Null, Nichts und Negation: Becketts No-Thing [1. Aufl.] 9783839427040

A book about literary negations, absences, or non-existence as basic figures in the work of Samuel Beckett.

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German Pages 252 Year 2016

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Null, Nichts und Negation: Becketts No-Thing [1. Aufl.]
 9783839427040

Table of contents :
Inhalt
Null, Nichts und Negation. Becketts No-Thing. Vorwort
AUSSAGEN UND ÄUSSERUNGEN
»So much for the nothingness«. Null und Nichts in Samuel Becketts Texten um Watt
Spuren der Zeit. Zur Medialität der Unterbrechungen in Samuel Becketts Happy Days
»[A] thing that was nothing had happened« Hamlets (Un-)Dinge in Samuel Becketts Watt
EIN KLEINES THEATER
Antiprothetik. Samuel Becketts Depotenzierungsmaschinen
Samuel Becketts Reduktion des Welttheaters im Endspiel
Black Box spielen. Zum Endspiel als Innenraum ohne Möbel
DIE ENTSTEHUNG DES NEUEN
»Etwas oder Nichts«. Beckett und die Materie der Sprache
Conceptio electro-magnetica. Über das Radio bei Schwitters, Artaud und Beckett
Erschöpfte Literatur. Über das Neue bei Samuel Beckett
Autorinnen und Autoren

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Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation

Lettre

Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.)

Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ruhr-Universität Bochum sowie des DFG-Graduiertenkollegs »Mediale Historiographien« der Bauhaus-Universität Weimar, der Universität Erfurt und der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Samuel Beckett, Watt-Notebook, Manuskript S.69, (Roussillon/Paris, 1941), Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, The Estate of Samuel Beckett. Excerpts from Samuel Beckett’s unpublished WATT Notebook (no. 1); Typescript and Illustrations reproduced by kind permission of the Estate of Samuel Beckett © Rosica Colin Limited, London. Lektorat & Satz: Kaja Ruhwedel Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2704-6 PDF-ISBN 978-3-8394-2704-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Null, Nichts und Negation. Becketts No-Thing Vorwort

Karin Kröger, Armin Schäfer | 7

AUSSAGEN UND ÄUSSERUNGEN »So much for the nothingness« Null und Nichts in Samuel Becketts Texten um Watt

Karin Kröger | 23 Spuren der Zeit Zur Medialität der Unterbrechungen in Samuel Becketts Happy Days

Peter Schuck | 47 »[A] thing that was nothing had happened« Hamlets (Un-)Dinge in Samuel Becketts Watt

Katrin Trüstedt | 75

EIN KLEINES THEATER Antiprothetik Samuel Becketts Depotenzierungsmaschinen

Karin Harrasser | 97 Samuel Becketts Reduktion des Welttheaters im Endspiel

Martin Jörg Schäfer | 117 Black Box spielen Zum Endspiel als Innenraum ohne Möbel

Friederike Thielmann | 143

DIE ENTSTEHUNG DES NEUEN »Etwas oder Nichts« Beckett und die Materie der Sprache

Laura Salisbury | 161 Conceptio electro-magnetica Über das Radio bei Schwitters, Artaud und Beckett

Wolf Kittler | 187 Erschöpfte Literatur Über das Neue bei Samuel Beckett

Armin Schäfer | 225

Autorinnen und Autoren | 247

Null, Nichts und Negation. Becketts No-Thing Vorwort K ARIN K RÖGER , A RMIN S CHÄFER

Samuel Beckett hat in frühen Entwürfen zu seinem Roman Watt ein Kapitel verfasst, das den Titel »The Nothingness« trägt. »The feeling of nothingness«, heißt es dort, sei nicht »at one and the same time, one thing and all things«, sondern »no thing«. Das »no thing« stehe »in the midst of some thing and this at all times«.1 Die auseinandergeschriebenen Wörter no und thing verwirklichen, was sie denotieren: In der schriftbildlichen Lücke steht buchstäblich nichts. Diese Notiz Becketts ist so etwas wie ein Nukleus der Frage, der der vorliegende Band gewidmet ist: Welche Rollen und Funktionen haben Null, Nichts und Negation in Becketts Texten? Das Wort no und die Lücke sind, genauso wie der Ausdruck »no thing«, Beispiele für »No-Things«. »No-Thing« dient im Folgenden als Sammelbezeichnung für sprachliche und schriftliche Ausdrücke und Operationen, die das semantische Feld von Null und Nichts, Leere und Abwesenheit in Becketts Texten und Stücken aufspannen. Ausgangspunkt des Bandes ist die Überlegung, dass angesichts von Null, Nichts und Negation die Unterscheidungen zwischen materiellem Zeichenträger und Zeichen, Zeichen und Metazeichen, Sinn und Unsinn problematisch werden: Null, Nichts und Negation bezeichnen gleichzeitig Anwesenheit, Abwesenheit und die Durchstreichung von Etwas. Die Null fungiert als Punkt oder als Grenze von kombinatorischen und permutativen Operationen, wie sie in den Romanen Watt und Molloy durchgespielt werden. Im Stück Fin de partie ist die Null ein Punktestand und eine Ziffer auf einer Skala, aber auch der Ausgangspunkt einer 1

Zitate aus Samuel Becketts unpubliziertem Watt-Notebook (no. 1), Typescript and Illustrations, mit freundlicher Genehmigung des Estate of Samuel Beckett, c/o Rosica Colin Limited, London.

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kreisenden Bewegung, die ihr die Unendlichkeit und das Infinitesimale zur Seite stellt. Das Nichts tritt prominent im Titel der Texte um Nichts, Texts for Nothing und Textes pour Rien auf und provoziert die Frage, was es überhaupt bezeichnet, wie es eingekreist und wie sich ihm angenähert wird. Die Negation ist bei Beckett eine Operation, die explizit als Verneinung, aber auch als Durchstreichung und Unterbrechung, als Stornierung und Aufschub auftritt und weitere Spielarten von Null und Nichts hervorbringt. Wenn Beckett das Nichts thematisch werden lässt, ist die Frage gestellt, ob der Sinn, der produziert wird, nicht eher ein (witziger) Unsinn ist. Seine Annäherung an das Abwesende und das Nichts resultiert nicht zuletzt aus dem Wortspiel oder pun, das in den sprachlichen Ausdrücken mehrere Lesarten freisetzt und ihnen zusätzliche Bedeutung verleiht: »What but an imperfect sense of humour could have made such a mess of chaos. In the beginning was the pun. And so on.«2 In den letzten Jahren hat die Forschung das Augenmerk auf Formulierungen und handfeste Spuren gelenkt, die eine Historisierung von Becketts Texten nahelegen und nicht von einer Diskussion der Semantik des Nichts abzulösen sind.3 Jedenfalls hat die Semantik des Nichts bei Beckett keinen absoluten oder transzendenten Ursprung, sondern besitzt eine kontingente, lokale oder regionale Verfasstheit. Das Nichts ist zunächst auf einer schriftbildlichen Ebene anzutreffen, die ein Verhältnis von Figur und Grund inszeniert. Die Lücke im Schriftbild zwischen den Wörtern ist eine Bedingung für das alphabetische Schreiben und die Erzeugung eines sprachlichen Sinns. Indem das Nichts auf die Ebenen des Sprachzeichens und der Semantik wechselt, setzt es ein Spiel mit der Bezeichnung von Abwesendem, der Verneinung und der Evokation von Nichts in Gang, in das Schriftzeichen und Wörter, Figuren und Dinge, Operationen und Bedeutungen hineingezogen werden. Brian Rotman hat die heuristische Unterscheidung von Null und Nichts analysiert: Das mathematische Zeichen »0«, »das in der Lage ist, Abwesenheit zu bezeichnen«,4 steigt mit seiner Einführung in den alphanumerischen Code in den Rang eines Metazeichens auf. Hingegen ist »der Begriff vom Nichts – der leere Raum, die Leere, das, was kein Dasein hat, das Nichtexistente, das, was nicht ist«, eine »reiche und unmittelbare Quelle paradoxaler Gedankengänge«.5 Was in historischer und systematischer Perspektive als Metazeichen und Begriff unterschieden werden kann, gewinnt in 2

Samuel Beckett, Murphy, Montreuil, London: Calder Publications, 1993, S. 41.

3

Siehe Pierre Temkine u.a., Warten auf Godot. Das Absurde und die Geschichte, hrsg.

4

Brian Rotman, Die Null und das Nichts. Eine Semiotik des Nullpunkts, Berlin: Kultur-

5

Ebd., S. 98.

von Denis Thouard und Tim Trzaskalik, Berlin: Matthes & Seitz, 2008. verlag Kadmos, 2000, S. 97.

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Becketts Texten eine unabsehbare Dynamik und lässt wiederum Ausdrücke und Operationen, Bezeichnung und Bezeichnetes, Sinn und Unsinn ineinander übergehen. Auch wenn das Zeichen der Null (»0«) ein Metazeichen ist, ist dessen Status keineswegs geklärt. Die Null steht ebenso wie andere Zeichen oder Zeichenkombinationen in einem vieldeutigen Signifikationsverhältnis zum Nichts. Was leisten also Wörter wie zero, Nichts und nothing? Welchen Stellenwert haben sie im Becketts Texten? Und welche Konzepte werden durch sie ausgedrückt? Hélène Cixous hat in Le Voisin de zéro gezeigt, dass »zéro« bzw. die Null in einem Intervall liegt: »Il n’y pas un voisin. Il y a un voisinage. Au voisinage de zéro il y a une infinité de voisins. Si tu te places entre – 0,02 et 0,0002, tu as du monde, dit le mathématicien. [...] Le voisin de Zéro tends vers Zéro, il n’y arrive jamais. Il reste toujours un petit quelque chose, precious little. Un petit quelque chose c’est pas rien, c’est un petit rien, c’est jamais rien, on se rapproche, le Voisin va chez Zéro, l’ensemble vide.«6

Jede Textbewegung, die sich auf einen Nullpunkt zubewegt oder dem Nichts nähert, wird so zur Asymptote: »le voisinage de zéro«.7 Das ›kleine Etwas‹ und das ›kleine Nichts‹ werden entleert oder erzeugen zusammen eine Leere, die Cixous mit einer spezifischen Funktion der Stimme (voix) in Becketts Prosa- und Theatertexten verbindet: Auch wenn in der mündlichen Rede des Alltags die Stimme auf selbstverständliche Weise die Einheit, Personalität und Subjektivität der Produktionsinstanz einer Äußerung anzeigt, verstehen sich Einheit, Personalität und Subjektivität der Produktionsinstanz weder in Becketts Prosa noch in seinen Stücken von selbst: Was die Rhetorik als Prosopopoiia fasst, nährt zwar die Illusion, dass tatsächlich ein Mensch, dem ein Gesicht verliehen werden könne, spreche.8 Dennoch ist die Stimme dem, wovon gesprochen wird, nicht

6

Hélène Cixous, Le Voisin de zéro. Sam Beckett, Paris: Galilée, 2007, S. 20.

7

Der Ausdruck »le voisinage de zéro« steht am Schluss von Becketts Prosastück Le Dépeupleur (1970), in dem »zéro« als Nullpunkt auf dem Thermometer bestimmt wird; in der englischen Fassung The Lost Ones heißt es: »the temperature comes to rest not far from freezing point«. Samuel Beckett, Le Dépeupleur, Paris: Les Édtions de Minuit, 1998, S. 55; ders., »The Lost Ones«, in: ders., Texts for Nothing and Other Shorter Prose, 1950-1976, hrsg. von Mark Nixon, London: Faber & Faber, 2010, S. 99-120, hier S. 120.

8

Paul de Man, »Autobiographie als Maskenspiel«, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. von Christoph Menke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993, S. 131-146;

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vorgängig. So konstituieren die Äußerungen des sprechenden Munds der Schauspielerin bzw. der weiblichen Stimme in Not I ein Subjekt, das nicht »ich« sagt oder sagen kann, in sich zerspalten ist – und in dessen Verlautbarung eine stattgehabte Vergewaltigung zu entziffern ist. Durch die Verneinung der Wörter, Dinge und Stimmen gewinnen diese in den Texten zuallererst ihre Präsenz. Das Wort not wird zum Operator, der die sprachlichen Ausdrücke in »No-Things« verwandelt. Und diese sprachlichen Operationen können nicht eingekapselt oder durch eine logische Zergliederung der Ausdrücke gebändigt werden. Einerseits lassen sie die Materialität der Sprache – Schriftbild und Sprachklang – in den literarischen Text aufsteigen. So heißt in Watt eine zentrale Figur Mr. Knott, die sich im phonetischen pun stets selbst verknotet und verneint. Andererseits ist die Operationalität der Verneinung nicht von rhetorischen Techniken und literarischen Verfahren abzulösen, wie etwa ein anderes Beispiel aus Watt, in dem die Figur Arsene aufzählt, was sie alles bedauert, demonstriert: »Personally of course I regret everything. Not a word, not a deed, not a grief, not a joy, not a girl, not a boy, not a doubt, not a trust, not a scorn, not a lust, not a hope, not a fear, not a smile, not a tear, not a name, not a face, no time, no place, that I do not regret, exceedingly.«9 Die Negation wird mittels der anaphorischen Wiederholung durch Rhythmus und Reim zu einem poetischen Operator, der »No-Things« produziert. In der Negation wird erzählbar, was nicht oder nicht mehr zu erzählen ist. Es sind nicht allein einzelne Wörter und Ausdrücke, die solche »No-Things« konstituieren, sondern auch Prozesse wie das Warten auf einen Godot, der nicht kommt, das Scheitern von Erklärungs-, Erzählungs- und Handlungsversuchen oder das schiere Verstreichen der Zeit, die in die Kategorie der »No-Things« gehören. Worstward ho schließt die Konstitution dieser Kategorie unmittelbar mit der Heterografie, also dem Spiel mit den multiplen Verhältnissen von Schrift und gesprochener Sprache zusammen. In dem Prosastück, das in unterschiedlich lange Absätze oder Strophen unterteilt ist, sind die Sätze auf ein »[m]ere-most minimum« reduziert, die zumeist durch Punkte und nur gelegentlich durch Fragezeichen und Gedankenstriche getrennt sind. Es verhandelt das Nichtkönnen und Nichtwissen.10 Beginnend mit dem Wort »on«11, einem Palindrom von »no«, erprobt es in unzähligen Spiralbewegungen unterschiedliche phonetische und grafische bzw. schriftliche Ausdrücke für Null, Nichts und Negation. Die LeitBettine Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München: Wilhelm Fink, 2000, S. 137-216. 9

Samuel Beckett, Watt, London: Faber & Faber, 2009, S. 38.

10 Ders., Worstward ho, New York: John Calder, 1983. 11 Ebd. S. 7.

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frage des Texts ist »[h]ow try fail?«, und die Antworten auf das gelingende Misslingen sind sich selbst immer wieder verschlechternde und verbessernde Definitionen wie »[t]he void unchanging«12 oder »[b]lanks for when words gone«13. Dennoch scheitert auch das Misslingen. »Unknow better now«14 ist der Befehl für das Ergebnis, das am Ende reichen muss: »Enough. Sudden enough. Sudden all far. No move and sudden all far. All least. Three pins. One pinhole. In dimmost dim. Vasts apart. At bounds of boundless void. Whence no farther. Best worse no farther. Nohow less. Nohow worse. Nohow naught. Nohow on.«15 Die kakophonische Ansammlung von Konstruktionen und Wörtern in Worstward ho demonstriert nicht zuletzt die Widerständigkeit des sprachlichen Materials. Es kann noch so viel reduziert, durchgestrichen und negiert werden. Etwas – und sei es eben ein »No-Thing« – bleibt immer übrig: »Unnullable«.16 Die Rollen und Funktionen der »No-Things«, von Null, Nichts und Negation bei Beckett werden in den Beiträgen des vorliegenden Bandes im Wesentlichen unter drei Aspekten analysiert. Der erste Aspekt zielt auf eine Unterscheidung von Äußerungen und Aussagen bzw. Propositionen, welche die Texte implizit selbst treffen. Der zweite Aspekt betrifft, was man mit Gilles Deleuze ein »kleines Theater« nennen könnte.17 Der dritte Aspekt ist der Frage gewidmet, wie aus einer Bewegung auf einen Nullpunkt zu oder auf das Nichts hin etwas Neues entstehen kann.

A USSAGEN

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Ä USSERUNGEN

Die ältere Forschung hat Becketts Texte vielfach als eine Ansammlung von Aussagen bzw. Propositionen gelesen, die mit den Mitteln der logisch-

12 Ebd. S. 17. 13 Ebd. S. 41. 14 Ebd. S. 11. 15 Ebd. S. 47. 16 Ebd. S. 32. 17 Zum Konzept des »kleinen Theaters« siehe Gilles Deleuze, »Ein Manifest weniger«, in: ders., Kleine Schriften, aus dem Französischen von K.D. Schacht, Berlin: Merve, 1980, S. 37-74; Theresia Birkenhauer, Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur. Maeterlinck, Cechov, Genet, Beckett, Müller, Berlin: Vorwerk 8, 2005, S. 130-210.

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semantischen Analyse untersucht werden können.18 Man ist dementsprechend in den Aussagen der Texte auf zahlreiche Widersprüche und ungesicherte Referenzen gestoßen und hat die Inkonsistenzen und Paradoxien als Abwesenheit von Sinn oder als Sinnlosigkeit ausgelegt. Jedoch erhellt eine logisch-semantische Analyse der Propositionen die Funktionsweisen von Null, Nichts und Negation nicht vollständig. Insofern scheint eine neue Bestimmung des Gegenstands gerechtfertigt, welche Becketts Verwendungsweisen nicht als Aussagen begreift, sondern als Äußerungen liest. Die Beiträge dieses Bandes folgen deshalb nicht allein den logischen und semantischen Bezügen der Sätze, sondern richten die Aufmerksamkeit auf das Schriftbild der Texte, den Klang der Sprache oder die puns, in denen die sprachliche und schriftliche Materialität des Texts aufsteigt. Es ist auffällig, dass Becketts Texte zwar immer wieder Aussagen sowie logisch-semantische Analysen von Aussagen präsentieren. Jedoch sind die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen üblicherweise Aussagen getroffen werden, sowie die Ziele, die mit logisch-semantischen Analysen verknüpft sind, nicht fraglos gegeben.19 Die ältere Forschung hat hieraus geschlossen, dass Beckett die Abwesenheit von Sinn oder letzte Fragen der Metaphysik diskutiere oder auch gegen philosophische Prätentionen Einspruch erhebe.20 Die Beiträge dieses Bandes verfolgen eine bescheidenere Fragestellung. Sie thematisieren die Voraussetzungen, unter denen Äußerungen ergehen, diskutieren die Bedingungen, unter denen sie die Schwellen zu Aussagen überschreiten und untersuchen rhetorische Techniken, narrative Verfahren, performative und mediale Strategien, welche die Texte durchziehen. Wie das Verhältnis von Aussagen und Äußerungen durch Wörter und Schriftzeichen verhandelt wird, diskutiert Karin Krögers Beitrag »›So much for the nothingness‹ Null und Nichts in Samuel Becketts Texten um Watt«. Kröger rückt drei Texte aus den frühen Entwürfen zum Roman sowie dessen Addenda in den Blick: Wörter, die Absenzen anzeigen, Schriftzeichen, die Auslassungen markieren, und Lücken, die Nichts performieren. In unterschiedlichen Ausprägungen kreisen die untersuchten Texte um Null und Nichts und versuchen in der Fülle der Ausdrücke das Nichts zu beschreiben und zu umschreiben. So werden 18 Vgl. Hugh Kenner, Samuel Beckett. A Critical Study, New York: Grove Press, 1961, S. 37, 58, 99 u.ö. 19 Vgl. Christopher Ricks, Beckett’s Dying Words. The Clarendon Lectures 1999, Oxford, New York: Oxford University Press, 2001. 20 Vgl. Martin Esslin, Das Theater des Absurden, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1965, S. 46-58; Theodor W. Adorno, »Versuch, das Endspiel zu verstehen«, in: ders., Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften, Bd. 11, hrsg. von Rolf Tiedemann, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994, S. 281-321.

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in dem Fragmentarischen der Zusätze und Entwürfe wieder Lücken in den Text, in seine Syntax, seine Semantik und sein Schriftbild gelegt. Die angezeigten Auslassungen entfalten eine scheinbar unerschöpfliche Potenzialität von Becketts Texten. Peter Schuck diskutiert in seinem Beitrag »Spuren der Zeit. Zur Medialität der Unterbrechungen in Samuel Becketts Happy Days«, wie Punkte und Gedankenstriche, Auslassungszeichen und Pausen diesen Text geradezu zerstückeln. Der Text gerät ins Stocken und die Materialität der Sprache tritt auf der Buchseite auf wie auf einer Bühne. Und was auf der Ebene des Textes stattfindet, spiegelt wider, was auf der Bühne aufzuführen ist: Winnie ist erst bis zur Taille und später bis zum Hals in einen Sandhügel eingegraben und auf das Sprechen als Möglichkeit des Handelns zurückgeworfen. Obwohl sie ununterbrochen spricht, kommt keine wohlgeformte Rede in Gang, stattdessen setzt sie zu ihren Äußerungen nur an, um sogleich wieder innezuhalten und wieder aufs Neue anzusetzen. In solchen Unterbrechungen dringt ein Außen der Sprache ins Innere des Sprechens und der Schrift ein. In Katrin Trüstedts Beitrag »›[A] thing that was nothing had happened‹. Hamlets (Un-)Dinge in Samuel Becketts Watt« rückt die Frage nach der Erzählbarkeit von Ereignissen in den Fokus. Welche Äußerungen werden zu (rhetorisch) befragbaren Aussagen? Und wie kann etwas Neues entstehen, wenn nichts passiert? Trüstedt zitiert in ihrer Untersuchung von Becketts Watt die Erzählinstanz, die vom Stimmen eines Klaviers berichtet. Die Formulierung »a thing that was nothing had happened«21 nimmt Bezug auf eine Stelle in William Shakespeares Hamlet, an der das Spiel von »thing« und »nothing« entfaltet wird: »The body is with the king, but the king is not with the body. / The king is a thing […] of nothing.«22 Die Dinge, die wie die Requisiten im barocken Trauerspiel ungenutzt auf der Bühne herumliegen, werden in Watt zu Undingen. Das »incident« bzw. die Handlung, die um das Objekt statthat, wird suspendiert. So wie Hamlets Auftrag, die eigentliche, zu erwartende Handlung, also der Racheakt, nicht vollzogen wird, so wird auch die Handlung in Watt nicht mehr vollzogen, sondern ausgestellt: Wie das Spiel in Hamlet werden die Erzählungen in Watt zu Zitaten von Erzählungen, die keine gelungene Erzählung vollziehen und sich zu keinem Ganzen mehr schließen.

21 Samuel Beckett, Watt, London: John Calder, 1998, S. 73. 22 William Shakespeare, »Hamlet«, in: Stephen Greenblatt, Walter Cohen, Jean E. Howard, Katharine Eisaman Maus (Hrsg.), The Norton Shakespeare. Based on the Oxford Edition, New York: Norton, 1997, IV.2.26-29.

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Beckett hat nach und nach dem Theater amputiert, was nicht unbedingt erforderlich ist. Weder bedarf es der Nachahmung von Handlungen noch des Dialogs für die Aufführung eines Stücks. Die Schaffung einer zweiten Welt auf der Bühne hängt nicht von der Illusionsbildung mittels Schauspielern, Kulissen, Kostümen und Requisiten ab. Im Übrigen sind Aufführende immer, ob sie bekleidet sind oder nicht, bereits kostümiert. Es bedarf weder eines Vorhangs, der sich zu Beginn des Stücks öffnet und am Ende schließt, noch muss ein Stück in Akte gegliedert sein, und auch sonst kann alles fehlen, was von einem Theaterstück zumeist erwartet wird. Dieses kleine Theater kommt mit einem vereinbarten Ort, der Verlautbarung einer Stimme oder einem (stummen) Körper aus. Es bringt einerseits Stücke hervor, in denen alles, was geschieht, in der Sprache geschieht. Die Handlung ergeht einzig und allein in der Sprache, wie auch das Sprechen schon Handlung ist, selbst wenn ungewiss bleibt, wer spricht. Weder muss, wer auf der Bühne spricht, seine Subjektivität aussprechen, noch wird seine Rede auf der Bühne die Illusion einer Subjektivität oder gar eines Charakters erzeugen. Andererseits hat das kleine Theater Stücke produziert, die fern der Sprache sind, mit Körpern auf der Bühne, die Tätigkeiten und Verrichtungen wie Stehen, Sitzen oder Gehen ausüben. Die Arten und Weisen, wie man seinen Körper gebraucht, sind grundsätzlich nichts Natürliches und verstehen sich nicht von selbst. In dem Maße, in dem solche Körpertechniken erlernt werden, sind sie nicht allein von dem geprägt, der sie ausübt, sondern auch sozial durchformt; es gibt keine natürlichen Gebrauchsformen des Körpers.23 So unbestimmt eine Scheidung von natürlichen und künstlichen Körpertechniken ist, so unklar ist, was ein authentisches und ein inszeniertes Verhalten des Körpers unterscheidet. Der Auftritt des Körpers, der Auftritt der Rede ist schon ein kleines Theater. Die Theatralität von Becketts Stücken resultiert weder aus einem Handeln-als-ob noch aus der Nachahmung einer Handlung, sondern ist Effekt eines Dispositivs, dessen materielle und technische Linie durch vier Variablen hindurchläuft: durch den sichtbaren Körper, den Auftritt der Rede, die mehr oder minder lose an einen Körper geknüpft ist, den Ort, an dem sich der Auftritt der Rede ereignet, und durch eine Sichtbarkeit dieses Ortes, die zumeist von einer künstlichen Beleuchtung hergestellt wird. Beckett hat den Repräsentationsanspruch des Theaters

23 Vgl. Marcel Mauss, »Die Techniken des Körpers«, in: ders., Soziologie und Anthropologie. Band II: Gabentausch; Soziologie und Psychologie; Todesvorstellung; Körpertechniken; Begriff der Person, Frankfurt a.M., Berlin, Wien: Ullstein TB, 1978, S. 197-220.

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immer mehr zurückgenommen. So sehr er das Theater amputiert, so voraussetzungsreich bleibt jedoch seine Reduktion des Theaters. »Maschinen statt Prothesen« sind die Mittel, die den versehrten Körpern von Becketts Figuren eine Fortbewegung ermöglichen. Karin Harrasser beschreibt in ihrem Beitrag »Antiprothetik. Samuel Becketts Depotenzierungsmaschinen« die Verbindung von Mensch und Apparat als ein Hybrid, das in der Kombination seiner einzelnen Teile etwas Neues schafft. Es geht bei Becketts Figuren weniger um die Ergänzung und Ersetzung der einstmals funktionalen Gliedmaßen als vielmehr um die Integration des schlechten Supplements. Wenn Molloy mit seinen Krücken agiert, dann sind sie nicht Hilfestellung zur Wiederherstellung eines ›normalen‹ Gehens, sondern Teile der Operationskette eines neuen Fortbewegungsmodus, der nun bis zur Erschöpfung perpetuiert wird. Harrasser beschreibt diese Wiederholung als eine Depotenzierung und Kombinatorik, die nicht unendlich viele Möglichkeiten zulässt, sondern die eine Permutation mit immer kleiner werdenden Variationen ist und auf einen Nullpunkt zuläuft: den Stillstand. Die Mannigfaltigkeit erstarrt in der Trägheit des Materials. Die Permutationen werden in endlichen Schleifen in Becketts Texten ausgeführt, in denen Wörter in Varianten gereiht werden, um die Beschreibungen fortkommen zu lassen, bis alle Kombinationen ausgeschöpft sind und der Text endet. Beckett hat auf seinem Weg vom »Sprechtheater« zum »Paratexttheater«, so führt Martin Jörg Schäfer aus, die Metapher des Welttheaters verkehrt: An die Stelle der Illusion einer zweiten Welt tritt die Theatersituation selbst. »Samuel Becketts Reduktion des Welttheaters im Endspiel« nennt Schäfer diese Variante eines kleinen Theaters, in der Sprache und Körper das Verhältnis von Ereignis und Inszenierung zusammenfallen lassen und theatrale Aussagen mit ihrer Entäußerung konvergieren. Wenn im Endspiel das Welttheater auf die Bühne reduziert wird, gibt es auch keinen distanzierten Zuschauer mehr, der eine göttliche Beobachterposition einnimmt. Die vierte Wand wird in ein theatrales Spiel eingefaltet, das nur mehr eine Folge von Tableaus ohne fließende Übergänge ist. Über die Rolle, welche die Zuschauer in diesem reduzierten Welttheater innehaben, entscheidet die Art des vom Spiel ausgebildeten Publikumsbezugs. Der Philosoph Stanley Cavell hat den Zuschauer in der Rolle einer bezeugenden Instanz gesehen, die zwangsläufig den Geschehnissen einen Sinn verleihe. Becketts Stück hingegen verkehrt die Weltbühne in einen Flohzirkus, den das Publikum nicht unvermittelt sehen kann. Die leere Bühne ist immer schon bevölkert von Klischees und Bildern, die man im Kopf hat. Sie wird von Kräften durchzogen, die von außen kommen und auf ihr virtuelle Bilder ablagern. Insofern besteht ein Großteil der Arbeit im Theater auch darin, die virtuellen Bilder, die sich auf der Bühne bereits niederge-

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lassen haben, noch bevor die Arbeit beginnt, überhaupt zu bemerken. 1998 hat George Tabori am Wiener Burgtheater mit Fin de partie. Samuel Becketts Endspiel eine Art Vorspiel zu Becketts Stück inszeniert. Friederike Thielmann zeigt in ihrem Beitrag »Black Box spielen. Zum Endspiel als Innenraum ohne Möbel«, wie Taboris Stück seinen Ausgangspunkt in Becketts ausführlicher Regieanweisung nimmt, die als Bühnenbild einen »Innenraum ohne Möbel« vorschreibt. Das Stück ist inszeniert wie eine öffentliche Probe des Endspiels, in der Gert Voss und Ignaz Kirchner auf eine leere Bühne gestellt sind. Ohne einen Regisseur, der anwesend wäre, sind sie auf den Text des Stücks zurückgeworfen und beginnen mit der Lektüre von Becketts Regieanweisung, aus der sie nach und nach ein Spiel entwickeln, das ein Konfinium zu Becketts Stück aufspannt: Sie leiten aus der Regieanweisung einen Bühnenraum ab, den sie mit Kreidestrichen auf dem Boden skizzieren; sie senken, indem sie die Rollen von Ham und Clov proben, in ihre Rollen die Funktionen von Regisseur und Schauspieler ein; und nicht zuletzt legen sie die Voraussetzungen und Bedingungen frei, die im Theater stecken. Thielmann begreift mit Tabori Becketts Bühne als einen Innenraum, der sich weder als Abbildung einer Welt (oder eines Weltbilds) noch als ein selbstreflexives Spiel auf empirische Personen und Bühnenräume hin auflösen lässt. Taboris Inszenierung erschließt vielmehr Becketts Formulierung, dass man das Endspiel nur im Spiel erfahren könne.

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In Becketts Texten sind die Voraussetzungen und Bedingungen des Schreibens und Sprechens, der Fiktionsbildung und der Errichtung von Illusionen sowohl in unscheinbaren Spuren zu entziffern als auch demonstrativ ausgestellt. Die Texte lassen an die Stelle der Illusion, dass die diegetische Welt Spiegel, Reproduktion oder Kopie einer außerliterarischen Wirklichkeit sei, eine Beschreibung treten, welche die Dinge »zu zerstören scheint, als ob ihre Besessenheit, von ihnen zu sprechen, nur zum Ziele hätte, die Linien zu verwirren, sie unverständlich zu machen oder sie gar vollkommen zum Verschwinden zu bringen«.24 Der Unterschied, der zwischen Becketts Schreibweise und dem traditionellen Erzählen besteht, ist augenfällig: Sie zielt nicht auf die perfektere Illusion, sondern auf eine Problematisierung des Erzählens und Schreibens selbst.

24 Alain Robbe-Grillet, »Zeit und Beschreibung im heutigen Roman«, in: ders., Argumente für einen neuen Roman. Essays, München: Carl Hanser, 1965, S. 93-107, hier S. 97.

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Beckett hat die Triebfeder seines Schreibens angespannt, indem er Wörter, Handlungen und Dinge dem Determinismus, den die Gewohnheiten ausüben, zu entwinden suchte. Man könnte, wenn es keine haltlose Vereinfachung wäre, behaupten, dass Beckett auf seiner Suche nach etwas Neuem in der Literatur an einem Nullpunkt angelangt ist, an dem die Äußerungen noch nicht oder nicht mehr von diskursiven Regeln durchdrungen sind.25 Das Neue ist nicht als herausgehobenes Moment, nicht als exzeptionelle Handlung oder außergewöhnliche sprachliche Anordnung zu begreifen, sondern als eine Transformation des Tuns und Schreibens. Es unterbricht den Selbstlauf, der vor allem das Weitermachen sichert. Die Fortsetzung des Schreibens ist nicht mehr einem Automatismus überantwortet; und es ist unklar, ob Aussagen überhaupt noch möglich sind. Das Konstitutionsprinzip des Neuen liegt nicht mehr in dem, was man weiß und kann, sondern stets in der Gegenwart. Das Neue ist nicht als ein konsistenter Gegenstand, sondern als ein dichtes Gefüge zu begreifen. Es verwirklicht sich weniger in dem einzelnen Text als in den Verbindungen, die dieser mit anderem eingehen kann und der Überzahl von Möglichkeiten, die es eröffnet. Das Neue untersteht Bedingungen, die nicht in den Subjekten liegen, sondern es steigt von einem apersonalen Grund auf, und die Namen der großen Autorinnen und Autoren täuschen darüber hinweg, dass es ein wesentlich vorsubjektives Geschehen ist: Das Neue gründet nicht im Ich-Sagen, sondern erfordert eine paradoxe Individuierung. Wer schreibt oder spricht, mag von sich besessen sein, und doch meint er gar nicht sich, wenn er sich äußert. Er spricht oder schreibt von etwas, das über ihn hinausgeht, das aber nicht größer ist als er selber und schon gar nicht dazu dienen soll, ihn zu vergrößern. Beckett hat nach einem Entstehungsherd des Neuen in den neurologischen und physiologischen Bedingungen des Gehirns gesucht. Laura Salisbury zeichnet in »›Etwas oder Nichts‹. Beckett und die Materie der Sprache« nach, wie bei Beckett sogenannte »unwords« oder »Unwörter« in den Faltungen des Hirns der Schädelhöhle geformt werden. Becketts Interesse an der Neurochirurgie war aus der Frage gespeist, wie Wörter produziert werden und welche Materialität sie besitzen. Die poetische Sprache entsteht im »synaptischen Spalt« bzw. in der Kluft zwischen den Synapsen. Dieses Wortbildungskonzept in einem höhlenhaften Innenraum tritt in den Texten als die Beschreibung eines Schädels auf, wie zum Beispiel im Prosastück imagination morte imaginez. Jedes im Schädel geborene Wort ist etwas Neues, gerade weil seine Schöpfung ein neurophysiologischer Vorgang ist.

25 Vgl. Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur (1953), aus dem Französischen von Helmut Scheffel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1982.

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Wolf Kittler untersucht in seinem Beitrag »Conceptio electro-magnetica. Über das Radio bei Schwitters, Artaud und Beckett« das Verhältnis von Empfängnis und Empfangen und rekonstruiert, wie in der christlichen Tradition das Ohr als ein Empfangsorgan konzipiert worden ist, das unter den medientechnischen Bedingungen des Rundfunks mit dem Hören kurzgeschlossen wird. Im Mittelpunkt steht Becketts Hörspiel All that Fall, das Empfangen und Gebären, Unfruchtbarkeit und Züchtung thematisiert. Kittler stellt das Stück in einen Rückraum, den Kurt Schwitters Prosastück »Radio. Eine Anregung, den Radioapparat produktiv auszunutzen« und Antonin Artauds »Pour en finir avec le jugement de dieu« aufspannen, und diskutiert, wie in der Figur eines hinnie, also einer Mauleselin, die eine Kreuzung aus Pferd und Esel ist, entfaltet wird, was das Neue kennzeichnet: Es ist fruchtbar nur, weil es nicht reproduziert werden kann. Der Beitrag von Armin Schäfer »Erschöpfte Literatur. Über das Neue bei Samuel Beckett« untersucht, wie eine literarische Subjektivität konstituiert wird. Becketts Figuren sind keine souveränen und selbstbestimmten Instanzen eines Geschehens, sondern ein Aggregat oder Knotenpunkt von stereotypen Bewegungen. Die Aufzählung, Kombination und Permutation von Bewegungen, die zielund richtungslos werden, im Kreise laufen, sich endlos wiederholen, verlangsamen und schließlich verlöschen, treten an die Stelle einer progredierenden Handlung. Die Figuren führen Bewegungsabläufe solange aus, bis alle kombinatorischen Möglichkeiten durchlaufen sind. Hierüber ermüden sie und geraten schließlich in einen Zustand der Erschöpfung, in dem ihre Subjektivität zu zerfallen droht, aber auch die Chance für die Entstehung von etwas Neuem eröffnet wird. Beckett hat die Erschöpfung nicht auf eine klinische Kategorie oder eine bedrohliche Störung reduziert. Vielmehr begreift er die Erschöpfung als einen Zustand, in dem man sich selbst überraschen kann. Wenn im Zustand der Erschöpfung die Kontrolle über die ausgeübte Tätigkeit verloren geht, dann wird die Tätigkeit auf eine unbestimmte Art und Weise ausgeübt und die Relation von Zweck und Mittel untergraben. Auf den ersten Blick scheint es, dass zum Neuen vorstoßen kann, wer eine Schulung durchlaufen hat und vertraut ist mit der Tradition seines Metiers. Es ist aber ungewiss, welche Tätigkeiten etwas Unvorhersehbares entstehen lassen. Und vielleicht tritt gerade derjenige, der über eine professionelle Ausbildung verfügt und eine Kulturtechnik vollständig beherrscht, in eine Art Kalkül ein, das die Entstehung des Neuen blockiert. Vielmehr scheint es für einen Vorstoß zum Neuen erforderlich zu sein, dass eine Programmierung oder Gewohnheit abgestreift wird.

N ULL , N ICHTS

UND

N EGATION

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Wir danken den Beitragenden für die geduldige und ausdauernde Zusammenarbeit und Kaja Ruhwedel für das Lektorat. Der Band ist aus einem Workshop des Graduiertenkollegs »Mediale Historiographien« der BauhausUniversität Weimar, der Universität Erfurt und der Friedrich-Schiller-Universität Jena hervorgegangen. Wir danken den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Workshops und insbesondere Bettine Menke für die Förderung des Projekts. Wir danken dem Graduiertenkolleg »Mediale Historiographien« und mithin der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die freundliche Unterstützung bei den Druckkosten. Die Manuskriptseite auf dem Umschlag dieses Buchs wurde mit freundlicher Genehmigung des Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin und The Estate of Samuel Beckett abgedruckt. Wir danken Elizabeth Garver am Harry Ransom Center für ihre Beratung.

Aussagen und Äußerungen

»So much for the nothingness« Null und Nichts in Samuel Becketts Texten um Watt K ARIN K RÖGER

1. V OR -

UND

N ACHSCHRIFTEN

Mit den ›Texten um Watt‹1 werden im Folgenden jene Texte bezeichnet, die an den Rändern zu Samuel Becketts Roman Watt2 stehen: die Entwürfe, sieben handschriftliche Notizbücher und ein frühes Typoskript zu Watt sowie die »Addenda«, die den letzten Teil des Romans bilden. Gemeinsam haben die Entwürfe und die »Addenda« ihren fragmentarischen Aufbau und ein uneindeutiges Verhältnis zum publizierten Text. Während die Entwürfe zeitlich vor dem Roman stehen und als dessen Vorstufen und Vorschriften verstanden werden können, sind die »Addenda« Zusätze, Nachschriften, die an die vier Teile von Watt angehängt sind. In der Lektüre der Entwürfe und der »Addenda« sollen Stellen und Fundstücke im Fokus stehen, die Null und Nichts verhandeln, und gleichzeitig fragen, wie sich Teile zum Ganzen bzw. zu verschiedenen ›Ganzen‹ verhalten, insbesondere, wenn ein Teil Null, Nichts oder nichts ist. 1

Samuel Beckett, Watt-Notebooks, Manuskript: NB 1, S. 69f.; ders., Watt-Typescript, S. 55-63. Becketts Entwürfe zu Watt befinden sich am Harry Ransom Humanities Research Center (HRHRC) der University of Texas, Austin. Es handelt sich um sieben Notizbücher (NB1-NB7) und ein frühes Typoskript (TS). Die folgenden Seitenangaben entsprechen der archivalischen Paginierung. Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, © The Estate of Samuel Beckett. Excerpts from Samuel Beckett’s unpublished WATT Notebook (no. 1); Typescript and Illustrations reproduced by kind permission of the Estate of Samuel Beckett c/o Rosica Colin Limited, London.

2

Ders., Watt, London: Faber & Faber, 2009.

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In den frühen Entwürfen finden sich drei kurze zusammengehörige Texte, die mit »The Nothingness«, »The Sky« und »The Waste« betitelt sind und verschiedene Formen von Null und Nichts verhandeln.3 Die drei »chapter[s]« stehen handschriftlich in dem dritten Notizbuch Becketts von 1941 und, mit Schreibmaschine getippt, im Typoskript von 1944.4 Sie handeln von Quin, einer Ahnenfigur sowohl von Mr. Knott als auch von Watt, den beiden Protagonisten des Romans. Sie verhandeln Null und Nichts: Quin fühlt nicht nur sein Leben lang »nothingness« und »null«, sondern wird auch selbst zu »nothing«5. In »The Nothingness« werden zunächst seine Gefühlswelt, ein Bedürfnis (»desire«) und eine Sorge (»chagrin«) beschrieben. In dem zweiten Text, »The Sky«, wird Quin als »a dark nothing« im Zwischenraum zwischen »the thing above« und »the thing beneath« räumlich platziert – zwischen Himmel (»sky«) und Ödland oder Abfall (»waste«).6 Im dritten Text, »The Waste«, verändert sich sprachlich und schriftlich der Untergrund – ausgeführt in Ersetzungsoperationen eines Wortes durch ein anderes –, der so vom Abfall (»waste«) zum (fäkalen) Schlamm (»bog«) wird. Der dritte Text greift auf die ersten beiden über, indem er wieder ersetzt und überschreibt, was in den ersten Texten gesetzt wurde. Die drei kurzen Kapitel verhandeln also unter dem Stichwort »nothingness« Null und Nichts im Verhältnis zu Etwas (»something«) und Allem (»the All«). Dieses Verhältnis wird nicht nur über eine thematisch-figurative Ebene ausgelotet, sondern zeigt sich gleichzeitig im rhetorischen Spiel der Sprache sowie auf der Ebene der schriftbildlichen Anordnung der Texte. Die drei Entwürfe »The Nothingness«, »The Sky« und »The Waste« haben als Kapitel keinen Platz in dem erstmals 1953 publizierten Roman, sondern sind dort nur in Auszügen und Stichworten und insbesondere in den »Addenda« wiederzufinden. Die »Addenda« von Watt sind eine scheinbar zusammenhanglose Ansammlung von Textstücken – teilweise Reste aus den Entwürfen. Sie sind an die vier Teile des Romans angehängt und schließen ihn zugleich ab und erweitern ihn.7 Auch die »Addenda« sind ein Ort, an dem Null und Nichts auffindbar 3

Vgl. ders., »The Nothingness«, »The Sky«, »The Waste«, in: ders., Watt-Typescript, (wie Anm. 1) S. 55-63, hier S. 57, S. 61.

4

Im Folgenden werden die Versionen aus dem Typoskript zugrunde gelegt.

5

Quin wird für den Roman Watt zur Ahnenfigur und zu »nothing«, denn als Person tritt er nicht im Roman auf, wobei einige Charaktereigenschaften und Handlungsstränge auf einen der beiden Protagonisten (auf Mr. Knott und meist auf Watt) übertragen wurden.

6

Beckett, »The Sky« (wie Anm. 3), S. 61.

7

Vgl. Daniela Caselli, Beckett’s Dantes. Intertextuality in the fiction and criticism, Manchester: Manchester University Press, 2005, S. 85-89.

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sind, wo »nothingness« im vierten Eintrag »in words enclose?« auftritt.8 Die Reihenfolge der einzelnen Einträge scheint willkürlich und ein direkter Bezug auf bestimmte Textstellen der vier Teile des Romans, wie etwa in Form eines Registers oder von Anmerkungen, ist nicht gegeben. Damit werden die angehängten Textstücke der »Addenda« zu einem Ort, der die Grenzen des Romans bestimmt und ihn dabei nach außen öffnet, nicht zuletzt zu den eigenen Manuskripten und Typoskripten. Bei den »Addenda« ist der zeitliche Modus nicht mehr der vorläufiger Entwürfe, sondern der des nachträglich Angehängten. Die Skripte und die »Addenda« haben jedoch eine fragmentarische Schreibweise sowie ihre schriftbildlichen und typografischen Eigenheiten gemeinsam. Das Fragment, die fragmentarische Sammlung – so scheint es – wird zu einem besonders passenden Ort für »nothingness«. Dabei werden Null und Nichts nicht nur selbstreferenziell auf die sprachliche Struktur des Textes bezogen, sondern sind auch Figuren im Spiel mit den Schriftzeichen auf den Papierflächen von Buch oder Skript. An diesen beiden Orten, den »Addenda« und den Entwürfen, an den Grenzen des Romans Watt wird also ›Nicht(s)igkeit‹ – »nothingness« – durch rhetorische, schriftbildliche und grafische Verfahren verhandelt, die an verschiedene Diskurse anknüpfen, in denen eine Setzung von Nichts grundlegend ist, wie z.B. als Null in der Mathematik.9 Im Folgenden soll gezeigt werden, wie in diesen Texten um Watt schriftsprachliche Ausdrücke wie »nothingness«, »nothing« und »null«, aber auch Schriftzeichen wie Spatien und Gedankenstriche gleichzeitig eine Setzung von Nichts als Etwas und Etwas als Nichts vollziehen. Dabei wird in beiden Fällen auf eigentümliche Weise das synekdochische Verhältnis von Teil und Ganzem ausgespielt. Es soll hier um ein Nachdenken über Nichts gehen – und, damit zusammenhängend, ebenso über Null – im Verhältnis zu An- und Abwesenheit von schriftlichen und sprachlichen Zeichen. Es scheint, dass mit dem Auftreten dieser ›Nichtse‹ schriftsprachliche und schriftbildliche Verhältnisse von Figur und Grund, von Zeichen und Bezeichnetem geschaffen werden, 8

Beckett, Watt (wie Anm. 2), S. 215.

9

Die Verhandlung von Null und Nichts in Watt ist dabei nicht auf die »Addenda« und Entwürfe begrenzt, sondern geschieht auch auf unterschiedlichen Ebenen im Roman. Der sprachliche Ausdruck »nothing« steht in verschiedenen Szenen der vier Teile explizit immer wieder für Abwesendes ein, für abwesende Sprache, abwesende Dinge oder abwesende Handlung und Ereignisse. So versteht Watt beispielsweise, dass das, was in Mr. Knotts Haus passiert, »a nothing« ist. Vgl. Beckett, Watt (wie Anm. 2), S. 72. Die Null kommt auf einer anderen, mehr textkonstitutiven Ebene in Watt vor, und zwar dann, wenn es um die kombinatorischen und permutativen Verteilungen von Dingen, Figuren und Wegen – und letztlich sprachlichen Ausdrücken – geht.

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die im Schriftbild auf- und ausführen, was in den Texten – auch rhetorisch – verhandelt wird. Becketts Texte selbst thematisieren diese Formen von Nichts in Bezug auf handelnde und fühlende Figuren und verorten es darüber hinaus spatial in den Zeichenanordnungen auf dem Papier. Alle hier verhandelten Texte stellen Schauplätze, an denen Sichtbarkeit, Zeitlichkeit und Räumlichkeit in verschiedenen Konstellationen auftreten, die ein Zusammenspiel von Raumvorstellung und konkreter Spatialität der Texte sind. Es geht also darum zu zeigen, wie die Setzung und Verhandlung von Null und Nichts bei Beckett mit den Fragen der Schriftlichkeit verbunden sind, genauer, wie kraft der Schrift das paradoxale Auftreten von Nichts im poetischen Text erst möglich wird und wie damit die Schriftlichkeit in den Lektürefokus rückt. Das in den Texten um Watt ausgeführte Verhältnis von Null (»zero«) und Nichts (»nothing«) beschreibt Brian Rotman in seiner Kultur- und Mediengeschichte der Null, Signifying Nothing10, als ein semiotisches Verhältnis. The Semiotics of Zero lautet der Untertitel des Buches, das die Null als einen Platzhalter sowie als ein sprachliches und schriftliches Metazeichen für alle anderen Zahlen und Ziffern bestimmt, als ein Zeichen für die Abwesenheit von anderen Zeichen. Rotman schreibt: »In some obvious but obscure sense nothing and zero are connected; and in a narrow formal sense, can be made to look identical. Zero signifying an absence of signs and ›nothing‹ signifying an absence of things seem to occupy the same space once one denies the illusion that ›things‹ are anterior to signs.«11

Die von Rotman angeführte Verbindung – eine scheinbare formale Identität – von »zero« und »nothing« als sprachliche und schriftliche Zeichen soll im Folgenden mitgedacht werden. Über die unterschiedlichen Konnotationen von »null« werden die Verbindungen in den Texten um Watt geknüpft.12 10 Brian Rotman, Signifying Nothing. The Semiotics of Zero, Stanford: Stanford University Press, 1987. Der deutsche Titel Die Null und das Nichts legt in seinem Untertitel Eine Semiotik des Nullpunkts den Fokus auf die Platzhalter- und Grenzfunktion der Null. Siehe ders., Die Null und das Nichts. Eine Semiotik des Nullpunkts, aus dem Englischen von Wolfram Burkhardt, Berlin: Kadmos, 2000. 11 Ebd., S. 59. 12 Die Bedeutungsfelder um die Worte »Null« und »Nichts« überschneiden sich immer wieder. In den drei Sprachen Englisch, Französisch und Deutsch wird immer wieder das eine für das andere gesetzt. Dazu kommen Ausdrücke wie »nihilieren«, »nichtig machen«, die je nach Sprache wieder von der Null (z.B. nuls im Französischen) oder Nichts (wie im Deutschen oder im Englischen nought/naught) her definiert werden.

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Beginnend bei den Entwürfen, soll den Spuren von Null und Nichts – von »nothingness«, »nothing« und »null« –, den Zeichen und Marken für An- und Abwesenheit bis in die »Addenda« von Watt gefolgt werden. Anhand beider Textorte und in ihrer Zusammenschau soll also verhandelt werden, wie Null und Nichts gerade hier einen Schauplatz ihrer Setzung haben.

2. »N OTHINGNESS « Teile und Ganze(s) Das Kapitel »The Nothingness« beginnt und schließt mit einer Definition von dem, was »nothingness« ist: Quins »feeling of nothingness«13 wird beschrieben als etwas, das nicht »at one and the same time, one thing and all things« ist, sondern »no thing, in the midst of some thing and this at all times«.14 Quin erfährt »the feeling of nothingness« ununterbrochen, »without intermission«, immer mit der gleichen Stärke (»strength«) von seiner Geburt bis zum Tod.15 Die Beschäftigung mit diesem andauernden Gefühl macht Quin zwar neugierig, erfüllt ihn aber jedes Mal, wenn er seine Neugierde (»curiosity«) befriedigen möchte, mit »chagrin«, mit Kummer, Ärger und Verlegenheit.16 Die Enttäuschung über die unbefriedigte Neugierde ist für ihn »that selfsame chagrin«, mit dem jede oder jeder erfüllt ist, »who seeks to obtain, without the aid of a reflector, a clear view of his or her own anus«.17 Diese menschliche Inkompetenz wird wie folgt ausgeführt und diskutiert: »And the time comes, alas, in the life of each one of us, however godfearing that life may have been, and wholesome, and upright, when a clear view of that part, if without synecdoche it may be called a part, would more than Baiae’s Strand, the Vale of Avoca, or the Lakes of Killarney, gratify the eye. In this respect, as in other adjacent, the dog, and

Vgl. Bernhard Siegert, […] Auslassungspunkte. Vortrag an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Leipzig: Institut für Buchkunst, 2003, S. 27; Rotman, Signifying Nothing (wie Anm. 10), S. 12. 13 Beckett, »The Nothingness« (wie Anm. 3), S. 55. 14 Ebd., S. 59. 15 Ebd., S. 55. 16 Vgl. Lemma »chagrin«, in: The American Heritage Dictionary of the English Language, 4. Aufl., Boston, New York: Houghton Mifflin, 2000, S. 300. 17 Beckett, »The Nothingness« (wie Anm. 3), S. 55.

28 | K RÖGER indeed quadru{p}eds in general, with the regrettable exception of heavier pachyderms, will be found superior to the man, to the woman, and to the child.«18

Es geht um ein klares Sehen (»clear view«) eines Körperteils, des Anus, der durch seine Konkurrenzsetzung zu irischen Ausflugszielen, zu Naturattraktionen oder -wundern, sehenswürdig wird und somit die Möglichkeit besitzt »to gratify the eye«. Dabei wird im Modus verschiedener Vergleichsketten und Analogien die rhetorische Figur der Synekdoche angeführt und als ein Mittel apostrophiert. Sie wird neben einem Reflektor oder »reflecting surface« in »The Nothingness« explizit als Hilfsmittel benannt, um »a clear view« des eigenen Anus zu erreichen.19 Die reflektierende Oberfläche steht so in einem figuralen Verhältnis zu der Betrachtungsübung: »Consequently the chagrin of the man desirous of applying his eye to that part of himself above mentioned, and lacking the reflecting surface by whose aid alone this result, albeit figuratively, can be obtained, or having one and scorning to use it for such a purpose, this chagrin was unknown to Quin save as a very faint and occasional twinge, a very faint and occasional twinge indeed, and in this also he very rightly considered himself as blest.«20

Es braucht also ein »reflecting surface« als Hilfsmittel, das eingesetzt werden kann, um ein Körperteil – den Anus – »figuratively« zu betrachten. In dem »reflector« ist das Abbild des Anus bzw. seine Figur sichtbar. Als sprachliches Mittel wird in dem gleichen Umfeld die rhetorische Figur der Synekdoche eingeführt, wenn es hinsichtlich des Anus heißt: »that part, if without synecdoche it may be called a part«. Der Synekdoche, die unter anderem das Verhältnis zwischen Teil und Ganzem beschreibt – pars pro toto und totum pro parte –, indem mit der Nennung bzw. der sprachlichen Setzung des einen auch das andere gemeint ist, wird hier eine komplizierte Aufgabe zuteil. Sie fragt nämlich, ob der Anus überhaupt ohne die Synekdoche – ohne ihre Hilfe – ein Teil sein könne, »may be called a part«. Auch wenn der Ausdruck »to call a part« gemeinhin selten genutzt wird, so ruft er doch verschiedene Lektüremöglichkeiten auf. Es geschieht eine doppeldeutige Schrifthandlung zwischen »a part« und »apart«: die Aufteilung (»to set etc. apart«) produziert das Teil (»a part«), wobei die Lücke zwischen »a« und

18 Ebd., S. 55-57. 19 Ebd., S. 55. 20 Ebd.

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»part« die Trennung vornimmt und die witzige Dopplung aufführt.21 Die Synekdoche ist die rhetorische Form, die einerseits den Teil vom Ganzen abtrennt und andererseits das Teil und das Ganze wieder zusammenlegt, indem sie das eine für das andere setzt. Die Setzung der Synekdoche in »The Nothingness« stellt jedoch eine Teilhaftigkeit des Körperteils wieder infrage: »And the time comes, alas, in the life of each one of us, […], when a clear view of that part, if without synecdoche it may be called a part, would […] gratify the eye.« Ob der Anus ein Körperteil ist, wird über eine angedachte pun-Relation, die sich in der gängigen englischen Definition von Synekdoche versteckt, gefragt: Eine Synekdoche als »a figure of speech in which a part is substituted for a whole or a whole for a part«.22 So ist das »hole« des Anus schriftlich schon immer im »whole« – oder im »wholesome« – anwesend. Die Synekdoche, die in »The Nothingness« als Hilfsmittel adressiert wird, steht nicht nur kraft ihrer Funktion, sondern kraft der Definition ihrer Funktion ein. Die Definition steht für die Funktion (ob als Teil für ein Ganzes oder ein Ausführlicheres für einen Teil) der Synekdoche und schließt den Kreis zu dem, was mithilfe der Synekdoche als Teil bezeichnet werden sollte: dem Anus. Die synekdochische Beschreibung wird in dem gleichen Absatz weiter ausgeführt durch die Nebeneinanderstellung von »dog« und »quadropeds«. Denn auch das Eine der »Spezies« für das Andere des »Genus« zu nennen, würde in der Rhetorik als Synekdoche bezeichnet. Die Figur Quin wird hier als Alter Ego Quintilians lesbar, dem durch den Text vorgehalten wird, dass es in seiner Aufstellung über die Arten der Synekdoche wohl eine Lücke gibt, nämlich die des Nichts.23 Wenn die Synekdoche das Verhältnis zwischen Teil und Ganzem beschreibt, von Etwas und von Allem (von »something« und »all«), dann stellt sich die Frage, wie sie sich zu Nichts verhält. Denn der Anus ist auch deswegen kein Körperteil, da er ein Loch ist, ein Nichts. Durch die Bedeutung von anus als »the opening at the lower end of the alimentary canal through which solid waste is eliminated from the body«24 und der Herleitung von lateinisch anus als »ring«, 21 Vgl. Lemma »apart«, in: Collins Thesaurus of the English Language – Complete and Unabridged, Glasgow: Harper Collins, 2002. 22 Lemma »synecdoche«, in: ebd. 23 Vgl. Bernard Meyer, Synecdoques, Tome 1: Étude d’une figure de rhétorique, Paris: L’Harmattan, 1993, S. 70; Quintilian, The Orator’s Education. Books 6-8, hrsg. und übersetzt von Donald A. Russell, Cambridge, MA, London: Harvard University Press, 2001 (= The Loeb Classical Library; 126), S. 432-437 (VIII, 6, 16-22). 24 Lemma »anus«, in: The American Heritage Dictionary of the English Language (wie Anm. 16).

