knew died or disappeared the weeks we were there – car accident, AIDS, murders, overdose, run over by a truck, fell into vats of acid or maybe were pushed – that the amount for funeral wreaths on Chloe’s Visa was almost five thousand dollars.660

„I left ICM“661 – eine bekannte Model-Agentur – und „Drinks with Depeche Mode“662 verbinden den Aspekt der Gewalt mit den Aspekten der oberflächlichen Statushörigkeit und mit dem Aspekt der Huldigung der Prominenz. Das Ende des Zitates, „I looked really great.“663, stellt mit seiner absoluten Apotheose der äußeren Schönheit die ironische Klimax dar. Dennoch erfahren die Aspekte der Gewalt664, des Todes und der Schönheit hier eine erste Verbindung. 659 Ellis: Glamorama, S. 88. 660 Ebd., S. 89. 661 Ebd., S. 89. 662 Ebd., S. 89. 663 Ebd., S. 89. 664 Durch die Erwähnung der Figur des Vampirs knüpft Ellis sowohl an „Less Than Zero“, da dort ebenfalls Vampire erwähnt werden, als auch an „American Psycho“ an, indem er das Motiv des Konsums des Anderen, etwa den Verzehr von Batemans Opfern, wie-



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Die Gewalt wird nun in der Erzählung zunehmend stärker mit Wards Leben und Lebensumfeld verbunden. Von der abstrakten nichtkörperlichen Gewalt der Sprache über die ungeklärten Verletzungen anderer Partygäste und über die massive Gewalt in den Erinnerungskapiteln, die jedoch durch ihren Charakter als Erinnerung aus der Präsenz der erzählten Handlung ausgesetzt sind, verstärkt sich die Gewalt und manifestiert sich in einem ersten sowohl intensiven als auch unmittelbaren Erlebnis, als Wards DJ Mica tot aufgefunden wird. „She was found in a Dumpster in Hell’s Kitchen. She was beaten with a hammer and ... Jesus Christ [...] eviscerated.“665 Wards Zwischenfrage, was ausgeweidet bedeute, wird beantwortet. „It means she didn’t die a peaceful death. [...] She was strangled with her own intestines.“666 Die extreme Gewalt nimmt die Taten von Bateman in „American Psycho“ auf, verschiebt sie jedoch aus der Perspektive des Täters auf die Perspektive des Beobachters. Ward hat somit eine ähnliche Perspektive wie Clay in „Less Than Zero“ inne und vermag wie dieser nicht adäquat auf die Gewalt zu reagieren. Die Art der Gewalt, das Ausweiden des Opfers, das die Gewalt von der „normalen“ Gewalt, etwa der eines Überfalls, unterscheidet, schließt an „American Psycho“ an. Auch Bateman hat die Körper seiner Opfer geöffnet und seziert; das Ausweiden sowie das Töten mittels der eigenen Gedärme des Opfers nimmt dies strukturell auf. Das Gespräch wird von einem kursiv gesetzten Musikzitat der Gruppe U2 gerahmt, mit dem das Kapitel auch eingeleitet wurde. „We’ll slide down the surface of things ...“667 Der nicht genannte Titel des Songs „Even better than the real thing“668 lässt sich als Verweis auf die Thematik des Wegfalls der Grenze zwischen Realität und Fiktion im Text lesen. Der Titel schließt an Baudrillards Überlegungen zum Simulacrum an, in dem sich Realität und Simulation nicht mehr unterscheiden lassen.669 Das kurze Zitat wird in „Glamorama“ motivisch gebraucht und insbesondere in Textstellen, in denen Gewalt oder das Verschwimmen von Realität und Fiktion demonstriert wird, eingesetzt und stellt komprimiert die wichtigsten Punkte des Textes, das Gleiten auf – und das drohende Abrutschen

deraufnimmt. Die mit der Figur und dem Motiv des Konsums verbundene Kritik des kapitalistischen Konsums wird somit ebenfalls wieder in den Text eingeführt. Zugleich erinnert die assoziative Reihung der disparaten Gewaltaspekte an Prices Zusammenfassung der in der Zeitung berichteten Gewalttaten in New York in „American Psycho“. 665 Ellis: Glamorama, S. 149. 666 Ebd., S. 149. 667 Ebd., S. 144 und S. 149. 668 U2: Even better than the real thing. Auf: Dies.: Achtung Baby. CD. Island Records 1991. 669 Vergl.: Baudrillard: Transparenz des Bösen, S. 11 f.

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von – der Oberfläche der Dinge, dar. Somit schließt Ellis mit dem Zitat unmittelbar an die Thematik von „American Psycho“ an. Doch die spezifische Gewalt von „Glamorama“, die Attentate und Anschläge einer ominösen Terroristengruppe, die aus Models besteht, zeigt sich erst auf Seite 238 des Textes. Ward erlebt einen Bombenanschlag in London. Inmitten einer idyllischen Schilderung des Szene-Viertels Notting Hill – und einer Aufzählung der Szene-Insignien, wie Musik von der Band Pulp, Modeläden mit gutgekleideten Teenagern, Starbucks-Filialen, Kunststudenten und ein Kindermädchen mit einem Designerkinderwagen – explodieren plötzlich mehrere Bomben. Die Explosion erfolgt, abgesehen von einer unverständlichen Warnung von Jamie Fields, einer ehemaligen Kommilitonin von Ward, die er in Europa suchen soll, ohne Ankündigung im Text. „And then buildings start exploding.“670 Die Zerstörungskraft der Bomben zeigt sich zuerst an den Gebäuden. „First the Crunch gym, seconds later the Gap and immediately after that the Starbucks evaporate and then, finally, the McDonald’s.“671 Die Bomben wurden von den Terroristen so platziert, dass sie die namhaften Geschäfte bzw. Filialen der bekannten Marken zerstören. Der Kapitalismus – und mit ihm die Hypertrophie der Namen und die Hyperrealität – wird von den Bomben in seinem Kern und zugleich in seinen manifesten Symbolen angegriffen. Die Terroristen zerstören Batemans Welt. Die Apotheose des Kapitalismus der 1980er Jahre geht nun im kapitalismuskritischen Terrorismus der 1990er Jahre unter. Die fatalen Folgen der Explosion werden in einem neutral-sachlichen Ton geschildert, der an Clays Schilderung der Vergewaltigung in „Less Than Zero“ erinnert. The group of teenagers: incinerated. The businessman: blown in half by the Starbucks explosion. There is no sign of the Japanese tourist [...]. The guy on the motorbike waiting at the stoplight: a charred skeleton hopelessly tangled in the wreckage of the motorbike, which he has now melted into. The fairly mod nanny is dead and the designer baby carriage she was wheeling looks like it was smashed flat by some kind of giant hand [...] – the blood and flesh of the art students.672

Die Schilderung der Gewalt als innerfiktionale Realität wird jedoch wenig später von dem Fortgang der Szene in Frage gestellt. „A director has already yelled ‚Cut‘ [...] extras are letting makeup assistants wipe fake blood off their faces, [...]

670 Ellis: Glamorama, S. 238. 671 Ebd., S. 238. 672 Ebd., S. 238.



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stuntmen congratulate one another.“673 Die vormalige vermeintliche ‚Realität‘ scheint nun Bestandteil eines fiktionalen Filmes zu sein; das ‚echte‘ Blut wird nun als „fake blood“ erkannt. Die Perspektive des Betrachters, des Erzählers Ward, ist jedoch nicht die Perspektive eines Filmrezipienten, sondern eines Passanten, der ‚Realität‘ sieht – und nicht Fiktion am Bildschirm. Das Geschehen lässt sich somit nicht als Fiktion eines Filmes verstehen; die Special-Effects, die nötig wären, um etwa den lebendigen Motorradfahrer in ein Skelett zu verwandeln, funktionieren im Film, aber nicht in der ‚normalen‘ Realität des IchErzählers. Dennoch zeigt die Anwesenheit des Regisseurs und der Stuntmen, dass mit dem Begriff der Realität die Szene ebenfalls nicht zu fassen ist. Die Welt von „Glamorama“ scheint eine Mischung aus Realität und Fiktion, Wirklichkeit und Film, Authentizität und Manipulation zu sein. Das Blut auf der Straße ist sowohl echt als auch „fake“, der Bombenanschlag passierte sowohl in der Realität als auch im Film. Versucht Bateman in „American Psycho“, mittels Gewalt eine Kommunikation zu ermöglichen, so scheint in „Glamorama“ dieser Versuch zu scheitern; die Gewalt löst die Realität und die Begrifflichkeit von ‚wahr‘ und ‚unwahr‘ vollkommen auf. Lässt sich die Realität nicht mehr als real oder fiktiv erfassen, so löst sich die Möglichkeit der Kommunikation über diese mit den Kategorien ‚richtig/falsch‘ oder ‚real/fiktiv‘ auf. Das Motto der Terroristen „Action Unites. Words Divide.“674 schließt in seiner Kritik der Sprache und der Annahme, dass mittels „Action“, also mittels Gewalt, eine Einheit erreicht werden kann, an Batemans Versuch, mittels Gewalt in Kommunikation mit dem Anderen zu treten, an. Auch Bateman erkennt, dass Worte – die sprachliche Kommunikation – keine Einheit mehr schaffen können und greift deshalb, wie in Kapitel 5.2 gezeigt wurde, zur Gewalt. Obschon die Gewalt in „Glamorama“ von den Tätern theoretisch an Batemans Überlegungen anknüpft, so zeigt die von Ward erzählte ‚Realität‘ der Gewalt, dass auch diese keine Einheit, keine Kommunikation, ermöglicht, sondern der Auflösung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion Vorschub leistet und so einer Benennbarkeit entgegen steht. Ellis demonstriert in einer Folterszene nochmals eine explizite Darstellung von Gewalt, die an „American Psycho“ erinnert. Sam Ho, ein Freund der aus Models bestehenden terroristischen Vereinigung, wird von diesen in einem Kellerraum gefoltert und schließlich getötet. Die Verwischung von Realität und Fiktion ist bereits in der Einleitung der Szene festzustellen; das „mannequin made from wax 673 Ebd., S. 239. 674 Ebd., S. 346.

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covered either in oil or Vaseline“675 entpuppt sich wenig später – bezeichnenderweise in schmerzverzerrter Agonie – als Mensch. Die Körperlichkeit des Opfers wird ausgestellt: Das Mannequin „lies twisted on its back in some kind of horrible position on a steel examination table, naked, both legs spread open and chained to stirrups, its scrotum and anus completely exposed, both arms locked back behind its head“676. Der Körper des Opfers ist durch Drähte mit einer Stromquelle verbunden, aus der ihm nun Strom zugeführt wird. The mannequin springs grotesquely to life677 in the freezing room, screeching, arching its body up, again and again, lifting itself off the examination table, tendons in its neck straining, and purple foam starts pouring out of its anus, which also has a wire, larger, thicker, inserted into it. [...] What looks like an intestine is slowly emerging, of its own accord, from another, wider slit across the mannequin’s belly.678

Der Indikator für die ‚Realität‘ der Szene ist ironischerweise die Abwesenheit der Kamerateams, „There is, I’m noticing, no camera crew around.“679 Ward, der sich auf einem permanenten Filmset wähnt – und häufig auch zu sein scheint –, erkennt an der Abwesenheit der Kameras, dass mit der Folterung eben keine weitere Filmszene gedreht wird, sondern ein ‚wirklicher‘ Mensch ‚wirklich‘ stirbt. Am Ende des Kapitels stellt Ellis diese Lesart jedoch wieder in Frage. „Somebody cuts the lights.“680 Das Abschalten der Scheinwerfer deutet nun wieder auf die Anwesenheit eines Filmteams hin; somit wäre Ward wiederum Teil einer fiktiven Filmszene gewesen. Letztlich lässt sich nicht entscheiden, ob die Gewalt in der Realität stattgefunden hat oder Teil einer Filmszene war. Die Gewalt steht nicht mehr für sich und schafft nicht mehr mittels Schmerz eine unmittelbare Präsenz, die jenseits einer sprachlichen Verschiebung steht, wie in Kapitel 5.2 anhand der Performance von Abramović gezeigt wurde, sondern ist in die sich auflösende Dichotomie ‚real/fiktiv‘ integriert. Batemans Versuch, mittels Gewalt Sinn zu generieren und zu kommunizieren, erweist sich als misslungen. Einige Kapitel später findet Ward ein Polaroidfoto, auf dem er und Sam Ho zu sehen sind: „I’m driving a butcher knife deep into Sam Ho’s chest and I’m 675 Ebd., S. 283. 676 Ebd., S. 283. 677 Nicht nur die elektrischen Kabel, die die Puppe zum Leben erwecken, sondern auch der groteske Sprung, mit der die Puppe erwacht, erinnern an Frankensteins Erschaffung. Allerdings wird in „Glamorama“ kein neues Leben erschaffen, sondern ein Leben beendet. 678 Ellis: Glamorama, S. 283. 679 Ebd., S. 284. 680 Ebd., S. 284.



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lost and grinning, my eyes red, caught in the flash, my expression addressing the camera, asking do you like this? are you pleased?“681 Die Vergangenheit ist, wie in Kapitel 5.3 gezeigt wurde, veränderbar; „You can move planets with this. [...] You can shape lives.“682 Die Gewalt kann keinen Austritt aus der Manipulation der Welt und der Vergangenheit mehr bewirken, sie ist Teil des Systems.683 Wenig später erfolgt von Jamie die Erklärung der mysteriösen Terroranschläge und die Erläuterung ihres Treffens mit dem Anführer der Gruppe, Bobby Hughes. Die dramatische Szene, in deren Verlauf Jamie einen Nervenzusammenbruch erleidet, wird, wie die vorige Szene, durch die Erwähnung der Filmcrew und Filmrequisiten gerahmt.684 Direkt zu Beginn der Szene wird wiederum die undurchsichtige Vermischung von Realität und Fiktion etabliert, wodurch der Blick des Lesers auf Jamies bewegendes Geständnis aufgrund der zweideutigen Textvorgaben zwischen Empathie und Neutralität changiert. Die Erklärung Jamies für ihren Beitritt in die Terrorgruppe erschöpft sich in der Erkenntnis, dass „in the end, basically, everyone was a sociopath...“685. Alle Menschen zeichnen sich laut Jamie durch ihre Bösartigkeit und ihre Identitätslosigkeit aus. „[A]nd when I told Bobby ‚No one’s being themselves, everyone’s so phony,‘ Bobby said ‚Shhh‘ and then whispered ‚That is being themselves.‘“686 Die Identität löst sich auf in den verschiedenen Rollen, die die Figuren einnehmen. Bobby Hughes sieht jedoch diese Aufsplitterung der Identität in verschiedene Identitäten und Rollen als Ausdruck des Wesens der Personen; um „themselves“ zu sein, müssen sie eben nicht eine Identität haben, sondern mehrere. Hughes 681 Ebd., S. 416. 682 Ebd., S. 358. 683 „Schon die Beziehung des Bildes zu seinem Referenten gab eine Menge Probleme auf, jene der Repräsentation. Wenn aber der Referent total verschwindet, wenn es genau genommen keine Repräsentation mehr gibt, wenn sich das reale Objekt in der technischen Programmierung des Bildes verflüchtigt, wenn das rein artifizielle Produkt nichts und niemanden mehr reflektiert und nicht einmal mehr durch das Stadium des Negativen geht – kann man dann noch von Bild sprechen? Unsere Bilder wird es bald nicht mehr geben, sogar deren Konsumtion wird virtuell geworden sein. Wenn das Bild, wie Platon sagt, am Kreuzungspunkt des vom Objekt ausgehenden Lichts und jenem des Blicks liegt – dann wird es bald kein Objekt, keinen Blick und also kein Bild mehr geben.“ Baudrillard: Der Geist des Terrorismus, S. 47 f. 684 „A film crew I haven’t seen before enters the room. A large Panavision camera is wheeled in, lights are positioned. The first AD tells me where to lie on the bed while Jamie confers with the director and the script supervisor. The propmaster opens a bottle of champagne, pours two glasses.“ Ellis: Glamorama, S. 308. 685 Ebd., S. 309. 686 Ebd., S. 309.

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versteht den Charakter einer Person nicht als singuläre und konstante Identität; die divergenten Temporäridentitäten ergeben die Person, das Ich hat sich in diverse Ich-Identitäten aufgespalten. Er begrüßt die Leere bei Jamie; er gibt ihr Bücher von E. M. Forster, und als sie diese nicht versteht, ist er erleichtert. „I was told I was destroying lives ... but it didn’t touch me because no one we knew was real ... people just seemed ... fake and ... Bobby liked the fact that I felt this way ... It ‚helped‘, he said“687. Hughes sucht die Leere bei seinen Mitstreitern. Seine Umwelt bietet ihm die gesuchte Leere an und reagiert auf seine Apotheose der Oberfläche mit einer affirmativen Annahme seiner Doktrin. Er wählt Models als Terroristen, weil sie aufgrund ihrer Schönheit niemals verdächtigt würden – und sein Plan geht auf: „‚He’s a terrorist,‘ I tell Markus, motioning to Bobby. ‚No,‘ Markus says, shaking his head. ‚He doesn’t look like a terrorist. He’s way too gorgeous.‘“688 Ähnlich wie Clay in „Less Than Zero“, der während einer nächtlichen Autofahrt ein Werbeplakat mit der Aufschrift „Disappear Here“689 sieht und dieses als Epiphanieerlebnis wahrnimmt,690 liest nun auch Ward diese Aufschrift auf einer Wand, nachdem er die manipulierten Fotos gefunden hat, die ihn als Mörder von Sam Ho zeigen. Seine Reaktion auf die Aufforderung fällt wie bei Clay extrem aus. „The words cause me to sag against the wall and I’m gripping the gun so tightly I can barely feel it“691. Ward gelingt das Verschwinden aus seiner Welt jedoch so wenig, wie es Clay und Bateman gelungen ist. Wenig später erreichen die Verwirrung des Lesers und die Vermischung von Realität und Fiktion ihren Höhepunkt. Jamie Fields, die Ward seit Jahren gut kennt, stirbt in seinen Armen und stellt mit ihren letzten Worten ihre Identität und damit die Identitäten sämtlicher Figuren und letztlich den gesamten Plot der Erzählung in Frage. „Her last words as she drifts off: ‚I’m ... not ... Jamie Fields,‘ is all she says.“692 Das Gespräch findet unter einem auf die Wand gemalten Pentagramm und der Aufschrift „Disappear here“693 statt. Die Aufforderung der Schrift wird hier bereits durch die Auflösung der Erzählung und der erzählten Figuren unmöglich gemacht – Ward kann nicht aus einer Situation und einer Erzählung fliehen, von der er nicht mal weiß, wie sie strukturiert ist. Die erzählte Struktur ist undurchschaubar, es ist unklar, welche Figuren und Erzählstränge wie verbunden sind, ein Ausgang oder ein Fluchtpunkt lassen 687 Ebd., S. 311. 688 Ebd., S. 317. 689 Ellis: Less Than Zero, S. 38. 690 Vergl. Kapitel 4.1 dieser Arbeit 691 Ellis: Glamorama, S. 416. 692 Ebd., S. 426. 693 Ebd., S. 421.



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sich in der hermetisch verschlossenen Welt nicht finden. Letztlich gelten auch hier die letzten Worte von „American Psycho“, die bereits Bateman den Austritt aus seiner Welt verwehrt haben: „THIS IS NOT AN EXIT“694. Am Ende des Textes steht die größtmögliche Form der Gewalt; Ward wird verdoppelt und gleichzeitig als Figur ausgelöscht. I’m calling my sister again. [...] She picks up. ‚Sally?‘ I’m breathing hard, my voice tight. ‚Who is this?‘ she asks suspiciously. ‚It’s me,‘ I gasp. ‚It’s Victor.‘ [...] ‚Uh-huh,‘ she says dubiously. ‚I’d really prefer it – whoever this is – if you would stop calling.‘ ‚Sally, it’s really me, please –‘ I gasp. ‚It’s for you,‘ I hear her say. [...] ‚Hello?‘ a voice asks. I don’t say anything, just listen intently. ‚Hello?‘ the voice asks again. ‚This is Victor Johnson,‘ the voice says. [...] ‚It’d be really cool if you stopped bothering my sister,‘ the voice says. [...] ‚Goodbye,‘ the voice says. A click. I’m disconnected.695

Victor Ward, der am Ende des Textes wieder seinen alten Familiennamen Johnson angenommen hat, wird von seiner Schwester abgewiesen und spricht schließlich mit seinem Doppelgänger, der ihn selbst in seiner Familie ersetzen kann. Ward wurde somit zuerst verdoppelt und ersetzt und schließlich ausgelöscht. „I’m disconnected.“ Die Gewalt, die mit der Verdoppelung und Auslöschung der Identität einhergeht – letztlich die höchste Form der Gewalt, die ein Autor einer Figur antun kann –, ist eng mit der Aufhebung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion verbunden. Am Ende gibt es kein Original Victor Ward mehr; es ist weder für seine Familie noch für den Leser klar, wer Original und wer Kopie ist. Die Begriffe greifen nicht mehr; das Simulakrum696 ist so echt und wahr wie das 694 Ellis: American Psycho, S. 399. 695 Ellis: Glamorama, S. 476. 696 „Die Realität der Simulation ist unerträglich – und grausamer als Artauds Theater der Grausamkeit, das noch den Versuch einer Dramaturgie des Lebens darstellt, das letzte Zucken einer Idealität des Körpers, des Bluts und der Gewalt in einem System, das sämtliche Einsätze, ohne irgendwelche Blutspuren zu hinterlassen, aufgesaugt hat. Doch für uns

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‚Original‘ – weder Sprache, etwa das Telefongespräch mit seiner Schwester, noch Gewalt können eine Unterscheidung bewirken.

ist das Spiel gelaufen. Die gesamte Dramaturgie und sogar die Schrift der Grausamkeiten ist verschwunden.“ Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin 1978, S. 63.

6. Zusammenfassung von Teil I

In Kapitel 3.4 „Kontinuitäten“ konnte die enge Verzahnung der einzelnen Texte Ellis’ gezeigt werden und die Proklamation einer Lesart der drei Texte als einen ‚Gesamttext‘ durch eine Analyse der Kompositionsprinzipien und des Personeninventars gestützt werden. Es zeigte sich, dass die Thesen eines Buches – insbesondere die Thesen zu Sprache und Gewalt – im folgenden Buch aufgenommen und diskutiert werden. Ellis’ Entwicklungs- und Diskussionsprinzip, das dialektisch gestaltet die jeweilige ‚Lösung‘ eines Textes im folgenden Text durchführt und als Scheitern demonstriert, wurde ebenfalls deutlich. Kapitel 4.1 zeigte die Rolle der Sprache und der Kommunikation in „Less Than Zero“ auf. Clays Bestreben, mittels Sprache eine ethisch-moralische Wertung auszudrücken, zu kommunizieren und damit Einfluss auf das Handeln und das Bewusstsein des Anderen zu nehmen, wird anhand der Szene der Vergewaltigung eine jungen Mädchens deutlich. Das Scheitern seiner Bemühungen an dem egozentrischen Sozialdarwinismus seines Gegenübers, der mit dem grenzenlosen Konsum – auch von Menschen – eine Pervertierung des American Dreams darstellt, und der Verlust der Empfänger seiner sprachlichen Botschaften deuten sich bereits im ersten Satz der Erzählung, „People are afraid to merge“697, an. Die Verbindung und Vereinigung der Menschen mittels Sprache misslingt. Als Gegenbewegung und als Fluchtpunkt ist Clays nächtliches Epiphanieerlebnis zu lesen; seine Reaktion auf die Inschrift „Disappear Here“698 auf einer Werbetafel offenbart den Wunsch, aus der gezeichneten Welt zu fliehen. In „American Psycho“, das in Kapitel 4.2 analysiert wurde, ist der Verfall der Sprache und die Unmöglichkeit der Kommunikation weiter fortgeschritten. Ellis nimmt somit die Thematik aus „Less Than Zero“ auf, enttäuscht die am Ende dieses Textes stehende Hoffnung, und verschärft die Problematik. Mit dem Wegfall der Namen verliert die Sprache und Kommunikation ihre Funktion und Funktionsfähigkeit. Ein Informationsaustausch über eine Person und die Benennung dieser ist aufgrund der ständigen Namensverwechslungen nicht mehr möglich. Die Namen haben ihre Funktion als eindeutiges Unterscheidungs- und Benennungsmerkmal verloren; sie sind frei mit jeder Person kombinierbar. Die Sprache kann die Benennung und Erfassung der Welt nicht mehr leisten. Batemans Versuche, diese Fass- und Benennbarkeit wiederherzustellen – und damit die Aufnahme der Versuche Clays in „Less Than Zero“ – müssen scheitern. 697 Ellis: Less Than Zero, S. 9. 698 Ebd., S. 38.

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Die Hypertrophie der Namen von Produkten und Marken lässt den Sinn weiter verschwinden. Wie die Namen der Personen offenbaren sich auch die Markennamen als leere Simulation von Namen, denen keine Referenz mehr zugeordnet werden kann. Im Bewusstsein dieses Verlustes wird nun mit einer immer feineren Benennung und Beschreibung versucht, den entgleitenden Sinn doch noch zu fixieren. Die Hypertrophie der Namen steigert sich mit ihrer Überdeterminierung ins Unendliche: Am Ende steht die endlose sinnlose Repetition von Namen, die nunmehr lediglich ein inhaltsloses ‚Rauschen‘ erzeugen. Kapitel 4.3 zeigte die Verknüpfung des Verlustes der Benennbarkeit mit der vollständigen Auflösung der Identität des Erzählers. Sogar der Text selbst weist Auflösungserscheinungen auf: „what’s the story?“699 und ist für den Leser kaum noch in einen stringenten und kohärenten Plot aufzuschlüsseln. Das postmoderne Spiel mit Zitaten und Verschiebungen von Wortbedeutungen ist im Text ebenfalls festzustellen. Das Kernthema von „Glamorama“ ist jedoch die Möglichkeit der Bearbeitung von Bildern und die Ausdehnung dieser Möglichkeiten auf das Potenzial, die Realität – und die Personen – zu bearbeiten und zu manipulieren. Begriffe wie ‚Wahrheit‘ oder ‚Identität‘ lassen sich an den Text nicht mehr anlegen, sie verschwinden in ihrer Pluralisierung und Relativierung. Wards zu Beginn der Erzählung gestellte Frage „Who the fuck is Moi?“700 deutet die Auflösung der Identität und der Individualität bereits an. In der Verdoppelung der Figur des Erzählers und damit der Verdoppelung und gleichzeitigen Negation der Identität lösen sich die Person und der Text vollständig auf. Der Aspekt der Gewalt in „Less Than Zero“ wurde in Kapitel 5.1 untersucht. Neben der Gewalt der Kommunikationsverweigerung und der sexuell-autoagressiven Gewalt, die sich etwa in der promiskuitiven Sexualität oder dem Alkohol- und Drogenmissbrauch äußert, ist die gegen andere Menschen gerichtete Gewalt für den Text von besonderer Bedeutung. Die Kernszenen der Erzählung stellen die Vergewaltigung eines jungen Mädchens und die Prostitution von Julian in einem Hotelzimmer, dem Clay beiwohnt, dar. Sein Wusch „to see the worst“701, lässt ihn aus der Rolle des passiven Beobachters, die er bei der der Vergewaltigung noch innehatte, zu einem integralen Bestandteil des Arrangements werden. Clay will durch das Extremum Gefühle produzieren. Die Sprache kann, wie Clays vergebliche ethisch-moralische Intervention gezeigt hat, die Gewalt und die Welt nicht mehr fassen und ausdrücken. Am Ende des Textes stehen Bilder der Gewalt, die von Clay ausdrücklich als Bilder erinnert und bezeichnet

699 Ellis: Glamorama, S. 5. 700 Ebd., S. 5. 701 Ellis: Less Than Zero, S. 172.



Zusammenfassung

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werden: „The images I had [...]“702. Ihre Macht gewinnen diese Bilder aus ihrem Status, der sich aus der exzessiven Gewalt ergibt, die sprachlich nicht mehr zu fassen ist. Die Gewalt wird als das Medium erkannt, das eine nichtsprachliche Äußerung noch artikulieren und kommunizieren kann. Nur Bilder – vor allem Bilder der Gewalt – können die Welt noch beschreiben und aus der Hypertrophie der sinnlosen Kommunikation führen. In „American Psycho“, das im darauf folgenden Kapitel besprochen wurde, erweitert der Erzähler Bateman nun Clays Rolle und übt selbst aktiv Gewalt aus. Die Misshandlung des Obdachlosen Al lässt sich als Versuch lesen, mit dem Anderen, der mittels Sprache nicht mehr erreichbar ist, in Kommunikation zu treten. Die Gewalt wird als Gegenbewegung zur Auflösung der Sprache in hypertrophe Wortspiele verstanden; mittels ihrer unmittelbaren und evidenten Äußerung kann sie noch den Kontakt herstellen. Die Gewalt ist zudem bildlich zu lesen; Bateman versucht, mit dem Eindringen in den Körper des Opfers das vermisste ‚Innere‘ – das hier ganz wörtlich verstanden wird – des Anderen aufzuspüren. Ein Kontakt mit dem ‚Inneren‘ ist nur noch durch das gewaltsame Eindringen in den Körper möglich; Kontakt lässt sich nur noch mit dem Messer herstellen. Das Scheitern dieser Bemühungen wird mit dem Töten des Kindes im Zoo deutlich. Der Tod des Kindes wird aufgrund dessen geringer Einbindung in menschliche Netzwerke als „useless“703 empfunden; Batemans Ziel ist nicht das wahllose Töten an sich, sondern das Erzeugen von Schmerz. Mittels Schmerz soll ein bedeutungstragendes Zeichen generiert werden, das den unlesbaren Zeichen der hypertrophen Warenwelt ein lesbares Zeichen entgegensetzt. Lediglich der archaische Schmerzenslaut – und der Schmerz – stehen jenseits der Signifikatverschiebungen, die die Kommunikation und Sprache auflösen und eine Benennung unmöglich machen. Kapitel 5.3 zeigte, wie in „Glamorama“ die ‚Lösung‘ Batemans für die Wiederherstellung der Kommunikation diskutiert und ihr Scheitern demonstriert wird. Die Gewalt löst in „Glamorama“ die Grenzen zwischen Realität und Fiktion vollständig auf und erzeugt eine Welt, in der diese Begriffe, sowie die divergenten Bedeutungen von ‚wahr‘ und ‚unwahr‘, ‚richtig‘ und ‚falsch‘ sich nicht mehr unterscheiden lassen und zusammenfallen. Der Bombenanschlag in London passiert sowohl in der Realität als auch im Film. Die Gewalt der Manipulation und Verdoppelung von Menschen erschafft nun nicht mehr ein bedeutungstragendes Zeichen – wie etwa in „American Psycho“ –, sondern erweist sich als integraler Bestandteil der Auflösungsmechanismen. Die individuelle Person und Geschichte und ihre Identität lösen sich auf; 702 Ebd., S. 207. 703 Ellis: American Psycho, S. 299.

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Bret Easton Ellis

das Ich spaltet sich in mehrere Rollen auf, die alle gleich ‚wahr‘ sind. Die Identität einer Figur ist nur noch im Plural zu denken. Wie Clay in „Less Than Zero“ liest auch Ward die Aufschrift „Disappear Here“704. Im Gegensatz zu Clay, dem zwar das Verschwinden so wenig wie Bateman und Ward gelingt – und der in den folgenden Texten unverändert wieder erscheint –, der aber noch die Hoffnung auf Rettung hat, steht für Ward am Ende anstatt des Verschwindens seine Verdoppelung und gleichzeitige Auslöschung. Ward telefoniert mit sich selbst und erfährt durch seine Familie seine Auslöschung; Original und Kopie fallen ununterscheidbar zusammen. „I’m disconnected.“705

704 Ellis: Glamorama, S. 416. 705 Ebd., S. 476.

Die Tiefe muß man verstecken. Wo? An der Oberfläche.706 Hugo v. Hofmannsthal Niemand kann die Grenze zu einem anderen überschreiten – aus dem einfachen Grund, weil niemand Zugang zu sich selbst gewinnen kann.707 Paul Auster

7. Einführung zu Christian Kracht Christian Krachts Debüt „Faserland“ sorgte bei seinem Erscheinen im Jahr 1995 für eine gezielte Provokation im Literaturbetrieb. Die Reaktionen auf den Text changieren zwischen der affirmativen Annahme der postulierten Distinktionsgewinne durch den habituellen Gebrauch von Kleidung oder anderen Statusgegenständen und der emphatischen Ablehnung des Textes aufgrund eben dieser Aspekte. Auch Literaturkritik und -wissenschaft taten sich zu Beginn mit einer Haltung, die den Text jenseits einer oftmals empörten Analyse der beschriebenen Oberfläche wahrnimmt, schwer. Die identifikatorische Lesart, die Florian Illies in seinem Text „Generation Golf“708 vorschlägt und die in dem Satz „Nicht nur ich, so durfte man endlich sagen, finde die Entscheidung zwischen einer grünen und einer blauen Barbour-Jacke schwieriger als zwischen CDU und SPD.“709 gipfelt, erweist sich zwar als grobe Fehllektüre, kann aber doch als exemplarisch für einen Großteil der (Positiv-)Rezeptionen gelten. Grundlegende literaturwissenschaftliche Regeln werden sowohl von euphorischen Lesern als auch von den Fachrezensenten durch die Gleichsetzung von Autor und Erzähler missachtet. Die Schärfe der Reaktionen, die jedes rationale Urteilsvermögen trübt, zeigt, dass Kracht mit „Faserland“ eine großartige Provokation für etliche der etablierten Kritiker abgeliefert hat. Dass der Text sich in einer Lesart, die ihn als Provokation und/oder Beschreibung oberflächlicher Distinktionsgewinne rezipiert, nicht erschöpft, 706 Hofmannsthal, Hugo von: Das Buch der Freunde. In: Ders.: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze III. 1925–1929. Hrsg. v. Bernd Schoeller, Ingeborg Beyer-Ahlert und Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main 1980, S. 268. 707 Auster, Paul: Die New York-Trilogie. Hinter verschlossenen Türen. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 296. 708 Illies, Florian: Generation Golf. Eine Inspektion. Berlin 72000. 709 Ebd., S. 155.



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wurde zu Beginn der Diskussion oftmals übersehen. So eindeutige Motive wie der romantische Tod im Bergsee – der natürlich auch als intertextuell und ironisch gebrochen verstanden werden muss – wurden ignoriert und nicht als Zeichen einer möglichen tieferen Lesart interpretiert. In dieser Arbeit wird nun eine Lesart vorgestellt, die den Text jenseits der gängigen Pop-Literatur-Rezeptionen wahrnimmt und nach dem ‚ernsten‘ Thema des Textes, das in „Faserland“ angedeutet und in „1979“ vollständig entfaltet wird, fragt. Insbesondere soll die in „Faserland“ virulente Thematik der Bindungslosigkeit des Individuums und die Loslösung aus sämtlichen sozialen und politischen Bereichen sowie der damit einhergehende Verlust des ‚inneren Zentrums‘ gezeigt werden. In den Rezensionen wird „Faserland“, wie zuvor angedeutet, zumeist missverstanden und abgelehnt. Die emotional gefärbten Kritiken, die sich oftmals von Krachts Provokationen, etwa gegen Hermann Hesse oder gegen die Hippie-Bewegung, aufbringen lassen, vergessen jegliche rationale literaturwissenschaftliche Methode. Die Titel der Rezensionen wie „Inmitten des Party-Geplauders erstaunlich spracharm“710 – hier wird vom „dümmlichen Gestammel“711 des Textes gesprochen – oder „Sprachlos, haltlos – einfach platt. Christian Krachts Roman ‚Faserland‘: Hochgelobt, aber mißlungen. Alle Lackaffen der Republik vereint.“712 zeigen den Tenor der Besprechungen. Neben den genannten Artikeln ließen sich noch weitere aufführen – oftmals mit ähnlich eindeutig diffamierenden Titeln –, da jedoch die argumentative Struktur zumeist gleich verläuft, kann auf eine ausführlichere Untersuchung der Rezeption verzichtet werden. Die 2002 im Nachhinein erschienene Rezension in der FAZ fasst die damalige Situation zusammen: „‚Faserland‘ ist das am meisten mißverstandene Buch der neunziger Jahre. Es wurde mit den falschen Argumenten gemocht und mit den richtigen Worten kritisiert; in der Kritik steckte kaum etwas Wahres.“713 Ob die Kritik tatsächlich mit den „richtigen Worten“ erfolgte, scheint nach der Darstellung der Zeitungsrezensionen eher fraglich; richtig ist jedoch, dass Faserland“ in der Tat oftmals von den ‚falschen‘ Lesern aufgrund einer ‚falschen‘ Lektüre gemocht wird – die prominenteste identifikatorische Fehllektüre ist sicherlich die bereits zitierte von Florian Illies in „Generation Golf“. Ein Verständnis des Textes lässt sich weder in der emotionalen Ablehnung des vermeint-

710 Marco, Martin: Inmitten des Party-Geplauders erstaunlich spracharm. In: Der Tagesspiegel. 23.3.1995, S. 55. 711 Ebd., S. 55. 712 Witzle, Christoph: Sprachlos, haltlos – einfach platt. Christian Krachts Roman „Faserland“: Hochgelobt, aber mißlungen. Alle Lackaffen der Republik vereint. In: Fuldaer Zeitung. 8.7.1995. 713 Gdi (Kürzel des Verfassers wird auf dessen Wunsch hin nicht aufgelöst): Christian Kracht: Faserland. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 17.3.2002, S. 26.

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Christian Kracht

lich oberflächlichen Romans einer „leergeräumte[n] Schnöselseele“714 noch in der euphorischen An- und Aufnahme der dargestellten Distinktionen finden. Eine Parallele zu der schwierigen Veröffentlichung von Ellis’ „American Psycho“, das bei den Mitarbeitern des Verlages, wie in Kapitel 3.2 dargestellt wurde, auf vehemente Ablehnung stieß, findet sich in der Rezension von Thomas Hüetlin, die im Magazin „Der Spiegel“ erschien.715 „Die meisten Außendienstler meinten, daß man dieses Buch nicht ernsthaft vermarkten könne, manche fühlten sich gar verhöhnt; eine Minderheit hielt dagegen, ‚Faserland‘ sei brillant.“716 In seiner frühen, positiven und weitsichtigen Rezension schließt sich Hüetlin der Minderheitenwertung an und deutet neben der Verwandtschaft zu Bret Easton Ellis – deren Postulat in den folgenden Rezensionen übernommen und oftmals überstrapaziert wird – den ‚ernsten‘ Sinn des Textes, der am Ende zwischen der ‚Lösung‘ der Auslöschung der eigenen Person und der ‚Erlösung‘ in „Form von schwarzlilafarbenen Trainingsanzugträgern aus dem Osten“717 schwankt, an. „Faserland“ wird im Allgemeinen als Apotheose der Oberflächlichkeit der Pop- und Postmoderne gelesen – eine Lesart, die sich, wie gezeigt wird, bei einer genauen Lektüre des Textes so nicht halten lässt. Sechs Jahre nach „Faserland“ erscheint mit „1979“ der zweite Roman von Kracht und erfährt eine gänzlich andere Rezeption: „Mit der Ironie wird Ernst gemacht.“718 Das Feuilleton liest in dem Text – zur Beruhigung seiner Kritiker – eine Abkehr von der Pop-Literatur und einen ‚neuen Ernst‘, der sich mit dem ‚ernsten‘ Weltgeschehen von 2001, auch wenn der Text lange vor 9/11 abgeschlossen war, trefflich in Verbindung setzen lässt. Dass Kracht, auch wenn der Text in Teheran und in einem totalitären chinesischen Lager spielt, eben keinen Kommentar zur Weltpolitik, sondern zur individuellen inneren psychischen Situation des Erzählers formuliert hat, wird hierbei oft übersehen. Eine der ersten Rezensionen schreibt Karl Corino für die „Welt am Sonntag“719. Zu Beginn seiner Besprechung macht er die Anmaßung Krachts, den er bereits im Untertitel des Artikels als „Pop-Literat“720 bezeichnet und abqualifiziert, diese Welt 714 Henning, Peter: Leergeräumte Schnöselseele. Rauscht an der Wirklichkeit vorbei: Christian Krachts Debütroman „Faserland“. In: Hamburger Rundschau. Nr. 20. 11.5.1995. 715 Hüetlin: Das Grauen im ICE-Bord-Treff. S. 226 ff. 716 Ebd., S. 226. 717 Ebd., S. 228. 718 Freuler, Regula: Weltenbummler sind die wahren Imperialisten. Christian Kracht rechnet in „1979“ mit der Hippiegeneration ab. In: Sonntagszeitung. 1.10.2001. 719 Corino, Karl: Abspecken im Gelben Gulag. Zeitreise mit Pop-Literat Christian Kracht in den Iran der islamischen Revolution. In: Welt am Sonntag. 7.10.2001. 720 Ebd.



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der iranischen Revolution zu beschreiben, „was [...] noch kein iranischer Autor, kein Augenzeuge wagte“721, deutlich. „Vieles an diesem Text ist einfach schlecht motiviert und völlig unplausibel“722, behauptet Corino und nennt als Beleg die Reise des Erzählers zu dem Berg Kailasch, die Corino nicht mit dem übrigen Text in Einklang bringen kann. „[E]ine Umrundung dieses Kailasch [...] scheint doch einfach cool.“723 Wenig später sieht er „1979“ als „Politfarce“724 und als „literarische Erschleichung des Elends durch einen westlichen Wohlstandsbürger“725. Corinos merkwürdige und unsachliche Ausfälle gegen den Text und den Autor lassen sich nur aus seinem völligen Unverständnis des Textes und seiner missglückten Lektüre erklären. Die Rezension von Corino stellt eine der wenigen negativen Besprechungen dar; im Allgemeinen wurde „1979“ deutlich positiver als „Faserland“ gesehen. Hubert Spiegel liest „1979“ als Fortsetzung von „Faserland“: „‚Faserland‘ war der verzweifelte Versuch, das hübsche, bunte Legoland, das man selbst mit aufgebaut hatte, mit einer verzweifelten Geste des Hasses von seiner genoppten Platte zu fegen.“726 Zu Recht erkennt Spiegel, dass bereits „Faserland“ mit einer Affirmation der Pop-Oberfläche wenig gemein hat. „1979“ schließt an „Faserland“ an, „folgt dem gleichen Muster, geht aber sehr viel weiter.“727 Eine ausführliche – und positive – Rezension schreibt Elke Buhr für die „Frankfurter Rundschau“.728 Bereits in der Überschrift ihres Artikels verweist sie auf die Verwandtschaft des Erzählers zu der Figur des Dandys der Jahrhundertwende, betont aber, dass die Gleichsetzung des Dandys der Erzählung und des Autors eine Fehllektüre sei. In der Sprache von „1979“ sieht sie einen signifikanten Unterschied zu „Faserland“, da die unscharfe und unsichere Sprache einer Sprache der klaren Präzision gewichen ist; „der Ich-Erzähler nämlich hält sich zurück im Bewerten oder Reflektieren der Ereignisse; er ist vielmehr ‚ein offenes Gefäß‘“729. Buhr liest

721 Ebd. 722 Ebd. 723 Ebd. 724 Ebd. 725 Ebd. 726 Spiegel, Hubert: Wir sehen mit Augen, die nicht die unseren sind. Der Blick auf die Oberfläche reicht nicht mehr: Aus Christian Krachts Roman „1979“ spricht der Selbsthaß als Lebensgefühl des Westens. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 9.10.2001. 727 Ebd. 728 Buhr, Elke: Durch nichts erregt werden. Christian Krachts neuer Roman „1979“ schickt einen dummen Dandy durch die Hölle. In: Frankfurter Rundschau. 10.10.2001. 729 Ebd.

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Christian Kracht

in dem Text die „Lust am Untergang [...] und eine große Sehnsucht nach dem Purgatorium“730. Krachts dritter Roman, der 2008 erscheint, schließt thematisch an „Faserland“ und „1979“ an und erzählt weiterhin von der utopischen Suche nach dem Austritt aus der erzählten Realität.731 Das Motiv der Flucht, die in „Faserland“ als imaginierte Flucht auf eine einsame Insel, wo der Erzähler zusammen mit Isabella Rossellini ihre gemeinsamen Kinder fernab der Zivilisation großziehen will, und in „1979“ als Flucht, die im Aufgehen in dem Lager besteht, erzählt wird, bleibt auch für „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ bedeutsam. Die Flucht aus der Diktatur führt diesmal jedoch tatsächlich an einen anderen Ort: Der Text endet mit der Heimkehr des Erzählers in seine Heimat, nach Afrika. Er kehrt zurück in eine utopische Welt, die ein prämodernes und präurbanes Natur- und Welterlebnis präsentiert, das nicht nur den Gegenentwurf zu der in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ gezeichneten Welt, sondern auch zu jener in „Faserland“ und „1979“ gezeigten Welt darstellt. Am Ende kommt der Erzähler im Land seiner Väter an und erfährt die Aussetzung der Dissozialisation und die Erfahrung der Einheit mit seiner Welt und seinem Ich. In den Rezensionen wird „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ sehr positiv gesehen – was sich nicht zuletzt an dem Vorabdruck des Textes in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zeigt. In einer der ersten – und streckenweise nicht ganz unproblematischen – Rezensionen in der „Süddeutschen Zeitung“ lobt Gustav Seibt Krachts Sprache als das „schönste, eleganteste Deutsch, das derzeit zu lesen ist“732 und grenzt Krachts Stil deutlich von der Masse der deutschen Gegenwartsliteratur ab, die entweder „überdeutlich oder, oft noch quälender, literaturinstituthaft geschliffen“733 klingt. Seibt zeigt sich von dem „höchstbegabten und fast toxisch trostlosen Buch“734 tief beeindruckt. Die Rezension in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ beginnt mit der Feststellung, dass der Text auf der Longlist des deutschen Buchpreises fehlt. Tobias Rüther liest den Text in Zusammenhang mit „Faserland“ und „1979“ und erkennt hinter den vermeintlichen Popvisionen die Ahnung eines „Ort[es], der nicht im 730 Ebd. 731 An dieser Stelle soll darauf verwiesen werden, dass der Text nicht den Regeln der deutschen, sondern der schweizerischen Rechtschreibung folgt. 732 Seibt, Gustav: Die Sowjetrepublik von Schweizerisch-Salzburg. Totalitarismus-Nippes im schönsten, elegantesten Deutsch, das derzeit zu lesen ist: Christian Krachts neuer Roman. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 220. 20./21.9.2008, S. 13. 733 Seibt: Die Sowjetrepublik von Schweizerisch-Salzburg, S. 13. 734 Ebd., S. 13.



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Hier und Jetzt lag, sondern eher in der Erinnerung oder in einer vage erträumten Zukunft“735. Rüther sieht in dem Ort der Handlung von „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“, in dem „utopische[n] Dorf schlechthin“736, der Schweiz, die Manifestation der zuvor imaginierten Fluchtorte. Wie Seibt ordnet auch Rüther den Text sowohl in das Gesamtwerk Krachts ein – und zeigt die Linien auf, die von dem vermeintlichen Poptext „Faserland“ über „1979“ bis zu dem neuesten Text verlaufen – als auch in die anklingende literarische Tradition, die einen Schwerpunkt bei Jünger findet. Kracht lässt den Erzähler wie „Ernst Jünger in Paris beim Burgunder reden“737. Die Sprachskepsis Krachts findet in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ ihren deutlichsten Ausdruck und erweist sich „als kostümierte Gegenwartsskepsis“738.

735 Rüther, Tobias: Der unsichere Kantonist. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 199. 26.8.2008, S. 37. 736 Ebd., S. 37. 737 Ebd., S. 37. 738 Ebd., S. 37.

8. Die Texte von Christian Kracht

In diesem Kapitel sollen die wichtigsten Texte von Christian Kracht besprochen werden: „Faserland“, „1979“ und „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“. In Kapitel 8.1 werden Forschung und Textstruktur zu „Faserland“, in Kapitel 8.2 Forschung und Textstruktur zu „1979“ und in Kapitel 8.3. Forschung und Textstruktur zu „Glamorama“ besprochen. Im abschließenden Kapitel 8.4 werden die Kontinuitäten zwischen den einzelnen Texten abgebildet.