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tritt dieser Ausdruck wieder in Verwandtschaft zum Schrift-Zeichen der Null, die das Nichts einschließt. Die Null, die als mathematisches Zeichen Nichts als die Abwesenheit von Etwas markiert, kreist ikonisch nichts ein. Sifra heißt das erste Zeichen für Null, das die Leere einschließt. Aus sifra leiten sich die Wörter cipher und Ziffer ab, die Wörter, die Schriftzeichen der Mathematik bezeichnen. Die Null ist so, wie Rotman immer wieder betont, ein Metazeichen, ein Zeichen, dass auch für andere steht: sifra – die Null – steht als Teil für ein Ganzes und als Nichts für Alles. Deswegen braucht es die Synekdoche, um den Teil eines Körpers zu bezeichnen. Es braucht den Teil, der ein Un-Teil, ein Nicht-Teil ist, der ein Loch umschließt. Der Reflektor, der als Mittel eingesetzt werden soll, wird also im Spiegel Null und Nichts zeigen. Durch Quins »feeling of nothingness« ist sein »chagrin« jedoch nicht allzu groß, sodass er sich zumindest zeitweise »blessed« fühlen kann. »Chagrin« und »blessedness« im Parallelogramm Die Ersetzungsfigur der Synekdoche steht im Textbild als Hilfsmittel des Verhältnisses von dem Verlangen, »desire«, und Vermögen bzw. Unvermögen. Was in einer unglücklichen Verbindung beider entsteht, ist »chagrin«, das Gefühl des Kummers.25 Die Konnotationen von »chagrin« sind in diesem Zusammenhang mindestens doppeldeutig zu lesen. Das englische Wort chagrin wird im American Heritage Dictionary (AHD) definiert als »[a] keen feeling of mental unease, as of annoyance or embarrassment, caused by failure, disappointment, or a disconcerting event« und leitet sich ab vom französischen Wort chagrainer, das wiederum eine germanische Wurzel, gram, hat. Interessant ist, dass es viele Geschichten um die Bedeutung und Herkunft des Wortes chagrin gibt. Im AHD wird diese »Word History« beschrieben mit: »The ultimate etymology of the word chagrin, which comes directly to us from French, is considered uncertain by many etymologists. At one time chagrin was thought to be the same word as shagreen, ›a leather or skin with a rough surface,‹ derived from French chagrin. The reasoning was that in French the word for this rough material, which was used to smooth and polish things, was extended to the notion of troubles that fret and annoy a person. It was later decided, however, that the sense ›rough leather‹ and the sense ›sorrow‹ each belonged to a different French word chagrin. Other etymologists have offered an alternative explanation, suggesting that the French word chagrin, ›sorrow,‹ is a loan translation of the German word Katzenjammer, ›a hangover from drinking.‹ A loan translation is a type of borrowing from another language in which the elements of a foreign word, as

25 Vgl. Lemma »chagrin« (wie Anm. 16).

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in Katzen, ›cats,‹ and Jammer, ›distress, seediness,‹ are assumed to be translated literally by corresponding elements in another language, in this case, chat, ›cat,‹ and grigner, ›to grimace.‹ […] Chagrin is first recorded in English in 1656 in the now obsolete sense ›anxiety, melancholy‹.«26

Das Wort »chagrin« in »The Nothingness« kann als pun gelesen werden, gerade auch deshalb, da es ein Effekt des pun ist, Pseudo-Etymologien und Bedeutungsverwandtschaften zu produzieren; in diesem Fall funktioniert das pun durch eine Doppelbedeutung, eine Heteronomie bei Homografie.27 Quins »blessedness«, die er nur selten fühlt, ist als ein ›approximatives‹ Gegengefühl zu »nothingness« bestimmt. Das Verhältnis zwischen den beiden Gefühlen wird mit der geometrischen Form eines Parallelogramms beschrieben: »To leave this feeling of blessedness which it was so seldom Quin’s good fortune to enjoy, and to return to the feeling of nothingness from which he suffered without intermission, if what is without intermission may be called a suffering, this latter may perhaps be defined as the resultant of two equal, wellnigh parallel and approximately opposite emotional forces, between whose warring pressures the soul of Quin would certainly have been pressed, as in a press, had not Nature, by most beautiful and merciful provision, suffered them to be replaced by a lesser diagonal of the exceedingly flat ensuing para{l}lelogram, the exceedingly flat ensuing parallelogram indeed.«28

Das angeführte Parallelogramm wird hier als eine dynamische Form beschrieben, die von zwei sich entgegenwirkenden Kräften in Form gezogen und gehalten wird. Die Kräfte, die Quins Seele in »its component atoms« drängen, stellen ein Gleichgewicht her zwischen »on the one hand the sens [sic!] of kinship with« und »on the other that of estrangement from the All«.29 Die Form des Parallelogramms wird gehalten durch die Kraft (»force«) der Gegensätzlichkeit der Gefühle, die damit in eine konkrete grafische Spatialität überführt wird, indem es 26 Ebd. 27 Vgl. Bettine Menke, »Pun«, in: Eva Horn, Michèle Lowrie (Hrsg.), Denkfiguren. Für Anselm Haverkamp, Berlin: August, 2013, S. 167-172; Derek Attridge, »Unpacking the Portmanteau, or Who’s Afraid of Finnegangs Wake«, in: Jonathan Culler (Hrsg.), On Puns. The Foundation of Letters, Oxford: Basil Blackwell, 1988, S. 140-156, hier S. 154; ders., »Language as History, History as Language: Saussure and the Romance of Etymology«, in: ders., Peculiar Language. Literature as Difference from the Renaissance to James Joyce, Ithaca, NY: Cornell University Press, 1988, S. 90-126. 28 Beckett, »The Nothingness« (wie Anm. 3), S. 57-59. 29 Ebd., S. 59.

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als geometrische Skizze im Manuskript gezeichnet steht. Diese Spatialität ist die der heterografischen Anordnungen der Manuskriptseiten, die Text und Zeichnung kombinieren und zu Konstellationen von Figur und Grund machen. Insbesondere eines der drei auf den Manuskriptseiten als geometrische Skizzen auftretenden Parallelogramme doppelt in seiner Beschriftung noch einmal die Einlassung von »nothingness« zwischen »one thing« und »all things«. So stehen Annotationen an den Seiten der geometrischen Figur und mit Strichen und Pfeilen ist beschrieben, welche Linien mit welchen Ausdrücken korrelieren. Die Wörter des Textes fungieren so als Legende und die Texte als Illustration der Zeichnung. Der Zustand »nothingness« als ein Zwischen wird in den Texten als ein Ort und Zustand beschrieben, der gleichsam leer und voll ist und der Unterscheidungen nicht (mehr) zulässt. Das Parallelogramm illustriert die Gefühlslage von Quin zwischen »nothingness« und »blessedness«, zwischen »no thing« und »some thing«. Es wird gleichsam als Parallele beschrieben, auch wenn die Möglichkeit anderer Analogien sofort angefügt wird, denn »[o]ther description than the above could be given of that which is above described. But the result would be the same«. Als Resultat wird ein letzter Satz hinzugefügt, der als einzeiliger Absatz im Schriftbild auffällt und der eine weitere Gleichung bzw. Rechnung aufstellt, indem nicht nur viel sondern eine Anzahl von viel, nämlich so viel in Verbindung gebracht wird mit nichts bzw. der Nicht(s)igkeit: »So much for the nothingness«.30 Die Spatialität des Parallelogramms kann mit einer weiteren interlingualen Konnotation von »chagrin« zusammengelesen werden. Der französische Ausdruck »chagrin« ist auch ein intertextueller Verweis auf Honoré de Balzacs (von Beckett gelesenen) Roman La peau de chagrin.31 Das Stück »Eselshaut« ist eine Art Talisman, der Wünsche erfüllen kann, mit jedem Wunsch jedoch kleiner wird und das Leben des Wünschenden verkürzt. In Bezug auf den Roman wurde die Verbindung zwischen Haut (»peau«), Pergament und Papier schon vielfach hervorgehoben.32 Dieser Zusammenhang wird durch die Situierung von Becketts 30 Ebd. 31 Honoré de Balzac, »La Peau de chagrin«, in: ders., La Comédie humaine. Bd. 10: Études philosophiques, hrsg. von Pierre Georges Castex u.a, Paris: Gallimard, 1979 (= Bibliothèque de la Pléiade; 42), S. 57-294. In Beckett avant la lettre (Beckett before Beckett) beschreibt Brigitte Le Juez, dass Beckett sich immer wieder gegen Honoré de Balzac ausgesprochen hat. Er kritisierte Balzacs Oberflächlichkeit, seine Stringenz und Finalität. Vor diesem Hintergrund kann die Figur des Parallelogramms als »chagrin« in »The Nothingness« auch als Parodie auf Balzacs vermögendes Leder gelesen werden. Vgl. Brigitte Le Juez, Beckett avant la lettre, Paris: Grasset, 2007, S. 48-55. 32 Vgl. Lothar Müller, Papier. Die Weiße Magie, München: Hanser, 2012, S. 215-219.

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»The Nothingness« im Notizbuch und im Typoskript auch für den Ausdruck »chagrin« interessant, da die Form des Parallelogramms in der gezeichneten Ausführung in den Manuskripten einem Chagrinleder ähnelt. Balzacs »peau de chagrin«, der Talisman, das Stück beschriftete Eselshaut, ist, wie Bettine Menke betont, ein materialisiertes Verhältnis zwischen Wollen (vouloir) und Können (pouvoir).33 Der Kummer von Quin verläuft zunächst gegensätzlich zu dem des Protagonisten Raphaël bei Balzac. Die »peau de chagrin« bei Balzac schrumpft. Raphaël, der dies bemerkt, zeichnet den Umriss des noch recht großen Leders nach. Doch die Linien können es nicht in Form halten. Die Differenz zwischen dem gezeichneten Umriss und den Außenlinien des Leders wird immer größer. Bei Beckett wird das Parallelogramm von gegensätzlichen Kräften auseinandergezogen, da es das Gefühl zu Quins Missverhältnis des Wollens und Könnens ausdrückt. Dennoch ist es die gleiche Figur, denn der Kummer Raphaëls setzt mit dem Schrumpfen der Haut ein, einer Haut, die Können und Wollen in Eins zu bringen vermag, das eine wird das andere. Balzacs »peau de chagrin« wird mit dem schrumpfenden Leder zu der Definition des pars pro toto, dem »hole«, das für ein »whole« stehen kann – oder umgekehrt.34 Becketts Parallelogramm führt diese Setzung von Teil und Ganzem als ein Verhältnis von verschiedenen Gefühlszuständen aus. Null Die »other words«, die in den drei Texten auftreten, sind die Wörter »null« und »nothing«, die mitbestimmen, was unter »nothingness« zu verstehen ist. Dabei geht es mit »null« um die Entwertung bzw. Auslöschung, um eine Nichtigmachung der Gefühle, die eine andauernde Existenz der Figur erst möglich macht, denn »[i]n other words, Quin felt himself null, in order to continue in his being«.35 Mit dem Adjektiv »null« wird neben der Frage des Nichtigen, Ungültigen auch die Zahl und Ziffer Null aufgerufen, die das sprachliche und schriftliche Zeichen für die Anwesenheit des Abwesenden ist.36 Diese doppelte Bezeichnung der Absenz wird mit dem Schriftzeichen der Null (»0«) zum Meta-

33 Vgl. Bettine Menke, »Glückswechsel, Kontingenz und Tableaux in Balzacs La peau de chagrin«, in: Daniel Eschkötter, Bettine Menke, Armin Schäfer (Hrsg.), Das Melodram. Ein Medienbastard, Berlin: Theater der Zeit, 2013, S. 214-216. 34 Vgl. ebd. Menke bezieht sich auf Samuel Weber, Unwrapping Balzac. A Reading of »La Peau de Chagrin«, Toronto: University of Toronto Press, 1979, S. 132. 35 Beckett, »The Nothingness« (wie Anm. 3), S. 55. 36 Vgl. Rotman, Signifying Nothing (wie Anm. 10), S. 59.

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Zeichen.37 In diesem Fall ist »0« nicht als Ziffer gesetzt, dafür das »nothing«. Die Ikonizität der »0« kann so nur als Übertragung und Spur an dem »o« des »no« abgelesen werden.38 Es geht dabei um eine Form von ›no-thing-ness‹ die, vielleicht in verschiedenem Maße, aber doch immer alle drei Kategorien mit einbezieht. Die »null«-Setzung lässt somit einen Diskurs von Schriftzeichenordnung und Schriftsystemen anklingen, die jenseits von alphabetischen Ordnungen liegen (ohne diese auszuschließen), nämlich jene Anordnungen, die Grundbedingung für ein Funktionieren der Schrift sind. Dazu gehört insbesondere das Stellenwertsystem der Mathematik.39 Die Null ist vor allem eine Marke der (Leer-)Stelle, ein Platzhalter, ein Punkt von Ende und Grenze, die auch den mathematischen Ausgangspunkt für kombinatorische und permutative Operationen und Performanzen bildet, wie sie in prominenter Form auch an anderen Stellen in Watt immer wieder vorgenommen werden.

37 Vgl. ebd., S. 105: »To present matters in such a way is in no sense to suggest that by being undeconstructed our account of zero must be illusory. Rather it is to point out as final gloss on the ›text‹ here, that deconstructivism is a species of global absolutism which, in the end, does not impinge on a text which claims no more for its oppositions than they are local and relative. Thus Derrida’s arguments tell us that there is no absolute origin to signs (signs are always already there) that there is no absolute category of meta-signs (all signs are meta-signs since they refer to and invoke other signs) that there is no absolute sense of the literal (what is figurative and what non-figurative interpenetrate) that there is no absolute signifier (signifiers cannot but be signifies of other signs, and so on). But there is in these denials no reason why a sign such as zero can be a relative origin, why zero cannot signify absence relative to the presence of certain other signs, why, that is, zero cannot be privileged as a meta-sign with respect to other signs not so privileged.« [Herv. i.O.]. 38 Die Ikonizität des Buchstaben »O« muss keineswegs mit der Einschließung von Leere, also von Nichts interpretiert werden, sondern kann auch mit der Einschließung von Allem, als Fülle gelesen werden. 39 Vgl. Georges Ifrah, Universalgeschichte der Zahlen, Frankfurt a.M.: Tolkemitt, 2010, S. 411-424; Rotman, Signifying Nothing (wie Anm. 10).

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3. Z WISCHENRÄUME »A dark nothing« Die beiden Texte »The Sky« und »The Waste« folgen dem Kapitel »The Nothingness« und führen die gedankliche Linie weiter. In »The Sky« wird das »something«, in dem »nothingness« situiert ist, als aufgespalten in zwei ›Dingse‹ beschrieben: »the thing above and the thing beneath«.40 Diese ›Dingse‹ unterscheiden sich nur in ihrer Position zu Quin, und »the thing above« ist nichts anderes als »the sky«, »the thing beneath« ist »the waste«. Die Ununterscheidbarkeit zwischen diesen beiden ›Dingsen‹ und letztlich auch von »nothingness« und Quin wird dadurch gewährleistet, dass alle von der gleichen dunklen Farbe sind: »The sky was of a dark colour, from which it may be inferred that the usual luminaries were absent. They were. The waste also, it need hardly be added, was or [sic!] a dark colour. Indeed the sky and the waste were of the same dark colour, which is not to be wondered at. Quin also was very naturally of a dark colour, of the same dark colour, a dark nothing between the dark thing above and beneath.«41

Die gleichfarbigen Dinge oder ›Dingse‹ »something« und »nothing« werden ununterscheidbar und sind in diesem Nebel »midst« nur noch als Abfall, als »waste« erkennbar. Und auch Quin selbst wird in diesem »midst« zu einem Nichts, »a dark nothing«, da er in dem gleichen Dunkel oder, genauer, in der gleichen dunklen Farbe verschwindet. In dem Kapitel »The Waste« wird der erzählten Situation nicht mehr viel hinzugefügt: Der Text beschreibt sprachliche und schriftliche Ersetzungsvorgänge und führt diese aus. Er artikuliert das Weiterdenken im Schreibprozess und die Überlegung oder Erkenntnis, dass andere Wörter, andere als die bereits geschriebenen, besser passen könnten. Diese Vorgänge funktionieren in zwei Stufen: Zunächst heißt es, »[t]he word marsh would perhaps better render than the word waste« und dann: »and perhaps even better than the word marsh the word bog«.42 Dabei geht es um »the precise shade of meaning intended in the present connexion«. Wenn diese genaue Bedeutungsschattierung jedoch von »waste« als »Abfall« bei »marsh« als Sumpf noch botanisch aufgewertet wird, kann man mit dem Wort »bog« nicht nur im »Moor« stecken bleiben, sondern auch im »Klo« oder »Scheißhaus«. Wie auch immer »the precise shade of meaning« zu lesen 40 Beckett, »The Sky« (wie Anm. 3), S. 61. 41 Ebd. 42 Beckett: »The Waste« (wie Anm. 3), S. 63.

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ist, im Kapitel »The Waste« wird vorgeschlagen, dieses Wort auch in »the foregoing chapter« zu ersetzen, und zwar mit »marsh« oder noch besser mit »bog«. In »The Nothingness« ist das Nichts markiert. Es ist notiert als »no thing« mit der Lücke zwischen »no« und »thing«, also ein »thing«, das negiert wird, indem ihm das »no« als Operator vorgeschrieben wird. In dem Auseinanderschreiben der beiden Wörter wird »nothing« als Kompositum entlarvt, in dem die Lücke auf die einzelnen Glieder, Wörter und Morpheme zeigt. Das »no thing« steht inmitten – »midst« – von Etwas, von »some thing«. Genauer beschrieben – »in other words« – wird dieses »no thing« zu »null«,43 das hier als Brücke und Platzhalter für die Gewährleistung einer Kontinuität des Seins steht. In dem Auseinanderschreiben der Wörter »no« bzw. »some« und »thing« wird die Verneinung und Attribuierung des Dings als Nichts schriftbildlich als Spatie, als Auslassung notiert: Die Mitte (»midst«) ist hier nichts bzw. ein Nichts. Die Lücken im Schriftbild zwischen den Wörtern sind eine Grundbedingung für das alphabetische Schreiben, für die Markierung von Sinnzusammenhängen und für eine Sinnerzeugung. Ohne die Lücken – die Leerzeichen – zwischen den Wörtern können die nach den Regeln der Wortbildung kombinierten Buchstaben keinen Sinn ergeben. Sie schaffen und definieren zuallererst die Wörter als Einheiten. Sie trennen die Buchstaben, die nicht zusammenstehen dürfen. Die Benennung der typografischen Lücken als Spatien zeigt die räumliche bzw. flächige Dimension der Textseite an. Darüber hinaus zeigt die Lücke den Grund, auf dem die Schriftzeichen angeordnet und notiert sind.44 Die Schrift, die zur Figur in einer Figur-Grund-Relation wird, ist nicht nur als alphabetische oder phonographische Schrift denkbar, sondern als eine Schrift, die jegliche Form von Notation mit einbezieht. Die Lücke legt den Grund frei und markiert die Figur der Buchstaben als Differenz. Im Falle des »no thing« in »the midst of something« wird die entstehende Lücke, das entstehende Loch als »midst«, als Medium, nicht nur gezeigt, sondern in dem Sinnzusammenhang auch kommentiert.45 Räumlich ist »nothingness« also im Verlauf von allen drei – immer kürzer werdenden – Texten als eine mediale Figur des Zwischen gekennzeichnet. In den Kapiteln »The Sky« und »The Waste« wird dieses Zwischen zu einem Horizont, 43 Vgl. ebd., S. 59. 44 Zur Funktion der Lücke in gedruckten Texten siehe Thomas Fries, »Der weiße Zwischenraum aus typographischer und poetischer Sicht«, in: Mareike Giertler, Rea Köppel (Hrsg.), Von Lettern und Lücken. Zur Ordnung der Schrift im Bleisatz, München: Wilhelm Fink, 2012, S. 115-128; Annett Gilbert: »›Asymmetrische Typographien‹. Zu den Lücken der Schrift in der jüdischen Tradition«, in: ebd., S. 185-206. 45 Vgl. Beckett, »The Sky« (wie Anm. 3), S. 61; ders., »The Nothingness« (wie Anm. 3), S. 59.

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etwas zwischen Himmel und Erde, zwischen »the sky« und »the waste«. Dieser Horizont ist dunkel, in der gleichen »dark colour« wie »sky« und »waste«, und in diesem Dunkel verschwindet Quin, da auch er »very naturally of a dark colour, of the same dark colour« ist.46 Quin, der als Körper bzw. Figur definieren könnte, wo sich der Horizont befindet, wird »a dark nothing« und insofern zu all dem, was ihn umgibt.47 Damit ist dieses »dark nothing« gekennzeichnet als ein in einer Dunkelheit verschwundenes Nichts. Das »dark nothing« schließt so die Lücke, die an anderer Stelle das Spatium geschaffen hat. Das, was als weißes Nichts, als die Abwesenheit von Zeichen und Anwesenheit des hellen Grundes (der Typoskriptseite) vorgestellt wurde, wird durch die schwarzen Buchstaben geschlossen. Das Nichts löst sich nicht mehr im Grund auf, wird nicht mehr zum Grund, sondern löst sich in der Schrift auf und wird zur Figur. So kann »nothing« also beides sein. Es kann sich in beiden Formen zeigen, und zwar als Grund und als Figur. Es entsteht als ausgespieltes Verhältnis von beiden, wird zur Kippfigur von An- und Abwesenheit, von Setzung und Ersetzung, die paradoxerweise immer auf die Abwesenheit des Anderen zeigt und verweist. Abbildung 1: »The Waste«

Samuel Beckett, »The Waste«, in: Watt-Typescript (wie Anm. 1), S. 61.

46 Ders., »The Sky« (wie Anm. 3), S. 61. 47 Ebd.

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Andere Zeichen Der erste Text, »The Nothingness«, und der dritte Text, »The Waste«, enden mit einer Aufrechnung (»resultant«), nämlich dem Ausdruck »so much for«48 und stellen mit »for« wieder eine Verbindung zur Platzhalterfunktion des pars pro toto her. Die Abrechnungsformeln suggerieren ein Ende, eine Beschreibung von und ein Gegenstück zu dem Nichts. Beide Rechnungen gehen jedoch nicht auf, sondern werden unterlaufen. Dies geschieht auf jeweils unterschiedliche Weise: Das schließende Resultat »so much for the nothingness« am Ende des ersten Texts wird in den folgenden Texten »The Sky« und »The Waste« wieder geöffnet, da »nothingness« dort weiter definiert und situiert wird. Der Ausdruck am Ende des dritten Texts, »[S]o much for the sky and the wa - - , pardon!, the bog«, der das Resultat des ersten iteriert, ist in sich selbst gestört.49 Die Sprache, die abrechnen will, wird durch das Schriftbild – einem anderen Ort der Rechnung – beeinträchtigt. Dabei verbinden sich zeitliche und spatiale Elemente: Das Nacheinander der Sprache wird zum Nebeneinander der Schrift. Die zwei hinter die zwei Buchstaben »wa« gesetzten Querstriche funktionieren – als Gedankenstriche? – in verschiedenen Verhältnissen, die sie gleichsam produzieren. So stehen sie gerahmt von anderen orthografischen (Satz-)Zeichen, die durch ihre Anwesenheit den alphabetischen Code sprengen bzw. erweitern: Spatien und Kommata.50 Das Komma hinter den Strichen macht aus der Zeichenkombination einen Ausdruck. Die beiden hintereinander gesetzten Striche stehen an der Stelle der drei unausgeschriebenen Buchstaben des Wortes »waste«, von dessen Ersetzung der gesamte kurze Text handelt, als ob diese sich nicht schreiben lassen, ihre Stellen sperren, sie im Voraus durchstreichen. Jedoch streichen sie nichts durch außer den Lücken im Text, die durchsichtig-weiße Leere des Papiers.51 In dem Ausdruck sind drei Leerstellen eingeschlossen, denn hinter den Buchstaben »wa«, zwischen den Strichen sowie zwischen ihnen und dem Komma befindet sich jeweils ein Leerzeichen, ein Spatium. Im Kontext der kurzen Texte kann die

48 Beckett, »The Nothingness« (wie Anm. 3), S. 55; ders.: »The Waste« (wie Anm. 3), S. 63. 49 Ebd. 50 Vgl. Bettine Menke, »Auslassungszeichen, Operatoren der Spatiaisierung – was ›Gedankenstriche‹ tun«, in: Giertler, Köppel (Hrsg.), Von Lettern und Lücken (wie Anm. 44), S. 73-96, hier S. 84f. 51 Vgl. ebd., S. 84. Menke bezieht sich hier auf Jean Pauls Bemerkung, dass nunmehr Leere durchgestrichen werde.

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Betonung der Lücke als »nothing« im Text gelesen werden.52 Die Querstriche – ob Gedanken-, Bindestrich oder mathematischer Operator für Subtraktionen – sind Nähte im Text, die die Lücken zusammenhalten. In einer anderen mathematischen Funktion steht ein horizontaler Strich, der den Abschluss der Rechnung beschreibt. Bettine Menke betont, dass dieses » – Cancellieren – […] aller Subtraktionen wie Additionen, aller Rechnungen und deren Resultate Sicherung entscheidend für jede Rechnungsstellung wie sonstige vertragliche Aufstellung« ist.53 Die »Paradoxie« besteht darin, dass die Leere des Raums erst durch das Durchstreichen betont wird, dass er, so Menke, »sowohl (vorgreifend) (von allen Eingriffen) leer-gehalten als auch als leerer markiert und sichtbar wird, indem er gesperrt wird«.54 Die Zeichen sind laut Bernhard Siegert »Sperr- oder Füllzeichen«.55 Die Querstriche versuchen, wie das »dark nothing«, die Leere zu füllen, die Lücken zu schließen, was jedoch nur teilweise gelingt. So steht auf dem Papier eine Akkumulation von Nichts-Zeichen (in der Figur einer Accumulatio von Schriftzeichen), von Lücken und Ausstreichungen, die alle, indem sie nichts markieren, es gleichzeitig bezeichnen. Die Rechnung des »so much for« wird also neu formuliert und notiert: Der Operand, das »resultant«, das im ersten Text noch »nothingness« heißt, wird nun ersetzt durch die Ansammlung von Buchstaben, Lücken und Querstrichen, durch »wa – – « und mit » – – « zerlegt in mehrere Nichtse. In diesem kalkulatorischen Ausdruck werden die Wörter und Schriftzeichen für Nichts gleichzeitig zu Zeichen für Null, da in der Rechnung Nichts zu Null wird. Durch das Spiel mit den verschiedenen Schriftzeichen und den Lücken wird betont, dass es im poetischen Text um ein Spiel zwischen Schrift und Sprache geht, das als Wettstreit ausgetragen wird. Das Wort »pardon!,« mit Ausrufezeichen und Komma fein säuberlich hinter die Lücken-Zeichen-Kombination gesetzt, performiert die Kraft der Schrift im Text. Wenn »wa – – « nicht schon geschrieben wäre, müsste sich der Text nicht entschuldigen. Die Schrift war hier schneller – früher da – als die Sprache, die kraft ihres wörtlichen Einschubes versucht, jene im Zaum zu halten. Gerade mit dem Streit zwischen Sprache und Schrift, mit der Markierung der schriftbildlichen Beschaffenheit, operiert die 52 Die Ersetzungsvorgänge im Text zeigen auch seinen Status als Entwurfstext an. Sowohl im Manuskript als auch im Typoskript sind Korrekturvorgänge, Ausstreichungen und Ergänzungen in vielen Varianten vorhanden. Ein Beispiel ist die Umbenennung des Titels von »The Isolation« in »The Nothingness« (siehe Titelbild). 53 Menke, »Auslassungszeichen« (wie Anm. 50), S. 85. 54 Ebd., S. 84. 55 Siegert, […] Auslassungspunkte (wie Anm. 12), S. 27.

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Rechnung zwischen Nichts und Text in seiner materiellen Manifestation auf der Buchseite. Die Texte ergeben »nothingness«, sie sind nichts wert, sie können mit nichts aufgerechnet werden. Sie werden »nothingness«, eine Summe von Nichtsen, die eben nicht abwesend, sondern als »no thing […] in the midst of some thing« anwesend sind.56

4. S PUREN

VON

N ICHTS

IN DEN

»A DDENDA «

Andere Spuren / Andere Nichtse Wenn, wie Daniela Caselli beschreibt, die »Addenda« in Watt »[are] participating in the construction of infinit mise en abymes«,57 dann lohnt es sich, in den Fragmenten die Suche nach verschiedenen Nichtsen auch stellvertretend für den gesamten Roman durchzuführen. Die acht Buchseiten der »Addenda« sind eine Sammlung mit meist fragmentarischen Textstücken unterschiedlicher Art, die nacheinander gelistet und jeweils durch drei mittig gesetzte Querstriche abgetrennt sind. Durch ihre grafische Vereinzelung und ihren Platz in den »Addenda« scheinen einige der Einträge besonders große Aufmerksamkeit bekommen zu haben. Viele der Einträge wurden bereits in den Fokus von Untersuchungen gerückt, mit dem Ziel, in ihnen einen Schlüssel für die Erschließung von Watt zu finden. Intertextuelle Verweise auf die anderen vier Teilen des Romans sowie auf Texte anderer Autoren spielen genauso eine Rolle, wie Mehrsprachigkeit und Fragmentalität mitthematisiert werden. Hier können, der listenden Art der »Addenda« folgend, nur einzelne Versatzstücke in den Blick genommen und an ihnen exemplarisch einige Verbindungen aufgezeigt werden.58 56 Im Text, im Ausdruck »wa - - «, zeigt das dash den Abbruch der Sprache an. Wie Menke anmerkt, scheint das dash in Bezug auf seine Setzung im englischen Drama des 17. Jahrhunderts den Einsatz – und nicht den Abbruch – der Rede anzuzeigen. Vgl. Menke: »Auslassungszeichen« (wie Anm. 50), S. 76. Sie bezieht sich auf den Eintrag im Oxford English Dictionary (OED). Vol. III, Oxford: Clarendon Press, 1933, S. 39f. Im Fall des Dramas als Aufführungstext oder, anders gesagt, als ein Text, der ein Verhältnis von Stimme, Text und Performanz, von Ausgesprochenem, Gelesenem und Ausgeführtem ist, wird das dash durch sein Nicht-Aussprechen an die Schriftlichkeit des Textes zurückverwiesen. Es markiert die Zeile als schriftlichen Ausdruck in der Spatialität der Seite und verweist als Operator auf eine Funktion, die jenseits von phonographischer und alphabetischer Schrift liegt. 57 Caselli, Beckett’s Dantes (wie Anm.7), S. 89. 58 Vgl. ebd., S. 84-90; Chris J. Ackerley, Obscure Locks, Simple Keys. The Annotated »Watt«, Tallahassee, FL: Journal of Beckett Studies Books, 2005, S. 205-217.

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Wenn man der Fußnote der »Addenda« Glauben schenken und ihr folgen möchte (»The following precious and illuminating material should be carefully studied. Only fatigue and disgust prevented its incorporation«59), dann sind diese Reste nicht in den Textkörper integriert, sondern seine Extremitäten. Was dabei besonders interessiert, sind die Sätze und Wörter, die sich um Null und Nichts drehen und damit – oder darüber hinaus – mit den drei Texten aus den Entwürfen in Verbindung stehen. Ein Wort, das in die Bedeutungszusammenhänge von Null und Nichts gehört und eines ist, das zwischen ihnen sitzt, ist »naught«. Es tritt in den »Addenda« in einem mehrzeiligen Eintrag auf, der die An- und Abwesenheit von Geräuschen und Stimmen beschreibt: »[D]ead calm, then a murmur, a name, a murmured name, in doubt, in fear, in love, in fear in doubt, wind of winter in the black boughs, cold calm sea whitening whispering to the shore, stealing, hastening, swelling, passing dying, from naught come, to naught gone.«60

Die Lektüre des Eintrags als eine Beschreibung des Lebenszirkels oder der Schöpfungsgeschichte beinhaltet die Betonung des Nichts von Anfang bis Ende, wenn »dead calm« als eine Form von Nichts verstanden wird. Dass das Wort »naught« ausgerechnet in der Wortfolge »from naught come to naught gone« steht, rückt damit die Frage eines Ursprungs in den Mittelpunkt. Dabei steht »naught«, das sowohl Null als auch Nichts bezeichnen kann, als eine Art Nulloder Umschlagpunkt für Leben und Tod. Die Frage von Leben und Tod wird auch in zwei anderen Einträgen gestellt, die ebenfalls einen Bezug zu den Entwurfstexten haben. Die Aussage »never been properly born« steht am Anfang der Texte über Quin im Typoskript. Es ist Quin, der sich fragt, ob er jemals richtig geboren wurde. Vielleicht lässt sich so »[t]he feeling of nothingness, born in Quin with the first beat of his heart, if not before, died in him with the last, and not before« erklären, wenn der Tod und »naught« Anfang und Ende bedeuten und so gleich bzw. parallel werden. In beiden Texten, sowohl in den »Addenda« als auch zu Beginn von »The Nothingness« folgt ein Satz über die Ungeborenen mit einer fast identischen Quellenangabe: »the foetal soul is fullgrown. (Cp. Cangiamila’s Sacred Embryology and Pope Benedict XIV’s De Synodo Diocesana, Bk. 7. Chap. 4,

59 Beckett, Watt (wie Anm. 2), S. 215. 60 Ebd., S. 216.

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Section 6.)«61 Dieser Eintrag der »Addenda« besitzt als einziger Quellenangaben und gibt diesen eine Register- bzw. Anmerkungsform. Sie bringt den Lebenszyklus und die Schöpfung zusammen mit den Stadien des Nichtsseins der Figuren, die nicht nur »from naught […] to naught« gehen, sondern wie Quin eben zeitlebens zwischen Himmel und Abfall »a dark nothing« sind. Der Untergrund, auf denen diese stehen, ist jedoch kein sakraler himmlischer oder höllischer, sondern ein sehr irdischer Sumpf aus Fäkalien.62 Auf den Untergrund, auf dem Quin bzw. Watt stehen, lässt sich auch ein anderer Eintrag der »Addenda« beziehen, wenn es in deutscher Sprache heißt: »Die Merde hat mich wieder.« Der Ausdruck ist lesbar als ein »parodiertes«63 Zitat aus Johann Wolfgang von Goethes Faust (I), wo es heißt: »die Erde hat mich wieder«.64 So wird die Erde im Deutschen im Französischen zur Scheiße gemacht. Insbesondere das Gegenstück zum Himmel in »The Sky«, das eben nicht als Erde, sondern als fäkaler Abfall oder Sumpf bezeichnet ist, betont, auf welchem »waste« oder »bog« Quin/Watt stehen. Das »thing beneath«, auf dem sie stehen, ist so eine Art Erde, die buchstäblich in die »Merde« eigeschrieben ist. Der sechste Eintrag kann als eine metatextuelle Selbstbeschreibung der »Addenda« gelesen werden und schreibt sich darüber hinaus auch in ein rechnerisches Verhältnis von Grenzen, Teilen und Ganzen ein. Der Einzeiler handelt wieder von einem synekdochischen Verhältnis. Mit »limits to part’s equality with whole«65 wird infrage gestellt, wie gleichwertig das Teil zum Ganzen ist. Diese Aussage fasst in nuce die figürlichen Fragen des Texts »The Nothingness« 61 So als Eintrag in den »Addenda«. Beckett, Watt (wie Anm. 2), S. 217. Im Typoskript ist die Formatierung und Reihenfolge wie folgt: »The foetal soul is fullgrown. (Cangiamila’s Sacred Embryology and the De Synodo Diocesana, Bk. 7. Chap. 4, Section 6, of Pope Benedict XIV).« Beckett, »The Nothingness« (wie Anm. 3), S. 55 [Herv. i.O]. 62 Für die vielfältigen Bezüge zu einem von Becketts Lieblingstexten, nämlich Dante Alighieris Divina Commedia, insbesondere auch in Watt und seinen »Addenda«, sei an dieser Stelle auf Daniela Caselli verwiesen. Vgl. Caselli, Beckett’s Dantes (wie Anm. 7), S. 95-99. 63 Ackerley, Obscure Locks (wie Anm. 58), S. 212. 64 Beckett, Watt (wie Anm. 2), S. 219. Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, hrsg. und kommentiert von Erich Trunz, München: C.H. Beck, 1999, S. 31, Vers 784: »Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder.« Das Wort »Merde« verweist jedoch nicht nur auf die Tragödie, sondern auch auf Alfred Jarrys Ausdruck »Medre« aus Ubu Roi, der aus Gründen der (Selbst-)Zensur so verdreht wurde. Vgl. Alfred Jarry, Ubu Roi, postface de Joël Gayraud, Paris: Mille et une nuits, 2000. 65 Beckett, Watt (wie Anm. 2), S. 215.

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zusammen, wird doch hier einerseits die Frage von Ganzem und Teilen wieder aufgeworfen und dabei im selben Zuge auch die Gleichheit (»equality«) von beidem infrage gestellt. Mit der »equality« ist auch wieder das Parallelogramm aufgerufen, dessen Konstruktionsprinzipien auf zwei mal zwei gleich großen Winkeln beruhen und das in der Beschreibung im Text im Gleichgewicht gehalten wird. Das Infragestellen der »equality« von Teilen und Ganzen bringt die Frage nach den Kategorien mit sich: geht es um Messbarkeiten wie Größe und Gewicht? Oder, wenn Teil und Ganzes gleich sind, unterscheiden sie sich nicht und es braucht auch keine Synekdoche als sprachliches Hilfsmittel, um das Eine für das Andere zu setzen. Es sei denn vielleicht das »whole« ist ein »hole«, ein Nichts. Nichts als Wörter In den »Addenda« stehen – als vierter Eintrag – acht Zeilen, die »nothingness« in Wörter einschließen. Die Wörter und Ausdrücke wie »absence« oder »sum assess« stehen als Stichwörter für die Funktionen von Null und Nichts:66 who may tell the tale of the old man? weigh absence in a scale? mete want with a span? the sum assess of the world’s woes? nothingness in words enclose?67

Die letzten zwei Zeilen dieses »Addenda«-Eintrags fragen »nothingness in words enclose?« und suchen den Ort von ›Nicht(s)igkeit‹ zu bestimmen, der zunächst schlicht der einer eigenen Textzeile ist. Die zweite, dritte und vierte Frage scheint schon die ersten »words« vorzugeben, in und mit denen »nothingness« bestimmt werden kann. In den »Addenda«, addiert zum Text und doch ein Teil von Watt, bildet »the sum assess« eine geschätzte Summe »of the world’s woes«, zu der »nothingness« in einem schrägen Verhältnis steht. »[N]othingness« wird in dieser Assoziationskette – in dem Hinzufügen von nichts – zur Null, zum mathematischen Zeichen, das für nichts steht und nichts bezeichnet, das das Zeichen für die Abwesenheit von anderen Zahlen und Zahlenzeichen ist. Absenz 66 Ebd. 67 Ebd.

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nennt auch die zweite Frage »weigh abscence in a scale?« und stiftet damit einen Zusammenhang zwischen der Abwesenheit von Gewicht auf einer Waage (»scale«) mit der Einteilung in einen Maßstab (»scale«) und der Ablesbarkeit einer Skala (»scale«). Die Zeile stellt damit die Frage, ob Abwesenheit gemessen bzw. gewogen werden kann. Dies führt zur dritten Frage, die ein Maß (»span«) einer Zeit- bzw. Raumspanne durch »mete want« interlingual zum Schlagstock und Metronom macht und die Zeit als eine weitere Dimension einführt. Wer letztendlich die Geschichte des alten Mannes – vielleicht des figuralen und textuellen Ahn Quins – erzählt, kann an dieser Stelle nur der Text beantworten: Von »nothingness in words enclose« zählen und erzählen die vielen »o« an dieser Stelle, die schriftbildlich das Nichts in den Text einschreiben. Der Buchstabe »o«, der der Ziffer »0« ikonisch ähnelt und die Einschließung von nichts oder etwas mittransportiert, markiert eine doppelte Einschließung von »nothingness« als buchstäbliches und mathematisches Einschließungszeichen in die »words« des kurzen Textes. Wenn die Frage »who may tell the tale of the old man?« sich auf die den »Addenda« vorhergehende Erzählung über Watt bezieht, so kann das »who« vernachlässigt werden. Die Frage, wer erzählt, fällt nämlich mit der Frage, was erzählt wird, in dem pun um den Namen »Watt« mit dem Fragepronomen »what« zusammen. Die Antwort auf diese Fragen wird in dem anderen pun mit dem Namen »Knott« gegeben, in den heterografisch und anagrammatisch nicht nur der Knoten, sondern auch das Wort »not« als Verneinungsoperator eingeschrieben ist. Es passiert nichts anderes als »a nothing«.68 »Dark white« In den »Addenda« wird »nothingness« explizit weiterverhandelt – lesbar als Spuren der drei Texte aus den Entwürfen. So findet sich ein längeres Textstück, das einen Ausschnitt bzw. eine Variante zu »The Sky« bildet, diesmal schon mit der Figur Watt statt Quin. Hier wird »the dark colour«, die sowohl »nothingness« als auch die Figur Quin/Watt haben, noch genauer beschrieben: »This dark colour was so dark that the colour could not be identified with certainty. Sometimes it seemed a dark absence of colour, a dark mixture of all colours, a dark white. But Watt did not like the words dark white, so he continued to call his darkness a dark colour plain and simple, which strictly speaking it was not, seeing that the colour was so dark as to defy identification as such.«69

68 Ebd., S. 62. 69 Ebd.

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Der Ausdruck »dark white« – diese »words«, die »Watt did not like« – erinnert an die Farbe der Manuskript- und Typoskriptseiten, auf denen diese Texte stehen. Das ›dunkle Weiß‹ definiert und verortet noch einmal den Zusammenhang von Nichts als Lücke, die die Papierseite und mithin ›etwas‹ ist. Die Dunkelheit, eine dunkle Absenz, ist nicht unterscheidbar von »nothingness«.70 Doch was die Beschreibung der ausgedehnten Nichtfarbe suggeriert, unterlaufen die heterografischen Anordnungen auf den Papierseiten, indem sie mit ihren Marken Kontraste setzen. Über die Materialität des Schriftträgers werden die Texte als ein Verhältnis von Grund und Figur betont. Insbesondere die »Addenda« bieten mit ihren heterografischen Eintragungen aus verschiedensprachigen Worten, Einschüben, Notenlinien und Textpartituren einen Schauplatz für dieses Spiel mit N/nichts. Auch hier wird wieder gestrichen: Drei nebeneinander gesetzte Gedankenstriche streichen – – – die einzelnen Einträge trennend – – – die Leere der Buchseite durch und produzieren in ihrer Metazeichenhaftigkeit, »a nothing […] with the utmost formal distinctness«,71 das Nichts bzw. Null addiert. Die vorletzte Bemerkung der »Addenda« – wenn die kursive Datierung »Paris, 1945« als letzte gelesen wird – setzt nochmals über eine Negation einen Schlusspunkt, der die Spatialität der Zeichen thematisiert. Ähnlich einem Resultat, das rückwirkend die vorgenommenen sprachlichen Operationen kommentiert, bringt der Ausdruck »no symbol where non intended« Zeichen und Fläche in ein Abhängigkeitsverhältnis.72 Nicht nur die Verneinung ist gedoppelt, sondern auch die Lektüremöglichkeit von »symbol« als Symbol und als Buchstabe. Das Wort »where« stellt, auch in seinem homophonischen pun mit »were«, den Platz der Zeichen in ihrer Materialität in den Fokus. Wenn alle Zeichen am richtigen – »intended« – Platz stehen, geht auch die Rechnung »so much for the nothingness« in all ihren Varianten auf.73

70 Die Nichtfarbe »dark white« verweist auch auf Becketts Theaterstück Endspiel. Dort wird alles und nichts als »hellschwarz«, »noir clair« oder »light black« bezeichnet, was als eine Art Gegenfarbe zu »dark white« gesehen werden kann. Im Endspiel wird dann auch eine weitere Bezeichnung für die Nichtfarbe gegeben, nämlich »grau«. Vgl. Samuel Beckett, Endspiel. Fin de Partie. Endgame, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974, S. 47-49. 71 Ders., Watt (wie Anm. 2), S. 62f. 72 Ebd., S. 223. 73 Beckett, »The Nothingness« (wie Anm. 3), S. 55.

Spuren der Zeit Zur Medialität der Unterbrechungen in Samuel Becketts Happy Days P ETER S CHUCK

Samuel Becketts Drama Happy Days um die Eheleute Winnie und Willie, die einen Hügel bewohnen, von dem sie nicht so recht loskommen und der obendrein die ganze Zeit von sengender Sonne bestrahlt wird, setzt mit einer Pause ein und hört mit einer Pause auf. Der Beginn des ersten Aktes gibt eine Beschreibung der Szenerie. Weder hat jemand gesprochen oder gehandelt noch hat sich sonst etwas Sicht- oder Hörbares ereignet, das durch eine Pause unterbrochen werden könnte – und doch steht im Text die Anweisung »Long pause«: »Expanse of scorched grass rising centre to low mound. Gentle slopes down to front and either side of stage. Back an abrupter fall to stage level. Maximum of simplicity and symmetry. Blazing light. Very pompier trompe-l’œil backcloth to represent unbroken plain sky receding to meet in far distance. Imbedded up to above her waist in exact centre of mound, Winnie. About fifty, well preserved, blond for preference, plump, arms and shoulders bare, low bodice, big bosom, pearl necklet. She is discovered sleeping, her arms on the ground before her, her head on her arms. Beside her on ground to her left a capacious black bag, shopping variety, and to her right a collapsible collapsed parasol, beak of handle emerging from sheath. To her right and rear, lying asleep on ground, hidden by mound, Willie. Long pause.«1

1

Samuel Beckett, Glückliche Tage. Happy Days. Oh les beaux jours. Englische Übertragung von Samuel Beckett, deutsche Übertragung von Erika und Elmar Tophoven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S. 8. Zum ›Happy Day‹ als philosophischem Denkbild bei Stanley Cavell und zu Cavells Beckett-Lektüren vgl. Kathrin Thiele, Katrin

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Das Ende des zweiten Aktes, der auch das Ende des Dramas ist, wiederholt die letzten Wörter der zitierten einführenden Regieanweisung: »Long pause«. Damit werden Anfang und Ende des Geschehens von vornherein suspendiert, es wird auf Vorgängigkeit und Wiederholbarkeit verwiesen, die ihrerseits uneinholbar sind. Der Text überschreitet mit diesen Pausen die Gemachtheit für das Theater und öffnet gleich einer Tasche (sich auf) seine Schriftlichkeit. Die folgenden Anmerkungen beziehen sich also auf das Drama Happy Days, das nicht im Hinblick auf eine Inszenierung, sondern als Dramentext behandelt und gelesen werden soll. Der Fokus richtet sich dabei – ausgehend von den beiden Pausen, die das dramatische Geschehen (jeweils) ein- und aussetzen lassen – auf die vielzählig und variantenreich vorkommenden Unterbrechungen, Pausen, Aussetzer und Fehlversuche. Winnie und Willie unterbrechen ständig ihre Handlungen und ihr Sprechen oder fallen einander ins Wort. Aber auch der Text selbst markiert Unterbrechungen: durch Interpunktionszeichen wie das dash »–« oder drei – auch als Auslassungszeichen bekannte – Punkte »…«. Zu derlei Zeichen, ihrer Geschichte, ihrer spezifischen Semiotik und Funktion im und als Text liegen bereits Forschungen vor.2 Im Kontext von Null, Nichts und Negation bei Beckett verstehen die folgenden Anmerkungen zu Happy Days derlei Zeichen – aber auch die als solche im Text benannten »pauses« sowie die anderen zahlreichen Unterbrechungen – als Varianten und Anzeigen eben von Null, Nichts und Negation. Die unterbrechenden Interpunktionszeichen werden mit anderen lesbaren Unterbrechungen in Beziehung gesetzt. Happy Days lässt einen wiederholbaren Nullpunkt merklich werden, der die Bedingung der Möglichkeit von Handlung, Sprechen und Präsenz ist. Dieser Nullpunkt als Unterbrechungseffekt wird in Happy Days ein gestischer sein, sich in Gesten wiederholen und in ihnen oder als Gesten lesbar werden. »Gesten«, so Walter Benjamin über ein Spezifikum des epischen Theaters, »erhalten wir umso mehr, je häufiger wir einen Handeln-

Trüstedt (Hrsg.), Happy Days. Lebenswissen nach Cavell, München: Wilhelm Fink, 2009. 2

Vgl. Bettine Menke, »Der Witz, den die Lettern und den die Löcher machen, …«, in: Susanne Strätling, Karsten Witte (Hrsg.), Die Sichtbarkeit der Schrift, München: Wilhelm Fink, 2006, S. 203-216; dies., »Auslassungszeichen, Operatoren der Spatialisierung – was ›Gedankenstriche tun‹«, in: Mareike Giertler, Rea Klöppel (Hrsg.), Von Lettern und Lücken. Zur Ordnung der Schrift im Bleisatz, München: Wilhelm Fink, 2012, S. 73-96; Bernhard Siegert, […] Auslassungspunkte. Vortrag an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, Leipzig: Institut für Buchkunst, 2003. Zur Lektüre der Spatialisierungsfunktionen von »dash« in Relation zu Null, Nichts und Negation in Becketts Roman Watt vgl. Karin Krögers Beitrag in diesem Band.

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den unterbrechen«.3 In Anknüpfung an Benjamin schreibt Giorgio Agamben, dass Gesten reine »Mittelbarkeit« darböten. Sie zeigen »das Sichtbarmachen eines Mittels […] als solchem«, das »In-einem-Medium-Sein« an;4 und Samuel Weber akzentuiert für die Geste deren wesentliche Wiederholbarkeit bzw. Zitierbarkeit. Die Geste kann insofern als Unterbrechungseffekt anderswo zitiert werden und deutet immer schon auf ein Anderswo und einen anderen Zeitpunkt oder eine andere Zeit hin.5 Sie stellt jede Fixierung unter Spannung. Unterbrechung, reine Medialität und Wiederholbarkeit, das sind einige jener Charakteristika, die die Geste auszeichnen. Happy Days wird durch Unterbrechungen aller Art (und deren Wiederholungen) in seiner Textur lesbar, öffnet sich auf seine eigene Schriftlichkeit, faltet unentwegt seine Schriftlichkeit (und die damit einhergehende Aufgabe des Lesens), das heißt, seine Medialität, seine Mittelbarkeit – als Unterbrechung und Geste – ins dramatische Geschehen. Happy Days entwirft sich als »Schrift-Theater«6, behandelt als Dramentext seine Schriftlichkeit gerade dort, wo es zu gestischen Unterbrechungen oder Verzögerungen des dramatischen Geschehens kommt. Er deutet damit auf seine spezifische Medialität hin, die nicht eingeholt werden kann, aber immer wieder – in ständigen Wiederholungen – durchschlägt, sich breit macht.

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PAUSE

Wenn man an Unterbrechung auf dem Theater denkt, wird einem, vielleicht ruckartig und unweigerlich, das epische Theater einfallen, das, so Walter Benjamin, »auf ganz andere Art mit dem Zeitverlaufe im Bund [ist] als das tragi-

3

Walter Benjamin, »Was ist das epische Theater? (2)«, in: ders., Gesammelte Schriften II.1, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991, S. 532-539, hier S. 536.

4

Giorgio Agamben, »Noten zur Geste«, in: ders., Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik,

5

Vgl. Samuel Weber, »Theater als Exponierung: Walter Benjamin«, in: Bettine Menke,

Zürich, Berlin: Diaphanes, 2001, S. 53-62, hier S. 61. Christoph Menke (Hrsg.), Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, Berlin: Theater der Zeit, 2007, S. 258-278, hier S. 265. 6

Bettine Menke benennt als »Schrift-Theater« ein gewitztes, von textuellen Punktierungen, Perforationen und Auslassungen herrührendes Spezifikum von Heinrich von Kleists Anekdote aus dem letzten Kriege. Siehe Menke, »Der Witz, den die Lettern und den die Löcher machen« (wie Anm. 2), S. 205.

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sche«.7 Wie das epische Theater8 ist Becketts Happy Days auf Unterbrechung gepolt. Bereits zu Beginn, noch bevor es zu einem Bühnengeschehen kommt, steht bei Beckett eine Pause. Was wird hier durch die »Long pause« unterbrochen? An wen (oder was) wendet sie sich? Durch eine Pause wird etwas, ein Verlauf – etwa der »Zeitverlauf« – unterbrochen und aufgeteilt. Eine Pause kann sanft sein, verdient gar, notwendig, beispielsweise um weitermachen zu können, aber sie ist – relativ zu dem Geschehen, in dem sie auftaucht und das sie trennt – immer auch ein Einschnitt, eine Ruptur, eine Unterbrechung. Sie lässt einen Abstand merklich werden, der relativ zum Zeitverlauf des Unterbrochenen genau dies ist: eine Zeit. »Un temps long«9, das ist in der von Beckett selbst vorgenommenen französischen Übersetzung die Entsprechung für »long pause« – eine lange Pause bzw. lange Zeit also, deren genaue Länge jedoch unbestimmt bleibt. Pausen sind produktiv, sie geben nicht nur Zeit, sondern strukturieren Zeiten: die von ihnen unterbrochene und so exponierte Zeit, die sich nochmals in Vorher und Nachher teilt und die Zeit der Pause, die Zeit, die sich während der Pause ereignet, wenn sich scheinbar nichts ereignet. Mit einer langen Pause nun setzt in Happy Days die Handlung ein – oder aus? Denn vor der langen Pause passiert nichts. Bis zur Pause ist der lesbare Text eine Regieanweisung und liefert dergestalt vorerst eine Bildbeschreibung. Beschrieben werden das Aussehen und das Arrangement der Elemente auf der Bühne, die versengte Grasebene, der Hügel, der Prospekt, die Position der dramatis personae, Requisiten (Ledersack und Sonnenschirm). Das dramatische Personal besteht aus Winnie und Willie, beide regen sich zu Anfang noch nicht: Winnie schläft und hat die Arme vor sich liegen, Willie liegt rechts hinter ihr. Obwohl noch nichts passiert ist, obwohl noch keine Handlung und kein Sprechen sich ereignet haben, wird schon etwas unterbrochen, eine lange Zeit – »un temps long« – in einen Zeitverlauf eingespannt. Was wird von dieser ersten Pause unterbrochen, wenn es doch noch gar nichts gibt, das unterbrochen bzw. von dem eine Pause eingelegt werden könnte? Wird der Nebentext mit den Regieanweisungen unterbrochen, indem er weitergeführt wird? Ist dies vielleicht sogar eine Leseanweisung, die dem Leser bedeutet, jetzt eine lange Pause zu machen, seine Aufmerksamkeit zu unterbrechen, sein Lesen auszusetzen? Wird die Stille, die Nicht-Regung des Anfangs unterbrochen? Das scheint zunächst naheliegend. Denn nachdem die lange Pause ausgewiesen wurde, klingelt es, und zwar »piercingly«. Durchstechend, punktierend heftet 7

Benjamin, »Was ist das epische Theater?« (wie Anm. 3), S. 533.

8

Die Frage, ob es sich bei Happy Days um episches Theater handelt, möchte ich hier nicht diskutieren. Ich übernehme stattdessen aus der theoretischen Diskussion des epischen Theaters den Begriff »Geste«.

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Beckett, Glückliche Tage. Happy Days. Oh les beaux jours (wie Anm. 1).

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»piercingly« Unterbrechung an Unterbrechung. »Long pause« wird an das »[a] bell rings piercingly« geheftet: »Long pause. A bell rings piercingly«, eine Unterbrechung der Unterbrechung, die bereits anzeigt, dass alles, was geschieht und im Text geschehen wird, an Unterbrechungen ›gebunden‹ sein wird, die Unterbrechung einer Unterbrechung darstellt, ohne die Unterbrechung aufzuheben, sondern sie vielmehr zu multiplizieren und zu vertiefen. »[P]iercingly« und »Long pause« antizipieren das punktierende Unterbrechungsgeschehen, das Becketts Text auch mittels »…« und »–« durchzittern wird. Handlungs- und Zeitverläufe werden durch derartige Rupturen nachträglich als solche markiert. Erst in der Unterbrechung wird ein Zeitverlauf als solcher wahrnehmbar, gerät in Form des Verlusts ins Seiende. Es setzen Bewegungen ein: Winnie erwacht und hebt den Kopf, »gazes front«10. Nun kommt es wieder zu einer »[l]ong pause«11. Winnie und Willie sind erwacht. Allerdings fallen Bewegungsabläufe schwer: Bewegen kann vor allem Winnie sich kaum, da sie bis zur Taille in den Hügel eingegraben und somit lediglich ihr Oberkörper bewegungsfähig ist. Ihre Bewegungen sind folglich minimal, stockend, begrenzt, von vornherein ist ihre volle Ausführung unmöglich. Das wird nach einer weiteren langen Pause von der Illusion eines gelingenden Redeeinsatzes überspielt: »Another heavenly day«12 sagt Winnie »gazing at zenith«13. Bevor es zur ersten körperlichen Regung kommt, gibt es eine lange Pause und bevor es zur ersten Äußerung kommt, sogar vier: drei lange und eine kurze.14 Winnies Bewegungen sind (nur) Bewegungsreste, werden von Erstarrungen gerahmt bzw. unterbrochen, von Pausen oder von einem Geradeausstarren Winnies. Ihre Bewegungen scheinen auf das Engste mit einem Stillstand im Bunde zu sein. So kommt es zu weiteren Unterbrechungen, bevor Winnie zur zweiten Redehandlung ansetzt: Ihrem geradeaus gerichteten Blick wird eine Pause nachgeschoben, nach der sie ihre Hände vor der Brust faltet und ein Sprechen eröffnet. Dieses Sprechen ist ein Gebet, das aber nicht laut artikuliert wird: Ihre »[l]ips move in inaudible prayer, say ten seconds«. Dann spricht sie leise: »For Jesus Christ sake Amen.« Nach weiterem Lippenbewegen und einer weite10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 8-10. 13 Ebd., S. 8. 14 Vgl. ebd.: »Long pause. A bell rings piercingly, say ten seconds, stops. She does not move. Pause. Bell more piercingly, say five seconds. She wakes. Bell stops. She raises her head, gazes front. Long pause. She straightens up, lays her hands flat on ground, throws back her head and gazes at zenith. Long pause.«

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ren Pause sagt sie schließlich: »World without end Amen.«15 Mit den Lippenbewegungen, an denen sich nur Teile ihres Gebets ablesen lassen, wird ein artikuliertes, sich realisierendes Sprechen zwar angedeutet, jedoch zugleich unterbunden. Ähnlichkeiten zum einsamen Lesen eines Textes zeichnen sich ab, zum einsamen Leser, der vielleicht unbewusst seine Lippen zur Lektüre in Bewegung setzt.

2. L ESEZEITEN , L ESEPAUSEN Unterbrechungen strukturieren den Dramentext. Diese wiederholten Unterbrechungen geraten im Dramentext zur Lesbarkeit, insofern die Schriftlichkeit des Textes selbst durchschlägt. »Loud: Hoo-oo. Pause. Louder: Hoo-oo! Pause. Tender smile as she turns back front, lays down brush. Poor Willie – examines tube, smile off – running out – looks for cap – ah well – finds cap – can’t be helped – screws on cap – just one of those old things – lays down tube – another of those old things – turns towards bag – just can’t be cured – rummages in bag – cannot be cured – brings out small mirror, turns back front – ah yes – inspects teeth in mirror – – poor dear Willie – testing upper front teeth with thumb, indistinctly – good Lord! – pulling back upper lip to inspect gums, do. – good God! – pulling back corner of mouth, mouth open, do – ah well – other corner, do. – no worse – abandons inspection, normal speech – no better, no worse – lays down mirror – no change […].«16

Der Text irritiert zunächst die hierarchische Ordnung von Haupt- und Nebentext. Der Blick auf die Seite fällt mit dem Blick zur Seite zusammen,17 Zentrum und Peripherie werden schriftlich gemischt und Regieanweisungen nicht als Nebentextblock vor den jeweils zu sprechenden Haupttextblock gestellt, sondern als Unterbrechung in die Rede der dramatis personae eingeschrieben bzw. umgekehrt: Der Haupttext erscheint innerhalb des Nebentextes, taucht in ihm auf und bringt ihn durcheinander. Rede und Handlung kommen sich gegenseitig in die Quere.

15 Ebd., S. 10. 16 Ebd., S. 10-12. 17 Zum Blick zur Seite als Blick auf die Seite vgl. Thomas Schestag, »Lampen (Fragment)«, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hrsg.), Übersetzen: Walter Benjamin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001, S. 38-79, hier S. 40.

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In der eben zitierten Textpassage werden die einzelnen Schritte der Mundinspektion und ihre thematisch zwischen Willie, der Zahnpastatube und dem Zustand ihres Mundes oszillierende und dabei wiederholt an- und aussetzende Rede in eine unterbrochene Verbindung gesetzt und zwar durch lesbare Interpunktionszeichen wie den Gedankenstrich. Der Gedankenstrich bezeichnet – unter anderem18 – die Unterbrechung eines geschriebenen Satzes, markiert einen Einschub; er hat eine parenthetische Funktion, kann allerdings auch ankündigend fungieren. Zumindest unterbricht er einen Satz oder bricht einen Satz ab, um etwas anderes an- oder einzufügen, das diesem Satz nicht oder nur teilweise angehört. Haupt- und Nebentext, also die Rede der dramatis personae und die Bühnenanweisungen, unterbrechen bzw. sperren sich gegenseitig und irritieren ihre strikte hierarchische Trennung. Sichtbares und Sagbares geraten in Konflikt, unterbrechen einander, sperren einander, setzen einander aus und an einen Nullpunkt zurück, von dem stets neu begonnen und zu dem stets zurückgekehrt wird. Die Unterbrechung hat Ereignischarakter und äußert sich lesbar im immer wieder durchschlagenden Ereignis der Schrift, von wo aus Rede und Handlung – also Ereignisse – erst ausgehen. Das wiederholte Aussetzen affiziert damit auch den Lektürefluss. Das findet sich im Dramentext an jenen Stellen metatextuell reflektiert und performativ eingelöst, an denen Winnie oder Willie sich an kleinen Lektüren versuchen. So etwa, wenn Winnie versucht, das Gedruckte auf dem Griff ihrer Zahnbürste zu lesen: »examines handle, reads – guaranteed … genuine … pure … what? – looks closer – genuine pure … – takes handkerchief from bodice – ah yes – shakes out handkerchief – occasional mild migraine – starts wiping handle of brush«.19 Ihre Lektüre bricht ab, wenig später setzt sie wieder an: »[R]eads: fully guaranteed … genuine pure … – looks closer – genuine pure … Takes off spectacles, lays them and brush down, gazes before her.«20 Von der Lektüre des Bürstengriffs lässt Winnie nun ab und wendet sich kurz darauf der Lektüre der Aufschrift einer Flasche mit Arznei zu. Hier geht es (zumindest etwas) flüssiger: »[R]eads label: Loss of spirits … lack of keenness … want of appetite … infants … children … adults … six level … tablespoonfuls daily – head up, smile – the old style! – smile off, head down, reads: daily … before and after … meals … instantaneous … looks closer … improvement.«21 18 Zur (Un-)Lesbarkeit dieses Zeichens vgl. Menke, »Auslassungszeichen, Operatoren der Spatialisierung« (wie Anm. 2). 19 Beckett, Glückliche Tage. Happy Days. Oh les beaux jours (wie Anm. 1), S. 14-16. 20 Ebd., S. 16. 21 Ebd., S. 18.

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Trotz des vermeintlich flüssigeren Lesens kommt es im Text zu Unterbrechungen: Die drei Punkte zwischen den von Winnie gelesenen und für uns lesbaren Textteilen streichen jene Satzglieder aus, die der Aufschrift der Flasche den Zusammenhang geben würden: zur Bekämpfung dieser und jener Symptome, verträglich für Säuglinge, Kinder und Erwachsene oder eben nicht für Säuglinge und Kinder. Winnies Lektüre suggeriert nun, dass die Arznei gegen Lustlosigkeit, Schwunglosigkeit, Appetitlosigkeit, Säuglinge, Kinder und Erwachsene hilft. Die Punkte zerpflücken den Sinnzusammenhang des Textes, sodass sich die verbleibenden Wörter neu zusammensetzen lassen – etwa als Aufzählung oder Ausschluss. Dennoch bleiben diese Lücken im Text als schriftliche Markierungen stehen. An diesem Punkt und mit diesen Punkten übergibt Winnie ihre Lektüre an die Leserschaft des Dramentextes; wir sehen Winnie beim Lesen zu, lesen gleichzeitig mit Winnie und sind dennoch mit dem, was sie uns gibt – nämlich Textreste – allein. Genau wie Winnies Lektüre geht die unsere langsam und unterbrochen vonstatten. Wohl oder übel lesen wir zunächst die drei Punkte mit und fügen ein bedeutungs-un-produktives Lesen in unsere bedeutungsproduktive Lektüre ein. Und das betrifft den von Punkten, dashes und Pausen zerfetzten Dramentext Happy Days selbst, für den damit das punktierte, unterbrechendunterbrochene, ausgedehnte Lesen (des Gedruckten auf der Zahnbürste oder des Flaschenetiketts) allegorisch wird. Punktierungen, Markierungen, Unterbrechungen, jene »Striche« und »Punkte« – so Thomas Schestag –, an denen »das Bedeuten an-, aber abbricht[,] […] beinhalten nichts. Nichts, das ihnen, aufbewahrt in ihnen, sich selbst glich, im Augenblick des Lesens entnommen werden könnte.«22 Es wird in Happy Days mit diesem Nichts die Aufmerksamkeit auf die Schriftlichkeit des Textes und insofern auf das gerichtet, was an ihm der Bedeutungsproduktion widersteht, ein Nichts, das aber gleichzeitig äußerst eifrig bei der Arbeit ist, die Lektüre dehnt und zerreißt und in einer aporetischen Spannung Lesen und Nicht-Lesen zusammenfallen lässt. »Lesen liest nicht: mündet nicht in die Versammlung, zur Letter, der Lettern zu Wörtern, der Wörter zu Sätzen, sie auf das in ihnen Versammelte hin zu überschreiten, ohne die Versammlung, im Blick, aufzustören. Lesen trifft, aber setzt, was es trifft, auseinander. Geht, wie das Licht, zur Seite. Driftet ab: über das, was es trifft, hinaus.«23

Die Punkte und Striche kommen selbst hervor, signifizieren zugleich Möglichkeiten und die Abwesenheit von Möglichkeiten, exponieren dieses Nichts durch 22 Schestag, »Lampen« (wie Anm. 17), S. 39. 23 Ebd.

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die metonymische Relation zu den lesbaren Wörtern auch in diesen Wörtern selbst, eröffnen den ausgehaltenen, geschriebenen, markierten Hinweis auf Bedeutung, der selbst aber noch nicht und nicht mehr Bedeutung ist. Es fällt nun auch das dash, das vormals Haupt- und Nebentext getrennt bzw. aufeinander bezogen hatte, in der Reihe »instantaneous … looks closer … improvement« weg. Anstelle des Haupt- und Nebentext verbindend-trennenden dashs stehen nun zweimal drei Punkte, sodass Haupt- und Nebentext nur noch durch den Kursivdruck des Nebentextes unterschieden sind und zunehmend ineinander übergehen. Ein solcher Übergang wird lesbar in der oder als Schrift. Und es wird weiter gelesen: Bald schlägt Willie hinter Winnie eine Zeitung auf und beginnt laut zu lesen, was wiederum Winnie dabei unterbricht, sich einen Hut aufzusetzen, sie »arrests gesture as Willie reads«.24 Nach weiteren Unterbrechungen und nun mithilfe einer Brille und einer Lupe setzt Winnie erneut zum Lesen der Aufschrift auf der Zahnbürste an. Akribisch werden die Schritte zur Vorbereitung der Lektüre geschildert. Die Lektüre braucht Zeit, Pausen, temps, und sie unterbricht Willie immer wieder dabei, sich Luft zuzufächeln: »Fully guaranteed … Willie stops fanning … genuine pure … Pause: Willie resumes fanning. Winnie looks closer, reads. Fully guaranteed … Willie stops fanning … genuine pure … Pause. Willie resumes fanning. Winnie lays down glass and brush, takes handkerchief from bodice, takes off and polishes spectacles, puts on spectacles, looks for glass, takes up and polishes glass, lays down glass, looks for brush, takes up brush and wipes handle, lays down brush, puts handkerchief back in bodice, looks for glass, takes up glass, looks for brush, takes up brush and examines handle through glass. Fully guaranteed … Willie stops fanning … genuine pure … pause, Willie resumes fanning … hog’s …Willie stops fanning, pause … setae. Pause. Winnie lays down glass and brush, paper disappears, Winnie takes off spectacles, lays them down, gazes front. Hog’s setae. Pause.«25

Winnie benötigt mehrere Anläufe, um die Aufschrift »Fully guaranteed genuine pure hog’s setae« zu entziffern. Ihre Lektüre ist aus(einander)gedehnt und unterbrochen. Winnie entziffert den Aufdruck auf der Zahnbürste nicht wirklich, sondern dehnt ihn lesend aus. Das Zusammenziehen der entkoppelten Fragmente fällt dem Leser zu: So werden wir nicht Zeugen einer Entzifferung, sondern von ihrer Verzögerung und Ausdehnung. Das aber ist nichts anderes als Lesen. Wir lesen mit Winnie mit, stocken mit ihr, nehmen für die Zeit ihrer Lektüre Winnies Perspektive ein. Lesen ist Aufschub und als solcher die der Unterbrechung und der Ereignishaftigkeit der Lektüre Rechnung tragende konstitutive Rückseite der 24 Beckett, Glückliche Tage. Happy Days. Oh les beaux jours (wie Anm. 1), S. 20. 25 Ebd., S. 24.

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Entzifferung. Aufschub und Unterbrechung gehen ineinander über in Winnies und unserer Lektüre. Der Aufschub hängt an der Unterbrechung wie die Unterbrechung am Aufschub hängt. Mit Winnies schleppender ›Entzifferung‹ ist dieser Aufschub nicht beendet, denn Winnie fragt sich späterhin, was ein »hog« nun sei: »Hog’s setae. Puzzled expression: What exactly is a hog? Pause. Do.: A sow of course I know, but a hog … Puzzled expression off.«26 Erst viel später, am Ende des ersten Aktes – die Verzögerung nimmt nahezu die gesamten letzten zwei Drittel des ersten Aktes in Anspruch – kommt Winnie durch dass wiederholte Zurhandnehmen der Zahnbürste wieder auf das Wort »hog« zu sprechen und fragt Willie eindringlich, was es nun bedeute. Willie kennt sich offenbar mit Nutztieren aus und antwortet in lexikalischem Definitionsstil: »Castrated male swine. Happy expression appears on Winnie’s face. Reared to slaughter.«27 Zwischen Winnies erstem Zurhandnehmen der Bürste, der mehrfach unterbrochenen Entzifferung des auf ihr abgedruckten Signifikantenmaterials und der scheinbaren Enthüllung der Bedeutung des Wortes »hog« vergeht Zeit – temps, die hier verwendete französische Entsprechung für pause –, und zwar viel Zeit, denn zwischen Signifikantenentzifferung und Bedeutungsentzifferung wird das Unterbrechen vervielfältigt und intensiviert. Die Zeit, die zwischen beiden vergeht, ist eine durch Pausen vieler Art skandierte, ein Aufschub als Unterbrechung und unsere Lektüre-Zeit. Wenn Winnie uns nun gelesene Anweisungs- und Satzfragmente liefert, die wir umgehend zusammensetzen, das heißt, wenn sie uns die Lektüre als Zusammenlese überlässt, dann können wir das seltsame Ineinander von Haupt- und Nebentext, das durch dashes oder drei Punkte getrennt oder verbunden wird, ebenso zusammenlesen. Auf diese Weise gelesen, ergibt sich aus Winnies Versuch (»Fully guaranteed … Willie stops fanning … genuine pure … Pause: Willie resumes fanning. Winnie looks closer, reads. Fully guaranteed … Willie stops fanning … genuine pure … Pause«) die wiederholte Wendung ›Fully guaranteed … genuine pure … Pause‹. Voll garantierte echte reine Pause. Zusammengelesen konstatiert die unterbrochene, punktierte Wortreihe ihr eigenes Unterbrechungsgeschehen und deutet auf die Pause hin, die jedem Wort und jeder Handlung ein Grundzug ist, die gleichsam auch die Differenz zwischen den Zeichensystemen des dramatischen Haupttextes und Nebentextes zusammenfallen lässt. Begreift man Becketts Drama nun als Text, so wird man in der vielleicht unorthodoxen Zusammenlese der verschiedenen Fragmente ein schriftliches Stottern oder Zittern erkennen, das nicht nur die Bildung und Verkettung von zwei interaktiven, aber separierten Zeichensystemen (Haupt- und Nebentext) aushebelt. 26 Ebd., S. 28. »Setae« sind Borsten, z.B. eines Schweins. 27 Ebd., S. 72.

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Unterbrechungen, Einschränkungen, Behinderungen von (Körper-)Bewegungen und Sprechakten der dramatis personae erzeugen im Verbund mit der exponierten Schriftlichkeit des Textes in ihm selbst eine intensive Spannung. Mit dieser Spannung wird gleichsam auf die nicht inkludierbare Bedingung der Möglichkeit von Sprechen und Handeln (und Lesen) verwiesen. Winnie ist im ersten Akt bis zur Taille in den Hügel eingegraben, im zweiten Akt bis zum Hals, sodass nur noch ihr Kopf hervorschaut; Willie kann sich bewegen, ihm ist ein Loch im Hügel zugeteilt, in das er sich gelegentlich verkriecht. Und er tut eben dies: Kriechen, auf Händen und Knien. Auch seine Bewegungen sind vermindert und unterbrochen. Das kulminiert am Schluss des zweiten Aktes, als Winnie bis zum Hals im Hügel steckt und Willie in Abendgarderobe gehüllt auf Händen und Knien zu Winnie nach vorn gekrochen kommt, sich ihrem Gesicht nähern will, aber abrutscht.28 Als Winnie sich schminken will, wird sie bei ihrer Tätigkeit von Willie »interrupted by disturbance«.29 Das Aufsetzen ihres Huts gelingt Winnie erst beim vierten Versuch; bei den ersten drei Versuchen wird sie durch Willies lautes Zeitunglesen unterbrochen.30 Immer wieder hält Winnie in ihren Bewegungen inne, sodass sie sie wiederholen muss. Gleiches gilt für ihr Sprechen, es wird unterbrochen, sodass sie neu ansetzen muss, um dann aber bereits wieder abgelenkt oder unterbrochen zu werden. Beim Aufspannen eines Sonnenschirms – der später in Flammen aufgeht – hat Winnie einige Schwierigkeiten: »Begins to unfurl it. Following punctuated by mechanical difficulties overcome. One keeps putting off – putting up – for fear of putting up – too soon – and the day goes by – quite by – without one’s having put up – at all.«31 Die mechanischen Schwierigkeiten, die gleichsam Winnies Sprechen unterbrechen, werden im Text durch das dash markiert, der Nebentext benutzt das Wort »punctuated«, punktiert, was zugleich Unterbrechung und Rhythmisierung ausweist. Dies lässt eine Parallele erkennen zu dem schrillen – »piercingly« – Klingeln, das Winnies und Willies Tagesablauf rahmend punktiert sowie auch zu den Pausen, die am Anfang und am Ende des Dramentextes stehen. Jedoch wird das dash durch die Wendung »punctuated« mit Punkten gleichgesetzt. Das dash hat eine punktierende, unterbrechende, rhythmisierende Funktion, veranstaltet eine lesbare Zerlegung einer Bewegung in Einzelelemente, was durch Winnies – durch das dash

28 Vgl. ebd., S. 96-98. 29 Ebd., S. 18. 30 Vgl. ebd., S. 20-22. 31 Ebd., S. 52.

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unterbrochene – Sprechen lesbar wird.32 Aber wie ist es zu verstehen, dass im Text »punctuated« steht, die lesbare (Sprech-)Handlung aber von dashes unterbrochen ist (und nicht mehrfach von drei Punkten)? Es scheint, als ob das Verhältnis von Punkt(en) und dash in der Handlung, die Winnie ausführt, buchstäblich genommen wird: die Punkte werden ›unfurled‹, zwar nicht zu einer Fläche, aber zu dashes aufgespannt. Das dash spannt seine Punktierungsfunktion zunächst im Verbund mit Winnies unterbrochenem Versuch, den Schirm aufzuspannen in den Text ein. Das Momenthafte des Punktes wird in die Länge gezogen, aufgespannt in der Schrift, sodass der Text selbst zum Überschuss aufgespannt, überdehnt wird in der Verteilung der Zeichen auf der Buchseite. Zudem spricht auch an dieser Stelle Winnie implizit, aber doch auffallend reflexiv über das Textgeschehen als Aufschub: »One keeps putting off«, sagt sie über das Aufspannen des Sonnenschirms, das zunächst nicht gelingt. Man schiebt es immer wieder auf. Ein punktierend-punktierter Aufschub als lesbarer Aufspann findet sich auch an anderer Stelle, nämlich als Winnie mit dem Feilen ihrer Nägel beschäftigt ist. Wieder wird vom Nebentext ausgewiesen, dass die folgende Rede punktiert sei – und sie ist es, wieder, durch dashes, die die Punktierung in die Länge ziehen, den Abstand les- bzw. sichtbar machen. »Files for a time in silence, then the following punctuated by filing. There floats up – into my thoughts – a Mr. Shower – a Mr. and perhaps a Mrs. Shower – no – they are holding hands – his fiancée then more likely – or just some – loved one.«33 Winnies unterbrochenes Sprechen ist ein Aufspann und gleichsam eine Anspannung ihrer Wörter und Sätze, die so von der Lesbarkeit in die Sichtbarkeit gespannt werden. Zunächst äußert sich dies in Winnies unterbrochenen Lektüren oder ihrer zwischen ihren Gegenständen und Willie schlingernden Aufmerksamkeit, aber auch in den unterbrochenen Redehandlungen und Bewegungen. Unterbrechungen aber sind notwendig, bilden die Bedingung der Möglichkeit der Ausführung einer Handlung, da die Handlung die sie ermöglichende Unterbrechung ausschließen wie einschließen muss. Winnie reflektiert darüber, dass sie es nicht ertragen könnte allein zu sein und zu sich selbst zu plappern: »prattle away with no soul to hear«.34 Die Abwesenheit des Adressaten ihrer

32 Auf das musikalische Verhältnis von Punktierung und Rhythmisierung verweist Jacques Derrida in seinen Anmerkungen zu Roland Barthes’ fotografietheoretischer Distinktion zwischen punctum und studium. Siehe Jacques Derrida, »Die Tode von Roland Barthes«, in: ders., Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt, Wien: Passagen, 2007, S. 59-99, hier S. 68f. 33 Beckett, Glückliche Tage. Happy Days. Oh les beaux jours (wie Anm. 1), S. 62. 34 Ebd., S. 30.

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Rede zu denken, bestimmt Winnies weiteren unterbrochenen Diskurs, der sich nach wie vor an Willie richtet: »So that I may say at all times, even when you do not answer and perhaps hear nothing, something of this is being heard, I am not merely talking to myself, that is in the wilderness, a thing I could never bear to do – for any length of time. Pause. That is what enables me to go on, go on talking that is. Pause. Whereas if you were to die – smile – to speak in the old style – smile off – or go away and leave me, then what would I do, what c o u l d I do, all day long, I mean between the bell for waking and the bell for sleep? Pause. Simply gaze before me with compressed lips. Long pause while she does so. No more plucking. Not another word as long as I drew breath, nothing to break the silence of this place. Pause. Save possibly, now and then every now and then, a sigh into my looking-glass. Pause. Or a brief … gale of laughter, should I happen to see the old joke again.«35

In der Vorstellung, dass Willie stirbt oder sie verlässt, antizipiert Winnie das Vergehen ihrer Rede. Denn Winnie hat sich immer wieder von Willie unterbrechen lassen: Gerade Willies Anwesenheit ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Winnie unterbrochen wird und insofern »enables [her] to go on, go on talking that is.« Sollte Willie sich absentieren, dann würde Winnie die Unterbrechung entzogen, sodass ihr das Ansetzen zur Rede unmöglich würde. Sie würde lediglich Seufzer oder Lacher ausstoßen. Dabei befindet sich Winnies gesamter Diskurs immer schon an der Grenze zum Nicht-Sprechen, kann diese Grenze jedoch nicht überschreiten. Das Sprechen befindet sich in dauerhaftem Entzug, sodass immer ein Rest, eine Spur, die Präsenz und Absenz mischt, sich als ›Entzugs-Erscheinung‹ gibt. Das verdeutlicht die folgende Passage insofern, als wie gehabt Pausen Winnies Diskurs skandieren, ihn durcheinander geraten und unzusammenhängend anmuten lassen, Winnie aber auch von »times« spricht, in denen »[w]ords fail«. »Golden you called it, that day, when the last guest was gone – hand up in gesture of raising a glass – to your golden … may it never … voice breaks … may it never … Hand down. Head down. Pause. Low: That day. Pause. Do.: What day? Pause. Head up. Normal voice: What now? Pause. Words fail, there are times when even they fail.«36

Die Zeiten, in und an denen die Worte versagen, ausfallen, verfehlen, scheitern oder misslingen, sind in Becketts Text eben je schon die Unterbrechungen und Pausen – temps. In ihnen wird das failing selbst eingelöst und in der schriftlichen 35 Ebd. 36 Ebd., S. 34.

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Markierung aufgeschoben. In den Pausen wird nicht gesprochen und nicht gehandelt, sondern Sprechen und Handeln unterbrochen, das diskursive Gefüge bricht auseinander und beginnt im Medium der Schrift zu delirieren. Sprechen und Handeln fallen in das schriftlich markierte Zeitloch der Pause – der Zeit, in der die Worte fehlen und die Winnie immer wieder antizipiert, um sprechen zu können. Folgt man Gilles Deleuzes emphatischen Beckett-Lektüren, kann, was Winnie mit der ständigen Umkreisung des Fehlens oder Versagens der Wörter ebenso wie mit den gescheiterten, verminderten, im Ansatz abgebrochenen körperlichen Bewegungen demonstriert, als Versuch gelesen werden, eine »werdende Syntax, eine syntaktische Schöpfung, die die fremde Sprache in der Sprache hervorbringt«,37 zu entdecken. »Wenn die Sprache so gespannt ist, dass sie zu stottern, murmeln, stammeln … beginnt, rührt das Sprachliche insgesamt an eine Grenze, die dessen Außen hervortreten lässt.«38 Dieses Außen klopft in Becketts Happy Days von innen her an, als Unterbrechung und Pause, temps, welche Bewegungen und Sprechen unter Spannung stellt, diesem Außen aussetzt. Das Wort balanciert auf der Grenze zum Geräusch oder zum Stottern, die Bewegung auf der Grenze zum Erstarren oder Stolpern, ohne die Utopie der werdenden Syntax jedoch vollständig einlösen zu können. Von solch einer Utopie kann Winnie nur träumen: »How often have I said, in evil hours, Sing now, Winnie, sing your song, there is nothing else for it, and did not. Pause. Could not. Pause. No, like the thrush, or the bird of dawning, with no thought of benefit, to oneself or anyone else.«39 Ohne Nutzen soll der Gesang sein, so wie Winnie antizipiert, dass ihr Sprechen sich durch Willies Absentierung in Seufzer und Lacher auflöst. Das Verschwinden aber ist kein restloses, Handeln und Sprechen fallen nicht restlos ins Zeitloch der Pause oder dem von Winnie antizipierten Verschwinden anheim. Winnie sinniert darüber, was man tun kann, wenn einem die Worte fehlen. Sie kommt auf Gesten: »What is one to do then, until they come again? Brush and comb the hair, if it has not been done, or if there is some doubt, trim the nails if they are in need of trimming, these things tide one over.«40 In Becketts Text haben wir es dort, wo Stocken, Verschwinden, Auflösen angedeutet werden, mit Signifikanten zu tun, die die Antizipation – der Auflösung der Bewegung, der Wörter, des Subjekts und entsprechend dessen Befreiung von diskursiven (Körper-)Festlegungen, Bewegungs37 Gilles Deleuze, »Stotterte er…«, in: ders., Kritik und Klinik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S. 145-154, hier S. 151. 38 Ebd., S. 152. 39 Beckett, Glückliche Tage. Happy Days. Oh les beaux jours (wie Anm. 1), S. 60-62. 40 Ebd., S. 36.

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normierung und Beobachtungsstrukturen –, aber eben nicht die restlose Einlösung asignifikanten Seins erlauben. Willie verschwindet nicht, Winnies Sprechen löst sich nicht in ein posthumanes, asubjektives Seufzen auf, es bleibt ein Sprechen auf der Grenze zum Nichtsprechen. Auch wenn Winnie am Ende des zweiten Aktes ihren Gesang anstimmt, so singt sie dennoch Wörter,41 es bleibt das von ihr gewünschte Singen »with no thought of benefit« im Aufschub stecken. Das Balancieren hört nicht auf, bleibt ostentativ in dauerhafter Spannung. Was dabei insistiert, was an der Realisierung der werdenden Syntax, wie Deleuze sie sich wünscht, hindert, ist der Rest. Winnie macht folgende Beobachtung: »Oh well, what does it matter, that is what I always say, it will come back, that is what I find so wonderful, all comes back. Pause. All? Pause. No, not all. Smile. No, no. Smile off. Not quite. Pause. A part. Pause. Floats up, one fine day, out of the blue.«42 Das wiederholt sich, und besonders deutlich zu Beginn des zweiten Aktes: »Someone is looking at me still. Pause. Caring for me still. Pause. That is what I find so wonderful. Pause. Eyes on Eyes. Pause.«43 Es bleibt immer ein Rest, der die Utopie versperrt. »Perhaps not quite all. Pause. There always remains something. Pause. Of everything. Pause. Some remains. Pause.«44 Winnie antizipiert sprachlich das Verschwinden Willies sowie das Sich-Auflösen ihrer Sprache in Lachern und Seufzern. Und selbst wenn Winnie mit dem Sprechen aufhörte, gäbe es in Happy Days immer die Stimme des Nebentextes, die sich aus der Handlung zurückziehen, aber die Gesten, die Winnie als Überbrückung der Sprachlosigkeit ausführt, versprachlichen bzw. genauer verschriftlichen muss, also Reste dort erzeugt, wo sich Restlosigkeit anbahnt. Dass Restlosigkeit nur in ihrer endlosen Antizipation insistiert, lässt sich an folgender Passage verdeutlichen, in der sich eine Parallele abzeichnet: Willie verkriecht sich umständlich in seinem Erdloch, das nur von Winnie zu sehen ist. »Go back into your hole now, Willie, you’ve exposed yourself enough. Pause. Do as I say, Willie, don’t lie sprawling there in this hellish sun, go back into your hole. Pause. Go on now, Willie. Willie invisible starts crawling left towards hole. That’s the man. She follows his progress with her eyes.«45

Nachdem Willie sich nach mehreren Versuchen letztlich verkrochen hat, ruft Winnie ihren Gatten: »Can you hear me? Pause. I beseech you, Willie, just yes 41 Vgl. ebd., S. 100. 42 Ebd., S. 28. 43 Ebd., S. 76. 44 Ebd., S. 80. 45 Ebd., S. 36.

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or no, can you hear me, just yes or nothing.«46 Winnie stolpert über den kleinen Logikfehler, korrigiert ihre Anweisung an Willie von »yes or no« zu »yes or nothing«. Die verneinende Antwort – »Nein, ich höre dich nicht« – wäre ein Widerspruch in sich, aber schon die Frage ist absurd bzw. eine Katachrese, denn wenn Willie sie nicht hören könnte, würde er nicht »nein«, sondern nichts antworten. Die unsinnige Frage, ob Willie sie hören könne oder nicht, übt nur mehr eine phatische Sprachfunktion aus. Winnie aber korrigiert schnell »no« zu »nothing« bzw. ergänzt das »no« um »thing«. Eine scheinbare Sinnrekuperation. »[N]o« und »nothing«, das eine bezeichnet eine Negation, das andere bezeichnet Abwesenheit. Das an das »no« angehängte »thing« wird zu einem Ding, das sich entzieht.47 »Nothing« ist entsprechend – aber auf andere Weise – auch eine Katachrese: Name des Namenlosen,48 Name des Nichts und Markierung der Abwesenheit von Namen. »Nothing« bezeichnet eine Aporie und eine beständige Selbstunterspülung, insofern die Bezeichnung – »nothing« – und dennoch nichts bleibt. Winnies logische Korrektur oder Ergänzung ihrer Frage mündet in die Aporie des Nichts. Der Ausdruck »yes or nothing« kann deshalb auch als rhetorischer Verweis auf das schriftliche Unterbrechungsgeschehen selbst gelesen werden, in dem die beiden Möglichkeiten gegeneinander ausgespielt werden, voneinander unterbrochen werden. Das »or« konzentriert den prekären Balanceakt zwischen Etwas und Nichts. Mehr geht nicht. Davon weiß der Text, der diesen Balanceakt aushält: Willie hört Winnie die ganze Zeit über. Sie ruft ihn mehrmals und jedes Mal gibt er Antwort. Er kann sich ihrer Rufweite ebenso wenig entziehen wie ihrer Sicht, denn Winnie sieht Willie in seinem Loch liegen: »You do look snug, I must say, with your chin on your hands and the old blue eyes like saucers in the shadow.«49 Das Verschwinden wird endlos antizipiert. Die Löcher, in denen Winnie und Willie stecken, bedeuten das Verschwinden und die Unmöglichkeit, restlos zu verschwinden. Sie sind Zeichen von gleichzeitiger An- und Abwesenheit, wie die drei Punkte, die hier und da den Text punktieren, sie sind no-things. Winnie und Willie verschwinden nicht restlos in den Löchern: Willie ist für Winnie noch sichtbar, Winnie steckt im zweiten Akt bis zum Hals im Loch, aber eben nicht gänzlich. Gleiches gilt für die Sprache, sie verschwindet nicht ganz, löst sich nicht völlig auf, denn es bleibt 46 Ebd., S. 36-38. 47 Vgl. Dylan Evans, »Ding (chose)«, in: ders., Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien: Turia + Kant, 2002, S. 76f. 48 Zur Katachrese siehe Gerald Posselt, Katachrese. Rhetorik des Performativen, München: Wilhelm Fink, 2005. 49 Beckett, Glückliche Tage. Happy Days. Oh les beaux jours (wie Anm. 1), S. 42.

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eine Spur, eine Schrift, die unablässig das Verschwinden anzeigt und aufschiebt. Winnies und Willies Erdlöcher werden darüber zu Figurationen der Schrift. Sie figurieren, noch bevor sich existenzielle oder psychologische Metaphern entfalten können, zunächst die textperforierenden Punkte, beziehen wie diese eine unentscheidbare Position zwischen Innen und Außen. Und sie bilden im Abstand zueinander texttopografisch ein dash, das Winnie und Willie nicht nur verbindet, sondern auch trennt, einen Abstand, der sie daran hindert, sich zu berühren. Die Löcher schreiben einen Abstand in jede Vereinigung, in jedes Bedeuten. Als das, was An- und Abwesenheit scheidet,50 wird die Schrift in Happy Days in ihrer Medialität exponiert sowie figural vorgeführt, etwa durch die Erdlöcher Winnies und Willies, die letztendlich eine unüberbrückbare Distanz vermessen: eine Medialität. Medialität ist die Bedingung der Möglichkeit einer Ordnung der Dinge, aber sie kann selbst nicht von dieser Ordnung eingeholt werden.51 Ordnung spielt in Happy Days eine wichtige Rolle. Schon in der ersten Regieanweisung wird ein »Maximum of simplicity and symmetry« gefordert.52 Auch ist Winnie immer wieder damit beschäftigt, ihren Ort und die Ordnung ihrer Dinge zu bestimmen. Sie hat eine schwarze Tasche, in der sich unter anderem eine Haarbürste, eine Zahnbürste, ein Kamm und ein Revolver befinden. Sie besitzt auch eine Feile und eine Brille sowie einen Sonnenschirm. Auch der Hügel, in dem sie feststeckt, zählt zu dem Gebiet, das sie ebenso wie ihren Körper immer wieder inspiziert. »She begins to inspect mound, looks up. Human weakness. She resumes inspection of mound, looks up. Natural Weakness. She resumes inspection of mound. I see no comb. Inspects. Nor any hairbrush. Looks up. Puzzled expression. She turns to bag, rummages in it. The comb is here. […] Back to bag. Rummages. The brush is here. Back to front. Puzzled expression. Perhaps I put them back, after use. Pause. Do. But normally I do not

50 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983, S. 105. »Die Urschrift, Bewegung der Differenz, irreduzible Ursynthese, die in ein und derselben Möglichkeit zugleich die Temporalisation, das Verhältnis zum Anderen und die Sprache eröffnet, kann, insofern sie die Bedingung für jedes sprachliche System darstellt, nicht selbst Teil davon sein und kann ihm folglich nicht als ein Gegenstand einverleibt werden.« 51 Vgl. Georg Christoph Tholen, »Die Zäsur der Medien«, in: Georg Stanitzek, Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Schnittstelle. Medien und kulturelle Kommunikation, Köln: DuMont, 2001, S. 32-50, hier S. 44-46. 52 Beckett, Glückliche Tage. Happy Days. Oh les beaux jours (wie Anm. 1), S. 8.

64 | S CHUCK put things back, after use, no, I leave them lying about and put them back all together, at the end of the day.«53

Die Wendung »puzzled expression« erscheint der kleinen Ordnung der Dinge Winnies angemessen. Einerseits heißt »puzzled« verwirrt oder ratlos, andererseits ist darin auch das Puzzle lesbar als das gleichnamige Geduldsspiel, das seinen Sinn darin hat, ungeordnete Teile richtig zusammenzusetzen. Man wird in Winnie unschwer eine Bastlerin erkennen, die mit den vorhandenen Dingen Strukturen bastelt bzw. damit beschäftigt ist, diese Dinge in Sichtweite zu halten, zu ordnen, aufzuräumen – oder auch nicht. Ordnung und Unordnung werden ineinander gewendet und schriftlich als Ordnungsgeschehen exponiert. Dass die ostentative Ordnung der Dinge in Happy Days wesentlich ist und insofern die Struktur eben nicht aufgelöst oder finalisiert, sondern ›nur‹ verschoben werden kann, macht Winnie klar, wenn sie konstatiert, dass es den Sack, in dem sich ihre Dinge befinden, immer geben wird: »There is of course the bag. Turns towards it: There will always be the bag.«54 Wenn es den Sack immer gibt, gibt es immer eine Struktur der Dinge, zu denen ›teilweise‹ auch der Sack selbst zählt. Der Text wird performativ, wenn Winnie – damit beschäftigt aufzuräumen – über das Ein- und Ausräumen ihrer Dinge aus dem bzw. in den Sack spricht: »I used to think – I say I used to think – that all these things – put back into the bag – if too soon – put back too soon – could be taken out again – if necessary – if needed – and so on – indefinitely – back into the bag – back out of the bag – until the bell – went.«55 Es ist ein Strukturierungsgeschehen, das hier von Winnie akzentuiert und im Text selbst lesbar wird. Winnies »bag« öffnet sich zur Figur des In-derSprache-Seins und exponiert das unaufhörliche, jedoch nicht integrierbare Ordnungs- und Differenzierungsgeschehen, das dem Subjekt eine entsubjektivierende Diskontinuität vor-schreibt und dabei dessen gestische Existenz in Regie nimmt.

4. G ESTEN … Z ITTERN Die in Becketts Text lesbare Spannung zwischen Etwas und Nichts, zwischen Sprache und ihrem Verschwinden, der Präsenz und Absenz Willies und Winnies, welche nicht zuletzt durch die ausgestellte Schriftlichkeit des Textes mit seinen

53 Ebd., S. 32. 54 Ebd., S. 40. 55 Ebd., S. 68.

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Punkten und Strichen, seinen Auslassungen und Pausen angezeigt wird, lässt sich als eine gestische bestimmen, sofern Geste nicht einfach eine sichtbar ausgeführte Handlung meint, sondern, durch Unterbrechung von Handlung hervorgebracht wird.56 Giorgio Agamben hat die Geste im expliziten Verweis auf Deleuze und im impliziten Verweis auf Benjamin als Exponierung reiner Medialität57 bestimmt und dadurch von teleologischen Modi des Handelns (agere als Ausführung und facere als Herstellung)58 unterschieden. Im Gegensatz zu agere und facere kennzeichnet die Geste, »dass man in ihr weder etwas hervorbringt, bzw. macht noch ausführt, bzw. handelt, sondern übernimmt und trägt«.59 So erscheint die Geste als »Darbietung einer Mittelbarkeit […], das Sichtbarmachen eines Mittels […] als solchem«.60 Wenn Abläufe unterbrochen werden, werden diese zu Gesten und die Gesten als unterbrochene Abläufe sichtbar, sodass potenziell jede Bewegung schon den Verweis auf ihren Abbruch, jedes Sprechen schon einen Verweis auf das Verstummen birgt. »So lebt in der Geste die Sphäre nicht eines Zwecks in sich, sondern die einer reinen Mittelbarkeit ohne Zweck, die sich dem Menschen mitteilt. […] Diese ist jene Potenz der Geste in einem Mittel, das es in seinem eigenen Mittel-Sein […] unterbricht und allein so darbietet, aus einer res eine res gesta macht.«61

Die Geste gewinnt Gestalt gerade durch die Zerstreuung ihrer Zweckmäßigkeit. Deshalb erscheint sie als Mittel ohne Zweck; sie ist von einer konstitutiven, »antinomischen Spannung« gekennzeichnet: »Auf der einen Seite ist es die Verdinglichung und die Auslöschung einer Geste (es ist imago als Totenmaske aus Wachs oder als Symbol), auf der anderen Seite bewahrt es unversehrt deren dynamis […].«62 Die Geste zerspringt dabei zu einzelnen Gesten, zu »Fragmen56 Vgl. Benjamin, »Was ist das epische Theater?« (wie Anm. 3), S. 536. 57 Der implizite Verweis Agambens auf Benjamin speist sich einerseits aus dem Begriff der Geste, andererseits aus der reinen Medialität, die Benjamin als eine »Mitteilbarkeit schlechthin« bestimmt. Walter Benjamin, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: ders., Gesammelte Schriften II.1, hrsg. von Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977, S. 140-157, hier S. 145f. 58 Diese Differenz entlehnt Agamben aus Marcus Terentius Varros’ De lingua latina. Vgl. Agamben, »Noten zur Geste« (wie Anm. 4), S. 59. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 60. 61 Ebd., S. 61. 62 Ebd., S. 58.

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te[n] einer Geste oder [in] Einzelbilder eines verlorenen Films«.63 Diese filmische Funktion der Unterbrechung als Generator von Gesten rechnet auch Benjamin dem der Geste verpflichteten epischen Theater zu. Dieses »rückt, den Bildern eines Filmstreifens vergleichbar, in Stößen vor. Seine Grundform ist die des Chocks, mit dem die einzelnen, wohlabgehobenen Situationen des Stücks aufeinandertreffen.«64 Es sind Bilder eines Filmstreifens oder Einzelbilder eines verlorenen Films, denen die Geste ihre Fassung abringt. Ihre Zuordnung, ihre Einbettung, ihr Zusammenhang sind gekappt. Es sind Bruchstücke von Bewegungen, Fetzen von Handlungen, eine zertrümmerte Syntax. Davon leitet sich ihre wesentliche Zitierbarkeit ab; die Geste als Unterbrechungseffekt ist von vornherein zitierbar. Aus dem Zusammenhang herausgelöst und anderswo wiederholbar, exponiert sie eine Wiederholbarkeit und insofern eben nicht Fülle und Präsenz. Samuel Weber schließt daraus, dass jede Geste, ganz gleich wo und wann sie vorkommt, als zitierbare »zittert«, sich stets auf dem Sprung vom Hier zum Anderswo befindet und dergestalt den Ort ihres Statthabens, ihr Hier, ihren Platz dauerhaft »zum Platzen bringt«.65 Und dieses Zittern wird nicht etwa still gestellt, sondern gebiert seine wesentliche Wiederholbarkeit: »[A]ls zitierbare zittern auch die Gesten, nicht nur weil sie aus ihrem früheren Zusammenhang herausgerissen worden sind, sondern auch weil sie als zitierbare immer weiter und anderswo zitiert werden könnten.«66 Denn erst in der Wiederholung ereignet sich Differenz und somit rückwirkend Identität, die aber deshalb je schon gespalten ist. Das ist die Spannung der Geste, die ›zittert‹ und ihren Ort, ihre Präsenz dauerhaft ›zum Platzen bringt‹. Verstetigtes, zitterndes, stockendes Balancieren zwischen Stillstand und Bewegung ist der Geste wesentlich und deshalb direkt mit Unterbrechung und deren Iterabilität verbunden. Ein Zweck oder ein Ziel, eine Präsenz gar, wird in der Geste deshalb konstitutiv suspendiert. Indem die Geste stets zwischen Hier und Anderswo zittert und dieses Zittern nichts anderes ist als die zitternde Zitierbarkeit dieses Zitterns selbst, trennt sie eine Handlung konstitutiv von ihrem Abschluss, sofern Wiederholbarkeit in jedem Abschluss

63 Ebd. 64 Benjamin, »Was ist das epische Theater?« (wie Anm. 3), S. 537. Vgl. ebd., S. 536: »Einen Text zitieren, schließt ein: seinen Zusammenhang unterbrechen. Es ist daher wohl verständlich, daß das epische Theater, das auf Unterbrechung gestellt ist, ein in spezifischem Sinne zitierbares ist. Die Zitierbarkeit seiner Texte hätte nichts Besonderes. Anders steht es mit den Gesten, die im Verlaufe des Spiels am Platze sind.« 65 Weber, »Theater als Exponierung« (wie Anm. 5), S. 265. 66 Ebd., S. 266f.

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fortdauert, mit zitiert wird, mit zittert: »Yes«, sagt Winnie, »what ever occured that did not occur before and yet … I wonder, yes, I confess I wonder«.67 Die wiederholten Interpunktionszeichen in Happy Days lassen sich nun ins Verhältnis zur Geste setzen. Gesten werden zugleich angewiesen – z.B. die Geste des Aufsetzens eines Huts –, lassen selbst aber durch die Unterbrechung, die sie auslösen, die Bewegungen und das Sprechen zu Gesten werden, insofern sie dem Sprechen und der Bewegung eine Pause, eine Unterbrechung oder Auslassung vor- und nachordnen und dabei deren Wiederholbarkeit markieren. Die Bewegung und das Sprechen in Happy Days werden durch Unterbrechung auf Wiederholung und Wiederholbarkeit gestellt. Es ist nicht zu entscheiden, ob die Schrift nun die Gestik der dramatis personae unterbrechend dupliziert oder ob die dramatis personae die Gestik der Schrift unterbrechend duplizieren. Es entbirgt sich eine Unentschiedenheit, die auf die Exponierung reiner Medialität zielt, nämlich durch Unterbrechung, Stocken und Zaudern.68 Entsprechend geriert die Geste für Agamben als Anzeige des »In-der-Sprache-Sein[s] des Menschen als reine Mittelbarkeit«. Agamben konkretisiert jedoch, dass das »In-derSprache-Sein nichts ist, was in Aussagesätze gefasst werden könnte«, weshalb »die Geste in ihrem Wesen immer Geste des Sich-nicht-Zurechtfindens in der Sprache, […] immer gag im eigentlichen Sinn des Wortes [ist], das zunächst etwas bezeichnet, das in den Mund gesteckt wird, um am Sprechen zu hindern, und dann die Improvisation des Schauspielers, die eine Erinnerungslücke oder ein Unvermögen zu sprechen überspielt.«69

Das In-der-Sprache-Sein äußert sich durch Ausfälle gelingenden Sprechens und Handelns. Als »gag« macht es sich in Becketts Text einen Reim auf Winnies »bag« mit all den Dingen und Worten in ihrer Unordnung. Die »bag« wird Winnie zufolge immer da sein, wobei »bag« auch das Loch meinen kann, in dem Winnie wie in einer Tasche steckt.70 Die Tasche als Hülle der Dinge wird zur Sprachfigur, als Ding enthält sie Dinge, als Wort enthält sie Wörter, die anstelle der Dinge sind, Dinge zu no-things machen, die Dinge im Bezug auf sie aufschieben, eine gestische – weil scheiternde, wiederholt-wiederholbare – Bewe67 Beckett, Glückliche Tage. Happy Days. Oh les beaux jours (wie Anm. 1), S. 56. 68 Vgl. Joseph Vogl, Über das Zaudern, Zürich, Berlin: Diaphanes, 2008. 69 Agamben, »Noten zur Geste« (wie Anm. 4), S. 62. 70 Die Tasche als Metapher für Worte bzw. Sprache analysiert Thomas Schestag in einer Lektüre von Nietzsches Aphorismus »Elemente der Rache«, worin die Wendung »Als ob nicht alle Worte Taschen wären« für einige Komplikationen sorgt. Vgl. Thomas Schestag, »einhalten«, in: ders., Mantisrelikte, Basel, Weil a.Rh., Wien: Urs Engeler, 1998, S. 9-11.

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gung des Bedeutens schon in sich vollziehen. Form und Inhalt gehen ineinander über.71 Die »bag« wird dabei gleichsam zur Figur des Rests und der ursprünglichen Unterscheidung: Sie wird bleiben. Was in Happy Days am Sprechen und Handeln hindert, ist die gestische Unterbrechung (als Ab- und Anbruch), die sich in Becketts Dramentext vor allem lesen lässt. Die vielfältig gestreuten Interpunktionszeichen markieren die gestische Unterbrechung von Sprechen und Handeln, sind gleichsam schriftliche Reste, die Sprechen und Handeln vor- und nachgeordnet werden oder es unterbrechen und ausdehnen (etwa in der Wiederholung der Ausführung des Hutaufsetzens von Winnie oder ihrem unterbrochenen Schirmaufspannen, wobei der Akt des Aufspannens – wie auch Winnies Rede – lesbar in die Länge gezogen wird). Entsprechend wird im Nebentext mehrmals angewiesen, dass Winnie »arrests gesture«72, also in der Bewegung innehält, die Geste arretiert. Eine solche Arretierung aber lässt die Geste erst sichtbar werden. Das ist eine der Geste inhärente Paradoxie, sie kommt erst unter Arrest und im Abbruch zur Exponierung. Die arretierte Geste ragt ins Offene, wie Winnie und Willie aus ihren Erdlöchern ragen, von denen sie nicht so recht weg kommen, in denen sie aber auch nicht ganz verschwinden. Walter Benjamin schreibt, dass ein solches Ausdehnen der Geste ein Sperren – ähnlich jenem Sperren der Worte durch den Schriftsetzer – ist, das unter anderem durch das Zitat der Geste, also deren Wiederholung, erreicht werden kann.73 Die begriffliche Nähe zwischen Sperren und Arretieren drängt sich auf. So akzentuiert Samuel Weber in der Nachfolge Benjamins, dass das Sperren auf Wiederholung bzw. wesentliche Wiederholbarkeit und insofern auf Inkonsistenz deutet. Das Sperren der Geste exponiert zugleich deren Wiederholtheit und Wiederholbarkeit,74 öffnet sie daher in der Arretierung auf die Zukunft. Das Abgebrochene, Herausgelöste der Geste generiert ihre Wiederholbarkeit, öffnet alles Abgeschlossene durch dessen (unterbrechende) Arretierung auf Wiederholung, Ausdehnung, wiederholbares Abbrechen. Erst durch Endlichkeit wird die potenziell unendliche Wiederholung möglich. Weber betont, dass Benjamin sich den Begriff des Sperrens eben aus dem Buchdruck borge und auf die unterbrochenen und dadurch zu Gesten werdenden Handlungen der Schauspieler auf dem Theater übertrage. Das In-der-Bewegung-inne-Halten in Happy Days ist gleichsam auf das Sprechen übertragbar, das in der Arretierung gestisch wird und wobei uns dann die Schrift selbst stumm entgegenblickt. In 71 Vgl. ebd., S. 15: »Taschen zum Wort entziffert«, zeigt »weder […] Wort-, noch […] Sachverhalt, sondern«, dass »Wort- und Sach-: verhallt.« 72 Beckett, Glückliche Tage. Happy Days. Oh les beaux jours (wie Anm. 1), S. 20 u. 22. 73 Vgl. Benjamin, »Was ist das epische Theater?« (wie Anm. 3), S. 536. 74 Vgl. Weber, »Theater als Exponierung« (wie Anm. 5), S. 266.

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Happy Days lässt sich das Sperren entsprechend auch auf die Schrift zurückübertragen: auf die Punkte und Striche, die einen Satz oder eine Wortgruppe ›auseinander-schreiben‹, s p e r r e n.75 Es entbirgt sich in diesen ausgedehnten Resten ein gestischer Nullpunkt, an dem zwischen Rede und Handlung nicht unterschieden wird, der sich unaufhörlich wiederholt, expandiert und als Störung überspielt, übersprochen werden muss, dadurch aber stets wieder herbeigerufen wird. Das äußert sich in der Schriftlichkeit des Textes, in der Schriftlichkeit von Zeichen wie dem dash oder den drei Punkten. Sie sind gleichsam Spuren des An- und Absetzens von Sprechen und Handeln, Intervalle, Abstände, Zeiteinheiten, Unterbrechungen, die die Geste des Lesens gerade an den Stellen herausfordern, wo sie unterbrochen wird, und dabei doch das Strukturierungsgeschehen der Ordnung der Dinge (Wörter, Sprechen, Handlungen, Gegenstände, Ereignisse) selbst im und als Aufschub lesbar werden lassen. Die lesbaren Unterbrechungen evozieren einen unendlichen Aufschub sowohl gelingender Rede als auch gelingender Handlung, vertagen Rede und Handlung, um damit den Nullpunkt, ein Unnennbares zu exponieren und gleichsam zu verstellen. Schrift und Geste werden einander Abglanz als Rest, als Spuren der Zeit.

5. H APPY D AYS Es kommt dergestalt nicht zu einer Auflösung oder einer Erfahrung der Grenzüberschreitung, sondern zu einer lesbaren Verschiebung der Überschreitung des Signifikanten. Im zweiten Akt des Stücks ist Winnie bis zum Hals in den Hügel eingegraben. Sie kann nun nicht einmal mehr jene armen Bewegungen ausführen, zu denen sie im ersten Akt noch imstande war, die ihr Sprechen des Öfteren unterbrochen haben und die von ihrem Sprechen wiederholt unterbrochen wurden (Nägel feilen, Schirm aufspannen usw.). Aber bei Winnie hört die Unterbrechung nicht auf, sie spricht noch und unterbricht sich dabei verbal immer wieder selbst, indem sie anfängt etwas zu sagen, abbricht, dann aber – erweitert durch ein »I say« – erneut ansetzt. Bereits gegen Ende des ersten Aktes kommt das »I say« vor: »I used to think – I say I used to think – that all these things – put back into the bag – if too soon – put back too soon – could be taken out again – if

75 Die Wendung des Auseinander-Schreibens findet sich in Thomas Schestag, »[Maurice Blanchot]«, in: ders., Mantisrelikte (wie Anm. 70), S. 69-116, hier S. 81.