8.1 STAND DER FORSCHUNG UND TEXTSTRUKTUR „FASERL AND“

In der Forschung wird „Faserland“ im Allgemeinen positiv aufgenommen. Die Ansätze der Deutungen sind vielfältig und reichen von einer Lesart, die den Text als verpasstes coming-out versteht, bis hin zu einer Lesart, die im Text die Archivierung des popkulturellen Wissens sieht. Derzeit scheinen sich zwei Hauptrichtungen der Interpretation des Textes in der Forschung abzuzeichnen: Zum einen die Gruppe, die den Aspekt der Archivierung bzw. der performativen Posen besonders stark macht (hier wären vor allem Moritz Baßler, Heinz Drügh und Claudia Breger zu nennen), und zum anderen die Gruppe um Thomas Borgstedt und Leander Scholz, die den Texen mit einer hermeneutisch angelegten Lesart begegnen. Im Jahr 2001 erscheint im Band „Der deutsche Roman der Gegenwart“739, in dem Überblicksdarstellungen und Einzelanalysen zu Texten der Gegenwartsliteratur – einen Schwerpunkt stellt die Pop-Literatur dar – präsentiert werden, der Aufsatz „‚154 schöne weiße leere Blätter.‘ Christian Krachts ‚Faserland‘ (1995)“ von Stefan Beuse. Auf wenigen Seiten stellt Beuse eine kurze Analyse des Textes vor, die in der „große[n] Leere“740, die der Text, ohne selbst „gesellschaftspolitische Position zu beziehen“741, mittels seiner unkommentierten und unreflektier739 Freund, Wieland und Freund, Winfried (Hrsg.): Der deutsche Roman der Gegenwart. München 2001. 740 Beuse, Stefan: „154 schöne weiße leere Blätter“. Christian Krachts „Faserland“ (1995). In: Der deutsche Roman der Gegenwart. Hrsg. v. Wieland Freund und Winfried Freund. München 2001, S. 150–155, hier S. 151. 741 Ebd., S. 152.



Die Texte

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ten Abbildung der Oberfläche erzeugt, den Kern des Textes sieht. Diese Darstellung wird durch die Sprache des Textes, die sich in einer naiven Ungenauigkeit und Unbedarftheit äußert, unterstützt. Beuse liest den Text als performative Darstellung der Leere, die nicht per Text beschrieben, sondern im Leser erzeugt wird. „[A]m Ende [hat Kracht] das Bild eines Menschen, einer ganzen Generation gezeichnet, die an der Oberfläche der Dinge herab ins Nichts gleitet.“742 Anke S. Biendarra liest den Erzähler in „Faserland“ als Flaneur743 und stellt ihrem Aufsatz den Wunsch voraus, dass dieser eine Diskussion anregen möge, „da diese bisher nicht einmal in Ansätzen existiert.“744 Walter Benjamins Überlegungen zum Flaneur, die er hauptsächlich in seinem Passagenwerk formuliert, liefern die Folie, vor der Biendarra Krachts Text liest. Im Gegensatz zu Benjamins Flaneur bewegt sich der Flaneur, der Ich-Erzähler, in „Faserland“ jedoch nicht mehr und verlässt sich auf „sekundär vermittelte Sinneseindrücke und moderne Fortbewegungsmittel“745, anstatt seine Eindrücke im Gehen oder Flanieren aufzusammeln. Biendarra versteht den Text nicht, was sicher nahe liegen würde, als sprachlich-textliches Flanieren, das sich etwa in der ungerichteten und ungeplanten Bewegung der ziellosen Reise ausdrückt und somit wiederum abstrahiert dem Flaneur Benjamins entsprechen würde. Zudem liest sie die Reise des Erzählers als fiktiv und imaginiert; „der Leser flaniert in einer solipsistischen Gehirnlandschaft herum“746, ohne dies jedoch am Text genauer zu belegen. Indem er auf die „Diktion der Warenwelt“747 rekurriert, befindet der Erzähler sich „jenseits der Sprachkrise“.748 Sollte diese These zutreffen, wäre nach dem Grund für die sich ständig in relativierenden und lavierenden Partikeln zurücknehmende und sich selbst in Frage stellende Sprache zu fragen – eine genaue Untersuchung wird in dieser Arbeit geleistet. Am Ende der Überlegungen von Biendarra steht die Auslöschung des Erzählers. Die letzten Seiten von „Faserland“ scheint sie nun nicht mehr als imaginierte Reise, sondern als real erlebt zu verstehen – zumindest stellt sie nicht klar, ob ihre These der imaginierten Reise nun auch zu einer imaginierten Auslöschung führt, oder ob diese nun als real zu lesen ist. 742 Ebd., S. 155. 743 Biendarra, Anke S.: Der Erzähler als „Popmoderner Flaneur“ in Christian Krachts Roman Faserland. In: German Life and Letters. Bd. 55, Ausgabe 2. (2002, S. 164–179. 744 Ebd., S. 165. 745 Ebd., S. 169. 746 Ebd., S. 168. 747 Ebd., S. 168. 748 Ebd., S. 168.

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Christian Kracht

Eine der bekanntesten Untersuchungen des Buches stellt Moritz Baßler 2002 in seinem Buch „Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten.“ vor. Der Untertitel deutet Baßlers Kernthese schon an: Er liest die Texte der Pop-Literatur als Versuch, ein popkulturelles Archiv der Gegenwart zu erstellen. Am deutlichsten wird dies an den Texten von Benjamin von Stuckrad-Barre, in denen Listen präsentiert werden, die die Pop-Kultur schriftlich fixieren und organisieren. In der Sprache Krachts erkennt Baßler Rollenprosa, die die Performance im späteren „Tristesse Royale“ bereits andeutet. Die Posen „werden nur eingenommen, um sich sogleich zu relativieren“749; nichts ist eigentlich, alles wird nur ironisch oder performativ ausgestellt.750 Der Text, wie auch die anderen Texte der Pop-Literatur erweist sich als Archiv, als „Archivierungs- und ReKanonisierungsmaschine“751, in dem ein Plot oder eine erzählte Handlung dekonstruiert wird und nur noch als Pose aufscheint. Baßler betont den Zusammenhang zwischen Pop-Literatur und Postmoderne/Poststrukturalismus: „Erinnerung! Archivierung! Intertextualität! [...] Dekonstruktion (Postmoderne).752 Kritik erfährt Baßlers These von Thomas Borgstedt753, der überzeugend belegt, dass sich die Texte eben nicht in einer performativen Rollenprosa erschöpfen, die letztlich nur ein Archiv der Gegenwart erstellt. Er belegt dies an seiner These zur verdrängten Homosexualität des Erzählers, die – in Widerspruch zu Baßlers sonstigen Ausführungen – bereits von diesem angedeutet wird und dessen Reduktion des Textes allein auf das Archiv in Frage stellt. Die Überlegungen von Borgstedt behalten auch ihre Berechtigung, wenn eine andere Lesart als die von ihm vorgeschlagene vorgenommen wird. Jede Lesart, die im Text noch etwas jenseits einer Archivierung liest, einen ‚tieferen Sinn‘, der meines Erachtens im Text deutlich angelegt ist, wird Borgstedts Kritik folgen wollen. Auch für diese Arbeit werden die dichotomen Positionen bei der Analyse der Texte Krachts mitgedacht. 749 Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 123. 750 Zur berechtigten Kritik an dem Versuch, mittels der Proklamation von Performativität eine Differenz zwischen Text und Welt zu konstruieren, um dann interpretatorisch den Text jenseits einer reinen Oberflächendarstellung – eben nicht-performativ – zu verstehen, vergl.: Geulen, Eva: Und weiter. Anmerkungen zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit deutscher Popli­teratur. In: Kunst, Fortschritt, Geschichte. Hrsg. v. Christoph Menke und Juliane Rebentisch. Berlin 2006, S. 133–147, hier S. 139. 751 Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 46. 752 Ebd., S. 134. 753 Borgstedt, Thomas: Pop-Männer. Provokation und Pose bei Christian Kracht und Michel Houellebecq. In: Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Claudia Benthien und Inge Stephan. Köln, Weimar und Wien 2003, S. 221–247.



Die Texte

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Eine völlig andere Lesart präsentiert der bereits erwähnte Thomas Borgstedt in seinem Aufsatz „Pop-Männer. Provokation und Pose bei Christian Kracht und Michel Houellebecq“. Er liest den Text als Ausdruck einer Krise der Männlichkeit, die sich in der Flucht vor heterosexueller Körperlichkeit und der gleichzeitigen ambivalenten betont homophoben Haltung des Erzählers äußert. Unter der Homophobie, so Borgstedt, lassen sich verdrängte homosexuelle Neigungen erkennen, die etwa in der überaus schockierten Reaktion auf die Bisexualität – und das Ausleben dieser – eines Freundes deutlich werden. Borgstedt schließt hier an Baßler an, der „Faserland“ „als Problemstudie über ein verpaßtes Comingout“754 versteht, letztlich aber, wie gezeigt, den Fokus auf die Archivierungsfunktion des Textes lenkt. Dem Erzähler ist eine „Unfähigkeit zu[r] Nähe“755 eigen, die jegliche zwischenmenschliche Bindungen, auch jene, die keine sexuelle Konnotation aufweisen, unmöglich macht. Das „Schlüsselerlebnis“756 erkennt Borgstedt in dem Erlebnis des Erzählers an einem Schwulenstrand auf Mykonos. Die „Epiphanie“757, die sich beim Anblick des am Horizont vorbeifahrenden Dampfers einstellt, liest er im ironisch ambivalenten Zusammenhang zu eben jenem Ort, den der Erzähler aufgrund seiner Homophobie so vehement ablehnt. Die heterosexuelle Männlichkeit wird als Maske gesehen, und einerseits durch die Ironie der Erzählung gebrochen, zugleich jedoch „als identifikatorische Posen in den kulturellen Raum transportiert und sowohl dem Autor als auch dem Begriff ‚Pop-Literatur‘ insgesamt zugeeignet.“758 In der Maske offenbart sich die Verunsicherung des männlichen Subjekts und der männlichen Identität. Christian Krachts Debüt „Faserland“ beschreibt eine Reise durch Deutschland. Der namenlose Ich-Erzähler reist von Norden nach Süden; von Sylt über Hamburg, Frankfurt, Heidelberg und München bis schließlich nach Zürich. Die einzelnen Stationen der Reise ergeben sich meistens spontan aus einer Augenblickslaune des Erzählers. „Er reist nicht durch Deutschland, er wird gereist.“759 Die scheinbar ungeplanten Reiseziele unterliegen jedoch einem strengen geographisch-kompositorischen Prinzip, das sich in der Nord-Süd-Route der Reise artikuliert. Die Möglichkeit, von dieser Route abzuweichen, ist dem Erzähler nicht gegeben; er täuscht sich, wenn er sagt, dass er „genausogut [...] nach Berlin 754 Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 113. 755 Borgstedt: Pop-Männer, S. 240. 756 Ebd., S. 241. 757 Ebd., S. 241. 758 Ebd., S. 243. 759 Hüetlin: Das Grauen im ICE-Bord-Treff, S. 226.

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[...] oder nach Nizza oder nach London“760 hätte fliegen können. Dennoch ahnt auch der Erzähler die Zwangsläufigkeit der Reise.761 „Ich habe so ein Gefühl, als ob ich deswegen nach Frankfurt fliege, so in die Mitte von Deutschland rein, als ob ich gar nicht anders kann. Das passiert alles so, als ob es gar nicht zu verhindern wäre.“762 Von dieser Reise berichtet Kracht in einem „völlig unaufgeregten Plauderton“763, der sich durch einen betont alltäglichen und schlichten Satzbau und eine umgangssprachliche Wortwahl auszeichnet. Er hat jedoch für „Faserland“ die ‚großen‘ Themen gewählt: Das Leiden eines jungen Mannes, dem die Fähigkeit zur Bindung an seine Umwelt abgeht, an eben dieser Umwelt, an Deutschland. Dieser Mann, unfähig die Welt in Worte zu fassen, begibt sich auf eine ‚Bildungsreise‘ durch sein Heimatland. Am Ende der Reise, am südlichsten Punkt, findet er den Tod im nächtlichen Bergsee. Der Text besteht aus 8 Kapiteln, die zwischen 12 und 30 Seiten lang sind. Die Folge der Kapitel orientiert sich an der Nord-Süd-Geographie der Reise, vom äußersten Norden auf Sylt bis zum südlichsten Punkt der Reise nach Zürich. Die Kapitel sind jeweils einem Ort zuzuordnen – abgesehen von Kapitel 3, das als Bindeglied zwischen Kapitel 2, das in Hamburg spielt, und Kapitel 4, das von Frankfurt erzählt, die Reise im Flugzeug zwischen den beiden Orten beschreibt. Der Übergang von einem Ort zum nächsten setzt zumeist kurz vor Ende eines Kapitels ein, um dann mit Beginn des folgenden Kapitels abgeschlossen zu werden. Die Übergänge mit den verschiedenen Transportmitteln verbinden somit die sonst nur lose zusammenhängenden Kapitel und sind als strukturierendes Element zu erkennen. Die Reise lässt sich nicht nur mit den besuchten Räumen in Verbindung setzen, sondern auch mit den in den jeweiligen Räumen angetroffenen Personen, respektive Freunden des Erzählers. Bereits hier soll angedeutet werden, dass die ununterbrochene Reise auch als eine (Ab-)Reise von diesen und aus der Beziehung zu anderen Menschen zu sehen ist. Die Verbindung zum Anderen wird durch die Flucht des Erzählers, die sich auch räumlich manifestiert, abgebrochen. 760 Kracht: Faserland, S. 67. 761 Somit entspricht die Reise in „Faserland“ eben nicht dem ungeplanten Flanieren, das scheinbar in dem Text zu lesen ist. Die Charakteristik des Spaziergangs – und der sich aus diesem ergebene Gewinn – lässt sich nicht an diese Stelle anlegen. Zum Spaziergang vergl: Schneider, Helmut J. und Moser, Christian: Einleitung. Zur Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs. In: Kopflandschaften – Landschaftsgänge. Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs. Hrsg. v. Axel Gellhaus, Christian Moser und Helmut J. Schneider. Köln, Weimar und Wien 2007, S. 7–28. 762 Kracht: Faserland, S. 67. 763 Beuse: „154 schöne weiße leere Blätter“, S. 150.



Die Texte

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8.2 STAND DER FORSCHUNG UND TEXTSTRUKTUR „1979“

Claudia Breger geht in ihrem Aufsatz764 von der an „Tristesse Royale“ gemachten Beobachtung aus, dass die dargestellten „Pop-Identitäten [...] unzweideutig als performances markiert [sind]“765, also nicht mehr – wie es so oft in den erbosten Kritiken geschieht – als eigentlich zu lesen sind. Das heißt, die eingenommenen oder dargestellten Posen werden als solche markiert und ausgestellt; wird diese ironisch-performative Markierung jedoch übersehen und die Pose für ‚wahr‘ oder ‚echt‘ gehalten, produziert dieser Lesefehler unweigerlich eine ablehnende Haltung beim Rezipienten. Ursache für diese Aufnahme der Posen „der SelbstDarstellung ist die Diagnose, daß Differenz verloren gegangen sei“766. Breger erkennt nun, dass auch „1979“ nicht mehr ohne dieses Schema des Performativen zu lesen ist. „Die hyperbolische Verdichtung von Stereotypen [...] laden nicht zu einer realistischen Lektüre des Szenarios ein.“767 Das „Archiv des Orients“768 wird in dem Text aufgerufen und mit der Erzählung der Auslöschung oder Auflösung in Verbindung gebracht. Über die Rückbindung der performance und des camp an die in der Queer Theory diskutierten Ursprünge betont Breger die Identität des Erzählers als homosexuelle Identität und verortet „1979“ in der Theorie. Abschließend stellt sich jedoch die Frage, ob der Text nicht über die performative Darstellung der Posen hinaus noch einen ‚tieferen‘ Sinn transportiert, der über die Suche nach der Differenz und nach möglichen Distinktionen hinausweist. Gerade das Ende des Textes, die Auslöschung des Erzählers im totalitären Lager legt eine solche Lesart, wie im Folgenden gezeigt wird, nahe. Ein Jahr später erscheint Leander Scholz’ Aufsatz „Ein postmoderner Bildungsroman: Christian Krachts 1979“769, der die vorgeführte Lesart bereits im Titel führt. Scholz schließt grundsätzlich an die These von Breger an, dass in dem Text nur noch Posen dargestellt werden und eine naive realistische Lesart nicht mehr möglich ist. Er verbindet diese Überlegungen nun mit der Theorie des Lagers 764 Breger, Claudia: Pop-Identitäten 2001: Thomas Meinekes Hellblau und Christian Krachts 1979. in: GegenwartsLiteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Schwerpunkt Multikultur. Bd. 2. (2003), S. 179–225. 765 Ebd., S. 208. 766 Ebd., S. 208. 767 Ebd., S. 214. 768 Ebd., S. 213. 769 Scholz, Leander: Ein postmoderner Bildungsroman: Christian Krachts 1979. In: GegenwartsLiteratur. Ein germanistisches Jahrbuch. Schwerpunkt Jüdisch-deutsche Literatur. Bd. 3 (2004), S. 200–224.

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in „1979“. Hierzu führt er Agambens Biopolitik ins Feld und sieht Agambens Lager in dem Text dargestellt, wobei er zugleich auf die Spannung zwischen der Gewalt des Lagers und dessen Aufscheinen als „utopischer Ort“ hinweist770. Das Lager lässt Innen und Außen verschmelzen. „Wenn es gilt, dass das was außen ist, zugleich innen ist, dann kann nur ein anderes und verschärftes Außen dieses Innen wiederum überwinden.“771 „1979“ ist somit nicht als Abrechnung mit dem Ästhetizismus zu lesen, sondern als dessen Erweiterung, „indem ein vermeintliches Außen des Ästhetizismus wie die Schwelle des ‚nackten Lebens‘ in die ästhetizistische Haltung integriert wird“772. Richard Langston773 liest „1979“ vor dem Hintergrund der Theorien der Postmoderne, insbesondere den Theorien von Jean Baudrillard. So verweist die Aufforderung Mavrocordatos an den Erzähler, „Sie müßten etwas hergeben, ohne etwas dafür zu [...] bekommen“774, auf Baudrillards Theorie des „symbolischen Tausches“775 und „runs [somit] to the core of the simulacrum’s mechanics“776. Wie bereits „Faserland“, so stellt auch „1979“ die Flucht aus der postmodernen Lebenswelt in Deutschland dar. Jedoch, und dies ist die Kernthese Langstons, zeigt „1979“, dass die Rückkehr aus der Postmoderne in einen prä-postmodernen asketischen Orientalismus nicht nur unmöglich ist, sondern nur in der Zerstörung des Körpers enden kann. Im Gegensatz zu Scholz sieht Langston im Ende des Textes die (negative) Selbstzerstörung statt der (positiven) Auslöschung. In seinem Aufsatz „... und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen“777 sieht Heinz Drügh, wie er im Untertitel seines Aufsatzes deutlich macht, „1979“ durchaus nicht als das von den Kritikern oft behauptete ‚Ende der Popliteratur‘, sondern als eine „weitere Karrierestufe“778 derselben. Er be770 Ebd., S. 209. 771 Ebd., S. 218. 772 Ebd., S. 221. 773 Langston, Richard: Escape from Germany: Disappearing Bodies and Postmodern Space in Christian Kracht’s Prose. In: The German Quarterly. Bd. 79, Ausgabe1. (2006), S. 50– 70. 774 Kracht: 1979, S. 114. 775 Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. München 1991. 776 Langston: Escape from Germany, S. 62. 777 Drügh, Heinz: „... und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen“: Christian Krachts Roman 1979 als Ende der Popliteratur?. In: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre. Band 57, Heft 1. (2007), S. 31–51. 778 Ebd., S. 45.



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ginnt sein Plädoyer für die Pop-Literatur mit einer kurzen Darstellung ihrer Geschichte und ihrer theoretischen Grundlagen. Hierbei zieht er bei seiner Analyse von „Faserland“ eine Parallele zu Ellis’ „Less Than Zero“ und J. D. Salingers „The Catcher in the Rye“. Drügh zeigt überzeugend auf, wie das popkulturelle Moment in „1979“, das eben nicht mehr, wie in „Faserland“, in der Aufzählung von Markennamen besteht, mit dem Text verwoben ist. Als Beispiel nennt er eine in „1979“ beschriebene Pilgergruppe, die „wie abgelehnte Komparsen aus Star Wars“779 aussehen, oder die bereits im Aufsatztitel zitierte Befriedigung des Erzählers über seinen Gewichtsverlust, die als „konsequent gestaltete[r] heroin chic zu lesen [sei]“780. Drügh führt eine Vielzahl weiterer popkultureller Zitate auf, die Susan Sontags Definition von camp entsprechen, und schließt seine These an die gezeigten Überlegungen von Breger an. Kracht hebt jedoch bei seiner Archivierung die Trennung zwischen dem Archiv der Popkultur und dem Archiv der ‚ernsten‘ Hochkultur auf und vermischt beide in einem Archiv. „Von Huysmans über Blondie zu Beuys und von Harrer über Handke zu Crumb sind es dabei nur minimale Schritte oder nicht einmal das: sie sind in einem Textfilz zusammengepresst“781. Aus dieser neuen Art der Archivierung folgt, dass der Weg zurück in eine nicht von Marken dominierte Welt nicht mehr möglich ist und dass in dieser Welt der Marken die Trennung der Archive und der Sphären aufgehoben ist, woraus sich eine „gehörige ästhetische Provokation“782, aber auch die Möglichkeit der „Popkultur als denkbar reiche Speicherstätte sozialer Energie“783 ergibt. Christian Krachts zweiter Roman „1979“ erscheint 2001. Der Ort der Handlung, Teheran während der islamischen Revolution Khomeinis, und die Art des Erzählens unterscheiden sich auf den ersten Blick deutlich von Ort und Stil in „Faserland“. Letztlich führt Kracht jedoch die Thematik „Faserlands“ fort: Die Identitätsauflösung und Gewalt, die am Ende von „Faserland“ stehen, werden in „1979“ weiter entfaltet und diskutiert. Die dekadente Welt Teherans unterscheidet sich in ihrer Ästhetisierung nicht von der Welt „Faserlands“: Auch in Teheran und später in Tibet sowie im chinesischen Lager mangelt es dem ästhetizistischen Erzähler an der zuvor in „Faserland“ diagnostizierten Fähigkeit zur Bindung an seine Umwelt und zur Kommunikation mit seinem Gegenüber. Diese Haltung führt ihn geradewegs in die Hölle des chinesischen Umerziehungslagers. 779 Kracht: 1979, S. 142. 780 Drügh: „... und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen.“ S. 38. 781 Ebd., S. 45. 782 Ebd., S. 42. 783 Ebd., S. 35.

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Ihm werden ja mehrere Systeme angeboten, der Islam, den lehnt er ab, die Liebe, die lehnt er auch ab, der Buddhismus. Und er geht dann einfach auf in einem menschenverachtenden System, weil er die Übersysteme, die ihn retten könnten, nicht annehmen will oder kann. [...] Das ist vielleicht die kleine Gesellschaftskritik.784

„1979“ erzählt von der Reise eines homosexuellen Paares nach Teheran zur Zeit der islamischen Revolution Khomeinis. Der Ich-Erzähler und sein Freund Christopher erleben am Vorabend der Revolution mit einem morbiden Fest in einem luxuriösen Haus mit eigenem „Haschwald“785 die verzweifelte Dekadenz der westlich orientierten Bewohner der Stadt. Die Reisenden treffen auf Künstler, Drogenabhängige, reiche Teheraner und auf einen mysteriösen Rumänen namens Mavrocordato, der dem Erzähler prophezeit, dass er in Kürze halbiert werde: „Und diese Halbierung wird sehr bald beginnen, bereits in den nächsten Tagen.“786 Zudem deutet er den weiteren Verlauf der Erzählung an: „Es wird alles noch viel, viel schlimmer werden, glauben Sie mir.“787 Beide Prophezeiungen treten ein, die erste sogar zweifach: Der Erzähler verliert seinen Freund Christopher, der unter erbärmlichen Umständen in einem Krankenhaus stirbt, und erfährt seine erste metaphorische Halbierung; die zweite – wortwörtlich zu verstehende Halbierung – tritt mit der Halbierung seines Gewichtes in einem chinesischen Umerziehungslager ein. Zuvor erhält der Erzähler jedoch von Mavrocordato den Auftrag, in Tibet den heiligen Berg Kailasch zu umrunden, um Buße zu tun. Der Berg „ist eine Art gigantisches Mandala der Natur, also ein Gebet als Weltbegehung“788. Mit seiner Umrundung könne er „das aus den Fugen geratene Gleichgewicht wiederherstellen“789. Bei seiner Wanderung um den Berg trifft er auf eine Gruppe von Mönchen, denen er sich anschließt. Schließlich wird er von chinesischen Soldaten gefangen genommen und in einem Umerziehungslager interniert, in dem er seine Erfüllung in der totalitären Struktur des Lagers und in seiner Auslöschung findet. Der Text gliedert sich in insgesamt 12 Kapitel, von denen Kapitel 1 bis 7 den ersten Teil des Buches und Kapitel 8 bis 12 den zweiten Teil, der nur ein Drittel des Textes ausmacht, bilden. Die beiden Teile sind im Titel jeweils mit einer Unterzeile mit Orts- und Zeitangabe versehen; Teil eins mit „Iran, Anfang 1979“790 784 Cosmo, Claudia: o. T. Besprechung des Romans „1979“. In: „Büchermarkt“ (Radiosendung im Deutschlandfunk). 13.11.2001. 785 Kracht: 1979, S. 43. 786 Ebd., S. 55. 787 Ebd., S. 57. 788 Ebd., S. 115. 789 Ebd., S. 117. 790 Ebd., S. 15.



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und Teil zwei mit „China, Ende 1979“791. Die einzelnen Kapitel sind, wie in „Faserland“, in sich geschlossen und bilden jeweils eine einzelne abgeschlossene Episode der Erzählung.

8.3 TEXTSTRUKTUR „ICH WERDE HIER SEIN IM SONNENSCHEIN UND IM SCHAT TEN“

Krachts dritter Roman präsentiert eine völlig andere erzählte Welt als die beiden Vorgänger, nimmt jedoch die prägenden Themen von „Faserland“ und „1979“, die problematische interpersonale Kommunikation und Bindung zum Anderen und die utopische Weltflucht, auf und führt die Diskussion dieser Themen fort. Der Text präsentiert eine kontrafaktische Geschichtsschreibung, in der Lenin nicht im plombierten Zug in die Sowjetunion heimkehrt, sondern in der Schweiz einen totalitären Sowjetstaat gründet, der sich zum Zeitpunkt der Erzählung seit nahezu einem Jahrhundert mit dem deutsch-englischen Faschistenbündnis und den italienischen Faschisten im Krieg befindet. Zudem, so die weitere Neuschreibung der Geschichte und Grenzen, drohen aus Asien das „Hindustanisches Reich“792 und das Großaustralische Imperium; die „Amexikaner“793 ziehen sich in Amerika auf ihr Gebiet zurück und Afrika zerfällt in drei Teile: Der Norden ist faschistisch-britisch, der Süden burisch und die Mitte ist Teil der Schweizer Sowjetrepublik „SSR“794. Die Schweiz erfährt in dem andauernden Kriegszustand eine Fokussierung auf die militärischen Interessen; der Krieg fungiert als alleiniger Sinngeber und hat sämtliche nicht-militärischen Entwicklungen soweit paralysiert, dass die gezeichnete Welt eine hybride Mischung aus fortschrittlicher militärischer Raketentechnologie einerseits und dem archaischen Gebrauch von Pferden und Kutschen als Transportmittel andererseits aufweist. Mit der Konzentration auf den steten Krieg werden sämtliche kulturelle Errungenschaften und Techniken – sofern sie nicht militärisch zu nutzen sind – exkludiert. Die Schriftkultur wurde in der Schweiz nahezu abgeschafft; somit ist der Ich-Erzähler, ein farbiger Politkommissar, von dessen Befehl, den Verräter Brazhinsky zu verhaften, der Text erzählt, neben dem erwähnten Verräter der einzige, der des Lesens und Schreibens noch mächtig ist. Die Suche des Erzählers nach Brazhinsky stellt den Kern der Erzählung dar. Wie in „1979“ führt die Suche – dort die Suche nach Reinheit und Buße, hier 791 Ebd., S. 121. 792 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 16. 793 Ebd., S. 137 794 Ebd., S. 20.

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nun die konkrete Suche nach der zu verhaftenden Person – den Erzähler in die Berge. Pilgerte der Erzähler in „1979“ zum heiligen Berg Kailasch, bevor er am Ende des Textes die Selbstauslöschung in einem chinesischen Umerziehungslager erfährt, so führt diesmal der Weg zum fiktionalen Piz Lenin im Berner Oberland. In der gigantischen Alpenfestung, die sich in dem Berg befindet, trifft der Erzähler schließlich auf den Gesuchten. Kracht führt die in „Faserland“ und „1979“ diskutierte Thematik des sinnentleerten Lebens fort, das in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ nur noch in der Aufrechterhaltung und Weiterführung des Kriegszustandes besteht: „Es war notwendig, dass der Krieg weiterging. Er war der Sinn und Zweck unseres Lebens, dieser Krieg“795. Mit der Setzung des Krieges als Selbstzweck und als alleinigen Sinnstifter erinnert der Text zuweilen an eine Mischung aus George Orwells „1984“796, Aldous Huxleys „Brave New World“797 und den Texten Ernst Jüngers. Dennoch muss der Erzähler letztlich erkennen, dass die beeindruckende und omnipräsente Kriegsmaschinerie letztlich nur aus Simulakren besteht und Propaganda ist. „Das Bombastische des Réduits ist ein magisches Ritual, ein leeres Ritual“798. Der alleinige Sinn, der Krieg, offenbart sich wie auch die sinn- und nutzlose Alpenfestung, die das Kommandozentrum darstellt, als leeres Ritual, das in einer ewigen Dauerschleife Leere produziert – und ist damit als Strukturanalogie zum leeren Zentrum in „Faserland“ und „1979“ zu lesen, wo sich die Leere symbolisch in der Leere der Umkreisung des heiligen Berges manifestiert. Das Kernthema des Textes, das wiederum an die vorigen Texte anschließt, ist jedoch die unmöglich gewordene Kommunikation, die Kracht bereits in seinem Debüt „Faserland“ dargestellt hat. In Krachts neuestem Text wird nun versucht, dieses Defizit zu füllen, indem eine ‚neue Sprache‘ präsentiert wird, die, ähnlich wie die von Hugo von Hofmannsthal in „Ein Brief“ angedeutete Sprache, über die real existierenden Sprachen hinausgeht. „Sprache existiert nicht nur im Raum, sie ist zutiefst dinglich, sie ist ein Noumenon“799. Diese Vorstellung der Sprache als res extensa, die sich im Raum manifestieren kann, also geradezu physisch vorhanden ist, führt zu neuen Kommunikationsmöglichkeiten. „Ich bemerkte, dass ich die Worte, Sätze und Gedanken im Raum nach vorne schieben, ja in gewisser Weise projizieren, einfach in den physischen Raum hineinstellen konnte“800. Dennoch kann auch diese Sprache die Kommu-

795 Ebd., S. 21. 796 Orwell, George: 1984. London 1974. 797 Huxley, Aldous: Brave New World. London 1987. 798 Ebd., S. 127. 799 Ebd., S. 44. 800 Ebd., S. 125.



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nikation nicht gewährleisten; die Szene endet mit einem plötzlichen Ausbruch von Gewalt, in der Brazhinsky durch einen Angriff des Erzählers stirbt. Am Ende des Textes nimmt Kracht das Motiv der Weltflucht, das er in „Faserland“ mit der Flucht auf eine einsame Insel und in „1979“ mit dem Aufgehen in der totalitären Struktur des Lagers gestaltet hat, wieder auf. Der Erzähler kehrt schließlich zurück in seine Heimat, zurück nach Afrika. In der utopisch geschilderten Idylle erlebt er endlich die Einheit mit sich selbst, seiner Geschichte und seiner Welt. Ich trug das weisse Hemd am Halse offen, die weisse Hose meines Vaters. Unter einem brennend blauen Himmel näherten wir uns endlich der von Skorpionen befallenen Küste Somalilands. [...] Vögel waren dort, Bambo, Vögel, das Blut der Chiwa sang in unseren Adern.801

8.4 KONTINUITÄTEN

Die Kontinuitäten zwischen Krachts erstem Text „Faserland“, dem folgenden Text „1979“ und „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ ergeben sich aus der Fortschreibung der in „Faserland“ etablierten Thematik, dem Scheitern der Bindung des Erzählers an seine Umwelt, und aus der Weiterführung der in „Faserland“ vorgestellten Personen. Diese werden zwar nicht expressis verbis, wie etwa bei Ellis, wiederaufgenommen, etwa mittels der Benutzung der gleichen Namen, sondern erfahren ihre Fortschreibung durch die erneute Diskussion bestimmter psychologisch-soziologischer Merkmale und Probleme. So kann der Ich-Erzähler „Faserlands“ nicht unbedingt mit dem Ich-Erzähler von „1979“ und demjenigen von „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ gleichgesetzt werden und als eine Figur verstanden werden, jedoch setzt der zweite Erzähler die individuelle Thematik und Persönlichkeit des ersten im Sinne einer weiterführenden Diskussion des Themas fort. Ähnliches lässt sich für die erzählte Welt festhalten; die in „1979“ geschilderte Reise durch den Iran und durch China schließt nicht an die Deutschlandreise in „Faserland“ an, nimmt aber die anhand dieser Reise erzählte Thematik wieder auf und schreibt diese konsequent fort. Die Weiterführung der Gedanken „Faserlands“ betont auch Christian Kracht selbst. Ja, es ist eine Art Weiterführung von Faserland, mit Sicherheit. Also, ich glaube, es ist so, daß die Erwartungshaltung vielleicht Grundlage sein kann, um den Leser an die 801 Ebd., S. 147.

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Hand zu nehmen und in ein anderes Land zu führen. Und dieses Land ist dann doch schrecklich und überhaupt nicht schön.802

Das Motiv der Reise – der Deutschlandreise in „Faserland“, der Umkreisung des Berges Kailasch in „1979“ und der Reise zurück in das Heimatland in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ – ist für alle Texte Krachts bestimmend. Auch in dem mit Eckhart Nickel verfassten Buch „Ferien für immer. Die angenehmsten Orte der Welt“ und für die von Kracht im Auftrag der „Welt am Sonntag“ erstellten Reisereportagen, die in „Der Gelbe Bleistift“ gesammelt erschienen, ist das Motiv der Reise prägend. Die Figur des Ich-Erzählers bleibt sowohl in „Faserland“ als auch in „1979“ und in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ namenlos; in „Faserland“ gelingt es dem Erzähler nicht, in Verbindung mit seiner Umwelt zu treten, er löst sich sogar zunehmend aus den verbliebenen freundschaftlichen Bindungen und ‚flüchtet‘ schließlich in den einsamen Tod im Bergsee. In „1979“ verfügt der Erzähler zwar zu Beginn des Textes über einen Partner – wenngleich auch diese Beziehung als problematisch gekennzeichnet und nur als Mittel, der Einsamkeit zu entgehen, verstanden wird803 –, doch bereits nach einigen Kapiteln verliert er, der Prophezeiung von Mavrocordato entsprechend, seinen Partner Christopher im Krankenhaus. Der Verlust der Bindung und die Unfähigkeit zur Bindung ist somit den Erzählern beider Texte eigen. Zudem sehen sich beide mit dem Tod eines engen Freundes konfrontiert; in „1979“ stirbt der Partner, in „Faserland“ ein sehr guter langjähriger Freund des Erzählers. Beide Erzähler reagieren auf die Problematik des Todes einer nahen Person auffallend emotionslos und flüchten von der Stätte des Todes; eine weitere Beschäftigung, etwa im Sinne einer Trauerarbeit, findet nicht statt. Der Tod des Anderen bedeutet lediglich die folgenlose Auslöschung der Figur aus dem Text – und aus dem Bewusstsein des Erzählers. Kracht zeigt in „Faserland“ eine Welt, die stark popkulturell geprägt ist und in der die Markennamen, die im Text auffallend oft genannt werden, einen elementaren Bestandteil der erzählten Welt ausmachen. Der Gebrauch der Markennamen, wie im Folgenden gezeigt wird, ist ein anderer als bei Ellis; dennoch provozierte diese Erzähltechnik den Vorwurf der oberflächlichen Pop-Literatur. In „1979“ werden die Markennamen seltener und weniger emphatisch benutzt, 802 Cosmo: Besprechung des Romans „1979“. 803 So sagt Christopher kurz vor seinem Tod zum Erzähler: „‚Ich finde dich so langweilig. Ich habe dich schon immer langweilig gefunden. Ich wollte nur nicht alleine sein, das war alles. Und jetzt gehe ich weg und lasse Dich allein.‘“ Kracht: 1979, S. 77.



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bleiben aber weiterhin präsent: „Die Berluti-Schuhe fielen langsam auseinander [...]. Der rechte Schuh war an der Spitze ganz offen, das Leder bog sich häßlich und franste aus. Die besten Schuhe der Welt konnten also nicht einmal einen Monat in den Bergen überstehen [...].“804 Wie in „Faserland“ wird nicht nur der Name eines Produktes genannt, sondern zudem seine ästhetische Qualität – in diesem Fall das Verschwinden dieser – erzählt. Der Schuh von Berluti erhält somit mit seiner Benennung eine Bedeutung, die ihn über seine bloße Funktion erhebt; der Name verrät den sozio-ökonomischen Status des Erzählers, und der Schuh erfährt mit der Diskussion seiner ästhetischen Qualität eine Wertung, die das Funktionale zugunsten des Ästhetischen vernachlässigt. Somit lässt sich der Berluti-Schuh und seine Einbindung in den Text mit dem Gebrauch der Markennamen in „Faserland“ vergleichen; die in den Rezensionen vielfach erwähnte Barbourjacke in „Faserland“ entspricht dem Berluti-Schuh in „1979“. Die soziokulturellen Habitus der Erzähler von „Faserland“ und „1979“ sind ebenfalls ähnlich. So erfährt der Leser wenig über den Beruf des Erzählers in „Faserland“; aus dem Text lässt sich lediglich entnehmen, dass er derzeit keinen Beruf ausübt, aber dennoch über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, um ausgedehnte Reisen zu unternehmen. Auch anhand seiner ausgesucht teuren Kleidung werden seine finanziellen Möglichkeiten deutlich. Letztlich geht er einer „Beschäftigung nach, die es eigentlich gar nicht mehr gibt: dem Müßiggang“805. Ähnliches gilt für den Erzähler von „1979“, der zwar gelegentlich als Innenarchitekt tätig ist, aber dennoch seinen Freund Christopher auf eine längere Reise in den Iran begleiten kann, da dieser dort ein Buch über Architektur schreiben will. Es lässt sich für beide Erzähler festhalten, dass ihr Leben weder durch äußere Sachzwänge, wie etwa einen Beruf oder eine Familie, noch durch innere Überzeugungen oder Berufungen, wie etwa eine bestimmte prägende Tätigkeit im sozialen oder kulturellen Bereich, bestimmt und strukturiert wird. Letztlich sind beide in ihren Entscheidungen völlig frei und weder durch ökonomische noch durch soziale Verpflichtungen gebunden. „Faserland“ und „1979“ werden zudem durch die Wiederaufnahme der Figur Alexander verbunden, von dem der Erzähler in „Faserland“ Fotos von dessen Reisen geschickt bekommt. „Auf einem, da ist er zu sehen, wie er an Deck so einer Holzyacht steht, irgendwo in den Kykladen [...] und [er] hält lässig einen riesigen Joint in der Hand“806. Der Erzähler in „1979“ erinnert sich, dass er Alexander, den er in Teheran auf einer Party trifft, kennt. „Ich hatte ihn schon einmal gesehen, vor Jahren, an Bord einer Yacht in der griechischen Ägäis. Damals hatte 804 Ebd., S. 127. 805 Kracht: Faserland, S. 141. 806 Ebd., S. 71.

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er für die Mädchen auf dem Schiff Haschischzigaretten gedreht“807. Es scheint sich also bei den beiden Figuren namens Alexander um die selbe Person zu handeln. Die beiden Erzähler kennen sich zwar nicht persönlich – nur einer von beiden befand sich mit Alexander auf der Yacht –, sind aber über Alexander und über die Fotos, die der Erzähler in „Faserland“ von der Reise Alexanders mit dem Erzähler von „1979“ erhält, verbunden. Alexander, ein ehemaliger Freund des Erzählers in „Faserland“, spielt in diesem Text eine wichtige Rolle. So fliegt der Erzähler im vierten Kapitel nach Frankfurt, um Alexander dort zu besuchen. Hierbei wird die Vorgeschichte der Freundschaft mit Alexander und dessen Vorliebe für Reisen durch touristisch noch nicht erschlossene Länder berichtet. So unternahm Alexander etwa eine Reise durch Pakistan, Bangladesch und Kambodscha, um die Verbreitung des Pop-Liedes „You’re my heart, you’re my soul“ von Modern Talking zu erkunden. Der Erzähler erinnert sich an einen Brief, in dem Alexander von seiner Reise berichtet und erzählt, wie er in Indien in einem Wüstendorf auf der Gitarre „Brother Louie“ von Modern Talking spielt und alle Inder in der Bar das Lied kennen und laut mitsingen. „Was ich damit sagen will: Ich habe das ja verstanden, was der Alexander damit meinte, aber eben auch wieder nicht.“808 Das Verhalten von Alexander und seine Beweggründe sind für den Erzähler nur schwer nachzuvollziehen; das Handeln der Anderen – in diesem Fall das Handeln eines Freundes – ist nicht mehr zu verstehen. „Es gibt Momente, in denen ich alles genau verstehe [...] und dann plötzlich entgleitet mir wieder alles.“809 Ähnlich unverständlich wird Alexander in „1979“ erlebt. Bereits sein Äußeres kann im Sinne einer Provokationsästhetik gelesen werden: „Alexander trug einen vintage Yves-Saint-Laurent-Blazer und darunter ein rotes T-Shirt, auf dem ein großes schwarzes Hakenkreuz aufgedruckt war, darunter stand, in einer kleinen schwarzen Schrift: THE SHAH RULES OK IN ‘79.“810 Der Alkohol- und Drogenmissbrauch Alexanders, der bereits in „Faserland“ angedeutet wird, intensiviert sich offensichtlich in „1979“ und verändert zunehmend sein äußeres Erscheinungsbild: „Seine Stirn war schweißüberströmt, seine Haut bleich. Seine Pupillen waren wie kleine Nadelspitzen. Er sah völlig wahnsinnig aus, als habe sich irgendwann sein Gehirn ausgeleert. Er sah aus wie ein Toter.“811 Auch wenn Alexander über den heiligen Berg Kailasch spricht, den der Erzähler im weiteren Verlauf des Textes umrunden wird, so hat doch die Reinheit, die Alexander sucht, 807 Kracht: 1979, S. 37. 808 Ebd., S. 74. 809 Ebd., S. 74. 810 Ebd., S. 38. 811 Ebd., S. 38.



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nichts mit der angestrebten Reinheit des Erzählers gemein. „Shabu-Shabu. Crystal Meth. Die Nazi-Droge, das Biker-Glück, die neue Reinheit, Punkrock.“812 Der Reinheit und Leere des Erzählers wird hier eine vieldeutige durch Drogen hervorgerufene und motivierte Reinheit, die sich mit so divergenten Begriffen wie „Nazi-Droge“, „Punkrock“ und „Reinheit“ fassen lässt, gegenübergestellt. Die in „Faserland“ scheiternde und in „1979“ erst gar nicht zustande kommende Bindung zu Alexander vereint diesen mit den anderen Figuren in den Texten, zu denen ebenfalls keine Bindung aufgebaut werden kann. Dennoch scheint die Rolle und Funktion der Figur Alexander, deren Bedeutung durch die Wiederaufnahme in Krachts zweiten Text aufgezeigt wird, über die der anderen Figuren hinauszugehen. Alexander, so eine vorsichtige vorläufige These, stellt die Gegenfigur zu dem Erzähler dar, die nicht verstanden werden kann und in ihrer Ausrichtung dem Charakter und der Intention des Erzählers diametral entgegensteht. Deutlich wird diese polare Position etwa an dem Verständnis von Reinheit; beide Figuren sprechen von dem heiligen Berg Kailasch und von der Reinheit; Alexanders Vorstellung von Reinheit, die, wie gezeigt, in Zusammenhang mit der „Nazi-Droge [...] und Punkrock“813 genannt wird, stellt den absoluten Gegensatz zu der Reinheit des Erzählers dar. Alexander ist der absolut Andere, zu dem keine Bindung aufgebaut werden kann und der nicht verstanden werden kann. Zugleich zeigt Alexander jedoch den Weg für den Erzähler auf und empfiehlt ihm etwa in „Faserland“ einen Besuch der Insel Mykonos, wo sich der Erzähler dann zu seinem Entsetzen an einem „Altmänner-Homosexuellen-Strand“814 wiederfindet. Dennoch findet er genau an diesem Ort zum ersten Mal einen kurzen Moment der Stille. „Vielleicht hat Alexander genau das gemeint, als er mir über Mykonos schrieb, ich solle da mal hinfahren.“815 Alexander ist also eine ambivalente Figur, die einerseits einen Weg vorgibt, andererseits auch das Scheitern des eigenen Lebensweges – und damit das des empfohlenen Weges – demonstriert. Ein weiteres die Texte verbindendes Element ist das Motiv des Ekels, das in den Texten sowohl durch die Empfindung des Erzählers auffallend stark präsent ist, als auch durch den Text selbst erzeugt wird. Bereits in „Faserland“ empfindet der Erzähler in unterschiedlichsten Situationen Ekel, am deutlichsten tritt diese Empfindung auf einer Party, wo er das Erbrechen eines Mädchens beobachtet, zutage. 812 Ebd., S. 39. 813 Ebd., S. 39. 814 Kracht: Faserland, S. 144. 815 Ebd., S. 145.

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Nicht so ein normales Übergeben, sondern ein richtiger Schwall, wie in Der Exorzist, nur eben nicht in grün, sondern rot. Die Kotze klatscht in die Badewanne, und man kann sehen, was sie alles getrunken haben muß, nämlich Unmengen von Rotwein, und dazwischen sind noch ein paar Klümpchen irgendwelcher unverdauter Speisen, sieht aus wie Karotten und ein wenig Mais. [...] Mir wird auch schlecht.816

Der Ekel wird jedoch nicht nur benannt, sondern so dar- und ausgestellt, dass er auf der Rezeptionsebene vom Leser nachempfunden werden kann; der Text erzeugt mit seiner expliziten Darstellung Ekel. Dieses Verfahren lässt sich in „Faserland“ oftmals feststellen. So beginnt der Text mit der Schilderung eines Hundes, der „eine große Kackwurst neben einen Tisch setzt“817. Der Erzähler benennt und kommentiert hier nicht seinen Ekel, erzeugt diesen aber beim Leser. Im Text finden sich unzählige Stellen, die mittels der genauen Beschreibung von körperlichen Vorgängen Ekel erzeugen; auf die Funktion dieser Stellen soll in den folgenden Kapiteln eingegangen werden. In „1979“ ist der Ekel ebenfalls präsent; bereits im ersten Satz des Textes erwähnt der Erzähler seine Übelkeit auf der Autofahrt und beschreibt die Symptome von Christophers Krankheit. „Sein Hosenbein war von den aufgeplatzten Blasen ganz naß.“818 Somit wird das Motiv des Ekels über beide Kompositionsprinzipien – sowohl über die Benennung des Ekels durch den Erzähler als auch durch die Erzeugung von Ekelgefühlen beim Leser mittels einer detaillierten Beschreibung – im ersten Absatz eingeführt. Wurde in „Faserland“ der Ekel hauptsächlich durch die Schilderung von körperlichen Vorgängen erzeugt, so wird er in „1979“ durch Ausführungen zu Christophers Krankheitsbild und dem damit verbunden Raum des Krankenhauses erweckt. Der Gestank [im Krankenhaus] war unglaublich. Es roch nach Abfall. Im Saal lagen vielleicht dreißig Männer auf zwanzig Betten. Die Wände waren mit Kot und Blut beschmiert. Überall standen große Blecheimer herum, über deren Ränder beschmutzte Mullbinden hingen.819

Das Gefühl des Ekels stellt das Gegenbild zu der im Text gesuchten Reinheit dar. Die Reinheit ist „das Gegenteil des Gefühls, das ich selbst als Kind hatte [...]; damals hatte ich immer versucht, die Milchränder an meinem täglichen

816 Ebd., S. 50. 817 Ebd., S. 16. 818 Kracht: 1979, S. 17. 819 Ebd., S. 73.



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Zehnuhr-Glas Milch zu umtrinken, [...] so sehr ekelte ich mich vor meiner eigenen Milchspucke“820. Krachts „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ setzt das Kompositionsprinzip fort: Schließt „1979“ thematisch an „Faserland“ an und verschärft die in „Faserland“ gezeichnete Situation, so schließt „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ an „1979“ an. Der Text beginnt mit dem Erwachen des Erzählers auf einem Holzbett. „Ich lag im grauwollenen Nachthemd auf dem Holzbett, zerdrückte die Flöhe und das andere Getier, das mir auf der Haut herumlief, und rauchte Zigaretten. Die Laken waren schmutzig, und das Kissen roch nach Menschentalg, so konnte ich nicht schlafen.“821 Nicht nur über das prominente Motiv des Ekels wird die Anfangsszene mit dem Schluss von „1979“ in Verbindung gebracht: Der Erzähler erwacht zwar nicht mehr wie in „1979“ in einem Gefangenenlager, die Ausstattung und Atmosphäre der Militärunterkunft unterscheiden sich aber nur geringfügig von der in „1979“ gezeichneten Lagerwelt. Der mittels des Ungeziefers evozierte Ekel erinnert an die in „1979“ gezüchteten Maden, die zur Nahrungsgrundlage wurden. Auch wenn der Erzähler als Militär nun scheinbar auf der anderen Seite der Macht steht – was sich im Laufe der Erzählung grundlegend ändert –, so ähnelt seine Welt doch sehr der der Anderen. Die wichtigsten Verbindungslinien lassen sich jedoch über die Diskussion der unmöglich gewordenen Kommunikation, der Sprachskepsis Krachts, die in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ ihren deutlichsten Ausdruck findet, und über den Aspekt der Gewalt ziehen.