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necessary – if needed – and so on – indefinitely – back into the bag – back out of the bag – until the bell – went.«76 Das »I say« richtet sich in der Handlungslogik an Willie, dessen akustischer Aufmerksamkeit sie sich anscheinend versichern will. Ins »I say« ist ein Vermerk der Ordnung der Dinge und der Wörter eingeschrieben: der Dinge in ihrer Tasche und der Namen dieser Dinge in ihrer strukturalen (Un-)Ordnung. In dieser Passage sekundiert das »I say« das dash-unterbrochene und in seiner unterbrochen exponierten Strukturierungsbewegung bloßgelegte Sprechen und Handeln. Im zweiten Akt jedoch hat das »I say« explizit die Funktion, eine Unterbrechung zu leisten, das heißt, die Diskontinuität eben nicht aufzuheben, sondern auszudehnen, sodass das Subjekt Winnie sich von sich selbst dissoziiert: »I am the one, I say the one, then the other.«77 In diesem Satz wird durch die Unterbrechung des »I say« die Dissoziation des Subjekts, das diesen Satz spricht, selbst betrieben und ausgestellt, sodass der Satz in einer Schleife unmöglicher Möglichkeit deliriert. Denn indem Winnie diesen Satz spricht und sich damit als Subjekt setzt, wird diese Subjektivierung durch die Gespaltenheit, die der Satz anzeigt – »the one« und »the other« – schon wieder gespalten, entzogen, ausgesetzt. Das von Winnie gesprochene »I say« unterbricht den Diskurs des Subjekts und setzt es als »the one, then the other« ein und aus. Winnie weist damit nicht einfach aus, dass sie sich selbst zitiert, sondern sie zitiert mit dem »I say« die Zitierbarkeit dessen, was sie sagt und trägt entsprechend die Kluft, die die Wiederholung eröffnet, in ihren Diskurs ein, sie zittert zwischen »the one« und »the other«. Es ist diese Kluft nicht zu überwinden, jeder Versuch dies zu tun, muss umgehend in die Vertiefung und Wiederholung der Diskontinuität, der Unterbrechung und Spaltung einmünden. Winnie kann sich entsprechend auch nur wünschen, sich vom Signifikanten, vom Wissen zu lösen: »Ah well, not to know, not to know for sure, great mercy, all I ask.«78 Die Unterbrechung, die Winnie als correctio leistet – »I say« –, spaltet sie und führt sie auf den gestischen Nullpunkt der Unentschiedenheit zwischen Subjekt und Nicht-Subjekt zurück, identifiziert Winnie nicht als fertiges Subjekt, sondern als unentschiedene Spur einer vergangenen und kommenden Subjektivität, ohne das Subjekt aber vollkommen auszustreichen (was nur eine Bestätigung von in sich präsenter und selbsttransparenter Subjektivität wäre). Winnies »I say« markiert zugleich Subjektivierung und Entsubjektivierung, »the one« und »the other«, Einheit-Differenz. Von der Schriftlichkeit des Textes wird dadurch zunächst abgelenkt. Allerdings ist Winnies »I say« in diesem Sinn ›nur‹ eine Verschiebung der disrupti76 Beckett, Glückliche Tage. Happy Days. Oh les beaux jours (wie Anm. 1), S. 68. 77 Ebd., S. 78. 78 Ebd., S. 79.

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ven Schriftlichkeit des Textes: Von der gegenseitigen Unterbrechung als Bezug von Haupt- und Nebentext, von Sprechen und Handeln, die schon durch die schriftlichen Marker des dashs, der drei Punkte und des Wortes »pause« gekennzeichnet waren, wird die Unterbrechung auf Winnies disruptive correctio »I say« verschoben. Und wenn Winnie konstatiert »I am the one, I say the one, then the other«, dann ist das »I« des »I say« davon ebenso potenziell gespalten. Das »I« wird zum vertikalisierten dash, einem gespalten-spaltenden Unterbrechungszeichen, das in einem Zug Subjektivierung und Entsubjektivierung ein- und ausstreicht. Die Unterbrechung wird gehalten, die in Happy Days eben dies ist: Schrift, die unendliche, unterbrochene Lektüren auslöst (etwa Winnies Lektüre der Aufschriften auf dem Zahnbürstengriff sowie der Arzneiflasche und nicht zuletzt unsere Lektüre des Textes). Das konstitutive Unterbrechen und Zerteilen, das sich in Winnies »I say« Gehör verschafft, verwirklicht sich thematisch wie schriftlich an einer Stelle im zweiten Akt, als Winnie – bis zum Hals im Erdloch eingegraben – die für sie sichtbaren Teile ihres Gesichts inspiziert und aufzählt: »I can see it … squinting down … the tip … the nostrils … breath of life … that curve you so admired … pouts … a hint of lip … pouts again … if I pout them out … sticks out tongue … the tongue of course … you so admired … if I stick it out … sticks it out again … the tip … eyes up … suspicion of brow … eyebrow … imagination possibly … eyes left … cheek … no … eyes right … no … distends cheeks … even if I puff them out … eyes left, distends cheeks again … no … no damask.«79

Die Ordnung des Gesichts wird mehrfach von je drei Punkten unterbrochen und als ein Ordnungsgeschehen angezeigt, das die Ganzheit des Gesichts zwar andeutet, textuell aber dessen Teile auseinander-schreibt. Man kann nun die Lektüre von Happy Days als Dramentext invertieren und konstatieren, dass es sich dabei weniger um einen Dramentext als vielmehr um ein Text-Drama – oder, um Menkes Begriff zu bemühen: »Schrift-Theater« – handelt, das seine Schriftlichkeit in gestischer Unterbrechung exponiert und damit zugleich die Bedingung der Möglichkeit der Ordnung der Dinge (und des Subjekts) entdeckt und verstellt, ansetzen lässt und durchkreuzt. Nicht nur inszeniert der Dramentext ein Stocken der Sprache (und der Bewegung von Körpern), das ursprüngliche Stocken der Sprache, das Textdrama der Schrift, wird als Dramentext inszeniert. Es entbirgt die Schrift in der Geste und die Geste in der Schrift. Die Textualität des Dramentextes ist die Form, in der Wiederholbarkeit, Unentschiedenheit und Aufschub jedes Zielen in ein gestisches Irren verwandeln. Winnie variiert im Futur II immer wieder den Satz »this will have been a happy 79 Ebd., S. 80-82.

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day«.80 Der abgeschlossene, glückliche Tag wird unendlich – gestisch – in die Zukunft geschrieben ohne abgeschlossen zu werden. Er wird immer wieder ein glücklicher Tag gewesen sein. Der eine glückliche Tag ist ein solcher nur durch seine Unmöglichkeit, seine Wiederholung, Unterbrechung und Spaltung. Der glückliche Tag vervielfältigt, um zu sein, notwendig seine Unterbrechungen, kündigt sein Glücken an, indem er es in die Spur einer noch zu entziffernden Schrift, einer stets wieder aufzunehmenden Geste verschiebt. Geste ist aporetischer und unhintergehbarer Aufenthalt im Aufschub, und der Aufschub wird in Happy Days nicht lediglich beschrieben, sondern geschrieben. So wird auch die Pause zu Beginn des ersten Aktes verständlich, die eine geschriebene ist und nichts unterbricht als den Text selbst, indem sie die Unterbrechung ankündigt, selbst aber Text – das geschriebene Wort »pause« – ist und dergestalt die Unterbrechung gleichsam wieder verdeckt; sie ist selbstreferenziell und als solche in eine unauflösbare Aporie verstrickt. Die Pause und mit ihr alle anderen Unterbrechungen sind Orte und Zeiten der Schrift, die sich in ihnen verbirgt und zeigt. Das französische Wort für Pause, »temps«, markiert zugleich Unterbrechung und Fortdauer, es ist selbst ein Textteil, der das Abbrechen des Textes bedeutet, indem er es aufschiebt. Ebenso ist der Schluss des Dramas keiner, zumindest nicht im Text, denn da steht »Long pause«/»Temps long«81. Die ursprüngliche Unterbrechung, jenes gestische Zittern, dem alles Sprechen und Handeln entspringt und das sich selbst im unterbrochenen Sprechen und Handeln zeigt, wird in Becketts Happy Days zunächst durch die lesbaren Pausen am Anfang und am Ende des Textes gegeben, sodass sich der gesamte Text von vornherein auf eine künftige Wiederholbarkeit der Unterbrechung, eine Verzeitlichung – die in kleinen und großen Aufschüben, Pausen und Signalen lesbar und am Ende mit der letzten Pause zitiert wird – öffnet und in der Schrift zittern lässt. Es ist dies eine Verzeitlichung, Unterbrechung, eine Pause – »un temps« –, die durch keine Geste eingeholt, sondern nur überspielt, übersprochen, dadurch intensiviert, wiederholt und Gegenstand ausgedehnter und aufgegebener Lektüren werden kann. Die gestische Unterbrechungspoetik in Happy Days verläuft über die Schriftlichkeit des Textes, die ihrerseits Zeit gibt und die Bedingung der (Un-)Möglichkeit von Lektüre, Ordnung, Bedeutung und Präsenz herstellt. Die herkömmliche Trennung von Haupt- und Nebentext kaschiert die fundamentale Unentscheidbarkeit der Schrift, die in Happy Days in Unterbrechungen, Aussetzern, Wiederholungen, Gesten exponiert, vor- und fortgeführt wird. Wenn Gesten durch Unterbrechungen hergestellt werden, sind sie Reste teleologischer 80 Vgl. ebd., S. 52, 60 u.72. 81 Ebd., S. 103 u. 102.

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Abläufe wie deren paradoxer Ursprung. Gesten bieten im Zittern zwischen Hier und Anderswo eine reine Medialität dar. Das verbindet sie mit der Schrift, die ebenso unentschieden zwischen An- und Abwesenheit ist. In der Schrift wenden sich Identität und Differenz ineinander, unterbrechen einander, exponieren und expandieren dergestalt Pausen bzw. Unterbrechungen, die die Präsenz, den Sinn und die Kontinuität bedrohlich um-stellen. Das erste Wort des Dramentextes ist »Expanse«; »All things expanding,« sagt Winnie an einer anderen Stelle nicht weniger performativ, »some more than others. Pause.«82

82 Ebd., S. 8 u. 42.

»[A] thing that was nothing had happened« Hamlets (Un-)Dinge in Samuel Becketts Watt K ATRIN T RÜSTEDT

Im zweiten Teil von Samuel Becketts 1953 erschienenem Roman Watt heißt es: »What distressed Watt in this incident of the Galls father and son, and in subsequent similar incidents, was not so much that he did not know what had happened, for he did not care what had happened, as that nothing had happened, that a thing that was nothing had happened, with the utmost formal distinctness, and that it continued to happen […].«1

Wir finden uns in dieser Schilderung auf eine Handlung verwiesen, die sich allein in ihrem Ausbleiben vollzieht: »a thing that was nothing had happened«. Wenn – wie die Erzähltheorie seit Gérard Genette annimmt – die Geschichte (histoire) einer Erzählung (discours) aus einer Serie von Ereignissen besteht, was bedeutet es dann für einen Roman, wenn er sich aus lauter NichtEreignissen zusammensetzt? »Nothing«, so der Ausgangspunkt dieses Beitrags, ist in Becketts Romanen mitnichten einfach nichts. Es erweist sich hier vielmehr als etwas, das mit ›größter formaler Distinktheit‹ auftritt und ohne weiteres den Stoff für einen Roman abgeben kann. »Nothing« ist damit auch nicht (einfach) das Gegenteil eines positiven, empirisch gegebenen Dings, sondern tritt vielmehr selbst dinghaft auf. Es scheint sich bei dem beckettschen »nothing« um eine komplexe Form von Un-Ding zu handeln: »a thing that was nothing« oder eben »no-thing«. Die besondere narrative Verfertigung solcher Un-Dinge in Becketts Watt soll im Folgenden in den Blick genommen werden.

1

Samuel Beckett, Watt, London: Faber & Faber, 2009, S. 62f. [Herv. von mir, K.T.].

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Um ein Phänomen, das Gilles Deleuze als »Erschöpfung«2, Wolfgang Iser als »Minusverfahren«3 und Theodor W. Adorno als »Subtraktion«4 gekennzeichnet hat, in seiner spezifisch romanhaften Gestalt genauer zu verstehen, bietet sich der Begriff des Widerstands an, den Hans Blumenberg in Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans als einen vierten Wirklichkeitsbegriff einführt und mit Beckett assoziiert. Dieser vierte Wirklichkeitsbegriff zeigt sich Blumenberg zufolge gerade im Roman: als Widerstand des Romans gegen die von ihm entworfene Welt. Die Tendenz zur Verdinglichung entspricht dem – den ›klassischen‹ Roman auszeichnenden – dritten Wirklichkeitsbegriff, der auf die Hervorbringung einer in sich stimmigen Welt »immanenter Konsistenz« zielt und dabei seine eigene Gemachtheit »zu verschleiern suchen muß, und zwar deshalb, weil diese Werke nur so jene unfragwürdige Selbstverständlichkeit des Nicht-anders-sein-könnens gewinnen, die sie ununterscheidbar von den Produktionen der Natur macht«.5 Ein solcher Roman, der eine in sich stimmige Welt hervorzubringen sucht, ist laut Blumenberg mit einer Tendenz der Naturalisierung und der Verdinglichung verbunden: »Wir wollen die Werke nicht als Gegenstände, sondern als Dinge. […] Ebenso wie wir künstlich historisieren, naturalisieren wir künstlich, aber nicht mehr, indem wir Natur darstellen und nachahmen, sondern indem wir Natürlichkeit für unsere Werke beanspruchen, also Dinge hinstellen.«6 Dieser dritte Wirklichkeitsbegriff des Romans wird nun im Weiteren unterlaufen. Der Versuch, das Erzählte mithilfe narrativer Verfahren dinglich und

2

Gilles Deleuze, »Erschöpft«, in: Samuel Beckett, Quadrat. Geister-Trio, … nur noch Gewölk …, Nacht und Träume. Stücke für das Fernsehen, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996, S. 49-101. Vgl. dazu auch Armin Schäfers Beitrag in diesem Band.

3

Wolfgang Iser, Die Artistik des Mißlingens. Ersticktes Lachen im Theater Becketts,

4

Theodor W. Adorno, »Versuch, das Endspiel zu verstehen«, in: ders., Noten zur

Heidelberg: Carl Winter, 1979. Literatur. Gesammelte Schriften. Bd. 11, hrsg. von Rolf Tiedemann, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994, S. 281-321, hier S. 287. Vgl. auch »das Negativ sinnbezogener Wirklichkeit« (ebd., S. 295) und die »Liquidation des Subjekts« (ebd., S. 287). 5

Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans«, in: Hans Robert Jauß (Hrsg.), Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen 1963. Vorlagen und Abhandlungen, 2., durchgesehene Aufl., München: Wilhelm Fink, 1969 (= Poetik und Hermeneutik; I), S. 9-27, hier S. 25.

6

Ebd., S. 25f. [letzte Herv. von mir, K.T.].

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mithin natürlich darzustellen, führt durch seine Übersteigerung – etwa im Zuge der detailgetreuen Beschreibung7 – in sein Gegenteil: »Die Steigerung der Genauigkeit des Erzählens führt dazu, daß die Unmöglichkeit des Erzählens selbst ihre Darstellung findet. Aber diese Unmöglichkeit wird ihrerseits als Index eines unüberwindlichen Widerstandes der imaginären Wirklichkeit gegen ihre Deskription empfunden, und insofern führt das dem Wirklichkeitsbegriff der immanenten Konsistenz zugehörende ästhetische Prinzip an einem bestimmten Punkt des Umschlages in einen anderen Wirklichkeitsbegriff hinein.«8

An dieser Wende zeichnet sich eine neue Form von (Gegen-)Roman ab, denn »an der Demonstration der Unmöglichkeit des Romans wird ein Roman möglich«.9 An dieser Stelle verweist Blumenberg in Bezug auf den vierten Wirklichkeitsbegriff auf Beckett, ohne diesen Verweis jedoch hinsichtlich seiner Romane weiter auszuführen. Wie aber ließe sich der Widerstand beschreiben, der an der »Demonstration der Unmöglichkeit des Romans« die Möglichkeit eines neuen Romans wie Watt gewinnt? In Watt bedient Beckett sich dazu rhetorischer Verfahren, die der Naturalisierung und Verdinglichung Widerstand leisten und stattdessen die Herstellungsverfahren selbst zum Gegenstand machen.10 Um die Verfahren freizulegen, aus denen sich Watt konstituiert, wird hier dem rhetorischen Fragenkatalog der Fallkonstitution gefolgt, mit dem auch frühere Entwürfe von Watt eingesetzt hat-

7

Vgl. Roland Barthes, »Der Wirklichkeitseffekt«, in: ders., Das Rauschen der Sprache

8

Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans« (wie Anm. 5),

9

Ebd., S. 22.

(Kritische Essays IV), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006, S. 164-172. S. 24 10 Beckett bedient sich, wie Adorno zu seinem Theater ausführt, antiker Formen, die in der Neuzeit verdeckt wurden. Siehe Adorno, »Versuch, das Endspiel zu verstehen« (wie Anm. 4), S. 303: »Die Tragödie kannte auf der Höhe der Handlung, als Quintessenz der Antithese, äußerste Straffung des dramatischen Fadens, die Stichomythie; Dialoge, in denen ein Trimeter der einen Person auf den der anderen folgt. Die Form hatte dieses Mittels, als eines durch Stilisierung und offenbaren Anspruch der säkularen Gesellschaft allzu fernen, sich begeben. Beckett bedient sich seiner, als hätte die Detonation freigesetzt, was unterm Drama vergraben ward.« Auf analoge Weise, so die Arbeitshypothese dieses Beitrags, bedienen sich Becketts Romane rhetorischer Formen und Verfahren des Erzählens, die vom Roman vergraben wurden.

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ten: quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando.11 Im Durchgang durch diesen Fragenkatalog soll das besondere Profil der Un-Dinge skizziert werden, die in Watt auftreten und gegen eine Verdinglichung des Romans Widerstand leisten. Der spezifische Umgang mit den Kategorien der Fallkonstitution, der in Watt sichtbar wird, lässt sich wiederum auf Shakespeares Hamlet beziehen und in diesem Rückbezug verdeutlichen. Während Hamlet als Drama in verschiedener Hinsicht Un-Dinghaftigkeit ausstellt und (Nicht-)Ereignisse auf die Bühne bringt, stellt Watt eine Art Experiment dar, das die Frage durchspielt, was es heißen könnte (Nicht-)Ereignisse zu erzählen. Shakespeares Hamlet und Becketts Watt sind dabei jeweils von einer rhetorischen Tradition geprägt, die zugleich verdeckt ist – durch die Anti-Rhetorik der frühen Neuzeit einerseits12 und durch das post-rhetorische Selbstverständnis des Romans andererseits. Hamlet soll vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die Aufnahme und Verschiebung rhetorischer Ereigniskonstitution als ein Vorläufer von Watt gelten,13 der es

11 Siehe Christopher J. Ackerley, Stanley E. Gontarski (Hrsg.), The Faber Companion to Samuel Beckett. A Reader’s Guide to his Works, Life, and Thought, London: Faber & Faber, 2006, S. 629: »Early drafts began with the scholastic categories, Quis? quid? ubi quibus auxiliis? cur? quomodo quando? (›Who? what? where? by what means? why? in what way? when?‹)« Thomas von Aquin führt die Kategorien in seiner Summa Theologica für die Umstände der menschlichen Handlung an, schreibt sie allerdings fälschlicherweise Cicero zu: »Tully, in his Rhetoric (De Invent. Rhetor. i), gives seven circumstances, which are contained in this verse: ›Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando--- Who, what, where, by what aids, why, how, and when.‹ For in acts we must take note of ›who‹ did it, ›by what aids‹ or ›instruments‹ he did it, ›what‹ he did, ›where‹ he did it, ›why‹ he did it, ›how‹ and ›when‹ he did it.« Thomas von Aquin, Summa Theologica, I–II q. 7 a. 3. 12 Vgl. Quentin Skinner, Forensic Shakespeare, Oxford: Oxford University Press, 2014. Vgl. auch Lorna Hutson, »Forensic Aspects of Renaissance Mimesis«, in: Representations 94:1 (2006), S. 80-109. Blumenberg zeigt am Beispiel von Thomas Hobbes, dass »Antirhetorik in der Neuzeit zu einem der wichtigsten rhetorischen Kunstmittel geworden ist«. Hans Blumenberg, »Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik«, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001, S. 429. 13 Vgl. Adorno, »Versuch, das Endspiel zu verstehen« (wie Anm. 4), S. 304. Adorno sieht Hamlet als Vorläufer Becketts: »Der Grenzwert des Beckettschen Dramas ist jenes Schweigen, das schon im Shakespeareschen Beginn des neueren Trauerspiel als Rest definiert war.«

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zugleich auch ermöglicht, dem Verhältnis von theatralen und narrativen Formen der Un-Dinghaftigkeit nachzugehen. Watt befragt – in der Tradition Hamlets, aber in der erzählenden Gattung des Romans – die Verfahren der Hervorbringung eines Ereignisses, eines Subjekts oder Dings dort, wo sie gerade keine Resultate und keine Evidenz mehr zu erzielen scheinen. Watt wie auch Hamlet kommen so auf die Methoden der Rhetorik zurück: Indem sie jene in ihrem Leerlauf ausstellen, wird ihr Verfahrenscharakter exponiert. So reflektieren sie kritisch die Tendenzen der Naturalisierung oder Verdinglichung, die allein auf die Resultate der Verfahren abzielen, die es ›dingfest‹ zu machen gilt. Hamlet wie auch Watt insistieren darauf, dass das sorgsam konstituierte Ding wesentlich ein Un-Ding ist: ein Kreuzungspunkt von Verfahren und Perspektiven, die sich an diesem Un-Ding ebenso treffen wie auseinandertreten. Dass Dinge in diesem Sinne wesentlich Un-Dinge sind, lässt sich schon im Rückgang auf die Wortgeschichte von ›Ding‹ explizieren: Diese geht – wie auch beim englischen thing – auf das mittelhochdeutsche »dinc« und mithin auf die »germanische Volks- und Gerichtsversammlung« zurück.14 Zunächst Name der Gerichtsversammlung und seines Ortes, kam das Wort erst im zweiten Schritt dazu, das Objekt zu bezeichnen, das als Beweismittel im Zuge dieses Verfahrens einen Täter überführen und aus sich selbst heraus Evidenz bereitstellen sollte.15 Das rhetorische Verfahren mitsamt Fragenkatalog, durch das die Gerichtsverhandlung konstituiert wird, ist dabei schon allein durch die verschiedenen Sprecherpositionen von Widerspruch und Uneinigkeit geprägt. Indem das Ding auf seine Konstitution im Verfahren verweist, kann es zeigen, dass es konstitutiv zweiseitig ist. Die Rhetorik stellt nicht nur Verfahren zur Hervorbringung von Dingen bereit, sondern eröffnet zugleich ein Wissen um die komplexe Konstitution des so Hervorgebrachten; sie enthält gerade darin eine kritische Perspektive auf jene anderen positivistischen Beweisverfahren, die die rhetorischen Verfahren in der Neuzeit verdrängt haben. In Becketts Watt bleibt das rhetorische Verfahren gewissermaßen rückläufig lesbar, in Umkehrung der Tendenz hin zu einer Objektorientierung, die die Oberfläche dieses Textes zu prägen scheint und gleichzeitig von ihren absurden Resultaten – das Ding ist ein Nichts, das dennoch geschieht – infrage gestellt wird. Wie in einer umgekehrten Meta-

14 Vgl. Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung, Frankfurt a.M.: Fischer, 2010; Martin Heidegger, »Das Ding«, in: ders., Vorträge und Aufsätze (1936-1953). Gesamtausgabe. I. Abteilung, Bd. 7, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1994, S. 167-187. 15 Vgl. Rüdiger Campe, »Evidenz als Verfahren. Skizze eines kulturwissenschaftlichen Konzepts«, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus 8 (2001), S. 105-133.

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morphose – »reversed metamorphosis« heißt es in Watt16 – ist das Verfahren der Befragung unter Zuhilfename der rhetorischen Kategorien, obwohl oder weil es keine ›Resultate‹ zeitigt, in diesem Sinne rückläufig wirksam und lesbar. Das rhetorische Schema, mit dem frühere Versionen von Watt einsetzten, stellt die Fragen: Wer? Was? Wo? Mit Hilfe wovon? Warum? Auf welche Weise? Wann?17 Der vorliegende Beitrag folgt diesem Schema, um die Verkomplizierung herauszuarbeiten, die es durch seine Artikulation auf der (barocken) Bühne in Hamlet erfahren hat und in der narrativen Verwendung in Becketts Watt erfährt. Weder bei Hamlet noch bei Watt dient das Frage-Verfahren dazu, die resultative Etablierung eines ›dingfesten‹ Gegenstands zu ermöglichen – sei es als ›Subjekt‹, sei es als ›Handlung‹, die sich wiederum aus einzelnen ›Ereignissen‹ zusammensetzt. Vielmehr scheint das Schema eben gerade Un-Dinge in ›größter formaler Distinktheit‹ zu evozieren. Das Verfahren wird dabei in mehrfacher Weise verschoben, auf sich selbst bezogen und in seinem Ab- bzw. Leerlauf exponiert. Im Anschluss an die bereits im Hamlet vollzogene Verschiebung, kommt die Ambivalenz des rhetorischen Dings in Watt als erzähltes Un-Ding gewissermaßen wieder zu sich selbst: als Streitfall und Befragung. Der Gegenstand von Watt, das Un-Ding, das dieser Roman behandelt und ist, ist das ermöglichende und verunmöglichende Verfahren seiner Herstellung.

1. Q UIS ? W ER ? Mit dem Eigennamen des Protagonisten, Watt, antwortet der Titel des Romans scheinbar eindeutig und erschöpfend auf die Frage nach dem Wer; er tut dies allerdings gleichsam mit der zweiten Frage des Katalogs, denn »Watt« ist phonetisch kaum von »What« zu unterscheiden. Eine solche Verschiebung findet sich

16 Zu den »umgekehrten Metamorphosen« vgl. auch Michel Foucault, Raymond Roussel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989, S. 99: »Umgekehrte Metamorphosen wie die jenes Katzenfisches, der einen Toten zum Sprechen bringt, wie die jenes Kopfes, der nur seine Verwesung als die Umkehrung der Maske konserviert (während die Masken die Toten ja gerade verewigen), wie die dieser sich selbst zurückgegebenen stimmlosen Sprache, die sich sofort in der Stille des Wassers auflöst. Paradox dieser mechanischen Reanimation des Lebens, während die alten Metamorphosen doch wesentlich zum Ziel hatten, durch ihre Listen das Leben am Leben zu erhalten.« 17 Quintilian benutzt das Schema nicht, der Katalog als Hexameter scheint ein nachträglicher Versuch aus dem 12. Jahrhundert, die Stellen (loci) zu ordnen, die bei Quintilian eher ungeordnet aufgeführt werden.

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in früheren Versionen des Romans, die mit dem Fragekatalog beginnen, noch expliziert: Zunächst hieß die Figur, mit der Beckett auf die Frage »Quis?« zu antworten schien, Quin. Im Laufe der weiteren Fassungen gingen aus Quin dann Watt und Knott hervor.18 Der zweiten Frage – »what had happened?« – liegt so gewissermaßen die Antwort auf die erste Frage – »Watt had happened« – zugrunde, die wiederum von der zu Beginn angeführten Beschreibung »nothing has happened« tangiert wird.19 Watts erster Auftritt im Roman entspricht dieser ambivalenten Stellung zwischen Frage und Antwort, zwischen Subjekt und Objekt, Figur und Ding. Ausgespuckt von der Tram, hebt er sich, aus der Perspektive von Zuschauern erzählt, kaum von seinem Hintergrund ab: »[A] solitary figure, lit less and less by the receding lights, until it was scarcely to be distinguished from the dim wall behind it. Tetty was not sure whether it was a man or a woman. Mr. Hackett was not sure that it was not a parcel, a carpet for example, or a roll of tarpaulin, wrapped up in a dark paper and tied about the middle with a cord.«20

Die traditionelle rhetorische Unterscheidung zwischen den Stellen (loci), die Personen und die Sachen betreffen, wird hier aufgenommen, aber gleichzeitig gewendet: als Ambivalenz, aus der erst mit rhetorischem Aufwand ›größte formale Distinktheit‹ gewonnen werden könnte. Im weiteren Verlauf der Szene werden dann vergeblich verschiedene Anläufe zu einer Klärung unternommen. In einem dieser Anläufe kommt der Text auf jene Kategorien zurück, die Quintilian bei den loci a persona unterscheidet: Abstammung, Nationalität, soziale Stellung, Art der Betätigung, Wesensart und Rolle.21 Es wird eine Befragung inszeniert, die durch die Opposition von »thing« und »nothing« organisiert ist: »[D]escribe your friend a little more fully. I really know nothing, said Mr Nixon. But you must know something, said Mr Hackett. One does not part with five shillings to a shadow. Nationality, family, birthplace, confession, occupation, means of existence, distinctive signs, you cannot be in ignorance of all this. 18 Vgl. Ackerley, Gontarski (Hrsg.), The Faber Companion to Samuel Beckett (wie Anm. 11), S. 629. In Kombination werden Watt und Knott zu ›whatnot‹ – ›was nicht alles‹. 19 Vgl. Rolf Breuer, Samuel Beckett: Eine Einführung, München: Wilhelm Fink, 2005. 20 Beckett, Watt (wie Anm. 1), S. 11. 21 Vgl. Quintilian, The Orator’s Education. Books 6-8, hrsg. und übersetzt von Donald A. Russell, Cambridge, MA, London: Harvard University Press, 2001 (= The Loeb Classical Library; 126), V 10, 23-28.

82 | T RÜSTEDT Utter ignorance, said Mr Nixon. He is not a native of the rocks, said Mr Hackett. I tell you nothing is known, cried Mr Nixon. Nothing. […] But certain things you must know, said Mr Hackett.«22

Indem die Szene die traditionsreiche Form des Verhörs23 aufruft, lässt sie den Umriss einer Antwort auf die Frage nach dem Wer aufscheinen, der sich dann aber im Verlauf der Befragung nicht ein-, sondern auflöst. Im Zusammenhang mit einer nicht weiter benannten Causa, bei der es anscheinend um fünf Schilling geht, könne – so wird hier betont – die Antwort auf die Frage nach dem »Wer?« kein bloßer »Schatten« bleiben. Dieser Versuch, Watt erzähltechnisch dingfest zu machen, geht also fehl, gibt aber gerade dadurch den Blick frei auf die Verfahren zur Konstitution eines Subjekts. Im Folgenden werden dann Mutmaßungen über Watt angestellt – etwa dass er, wie Hamlet, ein »university man«24 sei. Die Befragungen Watts erinnern an die in Hamlet, beispielsweise an das ›Verhör‹ durch Polonius, bei dem Hamlet sich nicht dingfest machen lassen will, oder auch an die ›Befragung‹ zu Ophelia, die selbst als ›thing‹ bezeichnet wird. In Hamlet scheinen alle Figuren eine spezifische Un-Dinghaftigkeit aufzuweisen, angefangen mit dem Gespenst des Königs, das diesen Status vor allen anderen verkörpert.25 So wird das Spiel von »thing« und »no-thing«, das wir an der Verhandlung des Protagonisten Watt sehen konnten, in Hamlet an der eigentlichen Hauptfigur im Katalog der dramatis personae entfaltet: »The king is a thing […] / Of nothing.«26 Das Drama Hamlet beginnt mit der Frage der Wachen danach, mit wem sie es zu tun haben. Die berühmten ersten Worte »Who’s there?«, »Nay, answer me. Stand and unfold yourself«27 scheinen die theatrale Entsprechung des Versuchs zu sein, auf die Frage »Quis?« zu antworten und so einer Figur Evidenz zu verleihen. Dieser 22 Beckett, Watt (wie Anm. 1), S. 15-17 [Herv. von mir, K.T.]. 23 Vgl. Michael Niehaus, Das Verhör: Geschichte, Theorie, Fiktion, München: Wilhelm Fink, 2003. 24 Beckett, Watt (wie Anm. 1), S. 17. 25 Vgl. hierzu auch meinen Beitrag »Das Nach-leben auf der Bühne des Geistes: Eine Response zu Dirk Quadflieg«, in: Carolin Blumenberg, Alexandra Heimes, Erika Weitzman, Sophie Witt (Hrsg.), Suspensionen: Epistemologie des Untoten, München: Wilhelm Fink, 2014, S. 161-167. 26 William Shakespeare, Hamlet, IV.2.26-28. Im Folgenden zitiert nach Stephen Greenblatt, Walter Cohen, Jean E. Howard, Katharine Eisaman Maus (Hrsg.), The Norton Shakespeare. Based on the Oxford Edition, New York: Norton, 1997. 27 Ebd., I.1.1-2.

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Versuch wird dann gemeinsam mit den dazustoßenden Wachen in Bezug auf den Geist wiederholt. »Marcellus: What, has this thing appeared again tonight? / Barnardo: I have seen nothing.«28 Wieder ist es das Spiel mit thing und nothing, das zu einer Art Gerichtsversammlung führt: »Barnardo: Sit down a while, / And let us once again assail your ears, / That are so fortified against our story […]. Horatio: Well, sit we down, / And let us hear Barnardo speak of this.«29 Man versammelt sich also, um Barnardo auf der Bühne von dem Vorfall erzählen zu lassen, was wiederum durch den Auftritt des Geistes selbst, der Gegenstand dieser Erzählung sein soll, unterbrochen wird. Eine solche Befragung wiederholt sich dann bei Hamlets Auftritt. Hamlet selbst nimmt Horatio im Hinblick auf den Geist und den Versuch ihn aus dem ›Schattenhaften‹ herauszumanövrieren und zu ›identifizieren‹ ins Verhör: »Horatio: My lord, I think I saw him yesternight. / Hamlet: Saw? Who? / Horatio: My lord, the King your father. […] Hamlet: But where was this? / Horatio: My lord, upon the platform where we watched. / Hamlet: Did you not speak to it? / Horatio: My lord, I did […]. Hamlet: Armed, say you? / Barnardo and Marcellus: Armed, my lord. / Hamlet: From top to toe? / Barnardo and Marcellus: My lord, from head to foot. / Hamlet: Then saw you not his face. / Horatio: O yes, my lord, he wore his beaver up. / Hamlet: What looked he? Frowningly? / Horatio: A countenance more / In sorrow than in anger. / Hamlet: Pale or red? / Horatio: Nay, very pale. / Hamlet: And fixed his eyes upon you? / Horatio: Most constantly. […] Hamlet: […] Stayed it long? / Horatio: While one with moderate haste might tell a hundred. […] Hamlet: His beard was grizzly, no? / Horatio: It was as I have seen it in his life, / A sable silvered.«30

Der theatrale Auftritt des Geistes, der seiner rhetorischen Etablierung durch die Versammlung vorausgeht und folgt, verbleibt aber ebenso im ›Schattenhaften‹ wie diese selbst. Die Einführung Watts aus der Perspektive der Zuschauer ist, so die Vermutung, ein erzähltechnisches Pendant dieses rhetorisch-theatralen (Nicht-)Auftritts.

28 Ebd., I.1.19-20. 29 Ebd., 28-33. 30 Ebd., I.2.188-241.

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2. Q UID ? W AS ? Die zweite Frage nach dem Was betrifft die eigentliche Handlung und ist in der ersten bereits impliziert, indem der Text auf die Frage »Wer?« mit »Watt« und also in gewisser Weise mit der versteckten Folgefrage »What?« antwortet. Der ersten Verschiebung von »Wer?« zu »Was?« folgt nun angesichts der zweiten Frage folgerichtig eine zweite. Die der Geschichte zugrunde liegenden ›incidents‹, mit der auf die zweite Frage geantwortet werden könnte, werden nicht als Positivitäten etabliert. Vielmehr führt die stattfindende Befragung zu einer Auflösung der Ereignisse, sodass aus diesen Un-Dinge werden (›a thing that was nothing‹). In der Erzähltheorie wird auf die Frage »Was?« traditionellerweise mit der »Geschichte« (histoire) geantwortet, die wiederum aus »Ereignissen« besteht, die in irgendeiner Weise eine Veränderung der innerdiegetischen Ordnung vollziehen und damit als die kleinsten Elemente der Geschichte betrachtet werden können.31 Die zweite Frage des rhetorischen Katalogs – »Was?« – zielt, so verstanden, auf Ereignisse. Statt der Erzählung eines Ereignisses bzw. einer Serie von Ereignissen findet sich in Watt vielmehr eine Serie von Selbstbefragungen, in denen die Perspektive einer Figur sich selbst entzweit und mit sich selbst in Widerstreit tritt. Das, wenn überhaupt etwas, macht die Handlung und das Geschehen dieser Prosa aus. Wie in Hamlet findet sich auch in Watt an zentraler Stelle eine Ablösung, bei der es zu einer Form von Selbstbefragung kommt: Der von Watt abzulösende »gentleman« befragt sich selbst über ein vorgefallenes Ereignis.32 Dabei bringt die Befragung nicht etwa einen Vorfall anhand des Fragenkatalogs hervor, sondern löst vielmehr ein angenommenes Ereignis durch diesen auf. »Where was I? The change. In what did it consist? It is hard to say. Something slipped. There I was […], watching the warm bright wall, when suddenly somewhere some little thing slipped, some little tiny thing.«33 Das Ereignis und die Veränderung, die es bedeutet, scheinen also hier darin zu bestehen, dass die Dinge entgleiten. Die Befragung geht hier nicht so vonstatten, dass Watt seinen Vorgänger über das Ereignis befragt, wie etwa Hamlet Horatio über den Geist verhört. Vielmehr findet eine Form von Verhör im Innern der Erzählung des Vorgängers statt, der – an Watt adressiert – sich selbst Fragen stellt und Antwort gibt:

31 Vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, 2. Aufl., München: Wilhelm Fink, 1998. 32 Eine interessante weitere Verschiebung findet sich hier darin, dass der titelgebende Protagonist selbst in der Tradition der Wächter steht, die im Hamlet den Hintergrund für den Protagonisten abgeben. 33 Beckett, Watt (wie Anm. 1), S. 35.

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»But how did this sentiment arise, that a change other than a change of degree had taken place? And to what if to any reality did it correspond? And to what forces is the credit for its removal to be attributed? These are questions from which, with patience, it would be an easy matter to extract the next in order, and so descend, so mount, rung by rung, until the night was over. […] So I shall merely state, without enquiring how it came, or how it went, that in my opinion it was not an illusion, as long as it lasted, that presence of what did not exist, that presence without, that presence within, that presence between, though I’ll be buggered if I can understand how it could have been anything else. But that and the rest, haw! the rest, you will decide for yourself, when your time comes, or rather you will leave undecided, to judge by the look of you.«34

Die Befragung, die Watts Vorgänger hier internalisiert durchführt, negiert er dabei noch rhetorisch und behauptet, bloß auszusagen »without enquiring how it came, or how it went«. Möglichen Rückfragen bezüglich der Haltbarkeit der Aussagen kommt er zuvor, indem er die Zeugenschaft für das von ihm behauptete Ereignis wiederum von sich weist: »I did not, need I add, see the thing happen, nor hear it.«35 Bei dem Ereignis des Nicht-Ereignisses soll es sich dabei aber zugleich nicht um eine Illusion handeln. Vielmehr scheint es – so auch beim Auftritt des Geistes in Hamlet – darum zu gehen, die Bedingungen und Verfahren zu hinterfragen, die etwas überhaupt erst zu einem Ereignis machen können. Wie bei Hamlets Auftrag, der die zu erwartende Handlung des Stückes benennt (den Racheakt), besteht die Handlung genau darin, dass das »Was?« nicht vollzogen, sondern stattdessen seine Befragung ausgestellt wird. So hinterfragt auch Hamlet seinen Racheauftrag, statt ihn auszuführen: »I do not know / Why yet I live to say ›This thing’s to do‹ / Sith I have cause, and will, and strength, and means, / To do’t.«36 Die auszuführende Tat (›this thing‹) ist ebenso un-dinghaft wie der Geist, der sie in Auftrag gab (und der ebenfalls als ›this thing‹ bezeichnet wird), und treibt das Stück um, ohne tatsächlich gegenständlich zu werden. Der Rest, der nach Hamlet Schweigen ist, bleibt nach Watt ihm selbst überlassen und mithin eine Frage der Entscheidung, die wohl unentschieden bleiben wird: »But that and the rest, haw! the rest, you will decide for yourself, when your time comes, or rather you will leave undecided, to judge by the look of you.«37

34 Ebd., S. 36f. 35 Ebd., S. 35. 36 Shakespeare, Hamlet (wie Anm. 26), IV.4.33-36. 37 Beckett, Watt (wie Anm. 1), S. 37.

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3. U BI ? W O ? An welchem Ort könnte ein solches (Nicht-)Ereignis – »a thing that was nothing« – stattfinden? Der Logik der narrativen Konstitution entsprechend, ergibt sich hier eine dritte Verschiebung: Der Ort des Geschehens, der eigentlich die Voraussetzung für ein Geschehen sein sollte, erscheint wiederum als von diesem Geschehen abhängig. In der Erörterung etwa, durch die Watts Vorgänger im Dienst bei Mr. Knott verdeutlichen will, was die eingetretene, aber ungreifbar gebliebene Veränderung eigentlich ausmacht, wird evident, dass sie in einer Veränderung des Ortes besteht: »The sun on the wall, since I was looking at the sun on the wall at the time, underwent an instantaneous and I venture to say radical change of appearance.«38 Der Ort, an dem dieser Bericht über das (Nicht-)Ereignis des Ortes stattfindet, wird von der Erzählinstanz als ein marginaler Ort ausgegeben – vergleichbar mit dem in Hamlet am Rande des eigentlichen Handlungsortes (dem Wohnsitz des Königs) stattfindenden Auftritt des Geistes. Hier ist es die Küche des Wohnsitzes von Mr. Knott, an dem Watt und sein Vorgänger die Frage des Ortes nicht etwa beantworten, sondern vielmehr durch eine Erörterung verkomplizieren. Der Ort des Geschehens, auf den sich die Erörterung dabei bezieht, macht wiederum den Außenbereich des Vorraums aus: die Grenze (»the wall«) des Anwesens. Statt also einen Ort als Hintergrund zu bestimmen, von dem sich dann ein erkennbares Ereignis abzeichnet, wird uns ein Vor-Ort vorgestellt. In dem Vorraum werden die Fragen nach dem Was erörtert, was sich wiederum auf das Wo selbst auswirkt. In der Küche, dem Vorzimmer zu dem Raum, der vermeintlich der Ort des eigentlichen Geschehens ist – der Wohnraum von Mr. Knott –, berichtet der abgehende Vorgänger Watts im Modus einer Selbstbefragung von dem Was, indem er eben gerade auf ein Wo verweist, das nicht als Hintergrund gegeben ist, sondern selbst in der radikalen Veränderung seiner Erscheinung das ›Ereignis‹ darstellen soll. Wie das Wer in Termini des Was verhandelt wird, so führt also der Versuch, die Frage nach dem Was zu beantworten, wesentlich zu der Frage nach dem Wo, wie die Frage nach dem Wo zu dem Was. Die Beantwortung der Frage nach dem Wo hängt dabei nicht nur vom Was, sondern letztlich auch vom Wer ab. In einer weiteren, ausgelagerten Befragung, die durch die Erzählinstanz selbst initiiert wird, zeigt sich, dass die Frage nach dem Wo wesentlich an die Frage nach dem Wer und die betreffende Perspektive geknüpft ist. Am Ende eines Absatzes, der durch interne Fokalisierung die Erzählinstanz hinter Watt verschwinden lässt, unterbricht sich Becketts Erzähl-

38 Ebd., S. 35.

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instanz, indem sie abrupt fragt: »One wonders sometimes where Watt thought he was. In a culture-park?«39 Mit dieser Rückfrage scheint sich die Erzählinstanz von dem Protagonisten der Geschichte und dem Ort, der uns für die Handlung angeboten wurde (etwa der Außenbereich von Mr. Knotts Anwesen), zu distanzieren. Damit scheint die Möglichkeit auf, dass es sich hier nicht um diesen Ort, sondern eigentlich um die Entstellung eines Ortes zum »culture-park« handelt. Die Fragilität der gesamten Erzählkonstellation zeigt sich besonders an der Art und Weise, mit der eine Stimme (im Sinne der Erzähltheorie) konstituiert werden muss, um eine solche Frage überhaupt aufwerfen zu können. Die Erzählinstanz scheint hier nicht selbst die Verantwortung für diese Rückfrage und die Absetzung von Watts Ort zu übernehmen und bezieht sich vielmehr zunächst auf ein unpersönliches »one« in der dritten Person, das diese Frage aufwerfen soll. Die notorische Frage nach dem Sprecher wird durch das unpersönliche »one wonders« in diesem Sinne nur vermeintlich beantwortet. Der indirekten Frage »One wonders sometimes where Watt thought he was«, in der »one« als grübelnde Instanz eingeführt wird, folgt dann aber eine direkte, in der die Erzählinstanz selbst sich wiederum als fragende Instanz an den Leser zu richten scheint: »In a culture-park?« So zeigt sich, dass der Unterschied von gebrauchender und zitierender Sprachverwendung verwischt wird. Damit wird dann zugleich die einfache Beantwortung der Frage, ob wir uns hier tatsächlich in einem Kulturpark befinden, selbst unmöglich gemacht, da sie offensichtlich von der Frage »Wer spricht (mit welcher Berechtigung) für wen?« abhängt, die hier nicht beantwortbar ist. Was in Hamlet der Topos der ›Welt als Bühne‹ ist, durch den der Ort des Geschehens überdeterminiert und gleichzeitig infrage gestellt wird, scheint in Watt der Kulturpark zu sein. Es stellt sich hier nicht nur die im Text aufgeworfene Frage, wo Watt eigentlich glaubt, dass er sei, sondern auch die, wie der Leser den Ort zu verstehen hat, den der Text etabliert: Handelt es sich bei diesem Text vielleicht tatsächlich um einen Kulturpark, in dem Dinge und Zitate herumgeistern und nicht mehr gebraucht, sondern ausgestellt werden – wie die liegengebliebenen Requisiten und Leichen auf Hamlets Bühne? Als gezeigtes Ding im Kulturpark Watt wäre Hamlet selbst ein Ausstellungsstück (etwa neben Friedrich Hölderlins Hyperions Schicksalslied und René Descartes’ Meditationes), einerseits auf gewisse Weise unschädlich gemacht, andererseits als beunruhigende Vorlage lesbar gehalten.

39 Ebd., S. 63.

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4. Q UIBUS

AUXILIIS ?

W OMIT ,

MIT

H ILFE

WOVON ?

Die vierte Frage des Katalogs betrifft die eigentlichen Dinge als Objekte und Mittel der Handlung. Die post-rhetorische Neuzeit zeichnet sich durch ein besonderes Vertrauen in die Positivitäten aus, die sich im juridischen Kontext nicht zuletzt an der Verdrängung rhetorischer Evidenzproduktion durch das Abstellen auf objekthafte Beweisstücke – die ›Tatwaffe‹ – zeigt. Die Evidenz solcher Beweisstücke (evidence statt evidentia) soll unabhängig vom rhetorischen Verfahren eine Art von unbezweifelbar positiver Objektivität aus den Dingen selbst heraus sicherstellen.40 In Becketts Watt, dessen Titel bzw. Protagonist bereits von einer Un-Dinghaftigkeit zeugt, stehen die Objekte allerdings ebenso sehr zur Verhandlung einer rückläufigen Befragung wie die Personen, Vorfälle und Orte. Liegen die Dinge im Hamlet als Requisiten ungenutzt auf der Bühne, werden sie in Watt narrativ zu Un-Dingen entfaltet. So bleibt etwa das Piano – um dessen Stimmen es in dem eingangs zitierten Vorfall geht – nicht nur ungespielt, es organisiert die ›incidents‹ dabei auch gerade als ein ungenutztes (Un-)Ding (und nicht als genutzte, von Handlung zeugende ›Tatwaffe‹). Das Gefäß »pot«, das dem Klavier als ungebrauchtes Objekt im weiteren Verlauf des Textes folgt, ist ebenso Ergebnis von wie Anlass zu unausgesetzter Reflexion. Er verfehlt es dabei stets, wie immer minimal, mit seiner Bezeichnung übereinzustimmen und dadurch ›dingfest‹ zu werden: »It resembled a pot, it was almost a pot, but it was not a pot of which one could say, Pot, pot, and be comforted.«41 Dass hier das Ding und das Wort nicht zueinander finden wollen, aber auch nicht zu trennen sind, gibt nur Anlass für weitere Worte. Die hamletartigen puns wie auch die Reflexionen scheinen von den Worten – wie von den (Un-)Dingen – weniger Gebrauch zu machen (use) als diese vielmehr bloß zu zitieren (mention). Die Dingwerdung im Sinne der Hervorbringung eines Beweisstücks und einer Evidenz wird dadurch in ihrer uneingestandenen Angewiesenheit auf die Verfahren der Hervorbringung und Plausibilisierung ausgestellt und unterlaufen.

5. C UR ? W ARUM ? Die Frage nach dem Warum des Ereignisses wird in Watt nicht im Sinne der Frage nach einem vorgängigen Motiv behandelt, sondern kommt – eine erneute Verschiebung – auf die Verhandlung über »Was?« und »Wer?« zurück. Ange-

40 Vgl. Campe, »Evidenz als Verfahren« (wie Anm. 15). 41 Beckett, Watt (wie Anm. 1), S. 67.

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sichts des unklaren Ereignischarakters tritt die Frage »Warum?« als Frage nach der eigentlichen Bedeutung des Vorgefallenen für die betroffenen Personen auf. Die Reflexion über den Vorfall des Klavierstimmens wird so im Rahmen einer längeren quasi-psychologischen Auseinandersetzung über die Bedeutung dieses Ereignisses ins Verhältnis zum Protagonisten gesetzt. Hier löst sich in der Frage nach dem Warum der Vorfall nachträglich im Protagonisten (und damit auch ein Stück weit mit ihm) auf. Der genannte Vorfall, beschrieben als »principal incident of Watt’s early days in Mr Knott’s house«,42 wird durch die quasipsychologische Erörterung in eine Serie von Vorfällen eingereiht, deren gemeinsamer Zug die Fragwürdigkeit und Unabgeschlossenheit ist, durch die sie die Person fortgesetzt beschäftigen: »It resembled them in the sense that it was not ended, when it was past, but continued to unfold, in Watt’s head […]. It resembled them in the vigour with which it […] gradually lost […] all meaning, even the most literal. […] This fragility of the outer meaning had a bad effect on Watt, for it caused him to seek for another, for some meaning of what had passed, in the image of how it had passed.«43

Es ist gerade die Auflösung der unmittelbaren Bedeutung und der klaren Konturen eines buchstäblichen Was, die hier einen Prozess der Frage nach ihrer tieferliegenden Bedeutung und die nach dem »Warum?« in Gang setzt. Die Frage nach einer ›inneren Bedeutung‹ des Vorgefallenen geht dem Ereignis nicht etwa als ein Prozess der Willensbildung voraus, der durch die Konstitution eines handlungserklärenden Motivs zum Abschluss kommt, das sich dann durch die vollzogene Handlung realisiert und bestätigt; die ›innere Bedeutung‹ des Vorfalls wird im Gegenteil vielmehr nachträglich angestrebt. Sie wird dabei (wesentlich) nicht als Begründung und Bestimmung des Vorgefallenen eingeführt, sondern (vielmehr) von der notorischen Unbestimmtheit des Geschehenen überhaupt erst motiviert, um die fehlende Antwort auf die Frage nach dem Was zu ersetzen. In Hamlet reflektiert sich eine solche Fragwürdigkeit des Handelns auf fatale Weise an Ophelia, die wiederum in der Folge von Hamlets unmotiviertem Handeln einem Zersetzungsprozess unterliegt, in dem die Frage nach dem Warum zum Gegenstand einer ausgedehnten, praktischen Befragung wird. Auch dieser Zersetzungsprozess macht nicht bei gegebenen psychologischen Motiven halt, sondern vertieft die Frage nach dem Warum in Richtung der Frage nach der Möglichkeit von Bedeutung und Signifikanz überhaupt. Dabei geraten »thing« 42 Ebd., S. 59. 43 Ebd., S. 59f.

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und »nothing« abermals in prekäre Nähe: »[She] speaks things in doubt / That carry but half sense. Her speech is nothing.«44 Bei Ophelia scheinen die Worte selbst zu Dingen (»things«) und gerade dadurch zu Undingen (»nothing«) zu werden. Der Zweifel, der hier am Werk ist (»in doubt«), kann auch in Watt in der Verhandlung der Bedeutung nie abgestellt werden. Die quasi-inquisitorische Untersuchung der Ursache von Hamlets Verhalten (die Frage also nach dem Warum), die Suche nach Motiven für sein Nicht-Handeln, etwa durch Polonius, war Anlass für seine spätere notorische Psychologisierung. Watt hingegen greift die Frage nach dem Warum auf, um die Tendenz einer zunehmenden Naturalisierung innerlicher Vorgänge geradezu umzukehren. So zeigt Watt die ›Resultate‹ des Nachforschens (etwa nach dem Was) gerade in ihrer Fragilität, die wiederum weitere Untersuchungen (etwa nach dem Warum) nach sich zieht: »The fragility of the outer meaning had a bad effect on Watt, for it caused him to seek for another […]«.45 Die Bedeutung des Ereignisses für den Protagonisten wird überhaupt erst im Ansatz hervorgebracht, weil die Konturen des Ereignisses selbst fragil und in Auflösung begriffen sind.

6. Q UOMODO ? W IE ,

AUF WELCHE

W EISE ?

Die Frage nach dem Wie betrifft nun die Art und Weise des fraglichen Ereignisses. Sie stellt sich in Watt bereits anhand der Frage nach dem Warum, die sich wiederum ausgehend von der Frage nach dem Was ergibt: »[I]t caused him to seek for another, for some meaning of what had passed, in the image of how it had passed.«46 Watt sucht die Bedeutung des Geschehenen, die sich anlässlich der Frage nach dem Was und dem Warum eher aufgelöst als geklärt hat, nun im Wie des Geschehenen – genauer besehen aber im Bild des Wie des Geschehenen. Die Frage betrifft damit den Einsatz des Erzählens selbst. Das Wie des Vorgefallenen erschließt sich nur durch das Wie seines Erzählens. »[T]he image of how it had passed« bezeichnet so den rhetorischen Einsatz der Hypotypose als früherer Evidenz-Alternative zum bloß positiven Ding.47 Es ist dabei gerade das bildhafte Verfahren der Beschreibung – als ob es vor Augen stünde –, das den

44 Shakespeare, Hamlet (wie Anm. 26), IV.5.6f. 45 Beckett, Watt (wie Anm. 1), S. 60. 46 Ebd. 47 Vgl. Rüdiger Campe, »Vor Augen stellen: Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung«, in: Gerd Neumann (Hrsg.), Poststrukturalismus, Weimar, Stuttgart: Metzler, 1997, S. 208-225.