820 Ebd., S. 34. 821 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 11.

9. Prekäre Zeichen – Sprache und Kommunikation bei Christian Kracht In diesem Kapitel wird die Bedeutung der Sprache und der Kommunikation in „Faserland“, „1979“ und in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ analysiert. Hierbei wird insbesondere die fehlende Sinnhaftigkeit der Sprache, die sich in der ständigen Relativierung und In-Frage-Stellung des Gesagten äußert, und die keine Verständigung mehr zu leisten vermag, von Bedeutung sein. Der nahezu zwanghafte Abbruch der Kommunikation mit den Anderen soll ebenfalls diskutiert werden. Das ‚leere Zentrum‘, um das die Leere der Sprache – und des Sinnes – kreist, wird in Verbindung zum Plot der Erzählung und zum Charakter der Figur des Erzählers gesetzt. Im Gegensatz zu den Texten von Ellis, in denen der Verlust der Referenz oder die Trennung von Signifikant und Signifikat und die damit einhergehende Unmöglichkeit der Benennung gezeigt wurde, verlagert Kracht die Problematik der Verständigung nun von der zeichentheoretischen Sicht und der Kritik des Logozentrismus hin zu einem fundamentalen Zweifel an der Welt und den Dingen an sich und deren Fass- und Erzählbarkeit. Die interpersonale Verbindung ist also nicht mehr aufgrund des Zerfalls der Sprache unmöglich, sondern weil es keine Möglichkeit mehr gibt, die Welt und den Anderen wahrzunehmen und zu erzählen. Kracht zeigt in seinen Texten sowohl diesen Zweifel an der Welt als auch den Fluchtmechanismus des Erzählers aus jeder Bindung auf. Die sprachliche Kommunikation sieht sich somit vor zwei Probleme gestellt, die ihre Aufnahme nahezu unmöglich machen.

9.1 SPRACHE UND KOMMUNIKATION IN „FASERL AND“

„Faserland“ beschreibt, wie gezeigt wurde, die scheinbar ungeplante, durch Zufälle gelenkte Reise des Erzählers durch Deutschland.822 Jedoch unterliegen die einzelnen Etappenziele einer strengen geographischen Komposition, die die von Norden nach Süden verlaufende Reiseroute organisiert. Diese lineare Struktur 822 Die Form und Struktur der Reise in „Faserland“ erinnern an die Reise von Clay in „Less Than Zero“, der oftmals ziellos mit seinem Auto durch Los Angeles und die Wüste fährt. Beiden Reisen scheint die zielgerichtete Bewegung von einem Start- zu einem Zielpunkt – und damit ein intendierter Sinn der Reise – zu fehlen.



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suggeriert eine intentionale Bewegung, eine teleologische Struktur, die auf das Erreichen eines Zieles abzielt. Im Gegensatz zum Bildungsroman, in dem die Reise die Subjektwerdung des Reisenden bewirkt und damit Identität herstellt, kann die Reise in „Faserland“ dies nicht mehr leisten. Ein Ziel der Reise – und damit ein Zweck– ist weder für den Leser noch für den Erzähler erkennbar; die Subjektwerdung und die Herstellung von Identität wird durch die ziel- und intentionslose Reise nicht mehr erreicht. Das leere Zentrum der Reise spiegelt sich in der Leere der Sprache, die weder genau benennen, noch eine Kommunikation herstellen kann.823 Der Text beginnt mit einer Verzögerung, die sowohl den speziellen Ton der Erzählung als auch die Absence des zu Erzählenden einführt. „Also, es fängt damit an“824 – an der so wichtigen und präsenten Stelle des Textanfanges findet sich lediglich eine Leerstelle; Kracht verweigert mit den ersten Worten des Textes bewusst den Einstieg in den zu erzählenden Plot. Die Leere und die Verzögerung manifestieren sich in dem ersten Wort des Textes, „Also“; der Text exponiert zu Beginn seine Leere und widersetzt sich der Erzählung. Ellis wählt hingegen, wie in Kapitel 5 gezeigt wurde, den gegensätzlichen Einstieg in den Text: Bei ihm stehen am Anfang hochgradig bedeutungstragende Sätze, die nicht nur direkt und unmittelbar mit dem Plot beginnen – und, rezeptionsästhetisch betrachtet, sofort beim Leser Interesse für den Text wecken –, sondern in dem ersten Satz leitmotivisch den Kern des Textes anklingen lassen. Nach dem retardierenden Einstieg in den Text erfolgt die Angabe des Ortes der Handlung und die Tätigkeit des Erzählers. „Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke.“825 lautet der vollständige erste Satz von „Faserland“. Eine pop-kulturelle Rezeption könnte hier nun eine Lesart versuchen, die an die Orts- und Markennamen anknüpft, und zeigen, dass Kracht hier nicht nur einen bestimmten sozio-ökonomischen Habitus darstellt, sondern – und dies wäre die produktivere Überlegung – mit der Nennung von Sylt und Jever zwei Bilder aus der (Jever-)Werbung aufruft. Somit würde der Erzähler mit dem Beginn seines Textes nur eine Wiederaufnahme der Werbung leisten und seine Erzählung wäre als zitierte Werbung in der Welt der Hyperrealität und Simulation einzuordnen. Jenseits dieser Überlegungen fällt jedoch auf, dass Kracht den Einstieg in den Text über die Tätigkeit des Biertrinkens wählt. Der erste Absatz des Textes, der

823 Vergl. zur Reise bei Ellis: Nover: „Nicht-Orte“, S. 243 ff. 824 Kracht: Faserland, S. 15. 825 Ebd., S. 15.

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nach dem ersten Satz nur noch einige Assoziationen zu Fisch-Gosch bietet826, organisiert sich also um einen äußerst banalen und gewöhnlichen Vorgang. Die Leere des zu erzählenden Zentrums findet sich nicht nur in der Sprache, die einen Inhalt verweigert, sondern auch in dem Plot der Erzählung selbst. Der Beginn des zweiten Absatzes nimmt den ersten Satz des Textes leicht gekürzt und umgestellt wieder auf: „Also, ich steh da bei Gosch und ein trinke ein Jever.“827 Auffallend ist wiederum die Verwendung des Partikels „Also“, der durch die Stellung an den Satz- und Absatzanfang der aufeinander folgenden Absätze besonders hervorgehoben wird. Das nahezu wörtliche Zitat – wiederum wie im ersten Absatz als erster Satz gesetzt – fällt ebenfalls auf und verweist mit seiner „literarisierte[n] Oralität“828 sowohl hinsichtlich der Wortwahl als auch hinsichtlich der Komposition, die mit der Wiederaufnahme des Gesagten Strukturen der mündlichen Rede verschriftlicht, auf den besonderen Charakter der Sprache bei Kracht. Zudem wird wieder das Zentrum des Erzählten, das inhaltlich und sprachlich nur als Leere verstanden werden kann, ausgestellt. Kracht erzählt in einem „völlig unaufgeregten Plauderton“829, der sich durch einen betont alltäglichen und schlichten Satzbau und eine umgangssprachliche Wortwahl auszeichnet. Auffallend ist der häufige Gebrauch von alltagssprachlichen Partikeln und Redewendungen, wie „also“, „denke ich“, „eigentlich“ und „glaube ich“. Zudem wird das Gesagte oft von nachgeschobenen einschränkenden Partikeln („irgendwie“, „glaube ich“ „ich habe da noch gar nicht drüber nachgedacht“ oder „ich kann das nicht genau beschreiben, was ich meine“) relativiert. „Aber dieses Herumdrucksen [...] soll nur kaschieren, dass dahinter mit voller Gewissheit und bedeutungsschwanger erzählt wird.“830 Die Relativierung des Erzählten mittels der Partikel zeigt, dass der Erzähler nicht in der Lage ist, seine Welt in Worte zu fassen und zu einem eindeutigen Urteil – oder zu einer eindeutigen und verlässlichen Erzählung – zu gelangen. 826 „Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke. Fisch-Gosch, das ist eine Fischbude, die deswegen so berühmt ist, weil sie die nördlichste Fischbude Deutschlands ist. Am obersten Zipfel von Sylt steht sie, direkt am Meer, und man denkt, da käme jetzt eine Grenze, aber in Wirklichkeit ist da bloß eine Fischbude.“ Ebd., S. 15. (1. Absatz des Textes) 827 Ebd., S. 15. 828 Biendarra: Der Erzähler als postmodernen Flaneur, S. 165. 829 Beuse, Stefan: ‚154 schöne weiße leere Blätter‘, S.150. 830 Mertens, Mathias: Robbery, assault, and battery. Christian Kracht, Benjamin v. StuckradBarre und ihre mutmaßlichen Vorbilder Bret Easton Ellis und Nick Hornby. In: PopLiteratur. Text + Kritik. Zeit­schrift für Literatur. Sonderband 10 (2003), S. 201–217, hier S. 208.



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So kommentiert und relativiert der Erzähler seine Erläuterung, dass Karin, die er bei Fisch-Gosch auf Sylt getroffen hat, in München BWL studiert, mit den Worten: „Das erzählt sie wenigstens. Genau kann man sowas ja nie wissen.“831 Der Erzähler stellt das soeben Erzählte sofort wieder in Frage, relativiert den Wahrheitsanspruch, der an die Informationen, die er dem Leser gibt, gestellt wird, und macht dem Leser deutlich, dass die gesamte Erzählung als zutiefst unzuverlässig gelesen werden muss. Indem Kracht diesen Hinweis des Erzählers an die für den Leser unwichtige und doch recht einfach und eindeutig zu klärende Frage nach dem Studienfach einer Figur knüpft, zeigt er, dass sämtliche Informationen und Überlegungen in dem Text – seien sie auch noch so banal, unwichtig und offensichtlich – nicht für ‚wahr‘ und zuverlässig genommen werden können. Der Erzähler stellt somit sich selbst und seine Erzählung bereits auf der ersten Seite nachdrücklich in Frage. Zugleich erfährt die erzählte Welt mit ihren vermeintlichen Tatsachen eine relativierende Neudeutung; in der Welt von „Faserland“ gibt es keine Gewissheiten und keine Tatsachen an sich, die vom Erzähler zweifelsfrei wahrgenommen und erzählt werden können. Der Erzähler äußert hier eine fundamentale Skepsis sowohl an der Wahrnehmung der Dinge der Welt als auch an dieser selbst. Wenig später wird dieses Erzählprinzip nochmals vorgeführt. Auf eine Bewertung der Insel Sylt durch den Erzähler und eine unklare Andeutung – „Sylt ist eigentlich super schön [...] und ich habe so ein Gefühl, als ob ich die Insel genau kenne. Ich meine, ich kenne das, was unter der Insel liegt oder dahinter“832 – folgt wiederum eine Relativierung sowie Betonung des Unzuverlässigen. „[I]ch weiß jetzt nicht, ob ich mich da richtig ausgedrückt habe. Ich kann mich natürlich auch täuschen.“833 Der Erzähler zweifelt nicht nur an seiner Erzählkompetenz – und verschärft die Frage nach dem speziellen Charakter dieses Erzählers, der weder in der Lage ist, das zu Erzählende richtig zu erinnern, noch es in Worte zu fassen und zudem einen grundlegenden Zweifel an der Wahrnehmbarkeit und Erzählbarkeit der Dinge, ja sogar an den Dingen selbst, hegt –, sondern auch an der ‚Wahrheit‘ seiner Bewertung und Wahrnehmung: „Ich kann mich natürlich auch täuschen.“ Die Möglichkeit der Täuschung, die „natürlich“, so der Erzähler, vorliegen kann, zeigt nochmals den Charakter der Erzählung auf, die nicht mehr für sich in Anspruch nimmt, Wahrheit oder wahrhaft Erlebtes ‚richtig‘ zu erzählen – oder überhaupt erzählen zu können. Der Text verweigert sich jeglichen konventionellen Ansprüchen an den Erzähler und an die Erzählung und stellt stattdessen die eigene Unzuverlässigkeit und Nicht-Erzählbarkeit 831 Kracht: Faserland, S. 15. 832 Ebd., S. 17. 833 Ebd., S. 17.

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aus. Zudem wird der Tod der Figur des Erzählers, das ‚Verlöschen‘ im Bergsee am Ende von „Faserland“, durch die symbolische Auslöschung des Erzählers, durch die Auflösung seiner ‚Funktion‘ und Kompetenz, vorwegnehmend angedeutet. Vor der Auslöschung der Figur steht die Auslöschung des Sinnes und der Funktion ebendieser. Auch die persönliche Vergangenheit des Erzählers, die maßgeblich für die Ich-Erzählung ist, wird unzuverlässig erinnert und erzählt. „Ich hab einmal im P1 versucht, sie [d.h. Karin, I.N.] aufzureißen [...] und als ich vom Klo zurückkam, war sie verschwunden. Jedenfalls glaube ich, daß es so war.“834 Die Unsicherheit des Erzählers stellt der Text sowohl mittels der relativierenden Phrasen des Erzählers als auch performativ mittels der Komposition des Textes aus. Das Erzählte wird, wie bereits gezeigt, oftmals direkt in Frage gestellt. „Heute ist alles so transparent, ich weiß nicht, ob ich mich da richtig ausdrücke“835, oder „Na ja, Muster ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ich kann das nicht genau beschreiben, was ich meine.“836 Zudem bildet sich die Unsicherheit performativ in der Struktur des Textes ab: „Das ist mir nicht ganz verständlich, denn, na ja, vielleicht sollte man das nicht so ausdrücken, wenn man ihn beschreibt, aber ich sage das jetzt mal trotzdem“837. Nach dieser vorangestellten Relativierung, in der der Erzähler bereits im ersten Satz seine Erzählkompetenz und sein Verständnis in Frage stellt, folgt die eigentliche Aussage des Satzes, die wiederum eingekreist von Partikeln steht. „Vielleicht mag der Nigel Partys so gerne, weil er im Grunde ein asozialer Mensch ist, Gott, das würde ich ihm nie sagen, aber irgendwie ist er nicht kommunikationsfähig, ich meine [...]“838 Das Zentrum des Satzes, der Kern der Aussage, steht soweit umstellt von Relativierungen, dass der eigentliche Sinn massiv in Frage gestellt wird und zwischen den Partikeln verschwimmt und (ver-)schwindet. Eine klare und eindeutige Aussage des Erzählers lässt sich in den Sätzen nicht mehr finden. Das leere Zentrum des Satzes stellt eine Strukturanalogie zu den poetologischen Beobachtungen Joachim Bessings zu Krachts „Der gelbe Bleistift“ dar.839 Bessing schreibt in dem Vorwort zu „Der gelbe Bleistift“ – eine Sammlung von Rei834 Ebd., S. 20. 835 Ebd., S. 27. 836 Ebd., S. 107. 837 Ebd., S. 40. 838 Ebd., S. 40. 839 Vergl.: Glawion, Sven und Nover, Immanuel: Das leere Zentrum. Christian Krachts „Literatur des Verschwindens“. In: Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Hrsg. v. Alexandra Tacke und Björn Weyand. Köln, Weimar und Wien 2009, S. 101–120, hier S. 101 ff.



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sereportagen, die Kracht für die „Welt am Sonntag“ verfasst hat –, dass Kracht auf eine detaillierte Darstellung und Deutung des Erlebten verzichtet und das Fremde nur in einem „bizarren Strauß vermeintlich unnützer Informationen und Beobachtungen“840 andeutet, um dann die Geschichte abzubrechen – „[u]nd zwar genau an dem Punkt, an dem sie nach unseren Lesegewohnheiten endlich beginnen müßte“841. Bessing liest die Reiseberichte Krachts als zentrumslose Erzählungen, die sich „[o]hne ein Gerippe, ohne einen Handlungsfaden [...] in alle Richtungen“842 entrollen, „um schließlich schmatzend mit den Lesern einzuschlafen.“843 Die von Bessing formulierte Ästhetik und Poetik lässt sich jedoch nicht nur auf „Der gelbe Bleistift“ anlegen, sondern findet sich als Kompositionsprinzip ebenfalls in „Faserland“ und „1979“ wieder. Bessings Überlegungen zur Struktur des Textes „Der gelbe Bleistift“ lassen sich auf die Struktur der Sprache übertragen; die Makroebene der Textstruktur spiegelt sich in der Mikroebene der Satzstruktur. „Grundsätzlich umkreisen seine Sätze dabei stets ein angenommenes Zentrum, ein Zentrum, das leer bleiben soll bis zum Schluß. Dieses Zentrum ist der gedachte Ort der Stille und Reinheit.“844 Die Leere ist – hierauf soll an dieser Stelle kurz hingewiesen werden, bevor die Thematik im folgenden Kapitel weiter entfaltet werden kann – allerdings nicht immer als negativ, als zu füllendes Vakuum, zu denken; sie kann sowohl in einer westlichen Lesart als defizitär und damit negativ, als auch in einer japanisch-buddhistisch inspirierten Lesart als nicht-defizitär und positiv gelesen werden.845 So ist die Leere im Sinne von Christophers Kritik des Erzählers, „Oft war es ja so, daß Christopher mich fragte, warum ich so leer war“846, als auch im Sinne des Buddhismus, „Der Leere eignet die ‚höchste Wahrheit‘ (shogi)“847, zu lesen. Die Formulierung der

840 Bessing, Joachim: Vorwort. In: Kracht, Christian: Der gelbe Bleistift. Köln 2000, S. 14. 841 Ebd., S. 14. 842 Ebd., S. 15. 843 Ebd., S. 15. 844 Ebd., S. 15. 845 Roland Barthes zeigt in „Das Reich der Zeichen“ die eben nicht als negativ gedachte Leere anhand der japanischen Schrift auf: „Insgesamt ist die Schrift auf ihre Weise ein Satori: der Satori (das Zen-Erlebnis) ist ein mehr oder weniger starkes (durchaus nicht erhabenes) Erdbeben, das die Erkenntnis, das Subjekt ins Wanken bringt: er bewirkt eine Leere in der Sprache. Und eine solche Leere konstituiert auch die Schrift; von dieser Leere gehen die Züge aus, in denen der zen in völliger Sinnbefreiung die Gärten, Gesten, Häuser, Blumengebinde, Gesichter und die Gewalt schreibt.“ In: Barthes: Das Reich der Zeichen, S. 16. 846 Kracht: 1979, S. 34. 847 Pörtner, Peter und Heise, Jens: Die Philosophie Japans. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1995, S. 130.

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„Stille und Reinheit“ wird, soviel sei vorwegnehmend angedeutet, für das Kapitel zur Gewalt in „Faserland“ und „1979“ von besonderer Bedeutung sein. Bessing sieht eine Parallele zwischen der kompositorischen Struktur der Erzählung „Lob des Schattens“ in „Der gelbe Bleistift“, in der eine Reise nach Japan beschrieben wird, und der architektonischen Struktur der Stadt Kyoto. [A]ber was auffällt, ist die komplett spiralig sich zusammenziehende Form der Geschichte. Als läge ihr der Bauplan der alten Kaiserstadt Kyoto zugrunde, drehen sich die einzelnen Episoden zu einer Locke ein, kreisen sie gemeinsam um das erwähnte leere Zentrum, das nicht angefaßt, nicht angedacht und deshalb auch nicht ausgesprochen wird.848

Bessings Formulierung der Spirale knüpft an Krachts Gedanken in „Tristesse Royale“ an, wo Kracht den von Nickel gesuchten „Ausweg aus der Spirale“849 als Illusion erkennt. „Da die Spirale ein Abbild der Welt ist, gibt es keinen Ausweg aus ihr heraus und nichts außerhalb davon.“850, 851 848 Bessing: Vorwort, S. 16. 849 Tristesse Royale, S. 160. 850 Ebd., S. 160. 851 Zu „Lob des Schattens“ in „Der gelbe Bleistift“ vergl.: Glawion und Nover: Das leere Zentrum, S. 102 f. „Krachts ‚Lob des Schattens‘ ist [...] ähnlich konstruiert. Das Zentrum des Textes, die Reise nach Japan, um das Buch von Tanizaki zu erwerben, bleibt leer; die Spirale wird mit der Aufforderung seiner Begleiterin (‚Egal, wir werden es in Japan kaufen. Dort gibt es das Buch überall‘ (Kracht S. 166)) an­gelegt. Krachts Gefühl beim morgendlichen Erwachen in Tokio – ‚ich hatte ein Gefühl des Nirgend­woseins‘ (Kracht S. 170) – verweist auf die zentrums- und sinnlose Bewegung auf der Spirale. Die Struktur der Reise, sowohl der Reise nach Japan, deren Ziel und Sinn im Ankommen verschwimmt und verschwindet, als auch der Reisen innerhalb Japans, zeichnet sich durch eine Ziel- und Richtungs­losigkeit aus. Die ‚normale‘ geometrische Form der Reise, die Gerade, die vom Ausgangspunkt zum Zielpunkt geht, wird durch eine ungerichtete Spiralbewegung abgelöst und erinnert so mehr an den Flaneur als an den Reisenden. [...] Die Schilderung der Suche nach dem Buch, dem eigentlichen er­klärten Ziel der Reise, [fällt] kurz aus: ‚[Wir] suchten Junichiro Tanizakis ‚Lob des Schattens‘, fanden das Buch nicht [und] gingen zu A.P.C, wo meine Begleiterin das Schnee-Tarnfarben-Klebeband kauf­te‘ (Kracht S. 174). Das Ziel wird verfehlt, die Bewegung auf der Spirale setzt sich fort. Die Reisenden treffen auf verschiedene Japaner, zuerst auf die Lektorin von Krachts japanischem Verlag. ‚Wir erzählten ihr von Junichiro Tanizakis Buch [...], das sie nicht kannte.‘ (Kracht S. 177) Auf diese Antwort hin wird die Suche wiederum suspendiert; im Text folgt die ausführliche Beschreibung des Besuches bei der Firma SONY – die Spirale wird weiter abgeschritten. Zum Schluss trifft Kracht auf seinen japanischen Übersetzer Professor Ochi; doch auch dieser gibt vor, das Buch nicht zu kennen. ‚Beim Abschied fragten wir ihn noch, ob er uns sagen könne, wo wir Junichiro Tanizakis Buch [...] kaufen könnten, und er sagte uns, lis-



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Der von Bessing erwähnte „Ort der Stille und Reinheit“852 stellt das leere Zentrum der Erzählung und zugleich das ‚Außen‘ der Spirale dar – doch genau dieser Ort kann, wie an „Faserland“ gezeigt wurde, nicht mehr mittels Sprache erfasst werden. Die Sprache kann nur noch die Leere abbilden und enthüllt sowohl kompositorisch als auch inhaltlich ihre Leere – die hier offensichtlich als Defizit gelesen wird. So lautet der Kommentar eines Mädchens, das der Erzähler auf einer Party trifft, auf die von Angelo Badalamenti komponierte Filmmusik zu „Twin Peaks“: „Angelo Badalamenti ist gar nicht mal so dementi.“853 Der Erzähler reagiert auf diesen relativ banalen und inhaltsleeren Wortwitz euphorisch. „Das haut mich um. So ein brillanter Satz. [...] [P]lötzlich merke ich, daß dieses Mädchen [...] alles verstanden hat, was es zu verstehen gibt.“854 Im Gegensatz zu den sonstigen Überlegungen und Erzählungen des Erzählers steht diese Apotheose der Leere, die sicherlich kein „brillanter Satz“ noch eine brillante Erkenntnis ist, jenseits jeglicher Zweifel und Relativierungen. „Das ist mir in dem Moment klar. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel.“855 Die absolute Sicherheit – „Da gibt es überhaupt keinen Zweifel“ – bildet hier den Kontrast zu der grundlegenden Unsicherheit und dem fundamentalen Zweifel des übrigen Textes – „Karin studiert BWL [...]. Das erzählt sie wenigstens. Genau kann man sowas ja nicht wissen.“856 Offensichtlich lässt sich ohne Zweifel und Relativierungen nur noch die Leere fassen und erzählen. Folglich reagiert der Erzähler auf die entschiedene Proklamation einer ‚Wahrheit‘ durch einen „Hippie“857, den er zusammen mit seinem Freund Rollo auf einem Techno-Musik-Festival trifft, mit fassungslosem Unverständnis. Der Hippie berichtet, dass Freunde von ihm an die Decke eines Clubs in Hamburg mit roter Farbe einen Satz geschrieben haben und „er jedesmal ausrastet, wenn er das [Geschriebene] liest. Dieser Satz, erklärt er, lautet ungelogen: Die reine Wahrheit“858. Der Erzähler kann die Reaktion nicht nachvollziehen; „Schon ein tig blinzelnd, er habe noch nie davon gehört.‘ (Kracht S. 185) Am Ende ‚verschwindet die Geschichte in sich selbst‘ (Bessing S. 17), wie Bessing im Vorwort schreibt: Kracht reist aus Japan ab, ohne das Buch gekauft zu haben. Das Zentrum der Reise und des Textes, der Erwerb des Buches, bleibt leer, um schließlich ironisch von ‚amazon.com‘ vermeintlich gefüllt zu werden. ‚Junichiro Tanizakis Buch [...] bestellte ich dann bei amazon.com im Internet. Es kam vier Tage später mit der Post.‘ (Kracht S. 186).“ 852 Bessing: Vorwort, S. 15. 853 Kracht: Faserland, S. 48. 854 Ebd., S. 49. 855 Ebd., S. 49. 856 Ebd., S. 15. 857 Ebd., S. 115. 858 Ebd., S. 115.

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bißchen traurig, wenn das ein Satz ist, der bei einem so viel auslöst, denke ich“859. Auch wenn der Schriftzug „Die reine Wahrheit“ an der Decke eines Clubs natürlich wenig aussagt und die eigentliche Bedeutung der Wörter in diesem Kontext weder erfasst noch gemeint sind – die Begriffe ließen sich sicher auch als dekontextualisierte referenzlose Simulation lesen –, so scheint das Unverständnis des Erzählers, insbesondere im Kontext seiner Sprachskepsis, auf semantischer Ebene zu beruhen. Ist eine Aussage zu einem Studienfach nicht mehr zu machen – „Genau kann man sowas ja nicht wissen.“860 –, so ist ein Begriff wie „reine Wahrheit“ noch viel weniger haltbar. Für den Erzähler existieren Begriffe und Vorstellungen wie Wahrheit nicht mehr; die erzählte Welt lässt sich mit diesen nicht mehr fassen. Das leere, verlorene Zentrum findet sich jedoch nicht nur in der Sprache wieder, sondern ist geradezu körperlich erfahrbar. So erlebt der Erzähler in einer Krisensituation, in der er einen Freund auf einer Party im Drogendelirium auffindet, den plötzlichen Verlust des Zentrums. „Ich habe das Gefühl, als würde ich innerlich vollkommen ausrasten, als ob ich völlig den Halt verliere. So, als ob es gar kein Zentrum mehr gäbe.“861 Die sprachliche Dezentrierung ist nun auch als körperliche Dezentrierung erfahrbar. Das fehlende oder leere Zentrum der Sprache findet sich auch im Erzähler selbst wieder. Dieser kann auf den Verlust nicht reagieren und verschließt sich buchstäblich vor dem Geschehen. Ich mache die Augen zu und laufe die Kellertreppe hoch, falle dabei ein paarmal hin und schürfe mir die Knie auf. Ich mache die Augen einfach nicht mehr auf. [...] [V]or der Tür wird alles ganz gelb, obwohl ich doch die Augen zu hab, und dann falle ich ziemlich schnell in Ohnmacht.862

Das Erleben des Außen – und damit das Außen an sich – wird völlig ausgesetzt; zuerst verschließt der Erzähler die Augen, um das Außen – einen Freund im Drogenrausch – nicht mehr sehen zu müssen und sehen zu können, um dann mit der Ohnmacht nicht nur den Sehsinn, sondern sämtliche körperliche und geistige Funktionen auszuschalten. Zugleich zeigt sich an der Flucht des Erzählers aus der Krisensituation – die eher als Krise seines Freundes Nigel, denn als die Krise des Erzählers aufgefasst werden muss –, dass der Erzähler seinem hilfebedürftigen Freund die benötigte Hilfe nicht gewährt und ihn stattdessen buchstäblich in seiner Drogenohnmacht 859 Ebd., S. 115. 860 Ebd., S. 15. 861 Ebd., S. 111. 862 Ebd., S. 111 f.



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allein lässt und panisch den Raum und die Stadt verlässt. Er verweigert sich der freundschaftlichen Beziehung und Verbindung, die in einer solchen Situation ein helfendes Eingreifen als selbstverständlich erscheinen ließe. Mit seiner Flucht zeigt er (wieder einmal) auf, dass seine Verbindung zum Anderen nicht zu dieser Kategorie der Verbindungen gehört. Neben dem Verlust des Zentrums und damit dem Verlust der Benenn- und Erzählbarkeit der Welt des Erzählers fällt somit die Unfähigkeit des Erzählers auf, mit seinem Gegenüber in Verbindung zu treten. Nicht nur die Sprache an sich wird als problematisch und defizitär erfahren, sondern auch die Interaktion mit dem Anderen. So hört der Erzähler seinem Gesprächspartner oft nicht zu, antwortet nicht und flieht aus der Kommunikation. Bereits auf der zweiten Seite des Textes erzählt er, dass er den Überlegungen Karins keine Aufmerksamkeit schenkt: „Ich hör nicht genau zu.“863 Wenige Zeilen später betont er nochmals seine Unaufmerksamkeit; „[O]bwohl ich, wie gesagt, gar nicht zugehört hab.“864 Eine Seite später wird dies nochmals aufgenommen. „[U]nd weil ich Karin [...] fragend ansehe, merkt sie, daß ich eben im Auto nicht zugehört habe.“865 Kracht demonstriert somit an dem ersten Gesprächspartner, der im Text präsentiert wird, wie der Erzähler die Kommunikation verweigert, indem er den Anderen und dessen Kommunikationsversuche ignoriert. Insgesamt wird im ersten Kapitel des Textes fünfmal in nahezu identischen Formulierungen das Nicht-Zuhören des Erzählers erwähnt; bei jedem Gesprächsthema, das von außen an ihn herangetragen wird, verweigert er das Gespräch und ignoriert seine Gesprächspartner. Das Kapitel endet mit der Aufforderung Karins an den Erzähler, sich morgen erneut zu treffen. „Das sagt sie wirklich. Dabei habe ich ihr doch erklärt, daß ich morgen abfahre. Na ja, vielleicht hat sie das schon wieder vergessen.“866 Der Erzähler muss zu seiner Verwunderung und zu seiner Bestürzung feststellen, dass sein Gegenüber ebenfalls nicht zugehört hat. Die Weigerung, mit dem Anderen in Kontakt zu treten, geht also nicht nur vom Erzähler, sondern auch von den anderen Figuren aus. Kommt es dennoch zu einem näheren Kontakt, so flieht der Erzähler stets nahezu panisch aus der Situation. Deutlich wird dies auf einer Party eines guten Freundes. Der Erzähler erkennt die problematische psychische Disposition und Situation Rollos, seine Einsamkeit und Trauer – „Da läuft er hin und her, der arme Rollo, und er sieht es nicht, daß ihn alle gar nicht kennen wollen.“867 –, 863 Ebd., S. 16. 864 Ebd., S. 16. 865 Ebd., S. 17 f. 866 Ebd., S. 25. 867 Ebd., S. 147.

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er sieht Rollos Medikamentenabhängigkeit und erlebt den drohenden Zusammenbruch. Rollo fängt an, „unkontrolliert zu zittern, und dann heult er richtig. Es schüttelt ihn, so schlimm ist es. Ich denke, daß ich das nicht lange ertragen kann [...] Es ist einfach zuviel.“868 Der Erzähler erkennt die Brisanz der Situation seines guten Freundes, der ihn spontan zu seiner Familie und seiner Geburtstagsfeier869 eingeladen hat, verweigert aber die Teilnahme und Hilfe. „[I]ch sage ihm, daß durch Tabletten das Zittern doch noch schlimmer werden würde [...]. Mehr sage ich ihm nicht, obwohl ich es vielleicht gekonnt hätte. Ich drücke seinen Arm [...], und dann lasse ich ihn da stehen, auf dem Bootssteg.“870 Der Erzähler flieht heimlich von dem Fest und entwendet dabei Rollos Auto.871 Bereits bei dem Besuch Alexanders in Frankfurt – der letztlich nicht stattfindet, da Alexander den Erzähler bei einem zufälligen Treffen in einer Bar nicht erkennt und der Erzähler vor einem weiteren Treffen aus der Stadt flieht– stiehlt der Erzähler etwas von seinem ‚Freund‘. Dies geschieht wie bei Rollo völlig selbstverständlich. „Ich denke gar nicht lange nach, sondern nehme die Barbourjacke von der Stuhllehne und ziehe sie an.“872 Diese Aneignung der Objekte des Anderen, die auch in „1979“ festzustellen ist, der ja selbst eben nicht angenommen wird, erscheint als Ersetzung der Person des Anderen durch ein Objekt und somit als Erklärung des symbolischen – und bei Rollo dann des tatsächlichen – Todes. Die Objekte fungieren also weniger als Versuch der Aneignung der Identität des Anderen, denn als Fetisch oder Kultgegenstand, in dem der Andere noch erfahrbar ist und zu dem in dieser Form noch eine Verbindung möglich 868 Ebd., S. 153. 869 Bezeichnenderweise weiß der Erzähler natürlich nicht, dass Rollo am nächsten Tag Geburtstag hat, obwohl er zusammen mit Rollo im Internat war und diesen als Freund bezeichnet. Die Verweigerung der interpersonalen Verbindung wird konsequent vorgeführt. 870 Kracht: Faserland, S. 153. 871 Diese Fluchtbewegung ist eine Konstante in dem Verhalten des Erzählers zu anderen Menschen. In einer der wenigen Erinnerungen an seine Kindheit berichtet er, dass er bei einem Besuch seiner „erste[n] große[n] Liebe“ (Kracht: Faserland, S. 35) Sarah in der Nacht im Gästezimmer von Sarahs Eltern die Kontrolle über seine Verdauungsorgane verliert und das Bett verunreinigt. „Ich hab mich angezogen und bin rausgerannt [...] und auf der Straße habe ich dann geheult vor Scham, aber stehengeblieben bin ich nicht, nein, weitergerannt bin ich, bis ich nach Hause kam. Und Sarah habe ich nie wieder gesehen.“ (Kracht: Faserland, S. 36) Liest man die Ursache seiner Flucht nicht als Zufall, sondern psychoanalytisch als Äußerung eines unbewussten Wunsches oder einer unbewussten Angst vor der Verbindung, so wird schon in der Kindheit der Fluchtmechanismus etabliert, der den Erzähler vor jeder engeren interpersonalen Verbindung fliehen lässt. Das „Wegrennen“ aus Sarahs Elternhaus ist somit in der Struktur den dauernden (Ab-)Reisen und Fluchten gleich. 872 Kracht: Faserland, S. 86.



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ist. Diese Verbindung zeigt ihr Defizit jedoch deutlich auf: Aus der interpersonalen Verbindung von einem Menschen zu einem anderen ist nun eine simulierte Verbindung zu einem Ding geworden. Die nicht mehr mögliche Verbindung zwischen zwei Subjekten ist durch die Beziehung eines Subjekts zu einem toten Objekt ersetzt worden. Die Aneignung von Rollos Auto geschieht im Text so beiläufig und selbstverständlich – „Ich schließe Rollos Porsche auf, setze mich hinein und starte den Motor.“873 –, dass deutlich wird, dass der Erzähler diese Inbesitznahme des Autos nicht als möglichen Verlust für Rollo sieht. Rollo ist, so lässt sich das Verhalten lesen, bereits tot. Und tatsächlich wird die Figur Rollo völlig aus den Gedanken des Erzählers ausgeschlossen; der Erzähler denkt nur noch einmal – kurz und per Zufall – an ihn, als er in der Zeitung einen Artikel über Rollos Tod auf der Feier liest. Doch auch hier verweigert er sich der Auseinandersetzung mit dem Tod des Freundes, den er vielleicht hätte verhindern können. „Ich denke an Rollos Wagen, der am Flughafen steht, und daran, wie lange der da jetzt wohl stehen wird. Das ist das erste, woran ich denke.“874 Und zugleich ist es das letzte zu diesem Thema: Mit diesem Gedanken werden die Überlegungen zu Rollo eingestellt und wird dieser aus der Erzählung ausgeschlossen. Am Ende des Textes versucht der Erzähler, das leere Zentrum der Erzählung, das durch die Verweigerung sämtlicher Bindungen entstand und dessen Leere mittels des Textes ausgestellt wurde, wieder zu besetzen. Der Erzähler begibt sich nun buchstäblich in das Zentrum, indem er sich in einem Ruderboot nachts auf den Zürichsee rudern lässt. Der Text endet mit den Worten: „Bald sind wir in der Mitte des Sees. Schon bald.“875 Mit der Nennung des Sees und der nächtlichen Ruderpartie öffnet Kracht am Ende des Textes eine höchst anspielungsreiche intertextuelle Bildlichkeit, die von der griechischen Mythologie bis zum Coming-Out gelesen werden kann.876 Einer eindeutigen Deutung wi873 Ebd., S. 153. 874 Ebd., S. 158. 875 Ebd., S. 166. 876 Birgfeld liest die Szene als Gegenbild zu Klopstocks „Der Zürichersee“, in dem die Freundschaft besungen wird. Die folgenden Zeilen zitiert Birgfeld aus dem Gedicht: ‚Wäret ihr auch bey uns, die ihr mich fern liebt, In des Vaterlands Schooß einsam von mir verstreut, [...] O so bauten wir hier Hütten der Freundschaft uns.‘ Birgfeld, Johannes: Christian Kracht als Modellfall einer Reiseliteratur des globalisierten Zeitalters. Vorschlag zu einer Neubewertung des angeblichen Dandys und Popliteraten Kracht. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005: Germanistik im Konflikt der Kulturen. Hrsg. v. Jean-Marie Valentin und Elisabeth Rothmund. Band 9. Kulturkonflikte in der Reiseliteratur. Betreut von Annakutty V. K. Findeis, HansWolf Jäger und Françoise Knopper. Bern u.a. 2007, S. 405–411, hier S. 408.

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dersetzt sich die Textstelle jedoch. Wichtiger als eine Interpretation scheint die in die bisherige Textstruktur eingebundene räumliche Bewegung zu sein, die, wie bereits angedeutet, eine Bewegung vom Rand (des Sees) ins Zentrum (die Mitte des Sees) beschreibt. In der Struktur des Raumes gedacht, bildet diese Bewegung eine Gegenbewegung zur Umkreisung des Zentrums, die mit der steten Flucht aus dem Zentrum eine zentrifugale Bewegung darstellt. Diese wird nun umgekehrt und führt direkt ins Zentrum, in die Mitte des Sees. Liest man das Ende des Textes jedoch als angedeuteten Tod des Erzählers, als Verlöschen im See, so zeigt sich, dass die Wiederbesetzung des Zentrums misslingt oder nur mit dem Tod des Erzählers erreicht werden kann. Mit dem Erreichen des Zentrums muss sich der Erzähler auflösen; eine ‚positive‘ Besetzung, wie sie vielleicht mit der Aufnahme der Bindungen an seine Umwelt möglich gewesen wäre, ist nicht mehr möglich. Das Zentrum kann – und hier verweist „Faserland“ bereits auf „1979“ – nur noch in der Extremsituation der Aufgabe des Ichs besetzt werden.

9.2 SPRACHE UND KOMMUNIKATION IN „1979“

In „Faserland“ wird die Bewegung, die um das leere Zentrum kreist, nachvollzogen. Das leere Zentrum findet sich sowohl in der Kommunikation und Sprache, um deren Leere sich die Sprache in konzentrischen Kreisen bewegt, als auch in den abbrechenden interpersonalen Bindungen. Letztlich findet sich auch jede Sinn- und Erzählinstanz in die Leere des Zentrums versetzt, das als leerer Raum keinen Sinn und keinen Plot mehr zu liefern vermag. In Bessings poetologischem Bild gedacht, kann „Faserland“ als textliche Analogie des architektonischen Bauplans der Stadt Kyoto gelesen werden.877 Dennoch wird ein Aspekt 877 Roland Barthes stellt eine ähnliche Beobachtung zum Bauplan der Stadt Tokyo auf – die eher den baulichen Prinzipien zu entsprechen scheint als die von Bessing angeführte Stadt Kyoto –, indem er ebenfalls auf das leere Zentrum hinweist: „Die ganze Stadt kreist um einen verbotenen und zugleich indifferenten Ort, einen hinter Grün verborgenen, von Wassergräben geschützten Wohnsitz, den ein Kaiser bewohnt, welchen man nie zu Gesicht bekommt, also buchstäblich ein Unbekannter. Tag für Tag umfahren die Taxis [...] diesen Kreis, dessen niedrige Mauer – sichtbare Gestalt des Unsichtbaren – das heilige ‚Nichts‘ verbirgt. Eine der beiden mächtigsten Städte der Welt ist also um einen undurch­ sichtigen Ring aus Mauern, Wassergräben, Dächern und Bäumen herum angelegt, dessen eigentliches Zentrum nicht mehr als eine flüchtige Idee ist; und diese Idee hat nicht die Aufgabe, Macht auszu­strahlen, sondern lediglich den Zweck, einer ganzen städtischen Bewegung den Halt ihrer zentralen Leere zu geben und den Verkehr zu einem beständigen Umweg zu zwingen. Auf diese Weise, sagt man uns, entfaltet sich das Imaginäre zirkulär über Umwege und Rückwege um ein leeres Subjekt.“ Barthes: Das Reich der Zeichen, S. 50.



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von Bessings Poetologie bislang zu wenig beachtet: Das Zentrum ist nicht nur leer – was an „Faserland“ belegt werden konnte –, sondern zudem „der gedachte Ort der Stille und Reinheit“878. Stellte „Faserland“ die Leere aus, so setzt „1979“ mit dem Versuch, das leere Zentrum mit Sinn zu füllen und zugleich den „Ort der Stille und Reinheit“ zu erreichen, ein. In „1979“ wird nun implizit die Frage nach der Leere und deren Wiederbesetzung gestellt und, soviel sei vorweggenommen, trotz der Verweigerung der Annahme jeglicher sinnstiftender Instanzen, nochmals der Versuch unternommen, das Zentrum zu besetzen. Im ersten Kapitel von „1979“ wird die Diskussion der Sprache und die Unmöglichkeit der Kommunikation, die bereits in „Faserland“ angelegt wurde, weitergeführt. Der Satz „Es gab einige Militärkontrollen, denn seit September herrschte Kriegsrecht, was ja eigentlich nichts zu bedeuten hatte in diesen Ländern, sagte Christopher.“879 zeigt nicht nur das mangelnde Bewusstsein und die mangelnde Sensibilität der Protagonisten in einer Krisensituation – sie reisen während der islamischen Revolution Khomeinis durch den Iran, wo die Verhängung des Kriegsrechts durchaus eine ernstzunehmende Bedeutung hatte –, sondern schließt mit der Relativierung des eigentlich Evidenten an „Faserland“ an. Die Bedeutung eines Sachverhaltes wird stets in Frage gestellt und unterliegt möglichen Relativierungen; es gibt kein ‚Dasein‘, keine eindeutige Entität des Außen. Die Kommunikation zwischen dem Erzähler und seinem Freund Christopher ist, wie in „Faserland“, erloschen. „Wir hatten seit Ghazvin kein Wort mehr miteinander gesprochen.“880 Die Sprache und die Kommunikation scheinen sich in einer endlosen belanglosen Wiederholungsschleife zu erschöpfen. „Christopher und ich [hatten] und leider seit über einem Jahr nicht mehr viel zu sagen [...], das heißt, es war schwierig geworden in letzter Zeit, mit ihm zu reden, weil alles so gleichförmig schien, es war nur noch ein Austauschen von Formeln“881. Kracht führt somit in „1979“ die in „Faserland“ angelegte Thematik des Abbruchs der Kommunikation und der interpersonalen Bindungen, wie exemplarisch gezeigt wurde, weiter fort. Wie in Kapitel 9.2 angedeutet wurde, stellt die Diskussion der komplexen Felder Leere, Stille und Reinheit den Kern von „1979“ dar. Der zentrale Begriff der Leere in „1979“ soll, ausgehend von einer Analyse des semantischen Feldes des Begriffes in „Faserland“ und der Darstellung der Differenzierung des Feldes in zwei polare Bedeutungsfelder, am Text diskutiert werden. 878 Bessing: Vorwort, S. 15. 879 Kracht: 1979, S. 17. 880 Ebd., S. 19. 881 Ebd., S. 26.

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Erstellt man eine Matrix mit den Feldern α und , so lassen sich im ersten Feld α folgende Textstellen aus „Faserland“ verorten: „Ich habe das Gefühl, als würde ich innerlich vollkommen ausrasten, als ob ich völlig den Halt verliere. So, als ob es gar kein Zentrum mehr gäbe.“882 „Dann denke ich, wie gut es wäre, solche Dinge [eine alte, ererbte Liege, I.N.] zu besitzen wie diese Liege, an der man alles festmachen kann, an deren Holz man sehen kann, wie alles seinen festen Platz hat in der Welt.“883 „Das passiert oft bei ganz reichen Leuten, daß sie so ins Hippietum abdriften. Vielleicht, weil sie alles andere schon gesehen und und erlebt haben und sich alles kaufen können und dann irgendwann in sich so eine furchterregende Leere entdecken“884. Im zweiten Feld  lässt sich hingegen diese Stelle anführen: Es hat etwas mit diesem Dampfer zu tun, mit dem Stillstehen, während der Dampfer selbst weiterfährt [...]. [E]s ist ein bißchen so, als finde man seinen Platz in der Welt. Es ist kein Sog mehr, kein Ohnmächtigwerden angesichts des Lebens, daß neben einem so abläuft, sondern ein Stillsein. Ja, genau das ist es: Ein Stillsein. Die Stille.885

In „Faserland“ scheint die Bedeutung von α und  somit relativ eindeutig; die Textstellen im Feld α bezeichnen den Verlust des sinnstiftenden Zentrums aus dem die Leere – als „furchterregende Leere“ eindeutig negativ markiert – resultiert. Das Zitat in Feld  hingegen erzählt die Gegenbewegung, das Finden des „Platz[es] in der Welt“ und das Erleben der Stille. Die Matrix von α und  ließe sich also als negativ/positiv oder Leere/Stille benennen. Bereits im Vorwort zu „Der gelbe Bleistift“ erfahren die Begriffe jedoch eine Bedeutungsverschiebung; so scheint der Begriff der Leere, wie auch in „1979“ nicht mehr nur als negativ oder defizitär zu lesen zu sein. „Grundsätzlich umkreisen seine Sätze dabei stets ein angenommenes Zentrum, ein Zentrum, das leer bleiben soll bis zum Schluß. Dieses Zentrum ist der gedachte Ort der Stille und Reinheit.“886 Das Zentrum ist hier nicht nur wie in „Faserland“ der Ort der Leere, sondern zugleich der Ort der Stille und Reinheit. Die in „Faserland“ polar gesetzten Begriffe Leere und Stille werden hier zusammen im Zentrum verortet und erfahren so eine begriffliche Annäherung. Leere ist hier nicht mehr als Defizit zu lesen, sondern, wie die Stille, als positiver Zustand. Kracht legt mit dieser Redefinition der Begriffe eine gedankliche Linie an, die in „1979“ dann weiter entfaltet wird. Diese Linie führt 882 Kracht: Faserland, S. 111. 883 Ebd., S. 124. 884 Ebd., S. 128. 885 Ebd., S. 144. 886 Bessing: Vorwort, S. 15.



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– dies lässt sich bereits an „Faserland“ zeigen – von der Dichotomie Leere/Stille über die asiatisch-buddhistische Rezeption des Begriffes der Leere zu der erweiterten Dichotomie, in der die als Defizit verstandene Leere, in der westlichen Rezeption des Begriffes, der Leere in der asiatisch-buddhistischen Rezeption und der Stille entgegensteht. In der Matrix des semantischen Feldes der Begriffe in „1979“ wird die Bedeutung der Leere deutlich. In Feld α, das wiederum die Leere im Sinne eines Defizits aufführt, lassen sich folgende Stellen verorten: „Oft war es ja so, daß Christopher mich fragte, warum ich so leer war und ganz ohne Vergangenheit zu existieren schien“887. „Er sah völlig wahnsinnig aus, als habe sich irgendwann sein Gehirn ausgeleert.“888 „Wenn wir es nicht selbst in uns ändern, werden wir alles kriechen müssen, wie Schnecken, blind, um ein leeres Zentrum, um den großen Satan herum, um Amerika.“889 „Etwas Neues war geschehen, etwas völlig Unfaßbares, es war wie ein Strudel, in den alles hineingesogen wurde, was nicht festgezurrt war, und selbst diese Dinge waren nicht mehr sicher. Es schien, als gäbe es kein Zentrum mehr“890. „Shabu-Shabu. Crystal Meth. Die NaziDroge, das Biker-Glück, die neue Reinheit, Punkrock. Komm mit, wir werden es rauchen.“891 Die Textstellen in Feld α entsprechen somit den in der Matrix zu „Faserland“ in α verorteten Stellen. Die Leere, das leere Zentrum und sogar die Reinheit – die hier zu einer ‚Reinheit‘ des Drogenrausches pervertiert – werden als negativ gelesen. Die in Feld  aufgeführten Stellen verweisen wie in „Faserland“ auf die Gegenbewegung der Reinheit: „Sie haben Glück, Sie sind rein, Sie sind ein offenes Gefäß“892. „Ich hatte mich noch nie so sauber gefühlt, so zutiefst und im Innersten rein.“893 „Zum ersten Mal, seitdem wir in Persien waren, hatte ich das Gefühl des Ankommens und der Reinheit, ein Kindheitsgefühl“894. „Ich hatte mich von allem Unwichtigen frei gemacht [...], ich wollte nichts mehr, ich war frei.“895 In den zitierten Textstellen lässt sich jedoch eine Redefinition des Begriffes und des Verständnisses der Leere feststellen. Bereits im ersten Zitat wird die Verbindung der Reinheit, die eindeutig positiv konnotiert ist, mit der Leere des 887 Kracht: 1979, S. 34. 888 Ebd., S. 38. 889 Ebd., S. 98. 890 Ebd., S. 94. 891 Ebd., S. 39. 892 Ebd., S. 60. 893 Ebd., S. 132. 894 Ebd., S. 33 f. 895 Ebd., S. 146.

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„offene[n] Gefäß[es]“ deutlich. Das „offene Gefäß“ – und damit der Erzähler – zeichnet sich durch die Möglichkeit der Füllung aus; hierzu muss es natürlich vorher leer sein. Die Leere ist also, und diesen Gedanken wird Kracht im Text diskutieren, nicht nur die Abwesenheit des Sinnes, sondern zugleich auch die Voraussetzung der Erfüllung. Ähnliches wird in der letzten Textstelle dargestellt; erst die Loslösung von allem, auch vom eigenen Willen, von Zielen und Wünschen – „ich wollte nichts mehr“ – kann die absolute Freiheit bewirken. Zeichnet „Faserland“, wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, die Bewegung um das leere Zentrum nach, so zeigt „1979“ den Versuch der Wiederbesetzung des Zentrums auf. „1979“ schließt an „Faserland“ an, indem es zu Beginn das Scheitern verschiedener Bezugssysteme vorführt, um dann mit der Demonstration des Scheiterns der Bemühungen der Besetzung – oder, anders gedacht, mit dem Gelingen dieser Bemühungen und dem Aufgehen in der totalitären Struktur des Lagers – über „Faserland“ hinauszugehen. „1979“ setzt bereits im kurzen ersten Kapitel mit der Erzählung des Scheiterns der Bezugssysteme, sowohl der zwischenmenschlichen als auch der religiösen und weltanschaulichen, ein. Der zweite Absatz führt mit der bereits zitierten Textstelle, „Es gab einige Militärkontrollen, denn seit September herrschte Kriegsrecht, was ja eigentlich nichts zu bedeuten hatte in diesen Ländern, sagte Christopher“896, die Absence der politischen und staatlichen Ordnungsmacht und deren Regelsysteme vor. Zum einen herrscht das Kriegsrecht, also der Ausnahmezustand897, der die ‚normalen‘ Regeln außer Kraft setzt, aber dennoch eigene Regularien etabliert, zum anderen hat dieses jedoch „nichts zu bedeuten“, ist also entweder zum ständigen Zustand geworden oder zum indifferenten und indefinierten Zwischenzustand, der nicht mehr eindeutig zwischen Ausnahmezustand und Normalzustand unterscheidet. Wenig später wird der Wegfall des religiösen Systems des Islams vorgeführt. „Ich hatte mir den Koran vor einigen Wochen [...] gekauft und, ehrlich gesagt, große Schwierigkeiten dabei, mich darauf zu konzentrieren. Ich las manche Sure dreimal, ohne sie wirklich zu lesen. Ich legte das Buch wieder weg“898. Die Lektüre des Korans liegt auf einer Reise durch ein islamisches Land sicherlich nahe, dennoch zeigt die Textstelle, dass der Erzähler nach einem Bezugssystem sucht – und dass der Versuch, den Islam als dieses im Zentrum zu etablieren, scheitert. Auch wenn er im Laufe der Erzählung noch mehrmals auf überzeugte Anhänger 896 Ebd., S. 17. 897 Zum Begriff Ausnahmezustand vergl.: Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand. Frankfurt am Main 2004. 898 Kracht: 1979, S. 19.



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dieser Religion stoßen wird, näheren Kontakt zu ihnen sucht und aufnimmt, so bleibt doch die auf den ersten Seiten erzählte Ausschließung des religiösen Systems bestehen. Der kreativ-intellektuelle Bereich wird vom Erzähler mit der Erkenntnis der Beschränktheit der eigenen intellektuellen Fähigkeiten ebenfalls abgelehnt. „Ich war Innenarchitekt [...]. Die Architektur war mir zu kompliziert, das Einrichten war ja schon schwierig genug. Christopher sagte dazu immer, ich sei etwas dämlich, womit er ja auch vielleicht recht hatte.“899 Der Intellekt scheint also ebenfalls nicht als System geeignet. Das kapitalistische westliche System, das sich in der dekadenten Jet-Set-Gesellschaft manifestiert, die während der islamischen Revolution ausschweifende Partys in einem luxuriösen Anwesen mit „Haschwald“900 feiert, erfährt in der Darstellung seiner immanenten extremen Dekadenz ebenfalls eine kritische Ablehnung. So berichtet der Erzähler von einem „Klub der Berluti-Schuhbesitzer, die sich in der Nähe des Place des Vendôme trafen, um ihre Berlutis mit Krug zu putzen.“901 Neben der Darstellung der Dekadenz der finanzstarken westlichen Welt spielt Kracht in der zitierten Stelle mit der Erzähltechnik der Pop-Literatur902, indem er Markennamen nennt – und zwar, wie in „Faserland“, elitäre und hochpreisige Markennamen – und über diese nicht nur Informationen kommuniziert, sondern zudem das Spiel der Distinktionen und der In- und Exklusion, das typisch für Pop ist, als kurzes ironisches und damit wiederum zutiefst dem Pop verpflichtetes Zitat ins Spiel bringt. Zugleich deutet das ironische Spiel jedoch bereits den Verlust des westlich-kapitalistischen Systems an. Die Krise der interpersonalen Bindungen wird ebenfalls im ersten Kapitel geschildert. Wie bereits in „Faserland“, in dem das Wegbrechen sämtlicher freundschaftlicher Beziehungen und das Scheitern aller neuer Verbindungen ausführlich erzählt wird, so gelingt es auch dem Erzähler in „1979“ nicht, die Bindungen zu anderen Menschen aufrechtzuerhalten. Das Versagen der Sprache und der Kommunikation ist auch zwischen dem Erzähler und seinem Freund Christopher zu beobachten. „Wir hatten seit Ghazvin kein Wort miteinander

899 Ebd., S. 19. 900 Ebd., S. 43. 901 Ebd., S. 20. 902 Im Text lassen sich einige Stellen finden, die eine Nähe zu Pop und zur Pop-Literatur betonen. So ist „1979“ nicht nur Olaf Dante Marx, der für die Pop-Magazine Spex und Tempo schrieb, gewidmet – und führt somit einen wichtigen Vertreter des Pop explizit im Paratext auf –, sondern nennt oftmals Namen von Pop-Bands wie Blondie (S. 17), Devo (S. 17), The Ink Spots (S. 27), Bachmann-Turner-Overdrive (S. 37) oder Throbbing Gristle (S. 38).

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gesprochen.“903 Die Beziehung ist zu einem leeren Ritual verkommen; „es war nur noch ein Austauschen von Formeln“904. Die Kommunikation funktioniert nur als Kommunikation von Gewalt und Hass. „‚Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie sehr du mich anödest‘, sagte er.“905 Das Kapitel endet mit der völligen Aufgabe der Liebe und der Beziehung. „‚Die Liebe, die einst so einfach schien, ist in Schwierigkeiten. Das ist von ... von ... warte, es ist von Hafez Shirazi. Rather fitting, findest du nicht?‘ ‚Weißt Du was? Du bist mongoloid‘, antwortete Christopher.“906 Die Sphäre der Gewalt, die sich in dem Ausnahmezustand manifestiert und unter dessen indifferenten Regularien entfaltet, findet sich auch in der Kommunikation des Erzählers mit seinem Freund wieder. Die Gespräche beschränken sich auf die Kommunikation von gewaltsamen Verletzungen und Beleidigungen. Nachdem die Verbindung des homosexuellen Paares auf der privaten und persönlichen Ebene ihr Scheitern offenbart hat, wird sie zusätzlich von außen diffamiert. „Gott haßt Schwule, weißt Du das?“907 wird der Erzähler von Alexander auf der Party belehrt. Mit seiner Antwort zerstört er die Basis seiner Beziehung, verleugnet seine Sexualität, seinen Freund, seine Beziehung und beugt sich der Gewalt und Macht Alexanders: „Ja, das weiß ich. Ich mag auch keine Homos.“908 Das spätere Verschwinden von Christopher in einem Krankenhaus wird zu Beginn der Erzählung vorbereitet. „Dann war es mir [...], als sei er [Christopher, I.N.] tatsächlich eine Statue, etwas Gegossenes, aber etwas, das niemand erschaffen hatte, sondern das einfach nur existierte, leuchtend, unnahbar und schrecklich.“909 Christopher kann wenig später verschwinden, weil er eigentlich nie da war; das Affektiv-Menschliche war stets absent. Die unheimliche und unbelebte Statue – die ‚übermenschliche‘ Schönheit Christophers wird mehrmals im Text betont und provoziert stets eine Schaulust, die an Kunstbetrachtungen 903 Kracht: 1979, S. 19. 904 Die bereits zitierte Stelle lautet vollständig: „Christopher und ich hatten uns leider seit über einem Jahr nicht mehr viel zu sagen [...], das heißt, es war schwierig geworden in letzter Zeit, mit ihm zu reden, weil alles so gleichförmig schien, es war nur noch ein Austauschen von Formeln, es war wie eines dieser schrecklichen Küchenrituale geworden; als ob da jemand kocht und abschmeckt und dies, und dann steht da niemand, der einen dabei beobachtet und sich darüber freut.“ Ebd., S. 26. 905 Ebd., S. 30. 906 Ebd., S. 31. 907 Ebd., S. 39. 908 Ebd., S. 39. 909 Ebd., S. 41.



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erinnert – verschwindet schließlich mit einer erneuten Betonung seiner Stellung aus dem Text. „[D]er von allen geliebte, hochintelligente Architekturkenner, Alleskenner, Alleswisser, der herrlich blasierte, viel zu gut aussehende blonde Zyniker, Christopher, mein Freund, war verschwunden.“910 „1979“ zeigt also wie „Faserland“ den Wegfall sämtlicher Bezugssysteme auf. Konzentrierte sich „Faserland“ noch auf die Erzählung der Desozialisation des Erzählers, den fortschreitenden Abbruch der Bindungen an seine Umwelt und die Krise der Sprache und Kommunikation, so führt „1979“ diese Thematik weiter fort und entfaltet das Szenario der Aufgabe der Systeme weiter. Krachts bereits zitierte Aussage zu den Gemeinsamkeiten und der Weiterführung der Texte lässt sich erst in diesem Licht verstehen: Ja, es ist eine Art Weiterführung von Faserland, mit Sicherheit. Also, ich glaube, es ist so, daß die Erwartungshaltung vielleicht Grundlage sein kann, um den Leser an die Hand zu nehmen und in ein anderes Land zu führen. Und dieses Land ist dann doch schrecklich und überhaupt nicht schön.911

Die Reise in das „andere Land [, das] [...] schrecklich und überhaupt nicht schön“912 ist, wird durch den Versuch, das leere Zentrum wieder zu besetzen, motiviert. Ausgangspunkt der sowohl realen als auch symbolischen Reise ist die Party in Teheran; die beiden Linien, die die Reise auslösen und zugleich ihr Ziel bilden, werden hier angelegt. Die erste Linie gründet sich in der Erkenntnis der eigenen Leere. „Oft war es ja so, daß Christopher mich fragte, warum ich so leer war“913. Diese Leere, die sowohl negativ, wie in Christophers Frage, als zu füllendes Defizit als auch positiv als Voraussetzung der Füllung, wie im zweiten Teil des Textes in Tibet, verstanden werden kann, resultiert aus der Ablehnung und Aussonderung der Bezugssysteme und motiviert die Suche nach ‚neuen‘ Systemen. Die zweite Linie wird mit der bezeichnenderweise einzigen Erinnerung des Erzählers an seine Kindheit angelegt. Zum ersten Mal [...] hatte ich das Gefühl des Ankommens und der Reinheit, ein Kindheitsgefühl; es war das Gegenteil des Gefühls, das ich selbst als Kind hatte, in meinem französischen Kindergarten; damals hatte ich immer versucht, die Milchränder an meinem täglichen Zehnuhr-Glas Milch zu umtrinken, indem ich das Glas 910 Ebd., S. 69. 911 Cosmo: Besprechung des Romans „1979“. 912 Ebd. 913 Kracht: 1979, S. 34.

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langsam im Uhrzeigersinn vor mir herumdrehte, so sehr ekelte ich mich vor meiner eigenen Milchspucke.914

Die Leere und die Reinheit stehen somit am Anfang der Reise. Doch das Gefühl der Reinheit bleibt, wie die am Strand von Mykonos spielende Episode in „Faserland“, in der die Stille kurzzeitig erfahren werden konnte, nur eine kurze Empfindung, verweist jedoch auf das Ende des Textes, in dem die Reinheit, das Ankommen und die Stille erlebt werden können. Ankommen und Reinheit sind in dem Text eng miteinander verbunden und markieren den Austritt aus der Spirale der Umkreisung des leeren Zentrums. Eben dieses Sistieren der Bewegung versucht der Erzähler in „1979“ nun zu erreichen. Die in der Textstelle erzählte Erinnerung seiner Kindheit bezeichnet genau genommen kein Gefühl der Reinheit, sondern den Versuch, dieses zu erreichen. Der Erzähler erinnert sich genau an die Technik, die er als Kind angewendet hat, um ein Ekelgefühl zu vermeiden und den Zustand der Reinheit zu erlangen. Diese Technik ähnelt in ihrer Struktur einer kreisförmigen Bewegung, die im Uhrzeigersinn ausgeführt wird, der späteren Umkreisung des Berges Kailasch. „Diesen Berg müssen Sie im Uhrzeigersinn umkreisen“915. So wird über die Struktur der Bewegung nicht nur die Kindheitserinnerung mit der Bergumkreisung in Verbindung gesetzt, sondern zudem gezeigt, dass das Erreichen der Reinheit eine aktive Handlung voraussetzt. Nachdem der Text das Scheitern sämtlicher Bezugssysteme vorgeführt hat, wird nun der Versuch der Einführung eines ‚neuen‘ Systems und damit der Wiederbesetzung des leeren Zentrums unternommen. Der erste Versuch der Besetzung, der die Reise des Erzählers zu dem Berg Kailasch schließlich auslöst, wird von zwei Zeilen aus dem Stück „Circus of Death“ von der Gruppe „Human League“ eingeleitet. „The circus of death is approaching / Its pathway is painted in red.“916 Die Gefühle des Erzählers während der Rezeption des Liedes sind eindeutig. „[E]s war schrecklich, es klang

914 Ebd., S. 33 f. 915 Ebd., S. 115. 916 Ebd., S. 54. Die vollständige dritte Strophe des Stückes lautet: „The circus of death is approaching Its pathway is painted in red Before it the frightened and helpless Behind it a trail of the dead“ Human League: Circus of Death. Auf: Dies.: Being Boiled. CD-Single. Fast Product 1978.



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nach Maschinen, es machte mir angst“917. Die Liedzeilen verweisen mit ihrer Andeutung von Gewalt und Tod bereits auf die anstehende Reise, Halbierung und Auslöschung des Erzählers. Nach einem kurzen Gespräch über die Musik prophezeit Mavrocordato dem Erzähler das weitere Geschehen: „Sie werden in Kürze halbiert werden, um dann wieder ganz zu sein. Und diese Halbierung wird sehr bald beginnen“918. Der Erzähler versteht die Prophezeiung als Ankündigung seiner Trennung von Christopher – die dann auch wenig später mit dem Tod von Christopher tatsächlich eintritt und für die erste Halbierung steht –, muss aber erfahren, dass die Prophezeiung radikaler und fundamentaler zu verstehen ist. „Es wird alles noch viel, viel schlimmer werden, glauben Sie mir.“919 Und weiter: „Es kann auch sein [...], daß Sie halbiert werden, nicht ihre Beziehung, sondern Sie körperlich, wirklich halbiert.“920 Der Grund für die Halbierung liegt in der Schuld und in der daraus resultierenden Buße. „Sehen Sie sich das hier an. Wir können das alles nie wiedergutmachen, niemals.“921 Mit der Prophezeiung der Halbierung und der Proklamation der Schuld wird von Mavrocordato zugleich die Reinheit des Erzählers betont. „Sie haben Glück, Sie sind rein, Sie sind ein offenes Gefäß“922. In der Deutschen Botschaft, die der Erzähler nach dem Tod Christophers aufsucht, erfährt er eine weitere Form der Schuld, als ihm der Vizekonsul berichtet, dass sein Vater im Zweiten Weltkrieg „vier Juden erschossen [hat]“923 und dass er sich schämt, „jeden Tag, den [...] [er] auf der Welt [...] [ist]“924. Die Antworten des Erzählers auf die Fragen des Vizekonsuls zeigen, dass der Erzähler im Gegensatz zum Vizekonsul nicht an das absolute und unwiderrufliche Böse glaubt. „‚Glauben Sie an das Böse?‘ / ‚Nein.‘ / ‚Woher kommt das Böse?‘ / ‚Ich weiß es nicht.‘ / ‚War es schon immer da? War es schon immer in uns?‘ / ‚Nein.‘“925 Die Vorstellung des Erzählers, dass das Böse nicht schon immer da war, bedeutet, dass das Böse, so es denn in uns ist, auch wieder ausgetrieben werden kann. Diese Austreibung, die „innere Reinigung“926, steht nicht nur der asiatisch-buddhistischen Gedankenwelt nahe, sondern ist die Voraussetzung der Reise des Erzählers, die von dem Versuch, Buße zu tun, angetrieben wird. 917 Ebd., S. 54. 918 Ebd., S. 55. 919 Ebd., S. 57. 920 Ebd., S. 57. 921 Ebd., S. 58. 922 Ebd., S. 60. 923 Ebd., S. 89. 924 Ebd., S. 89. 925 Ebd., S. 90. 926 Scholz: Ein postmoderner Bildungsroman, S. 217.

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Der mit dem Gespräch mit Mavrocordato auf der Party angelegte Erzählstrang, der schließlich zum Aufbruch des Erzählers führt, wird nach der Diskussion in der Botschaft wieder aufgenommen und schließt thematisch an den Gedanken der Reinigung und der Möglichkeit, Buße zu tun, an. Schon vor dem endgültigen Entschluss des Erzählers, die Reise zu dem Berg Kailasch anzutreten, deuten sich diese und die Suche nach der Reinheit und Buße im Text an. Nach der ersten Halbierung, dem Tod Christophers, rasiert sich der Erzähler seinen Oberlippenbart ab. „[M]ein Gesicht, so schien es mir, hatte plötzlich etwas vollkommen Zeit- und Altersloses bekommen, etwas der Zeit Entrücktes. Es sah fast richtig gut aus, neu, dachte ich.“927 Auch der Erzähler ‚häutet‘ sich hier symbolisch, lässt sein altes Ich hinter sich und beginnt, sich in das zeit- und alterslose Wesen zu verwandeln, das die tibetischen Pilger schließlich als „Body Shattva“928, also als „Erleuchtungswesen“929 bezeichnen. Vor dem entscheidenden Gespräch mit Mavrocordato, nach dem er seine Reise antritt, erlebt er die völlige Auflösung seiner Bezugssysteme: Etwas Neues war geschehen, etwas völlig Unfaßbares, es war wie ein Strudel, in den alles hineingesogen wurde, was nicht festgezurrt war, und selbst diese Dinge waren nicht mehr sicher. Es schien, als gäbe es kein Zentrum mehr, oder gleichzeitig nur noch ein Zentrum und nichts mehr darum herum.930

Kurz vor dem Aufbruch erlebt der Erzähler die bisher progredierende Auflösung als absoluten Wegfall sämtlicher Systeme zugleich. Wurden bisher die einzelnen Systeme nacheinander diskutiert und aufgelöst, so findet sich vor der Abreise der in der Textlogik zwingende und unabdingbare Verlust aller Systeme. Das Zentrum bricht nun völlig weg; die vormalige Mitte, um die die Welt des Erzählers in festen konzentrischen Bahnen kreiste, entwickelt eine vernichtende Kraft, die alles in sich absorbiert und auflöst. Bessings poetologische Überlegungen zu „Der gelbe Bleistift“, in denen er das „Zentrum, das leer bleiben soll [...], der gedachte Ort der Stille und Reinheit“931 beschreibt, lassen sich hier wiederfinden. Allerdings hat sich die auch in „Tristesse Royale“ erwähnte „Spirale“932, in deren

927 Kracht: 1979, S. 93. 928 Ebd., S. 145. 929 Mürmel, Heinz: Buddhismus. In: Die Religionen der Gegenwart. Geschichte und Glauben. Hrsg. v. Peter Antes. München 1996, S. 187–211, hier S. 204. 930 Kracht: 1979, S. 94. 931 Bessing: Bessing: Vorwort, S. 15. 932 Vergl.: „Da die Spirale ein Abbild der Welt ist, gibt es keinen Ausweg aus ihr heraus und nichts außer­halb davon.“ Tristesse Royale, S. 160.



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Zentrum sich die positiv besetzten Begriffe Stille und Reinheit finden, nun in einen destruktiven „Strudel“ verwandelt. In der Logik des Textes gedacht, bereitet die totale Auflösung aller Systeme die Reise und die Möglichkeit der Wiederbesetzung vor. Der erste Versuch der Wiederbesetzung, der noch vor dem Beginn der Reise des Erzählers erfolgt, nimmt zwar die eben diskutierte Thematik und Bildlichkeit auf, muss aber dennoch scheitern. Der Besitzer eines Cafés legt dem Erzähler den Islam als Leitsystem und als Gegenmodell zur westlich-amerikanischen Dekadenz nahe. „Der Koran, den Sie erwähnen, ist schon ganz richtig. Wenn wir es nicht selbst in uns ändern, werden wir alle kriechen müssen, wie Schnecken, blind, um ein leeres Zentrum herum, um den großen Satan herum, um Amerika.“933 Das Bild des leeren Zentrums wird hier wiederaufgenommen; allerdings wird es nicht wie in „Der gelbe Bleistift“ als positive Leere verstanden, die eng mit der Reinheit und Stille verbunden ist, sondern als dekadentes Defizit, das vom „großen Satan [...] Amerika“ besetzt wird. Der Café-Besitzer ruft nun ebenfalls die Begriffe der Buße und der Schuld auf, „Wir haben uns alle verschuldet, weil wir Amerika zugelassen haben. Wir müssen alle Buße tun. Wir werden Opfer bringen müssen, jeder von uns.“934, versteht diese jedoch nicht als individuelle Schuld, die mittels einer persönlichen und individuellen Buße getilgt werden kann, sondern als indifferentes kollektives Schuldigsein, das zu einer gegen Amerika gerichteten Haltung führen soll. „Es gibt nur eine Sache, die dagegen stehen kann, nur eine ist stark genug: Der Islam. [...] Alle anderen werden in einem schaumigen Meer aus Corn Flakes und Pepsi-Cola und aufgesetzter Höflichkeit ertrinken.“935 Der Islam wird hier als Gegenmodell zur westlichamerikanischen Moderne inszeniert und soll der ‚postmodernen Beliebigkeit‘, die das „schaumige Meer aus Corn Flakes und Pepsi-Cola“936 symbolisiert, ein starkes und eindeutiges Regelsystem entgegensetzen. Der Erzähler nimmt das System des Islams jedoch nicht an und wird seine Reise letztlich ohne ein leitendes System antreten müssen. Erzählt „Faserland“ die mangelnde Bindung des Erzählers an soziale und politische Systeme, so erweitert „1979“ dies nun um religiöse und weltanschauliche Systeme: Ihm werden ja mehrere Systeme angeboten, der Islam, den lehnt er ab, die Liebe, die lehnt er auch ab, der Buddhismus. Und er geht dann einfach auf in einem men-

933 Kracht: 1979, S. 98. 934 Ebd., S. 98. 935 Ebd., S. 99. 936 Ebd., S. 99.

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schenverachtenden System, weil er die Übersysteme, die ihn retten könnten, nicht annehmen will oder kann.937

Die Absenz eines sinnstiftenden Systems und die Leere des inneren Zentrums finden sich kurz vor der Abreise des Erzählers symbolisch in der Manipulation der Überwachungstechniken, die er zusammen mit Mavrocordato durchführt: Sie richten die Linse der Überwachungskamera auf einen Bildschirm, der die aufgenommenen Bilder der Kamera zeigt, und kreieren so eine leere Dauerschleife. „Die Kamera sieht sich selbst während ihres eigenen Aufzeichnens.“938 Nachdem der Text en detail die Auflösung sämtlicher Systeme und das Scheitern des Versuches der Wiederbesetzung durch das religiöse System des Islams gezeigt hat, und der Erzähler schließlich vollkommen ‚leer‘ ist, wird nun die Gegenbewegung, die ‚Füllung‘ des Erzählers, die eben nicht in der Annahme eines anderen, neuen Metasystems besteht, erzählt. Mavrocordatos Vorschlag, dass der Erzähler etwas geben muss, ohne etwas dafür zu bekommen – „Sehen Sie es wie einen einseitigen Tausch.“939 – wird nicht, wie etwa die versuchte Missionierung des Café-Besitzers, mit der Überzeugung eines absoluten Systems vorgetragen, sondern erfährt im einleitenden Satz bereits eine Individualisierung und Einschränkung. „Nein, ich kann Ihnen nur einen Vorschlag machen. Sie selbst müssen sich zu etwas entscheiden.“940 Da der Erzähler jedoch völlig ‚leer‘ ist, kann er nichts zum ‚einseitigen Tausch‘ anbieten. Somit bleibt als einzige Möglichkeit, so Mavrocordato, die Reise zum Berg Kailasch. „Dieser Berg wird in vielen Religionen als das Zentrum des Universums angesehen, als Welt-Lotus. [...] Diesen Berg müssen Sie im Uhrzeigersinn umkreisen, er ist eine Art gigantische Mandala der Natur, also ein Gebet als Weltbegehung.“941 Mavrocordato führt zwar mit seinem Vorschlag wiederum ein religiöses System ein, dieses ist jedoch in seiner Pluralisierung942 deutlich offener und weniger mit einem religiösen Regelsystem verknüpft als etwa das zuvor offerierte islamische System. Die Reaktion des Erzählers auf den Vorschlag, „Das klingt ja

937 Cosmo: Besprechung des Romans „1979“. 938 Kracht: 1979, S. 111. 939 Ebd., S. 114. 940 Ebd., S. 114. 941 Ebd., S. 115. 942 Diese findet sich nicht nur in dem Ausdruck „viele Weltreligionen“, sondern spiegelt sich auch in dem erzählten Raum: „Vier der größten Flüsse Asiens entspringen fast genau unter ihm. Kailaschs vier Seiten entsprechen dem Lapislazuli und Gold, dem Silber und Kristall.“ Kracht: 1979, S. 115.



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völlig dämlich. Was soll ich denn da?“943, zeigt zudem auf, dass selbst das pluralistische religiöse System nicht vollkommen angenommen wird – im weiteren Verlauf wird sich zeigen, das der Erzähler zwar dem System folgt, dies allerdings scheinbar zufällig und ungeplant und ohne religiöse Überzeugung tut. Die buddhistisch konnotierte Überzeugung Mavrocordatos, „Eine einzige Umrundung wäscht die Sünden eines gesamten Lebens rein. Wenn Sie das schaffen, dann haben Sie etwas Großes getan, etwas, um das aus den Fugen geratene Gleichgewicht wiederherzustellen.“944, nimmt die erzählte Kernthematik des Textes auf, allerdings ohne dass der Erzähler die religiöse Überzeugung annimmt. Der Text erzählt also nicht die Konversion des Erzählers zum Buddhismus. Letztlich bricht der Erzähler dennoch zu der vorgeschlagenen Reise auf – jedoch ohne rechte Überzeugung und mit einigen Zweifeln: „Soll ich? Ich weiß es nicht.“945 Das leere Zentrum bleibt ungefüllt, ein Bezugssystem fehlt weiterhin. Auf seiner Reise zu dem Berg erlebt der Erzähler seine weitere ‚Entleerung‘; seine Gefühle sind nicht mehr vorhanden, er verspürt nur noch eine neutrale Leere. „Ich war weder glücklich noch unglücklich.“946 Die innere Reinigung, die sich mit dem Abrasieren des Bartes des Erzählers bereits angedeutet hat, wird nun mit dem Bad in einem kalten Bergsee fortgeführt. „Das Bad war wie eine Salbung. Ich hatte mich noch nie so sauber gefühlt, so zutiefst und im Innersten rein.“947 Die beiden Momentaufnahmen der Reise, die ansonsten oftmals als langweilig und sinnlos verstanden wird, nehmen mit der Empfindung der Reinheit und der jenseits der Gefühle stehenden Leere nicht nur die buddhistische Konnotation der Erzählung auf, sondern führen zudem die Linie der kurzen Momente der Reinheit und Stille, die bereits in „Faserland“ mit der Erzählung der erfahrenen Stille am Strand von Mykonos angelegt wurde, weiter fort. Bei beiden Erlebnissen wird der Körper kurz in das Zentrum gerückt und erfährt im Text eine prominente Setzung. Beide Male geschieht diese jedoch ex negativo; die nackten Körper der homosexuellen Männer am Strand werden als abstoßend beschrieben, am Bergsee wird der eigene Körper als schmutzig und reinigungbedürftig empfunden. Erst durch die Absetzung von der ‚unreinen‘ Umgebung, sei es, dass die nackten Körper der Männer den Blick auf den Horizont lenken, oder sei es, dass der eigene Körper gereinigt wird, erfährt der Erzähler die Stille und Reinheit. Erst die Abkehr vom ‚unreinen‘ Körper oder die Transzendierung des nun ‚reinen‘ Körpers erlaubt diese Erfahrung. Und so steht am Ende des Textes 943 Ebd., S. 115. 944 Ebd., S. 117. 945 Ebd., S. 117. 946 Ebd., S. 132. 947 Ebd., S. 132.

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mit der Auslöschung des eigenen Körpers die vollkommene ‚Erlösung‘ – die allerdings ironischerweise in einem totalitären Gewaltsystem geschieht. Zuvor betont Kracht jedoch nochmals, dass der Text nicht die Konversion des Erzählers zum Buddhismus erzählt. Der Erzähler ist kein Buddhist, auch wenn er wie ein buddhistischer Pilger handelt und empfindet. Die Pilgerreise um den Berg und die Empfindung der Leere sind zwar zutiefst buddhistisch konnotiert, dennoch handelt der Erzähler nicht aus religiösen Überzeugungen, sondern erfährt die quasi-religiösen Gefühle ohne religiöse Intention. Die Empfindungen des Erzählers bei der Umkreisung des Berges sind zudem wenig religiös. Es kam keine plötzliche Einsicht, ich hatte nicht das Gefühl, etwas zu geben oder einen Tausch zu vollbringen, wie er es genannt hatte, oder die Welt reinzuwaschen von ihren Sünden. Es war, wenn ich das sagen darf, reichlich banal. [...] Ich hatte auch keine großartigen Gedanken dabei. [...] Ich hatte ganz gewiß nicht das Gefühl, Mount Kailasch sei das Zentrum des Universums.948

Der Erzähler führt die Pilgerreise den Regeln gemäß durch, erkennt aber in der Umrundung des Berges keinen Sinn und erfährt keine Wahrheit, Erlösung oder Vergebung. Das Zentrum der Reise, in dem symbolisch die Suche nach der Buße und räumlich der Berg Kailasch steht, wird als leer empfunden. Die Stille und Reinheit, die im Zentrum vermutet wird, kann nicht aufgefunden werden. Anstatt die Reise abzubrechen, verschärft der Erzähler jedoch seine Anstrengungen und umrundet den Berg nun auf Knien – und übernimmt damit eine traditionell-buddhistische Form der Buße. Die ihn begleitenden Mönche erblicken in ihm dann auch folgerichtig einen erleuchteten „Body Shattva“949. Doch auch hier entspricht der Erzähler den religiösen Erleuchtungsvorstellungen eher ungewollt und zufällig. Kracht spielt hier mit den entsprechenden Begrifflichkeiten und Vorstellungen; von der Konversion des Erzählers oder von dessen Erleuchtung, die neben der Form der buddhistischen Pilgerreise auch den zugrundeliegenden Inhalt, also die religiöse Überzeugung, voraussetzt, erzählt der Text nicht. Die positiv erlebte Gemeinschaft mit den Pilgern „bereitet [...] [zugleich] die Lagersituation vor, indem sie die Selbstauslöschung mit einer Gemeinschaftserfahrung in Verbindung bringt.“950 Auch die folgende Empfindung des Erzählers lässt sich wieder in der buddhistischen Empfindungswelt verorten; Kracht nutzt auch hier ein tief religiös

948 Kracht: 1979, S. 141. 949 Ebd., S. 145. 950 Scholz: Ein postmoderner Bildungsroman, S. 218.



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konnotiertes Vokabular:951 „Ich hatte mich von allem Unwichtigen frei gemacht, selbst von Mavrocordatos Belehrungen, ich wollte nichts mehr, ich war frei.“952 Am Ende der Umrundung des Berges steht wiederum die Leere. Das Zentrum konnte auch von dem religiösen System des Buddhismus nicht besetzt werden; nach dem Islam wird auch der Buddhismus als mögliches Bezugssystem ausgeschlossen. Mit der Festnahme und Internierung des Erzählers und der Pilger durch das chinesische Militär beginnt im Text nicht nur die Erzählung der Gewalt des totalitären Lagers, sondern wird auch die vormals erzählte Leere und Auslöschung aus ihrer positiven religiösen Konnotation herausgelöst und ins negative, gewaltsame Verlöschen gewendet. Der Text nimmt die angedeutete Leere und Auslöschung des Körpers auf und lässt diese den Erzähler nun in extremo erleben; hierbei bleibt die Begrifflichkeit ähnlich, der Sinn wird jedoch umgekehrt. Auch die Sprache und der Sinn erfahren ihre Auflösung. So ist der im Verhör anzugebende Grund für die Mandarin-Kenntnisse des Erzählers nicht, dass er die Sprache aus Interesse gelernt habe – „Die Frau schrie, meine Interessen seien bourgeois und imperialistisch [...]. Ein Arbeiter würde niemals so ein Hobby 951 Die dem Buddhismus verpflichtete Bildlichkeit und das entsprechende buddhistisch konnotierte Vokabular scheinen zu einer in diesem Kontext angesiedelten Lesart einzuladen – die bisher noch nicht ver­sucht wurde. Es ließe sich sicher nachweisen, was ich andeutungsweise versucht habe, dass das Vokabular Krachts zutiefst religiös konnotiert ist. Dennoch scheint es mir, dass Kracht nicht eine Konversion erzählen will, sondern, ganz im Gegenteil, den völligen Wegfall sämtlicher Systeme. Hieraus ergibt sich jedoch ein semantisches Problem, da die (westliche) Leere, die ein Defizit bezeichnet der (buddhistischen) Leere sowohl diametral entgegensteht als auch entspricht. Beide Male ist die Leere „leer“ – die Voraussetzungen und Folgen sind jedoch völlig unterschiedlich. Roland Barthes hat in „Das Reich der Zeichen“ auf die Schwierigkeit der Benennung eben dieser Phänomene in einer nicht-japanischen oder asiatischen Sprache aufmerksam gemacht. Zur Leere im Sinne des Buddhismus: „The Buddhist claim of the emptiness of phenomena is not the positing of a nihil but simply the insistence that nowhere can there be found an entity that has existence in and of itself. This is to say that the ancient Buddhists found no evidence of any being or phenomenon having what in Western philosophy was once called aseity, the status of being unconditioned and beyond influence or causation by any other thing.“ LaFleur, William R.: Symbol and Yûgen: Shunzei’s Use of Tendai Buddhism. In: Flowing traces: Buddhism in the literary and visual arts of Japan. Hrsg. v. James H. Sanford, u.a. Princeton 1992, S. 16–46, hier S. 30. „Im Zen-Buddhismus hingegen scheint der Leib nur dadurch zum Medium der Erlösung avancieren zu können, daß er – zusammen mit dem Geist – ‚abgeworfen‘ wird, wie es in Dôgens Formulierung shinshin datsuraku, ‚Körper und Geist abwerfen‘, heißt.“ Pörtner und Heise: Die Philosophie Japans, S. 156. 952 Kracht: 1979, S. 146.

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haben. Hobbys seien zutiefst reaktionär“953 –, sondern dass er die Sprache gelernt habe, „um zu spionieren, um die Moral und die Faser der Gesellschaft zu zerstören“954. Im totalitären Lager ist die ‚Wahrheit‘, deren Auffinden ja der eigentliche Sinn eines Verhöres ist, nicht von Interesse; die politisch-propagandistisch vorgegebene Antwort auf die Frage soll allein den Willen, die Überzeugung und die Identität des Häftlings brechen. Eine Erkenntnis über den Anderen ist nicht intendiert. Zudem muss jede mögliche ‚Wahrheit‘ oder ‚Erkenntnis‘ ebenfalls stets in Frage gestellt werden. „Es sei eine Zeit des Umdenkens, nichts sei mehr sicher, man könne sich auf nichts mehr verlassen, selbst auf die eigenen Gedanken nicht.“955 Mit dieser Vorstellung, dass es keine zweifelsfreien und dauerhaften Wahrheiten gibt, dass alles der ständigen Neubewertung unterliegt und auch die eigenen Gedanken keinen Halt und keine Sicherheit bieten können, schließt Kracht an die in „Faserland“ geäußerte fundamentale Skepsis an. „1979“ nimmt den fundamentalen Zweifel des Erzählers in „Faserland“ auf – „Karin studiert BWL [...]. Das erzählt sie wenigstens. Genau kann man sowas ja nicht wissen.“956 – und verbindet ihn mit der ständigen Relativierung der eigenen Gedanken. Bereits in „Faserland“ erzählt Kracht das Zweifeln an der eigenen Erzählkompetenz und an der Möglichkeit, die Umwelt zu verstehen und einzuordnen; in „1979“ wird dies nun mit dem von außen mittels Gewalt herangetragenen Zweifel verstärkt. Die Sprache geht hier in Gewalt über und bewirkt die nun negativ-gewaltsam konnotierte Auslöschung der Identität.

9.3 SPRACHE UND KOMMUNIKATION IN „ICH WERDE HIER SEIN IM SONNENSCHEIN UND IM SCHAT TEN“

In „Faserland“ wird der fundamentale Zweifel des Erzählers an der Erzählbarkeit der Dinge und an der Existenz der Dinge an sich diskutiert; die Unsicherheit, die aus der Unmöglichkeit resultiert, die erzählte Welt zu fassen oder zu erzählen, führt zu einer fortschreitenden Aufgabe der Bindungen des Erzählers an seine Welt und an die ihm offerierten Bezugssysteme. „1979“ stellt den Verlust der eigenen Geschichte und Identität und deren Neuschreibung mittels der Gewalt dar. Die Sprache löst sich im Lager mehr noch als in „Faserland“ von der Faktizität der Welt und gibt jeden Anspruch auf authentische Repräsentation auf: Das Ich des Erzählers ist das, was ihm erzählt wird. „Ich werde hier sein im 953 Ebd., S. 157. 954 Ebd., S. 158. 955 Ebd., S. 159. 956 Kracht: Faserland, S. 15.



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Sonnenschein und im Schatten“ präsentiert nun eine Welt des Krieges, die sich durch ihre Illiterarität und den Versuch, eine ‚neue Sprache‘ zu erschaffen, die sich geradezu plastisch im Raum manifestiert, auszeichnet. Der Verlust der Schrift- und Schreibkultur wird bereits auf der zweiten Seite mit der achtlosen Zerstörung eines Buches symbolisch dargestellt. „Die herausgerissenen Seiten eines deutschen Buches lagen unter dem Eis, fast waren einzelne Sätze zu lesen.“957 In der Gewalt des Krieges – das deutsche Buch steht als pars pro toto für das deutsche faschistische Feindesland – erfährt die Schriftkultur nicht nur eine geringe Wertschätzung, die bis zu ihrer Zerstörung reicht, sondern wird buchstäblich ‚eingefroren‘ und, wie im weiteren Verlauf der Erzählung deutlich wird, dem Vergessen anheimgegeben; der Erzähler ist eine der wenigen Figuren im Text, die der Schrift noch mächtig sind. Die Lesbarkeit des Textes ist nahezu unmöglich geworden, nur „einzelne Sätze“ sind fast noch dechiffrierbar. Letztlich ist von dem Text unter dem Eis nichts mehr lesbar; der Eindruck der nicht mehr lesbaren und damit sinnlosen Schrift, der sich auf das Erkennen der Schrift als Schrift, des Satzes als Satz reduziert, kann keinen Sinn und keine Referenz mehr transportieren – die Buchstaben sind nunmehr lediglich Buchstaben, der Text ist nur noch eine Reihung von typographischen Lettern ohne Bedeutung. Von der Lesbarkeit des Textes zieht der Erzähler die Linie zu der Les- und Erinnerbarkeit der Welt und der eigenen Geschichte. „Wie war es nur im Sommer gewesen [...]? Man konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie man sich auch nicht an Gesichter erinnern konnte.“958 Die individuelle Erinnerung ist unmöglich geworden; weder können die persönliche Vergangenheit, der letzte Sommer, noch die Gemeinschaft und die Identität des Anderen, sein Gesicht, erinnert werden. Mit dem Verlust der Erinnerung lösen sich die Charakteristika der Systeme auf. „Die Jahreszeiten verschwanden, es gab kein Auf und Ab mehr, [...] keine Gezeiten, keine Wogen, keine Mondphasen [...] Der Fluss der Zeit hatte es aus der Erinnerung gewaschen. [...] Man erinnerte sich nicht mehr.“959 Mit der menschlichen Erinnerung fallen auch die dichotomen Systeme der Natur weg; der Gegensatz von Ebbe und Flut, der mit dem Vorherrschen des einen Zustandes den anderen nicht nur logisch notwendig macht, sondern dessen Vorherrschen in der Vergangenheit und in der nahen Zukunft impliziert, weicht einem stets gleich bleibenden Mischzustand, der aufgrund seiner unveränderlichen Gleichförmigkeit eine Erinnerung eines vormaligen anderen Zustandes unmöglich macht. Dieses Aussetzen der Erinnerung, die dauerhafte Implemen957 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 12. 958 Ebd., S. 12 f. 959 Ebd., S. 13.

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tierung eines unveränderlichen Zustandes, wird mit der dauerhaften Ewigkeit des Krieges in Verbindung gebracht. „Es waren nun fast einhundert Jahre Krieg. Es war niemand mehr am Leben, der im Frieden geboren war.“960 Es gibt keine Referenz mehr, die aus der auf Dauer gestellten temporären Struktur des Krieges auf einen anderen Zustand verweisen könnte. Selbst die Schrift als das präferierte Medium zur Erlangung einer zeitlichen Metaebene kann nicht mehr als Instrument zum Verlassen der eigenen gegenwärtigen Dauerschleife dienen: Die Schrift befindet sich, wie bereits zitiert, eingefroren unter Eis. Wenig später wird die Auflösung der Schrift von klar umrissenen Lettern mit einer eindeutigen Referenz und Bedeutung zu verschwimmenden und zerfaserten Zeichen, deren Referenz analog zu der graphischen Auflösung der Zeichen zunehmend unklar wird, nochmals aufgenommen. „‚Sie tuschen sehr schlecht.‘ Die Schriftzeichen waren nicht sauber aufgetragen, die Ränder waren fleckig und faserten aus.“961 Die Schrift beginnt sich von den Rändern her zum Undeutlichen und nicht mehr Lesbaren zu verkehren; der Weißraum, der als unbedruckte weiße Fläche die Leinwand zur Erfassung der schwarzen Schriftzeichen bietet, verschwimmt mit den zerfaserten Rändern der Zeichen zu einem unklaren Grau, in dem sich die notwendige Dichotomie von weiß und schwarz in einem ‚Dazwischen‘ auflöst. Die eindeutige, scharf umrissene und abgegrenzte Verbindung von Signifikant und Signifikat, die die notwendige Grundlage einer lesbaren Schrift bildet, beginnt „auszufasern“ und ihren Zeichencharakter einzubüßen. Die Aufgabe der Schriftkultur in der Schweiz – auffallenderweise hat sich das faschistische Deutschland diese Kultur im Text erhalten – wird vom Erzähler, der noch des Schreibens mächtig ist, reflektiert. „[I]n der SSR war in den Generationen des Krieges die Sprache wichtiger geworden, die Wissensübertragung geschah durch das gesprochene Wort.“962 Wiederum ist der Verlust der Schrift mit dem Krieg und der Kultur des Krieges, die eine Regression auf die unmittelbare und nicht fixierbare gesprochene Sprache bewirkt, verbunden. Der Verlust der Schrift und damit der Fixierbarkeit der Sprache wird einige Kapitel später nochmals ausführlich diskutiert. „Wir, die wir früher im Frieden viel gelesen haben, Bücher geschrieben, Bücher gedruckt, Bibliotheken besucht haben, bilden uns evolutionär von der Schrift weg, sie wird immer unwichtiger.“963 Mit dem Aufruf der längst vergangenen Schrift- und Buchkultur, die vor Ausbruch des Krieges bestimmend war und die aufgrund der langen Kriegszeit von fast 100 Jahren nur noch eine tradierte Erzählung der Vergan960 Ebd., S. 13. 961 Ebd., S. 15. 962 Ebd., S. 23. 963 Ebd., S. 43.