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Charakter des Erzählens ausmacht. Damit treten die Nähe und die Differenz des erzählenden Verfahrens zum Theater hervor, auf dem die Dinge in diesem Sinne tatsächlich vor Augen stehen sollen. Dass die Dinge auf der Bühne dennoch nicht einfach aus sich selbst heraus Evidenzen produzieren, sondern anspruchsvolle Verfahren der Rahmung, Inszenierung und durchaus auch der Erzählung erfordern, zeigen nicht zuletzt die entsprechenden Lektüren von Hamlet.48 »And let me speak to the yet unknowing world / How these things came about«,49 heißt es am Ende von Hamlet. Auch die Dinge der Bühne bedürfen also mitunter einer Erzählung darüber, wie sie sich ereignet haben: »how these things came about«. Mit den der Erzählung bedürftigen Dingen können nun die auf der Bühne versammelten Requisiten und Leichen ebenso gemeint sein wie die Erzählversatzstücke, die Hamlet Horatio als Material, quasi-dinghaft, mitgibt, die aber genau besehen zu keiner Erzählung taugen.50 Der Appell an einen Erzähler (Horatio), der nach dem Wissen um das Wie der ›Dinge‹ verlangt, wird wie ein verblichenes Vermächtnis von Watt aufgenommen und gewendet. Dabei werden Fragen der Darstellung, der Bühne (auf der ein Ding zum Ding werden kann) sowie der Erzählung (in der das Wie Profil gewinnt) selbst zum Gegenstand gemacht und dinghaft auf die Bühne bzw. in die Erzählung eingeschoben. Wie in Hamlet wird das Spiel im Spiel selbst zum Ding: »The play’s the thing / Wherein I’ll catch the conscience of the King.«51 In dem Versuch, die dem Stück vorausgehende Handlung des Königs dingfest zu machen, wird auch Spiel zum Ding erklärt, aber dieser Verdinglichung sogleich wieder entzogen. Wie das Spiel werden die Erzählungen in Watt zu Zitaten von Erzählungen, die in keiner erfüllten Erzählung münden und kein einheitliches Ganzes abgeben. Dies könnte man als Einlösung des Vermächtnisses verstehen, das Hamlet mittels der beauftragten Erzählinstanz Horatio der Nachwelt hinterlässt: »Things standing thus unknown, shall live behind me!«52 Eine Anweisung, die Horatio – ganz wie Hamlet seinen eigenen Auftrag – zwar annimmt, aber 48 Vgl. Walter Benjamin, »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders., Gesammelte Schriften I.1, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980, S. 203-430; Bettine Menke, Das Trauerspiel-Buch. Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen, Bielefeld: transcript, 2010. 49 Shakespeare, Hamlet (wie Anm. 26), V.2.323f. 50 Vgl. Menke, Das Trauerspiel-Buch (wie Anm. 48), S. 167: »Das ist die jeden erzählbaren plot zerstückelnde und an die Nacht seines Nicht-Wissens verweisende Unterschrift unter diese Szene der sich auf sich selbst doppelnden, sich ausstellenden Trauer-Bühne.« 51 Shakespeare, Hamlet (wie Anm. 26), II.2.581f. 52 Ebd., V.2.87.

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nicht ausführt. Doch wird Hamlet in Watt letztlich weder (wieder-)erzählt noch einfach ausgestellt. Vielmehr scheinen Hamlets (Un-)Dinge in diesem oszillierenden Erzählverfahren einen eigenen Gebrauch zu finden: Sie werden zu den Gegenständen einer Erzählung der Erzählverfahren.

7. Q UANDO ? W ANN ? Die letzte Frage betrifft die Zeitlichkeit der sogenannten Vorfälle, die in Watt unmittelbar mit der Frage nach der Zeitlichkeit ihrer Erzählung verwoben ist. Watt vertieft so anhand der Frage nach dem Wann die Untersuchung der poietischen Hervorbringung von Handlung. Der Vorfall des Klavierstimmens würde aus erzähltheoretischer Perspektive kaum ein wirkliches Ereignis darstellen, das eine Veränderung impliziert (»nothing had happened«). Erst im nachträglichen Befragen, das den eigentlichen Vorfall aufzulösen beginnt, ergibt sich so etwas wie ein Ereignis (»nothing had happened«). Bezeichnet dann »a thing that was nothing had happened« noch den – derart aufgelösten – Vorfall oder schon seine Befragung, den Akt seiner Herstellung wie Auflösung? Diese Frage betrifft auch die Frage nach der Zeit: Wann wird dieses Ding, das darin besteht, dass nichts geschehen ist, genau zu einem solchen Ding? Die Zeit des Vorfalls wird dabei nicht nur durch den Doppelsinn von Erzählzeit und erzählter Zeit fraglich; in der Dynamik der Befragung erscheint der Vorfall als ein solcher zugleich nur dadurch, dass er in einer Serie von Vorfällen erscheint. Dabei wird die Serialität nicht durch eine Folge distinkter Ereignisse realisiert, die einen Übergang ermöglicht, sondern in den einzelnen Vorfall selbst eingetragen, von dem es heißt, dass er selbst fortfährt sich zu ereignen: »What distressed Watt in this incident of the Galls father and son, […] was […] that a thing that was nothing had happened, […] and that it continued to happen«.53 Wenn das Ereignis nicht in dem Vorfall, sondern in dessen Befragung statthat, und wenn dieses Ereignis zugleich nur geschieht, indem es sich permanent fortsetzt, wann genau findet es dann statt? Mit der Frage nach der Zeit schließt sich so der Kreis und wir kehren wieder zu der Ausgangsfrage nach den Ereignissen selbst zurück, die mit Watt/What im Titel steht: Um was handelt es sich hier? Mit welchem Ereignis haben wir es zu tun, wenn es in einem ›Nichts‹ besteht, das sich zugleich fortgesetzt vollzieht und dessen Zeitlichkeit sich also auf seine Befragung und Fortsetzung ausdehnt, in die Orte, die Reflexionen, die Akteure hinein?

53 Beckett, Watt (wie Anm. 1), S. 62f. [Herv. von mir, K.T.].

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Diese Frage ließe sich dann auch an das Vermächtnis richten, das Hamlet der Nachwelt hinterlässt und der Erzählinstanz Horatio überträgt: »Things standing thus unknown, shall live behind me!«54 Werden die ›Dinge‹ – die Vorfälle wie die Leichen des Stücks – erst zu Ereignissen geworden sein, wenn sie (von Horatio) poietisch als solche hervorgebracht werden? Watt scheint die ›Stabübergabe‹ Hamlets vom Theater an die poietische Erzählung anzunehmen und umzukehren. Was sich in der komplexen Un-Dinghaftigkeit der Ereignisse in allen ihren Verschiebungen zeigt, sind die Verfahren der Hervorbringung von Handlung durch Erzählung, exemplarisch vorgeführt anhand der Fragen des rhetorischen Fragekatalogs einer Fallkonstitution. Statt aber zu naturalisierbaren Resultaten in Form von erzählten Ereignissen zu gelangen, finden die Verfahren in ihren Verschiebungen selbst statt und leisten Widerstand gegen Verdinglichung, in ›größter formaler Distinktheit‹ und unausgesetzter Fortsetzung.

54 Shakespeare, Hamlet (wie Anm. 26), V.2.87.

Ein kleines Theater

Antiprothetik Samuel Becketts Depotenzierungsmaschinen* K ARIN H ARRASSER NAGG: Do you remember — NELL: No. NAGG: When we crashed on our tandem and lost our shanks. (They laugh heartily.) NELL: It was in the Ardennes. (They laugh less heartily.) NAGG: On the road to Sedan. (They laugh still less heartily.) Are you cold? SAMUEL BECKETT, ENDGAME1

Theodor W. Adorno verwendet, im Gegensatz zu Beckett, drastische Formulierungen, um dessen Texte zu erschließen. Die erkaltenden »Menschenstümpfe«2, die das Stück Endgame bewohnten, führten, so Adorno, einen »Katalog der Defekte«3 vor. Beckett sei dennoch weder Existenzialist noch Humanist, und es sei dem hier hinzugefügt: Seine Figuren sind antiprothetisch und deshalb meta*

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen bearbeiteten Auszug aus meiner Habilitationsschrift Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne, Berlin: Vorwerk 8, 2015.

1

Samuel Beckett, »Endgame«, in: ders., The Complete Dramatic Works, London: Faber & Faber, 2006, S. 89-134.

2

Theodor W. Adorno, »Offener Brief an Rolf Hochhuth«, in: ders., Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften, Bd. 11, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974, S. 591-598, hier S. 594.

3

Ders., »Versuch, das Endspiel zu verstehen«, in: ebd., S. 281-332, hier S. 300.

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anthropologisch. Wenn die Sprache bei Adorno auf den Menschen kommt, fliegen nur ganz selten, wie er für das Endspiel feststellt, »die Fenster auf und öffnen den Durchblick auf den schwarzen sternlosen Himmel von etwas wie Anthropologie«4 – mehr ist nicht zu haben bei Adorno und auch nicht bei Beckett. Es ist, wenn überhaupt, eine Minimalanthropologie der historisch situierten Beschädigungen, die freilich nicht auf den Menschen beschränkt ist. Selbst der Stoffhund, den Clov für Hamm anfertigt, hat ein Bein zu wenig. Wenn Hamm die Stümpfe seiner Eltern in Mülltonnen steckt, ist dies auch keine Allegorie für das Dasein im Allgemeinen, sondern ein Kommentar zum verlogenen Humanismus fürsorgenden Handelns im Zeitalter kapitalistischer Wertschöpfung, in dem keine Verwendungsmöglichkeiten für das Schwache in Sicht sind: »Das Endspiel ist wahre Gerontologie. Die Alten sind nach dem Maß der gesellschaftlich nützlichen Arbeit, die sie nicht mehr leisten, überflüssig und wären wegzuwerfen. Das wird dem wissenschaftlichen Brimborium einer Fürsorge entrissen, die unterstreicht, was sie negiert.«5 Die Kritik an der Ersetzbarkeit des Einzelnen bildet in öffentlichen Diskussionen zwischen Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen einen gemeinsamen Ausgangspunkt.6 Gleichwohl zeichnen sich rasch sehr unterschiedliche Interpretationen dieser Diagnose ab. Gegen Gehlens Anthropologie des Mangels, der zufolge Kultur, Technik und Institutionen dem schwachen Tierwesen Mensch Schutz und Entlastung geben (müssen), versteht Adorno Austauschbarkeit und Ersetzbarkeit des Einzelnen nicht als anthropologische Konstante, sondern als korrelierend mit einer historisch spezifischen »Realangst«, nämlich der Angst vor dem Verlust von Arbeit und dem darauf folgenden sozialen Tod. Er wolle, sagt er, nichts anderes, als dass die Welt so eingerichtet würde, dass die Menschen nicht das überflüssige Anhängsel der verdinglichten Welt seien, sondern dass die Dinge für die Menschen da seien. Gehlen wirft er vor, sein Plädoyer für schützende und stabilisierende Institutionen sei spiegelbildlich zur industrialisierten Welt, die das Problem der Devaluierung von Arbeit ja gerade hervorbringe. Institutionen seien »selbstgemachte Maschinen«, verlängerte Arme menschlichen Wollens zwar, aber nie mehr als Mittel, denen sich treu zu ergeben einer Identifikation mit dem Angreifer gleichkäme. Der Glaube an die Institutionen sei, wie der Fortschrittsglaube, nichts als eine Art Fetischdienst. Auch Gehlen betont zunächst die Bedrohlichkeit einer Vision der Selbstabschaffung 4

Ebd., S. 281.

5

Ebd., S. 311.

6

Ders., Arnold Gehlen, »Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?« (Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen im Gespräch, Sendung vom 28.03.1966, SWF), in: Soziologen-Korrespondenz. Neue Folge 2 (1975), S. 1-28.

A NTIPROTHETIK |

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des Menschen. Er fordert aber als Antwort auf die konstatierte zivilisatorischtechnische »Überlastung« des Einzelnen dessen Entlastung durch Institutionen. Er verwendet dafür das Bild des hinter der Schürze der Mutter versteckten Kindes, dem in seiner Angst geholfen werden müsse. Adorno hat nun leichtes Spiel, Gehlen als einen Denker vorzuführen, der Regression und Autoritätsglauben mittels schützender Institutionen erzeugen möchte, der die Menschen unmündig, kindlich halten will. Diese Polemik lässt einige Grundmotive bei Adorno scharf hervortreten, die er in seiner Auseinandersetzung mit Beckett gewinnt: die Gesellschaft als Maschine, die die Menschen verstümmelt und okkupiert; den Einzelnen, der allein durch Verneinung seiner sozialen Bindungen sich selbst ermächtigt; die Kälte der bürgerlichen Institutionen als falscher Ersatz realer Bindungen; ein scharfer Gegensatz zwischen verletzbarem Leib und kalter Maschine. Becketts Krüppel figurieren demnach als Restbestände der technisch aufgerüsteten bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft. Die Alten in der Mülltonne verkörpern zudem das Kompositionsprinzip des Dramas, das darin besteht, konventionalisierte Sprache zu »verstümmeln« und aus den Restbeständen neue Fügungen herzustellen. Auch die Namen der dramatis personae sind solche »Stümpfe von Namen«7: Hamm, Clov, Nagg, Nell. Es sind Namen, in denen auch in der verkürzten Form noch Bedeutung mitschwingt: Hamlet in Hamm, der Clown in Clov, das Nörgeln in Nagg, ein immerhin fast intakter Frauenname in Nell.

1. M ASCHINEN

STATT

P ROTHESEN

Adorno verteidigt das Endspiel gegen eine humanistisch-existenzialistische Lesart, aber auch gegen eine prothetische Anthropologie, die in der medialen Selbsterweiterung das Posthumanum als Rettendes, als Ausweg aus den Zumutungen des Daseins erhofft. Marshall McLuhan popularisierte eine Prothesentheorie der Medien und des Menschen, die sich, verstreut in heterogenen Wissensfeldern, seit Anfang des 19. Jahrhunderts in expliziten und latenten Anthropologien eingenistet hatte. Ausgangspunkt der Prothesentheorie ist – von Ernst Kapp über Sigmund Freud und Arnold Gehlen bis zu McLuhan – ein angeblicher Mangel, die Nicht-Spezialisiertheit des Menschenkörpers im Vergleich zum ›verteidigungsfähigen‹ Tierkörper. Die Abbruchkante einer prothetischen Anthropologie ist die Möglichkeit der Selbstausrottung des Menschen durch seine ei-

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Ebd., S. 11.

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genen Hervorbringungen, eine Welt der Maschinen, die den Menschen nicht länger benötigt. In letzter Zeit ist die prothetische Dimension von Becketts Werken vermehrt untersucht worden. So hebt Yoshiki Tajiri auf jene Vorgänge ab, mittels derer prothetische Figuren bei Beckett die Technisierung der aisthesis thematisieren. Außerdem erläutert er die vielfältigen Ersetzungen und Verwechslungen, die einer Logik des Supplementären folgen. Er begreift deshalb die sich selbst fremden Körper beckettscher Protagonisten als »Prothesenkörper«. Durch die distanzierten Beobachtungen der eigenen Beine, Hände und Zehen würden diese ihrem Besitzer ungewiss. Der organische Körper und seine artifiziellen Extensionen erschienen austauschbar.8 Ulrika Maude hingegen betont die »phänomenologische Sensibilität« von Becketts Figuren, die mittels ihrer künstlichen Extensionen in der Welt herumstochern und durch Prothesen das Wahrnehmen wahrnehmbar machten.9 Maude untersucht Becketts Methoden, um die Paradoxien von »embodied experience« als gleichzeitig subjektiv und historisch geworden auszuloten und seine kontinuierliche Erforschung des Körpers als Gedächtnisträger.10 Seine Arbeiten seien von Forschungen zum Phantomschmerz inspiriert, es gehe um ein Ineinander von Körpergedächtnis und Gedächtniskörper. Maude möchte Becketts Figurenarsenal dezidiert nicht als eine »Galerie von Krüppeln« verstanden wissen.11 Die Figuren begreift sie als aufs Allgemeine zielende erkenntnistheoretische und ästhetische Experimentalanordnungen. Im Rahmen der vorliegenden Ausführungen soll hingegen expliziert werden, dass die ausgestellten Beschädigungen ganz wesentlich für Becketts Figuren sind. Im Folgenden sollen einige Momente bei Beckett untersucht werden, die verdeutlichen, aus welchen systematischen Gründen Becketts »verkrüppelte« Figuren eben keine Prothesen verwenden, sondern Krücken, Fahrräder ohne Kettengetriebe oder Rollstühle. In Endgame steht ein Fahrradunfall am Anfang: Die Eltern, Nagg und Nell, haben bei einem Unfall in den Ardennen ihre Beine verloren. Kaum chiffriert in der Nennung der Stadt Sedan schwingt in ihrem trostlosen Gelächter die Erinnerung an die Versehrten mehrerer Kriege mit. An anderer Stelle verlangt Hamm Fahrradreifen für seinen Rollstuhl, die er freilich ebenso wenig bekommt wie Schmerzmittel. Molloys Fahrrad ist ein ganz besonderes Maschinenexemplar. Molloy findet es an jener Stelle, an der er es abgestellt hat, ohne überhaupt zu 8

Vgl. Yoshiki Tajiri, Samuel Beckett and the Prosthetic Body. The Organs and Senses in Modernism, New York: Palgrave Macmillan, 2007.

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Vgl. Ulrika Maude, Beckett, Technology and the Body, Cambridge: Cambridge University Press, 2009, S. 3.

10 Vgl. ebd., S. 11-14. 11 Vgl. ebd., S. 11.

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wissen, dass ein Fahrrad in seinem Besitz ist. Das Fahrrad ist konkret beschreibbar und völlig irreal zugleich. Phantastisch ist vor allem sein Antrieb. Es ist kettenlos, »if such a bicyle exists«.12 Später verweigert selbst dieser imaginäre Antrieb den Dienst. Die Räder drehen sich nicht mehr, als ob die Bremsen greifen, obwohl das Fahrrad natürlich überhaupt keine Bremsen besitzt.13 Das Fahrrad erscheint lebendig: »I left her my bicycle which I had taken a dislike to, suspecting the vehicle of some malignant agency and perhaps the cause of my recent misfortunes.«14 Mensch und Apparat sind auf ungewöhnliche und asymmetrische Art und Weise verbunden: »This is how I went about it. I fastened my crutches to the cross-bar, one on either side, I propped the foot of my stiff leg […] on the projecting front axle, and I pedalled with the other.«15 Es gibt keinen Körper und Gerät beherrschenden »Kartesianische[n] Kentaur«16 zu besichtigen, sondern eine kunstvolle, semikompetente Balanceübung. Becketts verkrüppelter Fahrradfahrer ist, wenn man so will, ein Dialogpartner von Alfred Jarrys Übermann17 aus dem Jahr 1902. Mit diesem als Referenzpunkt – auch er fährt ein Fahrrad, das nicht von einem Kettegetriebe, sondern vom Begehren angetrieben wird – lässt sich sagen, dass Samuel Becketts Version des Fahrrads als Geviert und Passion18 eine Reduktionsstufe technischer Potenzphantasien ist. Sie ist viel bescheidener als die jarryschen Maschinen. Molloys Fahrrad fährt am Ende – trotz imaginären Antriebs – gar nicht mehr. Selbst die kleinen Flüge mittels Krücken werden ihm zunehmend verunmöglicht und seine Lutschsteine gehen ebenfalls verloren. Was Molloy aber bis zum Ende 12 Samuel Beckett, »Molloy«, in: ders., Novels. Volume II, New York: Grove Press, 2006 (= The Centenary Edition), S. 1-170, hier S. 12. 13 Vgl. ebd., S. 42. 14 Ebd., S. 54. 15 Ebd., S. 12. 16 »Der Kartesianische Kentaur« heißt ein Kapitel in Hugh Kenners Studie zu Samuel Beckett. Er analysiert Molloy als eine Parodie des sich selbst gewissen Menschen, der mittels cogito seine Körpermaschine beherrscht. Die These, dass Becketts Fahrradfahrer Parodien des kartesianischen Menschen sind, findet sich allerdings bereits 1964 bei Marshall McLuhan, bei dem Kenner studiert hatte. Siehe Hugh Kenner, Samuel Beckett. A Critical Study, Berkeley, CA: University of California Press, 1968, S. 109123; Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, New York: Signet Books, 1964, S. 166. 17 Vgl. Alfred Jarry, Der Übermann. Moderner Roman, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins, 1987. 18 Vgl. Gilles Deleuze, »Ein verkannter Vorläufer Heideggers: Alfred Jarry«, in: ders., Kritik und Klinik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S. 124-135.

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bleibt, ist ein rätselhaftes »Doppelgeviert«, das einem Sägebock gleicht und das in seiner Gestalt und zweifelhaften Funktion ein recht naher Verwandter von Kafkas Odradek aus »Die Sorge des Hausvaters«19 ist: »It consisted of two crosses joined at their points of intersection, by a bar, and resembled a tiny sawing-horse, with this difference however, that the crosses of the true sawing horse are not perfect crosses, but truncated at the top, whereas the crosses of the little object I am referring to were perfect, that is to say composed each of two identical V’s […]. This strange instrument I think I still have somewhere for I could never bring myself to sell it, even in my worst need, for I could never understand what possible purpose it could serve, nor even contrieve the faintest hypothesis on the subject. And from time to time I took it from my pocket and gazed upon it, with an astonished and affectionate gaze, if I had not been incapable of affection.«20

Von seiner Funktion her besehen, ist das seltsame Ding ein Messerbänkchen. Von seiner Affizierungsfähigkeit her besehen, ist es ein Talisman, der nur eines sagt: Es gibt mich. Das Objekt ist die miniaturisierte Ausgabe jener technischen Objekte, die Tajiri bei Beckett als prothetisch bezeichnet. Diese Objekte sind jedoch eher Thesen als Prothesen. Sie sind sprachliche Objekte in ihrem eigenen Recht. Die selbstständigen Gliedmaßen, Krücken, Rollstühle, Fernrohre, Haken, Lutschsteine und Fahrräder sind, wie auch dieses Objekt, kein Ersatz, keine Erweiterung von etwas Gegebenem, sondern stehen ganz für sich, haben keinen Ursprung oder Zweck, der von Bedeutung wäre. Die Objekte haben eine technisch-geometrische Gestalt, aber diese verweist auf keine Funktion oder Handhabung. Sie können mit dem Körper kombiniert werden, führen aber auch ein Eigenleben. Und sie sind häufig kaputt. Sie sind damit das Gegenteil von Prothesen: Diese verweisen auf etwas, das nicht mehr oder noch nicht ist. Becketts Objekte kämpfen für die Irreduzibilität dessen, was in aller Schwäche ist. Als Gegenpol einer prothetischen Anthropologie mit ihren Endpunkten Perfektionierung oder Vernichtung formulierten Gilles Deleuze und Félix Guattari 1972 eine alternative Theorie der Mensch-Maschine, die sich an zentraler Stelle auf Beckett bezieht. Die freudsche Psychoanalyse und Anthropologien unterschiedlicher Prägung sind im Anti-Ödipus Zielscheibe der Kritik sowie Abstoßungsmoment dieser anderen Theorie der Maschine. Am Schluss des Buchs, in der »Programmatischen Bilanz für Wunschmaschinen«, entwerfen De19 Franz Kafka, »Die Sorge des Hausvaters«, in: ders., Drucke zu Lebzeiten, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Wolf Kittler und Gerhard Neumann, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1994, S. 282-284. 20 Beckett, »Molloy« (wie Anm. 12), S. 58.

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leuze und Guattari die Wunschmaschine als Gegenprogramm und Kritik kompensatorischer Anthropologien: »Bekannt ist jenes klassische Schema: das Werkzeug als Verlängerung und Projektion von Lebendigem, Operation, kraft deren sich der Mensch fortschreitend entlastet, Entwicklung des Werkzeugs zur Maschine, Umwälzung, in deren Verlauf die Maschine sich mehr und mehr vom Menschen unabhängig macht […].«21

Dieses Schema bestreiten sie, indem sie einen fundamentalen Unterschied zwischen Werkzeug und Maschine begrifflich herausarbeiten. Wo das Werkzeug den menschlichen Körper verlängert, projiziert oder ersetzt, eine funktionale Synthese mit dem Organischen bildet, postulieren Deleuze und Guattari ein über weite Strecken blindes Zusammenspiel von »organlosem Körper« und verschiedenen »Wunschmaschinen«. Was sie einen organlosen Körper nennen, entspricht jener Körperlichkeit, die bei Freud diejenige des Todestriebs ist. Ein Körper, der Stasis und Unproduktivität will, der kein Interesse an (s)einer produktiven Inbetriebnahme (z.B. in der Fabrik, im Fitness-Center) hat. »Desimplifiziert«22 wird diese Form von Körperlichkeit von ihm aufgepfropften Wunschmaschinen unterschiedlichster Herkunft und Machart. Mit ihnen geht der im Prinzip statische Körper konnektive, disjunktive oder konjunktive Verbindungen ein. Konnektiv meint eine nicht zwingend instrumentelle, sondern vielmehr eine bastlerische Assoziation mit heterogenen Elementen, einen improvisierenden, spielerischen Technikgebrauch, wie ihn etwa Buster Keaton in The General (1926) vorführt.23 Disjunktiv meint ein Zusammenspiel, das sich selbst unterbricht, etwa das gegenseitige Unterbrechen und Verstärken von Körpern und Maschinen, das man in Becketts Texten findet.24 Ein Beispiel ist entsprechend das Zusammenspiel von Sprechen und Gehen in Enough: »Immediate continous communication with immediate redeparture. Same thing with delayed redeparture. […] Immediate discontinuous communication with immediate redeparture. Same thing with delayed redeparture. Delayed discontinous communication with immeditate redeparture. Same thing with delayed redeparture.«25 21 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974, S. 499. 22 Ebd., S. 22. 23 Vgl. ebd., S. 11-15. 24 Vgl. ebd., S. 15-23. 25 Samuel Beckett, »Enough«, in: ders., The Complete Short Prose, 1929-1989, hrsg. von Stanley E. Gontarski, London: Grove Press, 2006, S. 189.

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Mit der Sprechmaschine, die sich in Schleifen festfährt, gerät die Sprache ins Stocken, verbindet dabei aber ein ums andere Mal Sprachblöcke zu etwas Neuem. Die dritte Möglichkeit, die konjunktive Synthese, meint eine Intensivierung des Möglichkeitssinns im Erleben von Wirksamkeit. Sie ist eine Art verkörperte Zukunftsahnung. Eine körperliche Wahrnehmung davon, dass immer etwas gerade im Entstehen begriffen ist, dass das eben Erlebte eine Schwelle zu etwas anderem ist. Auch die konjunktive Synthese erläutern Deleuze und Guattari mittels Verweises auf Becketts sich rastlos in Schleifen bewegenden Figuren und ihrer idiosynkratischen Selbstwahrnehmung.26

2. M ETA -A NTHROPOLOGIE

DER

M ASCHINE

Der Mensch als Gattungsname passe »schlecht in Becketts Sprachlandschaft«,27 formuliert Theodor W. Adorno. Und er passt genauso schlecht in die zerklüftete Philosophie Deleuzes und Guattaris. Den Menschen als solchen gibt es da wie dort nicht. Und Beckett lässt Molloy zum Thema Anthropologie sagen: »The next pain in the balls was anthropology and the other disciplines, such as psychiatry, that are connected with it, disconnected, then connected again, according to the latest discoveries. What I liked in anthropology was its inexhaustible faculty of negations, its relentless definition of man, as though he were no better than God, in terms of what he is not. But my ideas on this subject were always horribly confused, from my knowledge of men was scant and the meaning of being beyond me.«28

»Den Menschen« gibt es höchstens als Rätsel und »einzig als das, was er wurde«.29 Was er zum Beispiel wurde, wird im Endspiel als Assemblage aus Hilfskonstruktionen vorgeführt: Clov, mit seinen schlechten Augen und Beinen, ersetzt dem blinden und gelähmten Hamm während des ganzen Stücks große Teile seiner Wahrnehmung. Hamm fragt Clov dauernd danach, ob und wie genau er denn wirklich schaut, ob und wie genau er denn wirklich hört, wo genau im Raum sie sich befinden. Der subjektiven Wahrnehmung ist hier ebenso wenig zu trauen wie den Vermittlungen der Sprache. Jene Funktionen, die technischen

26 Vgl. Deleuze, Guattari, Anti-Ödipus (wie Anm. 21), S. 28. 27 Adorno, »Versuch, das Endspiel zu verstehen« (wie Anm. 3), S. 290. 28 Beckett, »Molloy« (wie Anm. 12), S. 35. 29 Adorno, »Versuch, das Endspiel zu verstehen« (wie Anm. 3).

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Sinneserweiterungen reflexartig zugeschrieben werden – Verbesserung, Verstärkung, Erweiterung der Sinne – werden in Clovs Hantieren mit Fernrohr und Rollstuhl ad absurdum geführt. Wahrnehmen verliert sich in der Bodenlosigkeit der Wahrnehmungsakte. Denn wahrgenommen werden können in diesem Stück – mit oder ohne technische Sinneserweiterungen – ohnehin nur Unterschiede, die gegen Null tendieren. Das Wetter draußen ist immer gleich, ob sich in den Mülltonnen Sägespäne befinden oder Sand darin ist, ist letztlich gleichgültig, ebenso, ob Hamm ganz in der Mitte oder ein wenig rechts davon steht. Im Akt des technisch modifizierten Wahrnehmens der Wahrnehmung – hier ist Tajiri zuzustimmen – erscheint der organische Körper bei Beckett als ebenso hypersensibel wie artifiziell. Hamms Hautsinn hat sich als Folge seiner Abhängigkeit von Clov extrem verfeinert. Mehrmals befiehlt er ihm, nicht hinter ihm zu stehen, weil ihm das eine Gänsehaut mache (»You give me the shivers!«). Molloy schildert einen erlittenen Faustschlag wie folgt: »I had been touched, oh not my skin, but none the less my skin had felt it, it had felt a man’s hard fist, through it’s covering.«30 Die Hautwahrnehmung mutet dem Empfinden fremd, artifiziell an. Damit ist jedoch nicht eine prothetische Logik von verbesserndem Ersatz anvisiert, sondern die Kraft der Idiosynkrasie, Anschlüsse zu schaffen und eine Art von Körperlichkeit, die sich den gesellschaftlichen Zurichtungsmaschinen zu entziehen sucht. In Becketts Texten begegnet man sich gegenseitig unterbrechenden, kaputten Maschinen, die Codes gesellschaftlichen Funktionierens bloßlegen. Becketts Protagonisten sind Parodien auf biopolitische Maschinen: Die Sorge um Gesundheit und Nachkommenschaft zur Aufrechterhaltung von Produktivität endet bei den verstümmelten Eltern in der Mülltonne. Niemand ist hier arbeitsfähig und alle sind asexuell oder, höchstens, pervers. Andererseits erzeugt die Sprache Becketts eine intensive Präsenz von Leiblichkeit, die Idee eines Körpers, der vor, hinter oder seitlich des alltäglich Fühlbaren oder Sichtbaren insistiert. Das Körperempfinden wird sprachlich und visuell abgetastet. Und auf der Inhaltsebene besteht die Prosa über weite Strecken aus der Beschreibung außergewöhnlicher körperlicher Zustände. Sowohl Endgame als auch die meiste Kurzprosa, etwa The Lost Ones31 (1966/70), lassen sich zudem plausibel als Kammerspiele im Weltall lesen, als postapokalyptische Szenarien der Einsamkeit der letzten Überlebenden. Wir begegnen Menschen in einem abgeschlossenen Gefäß, die über wenig oder gar keine Möglichkeit verfügen mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Selbst die Nahrung gleicht in Endgame Astronautennahrung (Kekse, Brei). In The Lost 30 Beckett, »Molloy« (wie Anm. 12), S. 17. 31 Ders., »The Lost Ones«, in: ders., The Complete Short Prose (wie Anm. 25), S. 202223.

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Ones wird detailliert beschrieben, wie die artifizielle Umwelt des »Zylinders«, in dem die Leute leben, ihre Physiologie und Wahrnehmung verändert. An keiner Stelle sind diese Astronautenszenarien jedoch heroische oder dystopische Cyborg-Szenarien. Die Hinfälligkeit der Figuren bleibt die Matrix des Erzählens, eines Erzählens, das häufig nicht vorwärts kommt, selbst wenn innerhalb der Diegese davon berichtet wird, dass ein Paar im Laufe des gemeinsamen Lebens mehrfach das Äquivalent einer Erdumrundung zurückgelegt hätte.32 Becketts Protagonisten bleiben, wo sie sind, auch wenn sie sich bewegen. Sie bleiben aber nicht, wer sie sind. Ihre Körperumrisse und die Geometrie ihrer Bewegungen zeichnen eine groteske Körperlichkeit, die systematisch minimale Veränderungen durchläuft. Die verformten Körper werden mittels verschiedener Artefakte punktuell zu phantastischen Körpern. So verwendet der zu einem rechten Winkel verbogene Wanderer in Enough einen kleinen Handspiegel, um sich am Sternenhimmel zu erfreuen. Molloys Körper durchläuft eine Vielzahl körperlicher Zustände, Gestalten und Fortbewegungsarten. Als er von seiner Wohltäterin Lousse »Substanzen« eingeflößt bekommt, erlebt er sein Hüpfen als Levitation oder er fällt wie eine Figur von Francis Bacon in sich zusammen, als ob er keine Knochen hätte: »For from time to time I caught myself making a little bound in the air, two or three feet off the ground at least […]. It looked like levitation. And it happened too, less surprisingly, when I was walking, or even propped up against something, that I suddenly collapsed, like a puppet when its strings are dropped, and lay long where I fell, literally boneless.«33

Selbst die Fortbewegung auf den Krücken, obschon sie zumeist als einzige Qual erscheint, wird manchmal zu einer Flugerfahrung: »There is rupture, or there should be, in the motion crutches give. It is a series of little flights, skimming the ground. You take off, you land, through the thronging sound in wind and limb, who have to fasten one foot to the ground before they dare lift up the other. And even their most joyous hastening is less aerial then my hobble.«34

Der hinfällige Körper ist in ganz kurzen Momenten der Normalkörperlichkeit überlegen, er ist ein besonders feines Instrument der Aufzeichnung von intensiven Zuständen. Das gilt aber auch für die Hinfälligkeit selbst. Becketts fast lächerlich präzise Schilderung des Gehens mit Krücken kassiert jede Idee der 32 Vgl. ders., »Enough« (wie Anm. 25). 33 Ders., »Molloy« (wie Anm. 12), S. 49. 34 Ebd., S. 59.

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körperlichen Souveränität. Es wird von einer Transformation berichtet. Das zweite Bein Molloys beginnt – wie das erste vor einiger Zeit – sich zu versteifen. Es war bisher das »gute« Bein, und diente beim Gehen mit Krücke als stabilisierendes Zwischenstück. Mit der Versteifung sind große Schmerzen verbunden, sodass Molloy gezwungen ist, das bereits steife Bein zu verwenden. Nur hat sich dieses inzwischen verkürzt. Das macht die Fortbewegung nahezu unmöglich, denn das (sich versteifende, schmerzhafte, aber längere) Bein kann kaum unter den Krücken passieren, während das kürzere steht. Die Fortbewegung wird zu einem einzigen »painful progress«35, zu einem Kreuzweg ohne Aussicht auf Kreuzigung und mit keinem Simon, der tragen hilft: »Yes, my progress reduced me to stopping more and more often, it was the only way to progress, to stop.«36 Da jeder Schritt (je nach Untergrund) eine je andere Technik der Weiterbewegung erforderlich macht, wird die Fortbewegung zu einem kontinuierlichen Überdenken der Bewegung. Mal kann eine Krücke eine Vertiefung im Boden ausnutzen, mal das Bein eine Erhöhung. Wenn nichts dergleichen hilft, muss Molloy stehen bleiben, damit der längere Fuß irgendwie durchgezogen werden kann. Manchmal verwendet er dann den schmerzenden Fuß, der freilich nicht viel als Stütze hergibt, als »pile of dishes«.37 Das Gehen ist nicht länger ein unbewusster Automatismus, sondern der Gehende muss sich andauernd das Gehen bewusst halten, um es zu bewerkstelligen. Bereits vor dem Missgeschick mit dem steifen Bein erlebt Molloy das Gehen jedoch ähnlich: »My feet, you see, never took me to my mother unless they received a definitive order to do so.«38

3. E XPERIMENTE MIT V ERKETTUNGEN Hier wird eine Erfahrung literarisch katalysiert, die jemand macht, der nach einer Amputation eine Prothese erhält und in der Physiotherapie das Gehen neu erlernt. Und die experimentelle Erforschung solcher Körpererfahrungen war grundlegend für die Formulierung gestalttheoretischer Theoreme. Das Konzept des Körperschemas von Paul Schilder und die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys, die von Beckett rezipiert wurden, verdanken der Forschung an Amputierten wesentliche Einsichten. Interessant ist nun, dass der Transfer zwischen Experimentalpsychologie und den literarischen Methoden der Selbstwahr-

35 Ebd., S. 72. 36 Ebd., S. 73. 37 Ebd., S. 72. 38 Ebd., S. 25.

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nehmung bei Beckett thematisiert wird. In Murphy heißt es: »Murphy had some faith in the Külpe school. Marbe and Bühler might be deceived, even Watt was only human, but how could Ach be wrong.«39 Die Külpe-Schule meint die Würzburger Schule der Denkpsychologie. Es ging Külpe und seinen von Beckett namentlich genannten Schülern darum, die relative Unabhängigkeit von Denkprozessen und Assoziationsvorgängen und die unanschauliche Natur von Denkvorgängen mittels systematischer experimenteller Selbstbeobachtungen und Methoden der »Retrospektion« insgesamt herauszustellen. Beckett schuf zweifelsohne ein literarisches Pendant zur apparativen und retrospektiv interpretierenden Selbstbeobachtung der Würzburger Schule: Seine Figuren beobachten sich skrupulös und die Selbstbeobachtung wird permanent befragt und revidiert. Die geschlossenen, leeren, diffusen Räume, in denen sich die Körper aufhalten, kann man als Laborsituationen interpretieren. Warum ist aber gerade Narziß Ach der vertrauenswürdigste Schüler der Würzburger Schule? Gerade jener Ach, der sich so sehr in der Erforschung von Amputierten und ihren Prothesen hervorgetan hatte? Achs Methoden der Objektivierung subjektiven Erlebens waren überaus avanciert (und überaus rätselhaft). Er kombinierte in seinen Versuchsanordnungen Selbstbeobachtung, apparative Beobachtung und die Befragung durch den Versuchsleiter. Er testete die »Willensleistungen« seiner Probanden, die er als bewusste Lenkung von Aufmerksamkeit verstand. Den Probanden wurden sinnlose Silben präsentiert, die sie »willentlich« verbinden sollten. Ach verwendete eine aufwendige und »quasiliterarische« Methode, um dem Phänomen des Willens auf die Spur zu kommen. Die Instruktionen lauteten beispielsweise wie folgt: »Es werden Silben erscheinen: nehmen Sie sich vor, einen Reim auszusprechen, nachdem Sie die erscheinende Silbe gelesen und erkannt haben, und zwar nehmen Sie sich im allgemeinen einen Reim vor, ohne an spezielle Buchstaben zu denken.«40 Zum Teil hat die obligatorische Nachbefragung den Charakter eines Verhörs: Warum sagten Sie …? Haben Sie nicht gedacht …? Und hier …? Das ist doch kein Zufall! Dachten Sie nicht …?41 Erfragt werden auch Stimmungen, beispielsweise ob die Probanden beim Aussprechen einer bestimmten Silbe Erleichterung empfinden.

39 Ders., »Murphy«, in: ders., Novels. Volume I, New York: Grove Press, 2006 (= The Centenary Edition), S. 1-168, hier S. 51. 40 Narziß Ach, Über den Willensakt und das Temperament. Eine experimentelle Untersuchung, Leipzig: Quelle & Meyer, 2010, S. 32. 41 Vgl. ders., Über die Willenstätigkeit und das Denken. Eine experimentelle Untersuchung mit einem Anhange: Über das Hippsche Chronoskop, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1905, S. 123.

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Die Ergebnisse der Experimente sind seltsam diffus. Nach einer Lektüre von Achs Studien ist es äußerst schwierig anzugeben, was Wille, was Aufmerksamkeit, was Absicht oder was eine Zielvorstellung ist. Nachweisbar ist allerdings die Unanschaulichkeit des Denkens. Dies führt Ach zu einer Neubestimmung des Bewusstseins: »Bewußtheit (= Gegenwärtigsein eines unanschaulich gegebenen Wissens […].)«42 Nachgewiesen werden konnten wechselnde Intensitäten kognitiver Prozesse, Spannungs- und Entspannungszustände, Erregungszustände, nicht jedoch eine geordnete Abfolge von Willensakten und Handlungen. Die Protokollabschriften lesen sich zum Teil selbst wie beckettsche Dialoge: »Auf die Frage ›was sollen Sie tun?‹ antwortete G: ›Ich soll einen Reim sagen auf eine sinnlose Silbe, die auf einer Karte steht.‹ Kurze Zeit hierauf Erwecken. Nach 2 Minuten Unterhaltung wird eine Karte mit ›pun‹ gezeigt. Sofort d.h. in einem Zeitintervall von ungefähr 1 Sekunde ›gun‹. ›Was soll dies bedeuten?‹ ›Nichts.‹ ›Wie war dies?‹ ›Wie ich die Karte sah, drängte sich mir das Wort ›gun‹ auf.‹ ›Haben Sie nicht vorher gedacht, Sie sollen einen Reim sagen?‹ ›Nein.‹ ›Jetzt wissen Sie, dass dies ein Reim ist?‹ ›Ja.‹ ›Wann ist Ihnen dies eingefallen.‹ ›Bei späterer Überlegung.‹«43

Becketts »how could Ach be wrong« klammert zwar die apparativen Methoden ironisch ein und setzt ihnen eine literarische Methode entgegen, Achs Konzept des Bewusstseins, das sich durch Unanschaulichkeit, Intensitäten und Erregungen auszeichnet, erscheint jedoch durchaus instruktiv für Becketts Figuren. »Bewusstsein« hat bei Beckett ebenfalls nichts mit von der sinnlichen Erfahrung zu den apriorischen Ideen aufsteigenden, geordneten Prozessen zu tun. Und Becketts skrupulöse, figurative Aufzeichnungstechniken, die den apparativen Verhörsituationen Achs gleichen, sind weniger »Stimmprothesen«44 als vielmehr ein Echo der Struktur des experimentellen Aushorchens von Versuchspersonen. Wie Achs »Phonogramme« Intensitäten des Denkens aufzeichnen, zeichnen die Krücken den Verfall der Figuren auf. Die literarische Sprache Becketts inkorporiert die Aufzeichnungsapparaturen der experimentellen Psychologie, um das Denken selbst sichtbar zu machen, analog zur Aufzeichnung des Verfalls mittels Krückenchoreografien und Rollstuhlparcours. Die literarische Erforschung des Körpers, die mentalen Bilder, die dabei entstehen, korrespondieren mit einer Sprache, die selbst in höchstem Maß physisch ist: Die Lektüre erfordert ein dauerndes Vor und Zurück, schickt Assoziationen und Wissenspartikel im

42 Ders., Über den Willensakt (wie Anm. 40), S. 9. 43 Ders., Über die Willenstätigkeit (wie Anm. 41), S. 208. 44 Tajiri, Samuel Beckett (wie Anm. 8), S. 128-168.

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Kreis. In der Lektüre intensiviert sich Spracherleben und im besten Fall schaut man sich selbst beim Denken zu.

4. U NGEBOREN ,

NICHT VERBESSERBAR He said »Cause you make me feel like I’ve never been born.« THE BEATLES: SHE SAID SHE SAID, 1966

Becketts Körper sind keine auf etwas Abstraktes (etwa auf die »Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz«) verweisende Metaphern. Sie sagen in ihrer sprachlichen Gestalt alles, was sie zu sagen haben. Und in ihrer Sprachgestalt sind diese Figuren ein einziges Stottern und Schlingern oder, mit Deleuze gesprochen: »Die Sprache schlottert an allen Gliedern.«45 Für Deleuze ist die dichterische Sprache im besten Fall eine, die den von der Mehrheit geteilten und sanktionierten, den majoritären Sprachgebrauch ins Wanken bringt. Die poetische Sprache hingegen nistet sich in die Semantik und Grammatik des guten Stils ein und sprengt damit die Produktion von Gewissheiten auf. So sprechen Nagg und Nell im Endspiel fast ausschließlich in der formelhaften Sprache eines alten Ehepaars, die Kommunikation ist jedoch völlig asymmetrisch, kippt aus dem Sagbaren heraus, verläuft sich in Brabbeln, Lachen, Schnappen. In Becketts Figuren und ihrer »unaussprechlichen Art zu Gehen« vollzieht sich ein »Transfer von der Ausdrucksform zur Inhaltsform«.46 Das Humpeln, Krücken, Stolpern der Figuren bringt die Sprache selbst ins Ungleichgewicht. Daraus leitet sich jedoch nicht die Idee einer transzendenten Transformationskraft der Sprache ab: »Saying is inventing. Wrong, very rightly wrong. You invent nothing, you think you are inventing, you think your are escaping, and all you do is stammer out your lesson, the remnants of a pensum one day got by heart and long forgotten, life without tears, as it is wept.«47 Wie die verkrüppelten Körper sich nicht mittels Prothesen über ihre Geschichte, die notwendig auf den Tod zuläuft, erheben können, kann sich auch die dichterische Sprache nicht über ihre Historizität erheben. Auch sie bleibt verstümmelt und gebeutelt.

45 Gilles Deleuze, »Stotterte er …«, in: ders., Kritik und Klinik (wie Anm. 18), S. 145-154, hier S. 147. 46 Ebd., S. 150. 47 Beckett, »Molloy« (wie Anm. 12), S. 27.

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Beckett lässt Sprache in eine Molltonart hinüberklingen (»life without tears, as it is wept«48). Er zerrüttet sie von innen her, er führt sie an ihre Grenzen heran, indem er sie in ihre Bestandteile zerlegt und diese über das Prinzip der phonetischen Resonanz rhythmisch rekombiniert. Er versieht sie mit einem historischen Index, einem Ablaufdatum, der sie analog zu seinen Figuren dem Verfall preisgibt. Sowenig die Figuren vollständig und Souveräne ihrer Handlungen sind, sowenig ist Becketts Sprache diejenige der Vernunft, die erklärt und ordnet. Indem Beckett verfallende und zergliederte Körper auf eine disjunkte Sprache abbildet und umgekehrt, bringt er die Dinge in eine Gleichabständigkeit, die der subsumierenden Methode der Metaphysik widerspricht; und damit auch jeder prothetischen Grammatik des Vorher/Nachher, des Mangels/der Perfektion, des Ursprungs/des Ersatzes. Im Gegenteil treten bei Beckett Körper und Dinge, Organisches und Technisches, Vergangenheit und Gegenwart andauernd in neue Konstellationen. Deleuze sagt dazu: Beckett entwickelt eine disjunktive Synthese als Methode der Erschöpfung des Möglichen.49 Und diese Methode der Erschöpfung des Möglichen bildet einen Gegenpol zu den Phantasien eines neuen, besseren Menschen, die die Prothetik mit hervorgetrieben hat. Kombinatorik, das Ausschöpfen von Möglichkeiten mittels mathematischgeometrischer Mittel, findet bei Beckett sowohl auf der Ebene der Darstellung (von Körpern) als auch in sprachlichen Permutationen statt. Die Zergliederung von Körpern ist ein Mittel, um Permutationen in Gang zu bringen: Ist es das rechte Bein, das schmerzt, weil es sich versteift, oder ist es das linke? Watt bildet Serien der Assoziation seines Körpers mit Gegenständen des Alltagsgebrauchs (Socken – Fuß, Schuh – Fuß, Bett – Rücken, Bett – Seite). Erschöpfend ist, so Deleuze, diese Art von Kombinatorik, weil sie nichts anderes will, als alle Möglichkeiten durchzuspielen. Die Körper von Molloy und den anderen kombinieren sich nicht aufgrund irgendwelcher Ziele, sondern um sich zu verbinden. »Kombinatorik als die Kunst oder die Wissenschaft das Mögliche durch einschließende Disjunktionen auszuschöpfen«,50 hat kein äußeres Ziel. Sie verwirklicht keine Möglichkeiten. »Becketts Personen spielen mit dem Möglichen, ohne es zu verwirklichen, sie sind viel zu sehr beschäftigt mit einem immer mehr in seiner Art eingeschränkten Möglichen, als daß sie sich darum kümmerten, was sonst noch geschieht.«51 Diese Selbstgenügsamkeit der Worte, Dinge, Lebewesen kann man 48 Vgl. Deleuze, »Stotterte er …« (wie Anm. 45), S. 148. 49 Vgl. ders., »Erschöpft«, in: Samuel Beckett, Quadrat. Geister-Trio, … nur noch Gewölk …, Nacht und Träume. Stücke für das Fernsehen, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996, S. 49-101. 50 Ebd., S. 8. 51 Ebd., S. 7.

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als spinozistische Ethik lesen, hier soll ihnen jedoch eher in ihrer Fähigkeit Widerworte zu geben nachgespürt werden. Sie sind Widerworte gegen den Imperativ, alle seine Möglichkeiten produktiv auszuschöpfen, sich selbst zu verwirklichen, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus allen Kanälen tönt. Becketts Kombinatorik setzt Körper und Sprache, Körperglieder und Satzglieder, Wortteile und Teilwörter analog. Mit dieser Parallelschaltung gerät jedoch die Gleichgültigkeit des kombinatorischen Vorgehens auf eine geneigte Fläche. Denn mit dem fortgesetzten Durchspielen möglicher Zustände, Bewegungsformen, Subjektivierungsformen geht bei Beckett physischer Verfall oder Verschwinden einher.52 Der Erschöpfung der Möglichkeiten korrespondiert ein hinfälliger Körper: Molloys Bewegungslosigkeit oder der nur noch in der Sprache befindliche Körper des Namenlosen; Körper, die abgedeckt wie Möbel herumstehen oder in Krügen leben. Auch die dichterischen Permutationen zehren die Körper auf, nicht nur – wie bei Nietzsche – die Wissenschaft die Vitalität des Leibes. Doch in den reduzierten, reglosen, embryonalen Körpern liegt vielleicht gerade die minimalistische Utopie Becketts. Es ist überliefert, dass Beckett als Hörer C.G. Jungs in London in den 1930er Jahren von dessen Schilderung der Pathologie einer jungen Patientin beeindruckt war.53 Jungs Diagnose war, die Frau lebe in der Selbstwahrnehmung, nie geboren worden zu sein. Ungeboren scheinen die Figuren Becketts tatsächlich zu sein. Genauer: Seine Figuren sprechen und räsonieren üblicherweise so, »als ob sie schon vor der Geburt aufgegeben hätten«. So heißt ein Fragment aus den 1970er Jahren.54 Der Satz Jungs taucht mehrfach wörtlich in den Texten auf. Im Radiostück All That Fall schildert die 70-jährige Mrs. Rooney die Vorlesung Jungs: »When he had done with the little girl he stood there motionless for some time, quite two minutes I should say, looking down at his table. Then he suddenly raised his head and exclaimed, as if he had had a revelation, The trouble with her was she had never really been born!«55 In Murphy, geschrieben während des Aufenthalts in London, kommt es zu einem dramatischen Zwischenfall, in dem der Jung-Satz zum Einsatz kommt. Leary, von Murphy für seine Fähigkeit bewundert, sein Herz stillstellen zu können, donnert in einem Trancezustand seinen

52 Vgl. ebd. 53 Vgl. Colm Tóibín, »Introduction«, in: Beckett, Novels. Volume I (wie Anm. 39), S. x. 54 Samuel Beckett, »I gave up before I was born« (Fizzle Nr. 4), in: ders., Fizzles, New York: Grove Press, 1977, S. 31-33, hier S. 31. 55 Ders., »All That Fall«, in: ders., The Complete Dramatic Works (wie Anm. 1), S. 169199, hier S. 196.

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Kopf gegen den steinernen Hintern einer Cuchulain-Statue56 in der Hauptpost von Dublin. Ein Civic Guard (C.G.) bugsiert ihn Richtung Ausgang und fordert später dessen Freund Wiley auf: »›Run him back to Stillorgan,‹ said the C.G. ›Done it! […] Never fear, sergeant,‹ he said, urging Neary towards the exit, ›back to the cell, blood heat, next best thing to never being born, no heroes, no fisc, no—‹«57 Stillorgan ist der Name einer Psychiatrie in der Nähe von Dublin, könnte aber auch als Fantasiename für die Obsession beckettscher Figuren, ihre körperlichen Bedürfnisse auszuschalten, stehen. Der Zustand des Nicht-geborenSeins korrespondiert in Murphy mit den »Belacqua-Phantasien« des Protagonisten. Dantes Nichtstuer war bereits der Protagonist seiner Kurzgeschichtensammlung More Pricks than Kicks (1934) gewesen. Murphy träumt sich aus der Vorhölle des urbanen Lebens kurz hinaus: »At this moment Murphy would willingly have waived his expectations of Antepurgatory for five minutes in his chair, renounced the lee of Belacqua’s rock and his embryonal repose, looking down at dawn across the reeds to the trembling of the austral sea and the sun obliquing to the north as it rose, immune from expiation until he should have dreamed it all through again, with the downright dreaming of an infant, from the spermarium to the crematorium. He thought so highly of this postmortem situation, its advantages were present in such detail to his mind, that he actually hoped he might live to be old. Then he would have a long time lying there dreaming, watching the dayspring run through its zodiac, before the toil up hill to Paradise. The gradient was outrageous, one in less than one. God grant no godly chandler would shorten his time with a good prayer. This was his Belacqua fantasy and perhaps the most highly systematised of the whole collection. It belonged to those that lay just beyond the frontiers of suffering, it was the first landscape of freedom.«58

Bereits in Murphy ist der embryonale Zustand einer der minimalen Freiheit. Es ist kein regressiver Traum, sondern der eines Dazwischen, in dem noch nichts entschieden wurde.59 Becketts Körper sind am Ende und sie stehen am Anfang. Sie befinden sich in einem Zustand zwischen Greis und Embryo. Produkt von 56 Cuchulain ist eine irische Sagengestalt aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Während des Kampfes konnte er sich – wie die japanischen Pokémons – verwandeln: Er bekam sieben Finger und sieben Zehen sowie sieben Pupillen. Instabile Körperlichkeit also auch hier. 57 Beckett, »Murphy« (wie Anm. 39), S. 30. 58 Ebd., S. 49. 59 Zu Kafkas Figuren im Limbus vgl. Joseph Vogl, Über das Zaudern, Berlin, Zürich: Diaphanes, 2007, S. 104f.; zur acaedia als ein »literarisches Laster« vgl. ebd., S. 108.

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und in diesem Moment, aber unantastbar für gesellschaftliche Zurichtungen und historische Einschreibungen, haben sie alle Möglichkeiten erschöpft und sind doch reine Möglichkeit. Und noch einmal: Die Greisenembryos oder embryonalen Greise sind keine Metaphern eines überzeitlichen Fatalismus oder einer individuellen Geworfenheit. Sie sind vielmehr Figuren, die eine minimale Freiheit reklamieren, die Möglichkeit des Beginns einer neuen Serie bewahren. Die Figuren sind selbst Disjunktionen. Vielleicht meinte Deleuze sie, wenn er für Beckett festhielt, die Grenze seiner Kombinatoriken, der Punkt ihrer Überschreitung, liege »nicht im Unendlichen der Glieder […], sondern vielleicht irgendwo zwischen zweien, zwischen zwei Stimmen oder Stimmvariationen […]«.60 Von Deleuze und Beckett wird ein ums andere Mal die Anerkennung der Sterblichkeit und der Singularität des Leibes anvisiert, bei gleichzeitigem Festhalten an der Historizität der sinnlichen Wahrnehmung, der Sprache, von Wissen und Gewissheiten sowieso. Eine solche »historische Ontologie« ist nicht positiv und in saftigen Metaphern und Bildern zu haben, sondern nur in dürren Worten und in einer Sprache, die sich andauernd selbst aushebelt, rekursiv ist, vom Hundertsten ins Tausendste kommt. Die sprachliche Hermetik Becketts ist auch ein Schutz vor Aneignung, zumal durch einen wildgewordenen Möglichkeitssinn, der überall Verbesserungsfähiges ortet. Das Prosastück Worstward Ho61 hat diesen auftrumpfenden Möglichkeitssinn im Visier. Statt in einen goldenen Wilden Westen vorzudringen, verwildert hier die Sprache der Verbesserung und der Ausschöpfung von Möglichkeiten von Satz zu Satz. Kaum hat die Erzählstimme sich durch die ersten Sätze gestolpert, kommt der ultimative Imperativ des späten 20. Jahrhunderts, das selbst noch in der Niederlage siegen möchte: »All of old. Nothing else ever. Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.«62 Von da an werden Körper beschrieben und Redeversuche unternommen. Alle Bilder und Aussagen werden aber sofort wieder gelöscht. Der Abgesang auf die Verbesserung ist ein Strudel an Kombinationen von worse/less und better/best, die Verbesserung und die Verschlimmerung sind untrennbar miteinander verschlungen: »Worse less. By no stretch more. Worse for want of better less. Less best. No. Naught best. Best worse. No. Not best worse. Naught not best worse. Less best worse. No. Least. Least best worse. Least never to be naught. Never to naught be brought. Never by naught 60 Deleuze, »Erschöpft« (wie Anm. 49), S. 64. 61 Die deutsche Übersetzung des Titels »Aufs Schlimmste zu« gibt die Anspielung auf den Frontier-Slogan leider nicht wieder. Siehe Samuel Beckett, Worstward ho. Aufs Schlimmste zu, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989. 62 Ebd., S. 6.