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genheit ist, wird eine Gegenwelt zu der aktuellen Kriegswelt, die sich durch die Regression auf die mündliche Kommunikation auszeichnet, erzählt. Die Entwicklung von der geschriebenen zur gesprochenen Sprache wird als Evolution und nicht als Regression verstanden. „Unser Verlernen des Schreibens ist, wenn Sie so wollen, ein Prozess des absichtlichen Vergessens.“964 „Unsere Mundarten sind schon immer ausschliesslich orale Sprache gewesen, es gab die Niederschrift nur in Hochdeutsch. Die Mundarten sind unser Koiné, der Grund, warum wir nicht Deutsch sprechen.“965 Die Konzentration auf die gesprochene Mundart wird als Distinktionsmerkmal zu dem verfeindeten Volk der Deutschen, die fast die gleiche Sprache sprechen, benutzt. Die Schweizer sprechen eine andere Sprache als die deutsch sprechenden Deutschen und sind somit auch als ein anderes Volk zu begreifen. Die Furcht, dass eine gemeinsame Muttersprache auch weitere Verbindungen produzieren oder suggerieren könnte, führt zu der Betonung der eigenen Sprache und der Negation der hochdeutschen Schriftsprache. „Und so entfernen wir uns dank des Krieges nicht nur vom Hochdeutsch, sondern auch vom Schriftdeutsch. Sprache ist eine Ansammlung symbolischer Geräusche, sie entstammt einem Kosmos unerkennbarer und vor allem nie wissbarer Formen.“966 Die Sprachskepsis Krachts, die sich bereits in „Faserland“ artikuliert, findet hier ihren deutlichen Ausdruck. Sprache wird als „symbolische[s] Geräusch“967 verstanden, das jedoch nicht nur die lautliche Realisierung eines Zeichens ist, sondern das „einem Kosmos unerkennbarer und vor allem nie wissbarer Formen“968 entstammt. Sprache ist hier also eng mit dem Irrationalen und Unerklärlichen verbunden, ihr Ursprung ist die nicht erkennbare Form. Dennoch ist die Schrift, sind die Lettern einer antisemitischen Parole, der Auslöser für die Reise des Erzählers, die der Text erzählt und die den Erzähler nicht nur verändert, sondern schließlich in die Utopie der afrikanischen Heimat zurückführt. Indem Kracht als Auslöser für die Reise – und letztlich für die gesamte Erzählung – zwei geschriebene Wörter wählt, verweist er überdeutlich auf den Wert der Schrift. Der Text kommt hier zu sich selbst und erzählt als Text und im Text von der Bedeutung von Text. „[Ü]ber die schwere Holztür [...] hatte jemand mit dickem Pinsel ‚Śmierć Żydom‘ geschrieben, mit roter Farbe. Jude stirb.“969 Die Aussage der zitierten 964 Ebd., S. 43. 965 Ebd., S. 43. 966 Ebd., S. 43. 967 Ebd., S. 43. 968 Ebd., S. 43. 969 Ebd., S. 24.

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Stelle erschöpft sich jedoch nicht in dem Sinn der Worte, die eine ‚typische‘ antisemitische Parole aufgreifen und zum Mord aufrufen, sondern ergibt zusammen mit dem Kontext und der Art der Schrift eine über den unmittelbaren Sinn der Worte hinausgehende Bedeutung. So ist die Schrift „mit dickem Pinsel“ aufgetragen, was zum einen in der Natur der Parole liegt, die sichtbar sein soll, zum anderen jedoch auf die Vehemenz der Schrift verweist, die in einer illiteraten Welt in breiten Lettern auf einer Holztür – also wie auf einer Tafel – ihre Schriftlichkeit ausstellt und behauptet. Als intertextuell und historisch konnotiert erweist sich auch die „rote Farbe“, deren Signalfarbe wiederum doppelt lesbar ist: So sichert sie die maximale Aufmerksamkeit des Betrachters – es gibt fast keine Leser mehr in der Erzählung – nicht nur für die Botschaft der Parole, sondern zugleich auch für die Schrift an sich. Brazhinsky, der Verfasser der Parole, betont die Bedeutung der Schrift. „Ich habe mir selber den Satz mit dem Schweineblut über das Schaufenster geschrieben. Denn nur Sie konnten ihn lesen. Das geschriebene Wort hat Sie hierher zu mir geführt.“970 Zugleich weist Brazhinsky auf die Exklusivität der Schrift hin, die in einer illiteraten Welt nur noch von einem bestimmten Rezipienten decodiert werden kann. Das Schreibwerkzeug, das aufgrund der breiten Lettern zuerst als „dicke[r] Pinsel“971 imaginiert wird, erweist sich wenig später als ein schlichter Lappen. Mit der Regression der Schrift und dem Verlust der Schreib- und Lesekultur erfahren auch die Werkzeuge eine Regression; das spezialisierte Werkzeug Pinsel wird durch einen zweckentfremdeten Lappen ersetzt. In dem Text wird nicht mehr mit Füllfederhalter und Pinsel, sondern mit Lappen geschrieben – deutlicher lässt sich der kulturelle Verlust nicht ausdrücken. Im Text existiert keine mögliche Lesart der Stelle, die eine einfache Korrelation von der Parole und dem Sinn der Worte aufweist. Brazhinsky, der, wie sich im Laufe der Erzählung herausstellt, die Parole an seine eigene Tür geschrieben hat, schrieb die Worte nicht, um zum Mord aufzurufen oder um eine andere Person zu diffamieren, sondern um den Erzähler auf seine Fährte zu locken; der Sinn der Worte ist nicht ihre Bedeutung. Kracht hingegen schreibt die Worte in seinem Text, um die Schrift und ihre Bedeutung nochmals im Text auszustellen. Die Beziehung zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung erweist sich als außerordentlich kompliziert und mehrdeutig; die Zeichen verweisen nicht mehr unmittelbar auf ihren Sinn, sondern sind auf mehreren Ebenen lesbar. Die bereits erwähnte rote Farbe der Schrift erweist sich wenig später als Blut. „Ich zog den Handschuh aus, kratzte mit dem Fingernagel an der Farbe und

970 Ebd., S. 124. 971 Ebd., S. 24.



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roch daran. Es war Schweineblut.“972 Brazhinsky schreibt hier zwar nicht mit (seinem) Menschenblut, sondern lediglich mit Schweineblut, dennoch verweist das Schreibmaterial, das eben nicht aus gewöhnlicher Farbe besteht – die allein schon aufgrund des Farbtons eine Blutassoziation wecken könnte –, auf den speziellen Charakter der Schrift. Das ‚Schreiben mit Blut‘, das in der Parole aufscheint, suggeriert eine besondere Bedeutung des Geschriebenen, die über den reinen Code hinausgeht und die Beziehung von Signifikant und Signifikat um eine transzendente Dimension erweitert. Nicht zuletzt wird diese Dimension in der Unterzeichnung des Paktes mit dem Teufel, etwa in Goethes „Faust“, deutlich: „Du unterzeichnest dich mit einem Tröpfchen Blut. [...] Blut ist ein ganz besondrer Saft.“973 Brazhinsky unterzeichnet nun aber eben nicht mit seinem Blut, sondern benutzt Schweineblut als Schreibflüssigkeit. Der „besondre[] Saft“ erscheint hier lediglich in seiner Simulation, die der Form des ‚Schreibens mit Blut‘ entspricht, aber seinen Inhalt, eben die Verwendung des eigenen Körperblutes, das eine mit Schmerz und Gewalt einhergehende Verletzung voraussetzt, nicht erfüllt und auf die harmlose Variante des Tierblutes zurückgreift. Wenig später erfolgt in dem Text ein kurzer Einschub in Form eines dreizeiligen Absatzes, der die unmittelbare Handlung kurz aussetzt und der im Laufe der Erzählung noch mehrmals aufgenommen wird. „Meine Augen sind geschlossen. Geschlossen. Ich komme nur ganz kurz hierher. Berge und Wolken. Vögel sind dort. Ich höre sie. Ich bin an diesem Ort. Verloren.“974,975 Die Bedeutung der Stelle lässt sich zu Beginn des Textes noch nicht vollständig erschließen; insbesondere bei dem letzten Wort „Verloren“, das mit einem Punkt von dem vorhergehenden Satz „Ich bin an diesem Ort.“ getrennt wird, ist die semantische Zuordnung nicht eindeutig. In der Audio-Wiedergabe des Video-Trailers zum Buch legt die betont lange Pause zwischen „Ich bin an diesem Ort.“ und „Verloren.“ eine Trennung nahe. „Verloren.“ müsste somit nicht ursächlich auf den Ort, der zuvor erwähnt wurde, bezogen sein; die Lesart „Ich bin an diesem Ort verloren“ klingt dennoch in der Stelle mit. Zu Beginn des Textes lassen sich somit lediglich die aufscheinende utopische Gegenwelt und die Betonung der nur kurzzeitigen Verweildauer an dem Ort der Erzählung, „hierher“, festhalten. 972 Ebd., S. 24. 973 Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Texte. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. v. Friedmar Apel u.a. I. Abt.: Sämtliche Werke. Bd. 7/1. Faust. Texte. Hrsg. v. Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994, S. 77. 974 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 25. 975 Das Zitat wird mit leichten Variationen auch in dem Video-Trailer zu „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ genutzt. Die Bilder des Trailers rufen Assoziationen zur utopischen Naturwelt Afrikas auf, bleiben im Ganzen jedoch opak und auratisch. http://www.christiankracht.com/film.htm. Letzter Zugriff: 29.4.2009.

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In der intendierten Bewegung zu einem anderen Ort hin deutet sich der Kern der Erzählung, die Rückkehr in den utopischen Heimatraum seiner Väter, bereits an. Das alle Texte von Kracht bestimmende Motiv der Reise und der Suche nach einem anderen Ort wird hier bereits zu Beginn aufgeführt und erfährt in dem raunenden Ton der aus dem Fluss der Erzählung ausgesetzten Stelle eine transzendente Überhöhung. Einige Seiten später wird die utopische Vision des afrikanischen Kontinentes, der als Ursprung, Heimat und Ziel der Reise verstanden wird, nochmals aufgerufen. „Afrika [...]. Der erste Kontinent. Unser Abenteuer, das Hinterland. Wärme. Gras. Sonne. Die Kinder spielen dort barfuss, nicht?“976 Die utopische Idylle, die Regression auf einen utopischen Naturzustand, auf ein Aufgehen in der positivmütterlich gezeichneten Natur, in „Wärme. Gras. Sonne.“977 spiegelt sich in der Reduktion des Satzes auf einzelne kurze hochsignifikante Wörter. Die Sprache, der Kultur verhaftet, kapituliert angesichts des Allgefühls mit der Natur und kann lediglich einzelne ungeordnete Bilder ausdrücken. Sprache scheint in der Welt von „Wärme. Gras. Sonne.“978 nicht mehr das maßgebliche Medium zu sein. Die Einheit von Mensch und Natur, die als Wunschbild an dieser Stelle aufscheint, drückt sich in dem Bild der barfuß spielenden Kinder aus, die unmittelbar die Natur erleben. Das warme Afrika stellt hier das prä-urbane und prä-moderne Gegenbild zu der kalten und modernen Schweiz dar. Die Dichotomie von Afrika und der Schweiz findet sich in der Symbolik von warm/kalt, Sonne/Schnee, Natur/Kultur, Spiel/Krieg, Leben/Tod, Heimat/Fremde und Einheit/Dezentrierung wieder. Am Ende des Textes wird das Aufgehen in der warmen und lebendigen Naturwelt Afrikas, dem Land des Vaters des Erzählers, stehen. Mit der Nennung des alten chinesischen Orakels I Ging erfahren die Zeichen der Schrift wiederum einen auratischen und philosophisch-mystischen Überbau, der über die reine Bedeutung der Schrift und der Worte hinausgeht. „Hexagramm Sechsunddreissig, wie heisst es? Ming Yi, 明夷 die Verfinsterung des Lichts“979. Durch den Abdruck der chinesischen Zeichen wird bereits eine Zeichenebene in den Text eingeführt, die durch ihre bildliche Qualität das Zeichen des Textes erweitert bzw. ins Bildliche umwandelt. Dies gilt insbesondere für den deutschsprachigen Durchschnittsleser, der mangels Sprachkenntnisse die chinesischen Zeichen ausschließlich graphisch, also als Bild wahrnehmen kann. Die Sprache dient beim I Ging nicht als Mittel der Repräsentation, sondern verweist als Orakel auf eine andere geheimnisvolle Wahrheit. Mit der Erwei976 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 35. 977 Ebd., S. 35. 978 Ebd., S. 35. 979 Ebd., S. 30.



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terung der Sprache um die Komponente des Orakels verliert sich jedoch die eindeutige und klare Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat, die die Lesbarkeit des sprachlichen Zeichens garantiert. Das Zeichen des I Ging wird durch die mystische und raunende Deutung des Orakelspruches aus der Eindeutigkeit gelöst und zeichnet sich durch die unklaren Abgrenzungen und Zuordnungen aus. Die Beziehung von Signifikant und Signifikat wird nun durch die Orakelbedeutung erweitert, die eine nicht klar umrissene Extension des Signifikates darstellt. Über das Orakel deutet sich die Verbindung von „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ zu der in „1979“ angedeuteten Welt der asiatischen Philosophie bereits an. Die Parteigenossin Favre ruft mit dem Begriff Satori980 – Erleuchtung – diese Welt auf. „Brazhinsky ... er hat Satori erreicht.“981 Die Erklärung des Begriffes erfolgt wenig später nach einer erneuten Befragung des I Ging. „Satori, mein Freund, ist meist in Gegenständen enthalten. Der Einzelne muss zu einem Gegenstand werden, zu etwas Gegenständlichem. Samadhi bei den Hindustanis. Wu bei den Koreanern.“982 Die Erklärung bleibt erratisch und unvollständig. „Brazhinsky hat [den Zustand des Satori] erreicht. [...] Durch Meditation, durch tiefe Einsicht in die Natur des Krieges, wer weiss. Wenn man es wüsste, wäre es einfach.“983 Der Weg zur Erlangung des Satoris und letztlich das gesamte System des Satoris bleiben wie auch die Begriffe „Wu“984 und „Samadhi“985 äußerst unklar und verlieren sich in einem andeutenden Raunen, das eine zusätzliche transzendente Ebene – auch eine zusätzliche Textebene – behauptet, ohne diese vollständig einzulösen. Der Leser, der die aufgerufene Begrifflichkeit der transzendenten Sphäre im Allgemeinen nicht vollständig decodieren kann, steht hier mit Kracht vor dem Dilemma, dass ein Benennen nicht nur unmöglich ist, sondern auch das zu Benennende zerstören würde, gleichzeitig ein erhaltendes Andeuten notwendig auratisch und raunend erscheinen muss. Wie bei den buddhistischen Kôan986, die ähnlich deutungsreich erscheinen, deutet sich in dem Text vieles an, ohne wirklich belegbar zu sein.

980 Satori bedeutet Erleuchtung und stellt damit einen der Kernbegriffe der buddhistischen Philosophie und Religion dar. Zum Begriff Satori: vergl. Pörtner und Heise: Die Philosophie Japans, S. 424. 981 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 36. 982 Ebd., S. 39. 983 Ebd., S. 39. 984 Ebd., S. 39. 985 Ebd., S. 39. 986 Kôan: „Paradox als Ausdruck nichtdualer Wirklichkeit.“ Pörtner und Heise: Die Philosophie Japans, S. 422.

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Die Uneindeutigkeit des Gesagten resultiert jedoch nicht nur aus dem andeutungsreichen Raunen des Erzählten, sondern beruht zudem auf der Mehrdeutigkeit des Geschriebenen, das stets auch als ironisches Zitat oder Montage/Sampling zu lesen ist. Eine eindeutige und eindimensionale Lesart ist in dem Text nicht angelegt; das Lachen Krachts, das er in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“987 behauptet, muss immer mitgedacht werden. In der Alpenfestung wird auf die asiatische Philosophie der Leere nochmals Bezug genommen. „In ihr, in Roerichs Gemälden, geschieht auf diese Art und Weise Wahrheit; die griechische Aletheia, das koreanische Wu, das hindustanische Samadhi. Hierin verstehen wir das Hervorbringen von Nichtanwesendem ins Anwesende.“988 Wiederum wird mittels der Nennung der Begriffe eine transzendente Sphäre raunend angedeutet und mittels Sprache ‚erschaffen‘. „Aletheia“, „Wu“ und „Samadhi“ existieren lediglich in und mittels der Sprache, in ihrer Behauptung, und haben im Text keine – zumindest keine für den Leser ersichtliche – ‚reale‘ Manifestation. Wie die Kunst, die Gemälde, Wahrheit durch das „Hervorbringen von Nichtanwesendem ins Anwesende“989 erschaffen, so erschafft auch die Sprache eine weitere Wahrheit, die mit den genannten Begriffen nur unvollständig angedeutet werden kann. In „Faserland“ zeigt Kracht die unmöglich gewordene Kommunikation und Bindung aufgrund der fundamentalen Unsicherheit des Erzählers an der Entität des Erzählten auf. In „1979“ führt dies in die Gewalt des Lagers und zu der Annahme des totalitären Lagersystems. In „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ versucht Kracht nun die sprachlichen Defizite – nach einer weiteren Dekonstruktion der Sprache, wodurch ihre eine Hälfte, die Schriftsprache eliminiert wird – mit einer ‚neuen Sprache‘ zu füllen. Diese ‚neue Sprache‘ geht, ähnlich wie die von Hugo von Hofmannsthal in „Ein Brief“ angedeutete Sprache, über die real existierenden Sprachen hinaus. Nun, wir beginnen, das Gedachte zu sprechen und in den Raum zu stellen. Dann können wir das Gesprochene betrachten, um es herumgehen, es schliesslich bewegen. Da es vorhanden ist, können wir es bewegen. Und schlussendlich können wir es senden und empfangen. Sprache existiert nicht nur im Raum, sie ist zutiefst dinglich,

987 Reents, Edo und Weidermann, Volker: Ich möchte ein Bilderverbot haben. Interview mit Christian Kracht. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. 30.09.2001. S. 27–29. 988 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 119. 989 Ebd., S. 119.



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sie ist ein Noumenon. [...] [U]nsere neue Kommunikationsform ist eine Leistung des menschlichen Willens.990

Die ‚neue Sprache‘ wird hier als dinglich verstanden, als physischer Gegenstand, der einen Platz im Raum einnimmt, als res extensa. Ihre Artikulation manifestiert sich im Raum, sie kann betrachtet und bewegt werden. Die Rezeption dieser Sprache verschiebt sich von der akustischen zu der optischen und haptischen Wahrnehmung; Sprache wird nicht mehr gehört, sondern betrachtet und berührt. Die Kommunikation soll mit der ‚neuen‘ Form der Sprache wieder ermöglicht werden. Der Ursprung der „Rauchsprache“991 wird in der frühen mystischen Urzeit verortet. „Viele Urvölker haben diese Fähigkeiten entwickelt; die lange ausgerotteten Ureinwohner des Grossaustralischen Reichs beispielsweise besprachen und besangen die Welt, die sie mit ihren Schritten durchmassen.“992 Die am Ende des Textes stattfindende Vereinigung des Erzählers mit seinem Ursprung in Afrika, das Aufgehen in der Welt der Urvölker und ihres mystischen Wissens, deutet sich hier bereits mit der Formulierung der verlorenen Kenntnisse der Urvölker an. Die technische und menschliche Entwicklung in dem Text verläuft nicht mehr nur zukunftsgerichtet, sondern rekurriert auf die Vergangenheit und knüpft die Entwicklung an das Wissen der Urvölker an. Die Zivilisationskritik und der Ausbruch aus der Welt der Moderne finden ihren deutlichsten Ausdruck in der Reise des Erzählers von Europa nach Afrika, dem ‚Dunklen Kontinent‘ und Ursprung. Der Erzähler benutzt die ‚neue Sprache‘ für die Kommunikation mit Brazhinsky. „Meine Antworten kamen ebenfalls nicht aus meinem Munde, sondern aus einem Innenraum, der aber leicht vor und über mir in der Luft zu hängen schien.“993 Das Organ der Sprache ist nicht mehr der Mund, sondern ein nicht genauer definierter ‚Innenraum‘. Das Sprechen war sehr gegenständlich; die Emotionen, die die Worte begleiteten, waren farbig und aromatisch in ihrer Intensität. Ich bemerkte, dass ich die Worte, Sätze und Gedanken im Raum nach vorne schieben, ja in gewisser Weise projizieren, einfach in den physischen Raum hineinstellen konnte.994

990 Ebd., S. 44. 991 Ebd., S. 43. 992 Ebd., S. 44. 993 Ebd., S. 124. 994 Ebd., S. 125.

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Wiederum wird die physische Struktur der Sprache betont. Die Materialität der ‚neuen Sprache‘, auf die in dem Zitat Bezug genommen wird, steht aufgrund ihrer Substanz zum einen konträr zu der substanzlosen Schrift, verweist aber zugleich auf einen mystischen Ursprung und Anfang der Schrift und Sprache, der, etwa bei Agamben, wiederum als Substanz gedacht wird. Wo die Sprache endet, beginnt nicht das Unsagbare, sondern der Stoff des Wortes. Wer niemals, wie im Traum, an diese hölzerne Substanz der Sprache, die die Alten silva (Gehölz) nannten, gerührt hat, der ist, selbst wenn er schweigt, ein Gefangener der Vorstellung.995

Die physische ‚Anwesenheit‘ der Sprache, die sich im Raum manifestiert, stellt den Gegenpol zu der simulierten Welt der Festung dar, in der sich die behaupteten Waffen als nichtexistent – oder als lediglich in der Sprache existent – erweisen. ‚Ein Beispiel: Die Drohung der Raketen reicht aus, nicht wahr?‘ ‚Man muss die Raketen aber besitzen, um damit zu drohen.‘ ‚Nein, Kommisär.‘ [...] ‚Es gibt also keine Wunderwaffen.‘ ‚Nein. Nichts funktioniert. Es ist alles nur Propaganda, es ist alles schon lange kaputt. Das Bombastische des Réduits ist ein magisches Ritual, ein leeres Ritual. Es war immer leer, es wird immer leer sein.‘996

Die technischen Errungenschaften, die der Schweiz militärische Macht über ihre Feinde verleihen sollen, die „Wunderwaffen“ und die Festung des „Réduits“, erweisen sich als nichtexistente Propaganda. Das „magische Ritual“, das zugleich ein „leeres Ritual“ oder ein Ritual der Leere ist, ist dennoch äußert mächtig, da es aufgrund der physischen Nichtexistenz der Waffen und Festungen unabhängig von den Fakten alles behaupten kann. Die (sprachliche) Behauptung der Raketen reicht tatsächlich aus; ihr realer Einsatz muss aufgrund ihrer kommunizierten Zerstörungskraft nicht befürchtet werden. Auch die organisch wachsende Festung, die keiner zentral gesteuerten Macht mehr unterliegt, sondern sich selbstständig rhizomartig in dem Fels ausweitet, ist als „magisches Ritual“ zu begreifen.

995 Agamben, Giorgio: Idee der Prosa. Frankfurt am Main 2003, S. 17. 996 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 127.



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‚Das Revolutionskomitee des Réduits gibt es nicht. [...] Der Sowjet weiss nicht, was wir hier oben tun. Und es interessiert ihn auch nicht.‘ [...] ‚Aber bitte, es muss doch eine Art Kommandostab geben, eine Führungsebene.‘ ‚Ja, sicherlich, das gab es einmal, vor vielen Jahren. Nun nicht mehr. Sehen Sie, das Réduit hat sich verselbstständigt. Es ist immer grösser geworden, es wächst immer noch weiter. Die SSR als Modell ihrer selbst.‘ [...] ‚Was ist das Réduit?‘ ‚Der Kern, verstehen Sie? Eine autonome Schweiz. Wir führen hier oben keinen Krieg mehr nach aussen, wir verteidigen die Bergfestung, gewiss, aber wir expandieren nur noch im Berg.‘997

Ein realer militärischer Nutzen des Réduits wird von den Machthabern nicht mehr erwartet; die Festung wird dem in ihr stationierten Militär überlassen und wächst unstrukturiert weiter. Der Erhalt und der Ausbau der Festung werden zum Selbstzweck. Die Waffe der Schweiz besteht somit letztlich nicht in den militärischen Errungenschaften, sondern in dem Gebrauch der Sprache, der eben diese überragenden Errungenschaften ‚produziert‘. Die Kommunikation der Simulation, die sprachliche Erschaffung von Waffen, die nur mittels und in der Sprache existieren – und genau deshalb so wirksam sind – stellt die Macht und die Gewalt der Schweiz dar. Die ‚Magie‘ des von Brazhinsky erwähnten „magische[n] Ritual[s]“998 besteht in dem Erwerb von Gewalt und Macht mittels leerer, das heißt faktisch inhaltsloser, Sprache; die ‚Magie‘ lässt die bloßen Worte – analog zu einem Zauberspruch – real werden. Die Behauptung einer Waffe erschafft und ist die Waffe. Am Ende des Textes, im vorletzten Kapitel, erfährt der Erzähler auf seiner Reise nach Afrika, auf dem Weg in das oberitalienische Flachland, die Regression auf einen prä-kulturellen Zustand, in dem die Ordnungsinstanz der Zeit, die mit der Welt der Schweiz verknüpft wird, ausgesetzt wird. „Welches Jahr schrieben wir? Die Zeit hatte aufgehört zu sein, die Schweizer Zeit. Ich mass weder die Donnerstage noch den sechzehnten des Monats, noch den Weg der Sonne über das Firmament. Stunde folgte auf Stunde und Tag auf Tag.“999 Mit der Aufgabe der kulturellen Ordnungseinheit der Zeit und dem symbolischen Verlassen der Zivilisation, das sich in dem Tausch der „Stiefel gegen einfache Schuhe aus Bast“1000 ausdrückt, erfährt der Erzähler das Aufgehen in der Natur. 997 Ebd., S. 109. 998 Ebd., S. 127. 999 Ebd., S. 143. 1000 Ebd., S. 143.

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„[I]ch durchmass die Sümpfe und die Zuckerrübenfelder der Poebene, meine Füsse berührten kaum den Boden dabei. [...] Ich wohnte in den Baumkronen und schob den Frühlingsregen vor mir her“1001. Mit dem Verlassen der anorganischen Bergfestung wird die organische Natur als beglückend und lebendig erlebt. „Je weiter ich nach Süden1002 kam, je weiter das schreckliche Réduit wie ein gigantisches, steinernes Menetekel hinter mir lag, desto wärmer und lieblicher wurde das Land. Der Krieg, er war nun weit entfernt.“1003 Die Welt des Krieges wird in dem Gefühl der Einheit mit der Natur aufgegeben. Symbolisch entledigt der Erzähler sich mit dem Wegwerfen seines „schweren Soldatenmantel[s]“1004, den er in der Wärme des Südens nicht mehr benötigt, seiner Vergangenheit und Profession. Zugleich verwirft er „Brazhinskys kranke Lektionen“1005 und verzichtet auf die Benutzung der Rauchsprache, die für ihn die „Sprache der Weissen, ein Idiom des Krieges“1006 darstellt. Selbst in der Erfahrung eines letzten Aktes der Gewalt – ein „Rudel wilder Wolfshunde [versperrt ihm] zähnefletschend den Weg“1007 –, der symbolisch mit dem Erscheinen der Wolfshunde mit der kalten Bergwelt des Krieges verbunden ist, die der Erzähler fast verlassen hat, greift er nicht auf die Rauchsprache zurück, sondern wehrt sich mit einer einfachen und archaischen Waffe, einem Stein, gegen die Tiere. In der Einheit mit der menschenleeren Natur wird jedoch die eigentliche Kulturtechnik per se, das Schreiben, nach dem Verlassen des illiteraten Raumes der Schweiz wieder eingesetzt. In dem Text sind Schreiben und Schrift nicht dem Kulturraum der Schweiz zugeordnet, sondern dem Naturraum der Reise durch die menschenleere Natur. 1001 Ebd., S. 143. 1002 Der Süden wird mit durchaus konventionellen Topoi konnotiert und nimmt den bereits in der Literatur der Romantik virulenten Gegensatz von Norden und Süden – insbesondere in der Schilderung Italiens – und die damit verbundenen Vorstellungen auf. Die Überhöhung des Lebens, das sich aus der lebendigen Natur ergibt, wird in der Stelle deutlich. „Der überblaue Himmel, die nun überall aufblühenden, prächtigen Frühlingsblumen und das behagliche Summen der ersten Insekten, die sich, noch müde vom langen Winter, auf Steinen am Wegesrand mit der Kraft der Sonne vollsogen, erfüllten mein Blut mit einer starken Energie, die ich lange nicht gespürt hatte; es war der nahende Sommer, das Weichen der Kälte, das Schmelzen der Gletscher, die Offenbarung einer neuen Zeit, die zwar noch langsam und kriechend, dafür aber unaufhaltsam in die Welt drängte.“ Ebd., S. 138. 1003 Ebd., S. 137 f. 1004 Ebd., S. 138. 1005 Ebd., S. 138. 1006 Ebd., S. 138. 1007 Ebd., S. 138.



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[I]ch legte mit Schilfhalmen meinen Namen in endlosen Bändern auf die staubige Strasse, ich schrieb Wörter, Sätze, ganze Bücher in die Landschaft hinein – die Geschichte der Honigameisen, die Enzyklopädie der Füchse, das Geblüt der Welt, die unterirdischen Ströme, das tief vibrierende, geräuschlose Summen der unbekannten Vergangenheit und der darin auftauchenden Zukunft. Ich notierte nicht mit Tusche, sondern mit Schrift, mit den Morphemen der Erde.1008

Der Erzähler bedient sich nun wieder der Kulturtechnik des Schreibens und schreibt seinen Namen „in endlosen Bändern“ in die Landschaft und Natur ein. Er schreibt jedoch nicht mit einem gewöhnlichen Schreibwerkzeug, sondern mit der Natur selbst, mit Schilfhalmen. Die Kulturtechnik des Schreibens erfährt hier ihre harmonische Verbindung mit der Natur, die zugleich Schreibwerkzeug wie Schreibuntergrund ist. Zu Beginn notiert er wiederholt seinen Namen und vergewissert sich so seiner neuen Identität und Existenz, die ihn aus der Schweiz nach Afrika führt und ihn vom überzeugten Militär zum Mitglied eines afrikanischen Stammes machen wird. Das Schreiben seines Namens reaktiviert nicht nur die in der Schweiz vergessene und verpönte Technik des Schreibens und grenzt die Welt der Wanderung von der Kriegswelt der Schweiz ab, sondern stellt die Identität durch den lesbaren und vorhandenen Schriftzug auf der Straße eindeutig dar und her. Die Fähigkeit des Schreibens, über die in der Schweiz allein der Erzähler noch verfügt und die ihn von den anderen abhebt, wird hier als Mittel zur Erschaffung der eigenen Identität exzessiv genutzt und umgedeutet: Schreiben grenzt nicht mehr aus, sondern schafft die Einheit mit der Natur. Das Schreiben mit Schilfhalmen unterscheidet sich jedoch von dem Schreiben mit Tinte in seiner zeitlichen Rezipierbarkeit. Tinte fixiert die Schrift dauerhaft; die Schilfhalme können diese Fixierung nicht leisten, da sie durch den Wind leicht beweglich sind und so die Schrift verwischen und unlesbar werden kann. Das Schreiben mit der Natur ist also technisch gesehen nur eine kurzzeitige Fixierung der Schrift, verfügt aber als Einschreibung in die Natur über eine Qualität, die über die normale Aufzeichnung hinaus geht und über die Schrift Verbindungen, Existenz und Identität schafft. Das Schreiben und die Schrift lassen sich jedoch nicht nur als ‚Erschreiben‘ und Erschaffen von Identität und damit als Subjektwerdung begreifen, sondern müssen zugleich als Gegenbewegung verstanden werden, die zur Auflösung und Auslöschung führt.1009 Das ‚pharmakon‘ Schrift, hierauf weist Jacques Derrida 1008 Ebd., S. 143 f. 1009 Die Ambivalenz der Schrift und ihre Verbindung zur Auslöschung und zum Tod wird von Derrida in der ambivalenten Bedeutung des Begriffes ‚pharmakon‘ verortet. Das ‚pharmakon‘ ist zum einen die Schrift, die, wie im Folgenden gezeigt wird, eher löscht als

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in seiner Plato-Lektüre hin, das als Werkzeug der Fixierung zu verstehen ist, bewirkt aufgrund der Verschiebung der Erinnerungen aus dem Gedächtnis in das Medium Schrift eine Schwächung des menschlichen Erinnerungsvermögens. Die schriftliche Fixierung löscht somit das Erinnerte aus. Denn diese Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung hast du ein Mittel erfunden. Und von der Wahrheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst.1010

Nach der Notation seines Namens, also eines einzelnen Wortes, weitet sich die geschriebene Welt kontinuierlich aus: Zuerst notiert er seinen Namen, dann „Wörter, Sätze, [und schließlich] ganze Bücher“1011. Seine Schreiblust kulminiert in der Erstellung der „Geschichte der Honigameisen [...] [und der] Enzyklopädie der Füchse“1012. Sein Schreiben erfasst auch mystisch irrationale Felder; so schreibt er „das Geblüt der Welt, die unterirdischen Ströme, das tief vibrierende, geräuschlose Summen der unbekannten Vergangenheit und der darin auftauchenden Zukunft“1013 „in die Landschaft hinein“1014. Letztlich schreibt er die ganze Welt auf die Straße; er fängt bei den Tieren an und geht über die Phänomene der Natur bis hin zu der Metastruktur der Zeit, die in der Form von Vergangenheit und Zukunft in ihrer gesamten Ausdehnung erfasst wird. Neben den realen Bereichen der Tierwelt und der Natur scheint mit der „unbekannten Vergangenheit und der darin auftauchenden Zukunft“1015 eine mystisch irreale Sphäre auf, die die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft behauptet und zur Niederschrift offenbart. Das Schreiben geht weit über das ‚gewöhnliche‘ Aufzeichnen von Schriftzeichen hinaus. Als Schreibwerkzeug wird folglich auch kein Stift oder Pinsel benutzt. „Ich notierte nicht mit Tusche, sondern mit Schrift, mit den Morphe-

fixiert, zum anderen ist das ‚pharmakon‘ der Schierlingsbecher, der den Tod des Sokrates bewirkt. Vergl.: Derrida, Jacques: Dissemination. Hrsg. v. Peter Engelmann. Wien 1995, S. 142. 1010 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 115. 1011 Ebd., S. 144. 1012 Ebd., S. 144. 1013 Ebd., S. 144. 1014 Ebd., S. 144. 1015 Ebd., S. 144.



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men der Erde.“1016 Die Verbindung der Kulturtechnik der Schrift zu der Natur wird mit der Verwendung der „Morphemen der Erde“ anstatt der „Tusche“ als Schreibwerkzeug oder Schreibflüssigkeit betont; der Erzähler schreibt mit der Natur an sich. Am Ende des Textes steht der Versuch, mittels Schrift die eigene Identität zu fassen und zu fixieren und die Welt neu zu schreiben. Steht am Schluss von „Faserland“ der massive Zweifel an der eigenen Erzählkompetenz und am Schluss von „1979“ das Eindringen der Gewalt in die Sprache, so lässt sich in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ der Versuch lesen, mittels Sprache und Schrift die eigene Identität und Welt wieder fassen und erzählen zu können. Hierzu müssen jedoch sowohl die Sprache als auch die Schrift reformuliert werden: Die Sprache wird als physisch vorhandene „Rauchsprache“1017 neu erschaffen, die Schrift erfährt in ihrer Verbindung zu der Natur und in ihrer irrealen Überhöhung ihre Neuformulierung. Die Fixierung der eigenen Identität durch die Schrift muss jedoch vor der Folie von Derridas Beobachtung der Auslöschung qua Schrift gelesen werden. Der Text diskutiert also die Möglichkeit der Neuschreibung von Identität durch die ‚neue Sprache‘, verweist aber zugleich auf die auslöschende Dimension des ‚pharmakon‘ Schrift. Die Kernthematik der Texte von Kracht – Erschaffung von Identität und Auslöschung ebendieser – kann hier an der Diskussion der Schrift in nuce festgemacht werden.

1016 Ebd., S. 144. 1017 Ebd., S. 43.

10. Verschwinden und Verlöschen – Gewalt bei Christian Kracht In diesem Kapitel wird die Gewalt in „Faserland“, „1979“ und „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ untersucht. Im Gegensatz zu den Texten von Bret Easton Ellis, in denen die Gewalt aus der zusammenbrechenden Kommunikation und als Mittel zur kommunikativen Kontaktaufnahme zum Anderen entsteht, resultiert die Gewalt in „Faserland“ aus der Abwehrbewegung des Erzählers gegen sämtliche Bezugssysteme und Bezugspersonen. Bei Ellis lässt sich die Gewalt semiotisch anbinden, bei Kracht liegt, zumindest für „Faserland“ nun eine soziologisch-psychologische Anbindung vor. In „1979“ hingegen steht die Gewalt in Zusammenhang mit der Auslöschung der Identität des Erzählers und erfüllt – ironisch gebrochen – den Wunsch nach der Auslöschung. In „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ wird eine Welt der kriegerischen Gewalt geschildert; zugleich führt die Gewalt schließlich zu der Wiedergewinnung der verlorenen Einheit des Erzählers mit seinem Ursprung.

10.1 GEWALT IN „FASERL AND“

Die Gewalt in „Faserland“ ist bis auf eine Ausnahme – den Tod des Erzählers im Bergsee, der als eine intendierte autoaggressive Handlung zu lesen ist – verbale Gewalt, die sich gegen andere, oftmals dem Erzähler unbekannte Personen richtet. Auffallend ist hierbei die Verknüpfung der verbalen Gewalt mit Beleidigungen, die dem Anderen eine Affinität zur NS-Zeit unterstellen – und damit eine Sphäre und Zeit der extremen Gewalt aufrufen. Die Beleidigung als Nazi ist für den Erzähler die ultimative Waffe gegen jede Person, Haltung oder Handlung, die nicht seinen Vorstellungen entsprechen – auch wenn die Beleidigten keine erkennbare Affinität zu der Ideologie der NS-Zeit aufweisen. Der Hass, der sich in den verbalen Ausbrüchen des Erzählers äußert, ist für die Erzählung bestimmend. „Haß gegen einen Menschen, der aussieht wie ein Werbetexter, [...] Haß gegen Menschen, [...] die Businessclass fliegen und mit ihren bunten Krawatten und senffarbenen Sakkos von ihrem letzten Phuket-Aufenthalt erzählen.“1018 Die Vergangenheit Deutschlands dient jedoch nicht nur als Reservoir möglicher Diffamierungen, sondern wird im Text hintergründig stets miterzählt. Ihre ständige Wiederkehr in den Beleidigungen und Assoziationen des Erzählers 1018 Hüetlin: Das Grauen im ICE-Bord-Treff, S. 226.



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kann ihre spontane Reaktivierung, oftmals durch die assoziierte persönliche Geschichte älterer Menschen, bewirken, die sie dann in den unmittelbaren Fokus der Erzählung rückt. Die NS-Vergangenheit bildet den Gegenpol zu den imaginierten Fluchten des Erzählers, etwa auf eine einsame Insel. Bereits im kurzen ersten Kapitel von „Faserland“ erzählt Kracht zwei Episoden, die die deutsche Vergangenheit assoziativ aufrufen. Bei einem Spaziergang mit einer Bekannten am Strand von Sylt denkt der Erzähler an Göring, der auf Sylt in den Dünen seinen „Blut-und-Ehre-Dolch“1019 verloren hat, welcher nach einer Suchaktion von einem Einheimischen gefunden wurde. „Alle haben sich über den dicken Göring totgelacht, wie der beim Pinkeln in den Dünen seinen blöden Dolch verloren hat, nur der Boy Larsen nicht, weil der die Belohnung eingesackt hat. Erst danach hat er, glaube ich, herzlich gelacht.“1020 In der ersten Assoziation des Erzählers wird eine Begebenheit erinnert, die Göring und die NS-Zeit als eher lächerlich erscheinen lässt und weniger die Gewalt und den Terror der Zeit erzählt. Zugleich deutet sich in dem verlorenen Objekt, immerhin eine Waffe, wenngleich diese mehr als stilisierte Auszeichnung denn als Mittel zum Kampf verstanden werden kann, der Charakter der Zeit, insbesondere in der Bezeichnung „Blut-und-Ehre-Dolch“1021 an.1022 Kurz nach der Schilderung dieser Episode nutzt der Erzähler das Vokabular der eben aufgerufenen Zeit als Diffamierung. Seine Begleiterin Karin überfährt fast einen Rentner, der „ein Cordhütchen und einen auberginefarbenen Blouson“1023 trägt; der Erzähler sagt, „daß das sicher ein Nazi ist, und Karin lacht“1024. Diese Form der Aggression nimmt Kracht einige Kapitel später wieder auf. Der Erzähler niest am Flughafen auf das Buffet der Lufthansa und wird von einem anderen Fluggast zurechtgewiesen. „[I]ch starre ihn an und sage ganz leise, aber so, daß er es hört: Halt’s Maul, du SPD-Nazi.“1025 Der Erzähler gebraucht hier nicht nur seine bevorzugte Beleidigung, deren geschichtliche Verortung und Bedeutung keineswegs mit der Situation verknüpft oder durch diese motiviert 1019 Kracht: Faserland, S. 19. 1020 Ebd., S. 19 f. 1021 Ebd., S. 19. 1022 Zugleich deutet das HJ-Fahrtenmesser, das hier als „Blut-und-Ehre-Dolch“ bezeichnet wird und das ab 1938 Bestandteil der Uniform der Hitlerjugend war, auf die in der Hitlerjugend zu findenden Strukturen zur Vergemeinschaftung und Deindividualisierung hin. Das Aufgehen in der Masse bildet einen Gegensatz zu der sozialen Einbindung und Individualisierung des Erzählers. 1023 Kracht: Faserland, S. 22. 1024 Ebd., S. 22. 1025 Ebd., S. 57.

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ist, sondern verbindet und steigert diese zu der Form „SPD-Nazi“. Diese Kombination aus zwei politisch und historisch diametral entgegensetzten Parteien, Positionen und Überzeugungen erscheint logisch gesehen sinnlos und verweist auf die in Kapitel 9.1 bereits diskutierte Auflösung der Fass- und Erzählbarkeit der Welt. Die semantischen Bedeutungen von SPD und Nazi lösen sich hier auf, die Referenz des Signifikates ist nicht mehr die politische Bedeutung, sondern nur noch die aggressive und gewaltsame Beleidigung. Letztlich löst sich mit den anderen religiösen und weltanschaulichen Bezugssystemen auch das System der Politik auf; politische Überzeugungen werden aufgrund ihrer ästhetischen Mängel – der Erzähler amüsiert sich über Figuren, die dem alternativen oder linken Spektrum zuzurechnen sind, aufgrund ihrer Ästhetik und Überzeugung – abgelehnt und als Handlungssystem ausgeschlossen. Das Politische wird vereinfachend auf das linke Spektrum, das aus 68ern, Demonstranten und Studenten mit „Regenbogen-Friedens-Nichtraucher-Ökologen-Sticker“1026 besteht, und auf das rechte, das nur in der assoziativen Wiederkehr der Nazis wahrgenommen wird, reduziert. Dieses beschränkte Spektrum abzulehnen, fällt dem Erzähler leicht. Die Gewalt zeigt Wirkung: „Der Mann verschwindet ganz schnell zur Kaffeemaschine, und ich merke, daß es mir viel besser geht. Wirklich bedeutend besser.“1027 Bereits hier zeigt sich andeutungsweise, dass die Gewalt als Mittel zur Vermeidung einer Kommunikation oder Kontaktaufnahme mit dem Anderen fungiert. In der Aggression zeigt sich eine Abwehr- und Absetzungsbewegung gegen den Anderen. Gewalt, so wird sich im Folgenden zeigen, exkludiert den Erzähler von seiner Umwelt und schafft per negativer Abwertung des Anderen Distinktionsgewinne für den Erzähler. Die deutsche Vergangenheit ist jedoch nicht nur in den Beleidigungen des Erzählers präsent, sondern wird konstant im Hintergrund miterzählt und kann jederzeit, ausgelöst durch eine Assoziation des Erzählers, in den Vordergrund der Erzählung gestellt werden. Ausgehend von einem Reisebericht seines Freundes Alexander1028 beginnt der Erzähler eine Betrachtung des Lebens in Deutschland. Es gibt so Momente, in denen ich alles genau verstehe [...] und dann plötzlich entgleitet mir wieder alles. Ich weiß, daß es mit Deutschland zu tun hat und auch mit diesem grauenhaften Nazi-Leben hier und damit, daß die Menschen, die ich kenne und gern habe, so eine bestimmte Kampfhaltung entwickelt haben und daß es für sie nicht mehr anders möglich ist, als aus dieser Haltung heraus zu handeln und zu denken. Das 1026 Ebd., S. 34. 1027 Ebd., S. 57. 1028 Vergl. Kapitel 8.1 und 8.2 dieser Arbeit.



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verstehe ich noch. Aber manchmal verstehe ich den Ansatz dieser Haltung nicht, die Herangehensweise, und dann frage ich mich, ob das schon immer so war und ob ich vielleicht auch so bin, eben für die anderen überhaupt nicht mehr nachvollziehbar.1029

Die das Leben und das Verhalten bestimmende „Kampfhaltung“, die zumindest bei dem Erzähler eindeutig eine aggressive und gewaltsame Ausprägung aufweist, rührt aus der NS-Vergangenheit her. Der Erzähler kann diese Verbindung nicht genau erklären; wie in Kapitel 9.1 erläutert, mangelt es ihm hier an der Kompetenz, die erzählte Welt zu verstehen und zu erzählen; „dann entgleitet mir wieder alles“. Der Zusammenhang zwischen der Vergangenheit und der „Kampfhaltung“ steht für ihn jedoch zweifelsfrei fest. Während eines Besuches in Heidelberg wird die stete Verbindung der Gegenwart zu der Vergangenheit deutlich; die assoziativ erinnerte Vergangenheit kontaminiert die erzählte Gegenwart. Die Erzählung der idyllisch beschriebenen Gegenwart wird plötzlich aufgrund einer Assoziation des Erzählers abgebrochen und durch die Erzählung der grausamen Vergangenheit ersetzt. „Das ist nun Heidelberg, und es ist wirklich schön dort im Frühling. Dann sind die Bäume schon grün, während überall sonst in Deutschland alles noch häßlich und grau ist, und die Menschen sitzen in der Sonne an den Neckarauen.“1030 Das Wort „Neckarauen“ löst die Assoziationen des Erzählers aus, die von der positiven Besetzung im zitierten Satz über die abtastende Wiederholung und Erkundung des ästhetischen Gehaltes des Wortes – „Das heißt tatsächlich so, das muß man sich erst mal vorstellen, nein, besser noch, man sagt das ganz laut: Neckarauen. Neckarauen. Das macht einen ganz kirre im Kopf, das Wort.“1031 – schließlich mit der abrupt eingeführten Wiederkehr der deutschen Geschichte endet. „So könnte Deutschland sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte und wenn die Juden nicht vergast worden wären. Dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarauen.“1032 Aus der Kontamination der Gegenwart durch die Vergangenheit, „diesem grausamen Nazi-Leben hier“, entsteht eine „bestimmte Kampfhaltung“1033, die das Handeln bestimmt. Die stets erinnerte, aber nicht verarbeitete deutsche Vergangenheit macht eine Bindung des Erzählers an seine Umwelt unmöglich; etwaige Kontakte gerade mit älteren Menschen – in der Regel mit älteren Männern – werden durch den sofortigen Aufruf von imaginierten

1029 Kracht: Faserland, S. 74. 1030 Ebd., S. 90. 1031 Ebd., S. 90. 1032 Ebd., S. 90. 1033 Ebd., S. 74.

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Versatzstücken einer NS-Biographie unterbunden: „Ab einem bestimmten Alter sehen alle Deutschen aus wie komplette Nazis.“1034 So wird auch beim Betreten des Hotels in Heidelberg und beim Anblick des älteren Mannes an der Rezeption spontan eine fiktive Biographie imaginiert und erzählt. Die amputierten Finger des Mannes dienen als Auslöser für ein assoziiertes Kriegserlebnis an der Ostfront, wo ihm aufgrund von Erfrierungen während des Rückzuges die Finger amputiert werden mussten. Bezeichnend an der Episode ist weniger das imaginierte Geschehen an sich, als die geschichtliche Verortung der Imagination, die, wie in nahezu allen Szenen in „Faserland“, der deutschen NS-Vergangenheit entstammt, die dem Erzähler ein reiches Reservoir an möglichen Assoziationen und Geschichten bietet. Der Tenor der Erzählung der fiktiven Vergangenheit durch den Erzähler korrespondiert mit dem äußeren Erscheinungsbild des Erzählten. Über das Aussehen lassen sich Rückschlüsse auf die persönliche Geschichte ziehen. Dabei sieht man es ihm im Gesicht an, daß er einmal KZ-Aufseher gewesen ist oder so ein Frontschwein, der die Kameraden vors Kriegsgericht gebracht hat, wenn sie abends über den blöden Hitler Witze gemacht haben, oder daß er irgendein Beamter war, in einer hölzernen Schreibstube in Mährisch-Ostrau, der durch seine Unterschrift an einem Frühjahrsmorgen siebzehn Partisanen, ihre Frauen und ihre Kinder liquidieren ließ.1035

Das Gesicht verrät die Vergangenheit und Schuld des Anderen. Die imaginierte Geschichte ist eine Geschichte von höchster Gewalt und erzählt vom zutiefst Bösen. Ausgelöst werden die Assoziationen von dem banalen Erlebnis einer Taxifahrt mit einem älteren Mann als Fahrer. Dieses Ereignis reduziert sich auf den kurzen Satz „Der Fahrer ist ein Rentner.“1036 Mehr wird über den Fahrer nicht gesagt oder festgestellt. Dennoch reicht die Feststellung, dass der Fahrer1037 als Rentner in einem Alter ist, das ein Leben während der NS-Zeit rein rechnerisch wahrscheinlich macht, um die Assoziationsmaschinerie des Erzählers in Gang zu setzen: „Ich weiß, das klingt jetzt komisch, aber ich sage es trotzdem mal:

1034 Ebd., S. 98 1035 Ebd., S. 99 f. 1036 Ebd., S. 98. 1037 Auch bei einem anderen Taxifahrer werden sofort Nazi-Assoziationen wach: „Der Fahrer ist natürlich ein ziemlicher Faschist, aber irgendwie ist das ganz lässig, so durch die Nacht zu fahren und eklige Zigaretten zu rauchen, und vorne fährt so ein armes dummes Nazischwein in einem Trainigsanzug und redet und redet, als gäbe es gar kein Zurück.“ Ebd., S. 41.



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Ab einem bestimmten Alter sehen alle Deutschen aus wie komplette Nazis. Der Fahrer auch.“1038 Die Assoziationen werden jedoch vom Erzähler nicht vollständig verarbeitet oder reflektiert; die auf der vorigen Seite zitierte Stelle, in der die Vergangenheit des Taxifahrers imaginiert wird, endet mit den dem letzten zitierten Satz folgenden Worten: „Daran muß ich denken.“1039 Danach erfolgt ein Absatz und der Text setzt mit der Erzählung einer Episode in einer Bar neu an. Das Aufrufen der Vergangenheit, ihre Setzung in den Fokus des Textes, bricht nach der Erzählung der fiktiven Individualgeschichte ab, eine Reflexion des Gesagten/Imaginierten erfolgt nicht. Aus der Erzählung der Vergangenheit des Fahrers als KZ-Aufseher resultiert keine geschichtliche oder politische Erkenntnis – die Vergangenheit bleibt das „absolut Böse“1040, das als das Andere oder das Fremde wie ein nicht zu verstehender und zu verarbeitender Monolith im Text steht. Die Vergangenheit ist der Fremdkörper im Text, der aus der nicht verarbeiteten Erinnerung jederzeit in die Oberfläche des Textgeschehens ragen kann. Da sie vom Erzähler nicht zu verarbeiten ist – und somit nach Sigmund Freud nicht zu vergessen ist1041 –, muss sie auch im Text anwesend bleiben und wird bis zum Schluss des Textes regelmäßig aufgerufen. Mit der konstanten Erinnerung erwächst das Gefühl der Schuld und das Bedürfnis, für die Verbrechen der Vergangenheit Buße zu tun. Der Erzähler erinnert sich – die Erinnerung geschieht wiederum rein assoziativ – während einer Party an seine Schulzeit und seinen ungarischen Sportlehrer, der die Schüler oftmals einen Lauf zu der sogenannten „Polenlinde“1042, an der im Zweiten Weltkrieg zwei Polen aufgehängt wurden, machen lässt. Ich habe immer überlegt, ob der Lauf zur Polenlinde [...] nicht so eine Art Rache sein könnte, von Herrn Solimosi im Namen aller Slawen an uns Deutschen. Und ob ich nicht Buße tun könnte für die Verbrechen der Nazis, dadurch, daß ich zur Polenlinde und zurück laufe.1043

Kracht führt hier bereits den für „1979“ zentralen Begriff der Buße ein.

1038 Ebd., S. 98. 1039 Ebd., S. 100. 1040 Arendt, Hannah: Über die Revolution. München 1963, S. 104. 1041 Vergl. Freud, Sigmund: Widerstand und Verdrängung. In: Ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt am Main 102000, S. 275 ff. 1042 Kracht: Faserland, S. 150. 1043 Ebd., S. 150.

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Die Vergangenheit, das „ grausame Nazi-Leben hier“1044, führt zu der Entwicklung einer „Kampfhaltung“1045, die das Handeln und Denken bestimmt, die aber gleichzeitig zur Absonderung und Exklusion der Menschen führt, da diese aufgrund ihrer Haltung „für die anderen überhaupt nicht mehr nachvollziehbar“1046 – und damit anschlussfähig – sind. Zugleich bewirkt die Erinnerung der Vergangenheit den Versuch, aus der deutschen Gegenwart und Geschichte – Gegenwart und Geschichte werden bei Kracht immer unteilbar zusammen gedacht; die Gegenwart zeigt sich immer von der Vergangenheit negativ kontaminiert – zu fliehen und sich sowohl räumlich als auch psychisch dem Land zu entziehen. Als erster möglicher Fluchtversuch kann die Flucht aus der Welt auf eine einsame Insel gelesen werden, die mit der Nennung von Isabella Rossellini direkt als Utopie markiert wird. Wir würden alle zusammen auf einer Insel wohnen, aber nicht auf einer Südseeinsel oder so ein Dreck, sondern auf den Äußeren Hebriden oder auf den Kerguelen, jedenfalls auf so einer Insel, wo es ständig windet und stürmt und wo man im Winter gar nicht vor die Tür gehen kann, weil es so kalt ist. Isabella und die Kinder und ich würden dann zu Hause sitzen, und wir würden alle Fischerpullover tragen und Anoraks, weil ja auch die Heizung nicht richtig funktionieren würde, und wir würden zusammen Bücher lesen, und ab und zu würden Isabella und ich uns ansehen und dann lächeln.1047

Der Erzähler imaginiert hier eine Flucht aus der Zivilisation in eine archaische und feindliche Natur, in der der Erzähler allein mit seiner Kleinfamilie fernab von allen Menschen und Städten in der Wildnis haust. Die Regression auf prämoderne und prä-urbane Lebensformen, die defekte Heizung, die den Erzähler die Kälte der Natur spüren lässt, und die Lektüre von Büchern als Gegenpol zur Medienkultur der Gegenwart, werden als glücksverheißende Erfüllung empfunden und als bewusster Gegenentwurf zur deutschen Gegenwart präsentiert. Die Fluchtutopie erzählt den Wunsch eines vollständigen Entzuges aus der deutschen Wirklichkeit; die deutsche Gegenwart und die Vergangenheit des 20. Jahrhunderts werden in diesem Entwurf konsequent ausgeklammert – eine „Lösung“ aus der mit der Vergangenheit kontaminierten Gegenwart scheint nur in der räumlichen und zeitlichen Exklusion zu liegen, in der der Verlauf der Zeit sistiert wird und eine atemporale und ahistorische Jetzthaftigkeit der Gegenwart 1044 Ebd., S. 74. 1045 Ebd., S. 74. 1046 Ebd., S. 74. 1047 Ebd., S. 61.



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erreicht wird. Zugleich wird die Flucht jedoch eindeutig als Utopie markiert; dem Erzähler ist bewusst, dass diese nicht zu realisieren ist. In einer weiteren utopischen Fluchtvorstellung, die mit dem Raum der einsamen Berghütte die räumliche Struktur und Exklusion der ersten Flucht aufnimmt, stilisiert sich der Erzähler zum Erzähler und Erschaffer seiner Welt. Dort oben müßte man wohnen, auf einer Bergwiese, in einer kleinen Holzhütte, am Rande eines kalten Bergsees [...]. Jetzt, wenn der Sommer kommt, würden die Bienen summen, und dann würde ich mit den Kindern Ausflüge machen bis an die Baumgrenze, durch die dunklen Wälder streifen, und wir würden uns Ameisenhaufen ansehen, und ich könnte so tun, als würde ich alles wissen. Ich könnte ihnen alles erklären, und die Kinder könnten niemanden fragen, ob es denn wirklich so sei, weil sonst niemand da oben wäre. Ich hätte immer Recht. Alles, was ich erzählen würde, wäre wahr. Dann hätte es auch einen Sinn gehabt, sich alles zu merken.1048

Die Natur wird als starke und schroffe Kraft erfahren – wiederum spricht der Erzähler von der Kälte und grenzt seinen Raum bewusst gegen den friedlichwarmen Raum der erwähnten Südseeinsel ab – und dennoch, oder gerade deswegen, erlebt der Erzähler mit seiner Familie die Einheit mit der Außenwelt der Natur in einer nahezu idyllischen Schilderung. In dem Ausflug wird unter dem friedvollen Summen der Bienen und in dem Anblick der Ameisenhaufen, also in dem akustischen und optischen Erleben der Natur, das Aufgehen in der Natur beschrieben. In dem realen Raum der Stadt gelingt dem Erzähler die Verbindung zu seinen Mitmenschen und zu dem Raum nicht; jede interpersonale Beziehung muss, wie gezeigt wurde, nach kurzer Zeit scheitern. In der abgeschiedenen Holzhütte scheint nun die Verbindung zu den Anderen und zu der Natur zu gelingen. Es muss jedoch festgehalten werden, dass diese Verbindung erst in der absoluten räumlichen und psychischen Exklusion und Einsamkeit, die den Erzähler von allen anderen Personen außerhalb seiner Familie vollständig abschirmt und absondert, gelingt. Eine Verbindung besteht also nur zu seinen imaginierten Kindern und zu der Mutter seiner Kinder, die wiederum als Isabella Rossellini imaginiert wird. Das idyllische Szenario scheint zwar die Abkehr von der urbanen Vereinzelung zu erzählen, erweist sich aber letztlich als eindeutig utopisch markiert und erzählt somit ein weiteres Mal die Unmöglichkeit, der Bindungslosigkeit zu entfliehen. Ein Ausbruch aus dieser Problematik kann wohl nur das imaginierte Leben mit Isabella Rossellini bieten – eindeutiger kann eine Utopie und damit die Hoffnungslosigkeit wohl nicht dargestellt werden.

1048 Ebd. S. 160.

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Die zitierte Stelle zeigt zudem den Wunsch des Erzählers auf, mittels Sprache die Realität und Welt fassen, erklären und letztlich erschaffen zu können. Verfügt der Erzähler in „Faserland“ bislang über eine höchst brüchige Erzählkompetenz und ist nicht in der Lage, die erzählte Welt in Worte zu fassen – sein fundamentaler Zweifel an der erzählten Welt und deren sprachlicher Fassbarkeit wurde bereits diskutiert –, so erträumt er sich nun die absolute Erzählkompetenz, die eine Neuschreibung der Welt möglich macht: Der Erzähler vermag nun mittels Sprache seine Welt nicht nur abzubilden, sondern auch hervorzubringen Die souveräne Macht des Erzählers über seine Welt und die Zeichen, die diese repräsentieren, ergibt sich aus der Abwesenheit eines Korrektivs seiner Erzählungen; „Alles was ich erzählen würde, wäre wahr.“1049 Aus der Behauptung des Erzählers wird eine unanfechtbare Wahrheit: Der (erzählte) Text wird bzw. ist Wahrheit. Diese ‚Wahrheit‘ ist jedoch nicht empirisch oder rational gestützt, sondern behauptet ihren Anspruch allein aufgrund des fehlenden Widerspruches und dem damit einhergehendem Erzählmonopol. Die Möglichkeit der Neuschreibung der Welt möchte der Erzähler nutzen, um seinen Kindern eine andere, kontrafaktische Welt zu erzählen. Seine Erzählung von Deutschland, „von der großen Maschine, die sich selbst baut“1050, von den „Auserwählten, die im Inneren der Maschine leben, die gute Autos fahren müssen und gute Drogen nehmen und guten Alkohol trinken [...] müssen, während um sie herum alle dasselbe tun, nur eben ein ganz kleines bißchen schlechter“1051, „von den Nationalsozialisten mit ihrem sauber ausrasierten Nacken“1052, von den „Selektierern an der Rampe“1053, von den „Männern, die nach Thailand fliegen, weil sie so gerne mächtig und geliebt wären“1054 und von den „Taxifahrern, den Nazis, den Rentnern, den Schwulen [...] und den Rechtsanwälten“1055 wäre dann in der Berghütte nicht mehr notwendig, „weil es die große Maschine ja nicht mehr geben würde. [...] Da ich sie nicht mehr beachte, würde es sie nicht mehr geben, und die Kinder würden nie wissen, daß es Deutschland jemals gegeben hat, und sie wären frei, auf ihre Art“1056. Das Leiden des Erzählers an Deutschland, an der deutschen Vergangenheit, wird in dem Wunsch, eine Neuschreibung der Geschichte – und damit auch der Gegenwart –, die frei von der deutschen Vergangenheit ist, zu leisten, deut1049 Ebd., S. 160. 1050 Ebd., S. 161. 1051 Ebd., S. 161. 1052 Ebd., S. 161. 1053 Ebd., S. 161. 1054 Ebd., S. 161. 1055 Ebd., S. 161. 1056 Ebd., S. 162.



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lich. Die Vergangenheit kontaminiert das alltägliche Leben und lässt dieses als „ grausame[s] Nazi-Leben“1057 erscheinen. Seine Kinder können erst dann „frei“ sein, wenn es Deutschland nicht mehr gibt und nie gegeben hat. Diese Ausradierung des Landes ist nur durch den geographischen Entzug und die Neuschreibung der Geschichte in dem Erzählen der ‚neuen‘ Vergangenheit möglich. In der Schweiz erlebt der Erzähler eine Befreiung von Deutschland, das aus seinem Bewusstsein langsam verlöscht. Es scheint ihm, „als ob Deutschland nur noch eine Ahnung wäre, eine große Maschine jenseits der Grenze“1058, die keine Beachtung mehr findet. Die räumliche Flucht erscheint ihm als Möglichkeit, Deutschland zu entkommen und die Freiheit zu erreichen, die er in der Neuschreibung der Geschichte seinen Kindern bieten will. „Vielleicht ist die Schweiz ja eine Lösung für alles.“1059 Obschon die Geographie der Schweiz an die Fluchtvision des einsamem Bergsees erinnert, so zeigt sich am Ende des Textes mit dem Tod des Erzählers im Zürichsee, dass die Schweiz doch nicht die ‚Lösung‘ ist. Die geschilderten Fluchten in die archaische Natur, fernab der modernen Zivilisation, in der die Regression auf ein einfaches prä-modernes Leben erfahren wird – und dieses als Erfüllung empfunden wird –, erinnern an die Überlegungen von Joachim Bessing zur Flucht in ein Camp in „Tristesse Royale“: „In einem Camp mit einem Guru, der für dich sorgt. Wo du einfache Feldarbeiten verrichten mußt, einen strengen Tagesablauf hast, keine Fragen mehr zu stellen, sondern nur zu erfüllen hast.“1060 Bessing nimmt das Motiv der Regression, des einfachen und harten Lebens in der Natur, auf, erweitert Krachts Version jedoch um das Element der Gewalt – und verweist so auf das Lager in „1979“ und die dem Lager eingeschriebene Gewalt, die zur Erfüllung werden kann: „Und es muß logischerweise im Massenselbstmord enden. Das ist die einzige moderne Form der Spiritualität für mich.“1061 Gängige religiöse oder weltanschauliche Systeme, „[a]lles andere wäre nach unser Definition Rock – auch zum Buddhisten werden übrigens“1062, können, wie in den vorigen Kapiteln gezeigt wurde, keinen Sinn mehr generieren, das Verlassen der Spirale ermöglichen und das leere Zentrum besetzen. Die Flucht in die katholische Religion, die im Ästhetizismus noch als Option existiert, etwa für Huysmans’ Jean Des Esseintes in „À rebours“, wird von Bessing als Illusion begriffen.

1057 Ebd., S. 74. 1058 Ebd., S. 157. 1059 Ebd., S. 159. 1060 Tristesse Royale, S. 162. 1061 Ebd., S. 162. 1062 Ebd., S. 162.

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Die für die Ästhetik von „1979“ bestimmenden Motive der asiatischen Philosophie, etwa die Motive der Stille, der Leere und der Reinheit, werden bereits in „Faserland“ in einem kurzen Absatz angelegt. Die Stille und Ruhe des Ostens – in „Faserland“ wird noch eher auf den nahen Osten als auf den fernen Osten verwiesen – scheint als zweiter möglicher Fluchtweg auf. „Ob es so weitergeht mit den bunten Trainingsanzügen [...]? Das tragen sie alle im Osten, und die Menschen dort sind geduldiger, stiller und auch sehr viel schöner. Vielleicht wird der Osten den Westen überrollen mit seiner Ruhe. Das wäre beruhigend [...].1063“ Doch letztlich gelingt es dem Erzähler nur in einem kurzen Moment, dem Leiden zu entfliehen und das Zentrum der Stille und Reinheit zu erreichen. Diese dritte Flucht unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von den imaginierten utopischen Weltfluchten. An einem griechischen „Altmänner-HomosexuellenStrand“1064, also an einem Ort, der den scheinbar homophoben Erzähler zutiefst verunsichert, erfährt der Erzähler, wie in Kapitel 9.1 ausführlich gezeigt wurde, die Stille. Auch diese Erfahrung kann aufgrund der als höchst unangenehm gezeichneten Umgebung nur einen kurzen Moment währen; nahezu fluchtartig verlässt der Erzähler den Ort des Geschehens und reist von der Insel ab. Am Ende des Textes erfolgt die ultimative Gewalttat: Der Erzähler löscht sich selbst aus. In Kapitel 9.1 wurde der letzte, folgenschwere und scheiternde Versuch der Wiederbesetzung des Zentrums, das sich bildlich im dem Bestreben, das Zentrum, also die Mitte des Sees zu erreichen, ausdrückt, bereits analysiert. „Bald sind wir in der Mitte des Sees. Schon bald.“1065

10.2 GEWALT IN „1979“

Christian Kracht erzählt in „1979“ den Versuch der Wiederbesetzung des leeren Zentrums und das Scheitern – und zugleich die Erfüllung – dieses Versuches in der Gewalt. Bereits in den ersten Sätzen des Textes deutet sich die im zweiten Teil des Textes dominante Sphäre der Gewalt an; der Erzähler reist mit seinem Freund durch den Iran, in dem das Kriegsrecht herrscht und der Ausnahmezustand verhängt wurde, wodurch die Rechte der Bewohner und der Reisenden stark eingeschränkt werden und sie sich aufgrund ihrer westlichen und damit nicht-islamischen Herkunft und Überzeugung in große Gefahr begeben. Die im zweiten Absatz des Textes eingeführten Motive der nächtlichen Personenkont1063 Kracht: Faserland, S. 112. 1064 Ebd., S. 144. 1065 Ebd., S. 166.



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rollen, der Straßensperren und der bewaffneten Ordnungskräfte werden im Text wiederholt aufgegriffen und als Symbol der gewaltsamen, willkürlichen, indifferenten und nach den Regeln des Ausnahmezustandes handelnden Staatsmacht verstanden. Die in Kapitel 9.2 dieser Arbeit ausführlich untersuchte Prophezeiung von Mavrocordato – die „Halbierung“ des Erzählers mit der gleichzeitigen Ankündigung, dass „[A]lles noch viel, viel schlimmer werden [wird]“1066 – führt nun neben der systemischen Gewalt der Staatsmacht die amorphe und individuelle gegen den Erzähler gerichtete Gewalt ein. Mit der Festnahme und Internierung des Erzählers durch chinesische Soldaten beginnt die Erzählung der totalitären Gewalt, die als die den Text bestimmende Form der Gewalt verstanden werden kann. Die Gewalt wird bereits mit den ersten Sätzen, die den erstmaligen Kontakt mit dem chinesischen Militär beschreiben, im Text angelegt. „Ein Offizier [...] fegte mit der flachen Hand einem Pilger die Mütze vom Kopf. Er fiel nach hinten und knallte mit dem Kopf gegen einen Stein, ein Soldat fing an zu kichern“1067. Noch vor der Kontaktaufnahme mittels Sprache erfolgt der erste Akt der Gewalt; die Gewalt ‚spricht‘ hier und kommuniziert den Pilgern – und dem Leser – die unbeschränkte Macht, die die Soldaten mittels Gewalt ausleben können, und die unbedingte Herrschaft über den Körper des Anderen, die wenig später im Internierungslager ihren extremsten Ausdruck findet. Auf die erste Gewalttat folgt der Versuch der sprachlichen Kommunikation – die ‚normale‘ Abfolge des Verhöres und der Folter werden hier umgekehrt –, der Offizier stellt eine Frage. Da keine Antwort erfolgt, wechselt der Offizier das Kommunikationsmittel und ‚spricht‘ wieder mittels Gewalt. „[A]ls keiner ihm antwortete, zog er seinen Revolver und schoß zwei Kugeln in den Boden vor unseren Füßen.“1068 Die ‚Ansprache‘ hat nun Erfolg; der Erzähler tritt vor und sagt, dass er Mandarin sprechen könne. Die Szene endet mit der Verhaftung der Gruppe und einem erneuten Ausbruch der Gewalt. „Zwei der Pilger stellten sich vor mich [...], aber der Offizier schlug ihnen einem nach dem anderen mit der behandschuhten Faust auf die Nasen. Einem brach er das Nasenbein.“1069 Mit der Ankunft im ersten Lager erfährt der Erzähler die Willkür der Macht, die sich in willkürlichen Gewaltmaßnahmen äußert. Auf seine Verhaftung erfolgt keine weitere Untersuchung der Vorfälle, der Erzähler wird ohne Erklärung – und ohne Legitimation – für unbestimmte Zeit inhaftiert. „Sonderbarerweise 1066 Kracht: 1979, S. 57. 1067 Ebd., S. 147. 1068 Ebd., S. 147. 1069 Ebd., S. 148.

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wurde ich auch nicht verhört oder irgendeiner Straftat angeklagt, auf meine Frage danach hieß es, ich solle Geduld haben.“1070 Es geht in dem Lager somit nicht um die Vorbereitung oder Durchführung eines juristischen Prozesses oder die Absolvierung einer Strafmaßnahme, sondern nur um die Anerkennung der Macht des Lagers durch den Erzähler. „Daher geht es auch nicht darum, den Inspektionen und den Verhören der Lagergewalt geschickt oder auch aufrichtig entgegenzukommen, sondern die grundsätzlich fremde Macht gerade in ihrer Willkür anzuerkennen.“1071 Die Willkür des Lagers – die für den Häftling absolut unverständlich und unvorhersehbar bleibt – äußert sich sowohl in den mittels Gewalt ausgeführten Strafen, als auch in der indirekten und strukturellen Gewalt. „Warum man mich nur schlug und zum Beispiel nicht mit dem Elektrostock bestrafte, wußte ich nicht.“1072 Der Erzähler kann eine innere Logik und Kohärenz der Gewalt nicht erkennen, da die Gewalt als willkürlich und damit als inkohärent erfahren werden soll. Die Erfahrung der absoluten Willkür des Systems macht der Erzähler nicht nur bei der erlebten Gewalt, sondern auch bei der Verteilung der Nahrung. Für uns Häftlinge in den Passagierwagen kochten die Soldaten manchmal Tee, für die anderen nicht. Es lag kein System dahinter, wer Tee oder einen Reiskloß bekam und wer leer ausging. Das war nicht Absicht oder Schikane, es war einfach so; einige hungerten, andere hungerten nicht so viel.1073

Die Willkür der Verteilung, die eben keine Sanktion oder Gratifikation darstellt, sondern ohne jeden Sinn zufällig passiert, wird in dem Zitat betont. Das Ergebnis der Willkür ist indes wieder Gewalt. Gewalt, die sich wie die körperlichen Strafen gegen die Unversehrtheit des Körpers richtet, aber aufgrund der Willkür ‚tiefer‘ wirkt als die logisch-rational erklärbare Gewalt einer Sanktion. Die Häftlinge sollen in einem konstanten Zustand der Unsicherheit gehalten werden, in dem die Gewalt jederzeit und nicht vorhersehbar über sie geradezu hereinbrechen kann. Die Insassen – denen keine Möglichkeit gegeben ist, auf die Gewalt Einfluss zu nehmen, weder auf deren Intensität, ihre Form, ihren Zeitpunkt noch auf den Grund ihres Ausbruches – konzentrieren ihr Dasein auf die „Aufrechterhaltung [...] [der] körperlichen Funktionen, was alle anderen Überlegungen und Sorgen absorbiert.“1074 Die Rationierung des Wassers und der Nahrung 1070 Ebd., S. 150. 1071 Scholz: Ein postmoderner Bildungsroman, S. 209. 1072 Kracht: 1979, S. 158. 1073 Ebd., S. 169. 1074 Scholz: Ein postmoderner Bildungsroman, S. 209.



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lässt das „ganze Denken [...] von morgens bis abends und auch nachts [...] [um das Wasser kreisen]. Es war schrecklich, so durstig zu sein“1075. Die Biopolitik des Lagers reduziert die Identität des Subjekts auf das bloße Überleben und damit auf den Körper und das „nackte Leben“1076 im Ausnahmezustand des Lagers. Bereits in den ersten Zeilen von „1979“ erfolgt, worauf bereits hingewiesen wurde, die Proklamation des Ausnahmezustandes in Form des Kriegsrechtes – „[D]enn seit September herrschte Kriegsrecht“1077 –, doch erst am Ende des Textes, im chinesischen Lager, wird die Bedeutung des Ausnahmezustandes vollständig erfahren. Der Text bereitet am Anfang das Ende vor und verweist auf der ersten Etappe der Reise, der Fahrt nach Teheran, bereits auf das ‚Ziel‘ der Reise, das dann mit der Auslöschung im Lager erreicht wird. Die Auslöschung im Lager wird durch die „Selbstkritik“1078 eingeleitet. Diese unterscheidet sich grundlegend von der Form und dem Ziel eines Verhöres, das der objektiven Wahrheitsfindung dient und die Erkenntnis der Tat und des Täters bezweckt. „Sie war als Umerziehung gedacht; [...] als Auslöschung des Egoismus, sie war dazu da, uns Demut beizubringen, uns zu lehren, daß wir nichts waren.“1079 Die affirmative Erzählung der an sich totalitären Maßnahme, das scheinbar positive Telos der Kritik, zeigt den psychischen Prozess und die Intention der Behandlung performativ an der Erzählung auf: Der Erzähler kann sich der Auslöschung seiner Identität und der Überschreibung seiner Überzeugungen durch die Kritik nicht erwehren und nimmt diese – was genau das Ziel der Maßnahme darstellt – überzeugt an. Die der Behandlung eingeschriebene Gewalt, die sich sowohl als psychische ‚Umerziehungsgewalt‘ als auch als konkrete physische Gewalt äußert, wird zwar vom Erzähler wahrgenommen und erzählt, zugleich aber, insbesondere am Ende des Textes, als notwendiges Instrument akzeptiert. Hierin unterscheidet sich die Gewalt des Lagers fundamental von der Strafgewalt in einem Gefängnis, indem die Gewalt im Lager nicht als Strafe, gegen die sich der Häftling zumindest innerlich auflehnt und wehrt, verstanden wird, sondern indem diese von den Bestraften angenommen wird. In der Akzeptanz und Annahme der Strafe zeigt sich die Auslöschung der individuellen Identität, die die Maßnahmen, die ihrer körperlichen Unversehrtheit und ihrer persönlichen Überzeugung entgegenlaufen, ohne Gegenwehr als ‚richtig‘ und notwendig annimmt. 1075 Kracht: 1979, S. 161. 1076 Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main 2002. 1077 Kracht: 1979, S. 17. 1078 Ebd., S. 156. 1079 Ebd., S. 156.

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Die Auslöschung beginnt mit der Gewalt der Erniedrigung und mit der vollständigen Entblößung und Offenbarung des nackten Körpers. Der Erzähler erfährt den Wegfall der schützenden Kleidung und sieht sich als einziger Unbekleideter unter dem bekleideten Wachpersonal zurückgeworfen auf den präkulturellen Zustand der Nacktheit, der als Erniedrigung und Scham empfunden wird. Symbolisch wird der Erzähler den Zeichen der Zivilisation – insbesondere der westlichen Zivilisation – und der eigenen Geschichte und Identität ‚entkleidet‘ und kann nun als nackter, ursprünglicher Körper neu geschrieben werden. Die durch die Entkleidung ausgelöste Reduktion der Person auf den Körper, auf das „nackte Leben“1080, lässt den Erzähler als „homo sacer“1081 im Sinne Agambens verstanden werden und nimmt die Struktur und den nómos des Lagers vorweg. Die Häftlinge, insbesondere diejenigen, die aufgrund von psychischen Störungen nicht als Arbeitskräfte gebraucht werden können, dienen im Lager als Lieferant von menschlichen Organen. „[U]nd dann gab es keine Mongoloiden mehr in unserem Lager. Ein Gefangener flüsterte mir zu, man habe ihre Organe gebraucht“1082. Die Biopolitik des Lagers nutzt die Gefangenen zur Bereithaltung und ‚Kultivierung‘ von Organen, die bei Bedarf entnommen werden können, und zur Gewinnung von Blut, das „in den unzähligen Krankenhäusern im Osten gebraucht [wurde] [...]“1083. Die zynische Reduktion der Gefangenen auf ein ‚menschliches Ersatzteillager‘ wird ganz selbstverständlich unter einem ökonomischen Blick gesehen; die ‚Ware‘, die die Häftlinge liefern, wird in den ökonomischen Kreislauf eingespeist und mit ihrer Schuld, die als Saldo verstanden wird, verrechnet. „Wir Häftlinge müßten dazu beitragen, daß unsere eigene Umerziehung sich bezahlt machte. Schließlich sei dem Staat nicht daran gelegen, Asoziale ganz umsonst zu bessern [...].“1084 Das Vokabular zeigt deutlich die zynische ökonomische Kalkulation der Biopolitik auf, die die Gefangenen – und mehr noch die Körper der Gefangenen – als Ware versteht, die in den Handel einfließen. „Unser Blut würde wieder in den Volkskreislauf gelangen, unsere Schuld [...] könnten wir so ein bißchen wiedergutmachen.“1085 Das Blut, ein symbolisch und intertextuell hochkonnotiertes Motiv, wird hier zu einer handelbaren ökonomischen Ware reduziert, deren Wert nunmehr rein ökonomisch bestimmt wird.

1080 Agamben: Homo Sacer, S. 116. 1081 Ebd., S. 81. 1082 Kracht: 1979, S. 176. 1083 Ebd., S. 177. 1084 Ebd., S. 177. 1085 Ebd., S. 177 f.



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Die Häftlinge, die über nicht mehr als ihr „nackte[s] Leben“1086 verfügen, werden gezwungen, dieses in den ökonomischen Tauschhandel einzubringen. Mit der Ausweitung des Handels auf den Körper und dessen Inneres, die Organe und das Blut, wird die Reduktion auf das „nackte Leben“ verschärft – das Lager dringt nun mit der Ökonomisierung des Körperinneren in die Körper der Gefangenen ein; der Lagerinsasse erfährt die absolute Reduktion auf seine ökonomische Verwertbarkeit. Mit ihrer vollständigen Entrechtung und ihrer Exklusion aus der Gesellschaft befinden sich die Insassen des Lagers in der Grenzzone zwischen Leben und Tod, zwischen Innen und Außen [...], wo sie nichts weiter mehr waren als nacktes Leben. Mithin werden die [...] Lagerbewohner in gewisser Weise unbewußt den homines sacri angenähert, einem Leben, das getötet werden kann, ohne daß ein Mord begangen wird. [...] [D]as eingezäunte Gebiet des Lagers errichte[t] eine extratemporale und extraterritoriale Schwelle, wo der menschliche Körper von seinem normalen politischen Status losgelöst ist und so in einem Ausnahmezustand den extremsten Wechselfällen überlassen wird [...].1087

Die Gewalt dieser Behandlung äußert sich sowohl in der Entkleidung als auch in der Befragung. „Ich mußte mich nackt ausziehen und auf einen Stuhl [...] setzen, manchmal auch auf den Betonfußboden. Einige Männer kamen herein [...], oft war auch eine Frau dabei.“1088 Auf die Fragen, die der Erzähler zwar objektiv richtig, aber nach Meinung der Verhörenden falsch beantwortet – wiederum geht es nicht um die Wahrheitsfindung, sondern um die Reproduktion vorgegebener Antworten, die den Normen der chinesischen kommunistischen Partei entsprechen –, erfolgt nun die direkte Gewalt. [M]eistens begann die Frau zu schreien [...]. Ihr Gesicht verzerrte sich, wenn sie mich anschrie, sie spuckte mich an [...]. Auf die Antworten Ich weiß es nicht oder Ich verstehe nicht folgten immer Schläge, meist mit der flachen Hand, manchmal mit der Faust, einmal mit dem Knauf einer Pistole an den linken Wangenknochen, unterhalb des Auges.1089

1086 Agamben: Homo Sacer, S. 116. 1087 Ebd., S. 168. 1088 Kracht: 1979, S. 156. 1089 Ebd., S. 158.

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Die Maßnahmen zeigen Wirkung: „Mit der Zeit lernte ich, die richtige Antwort auf die Anfangsfrage zu geben.“1090 Die ‚richtige‘ Antwort ist in diesem Fall, dass er Mandarin gelernt habe, um zu spionieren und nicht, dass er die Sprache aus Interesse gelernt habe – was die eigentlich richtige, das heißt wahre Antwort wäre. Die Gewalt verändert seine Identität und seine Überzeugungen. Durch die Reue und Diskussion der Verfehlungen und durch die daraus resultierende Neuschreibung der Identität kann, so das (utopische) Angebot des Lagers, der Häftling seine Freilassung und seine Rückkehr in die Gesellschaft erreichen. „Wenn man also alles zugab und es bereute, war es möglich, sich darauf aufbauend zu verbessern. Und wenn man sich verbessert hätte, wenn man ein neuer Mensch geworden wäre, dann könnte man gehen und wäre frei“.1091 Zur Erlangung der Freiheit ist somit die Unterwerfung unter die willkürliche Macht des Lagers, die die ‚Wahrheit‘ vorgibt, notwendig. Diese Macht schreibt nun den Häftling, seine Geschichte, seine ‚Verfehlungen‘ und seine Identität neu; der Häftling muss seine neue Identität annehmen – die Formulierung des Erzählers, „ein neuer Mensch“, ist wortwörtlich zu verstehen –, um so den Vorgaben zu entsprechen und das Lager verlassen zu können. Der Entzug und die Rationierung der Nahrungsmittel, insbesondere des Wassers, von dem die Häftlinge pro Tag nur eine Tasse bekommen, werden als gewaltsame Erziehungsmaßnahme eingesetzt, die sowohl physisch als auch psychisch wirkt. Die unmittelbaren physischen Auswirkungen bestehen in den starken Schmerzen, die aufgrund der Dehydrierung einsetzen und dauerhaft den Häftling quälen.1092 Die mittelbaren psychischen Folgen äußern sich in der Reduktion der Gedanken auf das vorenthaltene und nicht nur körperlich ersehnte Wasser. „[D]as Denken war von morgens bis abends und auch nachts auf diese Blechtasse [Wasser] ausgerichtet. [...] Ich schloß oft tagsüber die Augen und versuchte, mir den Klang von fließendem Wasser vorzustellen; [...] ich hörte einen Bergbach“1093 Die Gefangenen beschäftigen sich in ihren Gedanken nicht mehr mit ihrer direkten Umgebung, dem Lager und den Grausamkeiten, die sie erfahren, sondern richten ihre Konzentration nach außen. Die imaginierten Orte, „ein

1090 Ebd., S. 158. 1091 Ebd., S. 160. 1092 „Ich bekam nach zehn Tagen starke Nierenschmerzen; wenn ich urinieren mußte, dann ging es meist nur für ein paar Sekunden, es tat sehr weh beim Herauspressen, und der Harn war dunkel. Ich sah, wie einige andere Häftlinge ihren eigenen Urin tranken, das machte aber alles nur noch schlimmer. Sie wanden sich vor Schmerzen, am Boden liegend, die Hände in die Seiten gepreßt.“ Ebd., S. 161. 1093 Ebd., S. 161.



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Bergbach“1094 oder „ein bemoostes Rinnsal tief in einem feuchten, dunkelgrünen Wald“1095, lassen sich sowohl in ihrer Humidität als auch in ihrer räumlichen Verortung als Gegenpol zum Lager verstehen. Der Erzähler erkennt die Intention der Rationierung. „Das Denken wurde geleitet und dann abgebremst, ich hatte das Gefühl, als sei dieser verordnete Durst vollkommene Absicht, als sei er Teil des Umerziehungsmechanismus des Lagersystems.“1096 Dennoch kann er sich dem Ziel der Maßnahme nicht entziehen und will den Vorgaben entsprechen. Die Gewalt des Lagers wird vom Erzähler nun auf zwei Ebenen erfahren; zum einen wird die Gewalt als Gewalt, zum anderen – zum Teil ironisch gebrochen – als Teil des eigenen Bezugssystems verstanden, indem die Gewalt des Außen in das Innen des Erzählers integriert wird. Der verordnete Entzug der Nahrungsmittel wird vom Erzähler nicht als Gewalt erfahren, sondern als besonders effiziente Diät, die ihn seinem Wunschgewicht näher bringt. „Wir bekamen während der Fahrt nichts zu essen, ab und zu befühlte ich, stehend eingekeilt zwischen den anderen Häftlingen auf der Ladefläche, meine Rippen und die Hüftknochen, die endlich, endlich weit vom Körper weg heraustraten, wie ich es schon immer gewollt hatte.“1097 Im folgenden Satz gestaltet Kracht die ironische Note der Textstelle noch deutlicher: „Ich dachte an Christopher, daran, daß ich mich immer zu dick gefühlt hatte, und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen.“1098 Mit dieser Formulierung löst der Text nicht nur die zu Beginn von „1979“ gemachte Prophezeiung von Mavrocordato ein, die die „Halbierung“1099 des Erzählers zum Inhalt hat, indem er die „Halbierung“ und den Satz „Sie, mein Lieber, Sie werden in Kürze halbiert werden“1100 ganz wörtlich versteht und auf den physischen Körper des Erzählers bezieht, sondern versieht zudem die „Halbierung“ des Körpers mit einem ironischen Subtext. Der „heroin chic“1101, den Drügh in der Textstelle liest, zeigt die – in den Rezensionen oft überlesene – Verbindung von „1979“ zur Popkultur und deren Erzähltechniken auf. Drügh und Breger weisen überzeugend die Zitattechnik des Textes nach, der, wie „Faserland“ nicht nur ein Archiv von Markennamen eröffnet, sondern auch in den ironischen Zitaten – die Pilger, auf die der Erzähler trifft, sehen „wie abgelehnte Komparsen aus Star Wars“1102 aus – die Popkultur in den Text 1094 Ebd., S. 161. 1095 Ebd., S. 161. 1096 Ebd., S. 161. 1097 Ebd., S. 166. 1098 Ebd., S. 166. 1099 Ebd., S. 55. 1100 Ebd., S. 55. 1101 Drügh: „... und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen“, S. 38. 1102 Kracht: 1979, S. 142

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einbringt. Dennoch erschöpft sich der Text nicht im postmodernen Sampling oder Bricolage, sondern erzählt, den Überlegungen Umberto Ecos zur postmodernen Literatur gemäß, „mit Ironie, ohne Unschuld“1103 von der Gewalt, dem Lager und der Auslöschung.1104 Nach der Auslöschung des Körpers erfolgt die Auslöschung der Person des Erzählers; zuerst als Teil des Kollektivs der Häftlinge und dann, am Ende des Textes, die individuelle Auslöschung. Die Auslöschung der Gefangenen wird in dem Raum des Lagers erfahrbar. „Ich hatte noch nie so einen öden Ort gesehen. Um uns herum gab es nichts, nur einen kaum mehr erkennbaren, verblassenden Horizont. Alles war voller Staub, überstrahlt, gräßlich und desolat.“1105 In der Leere des Raumes, ihrer Nicht-Existenz, die nur als absolute Absenz zu verstehen ist, deuten sich das ‚Verschwinden‘ und die Auflösung der Häftlinge bereits an. Die Auslöschung rührt jedoch nicht nur aus der Leere her, sondern auch aus der Pluralisierung und damit der Normalisierung des Raumes des Lagers, dessen extensiver Ausweitung und dessen Setzung als Norm. Das Lager, das vom Erzähler zuerst als singuläre Erscheinung verstanden wird, als Ausnahme von der Norm, erweist sich im Folgenden jedoch als das genaue Gegenteil: Es stellt die Norm dar und existiert in mehrfacher Ausführung. „Ein Han-Chinesischer 1103 Eco, Umberto: Nachschrift zum „Namen der Rose“. München 1986, S. 78. 1104 An anderer Stelle habe ich zusammen mit Sven Glawion ausführliche Überlegungen hierzu angestellt: „Somit soll, insbesondere für 1979, eine Lesart proklamiert werden, die sich nicht in Bricolage oder Sampling erschöpft. Drügh und Breger weisen überzeugend die Versatzstücke der Popkultur nach; als Beispiel seien die Pilger, die der Erzähler auf seiner Bergumrundung trifft und die aussehen, ‚wie abgelehnte Komparsen aus Star Wars‘ (Kracht: 1979, S. 142), genannt. Eine (naive) ‚realistische Lektüre des Szenarios‘ (Breger: PopIdentitäten 2001, S. 214) scheint in der Textstelle tatsächlich nicht angelegt zu sein. Neben der Komposition des Textes aus Zitaten, die allerdings meistens nicht so offensichtlich montiert sind, wie die zitierte Stelle, fällt jedoch die Thematik des Textes und deren stringente Durchführung auf. 1979 erzählt von Gewalt, Lagerhaft und von der Reinheit und Stille. Allerdings erzählt Kracht ‚mit Ironie, ohne Unschuld‘ (Eco: Nachschrift, S. 78); er tarnt seine ‚ernste‘ Erzählung, indem er sie in Zitaten erzählt. Bessing bemerkt in Tristesse Royale, dass Kracht sich in ‚Ästhetizismen und aussagelose Worte wie dieses bescheuerte ›ausgezeichnet‹ [flüchtet], weil [er] zu gar nichts mehr etwas sagen will, weil [ihm] alles zu peinlich ist, weil alles schon gesagt ist‘ (Tristesse Royale, S. 181). 1979 lässt sich somit mit Umberto Ecos Überlegungen zur postmodernen Ironie, die die ‚falsche Unschuld‘ (Eco: Nachschrift, S. 79) vermeidet und zeigt, ‚daß man nicht mehr unschuldig reden kann‘ (Eco: Nachschrift, S. 79), ‚weil alles schon gesagt worden ist‘, als Text lesen, der – ironisch gebrochen – es dennoch schafft, nochmal von ‚ernsten‘ Themen zu sprechen.“ Glawion und Nover: Das leere Zentrum, S. 116. 1105 Kracht: 1979. S. 166.



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Häftling neben mir flüsterte, [...] von hier bis dort seien ganze Gefangenenstädte; es hieß, Millionen von Menschen würden dort in Tausenden von Lagern gehalten werden.“1106 Der Erzähler nimmt die Formulierung des Chinesen einige Seiten weiter wieder assoziativ auf: „Tausende von Lagern und Millionen von Menschen, das war gar nicht vorstellbar.“1107 Die Tatsache der Existenz einer Unzahl von Lagern ist „nicht vorstellbar“, weil der Erzähler weiterhin von dem Lager als einer Ausnahme von der Norm ausgeht; er hat nicht realisiert, dass wie ihm der Chinese bereits mitteilte, das Lager die Norm geworden ist und eben nicht mehr die Ausnahme darstellt. Die Überlegung von Agamben, „Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.“1108, findet sich hier „potenziert“ wieder: Der zur Regel gewordene Ausnahmezustand öffnet das Lager, und dieses erweist sich wiederum nicht als singuläre Erscheinung, sondern wird ebenfalls zur Norm.1109 Die Auslöschung der Häftlinge schreitet weiter fort; die Natur im Lager hat sich mittlerweile vollständig aufgelöst und bereitet die Auslöschung der Menschen vor. Es gab in unserem Lager keine Ratten oder sonstigen Nagetiere, da diese selbst nichts zu fressen hatten und gar nicht überleben konnten. Lange suchten wir, heimlich, nach Spinnen und Skorpionen. Es gab keine. Nicht einmal Vögel waren am Himmel zu sehen, der Ort, an dem wir und tausend andere Menschen lebten, war ausgestorben, so leblos wie die Oberfläche des Mars. Wir waren verschwunden, es gab uns nicht mehr, wir hatten uns aufgelöst.1110

Um der realen körperlichen Auslöschung, das heißt dem Hungertod, zu entgehen, konzentrieren sich die Anstrengungen der Häftlinge auf die Beschaffung von Nahrungsmitteln. Da selbst die Tiere, die im Normalfall mit heftigen Gefühlen von Ekel assoziiert werden, Ratten, Spinnen und Skorpione, als mögliche Nahrungsquellen aufgrund ihrer Abwesenheit ausscheiden, müssen die Gefangenen in der tiefst möglichen Regression ihre eigenen Ausscheidungen als Nährboden für die zu verzehrenden Maden akzeptieren. Die Beschaffungsmaßnahmen zeigen Erfolg: „[N]ach einer Woche fühlten wir uns alle gesünder, wir sahen 1106 Ebd., S. 166 f. 1107 Ebd., S. 168. 1108 Agamben: Homo Sacer, S. 177. 1109 „Das Lager, heißt das, ist die Struktur, in welcher der Ausnahmezustand – die Möglichkeit der Entscheidung, auf die sich die souveräne Macht gründet – normal realisiert wird.“ Ebd., S. 179. 1110 Kracht: 1979, S. 181.

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kräftiger aus“1111. „Nicht mehr nur ironisch, sondern geradezu zynisch, wird unter den grausamen Bedingungen des Lagers die Spirale von Input und Output, also Nahrung und Ausscheidung, zu einem ganzheitlichen, körperzentrierten, zirkulären Prozess.“1112 Der Warenkreislauf des ökonomischen Systems, das mit dem Handel der ‚Waren‘ Blut und Organe der Häftlinge und deren Verrechnung mit der individuellen Schuld Teil des Lagers ist, spiegelt sich nun in dem ‚Warenkreislauf‘ von Ausscheidung und Nahrungsgewinn. Wiederum ist der Körper, der nunmehr den letzten ‚Besitz‘ der Häftlinge darstellt und der mittels der Transplantationen und Blutabnahmen bereits sukzessive aus dem ‚Besitz‘ der Gefangenen in den ‚Besitz‘ und die Verfügungsmacht der Machthaber übergeht, in seiner elementarsten Form zur Ware erklärt worden. Am Ende des Textes steht die Annahme des Systems des Lagers. „Alle zwei Wochen gab es eine freiwillige Selbstkritik. Ich ging immer hin. Ich war ein guter Gefangener. Ich habe versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.“1113 In der zitierten Stelle findet sich ein Hinweis auf die absolute Regression sämtlicher ethischer Systeme auf einen ethisch-moralischen (Quasi-) Nullpunkt – eine weniger elaborierte Ethik als die zitierte, deren letzte und einzige Norm offensichtlich den Verzehr von Menschenfleisch untersagt, ist nicht zu denken. Das Lager, die „dauerhafte räumliche Einrichtung [des Ausnahmezustandes], die als solche jedoch ständig außerhalb der normalen Ordnung bleibt“1114, führt zu einem Ausnahmezustand der Ethik, in dem die normalen Normen außer Kraft gesetzt und durch die an Freuds Theorie zur „Urhorde“1115 erinnernde Regel, in der sich die absolute Regression auf den archaischen Urzustand manifestiert, ersetzt werden. Zugleich zeigt sich in der Textstelle auch die absolute und affirmative Annahme des Lagers. So (über-)erfüllt der Erzähler die Vorgaben des Lagers, geht immer zu der „freiwilligen Selbstkritik“ und beobachtet die geforderte „Besserung“. Das Verhalten des Erzählers ist jedoch nicht als opportunistische Kalkulation zu verstehen, durch die er eine Entlassung aus dem Lager anstrebt; auch eine Deutung des Erzählers als gebrochener und infiltrierter Häftling, der über keine Identität mehr verfügt, die er der Macht entgegen setzen kann, geht fehl. Das Ende des Textes lässt sich nur in Zusammenhang mit einer anderen Textstelle verstehen.