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be nulled. Unnullable least. Say that best worst. With leastening words say least best worse. For want of worser worst. Unlessenable least best worse.«63

Während die Prosa auf einen Grenzfall des Sprechens zuläuft, findet Beckett hier jedoch ein Bild, das dasjenige seines letzten Fernsehstücks ist: »Another. Say another. Head sunk on crippled hands. Vertex vertical. Eyes clenched. Seat of all. Germ of all. […] Head sunk on crippled hands. Clenched staring eyes. At in the dim void shades. One astand at rest. One old man and child. At rest plodding on. Any others would do as ill. Almost any. Almost as ill. […] The twain. The hands. Held holding hands. That almost ring! As when first said on crippled hands the head. Crippled hands! They there then the words. Here now held holding. As when first said. Ununsaid when worse said. Away. Held holding hands!«64

Ein Kopf, auf alte Hände gesunken, das ist das Ausgangsbild von Nacht und Träume (geschrieben 1982, 1983 vom SDR verfilmt). Doppelt gehaltene Hände sind das Schlussbild der Traumsequenz. Zu sehen ist ein schlafender alter Mann und dessen Traum. Im Traum begegnet er seinen eigenen Händen, die sich im Bild verdoppeln. Diese Hände geben ihm zu trinken, wischen ihm die Stirn ab und streicheln ihn.65 Zweimal endet der Traum damit, dass sich die geträumten Hände mit einem ihrer Doppelgänger verschränken und das geträumte Ich auf diese gebettet einschläft, während eine dritte geträumte Hand sich auf seinem Kopf niederlässt. Was bei Freud unheimlich war – autonome, abgetrennte Körperteile –, ist hier das Vertrauteste und Zarteste. Der Träumer ist gut aufgehoben in einem Ritornell aus Bild und Singstimme. Er wird wieder Kind (»One old man and child«). Die Elemente sind visuell nur minimal unterschieden: Der Traum zeigt den Wachzustand spiegelverkehrt und ein klein wenig heller. Insgesamt ist der Film beinahe unsichtbar. Es gibt fast gar kein Bild mehr, sie sind überaus behutsam zwischen ganz schwarz und grau abgestuft. Es entsteht ein maximal flüchtiges Bild, ebenso flüchtig, wie es die Aussagen in Worstward Ho sind. Es sind Bilder, die während sie entstehen bereits wieder zerfallen.66

63 Ebd., S. 10-14. 64 Ebd. 65 Deleuze spricht von einer Frauenhand, doch in den Regieanweisungen ist ausdrücklich davon die Rede, dass es sich um die geträumten Hände des Träumers handelt. Vgl. Deleuze, »Erschöpft« (wie Anm. 49). 66 Vgl. ebd.

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In diesem letzten Stück Becketts sind Einbildungskraft und Möglichkeitssinn so durchsichtig, so enigmatisch, dass man sie nicht extrahieren und mit einer sozialen Maschine verknüpfen kann. Mit diesen künstlichen Händen kann niemand etwas anfangen, außer der Träumer, der jedoch in der Endlosschleife von Kopf-Senken und Kopf-Heben verbleibt. Becketts Methoden, die das Mögliche erschöpfen, anstatt es zu verwirklichen, sind nicht nur eine Ethik des immer schon vollen Daseins. Sie sind auch Methoden des Abtastens der möglichen Einfallstore für den Imperativ der Selbstverbesserung. Wer immer schon war, was er nicht ist, wer Greis und Kind, Vater und Mutter ist, den kann man lange auffordern, sein Leben zu ändern.

Samuel Becketts Reduktion des Welttheaters im Endspiel M ARTIN J ÖRG S CHÄFER

1. R EDUKTION :

CHRONOLOGISCH , IMMANENT

Samuel Becketts zunächst auf Französisch geschriebene und dann für die Uraufführung selbst ins Englische übersetzte Theaterstück Fin de Partie bzw. Endgame aus dem Jahre 1957 steht im Zentrum der folgenden Überlegungen. Offensichtlich und meist kaum erwähnenswert scheint es, dass Becketts Stück die traditionsgesättigte Metapher vom theatrum mundi1 insofern verkehrt, als sich auf dem Theater nicht die Welt ausgestellt findet, sondern die Welt sich auf die im Stück exponierte Theatermaterialität reduziert.2 Interessant sind jedoch die Konsequenzen dieser Operation: Schon bevor Becketts spätere Theaterarbeiten mit den Rahmungen und äußeren Konventionen der Guckkastenbühne zu experimentieren beginnen, wird in Endgame eine andere Art des Schauspielens und des Publikumsbezugs verhandelt, was in Auseinandersetzung mit dem EndgameEssay Stanley Cavells expliziert werden soll. Diese Tendenz wirkt aber auch ins Innere des Stücks: Die Reduktion des Welttheaters, die sich als Prozess auch noch an der Übersetzung der französischen in die englische Fassung rekonstruieren lässt, bringt ihrerseits textuelle und dramaturgische Dynamiken hervor, die 1

Vgl. Lynda G. Christian, Theatrum Mundi. The History of an Idea, New York:

2

Martin Harries überspringt diese eher triviale Beobachtung in dem einzigen mir

Garland, 1987. bekannten Text, der sich explizit mit Becketts Endgame und dem theatrum mundi auseinandersetzt. Vgl. Martin Harries, »Das Ende einer Trope für die Welt«, in: Björn Quiring (Hrsg.), Theatrum Mundi. Die Metapher des Welttheaters von Shakespeare bis Beckett, Berlin: August, 2012, S. 191-217, hier S. 206-211.

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weniger für die mit und an Beckett immer gerne und zurecht verhandelten großen Fragen einstehen als vielmehr für deren Reduktion auf die Auseinandersetzung mit dem Detail, auch noch dem kleinsten: Das theatrum mundi des Endgame findet seine markanteste Verkörperung in der Miniatur eines Flohzirkus. Endgame gilt berechtigterweise als ein Stück des Übergangs: Aus einem Sprech- und Texttheater, als das sich En attendant Godot problemlos charakterisieren lässt, wird nun bereits zunehmend das Skript eines (nicht zuletzt durch eigene theaterpraktische Erfahrungen geprägten) Paratexttheaters, in dem sich Bühnenraum, Requisiten, Bewegungsabläufe, Gesten und Tonlagen präzise vorgegeben finden.3 Aus dem metaphysisch-existentialistischen Thesentheater entwickelt sich ein streng strukturiertes Theater des Raums und der Objekte.4 Diesem gegenüber werden sich in späteren Stücken die Stimmen in den Theatertexten Becketts immer mehr verselbstständigen und schließlich jenseits der Bühne, manchmal auch jenseits des Publikums, ertönen.5 Parallel folgt bereits in der Uraufführung 1957 und der ersten Buchausgabe des Endgame von 1958, fast als eine Art programmatisches Nachspiel, der nur aus Bühnenanweisungen bestehende erste Teil von Act without Words, in dem mittels einer minimalistischen Choreografie ein Pantomime in den Schnürboden entschwindende Objekte aufzuhalten sucht.6 Weil die beiden ›großen‹ Theaterstücke, die Beckett Weltruhm, ein gesichertes Auskommen und den Nobelpreis bescherten, inzwischen fast als kommerzielle und gegenüber der Radikalität von Prosa, experimentelleren Theaterarbeiten und Fernsehstücken nicht weiter ernstzunehmende Fußnoten erscheinen, finden sie sich in den Gesamtauseinandersetzungen mit Becketts Projekt häufig marginalisiert. Zahlreiche Strategien der Radikalisierung, Abstrahierung, Minimalisierung oder Reduktion sind in Fin de partie bzw. Endgame ausgeprägt. Dass sich all diese Verfahren in Endgame zu einfach als schlichte Destruktion einer ehemals sinnvollen Welt lesen und damit existentialistisch oder geschichts3

Vgl. Deirdre Bair, Samuel Beckett. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1994, S. 586.

4

Vgl. Franziska Sick, »Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts«, in: dies. (Hrsg.), Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett, Bielefeld: transcript, 2011, S. 27-53, hier S. 29-42.

5

Vgl. Sarah West, Say It. The Performative Voice in the Dramatic Works of Samuel

6

Vgl. Samuel Beckett, Endgame. A Play in One Act Followed by: Act without Words.

Beckett, Amsterdam, New York: Rodopi, 2010. A Mime for One Player, translated from the Original French by the Author, London: Faber & Faber, 1963, S. 5.

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philosophisch subsumieren lassen,7 lässt viele Ansätze, denen es im Zeichen des Modernismus vordergründig um Beckett als formalistischen Experimentator mit den Bedingungen von Sinnproduktion geht,8 einen kleineren oder größeren Bogen um diesen Text machen – und sei es durch Nichtbeachtung. Angesichts der Fülle von Analysen zu den ›großen‹ Stücken und der Konsequenz von Becketts Arbeiten ab den 1960er Jahren, an denen sich typische Verfahren viel deutlicher markieren lassen, ist diese Vernachlässigung wohl nicht weiter schlimm. Somit wollen die folgenden Überlegungen sich auch an keiner Debatte über Zuordnungen und Wertungen in Becketts Gesamtprojekt beteiligen. Sehr wohl wollen sie aber eine Lektüre von Endgame vorschlagen, die das diesen Theatertext prägende Moment der Reduktion nicht als Vorstufe zu Becketts späteren Arbeiten (auch nicht an seinen in späteren Bühnenarbeiten an Endgame weiter vorgenommenen Reduktionen),9 sondern als eine interne Dynamik beschreibt – durchaus mit Elementen, an denen die späteren Arbeiten das Interesse verlieren. In diesem Sinne handelt es sich, wie von Becketts zeitgenössischer existentialistischer Deutung vorgeschlagen, beim Act without Words – der in der ersten Buchausgabe das Endspiel »beschließt« – eben nicht um dessen »letzte Deutung«, mit der das Stück »[d]ie Überbleibsel von Charakteren, Handlung und Situation […] weiterhin reduziert«. Vielmehr kommt der Reduktion in Endgame ein Eigensinn zu, der sich nicht zuletzt jener existentialistischen Auslegung verweigert, mit der Jan Kott, der von Beckett her Shakespeares King Lear interpretiert, fortfährt: »Es bleibt lediglich eine Situation, die eine universelle Parabel des menschlichen Schicksals ist, die totale Situation.«10 Diese Bemerkung von 1962 scheint 50 Jahre später gleichermaßen so zeitgebunden wie präzise. Dass es sich bei Becketts Arbeiten um »universelle Parabeln des menschlichen Schicksals« handle, bleibt eine arbiträre, von außen aufgepfropfte Behauptung. Dass es 7

Vgl. Martin Esslin, Das Theater des Absurden, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1965, S. 46-58; Theodor W. Adorno, »Versuch, das Endspiel zu verstehen«, in: ders., Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften, Bd. 11, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994, S. 281-321.

8

Siehe z.B. – ausgehend von Becketts Prosa – Alain Badiou, Beckett. Das Begehren ist

9

Deshalb orientiert sich der vorliegende Aufsatz im Folgenden an der genannten engli-

nicht totzukriegen, Zürich, Berlin: diaphanes, 2006. schen Erstveröffentlichung des Texts und nicht an Becketts eigenen Revisionen. Vgl. The Theatrical Notebooks of Samuel Beckett. Volume II: Endgame. With a Revised Text, edited with an Introduction and Notes by S.E. Gontarski, London: Faber & Faber, 1992. 10 Jan Kott, »König Lear oder das Endspiel«, in: ders., Shakespeare heute, München, Wien: Albert Langen & Georg Müller, 1965, S. 144-188, hier S. 165.

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Beckett um eine »totale Situation« gehe, trifft den Kern der Sache. Und wie der Theaterwissenschaftler Kott mit seinen Beschreibungen von Becketts und Shakespeares Dramaturgien zeigt, geht es weniger um die Situation einer conditio humana als vielmehr um die Situation auf dem Theater: Die Totalität von Endgame ist die seiner Theaterbühne und der Frage, welche spezifische Art von Totalität auf dieser produziert, ausgestellt und verhandelt wird.

2. T HEATRUM

MUNDI

Die Metapher vom theatrum mundi, von der Welt als einer von höheren oder zumindest distanzierteren Instanzen betrachteten Bühne, lässt sich bis zu den Vorsokratikern zurückverfolgen.11 In christologischen Kontexten findet sich die Welt zur Bühne der Scheinhaftigkeit der irdischen Existenz transformiert, auf der die Akteure sich unter Gottes prüfendem Blick durch Aufführung einer imitatio christi für die tatsächliche Glückseligkeit im Jenseits qualifizieren können.12 Die Metapher erlebt eine Blütezeit ausgerechnet in jenen Jahren, in denen es im europäischen Raum keine ausgeprägte Theaterkultur gibt: Sie plausibilisiert die im ständischen Leben durch Geburt vorgegebenen Rollen, die vor Gott auf der Bühne des Lebens aufgeführt werden.13 Wo die in der Frühen Neuzeit sich neu herausbildende Theaterpraxis die Rede vom theatrum mundi rezitiert, wird diese aber gleichzeitig problematisch: Zwar soll etwa bereits der Bau von Shakespeares Globe Theatre auf die soziale Welt in ihrer Gesamtheit verweisen.14 Jedoch wird mit dem Hier und Jetzt jeder Theateraufführung deutlich, dass sie erstens nicht die Ganzheit der Welt, sondern nur einen Ausschnitt vor Augen stellt. Die Welt findet auf der Bühne gar nicht in Gänze Platz; die theatrum mundi-Metapher entplausibilisiert sich.15 Zweitens findet sich der Mensch als Zuschauer an die vormalige Stelle Gottes gesetzt,16 was einerseits eine Aufwertung darstellt: Er wird zum Wissenden. (Nicht von ungefähr operieren die zeitgenössischen Naturwissenschaften ver-

11 Vgl. Björn Quiring, »Einführung«, in: ders. (Hrsg.), Theatrum Mundi (wie Anm. 2), S. 7-29, hier S. 10f. 12 Vgl. ebd., S. 11f. 13 Vgl. ebd., S. 7-9. 14 Vgl. z.B. Harries, »Das Ende einer Trope« (wie Anm. 2), S. 191-193. 15 Vgl. ebd., S. 193-196. 16 Vgl. ebd., S. 211.

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stärkt mit der theatrum mundi-Metapher.)17 Andererseits verschafft diese Aufwertung dem Menschen keine göttliche Souveränität, denn er beobachtet letztlich seinesgleichen: andere Menschen, die auch ihn beobachten und keine vorgegebenen festen sozialen Rollen mehr spielen, sondern diese je nach Situation wechseln und sich auch verstellen können. Die berühmte Klage von Shakespeares Jacques aus As you like it – »All the world’s a stage, / And all the men and women merely players«18 – bezieht sich eben nicht mehr auf eine vom göttlichen Sinn durchwaltete Welt, sondern auf eine, in der ein solcher Sinn angesichts der Vergänglichkeit der Welt fragwürdig geworden ist.19 Darüber hinaus wird etwa Shakespeares Hamlet, auch und gerade vor der sogenannten mousetrap-Szene, zu einem Stück, dessen dramatischer Fortgang von den Dynamiken gegenseitiger Verstellung und Beobachtung geprägt ist:20 Das Publikum sieht nicht das Theater der festgelegten sozialen Welt, sondern das soziale Theater einer Gesellschaft variabler, nicht auf ein Rollenfach festgelegter Schauspieler. Statt auf eine übergreifende transzendentale Ordnung zu verweisen, stellt das theatrum mundi die Kontingenz eines Lebens aus, das ›bloß‹ aus Theater besteht, ohne dass sich ein Jenseits der Bühne bestimmen ließe. Als dieses Kontingenzphänomen kehrt das theatrum mundi in der Theatertheorie und -praxis des 20. Jahrhunderts wieder.21 Fin de partie bzw. Endgame ist das Stück, in dem Beckett durchgängig mit dieser Metapher im Hintergrund operiert. Das Stück beginnt mit einer Choreografie von Fensterschauen, für die zunächst eine Trittleiter auf die Bühne geholt und aufgestellt werden muss. Da statt der späteren Berichte aus dem Jenseits der Bühnenwelt bei beiden Fensterschauen nur ein »[b]rief laugh«22 steht, verweist der Blick nicht mehr auf ein Außerhalb. Vielmehr wird das Innerhalb des Bühnenraums, samt seiner Verbindungen zur Außenwelt (eine Tür, zwei Fenster), zum Auftakt abgeschritten und vorgeführt. Als Theaterblick werden die beiden Fensterschauen nicht nur 17 Vgl. Anselm Haverkamp, »Ein knebbes Ding in einem Wort: Ungedachte Natur in postlapsaren Welten und Zeiten«, in: Quiring (Hrsg.), Theatrum Mundi (wie Anm. 2), S. 167-189. 18 William Shakespeare, »As You Like It«, in: ders., The Complete Works. Second Edition, hrsg. von John Jowett, William Montgomery, Gary Taylor, Stanley Wells, Oxford: Oxford University Press, 2005, S. 655-680, hier S. 666. 19 Vgl. Quiring, »Einführung« (wie Anm. 11), S. 14-22. 20 Vgl. Robert Weimann, »Mimesis in Hamlet«, in: Patricia Parker, Geoffrey Hartman (Hrsg.), Shakespeare and the Question of Theory, London: Methuen, 1985, S. 275291. 21 Vgl. Quiring, »Einführung« (wie Anm. 11), S. 22f. 22 Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 6.

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dadurch gekennzeichnet, dass Clov jeweils die Vorhänge aufzieht. Ebenfalls mit einem kurzen Lachen wird anschließend ein weiteres Heben von Vorhängen auf der Bühne quittiert: Clov nimmt die Laken weg, die Nells und Naggs Mülleimerbehausung sowie den im Rollstuhl sitzenden Hamm bedecken. Das Lachen ertönt für alle Mitspielenden ebenso wie für das Vorhangaufziehen und den Blick aus dem Fenster. Nicht aber für das Publikum des jeweiligen Theaterabends, das Clov abschließend anblickt – »turns toward auditorium«23 – und daher mit seinen ersten Worten adressieren wird. Anstelle der Distanz, die einer Betrachtung des Welttheaters eigen ist, inszeniert diese Anfangsparekbase eine Teilhabe des Publikums an der vorgeführten Welt. Diese Welt ist dann aber nicht die Welt überhaupt oder eine besondere, fiktionale Welt, sondern findet sich auf den konkreten Bühneraum beschränkt. Das Welttheater ist auf die Bühne reduziert: auf die Darstellenden und die mit ihnen verschränkten oder im Bühnenraum verteilten Objekte (denn dass die Mülltonnen auch Wohnzimmer sind, ist aus der Anfangssituation nicht ersichtlich). Die alte Frage nach der Gesamtheit und Überschaubarkeit der Welt wird zwar in Clovs Teichoskopien rezitiert und konterkariert werden, in denen Hamm nichts Spezielles von Clov betrachtet haben möchte, sondern »merely the whole thing«.24 Aber letztlich geht es, auch wenn Clov mit seinem Teleskop »[f]rom pole to pole«25 zu blicken behauptet, nicht um die Evozierung einer solchen ›ganzen Welt‹ außerhalb der Bühne auf der Bühne. Vielmehr betrachtet die Bühnenfigur Clov die Welt außerhalb des Bühnenraums bereits wie eine Bühne. Indem sie dann ihren Theaterblick auch auf den eigenen Bühnenraum ausweitet, wendet sie den vorherigen Blick nach Außen ins Innere zurück. Die Welt ist nicht mehr Bühne, sondern nur noch diese Bühne ist Welt, ohne dass ›wir‹, die Zuschauenden, noch die distanzierte Beobachterposition des Gottes im theatrum mundi innehätten. Endgame wird auch in diesem Sinne ein Stück Metatheater. Der klaustrophobische Raum von Endgame, der sich nicht verlassen lässt und aus dem man nur heraus auf die toten (oder zu tötenden) Überreste von Natur und Zivilisation blicken kann, evoziert die geschlossenen Interieurs des bürgerlichen Trauerspiels. Der Publikumsblick auf die Bühne geht durch die unsichtbare ›vierte Wand‹ von Hamms Wohnzimmer hindurch. Aus Clovs Küche off-stage kann dieser zusätzliche Requisiten herbeischaffen. Doch mit Clovs anfänglicher Wendung zum Publikum sind gleichzeitig auch der ›Realismus‹ und Proto-Naturalismus unterbrochen, die sich seit Diderots Konzept der vierten 23 Ebd., S. 12. 24 Ebd., S. 47. Zur Rolle des Teleskops bei Beckett siehe Haverkamp, »Ein knebbes Ding in einem Wort« (wie Anm. 17), S. 187. 25 Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 26.

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Wand im europäischen Theater Bahn schlagen und dieses lange dominieren: Der Theaterabend soll demnach aus einem Ablauf von stetig ineinander übergehenden Tableaus bestehen, die das Publikum betrachtet, als wäre es selbst nicht anwesend. So soll auf der Bühne eine in sich geschlossene Welt entstehen (die das Publikum als die mögliche eigene erkennt und so das eigene menschliche Potenzial fortbilden kann).26 Gesehen werden die Bühnenakteure möglichst im Profil. Nicht vorgesehen ist hingegen ein diese vierte Wand ignorierender Blick ins Publikum, nicht nur weil ein solcher Blick eher, wie von den Feinden des Theaters traditionell befürchtet, verführen könnte statt zu bilden, sondern weil er auch die Eigenständigkeit der Theaterwelt infrage stellt.27 Ein solcher Blick wäre nicht nur Clov, sondern auch Hamm, der darauf besteht, seinen Rollstuhl in der Bühnenmitte zu platzieren, durchgehend zuzuschreiben, könnte Hamm denn sehen. Sein blinder Blick ins Publikum reproduziert die vierte Wand: Dort wo er hinschaut, sollen die von Diderot imaginierten Darstellenden sich einbilden, dass es nichts zu sehen gibt. Gleichzeitig durchbricht Hamm die vierte Wand in der Ausrichtung des nichts sehenden Blicks auf das Publikum und durch Adressierung seiner Sprechakte dorthin. Vermittels der Positionierung des (halbblinden) Clov neben dem Rollstuhl (»beside the chair«28) werden die Dialoge zumeist an die Zuschauerschaft gerichtet. Dass Clov den auf das Publikum ausgerichteten Hamm auch nach dessen Erwachen so anstarren wird wie eingangs den noch verdeckten Rollstuhl (»Motionless by the door, his eyes fixed on Hamm, Clov.«29), ist nirgendwo gesagt und wird in zahlreichen Inszenierungen auch nicht so gehandhabt: Selbst im Kammerspielformat von Endgame ist die direkte Ansprache einer Figur durch die unmittelbar neben ihr stehende kaum bühnentauglich, und auch nicht als die Ansprache eines Sitzenden durch einen Stehenden. Clov steht oft am rechten hinteren Ende des Rollstuhls und spricht über ihn

26 Vgl. Denis Diderot, »Essais sur la peinture«, in: ders., Œuvres. Bd. 4: Esthétique – Théâtre, hrsg. von Laurent Versini, Paris: Robert Laffont, 1996, S. 467-516. Vgl. auch Franziska Sick, »Mimesis und (Selbst-)Beobachtung. Notizen zu Diderot, Beckett und Zuckerberg«, in: Friedrich Balke, Bernhard Siegert, Joseph Vogl (Hrsg.), Mimesis, Paderborn: Wilhelm Fink, 2012 (= Archiv für Mediengeschichte; 12), S. 51-63, hier S. 53-57. 27 Zum antitheatralen Moment bei Diderot vgl. Christopher J. Wild, Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist, Freiburg i.Br.: Rombach, 2003, S. 295-313. 28 Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 13. 29 Ebd., S. 11.

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hinweg.30 Und auch in einer Inszenierung, in der er mit dem Profil zum Publikum stünde, würde sein Blick doch nicht erwidert. Hamm und Clov mögen sich in so scharfen und präzisen Wortscharmützeln ergehen wie kaum ein anderes Bühnenpaar der modernen Dramatik. Aber von der Raumordnung her reden sie, laut Stücktext, nur dann aus der Entfernung miteinander, wenn Clov sich von hinten an den blind ins Publikum starrenden Hamm wendet (»turns towards Hamm«31). In vielen Dialogen reden sie mit dem bzw. vermittelt durch das Publikum. Im Zuschauerraum treffen sich ihre nicht oder nur halb sehenden Blicke. Kurz anzitiert und sogleich ausgehebelt wird das Blickregime der vierten Wand am Ende und am Anfang, bevor die Handlung des Stücks mit Clovs Vermessung des Bühnenraums überhaupt einsetzt: »Brief tableau«32 lautet die Anweisung, die der prägnanten einleitenden Beschreibung des Bühnenraums und der Position des noch auf Hamm starrenden Clovs darin folgt. Sofort anschließend wird das Publikum seinerseits seiner souveränen Zuschauerposition beraubt und mit in diesen Raum hineingezogen, den Clovs mehrmaliges kurzes Lachen als Serie von Theateraufführungen kennzeichnet. Vielleicht, weil das Spiel mit der vierten Wand im blinden Publikumsblick Hamms aus der Bühnenmitte so offensichtlich ist, wird Beckett es als mehrmaliger Regisseur seines Stücks ab 1967 stark zurücknehmen. Immer wieder lässt er das Bühnengeschehen in kurzen Tableaus einfrieren und streut den Verweis auf die vierte Wand so über den ganzen Abend hinweg ein, gerade indem er die von Diderot geforderten fließenden Übergänge verweigert.33 Obwohl Beckett auch als Regisseur auf der für die Theaterbühne unkonventionellen räumlichen Nähe Hamms und Clovs besteht,34 lässt er die zahlreichen Dialoge nun auch mit einem weiter schräg rechts oder 30 So in den meisten Aufführungen von Becketts Stück. Katie Mitchell z.B. lässt in ihrer Regiearbeit das Endspiel weder als Endzeitbeschwörung noch als Farce spielen, sondern als zukunftsoffenes Ritual. Siehe ihre Inszenierung von Endgame in Donmar Warehouse, London, Premiere am 11.04.1996. 31 Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 25. 32 Ebd., S. 11. 33 »Immer wieder läßt [Beckett seine beiden Protagonisten] dann für Sekunden zum lebenden Bild erstarren […].« Michael Haerdter, »Über die Proben für die Berliner Aufführung 1967«, in: Samuel Beckett inszeniert das »Endspiel«. Fotografiert von Rosemarie Clausen. Mit dem Text des Stückes in der Übersetzung von Elmar Tophoven und einem Bericht von Michael Haerdter über die Proben für die Berliner Aufführung 1967, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969, S. 97-113, hier S. 102. Vgl. Stanley E. Gontarski, »Introduction. ›The No against the Nothingness‹«, in: The Theatrical Notebooks. Volume II (wie Anm. 9), S. xiii-xxii, hier S. xx. 34 Vgl. Haerdter, »Über die Proben« (wie Anm. 33), S. 102.

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links hinten im Raum befindlichen Clov spielen und betont so die Eigengesetzlichkeit ihres Verhältnisses, anstatt es über den Blick ins Publikum zu vermitteln.35 Seine Darstellenden weist Beckett an, bei ihrem Spiel die – die Grenze der Bühne zum Auditorium markierende – Rampenbeleuchtung sehr wohl als eine vierte Wand zu nehmen und das Publikum völlig zu ignorieren.36 Gestrichen finden sich in Becketts Inszenierungen die ursprünglich im Text zu findenden Bezüge auf das Publikum, so die Szene, in der Clov sein Teleskop nicht über die Mauer, sondern in den Zuschauerraum richtet: »I see … a multitude … in transports … of joy.«37 (Der nunmehr gestrichene Witz besteht darin, dass dieser Bruch innerhalb der Bühnenrealität als der Witz eines Blicks auf die unsichtbare Wand gekennzeichnet wird, über den dann niemand auf der Bühne lachen mag). Aber auch mit den zurückgenommenen Brüchen der vierten Wand bleibt die Bühne jenseits ihres Theaterdaseins gänzlich ohne Welthaltigkeit und auf sich selbst bezogen. Bei dem nun folgenden Endgame handelt es sich – die meisten Lektüren weisen darauf hin – um eine Theateraufführung:38 »Me (he yawns) to play«39 sind Hamms einleitende, wenn auch gelangweilte oder schlicht noch müden Worte, nach denen auch er einen aufgezogenen Vorhang, das von seinem Kopf entfernte Taschentuch,40 betrachtet. Hamms einzige Bewegung ist die ›Reise‹ entlang der Bühnenränder, an die er sich von Clov schieben lässt: »Right round the world! […] Hug the walls, then back to the center again.« Diese Weltreise misst die Außenwand durch Tasten und Hören ab: »Do you hear? Hollow bricks?«41 Die Begrenzung der Welt ist Bühnenattrappe. 35 Clov kommt im Eingangsdialog nicht mehr direkt »beside the chair« zu stehen, sondern auf einem weiter von diesem entfernt markierten Punkt: »[HAMM] whistles. Enter CLOV immediately. He halts at A.« The Theatrical Notebooks. Volume II (wie Anm. 9), S. 4. 36 »Man stutzt, als Beckett […] mit einem Prinzip des naturalistischen Theaters erläutert – ›das Stück ist so zu spielen, als gäbe es eine vierte Wand anstelle der Rampe‹.« Haerdter, »Über die Proben« (wie Anm. 33), S. 97. 37 Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 25. Vgl. The Theatrical Notebooks. Volume II (wie Anm. 9), S. 17 u. S. 56. 38 Vgl. Shimon Levy, Samuel Beckett’s Self-Referential Drama. The Three ›I‹s, Basingstoke: Macmillan, 1990; Gabriele Schwab: »On the Dialectic of Closing and Opening in Endgame«, in: Steven Connor (Hrsg.), Waiting for Godot and Endgame. Contemporary Critical Essays, Basingstoke: Macmillan, 1992, S. 87-99. 39 Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 12. 40 »Jemand riskiert die Frage: Stellt es einen Vorhang dar? Und erntet von Beckett ein unwirsches ›ja‹.« Haerdter, »Über die Proben« (wie Anm. 33), S. 101. 41 Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 23.

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Der Name Hamms gemahnt, wie häufig bemerkt wurde, nicht zuletzt an den ›ham actor‹ als ›Schmierenkomödiant‹ und derjenige Clovs an den Clown in der Manege oder den alten englischen Music Halls.42 »Why this farce, day after day?«, klagt Clov. »Routine«43, antwortet Hamm und meint damit sicher nicht zuletzt das auf der Bühne von Endgame aufgeführte Showprogramm. Hamm antwortet auf Clovs Frage »What is there to keep me here?« mit der Metatatsache, dass die beiden ja in einem Gespräch begriffen seien: »The dialogue«44 ist auch der vom Theaterstück vorgegebene Text, der Clovs Anwesenheit auf der Bühne bestimmt. Das Spiel, das immer zuerst Schauspiel ist, endet auch nicht wie von Clov mit der Bitte »Let’s stop playing!« gewünscht, stattdessen wird die Schauspielerei im Endspiel des Endgame noch einmal verstärkt thematisiert: Ob er noch nie ein »aside« im Sinne einer ans Publikum gerichteten Nebenbemerkung gehört habe, fährt Hamm Clov an. Am Ende ist Hamm beim »warming up for my last soliloquy«45 zu bewundern. Die englische Selbstübersetzung Becketts wird hier im Vergleich mit der französischen Fassung noch reduzierter und prägnanter. Die anschließende Störung eines durch Clovs erneute Mauerschau erblickten Jungen (eines »potential procreator«46, den es schnell zu beseitigen gilt) wird vom Konkurrenz befürchtenden Hauptdarsteller Hamm mit »Not an underplot, I trust«47 kommentiert. In Fin de partie deutete sich ein ausschweifender ›underplot‹ mit dem biblischen Verweis auf »Moïse mourant«48, den sterbenden Moses, noch an. In der englischen Fassung ist dieser Verweis zugunsten einer weiteren Verstärkung der selbstreferenziellen Schleife zu Bühnenrealität und Schauspielerei gestrichen.49 »This is what we call making an exit«50 lautet Clovs vorletzter Einsatz. Ob er seinen Herrn Hamm verlässt oder nicht, bleibt einerseits offen (und ist, weil nicht zum gespielten Skript gehörig, für dieses Metatheater eigentlich egal). Andererseits behält der für die Reise angezogene Clov nun wieder seine Augen

42 Vgl. Esslin, Theater des Absurden (wie Anm. 7), S. 46. 43 Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 26. 44 Ebd., S. 39. 45 Ebd., S. 49. 46 Ebd., S. 50. 47 Ebd., S. 49. 48 Ders., Théâtre I. En attendant Godot. Fin de partie. Acte sans parole I. Acte sans parole II, Paris: Les Éditions de Minuit, 1971, S. 210. 49 Auf die Radikalisierungen in der englischen Selbstübersetzung und nicht zuletzt an dieser Stelle verweist Esslin, Theater des Absurden (wie Anm. 7), S. 46-58. 50 Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 51.

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»fixed on Hamm, till the end«,51 blickt also auf keinen Fall mehr durch die vierte Wand hindurch ins Publikum. Nachdem auch Hamm sich wieder sein rituell auseinandergefaltetes Taschentuch wie einen fallenden Vorhang über das Gesicht gelegt hat, erstarrt die nun wieder mit der Tradition der Guckkastenbühne und ihrer vierten Wand kompatible Szene erneut zum »[b]rief tableau«52, mit dem das Stück tatsächlich endet. Allerdings wird auch noch dieses Ende im Entfalten des Taschentuchs bzw. Fallen des Vorhangs selbstbezüglich proklamiert: »Since that’s the way we’re playing it […] [he unfolds] … and speak no more about it … [he finishes unfolding] … speak no more.«53 Diese Aufforderung an sich und vielleicht auch andere, nicht mehr zu sprechen, folgt einer eigentümlichen Logik. Das Spiel ist nicht nur als das ›Endspiel‹ im Schach zwischen Hamm und Clov zu fassen, sondern auch als ›play‹ im Sinne eines Theaterstücks. Weil der Spielablauf vorgegeben scheint (sei es durch die Regeln des Schachspiels oder durch das Skript des Dramas) und nicht mehr besprochen wird, soll allerdings nun das Sprechen selbst im ›speak no more‹ enden. Rückwirkend scheint das vorherige Spiel tatsächlich nur daraus bestanden zu haben, das Spielen selbst vorzuführen und zu besprechen – und nicht nur repräsentierend zu verdoppeln. In diesem Sinne darf Hamm, der eine Chefspieler, auch seiner eigenen Anweisung – zu schweigen – widersprechen oder diese Beendigung zumindest hinauszögern: Wie am Anfang des Einakters redet er auch an dessen Ende sein vorhangartiges Taschentuch an, ehe er diesen ›Vorhang‹ tatsächlich fallen lässt. »You … remain. / Pause. He covers his face with handkerchief […]. Brief tableau.«54 Statt der Erinnerung an die von diesem Theaterabend evozierte Welt, bleibt die Theatersituation selbst. Mit der erneuten Entfaltung des Taschentuchs findet sich das theatrum mundi endgültig in sich selbst zusammengefaltet – aber gleichzeitig für die potenziell endlosen Wiederholungen der nächsten Vorstellungen aufbewahrt.

3. P UBLIKUM

WERDEN

Hinsichtlich der Tragweite von Becketts Reduktion des Welttheaters in Endgame sind die eigenwilligen Thesen des Sprach- und Kulturphilosophen Stanley Cavell relevant, die sich in seiner ersten Essaysammlung Must We Mean What We Say?

51 Ebd., S. 52. 52 Ebd., S. 53. 53 Ebd., S. 52. 54 Ebd., S. 53.

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von 1969 in einem Text über Becketts Stück finden. »Ending the Waiting Game. A Reading of Beckett’s Endgame« stellt zu einem Zeitpunkt, da geschichtsphilosophische und existentialistische Auslegungen des Textes en vogue sind, die These auf, das Drama sei nicht symbolisch oder metaphorisch zu lesen, sondern beim Wort zu nehmen: als ausgestellte Dynamik einer ganz normalen Zweierbeziehung, in der es allerdings darum gehe, die Buchstäblichkeit der eine solche Beziehung ausmachenden Sprechhandlungen auszutesten.55 Cavell hält sich dann nur bedingt an die eigenen Vorgaben und bildet zahlreiche Assoziationsketten zu den in Endgame aufgerufenen Referenzen und Bedeutungsfeldern aus Theologie und Literatur, vor allem zur Bibel und zu Shakespeare. Ganz wie Existentialismus und Geschichtsphilosophie nimmt Cavell die Sprechhandlungen der Figuren häufig als Verhandlung philosophischer Theoreme, nun allerdings solcher der Ordinary Language Philosophy nach Ludwig Wittgenstein und John L. Austin. Im Zuge dessen entwickelt Cavell anhand von Endgame ein theatertheoretisches Argument, das die Problematik des Welttheaters betrifft. Zentral für Cavells Lektüre ist eine Passage, in der die theatrum mundiMetapher anklingt. »Anguished« fragt Hamm Clov: »What’s happening?« Die so lakonische wie leere Antwort lautet: »Something’s taking its course.«56 Wie der Titel von Cavells Essay ankündigt, ist für ihn diese Antwort aber keineswegs ein Allgemeinplatz: Wo in En attendant Godot noch durchgehend gewartet wurde, passiert in Endgame nunmehr ›etwas‹. Auch wenn dieses ›etwas‹ nicht benannt wird, liegt darin ein Unterschied ums Ganze. Denn dieses ›etwas‹ regist-

55 Die Rezeption des Cavell-Textes ist im Vergleich zu französisch- und deutschsprachigen philosophischen Beckett-Lektüren von erstaunlich geringem Umfang und bezieht sich meist auf Cavells einleitende Thesen zum Verhältnis Becketts zur sogenannten Ordinary Language Philosophy. Vgl. David Rudrum, »Alltägliche Tragödien. Cavell, Beckett und die Bedeutung der Bedeutungslogik«, in: Kathrin Thiele, Katrin Trüstedt (Hrsg.), Happy Days. Lebenswissen nach Cavell, München: Wilhelm Fink, 2009, S. 141-155; Alexandra Heimes, »A Life Less Ordinary. Beckett – Cavell – Wittgenstein«, in: ebd., S. 156-161. Die Aufnahme des sprachphilosophischen Impulses findet sich in der Herausarbeitung der beiden gegenläufigen Sprachspiele Hamms und Clovs aufgenommen bei Christoph Menke, »Der Stand des Streits. Literatur und Gesellschaft in Samuel Becketts Endspiel«, in: Hans-Dieter König (Hrsg.), Neue Versuche, Becketts »Endspiel« zu verstehen. Sozialwissenschaftliches Interpretieren nach Adorno, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996, S. 63-92. 56 Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 26.

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rieren die Figuren. Statt zu warten, sind sie ihm ausgesetzt.57 Während in En attendant Godot noch Abwesenheit von Sinn proklamiert wurde, ermöglicht die Affirmation, dass ›etwas geschieht‹, eine plötzliche, scheinbar metaphysische Frage Hamms, auch wenn sie von Clov mit Lachen statt mit einer Antwort quittiert wird: »We’re not beginning to … to … mean something?« Die Frage nach der Sinnhaftigkeit findet sich hier an den distanzierten Blick von außen geknüpft, der dem des göttlichen im theatrum mundi entspricht und von Hamm eine eigene theatrale Rollenstimme erhält: »Imagine if a rational being came back to earth, wouldn’t he be liable to get ideas into his head if he observed us long enough. Voice of rational being: Ah, good, now I see what it is, yes, now I understand what they’re at! […] Normal voice: […] To think perhaps it won’t all have been for nothing!« Letztere Passage ist »[v]ehemently«58 geäußert und damit von der Tonlage her als ein Höhepunkt des gesamten Stücks gekennzeichnet. Wie die meisten Lektüren ignoriert auch die Cavells weitgehend, dass Hamms Erregung sofort durch Clovs Panik konterkariert wird, er habe irgendwo in seinem Schritt einen Floh.59 Konsequent nimmt Cavell jedoch die doppelte Verneinung des ›not for nothing‹ an dieser Stelle nicht etwa als Hoffnung, sondern eben als eine Panikattacke Hamms: »Solitude, emptiness, nothingness, meaninglessness, silence – these are not the givens of Beckett’s characters but their goal, their new heroic undertaking.«60 Die reduktive Dynamik des laut Cavell um seine eigenen Sprechhandlungen und um seine eigenen theatralen Gesten kreisenden Stücks liefe dann tatsächlich eher darauf hinaus ›for nothing‹ zu sein – zumindest auf keine übergeordnete Instanz bezogen –, statt auf ›meaning‹ zu hoffen. Entsprechend wird von Hamms Aussage kein Sinn und keine Bedeutung erwartet, die dadurch autorisiert würden, dass sie ›for something‹ einstehen könnten. Folgerichtig steht und fällt diese Passage mit dem Status des imaginierten Zuschauers (›intelligent being‹) an Gottes Stelle, der Hamm und Clov in ihrem kleinen theatrum mundi zusehen und sie ›verstehen‹ könnte. Das Problem fasst Cavell sprachtheoretisch als ein strukturelles der Zeugenschaft, denn sobald ein Zeuge anwesend ist, verleiht seine Interpretation dem Geschehen Bedeutung, selbst wenn er das Geschehen als ›Unsinn‹ abtut: »[A] witness for actions whose entire point is that they have no point […] will, ineluctantly, 57 Vgl. Stanley Cavell, »Ending the Waiting Game. A Reading of Beckett’s Endgame«, in: ders., Must We Mean What We Say? A Book of Essays. Updated Edition, Cambridge: Cambridge University Press, 2002, S. 115-162, hier S. 158. 58 Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 27. 59 Vgl. Sick, »Raumspiel und Raumregie« (wie Anm. 4), S. 27-29. Vgl. zu dieser Szene Abschnitt 4. 60 Cavell, »Ending the Waiting Game« (wie Anm. 57), S. 156.

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give them a point.«61 Ein Publikum produziert Sinn – welcher Art auch immer; die Reduktionsbemühungen auf der Bühne sind immer auch ›for nothing‹: vergebens, weil sie doch stets ›something‹ hervorbringen. Von Hamms kleiner theatrum mundi-Fabel her schließt Cavells philosophischer Einsatz implizit auf die Problematik des beim Wort genommenen Texts: Mit dem Auftauchen des ›intelligent being‹ als Beobachter wäre ›meaning‹ vorprogrammiert, denn die Aufführung der Handlung fände ja ›not for nothing‹, sondern für einen Zuschauer statt. Das Ziel des Endgame kann dann nicht mehr nur in der möglichst vollständigen Reduktion von Bedeutungen und Gesten bestehen, sondern muss letztlich auch das Verhältnis zu den Zuschauenden betreffen. Wenn die Zeugenschaft des Publikums gleichbedeutend ist mit Sinnproduktion, dann darf die Reduktion vor der Position des göttlichen Beobachters im Welttheater nicht halt machen. So lassen sich zumindest Cavells leicht enigmatische und durchaus existentialistisch-theologisch anmutende Schlussfolgerungen einordnen: »The danger remains in heaven. The audience of the play is God, […] he owes it to us […] to depart forever, to witness nothing more.«62 Die Reduktion des theatrum mundi soll die Zuschauerposition, die für den göttlichen Blick einsteht, letztlich entleeren: Der Theatertext, der sich fast vollständig als Reflexion auf die Bühnensituation vor Publikum lesen lässt, zielte – so scheint es zunächst – letztlich darauf, sein Publikum loszuwerden. Cavells Schlussfolgerung widersteht dem an dieser Stelle so konsequent anmutenden Argument, beim Endgame handle es sich um die Aufführung eines Texts, der aus den beständigen Ausbruchsversuchen aus der in ihm ausgestellten Theatersituation seine Funken schlage und seine Aporie produktiv mache. Vielmehr lässt Becketts Endgame sich nicht auf den performativen Widerspruch einer im Theater aufgeführten Absage an die Theatersituation reduzieren. Stattdessen verlässt der kurze Schlussteil von »Ending the Waiting Game« den Bezugsrahmen der Ordinary Language Philosophy und verortet das Stück in den Theateravantgarden des 20. Jahrhunderts und deren Bemühungen um einen veränderten Publikumsbezug. Dieser muss nicht in einer Vertreibung des Publikums aus dem Theater bestehen, sondern soll in zahlreichen Konzepten in einer Emanzipation der Zuschauenden aus ihrer ungesehenen, passiven Rolle bestehen.63 61 Ebd., S. 153f. 62 Ebd., S. 154. 63 Seit den 2000er Jahren wird diese Debatte in der Publikumsforschung teils historisiert, teils neu aufgelegt. Für eine pointierte Zusammenfassung vgl. Nikolaus MüllerSchöll, »Die schwarze Bestie. Neues zur Zuschauerforschung«, in: Theater heute 3 (2013), S. 30-33. Für eine aktuelle Neuauflage dieses Arguments vgl. Jacques Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen, 2009.

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In diesem Sinne fasst auch Cavell die eigene Rede vom Loswerden des Publikums: »[G]etting rid of the audience is not necessarily a matter of emptying the theater, but of removing the concept and status of audience.« Als Arbeitsdefinition für das Theater der Moderne nimmt Cavell die Abkehr von Diderots Guckkastenbühne an – im Sinne von »the various ways in which modern dramatists have denied the [fourth] wall«.64 Von diesem Allgemeinplatz geht Cavell aber nicht wie die meisten theaterwissenschaftlichen Darstellungen auf die Endgame nachfolgenden experimentelleren Arbeiten Becketts über, die sich nicht zuletzt im Verhältnis zu den neuen theatralen Formen der in den 1960er Jahren entstehenden Performance Art und ihrem veränderten Publikumsbezug betrachten lassen.65 Sondern Cavell organisiert auch seine theatertheoretische Pointe von den Sprechhandlungen dieses Stücks her. Sein Argument ist so verblüffend wie bestechend simpel: Im Vergleich etwa zu Bertold Brecht, bei dem die Darstellenden sich distanziert zu ihren Rollen verhalten und dem Publikum über diese Distanz einen Mehrwert an Wissen mitteilen sollen, gibt es im Endgame keine Figuren mehr jenseits der Summe ihrer Sprechhandlungen und auch nichts, was vermittelt werden könnte. Die Aussagen (und, so wäre hinzuzufügen, die Gesten und Bewegungen) stehen für sich und nicht für die Suggestion einer sie überschreitenden fiktionalen Welt.66 Das Frage- und Antwortspiel ›What’s happening?‹ / ›Something’s taking its course.‹ wird zur präzisen Selbstbeschreibung der Lage der auf der Bühne vorgeführten Figuren: »Something is happening, something is happening to the actors (I mean the characters).«67 Cavells Formulierung spielt hier auf die oben beschriebene Selbstbezüglichkeit des Stücks an, dessen vier Rollen ihrerseits Schauspieler (und eine Schauspielerin) spielen. Allerdings hatte Cavells Text bis hierhin diese Dimension gar nicht weiter berücksichtigt. Und im Folgenden wird seine Argumentation die Schauspielerei der Darstellenden und die Schauspielerei der Figuren von Endgame schlicht gleichsetzen. Das implizit mitlaufende Argument lautet: Wenn die Schauspielerei von Figuren, welche in erster Linie Schauspielende spielen, in einem Stück einer bestimmten Erfahrung mit dieser Schauspielerei unterworfen wird, dann muss dies auch die Schauspielerei der Schauspielenden betreffen. Wenn ›Something is happening to the actors‹ zur entscheidenden Maßgabe von Endgame wird, dann, 64 Cavell, »Ending the Waiting Game« (wie Anm. 57), S. 157. 65 Vgl. West, Say It (wie Anm. 5), S. 173-241; Sick, »Raumspiel und Raumregie« (wie Anm. 4), S. 43-53. 66 Für einen Ansatz, der im Gegenzug den Text rezeptionsästhetisch als immer wieder scheiternden Verstehensversuch bestimmt, vgl. Wolfgang Iser, Die Artistik des Mißlingens. Ersticktes Lachen im Theater Becketts, Heidelberg: Carl Winter, 1979. 67 Cavell, »Ending the Waiting Game« (wie Anm. 57), S. 158.

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so die simple Schlussfolgerung Cavells, kann hier nicht mehr von Schauspielerei die Rede sein. Er schlägt vor, besser von »happening (vs. acting)«68 zu sprechen, von Geschehnis statt von Schauspielerei (und, für einen Austin-Schüler besonders markant, von Sprechhandeln statt Handeln).69 Die Reduktion und Verkehrung der (aktivischen) Schauspielerei zu einem (passivischen) Geschehnis hat Konsequenzen für den Publikumsbezug. Bei Brecht gilt noch, so referiert Cavell, die Konzeption des epischen Theaters bzw. der Lehrstücke: »[T]heater is to defeat theater.«70 Mittels Verfremdung und Distanzierung sollen die überkommenen Konventionen des Theaters gesprengt und revolutioniert, sollen die passiven Zuschauenden in Brechts Theater zu aktivischen Beteiligten gemacht werden. Andersherum im Endgame, wo sowohl das traditionelle Publikum als auch die Darstellenden passiv werden: Die Schauspieler spielenden Figuren folgen ihrer (für Cavell sprachlichen) Existenz und verheddern sich, gerade wo sie zu handeln bzw. zu schauspielern behaupten (›to act‹), in Bedeutungen, die ihnen dabei zustoßen und den von ihnen intendierten Sprechakten immer wieder zuwiderlaufen. Solch ein ›Erleben‹ parallelisiert im passiven Register die gespielten Schauspielenden mit dem Publikum. Dieses wohnt als Zeuge dem Bühnengeschehen so bei, wie die schauspielenden Figuren das Geschehen bezeugen: ›Something is taking its course.‹ Das Endgame wird laut Cavell sein traditionelles Theaterpublikum vor der vierten Wand der Guckkastenbühne dadurch los, dass die Bühnenakteure ebenfalls zu einem Publikum werden: zu Zeugen des ihnen zustoßenden Geschehens.71 Das Geschehnis, welches das Publikum im Zuschauerraum bezeugt, betrifft es zwar nicht direkt wie die Bühnenfiguren. Aus dieser Zuschauerpassivität will Cavell aber kein Identifikationsangebot und keine Möglichkeitserfahrung im Sinne Diderots ableiten, sondern nur noch eine von der Theatersituation vorgegebene transzendentale Bedingung der Trennung: »That what is now happe68 Ebd., S. 159. 69 Werner Hamacher hat ein ähnliches Anliegen wie Cavell, wenn er in Bezug auf die Sprechakttheorie vorschlägt, statt Sprechhandeln oder Sprechakt das Wort »Sprechgeschehnis[]« zu verwenden. Siehe Werner Hamacher, »Arbeit Durcharbeiten«, in: Dirk Baecker (Hrsg.), Archäologie der Arbeit, Berlin: Kadmos, 2002, S. 155-200, hier S. 185. Damit sollen Vorannahmen über die Steuerungsmöglichkeiten und intentionale Dimensionen solchen Handelns vermieden werden. 70 Cavell, »Ending the Waiting Game« (wie Anm. 57), S. 160. 71 Die Formulierung orientiert sich an den theaterpraktischen Versuchen der »geheimagentur«, ein Publikumskonzept der Teilhabe mit dem Begriff des Klein- bzw. Minoritär-Werdens bei Deleuze und Guattari zu pointieren. Vgl. geheimagentur, »Publikum werden«, in: Well Connected. Beiträge zum Kuratorischen 2 (2013), S. 50-52.

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ning to them is not now happening to us is our only difference from them«;72 wir sind bezeugendes Publikum, wie wir auch sonst im Leben manchmal bezeugendes Publikum sind – und somit konfrontiert mit »the deepest, the only unbreachable difference there is between two people: that they are two. The only difference, in the end, that counts.«73 Das in Endgame verhandelte Problem liegt dann nicht in der vierten Wand als einer spezifischen Kulturtechnik des Theaters, sondern in einer Theatralität des Miteinanders als solchem: »Theater becomes the brute metaphysical fact of separateness; damnation lies not in a particular form of theater, but in theatricality as such.«74 Ich, der Zuschauer, sehe mich nicht in den anderen auf der Bühne. Ich sehe andere, denen anderes passiert als mir und die durch diese »passion«75 von mir getrennt bleiben. Die Distanz der Beobachterposition im theatrum mundi ist nicht abgeschafft; die Grenze zwischen Publikum und Bühne ist nicht – wie in so vielen Entwürfen des modernen Theaters – niedergerissen. Ich bin nicht Teil der Aufführung eines heiligen oder doch zumindest unmittelbaren Geschehens, wie dies seit Nietzsches Geburt der Tragödie so viele theaterpraktische und theatertheoretische Entwürfe fasziniert hat.76 Das oben beschriebene Spiel mit der vierten Wand in Endgame wäre mit der Lesart Cavells auch ein Spiel damit, dass ihre Grenze unüberwindbar bleibt, ohne dass die Distanz der Zuschauerposition dem Publikum noch irgendeines der göttlichen theatrum mundi-Privilegien überließe. Welthaltig bleibt dieses Theater bloß, indem es mit der Distanz die Bedingung einer gemeinsamen Welt markiert: »[A]ny relationship of absorbing importance will form a world«, wie es am Anfang von Cavells Essay heißt. Hier ist noch die »ordinary neurotic relationship«77 zwischen Hamm und Clov gemeint, zum Ende des Essays aber auch zunehmend dasjenige, das sich aus der Relation zwischen Bühne und Publikum ergibt.

72 Cavell, »Ending the Waiting Game« (wie Anm. 57), S. 158f. 73 Ebd., S. 159. 74 Ebd., S. 160. 75 Ebd., S. 158. In der Rede von der ›Passion‹ ergibt sich eine der so zahlreichen, erstaunlichen Parallelen zwischen den Projekten Cavells und den seit den 1980er Jahren im Zeichen einer erneuten Lévinas-Lektüre stehenden Derrida-Texten. Vgl. z.B. Jacques Derrida, Schibboleth. Für Paul Celan, Wien: Passagen, 1986, S. 103. 76 Vgl. Friedrich Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie«, in: ders., Kritische Studienausgabe. Bd. 1, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: dtv, 1988, S. 9-156, hier S. 52-57. Die einschlägige Passage findet sich auch zitiert in Cavell, »Ending the Waiting Game« (wie Anm. 57), S. 157. 77 Ebd., S. 118.

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Spätestens wenn der Beckett-Essay das gegenüber der Schauspielerei und dem Handeln privilegierte Geschehnis zu einem »effect of theater generally«78 erklärt und Beispiele aus Shakespeare- und Tschechow-Inszenierungen der Theaterpraxis der 1960er Jahre anführt,79 wird deutlich, dass Cavell hier nicht nur ein konkretes ethisches Problem verhandelt, sondern dass er sich von einer bestimmten Schauspielpraxis und -technik80 einer anderen, wohl reduzierten oder weniger aktiven Schauspielerei für dieses Problem Heilung erhofft – oder zumindest Anerkennung des privilegierten Status des Geschehnisses gegenüber der Schauspielerei. Die Rede vom »brute metaphysical fact« der Theatralität deutet bereits an, dass dieses Problem einer ›Metaphysik‹ entstammt, deren durch Wolkigkeiten hervorgerufenen Missverständnisse und Missstände aufzuklären und verschwinden zu lassen, die Ordinary Language Philosophy, unter deren Banner Cavell sich verortet, angetreten ist. Sein den Sammelband beschließender King-Lear-Essay spricht mit dem der theaterfeindlichen kulturtheoretischen Tradition entnommenen Vokabular seines Schülers Michael Fried81 78 Ebd., S. 159. 79 Markanterweise erscheint für Cavell Paul Scofields Darstellung des König Lear in Peter Brooks Inszenierung von 1962 als Inbegriff eines acting als happening. Diese Produktion ist nun ihrerseits von Jan Kotts oben erwähnter Interpretation des Shakespeare-Stücks im Zeichen einer existentialistischen Lesart von Becketts Endgame beeinflusst, die derjenigen Cavells in vielerlei Hinsicht völlig entgegensteht. Statt aber den Schluss zu ziehen, er habe Scofield hier in der Tat Endgame spielen sehen (und eventuell nach Beziehungen des eigenen Ansatzes zu Kotts theatralitätstheoretischen Pointen zu suchen, die nicht auf den existenzialistischen Grundton reduzierbar sind), setzt Cavell sich in einer ausführlichen Fußnote von Kotts Einsatz ab – wenn auch nicht immer klar. Vgl. Cavell, »Ending the Waiting Game« (wie Anm. 57), S. 159f.; Leanore Lieblein, »Jan Kott, Peter Brook, and King Lear«, in: Journal of Dramatic Theory and Criticism 1:2 (1987), S. 39-49. 80 Cavell sieht eine gegen sich selbst gewendete, konsequente Übersteigerung des »Method acting« nach Konstantin S. Stanislawski am Werk: »Scofield’s performance […] shares with other great performances the immediacy, conviction, absorption of actor into character, of technique into expression, that we know how to expect, if rarely expect. But in Scofield the process occurs at a further stage: […] the style of delivery is itself one of occuring: the words […] are what he cannot help saying, the result not of expression but of failed suppression. Whether such a style can function as well in plays which are not themselves about madness and radical dissolution, is a further question.« Cavell, »Ending the Waiting Game« (wie Anm. 57), S. 159. 81 Der entsprechende Essay Frieds über Minimal Art, »Art and Objecthood« (1967), liefert mit der zu bekämpfenden »Theatricality« sowie der zu wünschenden »Absorp-

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Klartext, und das Argument lässt sich durch Cavells weitere Schriften verfolgen: Die europäischen und nordamerikanischen Kulturen leiden spätestens seit dem Aufkommen des philosophischen Skeptizismus, vielleicht auch bereits seit dem Aufkommen des neuzeitlichen Theaters am Problem der Theatralität als dem einer sich nach außen präsentierenden Verschanzung in der eigenen, sich von der Welt abkapselnden Subjektivität.82 Dieses Problem gelte es zu überwinden; die moderne Kunst, wie z.B. die Becketts, sucht nach neuen Wegen des verlorenen Zugangs zur gewöhnlichen Welt. So gesehen markiert Endgame für Cavell weniger eine theatrale Bedingtheit des getrennten Miteinanders als vielmehr die radikale Konsequenz der theatralen Kultur, hinter der nach der Enthüllung ihres katastrophischen Kerns vielleicht Neues (und Besseres) entstehen könne.83 Aber vielleicht stößt auch Cavell die Bedeutung seiner Worte teilweise eher zu, als dass er sie vollends kontrollierte. Der Beckett-Essay kann auch gänzlich ohne die an den Gestus von Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger gemahnende Kulturkritik an einer fetischisierenden Subjekt-ObjektTrennung und ihrem Blickregime gelesen werden. Dass das Ich und die anderen, das Publikum und die Darstellenden, getrennt sind, bleibt auch in Cavells zukünftiger Welt Ausgangspunkt für jedes in seinem Sinne nichttheatrale Welttion« in die »presentness« von Kunst das Vokabular, mit dem auch Cavell arbeitet, dessen Verwendung durch Fried er aber abwandeln wird. Nicht zu unterschätzen ist wohl auch der Einfluss des Theaterhistorikers Jonas Barish, eines Kollegen Cavells in Berkeley und seines Zeichens Experte für die europäische Tradition der Theaterfeindschaft. Vgl. Michael Fried, »Kunst und Objekthaftigkeit«, in: Gregor Stemmrich (Hrsg.), Minimal Art. Eine kritische Perspektive, Dresden, Basel: Verlag der Kunst, 1995, S. 334-374; Jonas Barish, The Antitheatrical Prejudice, Berkeley, CA, London: University of California Press, 1981. 82 Vgl. Stanley Cavell, »The Avoidance of Love: A Reading of King Lear«, in: ders., Disowning Knowledge in Seven Plays of Shakespeare. Updated Edition, Cambridge: Cambridge University Press, 2003, S. 39-123, hier S. 97-123. 83 Vgl. ebd., S. 123; ders., »Ending the Waiting Game« (wie Anm. 57), S. 156. Zur nötigen Kritik an Cavells grundsätzlicher Theaterfeindlichkeit siehe Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 25-40. Sinnvollerweise liest Rebentisch den Beckett-Essay ausgehend vom Lear-Aufsatz und der dort weiter gefassten Auseinandersetzung mit Theatralität allgemein. Dadurch gehen aber die spezifischen Pointen des Beckett-Aufsatzes bezüglich des Publikum-Werdens verloren. Auch die These, Cavell privilegiere auf traditionelle Weise das Drama gegenüber dem Theater, lässt sich für seine Lektüre des Endgame wohl nicht halten – auch und gerade da, wo Cavell seine Überlegungen vom Prinzip der Partitur in der modernen Musik her aufzieht.

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verhältnis. Diese Trennung, ob man sie nun theatral (oder gar »brute metaphysical fact of theatricality«) nennt oder nicht, bleibt damit transzendentale Bedingung für ein Weltverhältnis – ob man dieses nun mit der Theatermetapher der vollen bzw. reduzierten Welt unterfüttert oder nicht. Ein anderer Publikumsbezug und eine andere Schauspielerei sind dann im Unterschied zu dem, was Cavell am Ende des Essays und in anderen Texten immer wieder suggeriert, keine normativen oder gar revolutionären Vorschriften für eine BeckettAufführung. Aber sie markieren Bedingungen für das von Becketts Skript Vorgegebene84 und bieten den traditionellen Techniken einen Orientierungsrahmen, an dem sie sich reiben können und vielleicht, etwa wo die Aufführung ganz im Rahmen der traditionellen Guckkastenbühne stattfindet, brechen müssen.85

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Als Bedingung für das in Endgame aufgeführte Theater äußert sich die Trennung von Darstellenden und bezeugendem Publikum weniger als eine der Sprache, um die es Cavell vorrangig geht, sondern vielmehr als eine jenes Raums, auf den Cavell in seiner Theatralitätskritik immer wieder explizit oder implizit verweist: Ihm geht es um den Zwischenraum zwischen den Bühnenfiguren sowie zwischen Bühne und Zuschauerraum, der sowohl eine Trennung als auch eine Verbindung herstellt. Im Gegensatz zu dem philosophischen Impuls vieler Endgame-Lektüren und letztlich auch der Lektüre Cavells weist Franziska Sick darauf hin, dass das Stück weniger über den Dialog als vielmehr über die Bespielung des Raums mit Körpern und Objekten funktioniert: An die Stelle eines ›Seins zum (sinnlosen) Tode‹ der existentialistischen und des ›Seins zur historischen Katastrophe‹ der geschichtsphilosophischen Deutung tritt das Sein der Figuren gegenüber dem bloßen und nicht mit Bedeutung aufgeladenen Raum.86 Eine solche Entblößung (die sich nicht als das Heilige bzw. Unmittelbare füllen lässt, als das etwa Peter Brook durchaus in Auseinandersetzung mit

84 Siehe in diesem Sinne das Plädoyer für eine möglichst ›offen‹ bleibende Spielweise von Endgame in Julie Campbell, »Endgame and Performance«, in: Mark S. Byron (Hrsg.), Samuel Beckett’s »Endgame«, New York: Rodopi, 2007, S. 253-274. 85 Katie Michells oben erwähnte Produktion des Endspiels von 1996, auf die auch Campbell verweist, findet im Donmar Warehouse auf einer Bühne statt, die die Shakespeare-Bühne anzitiert: eine Mischform aus Guckkastenbühne und Arena auch mit seitlichen Sitzplätzen und ohne Vorhang. 86 Vgl. Sick, »Raumspiel und Raumregie« (wie Anm. 4), S. 27-36.

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Beckett den ›leeren Raum‹ bestimmt)87 stellt auch in Sicks Lesart bereits die gesicherte Zuschauerposition infrage und lässt sich konsequent durch die weiteren Arbeiten Becketts verfolgen, etwa da, wo die nicht einer Bühnenfigur zugeordnete Stimme hinterrücks des Publikums erklingt.88 Oder dort, wo – wie in den ganz ohne das traditionelle Theaterpublikum auskommenden Fernseharbeiten – der Raum pantomimisch hinsichtlich seiner Möglichkeiten erprobt wird.89 Sick ist es auch, die darauf hinweist, dass die von Cavell und anderen als philosophischer Höhepunkt des Stücks bestimmte Sequenz, in der Hamm sein kleines Welttheater für ein imaginiertes ›intelligent being‹ aufführt, schon während der Aufführung in ein Körper- und Raumtheater kippt:90 Nicht nur ist nun auch der sich kratzende Clov so »anguished« wie zuvor Hamm: »I have a flea!« Dieser ebenfalls mit Ausrufezeichen versehenen Replik und Spiegelung des ›To think perhaps it won’t all have been for nothing!‹ geht die Untersuchung des eigenen Schritts bereits während Hamms kleinem Theater voraus. Sobald Hamm mit der Stimme des imaginären Zuschauers ›Now I know what they’re at!‹ gesagt hat, setzt Clov dem distanzierten Beobachter sein Körpertheater entgegen oder spielt es ihm vor: »Clov starts, drops the telescope and begins to scratch his belly with both hands.«91 Damit ist eine mögliche Vorführung des von dem ›intelligent being‹ Gesehenen gegeben: Während Hamm höheres ›meaning‹ behauptet und befürchtet, führt Clov ein solches ›meaning‹ als die Banalität und Unanständigkeit kreatürlicher Zuckungen vor: als Raum- und Körperspiel. Die doppelte Negation des ›not for nothing‹ schöpft hier ex nihilo tatsächlich ›something‹, nämlich eine Kleinstform des Lebens: ›a flea‹, d.h. nicht zuletzt ein einziges Exemplar einer Gattung, die eigentlich nur in Massen auftritt. Gleichzeitig ist der Bezug zur distanzierten Beobachtung durch das ›intelligent being‹ aber auch gekappt, denn als Einführung in sein Körpertheater lässt Clov das Teleskop, das ihm und Hamm zur Beobachtung der Welt diente, fallen. 87 Vgl. Peter Brook, The Empty Space, London: Penguin, 2008, S. 110-157. 88 Sick weist auf die dadurch infrage gestellte Publikumsposition hin. Badiou sieht hier die Stimme des bzw. der Anderen, die zu Becketts Untersuchungen der Bedingung von Bedeutung in den späteren Texten hinzukommt und sich in den Trennungs- und Einheitsfiguren der Liebe sowie als Nostalgie manifestiert. Badious Konzept ist aber von der Prosa her gedacht; an das Fort-Da-Spiel mit dem Anderen in Becketts dramatischen Räumen kommt seine Analyse nicht ganz heran. Vgl. Sick, »Raumspiel und Raumregie« (wie Anm. 4), S. 46-53; Badiou, Beckett (wie Anm. 8), S. 43-58. 89 Vgl. Joachim Becker, Nicht-Ich-Identität. Ästhetische Subjektivität in Samuel Becketts Arbeiten für Theater, Radio, Film und Fernsehen, Tübingen: Max Niemeyer, 1998. 90 Vgl. Sick, »Raumspiel und Raumregie« (wie Anm. 4), S. 27-31. 91 Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 27.

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Wenn tatsächlich, wie Hamms kleines Welttheater es andeutet, ›meaning‹ durch distanzierte Beobachtung zu entstehen droht, so wird diese von der Bühne aus verweigert bzw. als Unmöglichkeit ausgestellt. Und diese Unmöglichkeit ist wiederum Vorführung für das ›intelligent being‹. Entsprechend steckt die folgende Mischung aus Dialog und Pantomime, die eigentlich Hamms metaphysischen Exkurs als verselbständigtes Raum- und Körpertheater zu konterkarieren scheint, ihrerseits voller Anspielungen auf die Metapher des Welttheaters, das hier in seiner reduziertesten Form als eigene Unmöglichkeit evoziert wird. In der Übersetzung des französischen Texts von Fin de partie für die englische Uraufführung als Endgame sind im Kontext der Stelle verschiedene Anspielungen auf Gott und damit auf die Möglichkeit des Bedeutung produzierenden theatrum mundi hinzugekommen: »Mais que veux-tu qu’il y ait à l’horizon?«92 So wehrt Clov mit einer Entnervtheitsbekundung (›que veux-tu‹) Hamms erneute Frage nach dem von ihm bei einer erneuten Teichoskopie Gesehenen ab. In der denkbar präzisen Übersetzung kommt mit der englischen Redensart nunmehr Gott ins Spiel: »What in God’s name could there be on the horizon?«93 Diese Redensart ist wie alle anderen in Endgame aber auch wörtlich zu nehmen.94 Noch bevor Hamms kleines Welttheater die Problematik der Bedeutungsproduktion als eine des ›for nothing‹ / ›for something‹ in den Raum stellt, hat Clov die Frage nach der Legitimierung durch Gott bereits aufgeworfen (›in God’s name‹) und mit derjenigen nach dem Blick (›on the horizon‹) verquickt: Was immer sich zeigt, würde sich in Gottes Namen zeigen. D.h. es wäre durch Gott als Beobachter das theatrum mundi legitimiert. Zunächst kappt Clovs Fallenlassen des Teleskops wenig später den Bezug zu dieser Legitimation. An ihre Stelle tritt die offensichtliche Referenz an die Clownerie und den Zirkus in Endgame: Hektisch verständigen sich Hamm und Clov, den Floh zu vernichten. Der humpelnde Clov eilt, das Insektenpulver zu holen, und kehrt, statt die Vernichtung off-stage zu vollziehen, mit diesem wieder zurück. Es folgt die pantomimisch überzeichnete Vernichtung des einen Flohs, die zweier Anläufe bedarf: »Clov loosens the top of his trousers, pulls it forward and shakes powder into the aperture. He stoops, looks, waits, starts, frenziedly shakes more powder, stoops, looks, waits.« Hamms Sorge »humanity might start from there all over again« ist zerstreut. Entweder wird sich kein ›intelligent being‹ aus diesem Floh entwickeln, oder die Menschheit war nie zu

92 Ders., Théâtre I (wie Anm. 48), S. 169. 93 Ders., Endgame (wie Anm. 6), S. 26. 94 Vgl. zu der betreffenden Stelle auch Cavell, »Ending the Waiting Game« (wie Anm. 57), S. 140f.

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den ›intelligent beings‹ zu zählen, durch deren Beobachtung Bedeutung entstehen könnte. Aber um die doppelte Vernichtung des einen Flohs herum häufen sich die christologischen Anspielungen: »Catch him, for the love of God!«95, beschört Hamm Clov. Auch hier ist die englische Redensart stärker auf die göttliche Autorität bezogen als die französische (»pour l’amour du ciel«96). »The bastard!«97, ruft Clov nach dem zweiten Tötungsanlauf aus, wo er ihn im Französischen noch »La vache!«98 beschimpft. Dass mit dem Bastard nicht nur ein Schimpfwort, sondern eine sehr genaue genealogische Bestimmung für den Gottessohn Jesus gegeben ist, der eben nicht Josephs Sohn war,99 wird deutlich, wenn sofort hinterher mit dem heiligen Geist der dritte Teil der christlichen Trinität auftaucht: »Ah, that’s the spirit, that’s the spirit!« lobt Clov Hamm, der sich nach überstandener Gefahr nun seinerseits seines Schritts erinnert und sein »pee«100 verrichten möchte. »Ah ça c’est bien, ça c’est bien« heißt dies im Französischen. Und »Parle pas de malheur«101 statt »God forbid!«102, als Hamm statt seines Klogangs plötzlich davon zu schwadronieren beginnt, sich auf die Suche nach anderen Säugetieren zu machen. Innerhalb weniger Repliken taucht um die clowneske Flohvernichtung herum in dahergesagten Redensarten also die gesamte Trinität auf. Nach prominenter philosophischer Lesart bildet diese in sich ein ganzes theatrum mundi der Heilsgeschichte ab: Gottvater betrachtet sich auf der Weltbühne in seinem fleischgewordenen Sohn; der heilige Geist sorgt als Bindeglied dafür, dass Zuschauerraum und Bühne miteinander in einer Einheit verbunden bleiben. Als dieses theatrum mundi wird die Trinität von Georg W.F. Hegel zur noch unbewussten Allegorie, zur sich auf Erden verwirklichenden menschlichen Vernunft erhoben.103 An dieser Stelle von Endgame dient solch ultimative Sinnstiftung des Welttheaters allerdings als Ornament des dialogischen Rahmens einer clownesken Zirkusnummer. 95

Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 27.

96

Ders., Théâtre I (wie Anm. 48), S. 171.

97

Ders., Endgame (wie Anm. 6), S. 27.

98

Ders., Théâtre I (wie Anm. 48), S. 171.

99

Vgl. dazu auch Cavell, »Ending the Waiting Game« (wie Anm. 57), S. 143-147.

100 Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 27. 101 Ders., Théâtre I (wie Anm. 48), S. 172. 102 Ders., Endgame (wie Anm. 6), S. 28. 103 Vgl. Georg W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Werke, Bd. 3, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl-Markus Michel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, S. 545574; Martin J. Schäfer, Szenischer Materialismus, Wien: Passagen, 2003, S. 115131.

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Dass der Referenzrahmen von der Weltbühne auf den Zirkusclown und vom Zirkusclown auf den Floh gelenkt wird, legt die Rede von der Weltbühne als einem Flohzirkus nahe: also als einem der reduziertesten und gleichzeitig kunstvollsten aller Orte, an dem sich Kunstfertigkeit und Simulation (oder gar Jahrmarktsschwindel) nicht auseinanderhalten lassen.104 Die Clownsnummer der Flohvernichtung beruht ihrerseits auf dem Prinzip der Reduktion hin zu einer rein theoretischen Möglichkeit. Hamms Frage nach der Möglichkeit und Tatsächlichkeit einer fortwährenden Existenz von Flöhen, »Are there still fleas?«, beantwortet Clov mit dem eigentlich unmöglichen Verweis, er habe einen einzigen (der dann hinterher doppelt vernichtet werden muss): »On me there’s one.« Oder aber die Kategorienzuordnung stimme nicht: »Unless it’s a crablouse.«105 Einen einzigen Floh kann es praktisch ebenso wenig geben wie eine einzige Filzlaus. Flöhe und Läuse treten in der Mehrzahl auf und nur theoretisch als Singularität. Diese creatio ex nihilo macht zwar Hamms Evolutionsfurcht plausibel: Wo ein Floh einfach so als ein einziger erscheint, kann sich aus ihm sehr schnell eine ganze Menschheit entwickeln – und damit nicht nur eine ganze Weltgeschichte, sondern auch die vorher im von Hamm aufgeführten Drama skizzierte Beobachtungsdynamik des Welttheaters. Aber so wie ein einziger Floh manchmal nicht mit Sicherheit erkannt werden kann und das Publikum ihn auch nicht zu sehen bekommt, so behält auch die ganze sich um seine Beseitigung drehende Clownerie eine rein theoretische Dimension bzw. die Dimension eines bloßen Theaters, die sich an der kleinstmöglichen Kleinigkeit des mit einem ›not‹ kombinierten ›nothing‹ entzündet. Dementsprechend endet nicht dieser Theaterfloh im Zirkus, sondern der sich von einem potenziellen Publikum bzw. Beobachter bzw. Zeugen befreien wollende Clov führt eine Clownsnummer zu dessen Vernichtung auf. Nicht zufällig schüttet er das Insektenpuder auf sein in der Hose verhülltes Fortpflanzungsorgan. Mit seiner einmal durchgeführten und dann wiederholten Vernichtung des einen Flohs deutet sich ein Prinzip der Teilung im Miniaturformat an, auf dem das Stück beruht, dessen Produktion und Reduktion es immer weiter betreibt und so die Bedingungen, Grundlagen und Möglichkeiten dieser Teilung immer wieder ausstellt: ›something‹ und ›not nothing‹, Clov und sein Floh, Clov und Hamm, Nell und Nagg, Bühnenraum und Zuschauerraum. Clovs Welttheater als Flohzirkus stellt nicht zuletzt aus, dass es Becketts Endspiel nicht darum geht, diese Teilung auf das Prinzip der Einheit zurückzuführen und daran (immer

104 Zur Geschichte des Flohzirkus vgl. Brendan Lehan, The Complete Flea, London: John Murray, 1969. 105 Beckett, Endgame (wie Anm. 6), S. 27.

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schöner) zu scheitern.106 Clovs Welttheater als Flohzirkus verweist vielmehr darauf, dass auch das Eine (des einen Flohs) bereits in die Verdoppelung (nämlich der potenziellen Beobachterposition des theatrum mundi) eingelassen ist. Eine Reduktion der Teilung auf ihre Bedingungen, Grundlagen und Möglichkeiten ist nur durch das Einlassen auf die Teilung und das Spiel mit der Teilung (also der verdoppelten clownesken Vernichtung) zu haben. Becketts Endgame unterzieht die Metapher vom theatrum mundi als der Einheit dieser Teilung, in der ein distanzierter Beobachter eine Welt betrachtet und ihr so Sinn verleiht, einer beständigen Reduktion. Der Flohzirkus liefert kein reduziertes Bild dieses Welttheaters, sondern ein Bild davon, wie dieses Theater sich aus der Dynamik dieser Reduktion generiert.

106 In diese Richtung geht allerdings die an der Prosa orientierte Analyse Badious. Siehe Badoiu, Beckett (wie Anm. 8), S. 65-67.

Black Box spielen Zum Endspiel als Innenraum ohne Möbel F RIEDERIKE T HIELMANN

1. R EGIEANWEISUNG Samuel Beckett hat stets darauf bestanden, dass die Paratexte seiner Stücke gegenüber den Dialogen keine untergeordnete Rolle spielen. Die Regieanweisungen geben konkrete szenische Direktive. Beckett antwortet 1973 auf die Anfrage des Dramaturgen Peter Kleinschmidt nach dessen Einschätzung der Idee, das Endspiel in einem Altersheim spielen zu lassen: »This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. The director’s job is to ensure this, not to invent improvements.«1 Auch Alan Schneider anwortet Beckett auf Nachfrage zur Figurenkonzeption im Endspiel: »Hamm as stated, and Clov as stated, together as stated, nec tecum nec sine te, in such a place, and in such a world, that’s all I can manage, more than I could.«2 Schneider bestätigt: Beckett sei »clear and explicit in his directions to all concerned.«3 Die Regieanweisung inszeniert. Der Begriff des Inszenierens wurde Anfang des 19. Jahrhunderts im Deutschen als Übersetzung des französischen mettre en scène gebräuchlich. Der Ausdruck erfuhr ab Anfang des 18. Jahrhunderts einen Bedeutungswandel. 1

Gerhard Stadelmeier, »Dramatiker gegen Dramaturg. Beckett will nicht ins Altersheim«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.02.2014.

2

Maurice Harmon (Hrsg.), No Author Better Served. The Correspondence of Samuel

3

Alan Schneider, »Working with Beckett«, in: Stanley E. Gontarski (Hrsg.), On

Beckett and Alan Schneider, Cambridge, MA: Harvard University Press, 1998, S. 24. Beckett. Essays and Criticism, New York: Grove Press, 1986, S. 236-254, hier S. 239.

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Implizierte er früher die Bedeutung von Szene als »Schauplatz, bzw. Ort, an dem sich etwas des Zeigens Würdiges ereignet«, so wird er nun mehr für die Transformation eines dramatischen Textes zur Aufführung gebraucht. Diese Wandlung geht mit dem »Aufstieg des Regisseurs vom Arrangeur zum Künstler« als »eigentlichen Schöpfer des ›Kunstwerkes‹ der Aufführung« einher.4 Das Endspiel beginnt mit einer ausführlichen Regieanweisung. In deren mettre en scène scheint der Schauplatz auf. Beckett verschiebt die Regieposition vom Regisseur zur Bühne: »Innenraum ohne Möbel. Trübes Licht. An der rechten und linken Wand im Hintergrund je ein hoch angebrachtes Fensterchen mit geschlossenen Vorhängen. Vorne rechts Tür. In der Nähe der Tür hängt ein umgedrehtes Gemälde an der Wand. Vorne links stehen zwei mit einem alten Laken verhüllte Mülleimer nebeneinander. In der Mitte sitzt Hamm in einem mit Röllchen versehenen Sessel. Das Ganze ist mit einem alten Laken verhüllt. Clov steht regungslos in der Nähe der Tür und betrachtet den Sessel. Er geht mit steifen, wankenden Schritten unters linke Fenster. Er betrachtet das linke Fenster mit dem Kopf im Nacken. Er wendet sich dem rechten Fenster zu und betrachtet es. Er geht und stellt sich unters rechte Fenster. Er betrachtet das rechte Fenster mit dem Kopf im Nacken. Er wendet sich dem linken Fenster zu und betrachtet es. Er geht hinaus und kommt alsbald mit einer kleinen Bockleiter wieder, stellt sie unters linke Fenster, steigt hinauf, schiebt den Vorhang zur Seite und schaut aus dem Fenster. Kurzes Lachen. Er steigt von der Leiter, stellt sich unters rechte Fenster, steigt hinauf und schaut aus dem Fenster. Kurzes Lachen. Er steigt von der Leiter, geht auf die Mülleimer zu, nimmt das Laken, das sie verhüllt, herunter, hebt einen Deckel an, bückt sich und schaut in den Mülleimer. Kurzes Lachen. Er klappt den Deckel wieder zu. Das gleiche Spiel mit dem anderen Mülleimer. Er geht, das Laken hinter sich herschleppend, auf Hamm zu, nimmt das Laken, das Hamm verhüllt, herunter. Hamm im Morgenrock, mit einer Filzkappe auf dem Kopf, einem übers Gesicht gebreiteten großen, schmutzigen Taschentuch, einer um den Hals hängenden Signalpfeife, einem auf den Knien liegenden Plaid und dicken Socken an den Füßen, scheint zu schlafen. Clov hebt das Taschentuch an und betrachtet das Gesicht. Kurzes Lachen. Er geht, das Laken hinter sich herschleppend, zur Tür, hält an und wendet sich dem Saal zu.«5

4

Erika Fischer-Lichte, »Inszenierung«, in: dies., Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hrsg.), Metzlers Lexikon Theatertheorie, Stuttgart: J.B. Metzler, 2005, S. 146-153, hier S. 147.

5

Samuel Beckett, Endspiel. Fin de partie. Endgame, deutsche Übertragung von Elmar Tophoven. Französische Originalfassung. Englische Übertragung von Samuel Beckett, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996, S. 9-11.

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Wie für Regieanweisungen üblich, findet sich als erstes eine Angabe über den Schauplatz. Die Bühne wird als »Innenraum ohne Möbel« beschrieben. Dieser ist mit zwei links und rechts hoch angebrachten Fensterchen, zwei verhüllten Mülleimern (in denen Nell und Nagg sitzen) und dem ebenfalls verhüllten, auf einem mittig positionierten Sessel mit Röllchen sitzenden Hamm ausgestattet. Durch einen Absatz getrennt, folgt die Beschreibung eines pantomimischen Vorspiels. Clov bespielt nun, durch Gänge strukturiert, Fenster – Mülleimer – Hamm. Diese Pantomime spielt das Bühnenbild nach. Clovs Aktionen lassen sich beschreiben mit: Durchschauen – Reinschauen – Darunterschauen. Jede Aktion ist zweischrittig konzipiert: Das Fenster wird erst angeschaut, dann wird durchgeschaut, die Tonnen werden zunächst vom Laken befreit, dann die Deckel angehoben, bei Hamm ist ebenfalls zuerst das Laken, dann das schmutzige Tuch über seinem Gesicht zu lüften. Jede Aktion wird mit einem Lacher quittiert. So scheint durch seine Aktionen an Fenster, Mülltonnen und Hamm erzählt zu werden, welche Größe, welches Ausmaß und welche Funktion diese haben. Das Fenster ist zur Mauerschau bestimmt, die Mülltonnen und der verhängte Sessel bergen Schauspieler. »Nachgerade programmatisch setzt das Endspiel mit einem Raumspiel ein, so als ginge es darum, in einem pantomimischen Vorspiel auf dem Theater den Gehalt des Stückes vorwegzunehmen«,6 schreibt Franziska Sick. Das pantomimische Vorspiel wird in diesem »Raumspiel« auf spezifische Weise mit dem Bühnenbild kurzgeschlossen. Der Bühnenraum, so wird deutlich, setzt sich durch zweierlei zusammen: einem materiellen Bühnenbild und seiner performativen Spielart. Bühnenbild und Bühnenaktion sind zwei Seiten dieser Bühne. Im Zusammenschluss dieser beiden konstitutiven Elemente der Bühne liegt das Direktiv dieser Regieanweisung. Ihre Programmatik besteht in der Paarung von Inszenierung und Schauplatz. Becketts Anmerkung, Hamm und Clov seien in den Regieanweisungen »in such a place, in such a world« gesetzt, verweist auf einen Schauplatz, der äquivalent zu der hier installierten Welt ist: »Da liegt für mich der Wert des Theaters. Man stellt eine kleine Welt her mit eigenen Gesetzen, regelt das Spiel wie auf einem Schachbrett… Ja sogar das Schachspiel ist noch zu kompliziert.«7 Der 6

Franziska Sick, »Raumspiel und Raumregie im Endspiel und im Spätwerk Becketts«, in: dies. (Hrsg.), Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett, Bielefeld: transcript, 2011, S. 27-53, hier S. 27.

7

Mit diesen Worten zitiert Michael Haerdter Beckett. Siehe Michael Haerdter, »Samuel Beckett inszeniert das Endspiel. Bericht von den Proben der Berliner Inszenierung 1967«, in: Clancy Sigal u.a. (Hrsg.), Materialien zu Becketts »Endspiel«. Berichte und Aufsätze, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1970, S. 36-111, hier S. 91.

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Schauplatz in Becketts »Entweltungsprojekt«8. Endspiel gibt keine äußere Welt wieder, es referiert auf nichts. Dieses Nichts – dem im Folgenden nachgegangen werden soll – korrespondiert mit der Bühnenform, die als Nullpunkt des Schauplatzes lesbar wird.

2. Ö FFENTLICHE P ROBE George Tabori inszenierte 1998 am Wiener Burgtheater Samuel Becketts Endspiel unter dem Titel Fin de Partie. Samuel Becketts Endspiel. Der Titel verweist zum einen auf die unterschiedlichen Konnotationen des Titels in den verschiedenen Übersetzungen: Der französische Titel Fin de partie verweist auf das »Ende eines Schachspiels«, das deutsche Endspiel lässt »ebensogut an einen Sportwettkampf« denken.9 Mit dem Zusatz »Samuel Becketts Endspiel« wird nicht nur auf Becketts Dramentext, sondern auch auf Becketts eigene EndspielInszenierung am Schillertheater rekurriert. Es ist das Endspiel-Vorspiel, das im Besonderen die Aufmerksamkeit von Tabori erregt. Er inszeniert die Regieanweisung als »öffentliche Probe«. Dieses metatheatrale Spiel besetzt Tabori mit den mitunter als Komiker-Duo bekannten Schauspielern Gert Voss und Ignaz Kirchner.10 So schreibt sich dieses Duo zum einen als traditionelles Komikerpaar mit Herr-und-Knecht-Verhältnis ein und weist zum anderen Hamm und Clov als ein eben solches Komikerpaar aus: Gert Voss spielt Gert Voss, der Hamm spielt, Ignaz Kirchner spielt Ignaz Kirchner, der Clov spielt. Tabori stellt dem EndspielVorspiel noch ein weiteres voran: Gert Voss tritt als Gert Voss auf, unter dem einen Arm hält er ein Regiebuch, in der Hand des anderen eine Zigarette. Wo Ignaz sei? Man finge doch um 20:15 Uhr an, er sei ausgerufen worden, hätte aber keinen Einruf für Ignaz gehört? Oder ob dieser Angst habe, weil die heutige Aufführung aufgezeichnet werde. Seine Worte richtet er an eine Inspizientin und bittet diese, Ignaz einzurufen. Voss gleicht mit dem Publikum die reale Uhrzeit ab. Er verschwindet auf der dunklen Seitenbühne, sucht dort geräuschvoll etwas

8

Martin Harries, »Das Ende einer Trope für die Welt«, in: Björn Quiring (Hrsg.), Theatrum Mundi. Die Metapher des Welttheaters von Shakespeare bis Beckett, Berlin: August, 2012, S. 191-217, hier S. 214.

9

Elmar Tophoven, »Von ›Fin de Partie‹ zum ›Endspiel‹. Arbeitsbericht des Übersetzers«, in: Sigal u.a. (Hrsg.), Materialien zu Becketts »Endspiel« (wie Anm. 7), S. 118127, hier S. 118.

10 Zum Komiker-Duo Gert Voss und Ignaz Kirchner siehe Michael Merschmeier, »Das Doppelspiel von Herr und Knecht«, in: Theater heute Jahrbuch (1998), S. 46-49.

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und kommt mit einem schwarz lackierten Stuhl zurück. Inzwischen ist Ignaz Kirchner als Ignaz Kirchner aufgetreten, ebenfalls mit Regiebuch, Zigarette, Aschenbecher (kleiner Metalleimer) und Kaffeetasse. Voss fragt sarkastisch, ob der kahlköpfige Kirchner beim Frisör gewesen sei. Kirchner holt sich ebenfalls einen Stuhl, seiner ist jedoch an den Beinen zehn Zentimeter gekürzt. Das sei doch nicht Vossens Ernst, hier die Stühle zu kürzen. Beide setzen sich auf ihre Stühle mit dem Rücken zum Publikum an die Rampe. Kirchner macht Voss mit einer Handgeste auf das Publikum aufmerksam. Ja, er wisse es, schrecklich, er könne auch nichts dafür. Man könne aber auch das Publikum rausschmeißen, wenn es störe. Man könne auch die Stühle tauschen, wenn es Kirchner störe, kleiner zu sein als er. Nein, wehrt dieser ab, das sei ganz toll für Clov, ganz toll. Die metatheatrale Situation der Probe nennt Annemarie Matzke »Theater im Theater« und setzt sie vom »Spiel im Spiel« ab. Das Thematisieren einer Probenarbeit »zielt nicht auf die Parodie der Illusion, sondern thematisiert die Bedingungen der theatralen Situation und führt deren Produzieren auf«.11 Tabori verweist hier auf die theaterbetriebliche Organisation einer Aufführung durch die Inspizienz, die im Theater herrschenden Sicherheitsbestimmungen, die Realzeit und das Publikum, mitsamt der Aufzeichnung dieser Aufführung im Rahmen des Berliner Theatertreffens im Jahr 1998. Diese Probe ist öffentlich und weiß um ihren Aufführungscharakter. In den Mittelpunkt dieses Spiels wird jedoch die Parodie der dunkel gekleideten, rauchenden und Kaffee trinkenden Schauspieler gestellt. Das Spiel markiert hier nicht die Bühne, sondern die beiden Figuren Voss und Kirchner. Die beiden Darsteller werden hierbei synonym zur Figur; ihre Rollen fallen mit den Schauspielern zusammen. Das Komiker-Duo Voss/Kirchner spielt sich selbst. In einem Interview gibt Tabori an: »In ›Fin de Partie‹ – es geht um zwei Schauspieler auf einer leeren Bühne. Das Wichtigste am Theater ist nicht das Bühnenbild, nicht die Regie – die Schauspieler sind die Wichtigsten. Das Stück ist keine Literatur, sondern die Vorlage für ein Spiel.«12 Tabori stellt Regie und Bühne in seiner Inszenierung hinter die Schauspieler zurück. Dabei kommentieren diese entscheidend die beckettsche Regieanweisung.

11 Annemarie Matzke, Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld: transcript, 2012, S. 120. 12 Merschmeier, »Das Doppelspiel von Herr und Knecht« (wie Anm. 10), S. 46.

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3. R EGISSEUR

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Voss und Kirchner spielen das Paar des despotischen Regisseurs und des genervten, aber folgsamen Schauspielers: Die Figur Voss arbeitet zunächst mit der Figur Kirchner am Clovschen Gang, der laut Regisseur die schwere Kurzsichtigkeit und Behinderung der Figur transportieren soll. Kirchners/Clovs Angebote einer pantomimischen Gehhilfe und einer Nachahmung der BollmannHaltung13 überzeugen den Regisseur Voss/Hamm nicht. Also wird ein anderes Mittel gesucht: Kirchner wird kostümiert. Wie ein Bildhauer seine Skulptur bearbeitet Voss Kirchner zum Clov, der dies verdrießlich über sich ergehen lässt, während der enthusiastische Voss/Hamm immerzu vorwurfsvoll seine Ideen umsetzt. Die Schuhe müssen ausgezogen werden, aus den Einlagen werden mithilfe von Klebeband Schläppchen gemacht, die Socken eingeschnitten (»etwas hässlich gemacht«), die Hosenbeine eingerissen und ausgefranst, die Beinhaare beschnitten und schließlich die Socken zusammengebunden. Kirchner/Clov kommt nur mehr schlurfend und kleinschrittig vorwärts. Nun stimmt der Gang. Regisseur und Schauspieler gehen die einzelnen Stationen Clovs durch. Voss/Hamm ist unzufrieden mit Kirchners Spiel: Der Blick sei nicht deutlich genug, das Lachen nicht stimmig, das pantomimisch dargestellte Fenster zu groß, der pantomimisch angehobene Tonnendeckel zu tief usw. Kirchner/Clov verteidigt sich, ist darüber genervt und frustriert, dass Voss nur seine eigene Spielweise gelten lasse und ahmt widerständig Voss nach. Die Textvorlage verlagert sich zur Vorgabe von Voss. Die Instanz des Regisseurs schiebt sich zwischen beckettsche Regieanweisung und das Spiel. Voss spielt hier den Regisseur, der die Regieanweisung verkörpert. Taboris Inszenierung nimmt immer wieder Bezug auf Becketts eigene Inszenierung des Endspiels am Berliner Schillertheater im Jahr 1967. Explizit wird die sogenannte Bollmann-Haltung oder die Maskierung der Figuren angeführt, implizit Becketts präzise Arbeit an Sprech- und Gehrhythmen.14 Becketts Probenarbeit an seiner Inszenierung wurde von seinem Regieassistenten Michael Haerdter in einem Probenbericht dokumentiert. Haerdter beschreibt diese Arbeit als das »Einstudieren einer Partitur«15, bestehend aus der minutiösen Arbeit an Sprechstimmen und Sprechrhythmen und – in steter Trennung zum Sprechen –

13 Horst Bollmann spielte in Samuel Becketts Endspiel-Inszenierung 1976 am Schillertheater. Seine spezifische Körperhaltung als Diener Clov wurde als ›BollmannHaltung‹ bekannt. 14 Vgl. Haerdter, »Samuel Beckett inszeniert das Endspiel« (wie Anm. 7), S. 101. 15 Ebd., S. 68.

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Gesten und Gängen.16 Beckett bereitete die Proben zuhause mithilfe eines »Aktionsplans« im »Regiebuch« vor: »Szene um Szene ist darin in zierlicher, spröder Handschrift und mit Hilfe kleiner Skizzen ein exakter Aktionsplan des Endspiels entworfen. Eine vollständige Partitur. […] Beckett geht also nach einem präzisen Plan vor, er lässt sich nicht vom Zufall des Probierens zu überraschenden Lösungen führen.«17

Insofern arbeitet Beckett die Bühnenfassung seines Stücks in eine räumlichzeitliche Ausbuchstabierung der Regieanweisungen auf der Bühne um. Regie führen die Regieanweisungen. Das Endspiel-Vorspiel sperrt sich gegen den Regisseur als »eigentliche[n] Schöpfer des ›Kunstwerks‹ der Aufführung«. Gegen eine Verlagerung des Schauplatzes des Endspiels – etwa in ein Altersheim – wehrt Beckett sich nicht in der Beanspruchung seiner Autorenschaft für den primär verstandenen Dramentext, sondern in der Beanspruchung der Autorenschaft für die Regie, formuliert in Bühnen-Scores. Für diese ist der Schauplatz essenziell.

4. T ABORIS B ÜHNE Tabori arbeitete ohne Bühnenbildner, niemand zeichnet für die Bühne verantwortlich. Ein Bühnenbild, so die Angabe von Voss, gebe es gar nicht: »Wir haben zuerst ganz normal begonnen, das Stück zu probieren, die einzige Vorbedingung, die es bei Probenanfang gab, war, daß es kein Bühnenbild geben solle, denn wir hatten Angst vor den sogenannten Beckett-Bühnenbildern mit grauen Wänden und irgendeinem Fenster, die letztlich nur etwas über Theater erzählen.«18

Das fehlende Bühnenbild wird von Voss/Hamm und Kirchner/Clov kommentiert. Beide haben ihre Textbücher auf den Knien aufgeschlagen, Voss eröffnet die Probe19 und liest den ersten Satz aus Becketts Endspiel vor: »Innenraum ohne Möbel.« Während Kirchner nun konstatiert, das habe man ja, eine leere Büh-

16 Vgl. ebd., S. 102. 17 Ebd., S. 42. 18 Merschmeier, »Das Doppelspiel von Herr und Knecht« (wie Anm. 10), S. 46. 19 Voss/Hamm sagt: »Wir fangen jetzt an.« Hier findet sich das Äquivalent zu Hamms »Jetzt spiele ich«.

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ne ohne Möbel, beharrt Voss darauf, man habe noch keinen Innenraum, man habe gar nichts. Es gebe also, so formuliert Voss, noch kein Bühnenbild für das Endspiel – dieses wird erst im Folgenden mit Kreide auf dem Boden markiert werden, erst dann gibt es zumindest ein Probe(n)-Bühnenbild. Kirchner dagegen führt die leere Bühne an, auf welche die beiden Figuren gerade blicken. Mit dem Rücken zum Publikum an der Rampe sitzend, nehmen sie die Regieposition ein, von der aus man zu Probenbeginn auf den (noch) leeren Raum schaut. »Der Blick in den leeren Bühnenraum markiert […] den Probenbeginn.«20 Eben dieses Bild des Blicks in die leere Bühne benennt Annemarie Matzke als Topos für den Probenraum, wie »das leere Blatt für den Maler und Schriftsteller«.21 In der leeren Bühne drücke sich die Potenzialität der Probe aus. Die oben beschriebene Szene arbeitet mit diesem Topos. Doch auch leere Bühnen sind sehr wohl inszeniert: Sowohl die Positionierung der Schauspieler als auch die freie Fläche ohne Bühnendekoration, Möbel oder Requisiten stellen diese erst her. Entscheidendes Moment ist die ausgeleuchtete rechteckige Fläche aus Licht auf dem Bühnenboden, die die Spielfläche markiert. So entsteht das Bild einer leeren Bühne als Bühnenbild für eine Probebühne. Dieses Bühnenbild unterliegt der Lichtregie, die Voss/Hamm nun mit der Bitte adressiert, die von Beckett angegebene Lichtstimmung – »Trübes Licht« – anzubieten. Das kurze Spiel der Lichttechnik lässt nun die Darsteller zunächst verschwinden, kurz darauf aber neben der Spielfläche auch die hintere Bühnenwand beleuchten. Zu sehen ist nun eine Bühnenwand, die nicht gleichmäßig schwarz gestrichen, sondern auffällig fleckig und uneben ist. An ihr sind Eisenstangen und Rohre befestigt, eine Leiter hängt ebenfalls dort. Diese in der Regel im Dunkel verschwindende Wand des Theaterraums wird hier ebenfalls Teil des Bühnenbildes »Probebühne«. Das taborische Vorspiel dient dazu, das Bühnenbild der leeren Bühne zu etablieren und das Bühnenbild der leeren Bühne dient dazu, das beckettsche Bühnenbild zu inszenieren und verschiebt hier das Probebühnen-Bild zu einem Probe-Bühnenbild.

5. B ÜHNENBILD

SPIELEN

Die Figuren Voss/Hamm und Kirchner/Clov zeichnen den Innenraum ohne Möbel mit Bühnenkreide auf dem Bühnenboden ein. Zunächst wird ein Rechteck

20 Matzke, Arbeit am Theater (wie Anm. 11), S. 204. 21 Matzke weist darauf hin, dass einzig übrig gebliebene Dekorationsteile, Kostüme und Requisiten den Probenprozess beeinflussten. Vgl. ebd., S. 205.

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mit vier Wänden gezogen. Dann werden die beiden Fenster (Erkerfenster, ohne Balkon), mit Pfeil zum Himmel und zur Hölle, die Tür zu Clovs Küche (eine Drehtür) und die beiden Tonnen für Nagg und Nell mitsamt Tuch zum Zudecken markiert. Das kreidegezeichnete Diagramm des Bühnenbildes ermöglicht, diesen dreidimensionalen Raum in eine zweidimensionale Spielfläche zu übersetzen. Diese erscheint als Grundriss der in der Regieanweisung angegebenen Bühnendekoration. Zugleich dient sie als Vorlage für das pantomimische Spiel. Denn über die Linien, die die Wände markieren, darf nicht gelaufen werden, die Tür muss so groß sein, dass man mit einer Bockleiter hindurch kommen kann, die Tonnen groß genug, dass die Schauspieler darin Platz finden usw. Ähnlich wie bei dem Kinderhüpfspiel Himmel und Hölle werden hier betretbare und unbetretbare Flächen strukturiert. Erst wenn die Spielregeln beachtet werden, wird die Kreidemarkierung zum Bühnenbild. Diese Spielvorlage markiert das Bühnenbild für die Probe und macht die pantomimische Darstellung des Bühnenbildes sichtbar – und damit markiert dieses Spiel einer Probebühne die Bühnenanordnung des Endspiel-Vorspiels. Im Vorspiel wird das Bühnenbild von Clov nicht bespielt, sondern gespielt. Ulrike Haß beschreibt anhand der Commedia dell’ arte die Unabhängigkeit des pantomimischen Spiels von der Bühne: »Die Commedia dell’ arte braucht keine besondere Bühne. Sie kann überall spielen, auf freien Plätzen, auf Straßen, in Zimmern, Sälen oder auch im Theater. Was hier das Korrelat zu dem Prinzip der Bühnenform darstellt, besteht aus einem Gitterwerk von Regeln, mit dem die Commedia dell’ arte die Schauspieler wie mit einer Maske überzieht.«22

Den Rahmen setzt hier nicht eine Raumanordnung, sondern ein kombinatorisch organisiertes System aus Gestik und Mimik. Die komische Maske besteht nicht allein aus einem bestimmten Kostüm und einem bestimmten Dialekt der Figur, sie ist auch »Bewegungsradius der Figur«, ihr »Gestus«.23 Auch wenn das pantomimische Vorspiel Kirchners/Clovs vom Regisseurspielen überschrieben wird, so weist es hierin doch sowohl die Pantomime als auch das Bühnenbild der Spielvorlage schematisch aus. Wenn Clov hier das Bühnenbild spielt, welche Wirkung hat dann das von Beckett beschriebene Bühnenbild »Innenraum ohne Möbel«?

22 Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München: Wilhelm Fink, 2005, S. 163. 23 Ebd., S. 169.

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6. B ECKETTS B ÜHNE Beckett selbst hat in seiner Regiearbeit die von Tabori dezidiert hervorgehobenen metatheatralen Anteile weitgehend gestrichen: »Der Dialog von Hamm und Clov (Beckett sagt Clov mit langem, geschlossenem O) um den ›Knaben‹ draußen vor dem Haus, ein Rätsel für Exegeten, ist gestrichen. Ebenso alle aufs Publikum Bezug nehmende Repliken (›eine begeisterte Menge‹ u.a.): die Aktion soll sich ganz auf die Bewohner des ›Unterschlupfs‹ konzentrieren. Man stutzt, als Beckett dies mit einem Prinzip des naturalistischen Theaters erläutert – ›das Stück ist so zu spielen, als gäbe es eine vierte Wand anstelle der Rampe‹.«24

Die Streichung der metatheatralen Stellen geht einher mit der Erklärung, es sei zu spielen als gebe es eine vierte Wand. Die vierte Wand beschreibt eine von Denis Diderot im 18. Jahrhundert formulierte Ästhetik des Illusionstheaters, die im naturalistischen Theater Ende des 19. Jahrhunderts zum zentralen Begriff wurde. Bühne und Zuschauerraum werden hier als strikt voneinander getrennt gedacht: Es soll gespielt werden, als ob an der Rampe eine unsichtbare vierte Wand installiert sei, als wüssten die Darsteller nicht, dass sie von einem Publikum beobachtet werden. Diese theatrale Ordnung basiert auf dem Grundgedanken der diderotschen Ästhetik. Die Bühnenhandlung wirkt glaubwürdig, wenn die Schauspieler nicht aus dem Tableau heraustreten, das die durch das Portal abgeschlossene Bühne dem Zuschauer bietet.25 Roland Barthes beschreibt dieses Tableau als Bild mit sauberen Rändern: »Die gesamte Ästhetik Diderots beruht bekanntlich auf der Gleichsetzung der Theaterbühne mit dem gemalten Bild: Das perfekte Stück ist eine Abfolge von Bildern, das heißt eine Galerie, eine Ausstellung: Die Bühne bietet dem Zuschauer ebenso viele wirkliche Bilder wie es in der Handlung für den Maler günstige Momente gibt. Das Bild (in der Malerei, im Theater, in der Literatur) ist ein unumkehrbarer, unersetzbarer reiner Ausschnitt mit sauberen Rändern, der seine ganze unbenannte Umgebung ins Nichts

24 Haerdter, »Samuel Beckett inszeniert das Endspiel« (wie Anm. 7), S. 37f. 25 Siehe dazu Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M., Basel: Stroemfeld, 2000, S. 64-69. Siehe ferner Johannes F. Lehmann, Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, Freiburg i.Br: Rombach, 2000.

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verweist und all das ins Wesen, ins Licht, ins Blickfeld rückt, was er in sein Feld aufnimmt […].«26

Dieses Bild als »reiner Ausschnitt mit sauberen Rändern« findet seine Bedingung in der Guckkastenbühne mit Bühnenportal und abgeschlossenem Bühnenbild mit vierter Wand. Das Bühnenbild des naturalistischen Theaters nimmt die vierte Wand in der abgeschlossenen Bühnendekoration des Bühnenzimmers wörtlich. Ein solches Bühnenzimmer mit vierter Wand propagiert auch das Bühnenbild in Becketts eigener Inszenierung am Schillertheater (1967). Dieser von Matias Martinez entworfene »Bunker« besteht aus drei nesselbespannten Wänden, die mit dem Portal abschließen, die Fensterchen und die Tür wurden mit Blenden versehen,27 um den Einblick in den Bühnenraum zu verhindern. So entstand der Eindruck einer geschlossenen Zimmerdekoration. Ein solches abgeschlossenes Zimmer bietet einen Innenraum. Beckett inszeniert ein Bühnenzimmer.

7. I NNENRAUM

MIT

M ÖBELN

Die geschlossene Zimmerdekoration ersetzt Kulissen und Prospekte durch im stumpfen Winkel aufgestellte Seitenwände, die den Raum vollkommen abschließen. Auf- und Abtritte werden durch die in den Seitenwänden eingearbeiteten Türen bewerkstelligt und nicht etwa durch die »Gassen« der Kulissenbühne. Im Laufe der Entwicklung der Zimmerbühne wurden anfangs die Einrichtungsgegenstände des Zimmers noch auf die Wände aufgemalt, aber mehr und mehr durch vollplastische Möbel ersetzt.28 Dabei soll die Zimmereinrichtung keinesfalls dem Ausstattungspomp verfallen, sondern ausgesucht und speziell auf die dramatische Situation hin konzipiert sein. »Ideal war die völlige Identität zwischen Bühnenraum und natürlichem Raum. Die Utopie war, Kunstraum und wirklichen Raum in eins fallen zu lassen.« 29

26 Roland Barthes, »Diderot, Brecht, Eisenstein«, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990, S. 94-102, hier S. 95. 27 Vgl. Haerdter, »Samuel Beckett inszeniert das Endspiel« (wie Anm. 7), S. 109. 28 Vgl. Marianne Streisand, Intimität. Begriffsgeschichte und Entdeckung der »Intimität« auf dem Theater um 1900, München: Wilhelm Fink, 2001, S. 170. 29 Ebd., S. 137.

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Ein solcher »Innenraum mit Möbeln« ist ein ästhetisches Programm, das sich in der Abgeschlossenheit der Wände, der Tür als Auf- und Abtrittsmöglichkeit sowie der Ausstattung, insbesondere dem Mobiliar, ausdrückt und im Intimen Theater seinen Höhepunkt erreicht. Die Ästhetik des Intimen Theaters stellte das Familiäre und die sich im 17. und 18. Jahrhundert herausbildende Privatheit in den Mittelpunkt, die in der bürgerlichen Familie ihren Ursprung hat. Die Handlung wird von öffentlichen Orten in private Innenräume verlagert. Programmatisch wird dies in August Strindbergs Vorwort zu Fräulein Julie entworfen. Das Intime Theater spielt als Einakter in einem Privatraum. Diese Lokalität ermöglicht einen Einblick in das Seelenleben der Figuren: Das »Innerliche« drückte sich im »Innenraum« aus.30 Das Intime Theater spitzt somit das moderne psychologische Drama, dem Diderot eine Folie bietet, zu. Seine Anlage findet es in der Konzeption der vierten Wand, die eine Publikumsadressierung ausschließt.31 Auch die beckettsche Inszenierung des Endspiels kommt mit nur einem Bühnenzimmer aus, das jedoch nicht bewohnbar ist. Zwar gibt es drei abgeschlossene Wände, eine Tür, die Clovs Auf- und Abgängen dient und zwei Fensterchen. Die Ausstattung beschränkt sich jedoch auf ein umgedrehtes Bild an der Wand. Es fehlen die Möbel. Die beiden Mülltonnen sowie Hamms Sessel zeigen keine Bewohnbarkeit an, sind jeweils mit ihren Figuren verwachsen. Sie sind kein Mobiliar, sie sind Prothesen der Figuren – Tonnen und Sessel gehören zu der Erscheinungsform, die ihre Spielzüge markieren. Dem Endspiel wurde sich vielfach über die Schachspiel-Metapher32 genähert. Sick beschreibt die Figuren entsprechend als Schachfiguren, die sich durch ein bestimmtes Bewegungsvokabular, »Bewegungsattribute«, ein »Sehfeld« und ein »Tast- und Kratzfeld«33 sowie spezifische Spielzüge und Zugwerte auszeichnen: »Sie sind zu großen Teilen nicht dramatische, sondern ludische Figuren.«34 Die Regieanweisungen bilden die Notation dieser Bewegungen. Sie lesen sich wie Scores, wie Handlungsanweisungen, die eine Bewegung (vor-)schreiben, choreografieren. So erzeugen

30 Vgl. ebd., S. 36-38. 31 Vgl. ebd., S. 136. 32 Den Titel des Endspiels hat Beckett mit dem Schachspiel in Verbindung gebracht. Vgl. Hugh Kenner, Samuel Beckett. A Critical Study, Berkeley, CA: University of California Press, 1968, S. 156-160; David H. Hesla, »Metaphor in Endgame«, in: Patrick A. McCarthy (Hrsg.), Critical Essays on Samuel Beckett, Boston, MA: G.K. Hall, 1986, S. 173-180, hier S. 173; James Acheson, Chess with the Audience. Samuel Beckett’s »Endgame«, in: ebd., S. 181-192. 33 Sick, »Raumspiel und Raumregie« (wie Anm. 6), S. 32. 34 Ebd.

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die Spielzüge zwischen Hamm und Clov gemäß der Schachmetapher eine »Pattsituation«, ein »finales sinnloses Hin- und Herziehen«.35 Nicht die in Bühnenzimmer und vierter Wand eingepflanzte Schauspielästhetik also interessiert Beckett: Seine Figuren werden durch den Score und nicht durch ihr Seelenleben bewegt. Ihr Spiel wird nicht psychologisch begründet: »psychologisch, moralisch ist in dem Stück nichts zu machen«.36 Alan Schneider schreibt: »There were only the text and the stage image, both of which he [Samuel Beckett] had provided for us. ›The rest is Ibsen.‹«37 Weder die Dramen noch die Ästhetik der Naturalisten, sondern ihr Bühnenbild zitiert Beckett im Endspiel. »Denn kaum mehr ereignet sich […], als dass man – sich drinnen möglichst umständlich bewegend – auf einen leeren, nur schwer einsehbaren Außenraum zuspricht.«38 Dieser Außenraum, auf den die Figuren zuspielen, ist nicht nur schwer, sondern gar nicht einsehbar. Es scheint, als wolle Clov im Vorspiel mit Nachdruck das Bühnenbild »durchschauen«: ein Dahinter lüften, ein Darunter klären. Später wird Clov gar mit dem Fernglas aus den Fenstern schauen und nichts sehen. Der »unbenannte Außenraum« der vierten Wand wird, wie Barthes es für diese Bühne formulierte, in »Nichts« verwiesen. So markiert das pantomimische Spiel die Bühnenform der Guckkastenbühne.