1111 Ebd., S. 181. 1112 Glawion und Nover: Das leere Zentrum, S. 115. 1113 Kracht: 1979, S. 183. 1114 Agamben: Homo Sacer, S. 178. 1115 Freud: Totem und Tabu, S. 151 ff.



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Ähnlich wie die Gedanken an und die ständige Sehnsucht nach dieser halben Tasse Wasser fühlte ich wirklich tief in mir den Wunsch nach Besserung, nach etwas, das einer Verpflichtung gleichkam und Halt bedeuteten würde, Verpflichtung und Moral dem Volk und den Arbeitern gegenüber.1116

Die zitierte Stelle kann als Schlüsselsatz der Erzählung gelesen werden. Die Erzählung des Lagers dient in dem Text zur Darstellung von drei Themenfeldern, die über die Gewalt des Lagers auf der Textebene miteinander verbunden sind. So findet sich in dem Zitat ein weiterer Ausdruck der als qualvoll empfundenen Rationierung des Wassers und der damit einhergehenden Reduktion der Gedanken auf dieses. Zugleich lässt sich hier der „Wunsch nach Besserung“, der „wirklich tief“ empfunden wird, feststellen – die „Erziehungsmaßnahmen“ scheinen also zu fruchten; der Erzähler nimmt die Maßnahmen nicht nur gezwungenermaßen aufgrund der Gewalt an, sondern verinnerlicht diese soweit, dass sie ihm als sein eigener „tief[er]“ Wunsch erscheinen. Die Sprache offenbart das infiltrierte Bewusstsein. In dem vom chinesischen Kommunismus geprägten Vokabular, der „Verpflichtung und Moral dem Volk und den Arbeitern gegenüber“1117, scheint die Verortung der Maßnahme und ihrer Normen noch durch. Das dritte und entscheidende Feld, das sich in dem Zitat ausdrückt, wird jedoch mit den Begriffen „Verpflichtung“ und „Halt“ aufgerufen. In „Faserland“, dessen enge Verbindung zu „1979“ hier nochmals betont und gezeigt werden soll, war der fehlende ‚Halt‘ des Erzählers, die mangelnde Bindung an seine Umwelt, der Antrieb der Reise und letztlich auch der Erzählung. „1979“ lässt sich nun als Fortsetzung dieser Thematik lesen; der Erzähler erfährt ebenfalls keine Bindung an seine Umwelt, keinen ‚Halt‘. Der Text erzählt den Wegfall sämtlicher Systeme – um dann die Annahme des totalitären Lagersystems zu zeigen. Das System des Lagers wird auf zwei Ebenen, die eng miteinander verzahnt sind, erfahren. Zum einen erlebt der Erzähler als ohnmächtiges Opfer tatsächlich gegen seinen Willen die grausame Gewalt des Lagers und muss die Willkür anerkennen und annehmen. Seine Identität wird im Lager ausgelöscht und mittels Gewalt und Folter neu geschrieben. Zum anderen wird jedoch genau diese Gewalt, die als grausame Unterwerfung erzählt wird, als positive Erfüllung verstanden, da der Erzähler in dieser Gewalt zum ersten Mal ‚Halt‘ und damit ein Bezugssystem erfährt. Die Suche des Erzählers, die in „Faserland“ beginnt und erfolglos abgebrochen wird, erreicht nun in „1979“ ihr Ziel: Dieses Ziel ist die Gewalt des Lagers. Der Text spielt die Abkehr von verschiedenen Systemen durch; wie in Kapitel 9.2 gezeigt wurde, löst sich der Erzähler von sämtlichen 1116 Kracht: 1979, S. 161 f. 1117 Ebd., S. 161.

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Bezugssystemen. Persönliche freundschaftliche Bindungen, religiöse und weltanschauliche Systeme wie der Islam oder der Buddhismus, politische oder soziale Überzeugungen – jegliches System wird vom Erzähler abgelehnt.1118 Am Ende des Textes bleibt nur noch das extremste System als Option und wird vom Erzähler angenommen.1119 Der vom Erzähler vermisste ‚Halt‘, den ihm kein System bieten kann, wird nun in der Gewalt erfahren. Dieser ‚Halt‘ unterscheidet sich aufgrund seiner totalitären Zwangsstruktur von dem in „Faserland“ erfahrenen ‚Halt‘, der dort als „Stille“1120 bezeichnet wird; in der Struktur, der Sistierung der Bewegung und in dem Erleben eines festen Punktes – „[E]s ist ein bißchen so, als finde man seinen Platz in der Welt. Es ist kein Sog mehr, kein Ohnmächtigwerden [...] sondern ein Stillsein. [...] Die Stille.“1121 – gleichen sich jedoch der ‚Halt‘ und die „Stille“. Da die „Stille“ in „Faserland“ nicht dauerhaft erlebt werden und die Sistierung der Bewegung nicht erreicht werden kann, sucht der Erzähler die endgültige und ultimative Sistierung am Ende von „Faserland“ in der Sistierung des eigenen Lebens im Tod. Am Ende von „1979“ steht hingegen das Aufgehen in dem Lager. Die bereits zitierten letzten Zeilen des Textes – „Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.“1122 – sollen nach den Überlegungen zu den Kernbegriffen ‚Halt‘ und „Stille“ nun nochmals gelesen werden. Die Grausamkeit und die absolute Regression des ethischen Systems des Lagers verdecken – oftmals auch in den Publikationen zu „1979“ – die Bedeutung der anderen Zeilen des letzten Absatzes. So wurde die ethisch-moralische Dimension, die vom Erzähler in den Sätzen aufgerufen wird, oft übersehen. Der Satz „Ich war ein guter Gefangener.“1123 ließe sich zwar auch als Ausdruck der völligen Auf1118 In „Tristesse Royale“ wird aus einer ähnlich aussichtslosen Lage versucht, einen Ausweg aus dem Über-Angebot der Kultur, die „alle Alternativen zu absorbieren [vermag], sogar selbst noch die Frage nach diesen Alternativen“ (Scholz: Ein postmoderner Bildungsroman, S. 210), zu finden. Somit wird auch „der Wunsch nach dem Ausstieg aus dieser Ironie zu einer ironischen Geste“ (ebd., S. 211). In „Tristesse Royale“ bleibt kein Ausweg offen: Die (eigentliche) Welt wird abgelehnt, ihre Ironisierung ebenso. Der Versuch, diese Ironisierungsschleife zu verlassen, produziert ebenfalls Ironie. 1119 „Ironisch und zugespitzt könnte man sagen, dass sich die Maßnahmen und die Behandlungen des Lagers für den erzählerischen Blick als eine Art heilsame Kur darstellen, die im Dienstleistungsangebot der westlichen Gesellschaft, aus welcher der Ich-Erzähler stammt, noch nicht zu haben ist.“ Scholz: Ein postmoderner Bildungsroman, S. 209 f. 1120 Kracht: Faserland, S. 145. 1121 Ebd., S. 145. 1122 Ebd., S. 183. 1123 Ebd., S. 183.



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gabe der Identität und der Unterwerfung unter das Lagersystem verstehen – ‚gut‘ würde dann als Wertung aus Sicht der Lagermacht verstanden werden, also etwa im Sinne von gehorsam –, allerdings würde hierbei die Brisanz der in den letzten Sätzen erstmals und massiv eingeführten ethisch-moralischen Wertungen übersehen. „Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten.“1124 Dieser Satz führt die Begründung für die genannte Qualität ‚guter‘ an; so zynisch die Regeln auch klingen mögen, so stellt es für den Erzähler dennoch eine Qualität dar, sich an diese zu halten – und dies tut er nicht nur aus opportunistischen Gründen. Der Text spricht an dieser Stelle zum ersten Mal von Regeln. Zeigte „1979“ und „Faserland“ bisher nur die Auflösung jeglicher Regelwerke und die absolute Absenz aller Regeln, sowohl der ethisch-moralischen als auch der juridischen oder gesellschaftlichen, so findet sich am Ende des Textes, im Lager, plötzlich ein Regelsystem wieder, an das sich der Erzähler hält und auch halten kann. Aus der Befolgung der Regeln ergibt sich die Wertung „guter Gefangener“; eine solche Bewertung von Handlungen war aufgrund der fehlenden Regel- und Wertungssysteme bislang nicht möglich. Der darauf folgende Satz „Ich habe mich gebessert.“1125 führt nun ganz explizit – und zum ersten Mal – eine ethische Kategorie und Wertung ein. Sowohl in „Faserland“ als auch in „1979“ wurden die Handlungen nicht aufgrund von ethisch-moralischen Kategorien bewertet; als Beispiel sei die Ablehnung des politischen Systems in „Faserland“ genannt, das nicht aufgrund von Überzeugungen, sondern aus ästhetischen Gründen abgelehnt wird. Begriffe wie „gut“, „gebessert“ oder „Regeln“ kommen in den Texten nicht vor, da das diesen Begriffen zugrundeliegende Bezugssystem nicht existiert. Dies ändert sich nun mit den letzten Zeilen von „1979“, in denen das System wieder Anwendung findet, nachdem der Erzähler alle vorigen Systeme exkludiert hat. Am Ende des Textes steht somit die Wiedereinführung eines ethischen Bezugssystems – allerdings eines äußerst reduzierten Minimal-Systems. Doch die Gewalt, die scheinbar nur den ironischen Rahmen für die Erfüllung des Erzählers darstellt, ist unabdingbare Voraussetzung für diese Reetablierung des Bezugssystems. Der Text schickt den Erzähler auf eine Reise, die eigentlich mit „Faserland“ beginnt, auf der er sämtlicher Systeme verlustigt geht, um dann im Lager mittels Gewalt gezwungen zu werden, die letzten Reste der Systeme durch die ‚Wahrheit‘ des Lagers, die seine persönliche Geschichte neu schreibt, und das System des Lagers zu ersetzen. Zugleich dient die Gewalt des Lagers als Mittel, um die letzten Systemstrukturen, die – nachdem die Systeme, die von außen an den Erzähler herangetragen 1124 Ebd., S. 183. 1125 Kracht: 1979, S. 183.

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werden, aufgegeben und ‚gelöscht‘ wurden – nur noch im Innen des Erzählers vorhanden sind, auszulöschen. Die Systeme des Außen kann der Erzähler – oftmals mittels aktiver oder passiver Gewalt – selbstständig eliminieren; hiervon erzählen „Faserland“ und der Beginn von „1979“. Für die Löschung der Systeme des Innen benötigt der Erzähler die Gewalt des Lagers, die sich gegen ihn und seine Identität richtet. Erst nach deren Aufgabe – und das ist das erklärte Ziel des Erzählers und des Lagers – ein Ziel, das somit im Sinne des Erzählers handelt und deshalb von ihm angenommen wird – kann ein neues System, das über kein Außen mehr verfügt, sondern in einer reduzierten Lagerethik besteht, etabliert werden. Das Lager und die Gewalt sind somit Voraussetzung für das neue Bezugssystem. Das in „Tristesse Royale“ von Bessing präsentierte Motiv der Flucht in ein abgelegenes Camp und die Erfahrung der absoluten Reduktion des eigenen Lebens dort stehen der in „1979“ formulierten Lagererfahrung nahe. „In einem Camp mit einem Guru, der für dich sorgt. Wo du einfache Feldarbeiten verrichten mußt, einen strengen Tagesablauf hast, keine Fragen mehr zu stellen, sondern nur zu erfüllen hast.“1126 Das Lager stellt die Extremversion der imaginierten Camps dar; beiden gemeinsam ist jedoch die positiv empfundene absolute Reduktion des Außen, das sich auf den räumlich und psychisch eng umgrenzten Raum des Lagers und des Camps konzentriert. Die Identität wird durch das System des Lagers/Camps eingeschränkt, so dass der Insasse/Bewohner als ‚menschliche Maschine‘ auf die Erfüllung der gestellten Aufgaben, die sich in Form von „einfache[n] Feldarbeiten“ als archaische Körperarbeit stellen, reduziert wird. Doch aus dieser Reduktion heraus – mit der damit einhergehenden Löschung sämtlicher Systeme – kann nun ein neues System angenommen werden. Der Erzähler muss erst alle Systeme eliminieren, er muss vollkommen ‚leer‘ werden, um die Neuschreibung zu ermöglichen. In dem Motiv des Camps, in dem der Bewohner von einem Guru angeleitet Feldarbeit verrichtet, deutet sich der Zwang und die räumliche Exklusion des Lagers an und erweist sich letztlich in seiner Struktur als Analogie zum Lager, wobei die grausame Gewalt des Lagers auf den nicht in Frage zu stellenden Zwang der Anweisungen des Gurus reduziert wird, aber dennoch vergleichbare Konsequenzen hat. Beiden Strukturen ist die Reduktion des Außen, die bis zur völligen Auslöschung geht, gemein.

1126 Tristesse Royale, S. 162.



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10.3 GEWALT IN „ICH WERDE HIER SEIN IM SONNENSCHEIN UND IM SCHAT TEN“

Der Text beginnt mit der Zeichnung seiner Welt, einer Welt des Krieges und der Gewalt. „Es war die erste Nacht ohne das ferne Artilleriefeuer“1127. Der Erzähler erwacht mit Beginn des Textes in einem Militärlager, das mit seiner Reduktion auf das Organische, welches sich in Parasiten und „Menschentalg“1128 manifestiert und das Gefühl des Ekels bereits mit den ersten Sätzen evoziert, einen direkten Einstieg in die Welt des Krieges bietet und mit der Aufnahme der Begrifflichkeit des Lagers an den Schluss von „1979“ erinnert. „Ich lag im grauwollenen Nachthemd auf dem Holzbett, zerdrückte die Flöhe und das andere Getier, das mir auf der Haut herumlief, und rauchte Zigaretten. Die Laken waren schmutzig, und das Kissen roch nach Menschentalg, so konnte ich nicht schlafen.“1129 Die Gewalt des Krieges, die sich in Hinrichtungen und Übergriffen äußert, ist elementarer Bestandteil der erzählten Welt. Marschall von Koltsch habe man [...] erschossen und unter das Eis der Salzach gestossen. [...] Nach den üblichen Liquidierungen der höheren Offiziere seien die deutschen und britischen Soldaten vor die Wahl gestellt worden, die Uniformen unserer Divisionen anzuziehen oder sich gegen die Wand stellen zu lassen.1130

Die Degeneration der Soldaten aufgrund der sie umgebenden Gewalt zeigt sich in den spontanen Akten individueller Grausamkeit.1131 Ein Soldat „hatte persönlich einem gefangengenommenen deutschen Soldaten in Chur, nachdem sie ihn ausgezogen hatten, seine eigenen Epauletten an die nackten Schultern genagelt, mit einem Holzhammer.“1132 Auch wenn sich der Erzähler gegen die ausufernde Gewalt stellt – „Wir brauchen vor allem anderen: Disziplin. Keine Ausschreitungen, keine Pogrome, keine Deportationen, keine willkürlichen 1127 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 11. 1128 Ebd., S. 11. 1129 Ebd., S. 11. 1130 Ebd., S. 17. 1131 Die Gewalt äußert sich jedoch nicht nur in der Ausübung gegen die feindlichen Truppen, sondern ist auch in der privaten Sphäre der spielerischen Freizeitunterhaltung der Soldaten spürbar: „Die Soldaten im hinteren Teil der Stube waren rohe, grobschlächtige Gestalten [...]. Sie spielten ein Spiel, bei dem einer dem anderen gegen Geld eine Ohrfeige geben musste. Zwei von ihnen sassen sich mit roten Backen gegenüber und schlugen sich abwechselnd ins Gesicht [...].“ Ebd., S. 39. 1132 Ebd., S. 22.

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Erschiessungen.“1133 – und mit seiner Aufzählung von willkürlichen Gewaltexzessen, die strukturell einer totalitären Diktatur oder dem Ausnahmezustand zuzuordnen sind, für ein geordnetes staatliches Rechtssystem plädiert, in dem die Gewalt vom Staat kontrolliert nach juridischen Prinzipien ausgeübt wird und der Einzelne vor der willkürlichen Gewaltausübung geschützt wird, so bleibt die erzählte Welt dennoch eine Welt des Krieges und der Gewalt, die mit dem Ausspruch „Wir sind im Krieg geboren, und im Krieg werden wir sterben.“1134 treffend charakterisiert wird. Der zitierte Ausspruch bewahrheitet sich wenig später, als die Divisionärin Favre, die die vollständige Einschreibung des Lebens in die Welt des Krieges formuliert hat, von einer Granate getötet wird. „Sie hob die Augenbrauen, die Granate schlug ein, und sie war fort. [...] Favre war nicht dort. Kein Stück, kein Fetzen ihres Körpers oder ihrer Uniform war mehr vorhanden.“1135 Favre stirbt in dieser Szene nicht nur, sondern erfährt ihre vollständige Auslöschung. Es sind keinerlei Überreste von ihr zu finden; sie ist nicht mehr da, „sie war fort“. Favre hinterlässt keine Spuren in der Geschichte und kann nicht erinnert werden; sie kann sich nicht in den Text einschreiben, sondern ‚verschwindet‘ folgenlos. Die mit dem Tode einer Figur eintretende Auslöschung, ihr völliges ‚Verschwinden‘, erinnert an den Tod Christophers in „1979“. „Der Mensch dort auf dem Rücksitz hatte nichts mehr vom goldenen Christopher; [...] Christopher, mein Freund, war verschwunden.“1136 Auch wenn Christopher im Gegensatz zu Favre nicht körperlich vollständig abwesend ist – seine Leiche wird vom Erzähler im iranischen Krankenhaus mit Ekel und Abscheu betrachtet –, so wird sein Körper nur als äußerliche „Hülle“1137 wahrgenommen und die vormalige Verbindung zur Person Christopher vollständig abgebrochen. „So ein Ende [...] hatte ich mir gewünscht. Und nicht diesen eingefallenen Papiersack, der vor mir auf dem Laken mit nicht wieder verschließbarem Mund in diesem Höllenkrankenhaus [...] lag. Nicht diese Hülle, etwas anderes, es war so wenig schick.“1138 Christophers Tod ist grausam real und „wenig schick“; Christopher wird auf seine sterblichen Überreste reduziert, die den alleinigen Gegenstand der Erinnerung darstellen, die emotionale Bindung des Paares überschreiben und bald vergessen machen. Favre wird in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ durch die Gewalt des Krieges noch plötzlicher und konsequenter ausgelöscht; mit dem 1133 Ebd., S. 33. 1134 Ebd., S. 33. 1135 Ebd., S. 46 f. 1136 Kracht: 1979, S. 69. 1137 Ebd., S. 78. 1138 Ebd., S. 78.



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Verlust des Körpers geht der Verlust der Person Favre einher. Die Unmöglichkeit der Erinnerung aufgrund des Verlustes der Schrift wurde im vorigen Kapitel der Arbeit gezeigt; mit dem Tod Favres und dem Vergessen ihrer Person zeigt sich, dass sich in der erzählten Welt der Verlust der Memorabilität nicht nur auf die Schrift beschränkt, sondern auf die individuelle Erinnerung übergreift. Der Verlust der Zeit und der Vision einer zeitlichen Entwicklung – „Niemand ist mehr in Frieden geboren.“1139 „Es kommt nichts mehr nach uns. Oder aber es geht immer so weiter.“1140 – führt zu einem Zustand der ständigen Gegenwart, in der die Vergangenheit, etwa die Erinnerung an Favre, nicht mehr präsent ist. Die Dominanz der Gegenwart rührt aus dem Dauerzustand des Krieges her, der nur minimale Veränderungen auf der militärischen Landkarte kennt, aber keine zivilen Entwicklungen mehr zulässt. Die Menschen werden in die Maschinerie des Krieges eingespeist und erfahren ihren individuellen Sinn in dem Aufgehen in dem System des Krieges. „Es war notwendig, dass der Krieg weiterging. Er war der Sinn und Zweck unseres Lebens, dieser Krieg. Für ihn waren wir auf der Welt.“1141 Der Krieg wird als Sinnstifter verstanden. Diese Überzeugung erinnert an die am Vorabend des Ersten Weltkriegs nicht nur von Ernst Jünger und Walter Flex formulierten Gedanken zum ‚Sinn des Krieges‘. Der Nihilismus des Krieges, der angesichts der persönlichen Gefährdung durch die Gewalt des Krieges – der Erzähler steht auf einer Mine, die zu explodieren droht – persönlich nicht mehr als Sinnstifter erfahren wird, äußert sich in der leicht variierten Wiederaufnahme von Favres Feststellung „Wir wurden im Krieg geboren, und im Krieg würden wir sterben.“1142 Diesem von Favre emphatisch geäußerten Satz wird jedoch die Ergänzung „Es gab keinen Gott.“1143 vorangestellt, die den Sinn ihrer Äußerung ändert und Ausdruck einer fatalistisch-nihilistisch-atheistischen Überzeugung ist. Zugleich erfährt der Erzähler in der bedrohlichen Situation auch das christlich motivierte Opfer eines nahezu Unbekannten, der sich für den Erzähler auf die Mine stellt und wenig später in der Explosion umkommt. Der atheistisch-nihilistische Erzähler, „Ich glaube nicht an das Buch [die Bibel, I.N.], von dem du sprichst.“1144, kann das Opfer nicht begreifen. „Warum hast du das gemacht?“1145 Die Erklärung Uriels, der sich opfert, bleibt ihm ebenfalls unverständlich. 1139 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 43. 1140 Ebd., S. 95. 1141 Ebd., S. 21. 1142 Ebd., S. 85. 1143 Ebd., S. 85. 1144 Ebd., S. 88. 1145 Ebd., S. 90.

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Uriel weiss es genau! Und du weisst es nicht! Ich habe das Bibelbuch in deiner Sprache gelesen, Mann aus dem Süden, jahrelang. Gewiss, so war es. Chichewa habe ich auf diese Weise gelernt. [...] Habe Erbarmen mit mir. Es läutet in meinem Kopf, Chiwa. Ich habe keine Angst. Nun geh.1146

Das christliche Motiv der läutenden Kirchenglocken klingt in dem Zitat an und wird von Uriel auf die Frage des Erzählers nach den Gründen für sein Opfer nochmals explizit aufgegriffen. „‚Hörst du die Glocken, Herr?‘ ‚Nein.‘ ‚Sie klingen wunderbar.‘“1147 Die Szene endet mit dem Gesang Uriels, der auf Chichewa das Ave Maria singt.1148 Das Lied wird an dieser Stelle nur auf Chichewa abgedruckt; die deutsche Übersetzung ist dem Leser jedoch einige Seiten vorher präsentiert worden: „Heilige Maria Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen.“1149 Die nur für den sich opfernden Uriel hörbaren Glocken betonen die Nähe des erzählten Opfers zu der christlichen Märtyrererzählung. Uriels Opfer erfährt so eine transzendente Überhöhung, die die Figur Uriel deutlich von den anderen Figuren im Text absetzt. Diese Überhöhung geschieht jedoch allein durch die Tat Uriels und seinen Gesang, der den „Nimbus des Heiligen“1150 des Opfers aufruft; der Text bildet die behauptete Bindung lediglich unkommentiert ab. Ob das „Opfer als unhintergehbare sakrale Handlung, die noch einmal an den heiligen Ernst der großen Religionen erinnert“1151, gelesen werden muss, stellt der Text dem Leser frei. Der Sinn des Opfers besteht jedoch nicht allein in der Rettung des Lebens des Erzählers, sondern wird dezidiert an eine ethische Aufgabe, die Bestrafung des Mörders Brazhinsky, geknüpft. „Du musst denjenigen finden, den du suchst, den atmenden Mörder.“1152 Die Gewalt, die sich im Auslöschen des eigenen Lebens äußert, wird mit der eigenen Opferung bereitwillig auf sich genommen, um die Erfüllung der ethisch motivierten Aufgabe zu ermöglichen; die Ethik – die Bestrafung des Mörders, die Sanktion des Verstoßes gegen weltliches und geistliches Recht und damit die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung – wird von Uriel höher angesehen als sein eigenes Leben. Uriel opfert sich somit nicht nur für den Erzähler, sondern auch für die Gemeinschaft. Die Gewalt ist Bestandteil des Opfers und ermöglicht dieses; zugleich ist die Gewalt der Minenfalle auf der 1146 Ebd., S. 90. 1147 Ebd., S. 91. 1148 „Maria ojera amaji a mulungu mutipemferere ife, tsopano ndi pa ntawi sosata, Amen.“ Ebd., S. 91. 1149 Ebd., S. 82. 1150 Brittnacher: Erschöpfung und Gewalt, S. 31. 1151 Ebd., S. 31. 1152 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 90.



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Textebene unabdingbare Voraussetzung für das Opfer, da Uriel – in der Logik und Komposition des Textes gedacht – sonst nicht zum zweiten Mal auf den Erzähler treffen könnte. Für die Kommunikation der Aufgabe des Erzählers und zur Motivation der Sanktion des Mörders ist somit die Gewalt notwendig; die Gewalt ist in dieser Szene im Gegensatz zu anderen Textstellen nicht mit dem Unrecht verknüpft, sondern ‚ermöglicht‘ eine ethische Handlung. Die Ankunft in der Alpenfestung, der Anblick der Wachtposten, erinnert mit der Struktur der Überwachungsmaßnahmen und Disziplinarmechanismen an Foucaults Überlegungen zum „Panopticon von Bentham“1153. Fast unsichtbar in der Wand befestigte Betonkabinen dienten als Wachtposten. Hinter einem horizontalen Schlitz stand jeweils, von hier unten aus fast unsichtbar, ein Soldat. Man konnte zwar mit dem blossen Auge kaum sehen, ob die kleinen Bunker besetzt waren, sie strahlten aber ein Gefühl des Beobachtetwerdens aus.1154

Foucault liest das Panopticon als „eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden“1155. So kann der Wärter vom Inneren des Panopticons die Gefangenen im Außenkreis sehen, ohne selbst gesehen zu werden. „Im Außenring wird man vollständig gesehen, ohne jemals zu sehen; im Zentralturm sieht man alles, ohne je gesehen zu werden.“1156 Der Vorteil des Panopticons und der Betonkabinen der Alpenfestung ist jedoch nicht nur die Möglichkeit der absoluten Beobachtung des Anderen, sondern die Reorganisation der Struktur der Macht. Das Innen des Panopticons und die Kabinen der Festung müssen nicht mehr besetzt sein, um ihre Gewalt und Diszplinarmacht ausüben zu können, da von außen ihre Potenz nicht mehr einsehbar und damit stets absolut ist. Der Beobachtete fühlt sich stets überwacht und ist damit tatsächlich stets überwacht; seine Überwachung gründet in seinem Gefühl, überwacht zu werden. Das reale Außen – die tatsächliche Überwachung durch den Anderen – ist für den Gefangenen nicht entscheidend; maßgeblich ist seine innere Vorstellung und damit die Annahme und Aufnahme der Überwachungsmaßnahmen und -strukturen. Diese Anlage ist deswegen so bedeutend, weil sie die Macht automatisiert und entindividualisiert. Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer 1153 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1994, S. 256 ff. 1154 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 97. 1155 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 259. 1156 Ebd., S. 259.

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konzentrierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken; in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in welchem die Individuen gefangen sind. [...] Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.1157

Die Entindividualisierung der Macht und ihre Abkopplung von den menschlichen Soldaten und der menschlichen Planung – letztlich ist die Betonkabine der Wachtposten und nicht der bewaffnete Soldat – lässt sich mit der Organisationsstruktur der Festung in Verbindung setzen. Die Struktur der Festungsmacht und damit ihr Sinn ist nicht mehr an einen Plan der Machthaber gebunden, sondern entwickelt sich, wie in Kapitel 9.3 gezeigt wurde, autonom und ungesteuert. Das „magische Ritual“1158 des organisch wachsenden Réduits ist auf sich selbst bezogen und beschränkt; letztlich ist es leer. Der Erzähler verlässt die Alpenfestung in einer Eskalation der Gewalt. Brazhinsky, den er verhaften sollte, sticht sich mit einem Messer die Augen aus, nachdem er versucht hatte, den Erzähler zu töten. Zugleich setzt der Angriff der deutschen Armee auf die Festung ein: „Den Balkon betretend, sah ich das erhabene Bild Dutzender deutscher Luftschiffe, die den Himmel über meinem Kopf füllten. [...] [Dann] begann erneut das infernalische, monströse Bombardement des Réduits.“1159 Mit dem Erreichen Italiens und dem Aufgehen in der warmen Naturlandschaft verliert das militärische Gewaltpotenzial seine Macht. Die bedrohlichen Sonden, die im Text stets präsent sind, werden zu ungefährlichen und machtlosen Flugobjekten, die der Erzähler „mit dem zurückschnappenden, sirrenden Ast einer Pappel“1160 aus der Luft schlagen kann. „Sie britzelte ein paar Sekunden, als könne sie nicht verstehen, was mit ihr geschehen war, dann fiel sie zu Boden, ein lebloser Stein. Ich hob sie auf, sie lag in der Hand wie ein eiserner Apfel, ich warf sie weg.“1161 Die friedliche organische Welt der Natur, repräsentiert in dem Ast der Pappel, vermag die gewalttätige Welt des Anorganischen, des „leblose[n] Stein[s]“, des „eiserner[n] Apfel[s]“und letztlich der Felsenfestung des Réduits, zu besiegen. Die unmögliche, unnatürliche und machtlose Verbindung von Or-

1157 Ebd., S. 259 f. 1158 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 127. 1159 Ebd., S. 132. 1160 Ebd., S. 144. 1161 Ebd., S. 144.



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ganischem und Anorganischem wird im Bilde des „eiserne[n] Apfel[s]“1162 besonders deutlich. In Genua betritt der Erzähler ein Schiff, das ihn nach Afrika bringen wird. „Der Übergang von Dziko zu Madzi, von Land zu Wasser“1163, wird wie das Verlassen der Bergwelt überhöht und geht mit einem weiteren Austritt aus der westlich-kriegerischen Zivilisation einher. „Ich warf meine Bastschuhe über Bord.“1164 Der Weg von der anorganischen Bergwelt der kriegerischen Schweiz, über die organische Natur- und Landschaftswelt Italiens und die dazu analog verlaufende Regression auf den Naturzustand, die ihren Endpunkt in Afrika finden wird, wird nun weiter fortgesetzt auf das Erfahren der Welt des Meeres.1165 Das Meer kann als die absolute Erfahrung des Organischen und der Natur sowie als ultimative Gegenwelt zu der Welt der menschlichen Zivilisation gelesen werden. Auf dem Meer erfährt der Erzähler die Ahnung einer Einheit mit der organischen Natur, der afrikanischen Zivilisation und seiner Geschichte. Ich trug das weisse Hemd am Halse offen, die weisse Hose meines Vaters. Unter einem brennend blauen Himmel näherten wir uns endlich der von Skorpionen befallenen Küste Somalilands. Ein Delphinschwarm begleitete unser Schiff. Vögel waren dort, Bambo, Vögel das Blut der Chiwa sang in unseren Adern. Ndafika. Ndakondwa.1166

Dennoch scheint die Gewalt, von der sich der Erzähler sowohl räumlich als auch psychisch so weit entfernt hat, noch einmal symbolisch auf. Die eben zitierte Stelle – und damit das vorletzte Kapitel des Buches – endet mit dem Satz „Und die blauen Augen unserer Revolution brannten mit der notwendigen Grausamkeit.“1167 Die Bedeutung dieser Gewalt, die eine ‚Gewalt‘ der Rückbewegung in die afrikanische Natur darstellt und somit die individuelle Entwicklung und Bewegung des Erzählers aufnimmt sowie für die afrikanische Bevölkerung verallgemeinert und als Lösungsstrategie präsentiert, wird erst im kurzen letzten Kapitel des Textes deutlich. Am Ende des Textes steht eine Bewegung, die die Einwohner der afrikanischen Städte zurück in die Natur und die urbanen Strukturen ihrer Vorfahren 1162 Ebd., S. 144. 1163 Ebd., S. 146. 1164 Ebd., S. 146. 1165 Folgende Oppositionen lassen sich festhalten: Schweiz/Italien, Fels/Landschaftsnatur, Anorganisch/ Organisch, Norden/Süden, Kälte/Wärme, tot/lebendig, Krieg/Frieden, (Kriegs-)Kultur/Natur. 1166 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 147. 1167 Ebd., S. 147.

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gehen lässt. „Ganze Städte wurden indes über Nacht verlassen, und ihre afrikanischen Einwohner kehrten, einer stillen Völkerwanderung gleich, zurück in die Dörfer.“1168 In dem Text ist Afrika der Schweiz zugehörig und erlebte eine Urbanisierung, die als „zum Wohle der Bevölkerung, hell, geordnet, modern und elegant“1169 beschrieben wird. Afrika stellt also nicht ein Land der Dritten Welt dar, sondern erlebte dank der Hilfe der Schweiz einen Modernisierungsschub. Dennoch können selbst die um die Städte positionierten Soldaten die Abwanderung nicht stoppen; „[sie] legten die Gewehre und reihten sich in die Menschenströme ein, die ohne Unterlass von morgens bis abends und tief in die Nacht hinein alle Städte hinter sich liessen und einfach verschwanden, in die Savanne, in die Ebenen zurück.“1170 Die Savanne, die die ursprüngliche archaische Natur bezeichnet, stellt den Gegenpol zu den urbanen Stadträumen dar. Die Bewegung, die der Erzähler mit der Flucht aus dem Kulturraum der städtischen Schweiz in den Landschaftsraum Italiens vollzogen hat, wird hier nun aufgenommen und zugleich abgeschlossen. Die Menschen ‚verschwinden‘ wieder in der Natur der Savanne, beenden damit die Wanderbewegung und knüpfen zugleich an den mystischen Ursprung ihres Volkes an. Mit dem Verlassen der Städte verlöschen nach und nach die Errungenschaften der Kultur; die Technik kommt zum Stillstand und der urbane Raum wird schließlich von der organisch wuchernden Natur zurückerobert. Wenig später erlosch die Elektrizität, die Maschinen verstummten, die Schiffe fuhren die Häfen nicht mehr an, die Eisenbahnzüge verharrten bewegungs- und führerlos auf den Gleisen, Müll und Abfall wurden nicht mehr eingesammelt, die Schulen blieben leer, und bereits nach kürzester Zeit wuchsen schon die ersten Schlingpflanzen die Mauern der Gebäude empor [...].1171

Ungebändigt von der sie beschneidenden Kultur breitet sich die Natur im Stadtraum aus und verwandelt den Kulturraum Stadt allmählich wieder zum Naturraum Wildnis. Im „gelben Staub, der schon nach wenigen Tagen, in denen es niemand mehr kümmerte, erneut die sonst sauber gefegten Strassen und Alleen mit einer feinen kristallinen Struktur bedeckte“1172, manifestiert sich das unaufhaltsame Fortschreiten der Natur in die Stadt; sobald die kulturellen Ordnungs-

1168 Ebd., S. 148. 1169 Ebd., S. 148. 1170 Ebd., S. 148 f. 1171 Ebd., S. 149. 1172 Ebd., S. 149.



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techniken ausgesetzt werden, wird der mühsam der Natur abgerungene Raum wieder Teil der Natur. Der Text endet mit einem letzten autoaggressiven Gewaltakt. Der Architekt erhängt sich frühmorgens an einer „von ihm selbst entworfene[n], stählerne[n] Strassenlaterne [...], bevor die afrikanische Sonne zu heiß wurde“.1173 Die Szene nimmt die Opposition Kultur/Natur mit der Kulturtechnik der Straßenlaterne und ihrem Naturgegensatz, der heißen Sonne, nochmals auf. Zugleich deutet das explizit erwähnte Material der Laterne nicht nur auf die Kulturtechnik der Stahlverarbeitung hin, sondern bindet diese zurück an die (Kultur-)Welt des Anorganischen. Mit dem Tod des Architekten – also der Person, die den Plan zur Kultivierung des Naturraums erdacht hat und die damit als das Symbol der Kultur gelesen werden kann – wird die Natur zum beherrschenden Element. Der sterbende Architekt wird nun auch noch der letzten Zeichen der Kultur entkleidet und so ebenfalls der Natur angenähert. „Seine schwarze runde Brille, die ihn immer begleitet und zu seinem Markenzeichen geworden war, fiel ihm von der Nase“1174. Mit der letzten Zeile des Textes triumphiert die animalisch rohe Natur über die Zeichen der Kultur und zerstört diese restlos, indem sie sie vertilgt. Die Kultur ist nunmehr ein Kadaver, den die aasfressenden Hyänen verschlingen. „Er hing ein paar Tage, dann assen Hyänen seine Füsse.“1175 Die in „Faserland“ angedeuteten utopischen Fluchtvisionen – etwa auf eine einsame Insel mit Isabella Rossellini – und das in „1979“ erzählte Aufgehen in der totalitären Struktur des Lagers nach der Ablehnung sämtlicher angebotener Bezugssysteme werden in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ wieder aufgenommen. In Krachts neuestem Text steht am Ende die Vision des archaischen und präkulturellen Afrikas, in dem die Einheit mit der eigenen Geschichte und der Natur sowie der Austritt aus der Zivilisation, die als eine Kultur des Krieges erzählt wird, möglich ist. Im Gegensatz zu den vorigen Texten gelingt die Flucht nun; der Erzähler wird Afrika erreichen und das Aufgehen in der Natur, das ‚Verschwinden‘ in der Savanne, erleben. Der Selbstmord des Architekten und das grausame Verschlingen der Kultur durch die Natur, das Vertilgen des Kadavers, lässt sich jedoch nicht nur als ultimatives Verlöschen der Zivilisation und damit als triumphaler Sieg der Natur über die Kultur lesen, sondern lässt mit dem letzten Satz des Textes – „Er hing ein paar Tage, dann assen Hyänen seine Füsse.“1176 – auch die Grausamkeit und Gewalt der Natur aufscheinen. Über diese Formulierung der Gewalt sowie der in „Und die blauen 1173 Ebd., S. 149. 1174 Ebd., S. 149. 1175 Ebd., S. 149. 1176 Ebd., S. 149.

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Augen unserer Revolution brannten mit der notwendigen Grausamkeit.“1177 geforderten „notwendigen“ Grausamkeit – mit der Begründung der Grausamkeit als „notwendig“ rekurriert der Erzähler auf eine typische Rechtfertigung gewaltsamer und totalitärer Herrschaft1178 – wird die Natur in Beziehung zu der im Text ausführlich erzählten Gewalt und Grausamkeit des Krieges in der Schweiz gesetzt. Die in Italien friedvoll und harmonisch erlebte Natur, die den Gegensatz zu der Welt des Krieges bot, zeigt sich am Ende des Textes nicht frei von Gewalt und Grausamkeit. Die am Ende des Textes erreichte Idylle wird somit relativiert und die ‚Lösung‘ des ‚Verschwindens‘ in der Utopie – wie die von Bessing in „Tristesse Royale“ präsentierte ‚Lösung‘ des ‚Verschwindens“ in einem „Camp mit einem Guru, der für [...] [einen] sorgt“1179 – mit einem Fragezeichen versehen.

1177 Ebd., S. 147. 1178 Als vielleicht das bekannteste Beispiel der Legitimation einer Gewaltausübung durch die Herrschenden können Robespierres Überlegungen in Büchners „Dantons Tod“ gelesen werden: „Die Waffe der Republik ist der Schrecken, die Kraft der Republik ist die Tugend – die Tugend, weil ohne sie die Schrecken verderblich, der Schrecken, weil ohne ihn die Tugend ohnmächtig ist.“ Büchner: Dantons Tod, S. 15. 1179 Tristesse Royale, S. 162.

11. Zusammenfassung von Teil II

In Kapitel 8.4 „Kontinuitäten“ wurde die Verbindung der untersuchten Texte von Christian Kracht gezeigt. Aus der Weiterführung der in „Faserland“ angelegten Thematik von Sprache und Gewalt, der interpersonalen Verbindungen in den Romanen sowie der Wiederkehr einiger Motive (zum Beispiel das der Reise oder das des Ekels) ergibt sich eine enge Verzahnung der Texte, die den neueren Text jeweils als Fortschreibung des älteren rezipieren lässt. In Kapitel 9.1 wurde die Sprache und Kommunikation in „Faserland“ untersucht. Die bezeichnende Verweigerung des Erzählens, die am Anfang des Textes steht, „Also, es fängt damit an“1180, deutet die Rolle des unzuverlässigen und unsicheren Erzählers, der sich seiner Erzählkompetenz nicht mehr sicher ist, bereits an. Die Unsicherheit, die sich in einer betont umgangssprachlichen Wortwahl und der ständigen Relativierung des Erzählten mittels einschränkender Partikel und Floskeln manifestiert, rührt jedoch weniger aus der Krise der Sprache – wie bei Ellis – als aus dem fundamentalen Zweifel des Erzählers an den Dingen, dem Außen, an sich. Mit „Genau kann man sowas ja nie wissen.“1181, kommentiert der Erzähler seinen Bericht über das Studienfach einer Freundin; das Außen ist zutiefst unsicher und kann weder verlässlich erzählt noch gefasst werden. Das Zentrum des Textes – sowohl das Zentrum der Makrostruktur der Erzählung als auch das der Mikrostruktur der Sätze – bleibt leer. Das Außen der persönlichen Bindungen wird im Text als unsicher erfahren und zunehmend ausgelöscht. Der Erzähler verweigert sich sowohl der Kommunikation als auch der Verbindung zu dem Anderen und reduziert seine Bindungen an das Außen weitgehend. Am Ende des Textes steht der symbolische Versuch, nochmals die Mitte des leeren Zentrums zu erreichen; in einer intertextuell hochkonnotierten Szene lässt sich der Erzähler in die Mitte des Zürichsees rudern – und muss den Versuch der Wiederbesetzung des Zentrums mit dem Leben bezahlen. Der Text endet mit der Auslöschung des Erzählers im Bergsee – und damit mit der völligen Lösung vom Außen. Kapitel 9.2 diskutierte die Sprache in „1979“. Stellt „Faserland“ die Leere und den Verlust der Bindung an das Außen dar, so zeigt „1979“ den Versuch auf, das leere Zentrum wieder zu besetzen, indem das Außen, das als unhaltbar erfahren wird, eliminiert wird. So wird in dem Text die Auflösung der Bezugssysteme vorgeführt; direkt zu Beginn erfährt der Erzähler die Sprache als brüchig und 1180 Kracht: Faserland, S. 15. 1181 Ebd., S. 15.

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leer, im Folgenden werden sowohl die persönlichen Systeme, wie die Beziehung zu seinem Freund, als auch die weltanschaulichen und religiösen Systeme aufgelöst. Der Erzähler erfährt eine zunehmende Leere, die nicht durch die Annahme eines der angebotenen Systeme, etwa des Islam oder des Buddhismus, gefüllt werden kann. Auch die rituelle Umkreisung des Berges Kailasch bewirkt kein Aufgehen in dem der Pilgerreise zugrunde liegenden System des Buddhismus, sondern löst den Erzähler weiter von seinem Außen. Die Unsicherheit des Außen und die zunehmende Lösung von diesem erzählt Kracht in „Faserland“; in „1979“ wird diese Eliminierung verschärft. Im Lager erfährt die Sprache – und die individuelle Identität, Geschichte und Wahrheit, die sich in ihr äußert – ihre Löschung und Neuschreibung. Der Erzähler wird auf sein „nacktes Leben“1182 reduziert und verliert jegliche Bindung an ein Außen. In „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“, das in Kapitel 9.3 diskutiert wurde, wird nun der Versuch präsentiert, in einer illiteraten Kriegswelt eine ‚neue Sprache‘ zu schaffen. Mit dem Verlust der Schrift werden sowohl die individuelle als auch die kollektive Erinnerung und Geschichte ausgesetzt; der seit fast 100 Jahren andauernde Krieg wird als unveränderlicher Dauerzustand begriffen. Dennoch wird die Schrift als Mittel eingesetzt, um den Erzähler – der im Text eine der wenigen Figuren ist, die des Schreibens und Lesens noch mächtig ist – auf seine Reise, die der Verhaftung Brazhinskys dienen soll, zu bringen. Der Erschaffung der ‚neuen Sprache‘ geht die Überhöhung der Sprache und Schrift, etwa mit der Nutzung des chinesischen Orakels I Ging und der Beschreibung der utopischen Vision einer lebendigen Naturwelt in Afrika, voraus. Die Sprache erfährt in ihrer Nutzung als Orakel eine ‚Erweiterung‘, die die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant um eine auratisch-mystische Dimension ergänzt. Die klare Benennbarkeit und Abgrenzung der Sprache wird zugunsten der raunenden Deutungsmöglichkeiten aufgegeben. Die ‚neue Sprache‘, die „Rauchsprache“1183, die die Sprache als physischen Gegenstand erscheinen lässt, der im Raum als res extensa existiert und nicht mehr akustisch, sondern optisch und haptisch rezipiert wird, ermöglicht eine neue Form der Kommunikation. Aufgrund der Verbindung der „Rauchsprache“ zu der Welt des Krieges gibt der Erzähler ihren Gebrauch jedoch mit Verlassen der Welt des Krieges auf und erlebt mit dem archaischen Schreiben mit der Natur, mit Schilfhalmen in der Landschaft, die Einheit mit der Natur. Das Schreiben der eigenen Identität und Existenz mit und in der Natur kann somit weniger als Gebrauch einer Kulturtechnik denn als Aufgehen in der Natur gelesen werden; dennoch bietet gerade diese Form des Schreibens wieder die Möglichkeit, die eigene Identität und 1182 Agamben: Homo Sacer, S. 116. 1183 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 43.



Zusammenfassung

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Welt zu fassen und zu erzählen. Zugleich ist, wie Derrida zeigt, dem ‚pharmakon‘ Schrift eine auslöschende Potenz inne. Über den ambivalenten Charakter der Schrift, die sowohl fixiert als auch auslöscht – und damit die Kernthematik der Text diskutiert –, deutet sich die Beziehung der Schrift zur Gewalt bereits an. Im folgenden Kapitel 10.1 wurde die Gewalt in „Faserland“ analysiert. Die Gewalt äußert sich in dem Text zum größten Teil als verbale Aggression des Erzählers gegen seine Umwelt und ruft mit seinen Beleidigungen regelmäßig die deutsche Vergangenheit der NS-Zeit auf. Hierbei zeigt sich, dass diese jedoch nicht politisch-historisch reflektiert und verarbeitet wird, sondern lediglich als Reservoir für wirkungsvolle Angriffe dient. Zugleich wird in ihrer beständigen Wiederkehr, die, jeweils ausgelöst von einer Assoziation des Erzählers, jederzeit die Erzählung suspendieren kann, um so in den Fokus des Textes gestellt zu werden, ihre Bedeutung für den Erzähler und den Text deutlich. Mit der Reduktion der Vergangenheit auf die NS-Zeit hat der Erzähler nicht nur eine wirkungsvolle Waffe gegen seine Außenwelt gefunden, sondern kann das politische Feld, das in dem Text zum einen auf das linke Spektrum der 68er, Demonstranten und Studenten vereinfacht wird und zum anderen aus der assoziativen Wiederkehr der Nazis besteht, als Bezugssystem ausschließen. Hierbei funktioniert die Struktur der Abgrenzung zu diesem Feld eher durch ästhetische denn durch politische Kategorien und zeigt damit die typische Struktur zur Distinktionsgewinnung – und zur Eliminierung des Anderen und des Außen – in „Faserland“ auf. Die Vergangenheit wird als bestimmend für das Leben in der Gegenwart empfunden und bewirkt ein diffuses Gefühl der Schuld, aus dem die imaginierten Fluchten des Erzählers, die stets als Utopie markiert werden, resultieren. Die Fluchtutopien erzählen den Wunsch eines räumlichen, zeitlichen und psychischen Entzuges aus der deutschen Gegenwart und konstruieren eine archaische und ahistorische Gegenwelt, in der der Erzähler mittels Sprache eine „neue“ Welt und Realität – die eben nicht mehr von der NS-Vergangenheit kontaminiert ist – erzählen und schaffen kann. Der fundamentale Zweifel an der Welt an sich und an seiner Erzählkompetenz erfahren hier mit der erträumten Neuschreibung der Geschichte und Welt ihre Auflösung; die Abwesenheit des Anderen, die dem Erzähler die absolute Macht über die erzählte Welt gibt und den Diskurs über diese unmöglich und überflüssig macht, lässt die Welt als Wahrheit fassbar werden. Die ‚Lösungsstrategien‘ des Textes, die imaginierte Weltflucht, die Stille des Ostens, die sich in den Trägern der „bunten Trainingsanzüge“1184 manifestiert, und letztlich auch die Erfahrung der Stille und Reinheit an dem „Altmänner-Homosexuellen-Strand“1185, denen die Re1184 Kracht: Faserland, S. 112. 1185 Ebd., S. 144.

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duktion des Außen und die Abkehr von dem Anderen gemein ist, müssen am Ende des Textes als gescheitert erkannt werden. Der Text endet mit der ultimativen und absoluten Auslöschung des Außen und mit dem symbolischen Versuch, das leere Zentrum, das mit keinem Bezugssystem gefüllt werden konnte, wieder zu besetzen: Der Erzähler löscht sich selbst in der Mitte des Bergsees aus und begeht so die letzte und schwerste Gewalttat des Textes. In „1979“, das in Kapitel 10.2 der Arbeit diskutiert wurde, erzählt Kracht von dem Versuch der Wiederbesetzung des leeren Zentrums und der vollständigen Reduktion des Außen, die ihren Endpunkt in der Auslöschung des Erzählers findet. In der zu Beginn der Erzählung erfolgenden Prophezeiung der „Halbierung“1186, die sich sowohl psychisch mit der Reduktion der Partnerschaft mit dem Tod Christophers als auch physisch mit der Halbierung des Körpergewichtes des Erzählers manifestiert, wird die Linie angelegt, die mit der fortschreitenden Reduktion des Außen schließlich im Lager endet. Bereits in den ersten Zeilen des Textes wird der die Struktur des Lagers beherrschende Ausnahmezustand in den Text eingeführt; im Lager erfährt der Erzähler in den erlebten Erziehungsmaßnahmen die physischen und psychischen Konsequenzen dieses Ausnahmezustands. Die Macht des Lagers ist von den Insassen in ihrer Willkür, die sich in den Gratifikationen und Sanktionen äußert, anzuerkennen. Der Erzähler erfährt mit der Auslöschung seiner Identität, der Neuschreibung seiner individuellen Geschichte und mit seiner Reduktion auf den Körper, der in den bio-ökonomischen Kreislauf eingeführt wird und dessen Wert allein in der Bereithaltung des Bio-Kapitals der Organe und des Blutes besteht, eine Reduktion auf sein „nacktes Leben“1187. Das Lager, so zeigte sich, entspricht den von Agamben in „Homo Sacer“ formulierten Kriterien; die Verschärfung des Lagers erkennt der Erzähler in der unendlichen Pluralisierung des Lagers – mit der die Setzung des Ausnahmezustandes des Lagers als Norm geschieht –, die für ihn nicht mehr vorstellbar ist. Kurz vor ihrer völligen physischen Auslöschung gewinnen die Häftlinge durch die Etablierung eines mit Ekel assoziierten Nahrungskreislaufes, der aus den Ausscheidungen wieder Nahrung gewinnt, die Kraft, noch als „nacktes Leben“1188 zu bestehen. Die Reduktion des Außen, die der Erzähler antreibt, findet im Lager ihren End- und zugleich Wendepunkt: Der Text zeigt die Ablehnung sämtlicher Systeme; das Lager bewirkt mit der Gewalt die Abkehr von den letzten Resten möglicher Bezugssysteme, indem es die Identität des Häftlings vollkommen auslöscht und neu schreibt. Dennoch formuliert der Erzähler den Wunsch nach „einer Verpflichtung [...] [und nach 1186 Kracht: 1979, S. 55. 1187 Agamben: Homo Sacer, S. 116. 1188 Ebd., S. 116.



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einem] Halt“1189 und rekurriert hier auf die in „Faserland“ kurzzeitig gemachte Erfahrung der Stille, die als das Kernmotiv der Texte von Kracht ausgemacht werden kann. „Es ist ein bißchen so, als finde man seinen Platz in der Welt. Es ist kein Sog mehr, kein Ohnmächtigwerden [...] sondern ein Stillsein. [...] Die Stille.“1190 Am Ende des Textes steht das Aufgehen des Erzählers im Lager: „Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.“1191 Zugleich findet sich in den letzten Zeilen des Textes jedoch auch die Reetablierung eines rudimentären ethischen Systems. Die zitierte Begrifflichkeit – „guter“, „Regeln“ und „gebessert“ – verweist auf ein zugrunde liegendes ethisches System, ohne das die Begriffe nicht zu verstehen wären. Auch wenn das System eine äußert reduzierte Ethik vorstellt, dessen einzige Norm offensichtlich in dem Verbot des Verzehrs von Menschenfleisch besteht, so wird dennoch am Ende des Textes zum ersten Mal ein Bezugssystem, das die Befolgung von Normen auferlegt, in den Text eingeführt und – im Gegensatz zu all den anderen abgelehnten Systemen – anerkannt. Die Gewalt des Lagers ist für die Anerkennung des Systems die Voraussetzung; sie reduziert den Erzähler vollständig und ermöglicht so die Neuschreibung und Anerkennung des Bezugssystems. In Kapitel 10.3 wurde die Gewalt in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ untersucht. Der Text nimmt die in „Faserland“ und „1979“ präsentierten Modi der Weltflucht in die utopische Idylle auf und führt die Flucht aus der kriegerischen Welt des Nordens über die friedvolle Welt des Südens bis zum Endpunkt der Reise im archaischen Afrika durch. Die Erzählung beginnt mit der Zeichnung des Krieges in der Schweiz und der Schilderung der Gewalt in dem seit fast 100 Jahren andauernden Krieg, der eine Erinnerung an eine Zeit, die nicht durch die Gewalt des Krieges geprägt ist, unmöglich macht. Die Suche nach Brazhinsky führt den Erzähler in die Alpenfestung, die als ungesteuert und autonom wachsende Struktur jegliche militär-taktische Bedeutung eingebüßt hat und als „leeres Ritual“1192 diese nur noch simuliert. Die Gewalt des Réduits ist die Sprache, die die nichtexistenten Waffen behaupten, kommunizieren und damit erschaffen kann. Der Erzähler verlässt die Festung und die Schweiz und begibt sich nach Italien. Die Naturwelt Italiens wird als klarer Gegenpol zu der Kulturwelt der Schweiz installiert; so verlässt er die Kälte, den Krieg und das Unbelebte, um in die Wärme, den Frieden und das Lebendige zu gelangen. Die anorganische Welt der Felsenfestung weicht der organischen Naturwelt Italiens, 1189 Kracht: 1979, S. 161. 1190 Kracht: Faserland, S. 145. 1191 Kracht: 1979, S. 183. 1192 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 221.

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in der er die Einheit mit der friedlichen und harmonischen Natur erfährt. Dieses Einheitsgefühl kulminiert mit der Einschreibung seiner Existenz und Identität in und mit der Natur. Die Regression auf den Naturzustand – der hier stets als Gegenwelt zu dem Kulturzustand des Krieges gelesen wird – findet mit der Reise über das Meer und der Ahnung von Afrika ihren Höhepunkt. Die utopische Flucht, die sich der Erzähler in „Faserland“ erträumt, scheint hier zu gelingen; die Einheit mit der Natur sowie der persönlichen Geschichte und die Aufhebung der in der Schweiz erfahrenen Dezentrierung werden dem Erzähler auf der Überfahrt nach Afrika möglich. Die Fluchtbewegung des Erzählers aus dem urbanen Kulturraum der Schweiz in den archaischen Naturraum Afrikas wird von den Einwohnern der Städte in Afrika nachgezeichnet; sie verlassen die von den Schweizern für sie errichteten Städte und ‚verschwinden‘ in der Savanne. Dennoch scheint in dieser Bewegung – von der Stadt in die Savanne, von der Kultur zur Natur, vom Krieg zum Frieden – ein Moment der Gewalt auf, der in der Formulierung „Und die blauen Augen unserer Revolution brannten mit der notwendigen Grausamkeit.“1193 bereits angedeutet wurde. Der schweizer Architekt, der die Flucht aus den von ihm geplanten Städten erleben muss, erhängt sich an einer Laterne; seine Leiche wird von Hyänen vertilgt. Am Ende des Textes triumphiert die Natur über die Kultur und verschlingt diese; zugleich zeigt sich aber, dass dem erklärten Ziel der Reise, der utopischen Idylle, die in allen Texten Krachts als Fluchtvision aufscheint, ein Moment der Gewalt eingeschrieben ist, über das die Naturidylle rückgebunden wird an die Kriegswelt der Schweiz. Die ‚Lösung‘ der Flucht in die utopische Idylle wird bei Kracht einmal mehr in Frage gestellt. Ein Austreten aus der erzählten Welt ist – wie in „1979“ ausführlich an der Möglichkeit eines Außen oder eines Verlassens der Spirale diskutiert wird – nicht möglich. Selbst das in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ zum ersten Mal gelingende Erreichen des Fluchtortes bietet keine Lösung, sondern zerstört lediglich die mit diesem Raum verbundene idealisierende Vorstellung und offenbart, dass die erreichte Idylle keine ist, da auch dort die Welt der Gewalt und Grausamkeit zu finden ist – „Er hing ein paar Tage, dann assen Hyänen seine Füsse.“1194

1193 Ebd., S. 147. 1194 Ebd., S. 149.

Fazit und Ausblick – Referenz und Repräsentation um 1900 und um 2000 Am Anfang der Arbeit stand die Frage, wie sich sprachliche Repräsentation und Kommunikation im Bewusstsein der ‚Krise der Sprache‘ und der Erfahrung des Verlustes der Referenz noch ermöglichen lassen. Das Referenzbegehren der Moderne um 1900, von dem nicht nur die Texte von Hugo von Hofmannsthal Zeugnis geben, kann als Ausgangspunkt der Überlegungen verstanden werden: Wie kann dem ‚Zerfall‘ der Sprache – deren Wörter bekanntlich „im Munde wie modrige Pilze [zerfallen]“1195 – begegnet werden? Wie lässt sich Referenz herstellen und (sprachlich) fassen? In Hugo von Hofmannsthals „Ein Brief“ wird als möglicher Ausweg aus der ‚Krise der Sprache‘ eine ‚neue Sprache‘ vorgestellt; „eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.“1196 Eine Sprache, so muss hinzugefügt werden, die für eine gängige, alltägliche Repräsentation und Kommunikation wenig geeignet scheint und die ihr innovatives Potential erst in einer vage aufscheinenden Transzendenz entfalten kann. In Hofmannsthals „Elektra“ steht am Ende des Textes der „namenlose Tanz“1197 Elektras, mit dem das sprachlich nicht mehr zu repräsentierende Geschehen zwar in der unmittelbaren Präsenz noch ‚erfasst‘ werden kann, der aber zugleich auch die Auslöschung Elektras bewirkt. Die Verfahrensweisen mit denen die Moderne um 1900 dem Referenzbegehren zu begegnen versucht, können offensichtlich der ‚Krise der Sprache‘ und der Krise der Repräsentation nicht entgegenwirken; die sprachliche Repräsentation bleibt, wie die Beziehung von Signifikant zu Signifikat, äußerst prekär und unterliegt zunehmenden Auflösungserscheinungen. Letztlich schließt so auch der Expressionismus mit der gleichzeitigen Dekonstruktion der Sprache wie der Rekonstruktion der Laute an das skizzierte thematische Feld an und versucht, über die Ausstellung und Betonung des Klanges der Sprache ein anderes sprachliches Verfahren zu erproben, das jenseits der defizitären Repräsentation eine nicht-repräsentative und nicht-mimetische ‚Klang-Sprache‘ anbietet. Referenz

1195 Hofmannsthal: Ein Brief, S. 48 f. 1196 Ebd., S. 54. 1197 Hofmannsthal: Elektra: S. 110.

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im eigentlichen Sinne kann aber auch über die Experimente des Expressionismus nicht geleistet werden. Doch auch zur Jahrhundertwende um 1900/2000 – und hier setzt die Arbeit an – scheint das um 1900 vermehrt diskutierte Problem der ‚Krise der Sprache‘ ungelöst. An „American Psycho“ lässt sich zeigen, wie die Referenz der Signifikanten vollkommen verschwimmt und verschwindet und eine Benennung und Kommunikation unmöglich werden: I’ve forgotten who I had lunch with earlier and, even more important, where. Was it Robert Ailes at Beats? Or was it Todd Hendricks at Ursula’s, the new Philip Duncan Holmes bistro in Tribeca? Or was it Ricky Worrall and we were at December’s? Or would it have been Kevin Weber at Contra in NoHo? Did I order a partridge sandwich on brioche with green tomatoes, or a big plate of endive with clam sauce?1198

In der Arbeit wurden die spezifischen Verfahren der Literatur um 2000 zur Erzeugung von Referenz analysiert und diskutiert. Wie reagiert also die Literatur um 2000 auf die weiterhin bestehende ‚Krise der Sprache‘? Die Fragen wurden stets vor der Folie der ‚Krise der Sprache‘ um 1900, die in dem vorangestellten Kapitel „Verortung der Texte“ ausführlich erörtert wurde, behandelt. Die Linien von 1900 zu 2000, die sich in Wolfgang Welschs Behauptung, dass die Postmoderne als „die exoterische Einlösungsform der einst esoterischen Moderne des 20. Jahrhunderts zu begreifen [ist]“1199, manifestiert, wurden anhand der Analyse der Krise und der Diskussion der jeweiligen Verfahrensweisen, mit denen der Krise begegnet werden sollte, angedeutet. Eine prominente Antwort der Literatur um 2000 auf die ‚Krise der Sprache‘ und auf das Referenzbegehren der Literatur um 1900 und um 2000 ist, wie in der Arbeit gezeigt wurde, die Gewalt. In den Texten von Ellis kann die Gewalt als Reaktion auf den vollständigen Verlust der Benennbarkeit der Welt und die Unmöglichkeit der Kommunikation mit dem Anderen verstanden werden. Die Gewalt stellt den Versuch dar, Referenz und Kommunikation wieder zu ermöglichen. Der Schmerz und die Gewalt werden als das archaische und atavistische Andere erfahren, das einen Gegenpol zu den hypertrophen Sprachspielen bietet und das unmittelbare und evidente Äußerungen provoziert, die eine Kommunikation und einen Kontakt mit dem Anderen möglich machen. Zudem ist die Gewalt semiotisch zu lesen; Bateman versucht in „American Psycho“, mit dem Eindringen des Messers in den Körper 1198 Ellis: American Psycho, S. 148 f. 1199 Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 6.



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des Opfers dessen ‚Außen‘ zu durchstoßen und in Kontakt mit dem ‚Innen‘ zu gelangen. Die Gewalt soll Schmerz generieren, da mit diesem ein bedeutungstragendes Zeichen erzeugt werden kann, da der archaische Schmerzenslaut jenseits einer Signifikatverschiebung steht, die die Auflösung der Sprache bewirkt. In „Glamorama“, in dem die Gewalt nicht mehr wie in „American Psycho“ aktiv vom Erzähler ausgeübt wird, sondern als Opfer erfahren wird, zeigt sich jedoch die deutliche Kritik an dem vorgeführten Modell bzw. Verfahren der Gewalt als Kommunikation. „American Psycho“ führt die Gewalt als Versuch der Kommunikation vor, „Glamorama“ demonstriert nun das Versagen des Modells und zeigt, dass die Gewalt der Auflösung der erzählten Welt und der Identität des Erzählers Vorschub leistet und die Kommunikation mit dem Anderen nicht ermöglicht, sondern vielmehr verhindert; Referenz kann, so die These zu „Glamorama“, auch nicht mittels Gewalt erzeugt werden. Am Ende des Textes steht die ‚Verdoppelung‘ des Erzählers; mit der ‚Verdoppelung‘ des empirischen Subjekts wird das transzendentale Subjekt ausgelöscht, Figur und Referenz lösen sich auf, verschwimmen wie die Namen in „American Psycho“ und bezeichnen nichts und niemanden mehr. Die Gewalt dient in den Texten von Ellis, so ließe sich zusammenfassen, als Verfahren der Referenzerzeugung. Über die Gewalt und den Schmerz soll ein lesbares Zeichen generiert werden, in dem Signifikant und Signifikat wieder zusammenfallen. Doch auch mittels Gewalt kann das Referenzbegehren nicht gestillt werden; wie bereits angedeutet, zeigt „Glamorama“ das Scheitern des diskutieren Verfahrens auf. Bezeichnenderweise endet der Text mit einem Telefonat des Erzählers mit sich selbst beziehungsweise seinem Doppelgänger. Der Erzähler wird verdoppelt und gleichzeitig ausgelöscht: „‚Goodbye,‘ the voice says. A click. I’m disconnected.“1200 Nachdem „Glamorama“ das Scheitern des Verfahrens, mittels Gewalt Referenz zu generieren, gezeigt hat, diskutieren die 2005 und 2010 erschienen Texte „Lunar Park“1201 und „Imperial Bedrooms“1202 alternative Verfahren zur Referenzerzeugung: „Lunar Park“ erörtert das Verfahren des autobiographischen Schreibens, „Imperial Bedrooms“ versucht, über die Klassifikation des Textes als Bericht, als „accurate portrayal“1203, der auf ‚wahren‘ Begebenheiten und Figuren basiert, Referenz zu gewinnen. Doch auch diese Verfahren müssen, wie weiter unten dargelegt wird, scheitern.

1200 Ellis: Glamorama, S. 476. 1201 Ellis, Bret Easton: Lunar Park. New York 2005. 1202 Ellis, Bret Easton: Imperial Bedrooms. New York 2010. 1203 Ebd., S. 3.

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In den Texten von Christian Kracht resultiert die ‚Krise der Sprache‘ aus dem fundamentalen Zweifel des Erzählers an der Fass- und Erzählbarkeit der Welt. Das Außen wird grundsätzlich in Frage gestellt und als unsicher erfahren, sichere Aussagen über die Welt und über den Anderen lassen sich nicht mehr treffen. Diese Unsicherheit bildet sich auch performativ im Text ab: So wird das Erzählte ständig relativiert und als unzuverlässig und ungenau markiert. Das Außen wird zunehmend aus der Erzählung ausgeschlossen; der Erzähler löst sowohl seine Bindungen zu dem Anderen als auch zu sämtlichen Bezugssystemen. In der ungeplant verlaufenden Reise, die nicht mehr auf das Erreichen eines Zieles ausgerichtet ist – und die als Gegenmodell zur Subjektwerdung mittels der Reise im Bildungsroman, die stets in eine teleologische Struktur eingebettet ist, gelesen werden kann –, findet sich die Loslösung aus sämtlichen Systemen. Die ‚neue Sprache‘, die in Krachts „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ als Lösung aus der Krise der Sprache präsentiert wird, erinnert in ihrer physisch erfahrbaren Struktur, die sie von den herkömmlichen Sprachen abgrenzt, an die von Hugo von Hofmannsthal in „Ein Brief“ vorgestellte ‚neue Sprache‘ und verweist auf Krachts eher der Moderne als der Postmoderne verpflichteten Haltung. Nun, wir beginnen, das Gedachte zu sprechen und in den Raum zu stellen. Dann können wir das Gesprochene betrachten, um es herumgehen, es schliesslich bewegen. Da es vorhanden ist, können wir es bewegen. Und schlussendlich können wir es senden und empfangen. Sprache existiert nicht nur im Raum, sie ist zutiefst dinglich, sie ist ein Noumenon.1204

Die Entität der Sprache, die sich räumlich manifestiert und die im Raum bewegt werden kann, kann wiederum als Gegenbewegung zur Auflösung der Sprache verstanden werden: Referenz wird hier über die Materialität der Sprache gewonnen; die Sprache ist als ‚Ding‘ im Raum anwesend und wird eher haptisch und optisch als akustisch rezipiert. Wenngleich die Gewalt bei Kracht eine andere Ausformung erfährt als bei Ellis, so ist sie dennoch für die Texte von besonderer Bedeutung. Grundsätzlich wird die Gewalt bei Kracht sowohl aktiv ausgeübt – meist in Form von verbaler Gewalt – als auch passiv als Opfer erfahren. Die Gewalt dient zur Lösung aus den Bezugssystemen und zur Lösung aus der Bindung zu dem Anderen. So wird der Kontakt zu anderen Menschen mittels verbaler Gewalt, die sich in massiven Beleidigungen entlädt, bereits im Vorfeld der Kontaktaufnahme unterbunden. Insbesondere „1979“ diskutiert die aus der Perspektive des Opfers erlebte Form der Gewalt und führt die Lösung des Erzählers aus sämtlichen religiösen 1204 Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S. 44.



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oder weltanschaulichen Systemen vor. Am Ende des Textes steht der völlige Verlust der Identität des Erzählers, der aber mit dem Erreichen der ‚Leere‘ einen Neuanfang mit der Annahme und Formulierung eines rudimentären ethischen Systems ermöglicht. „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ schließt an diese Überlegungen an und erzählt die Flucht aus den erzählten Systemen und Welten. Der Erzähler flieht zurück zu seinem Ursprung in die archaische Naturwelt Afrikas. Das Gelingen dieser Flucht kann mit dem Aufscheinen der Gewalt in Afrika jedoch als zweifelhaft betrachtet werden; erst die vollständige ‚Entleerung‘ des Erzählers und die Aufgabe sämtlicher Systeme kann, wie in „1979“ demonstriert wird, die Etablierung eines neuen Systems ermöglichen. In den Texten von Kracht lassen sich ebenfalls Verfahren der Referenzerzeugung verorten; neben der „kulturpoetische[n] Funktion“1205 und der Archivierungsfunktion1206, die aus der paradigmatischen Struktur der Produkt- und Markennamen resultiert, wie Moritz Baßler herausgestellt hat, lassen sich in den Texten weitere Verfahren identifizieren: Im Vergleich zu den Texten von Ellis, in denen, wie erläutert, eine Krise der sprachlichen Repräsentation und Referenz diskutiert wird, wird in den Texten von Kracht eine weitaus radikalere Lesart vorgeschlagen. Die Krise erstreckt sich nun nicht mehr nur auf die sprachliche Kommunikation und Repräsentation, sondern lässt sich als umfassende Krise der erzählten Welt und der Möglichkeit der Erzählung ebendieser auffassen. Die Welt an sich wird als unsicher und nicht fassbar erlebt, der Zweifel an der sprachlichen Repräsentation folgt lediglich auf diesen fundamentalen Grundzweifel. Folglich kann als ‚Lösungsstrategie‘ ein Verfahren, das lediglich sprachliche Repräsentation wieder möglich macht, nicht genügen; in den Texten von Kracht wird die Möglichkeit diskutiert, das als unsicher erfahrene ‚Außen‘ vollkommen auszulöschen, um dann mittels einer Neuschreibung – die wiederum als Narrativ zu verstehen ist – eine nun fassbare Welt zu etablieren und zu erzählen. Neben den in der Arbeit diskutierten Aspekten der Sprache und Gewalt lassen sich in den Texten von Ellis und Kracht weitere Aspekte ausmachen, über die an virulente Debatten der Literatur(-wissenschaft) angeschlossen werden kann. Auf einen Aspekt soll abschließend noch kurz verwiesen werden: Über die Erörterung der ‚Krise der Sprache‘ rückt der Autor und die Autorschaft in den Fokus der Texte. Mit dem Aspekt Autor/Autorschaft werden zum einen Topoi der literaturwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahrzehnte aufgerufen und an die Texte 1205 Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005. 1206 Baßler: Der deutsche Pop-Roman.

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von Ellis und Kracht angebunden, zum anderen lässt sich der genannte Aspekt jedoch eng mit der Kernthematik der Arbeit, dem Referenzbegehren, verbinden. So zeigt sich, dass die Frage nach der „Rückkehr des Autors“1207 eng mit den analysierten Verfahren der Referenzerzeugung verknüpft ist. Die Frage nach der Autorschaft und nach der „Rückkehr des Autors“1208 lässt sich anhand von Bret Easton Ellis’ neuesten Texten „Lunar Park“ und „Imperial Bedrooms“ erörtern. „Lunar Park“, 2005 erschienen, beginnt wie eine Autobiographie; der Erzähler, der scheinbar dem real existierenden Autor Bret Easton Ellis entspricht, diskutiert die ersten Sätze der Bücher von Bret Easton Ellis, die er als „my novels“1209 bezeichnet. ‚You do an awfully good impression of yourself.‘ This is the first line of Lunar Park and in its brevity and simplicity it was supposed to be a return to form, an echo, of the opening line from my debut novel, Less Than Zero. ‚People are afraid to merge on freeways in Los Angeles.‘ Since then the opening sentences of my novels – no matter how artfully composed – had become overly complicated and ornate, loaded down with a heavy, useless emphasis on minutiae. My second novel, The Rules of Attraction, for example, began with this:1210

Es folgt der erste Satz aus „The Rules of Attraction“, der über 12 Zeilen geht und sich somit formal tatsächlich deutlich von dem Anfang von „Less Than Zero“ unterscheidet. Nach der Diskussion sämtlicher Buchanfänge berichtet der Erzähler über seine Karriere als Schriftsteller, die Probleme der Veröffentlichung seiner Texte und sein Privatleben – und all das entspricht genau den Fakten, die über den realen/empirischen Autor Bret Easton Ellis bekannt sind. Der autobiographische und damit ‚wahre‘ Gehalt des Texte wird stets betont: „Regardless of how horrible the events described here might seem, there‘s one thing you must remember as you hold this book in your hands: all of it really happened, every word is true.“1211 Über das autobiographische Schreiben, dessen Zeichen stets auf eine außertextliche und empirisch fassbare sowie wahre ‚Realität‘ verweisen und diese semiotisch repräsentieren – so zumindest die Behauptung –, werden 1207 Jannidis, Fotis u.a.: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. 1208 Ebd. 1209 Ellis: Lunar Park, S. 3. 1210 Ebd., S. 3. 1211 Ebd., S. 30.



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die Zeichen wieder mit einer Referenz verbunden.1212 Zudem kann das autobiographische Schreiben als ein teleologisches Erzählen begriffen werden; die Erzählung des eigenen Lebens ist immer auf einen teleologischen Fluchtpunkt ausgerichtet, etwa der Subjektwerdung oder der Eingliederung in die soziale Ordnung. Autobiographisches Erzählen impliziert also eine Sinnhaftigkeit des Erzählten, dessen Entwicklung narrativ abgeschritten wird. Das autobiographische Schreiben ist ein Schreiben bzw. Beschreiben der authentischen ‚Wahrheit‘ und der ‚wahren‘ Ereignisse – „every word is true“1213 – und kann somit als ein Verfahren verstanden werden, mit dem die als unsicher erfahrenen Zeichen wieder mit einer Referenz versehen werden können, die aufgrund ihrer Klassifikation als autobiographisch automatisch als ‚wahr‘ gelesen werden müssen. Wurde in „American Psycho“ und „Glamorama“ noch die vollständige Auflösung der sprachlichen Kommunikation und Fassbarkeit diskutiert – die Zeichen verfügten über keine Referenz –, so wird in „Lunar Park“ nun über das autobiographische Schreiben versucht, über Authentizität wieder Referenz herzustellen; gebrochen wird dieser Versuch, der dann auch scheitern muss, durch die Erkenntnis, dass es sich bei „Lunar Park“ eben doch nicht um eine Autobiographie handelt und die Zeichen somit doch nicht auf eine außertextliche und ‚wahre‘ Referenz verweisen. Nach etlichen Seiten werden die Hinweise, dass der Erzähler Ellis nicht dem Autor Ellis entspricht – womit der „autobiographische Pakt“1214 zwischen Leser und Autor überraschend aufgekündigt wird –, zunehmend deutlicher; mit der Abweichung von den biographischen Fakten brechen nun auch Elemente

1212 Dass die Behauptung, objektive ‚Realität‘ abzubilden und zu erzählen grundsätzlich nicht einzulösen ist, macht u.a. Martina Wagner-Egelhaaf deutlich. In der Behauptung des autobiographischen Schreibens geht es in den diskutierten Texten auch eher um die Behauptung eines (autobiographischen) Verfahrens, das Referenz durch den Verweis auf die Realität liefern soll, als um einen Verweis auf tatsächliche empirische ‚Wahrheit‘. Zum Verhältnis von ‚Wirklichkeit‘ und subjektiven Erzähler: „Ihr Anspruch auf die sog. ‚Wirklichkeit‘ macht die Autobiographie zu einem referenziellen Text. Auf der anderen Seite ist offenkundig, dass die Autobiographie diesen Anspruch nicht einlösen kann. Der objektiven Berichterstattung steht die subjektive Autorposition gegenüber: Es liegt auf der Hand, dass niemand in der Lage ist, die subjektive Wahrnehmungsperspektive hinter sich zu lassen.“ Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. Stuttgart 2000, S. 2. 1213 Ellis: Lunar Park, S. 30. 1214 Der Begriff geht auf Philippe Lejeune zurück und meint die Übereinkunft zwischen Leser und Autor, dass der Ich-Erzähler im Text dem (empirischen) Autor entspricht. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt am Main 1994.

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Fazit und Ausblick

des phantastisch-übersinnlichen in den Text ein.1215 Durch die Auflösung der Einheit von (erzählter) Fiktion und (autobiographischer) Realität und mit der Realisation der Differenz zwischen Erzähler und Autor sowie zwischen Text und Welt rückt der Autor gerade durch die sich auftuende Differenz in den Fokus des Rezipienten. In der Differenz, die sich durch den Abgleich des empirischen Autors Ellis mit dem Erzähler Ellis auftut, in den Irritationen, wenn der Leser schließlich realisiert, dass er doch keine Autobiographie vor sich hat, erfährt der für ‚tot‘ erklärte Autor eine fulminante Rückkehr. In Anlehnung an Foucaults Aufsatz „Was ist ein Autor?“ stellt sich bei der Lektüre der poetologischen Überlegungen zur Form der Textanfänge und zur Biographie des Erzählers/Autors – deren Einheit hier behauptet wird – die Frage: ‚Wer spricht hier eigentlich?‘ Hier scheint der Autor kaum noch als diskursive Instanz zu verstehen zu sein; vielmehr behauptet sich der Autor in der scheinbaren Einheit und in der Differenz von Erzähler und Autor nachdrücklich im Text. Zugleich stellt sich die Frage, mit welcher Intention hier so nachdrücklich gesprochen wird. Autorintentionalistisch ließe sich die Rückkehr des Autors durch das vermeintlich autobiographische Schreiben als Versuch des empirischen Autors Bret Easton Ellis lesen, sich selbst wieder in den Diskurs über seine Texte einzuschreiben. Zugleich lässt sich, wie angedeutet, das autobiographische Schreiben als Verfahren verstehen, mit dem die Zeichen wieder mit Referenz versehen werden können. Somit kann das autobiographische Schreiben als strukturell analoges Verfahren zu dem Verfahren, mittels Gewalt performativ Referenz, ein bedeutungstragendes Zeichen, zu erzeugen, verstanden werden; die Unmöglichkeit des Verfahrens, mittels Gewalt Referenz zu erzeugen, konnte anhand von Ellis’ Text „Glamorama“ gezeigt werden. Das vermeintlich autobiographische Schreiben nimmt nun den Versuch der Referenzerzeugung wieder auf und muss schließlich ebenfalls scheitern. Auch in Ellis’ neuestem Text „Imperial Bedrooms“ wird das Spiel mit Intertextualität und außertextlicher Realität wieder aufgemacht: Clay, der Erzähler aus „Less Than Zero“ berichtet zu Beginn des Textes von der Verfilmung eines Buches, das „someone“1216 über sie geschrieben hat. „They had made a movie about us. The movie was based on a book written by someone we knew. The book was a simple thing about four weeks in the city we grew up in and for 1215 Ein deutliches Zeichen für zunehmende Diskrepanz zwischen der fiktionalen Welt des Erzählers und der realen Welt des empirischen Autors ist der Hinweis auf die Ehefrau des Erzähler, Jayne Dennis, die offensichtlich eine fiktionale Figur ist – dennoch, oder gerade deshalb, existiert für Jayne Dennis, die als Schauspielerin in den Text eingeführt wird, eine Internetfanseite (http://www.jayne-dennis.com/). 1216 Ellis: Imperial Bedrooms, S. 3.



Referenz und Repräsentation

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the most parts was an accurate portrayal.“1217 Der ‚wahre‘ Gehalt des dem Film zugrundeliegenden ‚Berichtes‘ wird betont: „It was labeled fiction but only a few details had been altered and our names weren’t changed and there was nothing in it that hadn’t happened.“1218 Wurde in „American Psycho“ ausgiebig die Unmöglichkeit der Benennung der Figuren erörtert, das ‚Fließen‘ und ‚Gleiten‘ der Namen, die keine singuläre Figur mehr bezeichnen, sondern losgelöst von der Figur frei kombinierbar geworden sind – und so als radikalste Ausformung des Verlustes der Referenz und des Scheiterns der (sprachlichen) Repräsentation gelesen werden müssen –, verweisen die Namen in „Imperial Bedrooms“ nun sowohl auf eine feste fiktionale Figur im Text als auch auf eine empirische ‚reale‘ Person außerhalb des Textes – so zumindest die Behauptung im Text. Über die ‚realen‘ Personen und über die Charakterisierung des Textes als „accurate portrayal“1219 wird versucht, eine Referenz wiederherzustellen. Der Verweis auf die empirische außertextliche Realität dient wiederum als Validierungsstrategie, mit der dem Referenzbegehren begegnet werden kann. Bei Christian Kracht lässt sich die ‚Rückkehr des Autors‘ – die bei Kracht auch immer gleichzeitig ein Verschwinden des Autors ist1220 – in den Autorenlesungen, die als Inszenierung und Ausstellung von Autor und Autorschaft gelesen werden können, beobachten. Der Autor kehrt nun in der Person des empirischen Autors Christian Kracht scheinbar zurück und stellt sich als Person/Autor/Kunstfigur auf der Bühne aus; die Inszenierungsstrategie von Kracht weist also mit der Abkehr von der Vorstellung des Autors als diskursive Instanz eine Strukturanalogie zu der Inszenierung von Autorschaft in den Texten von Ellis auf. Wenngleich der Autor Christian Kracht in seiner Ausstellung nun nicht mehr als ‚tot‘ verstanden werden kann, so muss dennoch festgehalten werden, dass die inszenierte Autorfigur auf der Bühne der Lesung nicht der empirischen und ‚realen‘ Person Christian Kracht entspricht, sondern als stilisierte Kunstfigur gelesen werden muss. Zudem verweist die inszenierte Autorfigur nicht auf eine stabile Identität/ Figur, sondern offenbart sich in den divergenten Inszenierungen als polyphone und polysemische Identitätskonstruktion. In den Texten und in der Selbstinszenierung „findet bei Kracht […] die Realität (wieder) Einzug in die Fiktion, aber in gleichem Maße wird auch die Wirklichkeit als ein Spiel mit Fiktionen 1217 Ebd., S. 3. 1218 Ebd., S. 3. 1219 Ebd., S. 3. 1220 Vergl. u.a.: Glawion und Nover: Das leere Zentrum, S. 101–120. Schumacher, Eckhard: Omnipräsentes Verschwinden. Christian Kracht im Netz. In: Christian Kracht. Hrsg. v. Johannes Birgfeld und Claude D. Conter. Köln 2009, S. 187– 203.

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Fazit und Ausblick

begriffen.“1221 Die Texte, die Romanfiguren und die inszenierten Autoridentitäten bedingen sich wechselseitig; über die sich ausstellende Figur auf der Bühne lassen sich somit keine Rückschlüsse auf den ‚wahren‘ empirischen Autor ziehen. Der lesende Autor muss als Performance verstanden werden und ist somit Teil des Diskurses; der Unterschied zu den Texten von Kracht liegt lediglich in der anderen medialen Ausformung des Diskurses. Doch auch wenn sich bei Kracht nicht mehr ein ‚wahrer‘ Autor inszeniert, so steht dennoch eine Autorfigur auf der Bühne, die sich sicher nicht auf die diskursive Instanz von Autorschaft reduzieren lässt. Kracht lässt hier also eine Figur auftreten, in der – ironisch gebrochen und polysemisch inszeniert – der Autor und die Frage nach der Autorschaft performativ nochmal in Erscheinung treten. Sowohl das vermeintliche autobiographische Schreiben als auch die Inszenierung und Ausstellung von Autorschaft und Autorfiguren können, wie gezeigt wurde, als Verfahren der Referenzerzeugung gelesen werden und somit zu dem in der Arbeit untersuchten Verfahren der Referenzerzeugung durch Gewalt in Beziehung gesetzt werden. Beide Strategien scheitern jedoch und können keine sprachliche Repräsentation mehr gewährleisten. Das Referenzbegehren kann weder durch das auf vermeintliche, außertextliche ‚Wahrheiten‘ verweisende autobiographische Schreiben noch durch die scheinbar den ‚wahren‘ Autor ausstellenden Autorinszenierungen befriedigt werden. Mit einer ‚Lösung‘ des Problems kann also auch die Literatur der Postmoderne nicht aufwarten: Die in der Arbeit diskutierten Verfahren, mit denen dem Referenzbegehren begegnet werden soll, können keine alternativen Repräsentationsmöglichkeiten eröffnen, um aus der ‚Krise der Sprache‘, die sich als Krise des sprachlichen Zeichens und als Krise der sprachlichen Repräsentation verstehen lässt, hinauszuführen. Die bereits um 1900 virulent diskutierte Frage, wie sich eine Repräsentation einer außertextlichen Referenz noch gestalten lässt, wird die Literatur somit vermutlich weiterhin beschäftigen.

1221 Huber, Till: Ausweitung der Kunstzone. Ingo Niermanns und Christian Krachts ‚DocuFiction‘. In: Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Hrsg. v. Alexandra Tacke und Björn Weyand. Köln, Weimar und Wien 2009, S. 218–233, hier S. 225f.

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Personenregister

A Abramović, Marina 150, 160, 168 Agamben, Giorgio 11, 12, 21, 190, 218, 240, 259, 260, 261, 265, 266, 282, 284, 299 Arendt, Hannah 251, 299 Artaud, Antonin 17, 171 Auster, Paul 178, 297 B Bahr, Hermann 34, 35, 299 Barbey d’Aurevilly, Jules A. 22, 24, 25, 299 Barthes, Roland 10, 11, 40, 160, 207, 214, 229, 299 Baßler, Moritz 22, 25, 26, 32, 47, 184, 186, 187, 291, 299 Baudelaire, Charles 18, 21, 25, 26, 45, 297 Baudrillard, Jean 12, 21, 23, 48, 55, 70, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 84, 85, 86, 87, 95, 108, 109, 111, 115, 116, 117, 122, 128, 140, 157, 160, 162, 165, 169, 172, 190, 300 Beach Boys 121 Beigbeder, Frédéric 16, 297 Benjamin, Walter 185 Bessing, Joachim 26, 206, 207, 208, 209, 214, 215, 216, 224, 255, 264, 270, 280, 299, 300 Beuse, Stefan 184, 185, 188, 204, 300 Biendarra, Anke S. 185, 204, 300 Birgfeld, Johannes 213, 300 Blazer, Alex E. 79, 80, 300 Bohrer, Karl Heinz 24, 300 Borchardt, Rudolf 48 Bordo, Susan 144, 300 Borgstedt, Thomas 184, 186, 187, 300 Brandstetter, Gabriele 43, 132, 300 Breger, Claudia 184, 189, 191, 263, 264, 300 Brinkmann, Rolf Dieter 33 Brittnacher, Hans Richard 42, 48, 49, 51, 53, 55, 274, 300

Bruce, Tammy 63, 122, 300 Brummell, Beau 24, 26, 299 Brusseau, James 78, 80, 300 Büchner, Georg 158, 159, 280, 297 Buscall, Jon 71, 301 Busonik, Stephen 84, 301 Butler, Judith 20, 48, 299, 301 C Castells, Manuel 85, 301 Caveney, Graham 60, 63, 71, 300, 306 Clarke, Jaime 66, 163, 301 Cosmo, Claudia 192, 196, 221, 226, 301 Costello, Elvis 106, 297 D D’Annunzio, Gabriele 48 Dante Alighieri 83, 108, 145 Deleuze, Gilles 85, 86, 120, 128, 301, 304 DeLillo, Don 12, 13, 297 Derrida, Jaques 12, 17, 21, 40, 44, 115, 116, 118, 125, 132, 156, 159, 160, 243, 244, 245, 283, 301, 303 Drügh, Heinz 22, 184, 190, 191, 263, 264, 301 E Eco, Umberto 264, 301 Ellis, Bret Easton 5, 9, 12, 17, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 30, 31, 33, 34, 37, 38, 39, 44, 46, 47, 48, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 59, 60, 61, 62, 63, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 77, 78, 80, 81, 82, 83, 84, 88, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 129, 131, 132, 133, 136, 139, 140, 143, 144, 145, 146, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 173,

308

Personenregister

174, 175, 176, 180, 195, 196, 202, 203, 204, 246, 281, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295, 297, 301, 302, 303, 304 Erbe, Günther 25, 301 Eysoldt, Gertrud 42 F Fiedler, Leslie A. 61, 108, 301 Fincher, David 15, 48, 67 Fischer-Lichte, Erika 132, 150, 301 Flaubert, Gustave 48 Flex, Walter 273 Flory, Alexander 72, 73, 81, 82, 84, 89, 92, 124, 301 Foucault, Michel 11, 13, 20, 21, 275, 294, 301 Freese, Peter 68, 69, 70, 73, 74, 96, 99, 104, 139, 143, 302 Freud, Sigmund 35, 105, 135, 156, 251, 266, 302 Freund, Wieland 184, 302 Freund, Winfried 184, 302 G Genesis 152, 153 George, Stefan 18, 24, 26, 28, 48, 194, 299 Geulen, Eva 186, 302 Girard, René 49, 302 Glawion, Sven 206, 208, 264, 266, 295, 302 Gnüg, Hiltrud 25, 302 Goethe, Johann Wolfgang von 11, 36, 235, 297, 305 Goetz, Rainald 16, 17, 297, 305 Grimshaw, Mike 86, 302 Grundmann, Melanie 25, 302 Guattari, Félix 85, 86, 120, 301, 304 Gumbrecht, Hans Ulrich 10, 302 H Hart Nibbrig, Christiaan L. 131, 132, 302 Heise, Jens 207, 229, 237, 304 Heym, Georg 45, 297 Hofmannsthal, Hugo von 9, 10, 13, 14, 18, 19, 20, 22, 27, 28, 29, 30, 31, 34, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45,

47, 48, 50, 55, 56, 57, 178, 194, 238, 287, 290, 297, 298, 303 Houellebecq, Michel 16, 67, 186, 187, 298, 300 Houston, Whitney 152 Hüetlin, Thomas 37, 180, 187, 246, 302 Huey Lewis and the News 152 Human League 222, 298 Huxley, Aldous 194, 298 Huysmans, Joris-Karl 27, 31, 77, 191, 255, 298 I Illies, Florian 178, 179, 298 J Jannidis, Fotis 10, 11, 292, 299, 302 Janowitz, Tama 94, 298 Jünger, Ernst 24, 183, 194, 273, 300 K Kacianka, Reinhard 39, 302 Kafitz, Dieter 36, 303 Kakutani, Michiko 62, 66, 67, 303 Kimmerle, Heinz 116, 303 Kracht, Christian 6, 9, 12, 14, 15, 19, 20, 21, 23, 24, 26, 30, 32, 33, 34, 37, 38, 39, 44, 46, 47, 52, 54, 55, 56, 57, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 211, 212, 213, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 224, 225, 226, 228, 229, 230, 231, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 240, 245, 246, 247, 249, 251, 252, 255, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 279, 281, 282, 283, 284, 285, 286, 290, 291, 292, 295, 296, 298, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 305, 306 Kristeva, Julia 108, 303 L LaFleur, William R. 229, 303 Langston, Richard 190, 303



Personenregister

Lejeune, Philippe 293, 303 Leopardi, Giacomo 118, 298 Leypoldt, Günter 63, 77, 78, 136, 303 List, Elisabeth 17, 18, 203, 204, 303 Lorenz, Konrad 36, 41, 81, 82, 303 Lynch, David 12 Lyotard, Jean-Francois 12, 37, 57, 303 M Mach, Ernst 34, 35, 303 Mailer, Norman 64, 303 Mandel, Naomi 76, 88, 303, 304 Mann, Thomas 18, 25, 46, 298 Matthäus 52, 298 Mauthner, Fritz 39, 40, 43, 303 Mayer, Mathias 29, 303 McGinnis, Joe 61 McInerney, Jay 60, 61, 71, 94, 299 Mendes, Sam 67 Mertens, Mathias 204, 303 Modern Talking 198 Moser, Christian 157, 188, 304, 305 Mürmel, Heinz 224, 304 N Nancy, Jean-Luc 10, 304 Nickel, Eckhart 26, 47, 196, 208, 298, 299 Nielsen, Henrik Skov 88, 89, 121, 129, 304 Nietzsche, Friedrich 34, 35, 60, 161, 304 Nover, Immanuel 16, 97, 203, 206, 208, 264, 266, 295, 302, 304 O Oasis 120, 299 Orwell, George 299 P Palahniuk, Chuck 15, 48, 299 Pérez-Torres, Rafael 70, 73, 82, 96, 104, 304 Pisters, Patricia 85, 304 Plato 244 Poole, Ralph J. 156, 304 Pörtner, Peter 207, 229, 237, 304 Powers, John 61, 304

309

Pynchon, Thomas 12, 13, 69, 299 R Reemtsma, Jan Philipp 53, 304 Reents, Edo 238, 304 Rilke, Rainer Maria 43, 48, 298 Rosenblatt, Roger 63, 304 Roth, Eli 15, 299 S Sahlin, Nicki 73, 100, 305 Saussure, Ferdinand de 98, 156 Schneider, Helmut J. 188, 305 Schneider, Sabine 15, 45, 297, 305 Schnitzler, Arthur 22, 27, 28, 30, 31, 34, 35, 36, 41, 45, 299, 304 Scholz, Leander 184, 189, 190, 223, 228, 258, 268, 305 Schönburg, Alexander von 26, 45, 46, 299 Schumacher, Eckhard 295, 305 Snyder, Richard E. 63 Sontag, Susan 22, 135, 144, 191, 305 Steur, Horst 61, 62, 72, 73, 74, 99, 106, 138, 305 Stuckrad-Barre, Benjamin von 23, 26, 33, 186, 204, 299, 303, 304 T Tacke, Alexandra 22, 25, 305 Tanizaki, Junichiro 208, 209 U U2 165, 299 V Villiger, Christian 15, 305 W Wagner-Egelhaaf, Martina 293, 305 Weidermann, Volker 238, 304 Weinreich, Martin 80, 117, 305 Welsch, Wolfgang 22, 23, 57, 61, 288, 301, 305 Wetzel, Michael 11, 305 Weyand, Björn 22, 25, 305

310

Personenregister

Wilde, Oscar 18, 21, 22, 26, 27, 31, 45, 48, 299 Winkels, Hubert 17, 63, 77, 113, 156, 157, 159, 305 Wirth, Uwe 11, 305 Wittgenstein, Ludwig 41 Wolfe, Tom 94, 299 Woods, Angela 86, 87, 306 Wunberg, Gotthart 34, 35, 299, 306

Y Yeats, William Butler 60, 299 Young, Elizabeth 60, 61, 62, 63, 65, 71, 72, 75, 76, 83, 91, 92, 94, 96, 97, 103, 107, 110, 112, 117, 138, 143, 146, 150, 153, 300, 303, 306 Z Zima, Peter V. 39, 302

ULRIKE HANSTEIN, ANIKA HÖPPNER, JANA MANGOLD (HG.)

RE-ANIMATIONEN SZENEN DES AUF- UND ABLEBENS IN KUNST, LITERATUR UND GESCHICHTSSCHREIBUNG

Re-Animationen sind Prozesse der Wiederherstellung von Dingen, Verfahren und Wissensordnungen. Re-Animationen setzen erloschene Funktionen und vergangene Zustände wieder in Gang. Sie überführen Vergangenes in neue Anordnungen durch Verfahren der vergegenwärtigenden Wiederaufnahme. Die Beiträge des Sammelbands stellen Szenen der Re-Animation vor, in denen das Verhältnis zwischen medialen Strategien des Rückbezugs und Vorstellungen der Belebung ausgehandelt wird. 2012. 383 S. 44 S/W-ABB. BR. 155 X 230 MM. | ISBN 978-3-412-20916-2

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