8. I NNENRAUM

OHNE

M ÖBEL

Mit dem Bühnenzimmer ist der Höhepunkt einer Entwicklung beschrieben, die mit dem Bau erster Theaterhäuser in der Renaissance begann und die Ulrike Haß in Das Drama des Sehens als eine Geschichte des Einzugs des Außenraums in den Innenraum anhand der Theaterbauten nachvollzieht. »Während die Entwicklung der Theaterbühnen des sechzehnten Jahrhunderts sich durch eine Bewegung charakterisieren lässt, die das Außen in Innen verwandelt, gilt die Entwicklung der Bühnen im 17. Jahrhundert der Entdeckung eines Innen ohne Außen.«39 Innerhalb des 17. Jahrhunderts werde die Paarung von Innenraum und Außenraum aufgekündigt. Die Wand sei nicht länger als »Raumgrenze« definierbar, die zweiseitig Innen- bzw. Außenraum miteinander verbinde. Innen- und Außenseite erlangen »Autonomie«. Es werden zwei neue räumliche Ordnungen im

35 Ebd., S. 29. 36 Haerdter, »Samuel Beckett inszeniert das Endspiel« (wie Anm. 7), S. 49. 37 Schneider, »Working with Beckett« (wie Anm. 3), S. 246. 38 Sick, »Raumspiel und Raumregie« (wie Anm. 6), S. 27. 39 Haß, Das Drama des Sehens (wie Anm. 22), S. 311.

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Theaterbau artikuliert: die »flache Fassade«, die allein zu seiner städtebaulichen Umgebung in Beziehung zu setzen ist und der Theaterraum als »dunkler Kubus«:40 Dieser dunkle Kubus wird als Guckkastenbühne bezeichnet und erhält seinen Namen von einer Jahrmarktsattraktion aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. »Dieses Innen ohne Außen ist zunächst als geschlossener, dunkler Kubus anzunehmen. Doch anders als bei der Camera obscura dringt hier kein Lichtstrahl von außen durch ein kleines Loch, um auf einer vorbereiteten Leinwand innen ein seitenverkehrtes und auf dem Kopf stehendes Abbild der äußeren Welt zu entwerfen. In diesen Kubus gelangt nichts von außen nach innen. Alles, was sich hier zu sehen gibt, muss von der herrschenden Dunkelheit ausgehen. Dieser dunkle Kubus hat indessen eine lange Geschichte der zögernden und schrittweisen Herstellung hinter sich. […] Dieser dunkle Kubus trägt die gesamten Transporte des Außen in das Innen mit sich und schließt diese in Form eines Wissensprozesses ein, indem sich der Gedanke der Autonomie der Darstellung allmählich von der Realitätsillusion einer Weltwiedergabe trennte.«41

Der dunkle Kubus, die Black Box, lässt sich mit Haß als ein Innenraum ohne Außen bestimmen. Das neue Außen im Innenraum wird nun der uneinsehbare Raum, der im Dunklen liegt, das Off. Das Off ist zugleich der Operationsraum des Theaters in der Box. Kein Lichtstrahl dringt von außen in diesen Innenraum. Alle Darstellung braucht nun einen inhärenten Lichtoperator.42 Dieser liegt in der Dunkelheit und setzt von hier aus in Szene. Als Innenraum ohne Außen wird die Black Box im Innenraum ohne Möbel sichtbar.

9. B LACK B OX

SPIELEN

Sichtbar wird also das Operationszentrum der Illusion, das in einer buchstäblichen Dunkelheit liegt. Die Dunkelheit ist der Schauplatz, an dem wir uns in einer Black Box befinden. Becketts Endspiel-Vorspiel bezeugt diesen Raum, an den es die Regieposition bindet. Dieser Raum lässt sich nicht leugnen. Der Topos der leeren Bühne ist also nicht nur für die Aufführungs-, sondern auch für jede Probensituation phantasmatisch (und Voss/Hamm kommentiert das Bühnenbild der leeren Bühne mit: »Wir haben gar nichts.«): Die Black Box schreibt sich in jede

40 Ebd., S. 316f. 41 Ebd., S. 318. 42 Vgl. ebd.

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theatrale Darstellung auf einer solchen Bühne ein. Die Lichtregie unterwandert auch die taborische »leere Bühne«: Gegen Ende des Stücks färbt sich das Licht blau, die Lichtfläche wird kleiner und statt des mit Kreide aufgezeichneten Bühnenbildes ist nur noch die Figur des Voss/Hamm im Spot. Kirchner/Clov geht ab, indem er in Dunkelheit getaucht wird. Die Spielfläche wird hier nicht mehr vom Komiker-Duo, sondern vom Licht beherrscht. Becketts Inszenierung dagegen reflektiert die Lichtregie im Schlussbild, das die Schauspieler nicht mal zum Applaus aus ihrer Szene entlässt: »Nein, keine Vorhänge! […] Nur das Licht solle nach dem Blackout ein paar Mal aufblenden, wobei Hamm und Clov in ihren letzen Positionen unbeweglich bleiben müssten, Nagg und Nell sich nicht mehr zeigen dürften ›Keine Gänge, keine Verbeugungen.‹«43 Der Einsatz des Endspiels ist es, die Dunkelheit als solche anzuerkennen und sich mit diesem ›InSzene-Setzer‹ zu konfrontieren. Nicht, indem ein metatheatrales Spiel diesen zu erhellen versucht, sondern indem die Metatheatralität darin besteht, sich selbst wieder auszustreichen: Das Bühnenzimmer und seine Implikationen werden dadurch sichtbar, dass sie als solche anerkannt werden; allerdings in Reibung zu einer Schauspielästhetik, die ein solches Bühnenbild nicht bedient und sie somit markiert. Die Programmatik des Endspiel-Vorspiels besteht also darin, die Black Box zu markieren. »Das Stück lässt sich nur im Spiel erfahren. Es ist unmöglich außerhalb der Bühne darüber zu reden«,44 betont Beckett mit Nachdruck. Hier werden zwei Dinge offenbar: Zum einen braucht das ›Black-Box-Spielen‹ einen Bühnenraum, zum anderen ist das Markieren eine Operation des Spielens. Markieren ist eine Spielweise, die zwar (mit-)spielt, aber nicht ausspielt. Insofern ist sie immer schon Reflektion des Spiels. Mit dem Himmel-und-HölleSpiel hat Tabori hierfür eine Metapher gefunden. Diese Spielvorlage ist eine Verkehrung der barocken Vertikalbühne in die Fläche. Der Bühnenhimmel und die auf der Unterbühne verortete Hölle waren oberhalb und unterhalb der Spielfläche Reflektoren des Off. »Diese Vertikale stützt sich auf die uneinsehbaren Räume unter- und oberhalb der Bühne.«45 Himmel und Hölle sind die einzigen Vektoren an ein Außen, die über die vier Wände der Probebühne hinausweisen. Sie stellen einen Außenraum heraus, dieser bleibt aber absenter Referenzraum. Auf den fehlenden Referenzraum ins »Nichts« werden Vektoren gesetzt, die als Vektoren obsolet werden. Die Dunkelheit kann man nicht beleuchten. Man muss sie immer über die Lichtflächen erfahren.

43 Haerdter, »Samuel Beckett inszeniert das Endspiel« (wie Anm. 7), S. 79. 44 Ebd., S. 55. 45 Haß, Das Drama des Sehens (wie Anm. 22), S. 321.

Die Entstehung des Neuen

»Etwas oder Nichts« Beckett und die Materie der Sprache* L AURA S ALISBURY

In der Hoffnung, es könnte Interesse finden, sandte Lawrence Shainberg 1981 ein Exemplar seines Buchs über Neurochirurgie an Samuel Beckett. Zur Überraschung Shainbergs antwortete Beckett beinahe sofort, und auch danach staunte er immer wieder, mit welcher Begeisterung und Ausführlichkeit sich Beckett bei jeder Begegnung nach der Tätigkeit des Neurochirurgen erkundigte: »Jedes Mal wenn ich ihn traf, kam er auf die Neurochirurgie zu sprechen und wollte beispielsweise wissen, wie nahe am Hirn ich bei der Beobachtung einer Operation gestanden hatte oder wie schmerzhaft eine Kraniotomie ist, und einmal fragte er bei Proben in der Mittagspause: ›Wie entfernt man Schädel?‹ und ›Wohin legt man den Schädelknochen, wenn im Schädelinneren gearbeitet wird?‹«1

Vielleicht handelte es sich dabei um nichts anderes als die Neugier eines interessierten Laien. Becketts Fragen erhalten jedoch eine besondere Bedeutung, da er Shainberg gegenüber auch von einer klaren Verbindung zwischen dem, was man als Metaphorik der Kraniotomie bezeichnen könnte, und seiner eigenen Schreibpraxis sprach. In seiner schriftlichen Antwort auf Shainbergs Buch schrieb

*

Die englische Fassung von Laura Salisburys Aufsatz »›Something or Nothing‹: Beckett and the Matter of Language« ist erschienen in: Daniela Caselli (Hrsg.), Beckett and Nothing. Trying to understand Beckett, Manchester: Manchester University Press, 2010, S. 213-236. Die Herausgeber danken Laura Salisbury und Manchester University Press für die freundliche Genehmigung des Abdrucks der Übersetzung.

1

Lawrence Shainberg, »Exorcising Beckett«, in: Paris Review 104 (1987), S. 102.

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Beckett unmissverständlich: »Ich glaube schon lange, dass die größte Chance des Schriftstellers eigentlich im Blick in den synaptischen Abgrund liegt.«2 Wenn Beckett tatsächlich davon überzeugt war, dann ist auch die Frage interessant, seit wann er die Vorstellung hegte, die größte Chance des Schriftstellers läge im Gehirn, in der Kluft zwischen den chemischen Synapsen – jenen spezialisierten Verknüpfungen, an denen die Zellen des Nervensystems über Neurotransmitter, die sich zwischen ihnen bewegen, einander Signale übermitteln. Richtet man erst einmal den Blick auf Becketts Faszination für den Schädelinnenraum und die darin zu findende, merkwürdig materielle und möglicherweise sogar neurologische Vorstellung von Sprache, dann lässt sie sich offenbar bis ins Werk der 1930er Jahre zurückverfolgen. Selbstverständlich steht hinter den Bildern von der harten Schädeloberfläche in Becketts Texten nichts anderes als Worte – sprachliche Materie, die Schädelinnenleben, Kopfverletzungen und eine von Läsionen und Störungen gezeichnete Äußerungsweise beschreibt. Dennoch ist hier eine seltsame Übertragung am Werk, eine Hin- und Herbewegung, in der Sprache zwar das imaginierte Aussehen eines zwanghaft kraniellen Raums gestaltet, ästhetisch aber anscheinend an Bedeutungsformen gebunden ist, die von dem Wissen untergraben werden, dass sie aus einem in seiner Materialität anfälligen Gehirn hervorgehen. Aus jener besonders produktiven, aber so störanfälligen Lücke zwischen den Synapsen, aus diesem Raum, der vielleicht ganz un-dinglich ist und nur eine Verbindung bildet (aus syn »zusammen« und haptein »greifen«), erscheint ein Raum der Hervorbringung von Sprache, der viel mehr ist als nur eine Absenz. Ein naheliegender Grund, warum der bekanntlich allen Ideen von Negation, Schweigen und Pause so zugetane späte Beckett gerade von der Funktion der Synapse und der Leere zwischen den Neuronen so fasziniert war, ist der, dass der synaptische Spalt – wenn man seine neurologische Funktion beschreibt – trotz fehlender materieller Grundlage nicht einfach ein »Nichts« ist. Als Charles Sherrington 1897 den Begriff »Synapse« prägte, wollte er die Vorstellung überwinden, Nervenimpulse würden im Gehirn von einer erregbaren Zelle zur nächsten über ein vollständig zusammenhängendes Geflecht von Fasern übertragen.3 Stattdessen ging er von einem Spalt aus, der es chemischen Neurotransmittern erlaube, in den benachbarten neuronalen Rezeptoren bestimmte Umweltbedingungen zu schaffen und so die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass in diesem Neuron elektrische Impulse ausgelöst werden. Damit ist dieser Spalt zwar immateriell, ist aber die Grundbedingung dafür, dass Botschaften und Informationen erzeugt werden können, dass all das »Etwas«, aus dem das menschliche Subjekt 2

Ebd.

3

Vgl. Don Todman, »Synapse«, in: European Neurology 61 (2009), S. 190f.

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seine Beschaffenheit erfährt, überhaupt erst entstehen kann. Dies ist der Spalt der Übertragung von Materie in etwas über das Materielle Hinausweisende. Der Gedanke einer produktiven Leere, die als Hintergrund von Bedeutung fungiert und in den Zwischenräumen materieller Präsenz zu finden ist, steht – so das Argument hier – im Zentrum von Becketts Ästhetik. Denn obwohl in dessen Werk stets eine Faszination für das Schweigen und die in Worten, Bildern und der Gestalt von Körpern und Objekten ausgedrückte Absenz mitschwingt, kann es außer den aus vorhandenem Material konstruierten und verorteten Formen kein »Nichts« geben, das als »Werk« gelten könnte. Dies besagt mehr als das lediglich Selbstverständliche – nämlich dass Becketts Werk aus den vorliegenden Texten besteht, aus dem gedruckten oder gesprochenen Wort und den auf der Bühne gezeigten Körpern und Objekten, und nicht aus einem imaginierten und idealen Zustand der Stille, auf die für manche sein Werk verweist. Dies besagt auch, dass es in Becketts Werk vor allem darum geht, den materiellen Rahmen dessen, was in Texten da ist, dazu zu verwenden, um Lücken, Auslassungen und Schweigen, die auf seltsame Weise durchlässig werden, zu bestimmen und zu konstruieren; überall scheint Präsenz in sie einzufließen, sie fruchtbar zu machen und mit Bedeutung zu füllen. Denn es sind bedeutsame Leerstellen, in denen zwischen Präsenz und Absenz ständig Information ausgetauscht wird; statt hermetisch verschlossene Räume des Nichts sind es Leerstellen, in die die Bedingungen zur Bedeutungserzeugung eindringen und sie ausfüllen. Hier soll gezeigt werden, dass dieses Zur-Sprache-Kommen einer auf besondere Weise körperlichen und materiell produktiven Leere, die zum Entstehen von Sprache und Denken beiträgt, auch selbst nicht aus dem Nichts – aus der Immaterialität von Becketts einzigartigem Genie – kommt. Vielmehr scheint es, als enthülle der »synaptische Abgrund« einen bezeichnenden Aspekt einer Idee von Sprache und Bedeutung, deren Ursprung aus einer Leere heraus, die durchschwirrte Voraussetzung für eine Verbindung ist, erlebt wird. Denn der »synaptische Abgrund« ist eine ganz besondere Art von Nichts, der sich in einen geistesgeschichtlichen Kontext stellen lässt, in dem Sprache, Kognition und die ihnen gestützten Subjektivitäten als Erzeugnisse von im Wesentlichen materiellen neuronalen Prozessen umgedeutet werden. Versetzt man Becketts Fixierung auf quälend und manchmal hoffnungslos fruchtbare materielle Leerstellen zurück in diesen Kontext, so dürfte es wenig überraschen, dass sie in einen komplexen Austausch mit der Arbeit der Bedeutung tritt, deren Ursprung sich im Inneren des Kraniums verorten lässt – in einem materiellen Gehirn, das als Sprache absondernd vorgestellt wird. Im Schädel findet Beckett sowohl einen Raum für die Vorstellung, Schreiben und Subjektivität seien an eine besondere und absonderliche Materialität gebunden, als auch eine Möglichkeit zu denken, linguis-

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tische Signifikation entspränge aus den historisch determinierten Begriffen der »unsichtbaren Wechselfälle«, durch die Materie in Bedeutung übersetzt wird.4

1. S CHÄDELLANDSCHAFTEN

UND

H OHLKÖPFE

Die Faszination für die innere Schädellandschaft in Becketts Spätwerk ist gut bekannt. Eine Reihe von Prosatexten aus den 1960er Jahren, deren Handlungsort so weit abstrahiert ist, dass nur sehr wenige Einzelheiten und kein realer Ort erkennbar werden, beschreiben seltsame intrakranielle Räume. In »Ausgeträumt träumen« sind Körper in einen Raum gesperrt, der sie zwanghaft imaginiert. Dieser Raum wird als »Rundbau, ganz weiß« beschrieben, doch seine Wände könnten eher die eines Schädels als die eines Bauwerks sein, denn »es tönt, wie Bein in den Träumen tönt«.5 Vermutlich ist es mehr als nur glückliche Fügung, dass »Aus einem aufgegebenen Werk«, »Ausgeträumt träumen«, »Bing« und »Schluss jetzt« – in dem die Erinnerungen des Subjekts hartnäckig als »Lichtschimmer im Schädel«6 fortbestehen – 1967 auf Französisch und versammelt unter dem Titel Têtes-mortes, tote Köpfe, erschienen. Offenkundig hat dieses Interesse an dem Raum im Innern des Schädels und dessen Öffnungen zur Welt – »den ganzen inneren Raum, den man nie zu Gesicht bekommt, das Gehirn und das Herz und die anderen Höhlengänge, wo Gefühle und Gedanken ihren Hexensabbat feiern«,7 wie es in Molloy heißt – auch in Becketts früherem Werk Spuren hinterlassen. Christopher J. Ackerley und Stanley E. Gontarksi halten die Architektur des Kraniums im gesamten Werk für so bedeutsam, dass sie einen Abschnitt ihres Companion to Beckett mit »Schädel« überschreiben.8 Neben vielen anderen Beispielen führen sie an, dass dem Erzähler in Malone stirbt scheint, er sei zum Gehirn geworden, dass er »in einem Kopf [ist] […], dass diese acht,

4

Beckett hielt die Wendung »unsichtbare Wechselfälle der Materie« in seinem Notiz-

5

Samuel Beckett, »Ausgeträumt träumen«, in: ders., Dante und der Hummer. Gesam-

buch zu Whoroscope fest. Reading University Library MS 3000/84. melte Prosa, aus dem Französischen und Englischen von Elmar und Erika Tophoven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S. 204-207, hier S. 204. 6

Ders., »Schluß jetzt«, in: ders., Dante und der Hummer (wie Anm. 5), S. 208-215, hier S. 208.

7

Ders., Molloy. Werke III, 1, aus dem Französischen von Erich Franzen, Frankfurt

8

Vgl. Christopher J. Ackerley, Stanley E. Gontarski, The Grove Companion to Beckett,

a.M.: Suhrkamp, 1976, S. 11. New York: Grove Press, 2004, S. 530f.

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nein, sechs, dass diese sechs Wände aus massivem Bein bestehen«,9 während einer der »Stellvertreter«10 des Namenlosen auf ähnliche Weise Trost sucht, indem er sich vorstellt, »allseitig von festem Gebein umgeben zu sein«.11 Dieses Gebein, das zu einem Schutzschild werden könnte, undurchdringlich für die Exteriorität der »Gedanken eines anderen […], der meinen Himmel mit harmlosen Funken niedersäbelt und mich mit seinem Unken bedrängt, das nichts bedeutet«,12 scheint das Begehren zu verzeichnen, dass der Schädel eine letzte Zuflucht sei (»crâne abri dernier«13). In Der Namenlose gibt es sogar die Wunschvorstellung, der Kopf könne eine Art Kern werden, etwas Solides und Essenzielles: »Doch, ein[en] Kopf, aber aus Bein, ganz aus Bein, in dem man verborgen, wie ein Fossil im Stein.«14 Vielleicht besteht die Hoffnung, dass sich in diesem soliden denkenden Kopf ein stabiles sprechendes Subjekt finden ließe, etwas, das zumindest so substanziell ist, dass es die textliche Spekulation beenden kann. Aber wenn dies so ist, besteht die Notwendigkeit, die »triefenden Höhlen« des »Stellvertreters« zu »verstopfen«, damit er »rund, fest und rund [ist] […] ohne Rauheiten, ohne Öffnungen«.15 Natürlich ist diese Hoffnung vergeblich: Nichts in diesem Text erscheint je ganz als es selbst. Mit kleinen Atemzügen dringt vielmehr Sauerstoff in diesen versiegelten Raum und erzeugt die verschiebenden und paradoxalen Effekte einer krankhaft nach Luft schnappenden Sprache: »Luft, Luft, ich werde Luft suchen, Luft in der Zeit, die Luft der Zeit, im Raum, in meinem Kopf, so werde ich weitermachen können.«16 Das Dilemma, über das »Ich« etwas oder überhaupt nichts sagen zu können, ist wie »harte, hohle Nüsse zu knacken«,17 und in der Tat scheint es einleuchtend, dass gerade dieses Nüsse Knacken – das Eindringen in das Kranium, das sich tiefer und weiter ins Innere Bohren – intuitiv näher an ein Zentrum fassbarer und stabiler Subjektivität führt. Doch der geöffnete Schädel bietet nur ein Mehr an Sprache und Informationen, die hinein- und hinausgelangen, während das innere 9

Samuel Beckett, Malone stirbt. Werke III, 2, aus dem Französischen von Elmar Tophoven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976, S. 303.

10 Ders., Der Namenlose. Werke III, 3, aus dem Französischen von Elmar Tophoven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976, S. 429. 11 Ebd., S. 478. 12 Ebd. 13 Ders., »Poème 1974«, in: ders., Poems 1930-1989, London: Calder Publications, 2002, S. 62. 14 Ders., Der Namenlose (wie Anm. 10), S. 536. 15 Ebd., S. 416. 16 Ebd., S. 536. 17 Ebd., S. 425.

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Material in erschreckender Weise anwächst. Gelangt man in den Kopf, dann eröffnet sich kein glatter leerer Raum, eine Höhle, in der nichts ist und auf deren Wände sich immaterielle Schatten projizieren ließen, obwohl auch sie nicht solide und substanziell ist; stattdessen beult Materie den Kopf aus. Der Schädel des Schutzmannes, der in Mercier und Camier (1946 begonnen) eingeschlagen wird, macht und erhält einen »Eindruck« genau wegen seiner hoffnungslosen Materialität, der kalten Festigkeit des offengelegten Gehirns wie »ein hartgekochtes Ei«.18 Auf ganz ähnliche Weise verweigern sich die ständig umgeformten Schädel in Der Namenlose, feste Gefäße zu sein – Behältnisse für einen leeren Raum, in dem sich die Vorstellungskraft in einsamem Vergnügen ausleben kann –; stattdessen wird das Kranium durchbohrt und die Löcher darin »schwimmen« und lassen nachdenklich Tränen heraustropfen »wie flüssig gewordenes Hirn«,19 während sie zu Übermittlungsorten werden, an denen Eindrücke aufgenommen und Ströme einer Sprache entfesselt werden, die von der Intention kaum beherrscht wird. In Traum von mehr bis minder schönen Frauen spricht auch Belacqua von dem Verlangen, den Geist als abgeschlossenen Rückzugsort zu erfahren: »Der Geist, verdunkelt und halblaut wie ein Krankenzimmer, wie eine Grabkapelle, gedrängt voller Schatten: der Geist am Ende sein eigenes Asyl, interesselos, gleichmütig […]; der Geist, plötzlich begnadigt, hat aufgehört, ein Anhang des ruhelosen Lebens zu sein, das Blendlicht des Verstehens ist ausgeschaltet. Die Lider des heftig schmerzenden Geistes schließen sich, da herrscht im Geiste plötzlich Finsternis; nicht Schlaf, noch nicht, noch Traum, mit seinem Schweiß und Schrecken, sondern wache, ultrazerebrale Obstinanz […].«20

Aber diese »Vorhölle, woraus der Mistral der Begierden abgezogen ward«, dieser »verdunkelte Geist, der versargsackt ist«,21 hat keinen Bestand. Ansichten und Geräusche sickern und dringen durch die Schädelöffnungen ein und stören den Frieden seines Solipsismus. Und in der Entstehungszeit der Romantrilogie kann die Reinheit des als Monade vorgestellten Geistes dann nicht mehr überzeugen; stattdessen wird der Geist sehr oft auch von Gehirn und Körper er- und zersetzt. Der Raum innerhalb des Kopfes ist nicht mehr autark, ein fensterloser 18 Ders., Mercier und Camier. Werke II, 3, aus dem Französischen von Elmar Tophoven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 577. 19 Ders., Der Namenlose (wie Anm. 10), S. 400. 20 Ders., Traum mehr bis minder schönen Frauen, aus dem Englischen von Wolfgang Held, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996, S. 62. 21 Ebd., S. 63f.

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Rückzugsort, von jeder Verbindung zur Außenwelt abgeschnitten. Stattdessen ist der Kopf ein löchriges Behältnis für eine aufsässige Substanz, die Eindrücke aufsaugt und reflektiert Sprache absondert, sodass der Text ganz sicher von einem klar intendierenden oder immateriellen Geist, der gegenüber der Welt seine eigenen Vorhänge zuziehen könnte, entkleidet ist.

2. K OPFVERLETZUNGEN In gewisser Hinsicht überrascht es kaum, dass die Faszination für den Kopf und das, was ein Eindringen in ihn bedeutet, in der Romantrilogie, die vor allem von der Unbeständigkeit der Sprache und ihrer Beziehung zum Selbstverständnis des Subjekts handelt, weiter sehr groß ist. Denn Beckett schrieb sie in einer Zeit, in der man erst seit Kurzem wusste, dass sich die Problematik von Kognition und Sprache und die damit verbundenen Verwerfungen der Subjektivität in der Materialität des Kopfes und sogar in bestimmten Hirnarealen verorten ließ. In Traum von mehr bis minder schönen Frauen spielt ein rhythmisierter Halbreim auch darauf an, dass bei einer Redekur eher das Gehirn als die Seele oder sogar der Geist berührt wird; dort ist die Rede von einem »Thalamus […], der bei Tag sich zur Psychoanalyse zusammenfaltet«.22 Wie an anderer Stelle gezeigt, lassen sich die Faszination für Sprachverfall und die Deformationen von Ausdruck, Erinnerung, Kognition und mentaler Aktivität in Becketts Werk durchaus zum neurologischen Symptomenkomplex der Aphasie in Bezug setzen.23 An Becketts Schreiben ist spürbar, dass man damals wieder anfing, die Sprachproduktion als materiell bedingt und im Gehirn verortet zu denken. Denn nach den 1860er Jahren war die Frage, ob Sprache in der Materialität des Gehirns erzeugt und repräsentiert werde, fast vollständig aus dem medizinischen Diskurs verschwunden; stattdessen beschränkte man sich auf die exakte Beschreibung und Modellierung des Verhältnisses von Physiologie und Funktion.24 Das Sprachvermögen, das man im 18. und 19. Jahrhundert üblicherweise dem immateriellen Teil des Menschen, seiner unausgedehnten Seele, zuschrieb, wurde zunehmend als etwas verstanden, das sich aus untersuchbaren anatomisch-physiologischen Vorausset-

22 Ebd., S. 190. Im Original: »a thalamus that by day folds up for psycho-analysis«. 23 Vgl. Laura Salisbury, »›What is the Word‹: Beckett’s aphasic modernism«, in: Journal of Beckett Studies 17 (2008), S. 78-126. 24 Vgl. dies., »Sounds of silence: aphasiology and the subject of modernity«, in: dies., Andrew Shail (Hrsg.), Neurology and Modernity. A Cultural History of Nervous Systems, 1800-1950, Basingstoke: Palgrave McMillan, 2009, S. 204-230.

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zungen ergab – Voraussetzungen, die nur zu leicht durch Wunden und Verletzungen beeinträchtigt und verändert werden konnten. Obwohl die Vorstellung, das Gehirn sei der materielle Sitz von Sprache und den meisten höheren geistigen Funktionen, sich im 20. Jahrhundert allmählich durchsetzte, kannte Beckett durch seine Lektüre von Robert S. Woodworths Contemporary Schools of Psychology in den Jahren 1935-36 auch die spezielle Forschung zur Hirnfunktion. So exzerpierte er aus Woodworth Passagen über den Neurologen Shepherd I. Franz, der an einer Kartierung der »sensorischen und motorischen Areale des Kortex [arbeitete und] eine Lokalisierung der höheren Hirnfunktionen [versuchte]«.25 Beckett könnte auch erfahren haben, dass der Höhepunkt, den die Forschung zur Lokalisierung der höheren Hirnfunktionen in den 1920er Jahren erreichte, eindeutig von einem historischen Ereignis befördert worden war. So meinte Woodworth, dass der »Weltkrieg mit seinen unzähligen Schuss- und Schrapnellverletzungen, die auf kleine, eng umrissene Stellen des Kortex begrenzt waren, vielfältige Möglichkeiten zur Überprüfung dieser Schlüsse bot«26 und es die nahezu fabrikmäßige Erzeugung von relativ begrenzten Kopfverletzungen erlaubte, die von eindeutig feststellbaren Eintrittsstellen im Schädel ausgehenden Beeinträchtigungen auf dem Kortex zu verzeichnen. Damit hatte der Krieg die empirische Überprüfung des Zusammenhangs zwischen Hirnverletzung und symptomatischer Ausprägung herbeigeführt, die sich auf experimentellem Wege nicht an Menschen belegen ließ. Sechzig Jahre bevor die Computertomografie die Abgeschlossenheit des Schädels beendete, hatten penetrierende Schädeltraumata »natürliche« Experimente über die Beschädigung von Sprache ermöglicht; anhand von Kopfverletzungen ließen sich Gestalt und Deformation einer klar materiell bedingten Sprache und eines ebenso beeinträchtigten Subjektseins beobachten. Es ist also kein Zufall, dass in Becketts Werk Experimente mit entfremdeter Sprache und Subjektivität immer wieder in Verbindung zu Bildern kranieller Penetration, eines Eindringens in jenes abgekapselte Knochengehäuse unter der Haut, stehen. In seiner späten Prosa und Lyrik ist der Schädel eine einigermaßen eindeutige Grenze und umschließt ein Innen, das die textuelle Stätte des Experiments ist; mit chirurgischer Präzision kann der Erzähler ein sauberes Loch in den Knochen bohren, um das Innenliegende zu untersuchen. In »Ausgeträumt träumen« beispielsweise führt »kein Eingang« in den Rundbau, dennoch besteht der Zwang »hinein, messen«,27 der Zwang, die Umrisse dessen, was innen ist, zu be25 Trinity College Dublin 10971/7/10. 26 Robert S. Woodworth, Contemporary Schools of Psychology, London: Methuen & Co. Ltd., 1931, S. 90. 27 Beckett, »Ausgeträumt träumen« (wie Anm. 5), S. 204.

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stimmen und das innere Wirken von Perzeption, Repräsentation und Affektivität in den Blick zu nehmen und ans Licht zu bringen. Doch in der Romantrilogie und dem Werk davor gewährt der Schädel nicht so leichten Zugang. Die chirurgische Präzision, die für eine Kraniotomie und den Blick auf das Funktionieren des lebenden Gehirns erforderlich ist, scheint auf der ästhetischen Ebene nicht zur Verfügung zu stehen; stattdessen kann man, wie Woodworth zum neurologischen Blick zu Kriegszeiten anmerkt, dort nur auf sehr gewaltsame Weise in den lebendigen Kopf gelangen. Eine der erstaunlichsten Behauptungen des Erzählers in Malone stirbt ist, er lebe vielleicht in »einer Art Koma«. Er scheint sich schwach an Ereignisse aus dem früheren Molloy zu erinnern und fragt sich, ob man ihn vielleicht »halb totgeschlagen [habe], in einem Wald vielleicht […]«.28 Die an Molloy erinnernde »Kreatur«, die Malone als Protagonisten seiner Geschichten erfindet, trägt ebenfalls einen Hut, und der ist »hart wie Stahl, mit schmaler eingerollter Krempe, [und] hat am Hinterkopf einen breiten Spalt, der wahrscheinlich dazu bestimmt ist, die Aufnahme des Schädels zu erleichtern«.29 Für Lemuel, die Mörderfigur, die den armen und behinderten Malone pflegt, hat eine Kopfverletzung, die er sich selbst zufügt, sogar angenehme Seiten: »Aber der Teil, auf den er am liebsten einschlug, mit ebendemselben Hammer, war der Kopf, […] denn er ist auch ein knöcherner, empfindlicher und leicht zu erreichender Körperteil, und ebendarin stecken alle Zoten und Schweinereien, also schlägt man darauf noch lieber als beispielsweise auf das Bein, das einem nichts getan hat, das ist menschlich.«30 Demnach ist es das Kranium, der jüngst entdeckte Sitz »alle[r] Zoten und Schweinereien«, der dauerhaft zur Stelle von Becketts experimenteller Verletzung wird. Selbstverständlich benötigen Becketts Charaktere noch weitere Verletzungen, so wie sie noch weitere Löcher im Kopf benötigen: Kopfverletzungen sind nur ein Eintrag auf der Liste der Wunden, Behinderungen und Verstümmelungen, die sie ertragen müssen und vielleicht sogar genießen. Das häufige Auftauchen gewaltinduzierter Kopfverletzungen in Becketts Texten dieser Zeit ist jedoch besonders auffällig, weil die Folgen penetrierender Schädeltraumata ebenfalls zur Sprache kommen. Als textliche Experimente scheinen diese Werke die artikulatorischen, kognitiven und perzeptiven Defizite durchzuspielen, die sich als Entsprechung einer durch Penetration des Schädels verursachten neuronalen Schädigung lesen lassen. Doch innerhalb dieses Krankheitsbildes werden

28 Ders., Malone stirbt (wie Anm. 9), S. 252f. 29 Ebd., S. 312. Das Notizbuch zu Malone meurt enthält auch eine Zeichnung von einem Kopf, in dem anscheinend ein kleines Beil oder ein Hammer enthalten ist. 30 Ebd., S. 366.

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Sprache und Subjektivität trotz ihrer Verstümmelung und Umgestaltung signifikanterweise nie auf ein Nichts reduziert. Aphasie lässt sich laut Oxford English Dictionary (OED) – etwas unbefriedigend – als »der durch Störung des zerebralen Sprachzentrums erfolgte, teilweise oder vollständige Verlust der Fähigkeit, die geschriebene oder gesprochene Sprache zu verstehen«, definieren. Die Betonung des Verlusts, der Vernichtung von Sprachvermögen in dieser Definition entspricht der Aphasiologie klassischer Lokalisationisten wie Carl Wernicke. In den 1870er Jahren schuf Wernicke Modelle und Diagramme, die Sprache als Prozess einer rein mechanischen Kommunikation von senso-motorischen Einheiten über »ohne Unterbrechung verlaufende[] Fasern« im Gehirn interpretieren. Eine Schädigung entsprach demnach einer Verneinung: »Denken wir uns den alten Buchstabentelegraphen, so sprechen gewisse Buchstaben des abgebenden Apparates nicht an und fallen aus, während die anderen Buchstaben erhalten sind und so immer dieselben Verstümmelungen sich wiederholen.«31 Aber die Komplexität der aphasischen Störung, die sich nicht so einfach in Wernickes Gegenüberstellung von definitiv lokalisierten Läsionen und relativ vorhersehbaren Symptomen abbilden ließ, erforderte komplexere Erklärungen der Sprachentstehung als sich aus dem primitiven Beschießen einzelner Punkte auf dem Kortex ableiten ließ. Denn wie die Lexikondefinition besagt, führt die aphasische Störung sehr selten zur völligen Wortlosigkeit, die zu erwarten wäre, wenn es ein als Ganzes lokalisierbares Sprachzentrum gäbe. John Hughlings Jackson hat 1897 als erster bemerkt, dass die aphasische Störung sich nicht in völligem Schweigen oder Wortlosigkeit manifestiere; stattdessen sei sie eine Form propositionaler Sprachlosigkeit, bei der die emotionale (die automatischere) Sprachebene erhalten bleibe, intellektuelle (eher willensgesteuerte) sprachliche Funktionalitäten dagegen verloren gingen.32 Der Neurologe Kurt Goldstein, der nach dem Ersten Weltkrieg vorwiegend mit Soldaten arbeitete, bemerkte anerkennend, Jackson habe als Erster erkannt, dass die aphasische Rede zwar gestört und verschoben sei, gleichwohl aber vorhanden: »Die Patienten erleiden keinen Wortverlust, die Worte stehen ihnen nur nicht für die höheren Funktionen propositionaler Äußerungen zur 31 Carl Wernicke, »Ueber die motorische Sprachbahn und das Verhältnis der Aphasie zur Anarthrie« (1884), in: ders., Gesammelte Aufsätze und kritische Referate zur Pathologie des Nervensystems, Berlin: Verlag von Fischer’s medicinischer Buchhandlung H. Kornfeld, 1893, S. 71-91, hier S. 76f. 32 Vgl. John Hughlings Jackson, »On affectations of speech from disease of the brain« (1897), in: Paul Eling (Hrsg.), Reader in the History of Aphasia. From Franz Gall to Norman Geschwind, Amsterdam: John Benjamins, 1994 (= Classics in Psycholinguistics; 4), S. 145-167, hier S. 152.

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Verfügung, d.h. für manche speziellen Zwecke des Individuums. Für Jackson ist die Aphasie Ausdruck eines Defekts einer grundlegenden geistigen Funktion, ähnlich dem was ich später abstrakte Haltung genannt habe.«33 Obwohl Woodworth Goldstein nicht erwähnt, bezeugt Contemporary Schools of Psychology eine große intellektuelle Nähe zu der von der Gestaltpsychologie herkommenden Ansicht des deutschen Klinikers, das Gehirn sei keine körperliche Schreibmaschine, deren Tasten so kaputt sein können, dass sie spezifische und reproduzierbare Fehler in der Botschaft erzeugen. Woodworth impliziert, dass bestimmte Areale im Kortex nicht entsprechend dem mechanischen Zusammenhang der Reflexbögen feuern, so wie klassische Aphasiologen, wie Wernicke, vermutet hatten; vielmehr »arbeitet [das Gehirn] in weitausgreifenden Mustern oder dynamischen Systemen statt in klar lokalisierten Zentren«.34 Tatsächlich versichert Woodworth (und das wird von Beckett exzerpiert), das Gehirn arbeite nach einem »Prinzip der Äquipotentialität – jeder Teil des Kortex (außer den motorischen und sensorischen Arealen) gleicht potenziell allen anderen in seiner Fähigkeit, an einer Art gelernter Tätigkeit teilzuhaben […] der Kortex agiert als ein Ganzes«.35 Dies erklärt für Goldstein die Komplexität der aphasischen Störungen, da das Gehirn Verschiebungen hervorbringt, die »positiv« wirken und mit einer Neuorientierung der Funktion zusammenhängen, statt bloß Zeichen von Verlust und Verneinung zu sein. Die Gestaltpsychologie bemühte sich um eine Neuformulierung der klassischen mechanistischen Vorstellung des Gehirn-Geist-Problems, indem sie anhand des psychophysischen Apparates und mittels experimenteller Psychologie empirisch zeigen wollte, dass die gelebte Realität nicht zufällig durch die Erzeugung, Wahrnehmung und anschließende Ordnung bedeutungsloser Elemente in einem mechanisch assoziierenden Gehirn hervorgebracht wurde. Stattdessen war das menschliche Gehirn so konstruiert, dass seine Funktion sich latent an der Perzeption von Ordnungsmustern orientierte. Goldstein übersetzte diesen Gedanken in eine Theorie der neurologischen Funktion und erkannte aus seiner Beobachtung und Behandlung verwundeter Soldaten, dass die allen Hirnverletzungen zugrundeliegende universelle Störung eine Beschädigung der Fähigkeit war, vor dem Hintergrund eines Meers an Phänomenen Muster und Bedeutung, also Gestalt wahrzunehmen – eine Beschädigung der »Figur-Grund-Funktion«.36 33 Kurt Goldstein, Language and Language Disturbances. Aphasic Symptom Complexes and Their Significance for Medicine and Theory of Languages, New York: Grune and Stratton, 1948, S. 22. 34 Woodworth, Contemporary Schools of Psychology (wie Anm. 26), S. 92f. 35 Trinity College Dublin 10971/7/10. 36 Goldstein, Language and Language Disturbances (wie Anm. 33), S. 5.

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Auch im nichtpathologischen Fall orientierte sich die Sprachverwendung an der Wahrnehmung und Kategorisierung von Gestalt: »Ein Wort erhält seine Bedeutung durch den Kontext, in dem es erscheint; die Bedeutung eines Gedankens ist durch einen weiten kontextuellen Hintergrund konditioniert.«37 Doch hirngeschädigte Sprache entspringt »einem generellen Nivellieren oder Vermengen von Figur und Hintergrund«, was unvermeidlich zu einer Beeinträchtigung der »abstrakten Haltung«38 führt. Was bei der aphasischen Störung tatsächlich beschädigt ist, ist die Fähigkeit der Sprache, in einer vorhersehbar intentionalen, planvollen Weise zu funktionieren – zu affirmieren, was als etwas Wichtiges zu gelten hat und was als nichtsubstanziell in den Hintergrund treten kann. Einige Kritiker sind der Ansicht, Beckett habe in Murphy die gestaltpsychologische Faszination für das »Figur-Grund«-Problem ganz offenkundig parodiert.39 In seinen Woodworth-Exzerpten hält Beckett die gestaltpsychologische Ansicht fest: »Natur strebt nach dem geordneten Ganzen […]. Wegen des fundamentalen Unterschieds zwischen beiden hebt sich die Figur auf natürliche Weise vom Grund ab.«40 Aber in Murphy ist dieses »natürliche« Verhältnis gestört: »Kaum hatte Miss Dwyer […] Neary so glücklich gemacht, wie ein Mann es sich nur wünschen konnte, da wurde sie eins mit dem Hintergrund, von dem sie sich so hübsch abgehoben hatte. Neary schrieb Herrn Kurt Koffka [ein von Woodworth erwähnter und mit Goldstein verbundener Gestaltpsychologe] und bat ihn um eine sofortige Erklärung. Er hatte noch keine Antwort erhalten.«41

Statt einer Antwort, die von einer gemäß der »abstrakten Haltung« funktionierenden Sprache hervorgebracht wird, fallen Figur und Grund in eins und spiegeln den Ordnungsverlust bei einer Hirnschädigung. Wie bei den Äußerungen jener Gehirne, in die sich die Kugeln des Ersten Weltkriegs gebohrt haben, oder den Opfern von penetrierenden Schädeltraumata, die Beckett in der Romantrilogie so gern darstellt, transzendiert sich die Sprache, auf die Beckett in den 1930er Jahren zu verweisen beginnt, nicht ins oder als Schweigen; stattdessen ist es eine Sprache, die an ihre materielle Grenze geschrieben ist. Eine stabile 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Vgl. v.a. Christopher J. Ackerley, Demented Particulars. The Annotated »Murphy«, Tallahassee, FL: Journal of Beckett Studies Books, 2004, S. 34. 40 Trinity College Dublin MS 10971/7/12. 41 Samuel Beckett, Murphy. Werke II, 1, aus dem Englischen von Elmar Tophoven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976, S. 40.

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Bedeutung enthüllt sich als eine Figur, die sich immer nur zufallsbedingt von dem Lärm und dem Unsinn der Geräusche und Signifikanten abhebt, die der sprachliche Urzustand sind und in den sie zurückzufallen droht. Obwohl Lucky in Warten auf Godot die Schweigsamkeit Gottes als »göttliche Aphasie« bezeichnet, erscheint dieser »persönliche[] Gott[] kwakwakwakwa mit weißem Bart kwakwa« in keinem makellosen Schweigen, das Sprache transzendiert;42 stattdessen wird das Wort Gottes verstümmelt, es äußert sich in unverständlichem Quasseln, als lautes »kwakwakwa«, bei dem sich Botschaft und Lärm nicht recht unterscheiden lassen. Luckys Ausdrucksweise kommt verschiedenen Formen aphasischen Sprechens sehr viel näher, als es jedes Schweigen könnte. Denn Lucky, der sich der »abstrakten Haltung«, den Regeln und der scheinbar intentionalen Transparenz des »normalen Sprachgebrauchs« entäußert, stottert eher, wenn er stammelt »der Kopf der Kopf der Kopf der Kopf in Oldenburg«,43 als dass er Worte zu einem Nichts reduziert.

3. D ER

BOHRENDE

B ECKETT

Ein 1937 an Axel Kaun geschriebener Brief gilt als Becketts ausführlichste theoretische Aussage zur Sprache: »Und immer mehr wie ein Schleier kommt mir meine Sprache vor, den man zerreißen muss, um an die dahinter liegenden Dinge (oder das dahinter liegende Nichts) zu kommen. […] Da wir sie [die Sprache] so mit einem Male nicht ausschalten können, wollen wir wenigstens nichts versäumen, was zu ihrem Verruf beitragen mag. Ein Loch nach dem andern in ihr zu bohren, bis das Dahinterkauernde, sei es etwas oder nichts, durchzusickern anfängt – ich kann mir für den heutigen Schriftsteller kein höheres Ziel vorstellen. Oder soll die Literatur auf jenem alten faulen von Musik und Malerei längst verlassenen Wege allein hinterbleiben? Steckt etwas lähmend Heiliges in der Unnatur des Wortes, was zu den Elementen der anderen Künste nicht gehört? Gibt es irgendeinen Grund, warum jene fürchterlich willkürliche Materialität der Wortfläche nicht aufgelöst werden sollte, wie z.B. die von großen schwarzen Pausen gefressene Tonfläche in der siebten Symphonie von Beethoven, so dass wir sie ganze Seiten durch nicht anders

42 Ders., Warten auf Godot. Werke I, 1, aus dem Französischen von Elmar Tophoven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979, S. 46. 43 Ebd., S. 49.

174 | S ALISBURY wahrnehmen können als etwa einen schwindelnden unergründliche Schlünde von Stillschweigen verknüpfenden Pfad von Lauten?«44

Auf den ersten Blick scheint Beckett Stéphane Mallarmés Auffassung von der Unvollkommenheit der Sprache zu teilen, die in ihrem jetzigen Zustand weder in vollendeter Harmonie mit den Dingen zur Übereinstimmung kommen kann, noch – was der etwas misstrauischere Beckett betont – mit dem »Nichts«, auf das die Zeichen hinweisen.45 In »Verskrise« spricht Mallarmé von einer notwendigen »Unruhe des Vorhangs im Tempel mit bedeutungsvollen Faltenwürfen und ein wenig seinem Zerreißen«46 und der Erzeugung eines bedeutsamen Risses im Gewebe der Sprache, worauf Becketts Brief erkennbar anspielt. Doch wo Mallarmé im Zerreißen des Vorhangs eine Wiedergutmachung sieht und sich »entschädigt« fühlt für »den Mangel der Sprachen«,47 beharrt Beckett im Brief darauf, der einzig verbleibende Trost sei, sich »gegen eine fremde Sprache unwillkürlich vergehen zu dürfen«;48 auch sei es ein zwanghafter und unfreiwilliger Akt (das Vergehen ist »unwillkürlich«49), wenn die Zunge in die zarten Hohlräume der Worte gesteckt wird, um sie zu erkunden und ihre Lücken und Spalten zu weiten. Beckett geht also über Mallarmés Metapher des Zerreißens des Vorhangs der Sprache hinaus und will ein »Loch nach dem andern in ihr […] bohren«,50 was eher danach aussieht, als räume er ihre »Unnatur« und »fürchterlich willkürliche Materialität« eher ein als ihre Transzendenz – was die Möglichkeit einer Enthüllung nahelegt. Sowohl bei Mallarmé als auch bei Beckett schwingen im Bild des Vorhangs bzw. Schleiers christliche Vorstellungen vom fleischgewordenen Wort mit, etwa in Hebräer 10, 20. Dort eröffnet Christus einen Eingang in das Heilige, 44 Ders., »Deutscher Brief von 1937«, in: ders., Disjecta. Vermischte Schriften und ein szenisches Fragment, hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Ruby Cohn, aus dem Englischen und Französischen von Wolfgang Held und Erika und Elmar Tophoven, Berlin: Suhrkamp, 2010, S. 73f. 45 John Pilling bemerkt, dass Beckett im Brief auf Mallarmé anzuspielen scheint, auch wenn er den Bezug nicht näher ausführt. Vgl. John Pilling, Beckett before Godot, Cambridge: Cambridge University Press, 1997, S. 153. 46 Stéphane Mallarmé, »Verskrise«, in: ders., Sämtliche Dichtungen. Mit einer Auswahl seiner poetologischen Schriften, aus dem Französischen übersetzt von Carl Fischer und Rolf Stabel, München: Hanser, 1992, S. 277-288, hier S. 278. 47 Ebd., S. 282. 48 Beckett, »Deutscher Brief« (wie Anm. 44), S. 75. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 73.

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»welchen er uns bereitet hat zum neuen und lebendigen Wege durch den Vorhang, das ist durch sein Fleisch«, wobei die Kreuzigung sowohl für ein Zerreißen des Schleiers der Körperlichkeit als auch ein Aufbrechen der Orthodoxie des Tempels als dem einzigen Weg zu Gott steht: »Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke von obenan bis untenaus.« (Matthäus 25, 51) Dass Beckett Löcher in die lähmende Heiligkeit der Sprache bohren wollte, während er an der Elision von Wort und Fleisch festhielt, verweist jedoch auf alles andere als Transzendenzvorstellungen; eher lässt es an sexuelle Penetration denken, was auch zu der Metaphorik des Begehrens passen würde, die sich durch den Text zieht, sowie zu Becketts Forderung, seine Sprache müsse die unzeitgemäße Bescheidenheit eines »Biedermeier Badeanzug[s]«51 ablegen. Aber wenn solche Metaphern zurück in den Raum führen, in dem Sprache sich verkörpert, muss das Instrument zum Bohren von Löchern in das fleischgewordene Wort nicht nur an sexuelles Begehren und Penetration gebunden sein, sondern könnte sich auch auf andere Arten, in das Fleisch einzudringen und das Körperinnere zu erkunden, beziehen. Nichts in Becketts Brief bindet »jene fürchterlich willkürliche Materialität der Wortfläche« – diese Oberfläche, in die Löcher ins Innere zu bohren sind – ausdrücklich an das Gehirn und den es umschließenden Schädel; doch wenn Sprache materiell verstanden wird, ist, wie gezeigt, zu jener Zeit ihr wahrscheinlichster Sitz der Kopf. Man könnte also sagen, dass der Beckett, der seinen eigenen Kopf zwei Jahre zuvor bei Wilfred Bion einer psychotherapeutischen Penetration unterzogen hat, seine linguistische Methode nun nicht mittels analytischer Strukturen umformt, sondern auch durch eine Art textueller Trepanation, bei der eine ausgerenkte Sprache sowohl zum Instrument als auch zur Auswirkung einer experimentellen Kopfwunde wird. Etymologisch an das »Bohren« gebunden (vom Griechischen trypanon), bietet sich die Trepanation als Metapher für Becketts Textexperimente an, die den Gedanken an die Herstellung einer neuen Schädelöffnung zur Wahrnehmung und Artikulation erlaubt, durch die sich ein anderes Selbst als das normative herausbilden und äußern könnte. Obwohl die Trepanation zu verschiedenen medizinischen und mythischen Zwecken durchgeführt wird, stimmen die Berichte tendenziell darin überein, dass ihr Hauptziel eine neue Schädelöffnung ist, weil die vorhandenen Wege hinein oder hinaus aus irgendeinem Grund ungeeignet sind, um etwas – seien es Eiter, Druck, Dämpfe, Geister – austreten oder etwas anderes – Luft, Inspiration, Götter – eintreten zu lassen.52 Der offensichtlichste textuelle Bezug in Becketts Schreiben auf eine 51 Ebd. 52 Vgl. Edward L. Margetts, »Trepanation of the skull by medicine men of primitive cultures, with particular reference to present-day East African practice«, in: Donald R.

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Form ritueller Trepanation findet sich in seinem Exzerpt zu einer lamaistischen tibetischen Praxis in seinem Whoroscope Notebook der frühen 1930er Jahre. Dort hielt er fest: »›[H]ik!‹, gefolgt von ›phat‹ spirituelle Ausrufe [ejaculations], durch die der Geist des Sterbenden den Körper durch ein Loch im Schädel verlässt (sehr wichtig), die Lamas oder der Sterbende selbst, wenn er die Muße dazu hat, ausspricht. Selbstmord durch hik! phat!«53

Die Quelle hierfür ist unsicher, es könnte aber Alexandra David-Néels Magier und Heilige in Tibet sein, das zuerst 1929 auf Französisch erschien. Darin heißt es zu »hik! phat!«, es »ist der vorgeschriebene Ausruf, den der Lama bei einem Verstorbenen erschallen lässt. Die Zaubersilbe verursacht oben am Schädel eine Öffnung, durch die der Geist entweicht und sich vom Körper befreit.«54 DavidNéel schließt daran die gleiche Bemerkung wie Beckett (bei ihm nur ironischer), dass der Lama, wenn er diese Silben ohne die Anwesenheit eines Sterbenden riefe, eine vorzeitige und tödliche Trennung von Geist und Körper herbeiführe. Damit wird die Sprache selbst zum Trepan, zur »Zaubersilbe«, die in bemerkenswerter Verschmelzung von Instrument und Auswirkung ein Loch durch den materiellen Schädel zu bohren vermag.55 Sieht man das Bohren von Löchern vor dem Hintergrund einer Kopfverletzung, dann scheint der »Deutsche Brief« Worte als Mittel einer Penetration zur Erzeugung neuer Öffnungen zu gebrauchen, durch die eine neue, zutiefst nichtnormative Sprache entstehen und sich artikulieren können soll – eine Sprache, die selbst weiter in sich eindringt, sich dabei verzerrt und damit selbst in Verruf bringt. Genau wie die in die leere Schwärze des Theaters gerissene Öffnung in Nicht ich entströmt dem in die Wortoberfläche gebohrten Loch eine Sprache, die vieler ihrer klar intendierenden propositionalen Eigenschaften entkleidet ist. Brothwell, A. T. Sandison (Hrsg.), Diseases in Antiquity, Springfield, IL: Charles C. Thomas, 1967, S. 673-701. 53 Samuel Beckett: Whoroscope Notebook, Reading University Library MS 3000/78. 54 Alexandra David-Néel, Magier und Heilige in Tibet, aus dem Französischen von Ada Ditzen, München: Goldmann, 2005, S. 28. 55 David-Néel merkt an, dass Lamas angeblich erst dann die Fähigkeit zur richtigen Aussprache des »hik!« erworben haben, »wenn ein in ihr Scheitelhaar gesteckter Strohhalm, beliebig lang, darin aufrecht stehen bleibe. In der Tat bewirkt die richtige Aussprache des ›hik‹ eine kleine Öffnung oben in der Schädeldecke, und dahin steckt man den Strohhalm hinein.« Ebd., S. 29.

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Selbstverständlich sind Organ und Äußerungen des Mundes in Nicht ich von einem Überschuss an Materialität und Präsenz gekennzeichnet, die mit Stille nichts zu tun haben. Bei genauerer Lektüre ist jedoch das, was durch die neuen Löcher im »Deutschen Brief« hervortritt, keine Stummheit, sondern das Flüstern einer merkwürdigen beckettschen Form der Stille, die sich eher als Geräusch verstehen lässt denn als dessen Negation, mehr etwas als nichts. Diese »Stille«, die eher der propositionalen Sprachlosigkeit gleicht, wie Hughlings Jackson sie möglicherweise bezeichnet hätte, als der Wortlosigkeit, ist hörbar, sie äußert sich in einem Murmeln, einem »Geflüster der Endmusik oder des Allem zu Grunde liegenden Schweigens«;56 es ist eine Art entstimmter Bedeutung, bei der die murmelnde Interferenz des Ungeordneten, Unbeabsichtigten und Unfreiwilligen hörbar wird. Beckett spricht doppeldeutig, wenn er sich fragt, ob das, was durchsickert, nachdem ein Loch in die Sprache gebohrt wurde, nun »etwas oder nichts« sei. Dieses Zögern ist alles. Denn was aus einer angebohrten Sprache hervorgeht, die sowohl zum Instrument als auch zur verwundeten Auswirkung wird, ist eine »Literatur des Unworts«, in der gerade das, was als etwas gilt und was als nichts, was Figur ist und was Grund, nicht endgültig entschieden werden kann.

4. D IE A RBEIT

DES

A BSZESSES

In einem Brief an Mary Manning, zwei Tage nach dem an Kaun verfasst, wiederholt Beckett, dass man sich gegen die vermeintliche Heiligkeit der Sprache vergehen müsse. Erneut ist das Ziel nicht, Sprache zu entmaterialisieren, vielmehr könnte ihre verkörperte Materialität so sehr gespannt werden, dass die darin eingeschlossene Substanz auszutreten beginnt. »Ich gründe eine Logoklasten-Liga«, schreibt er an Manning. »Momentan bin ich das einzige Mitglied. Die Idee ist zerrissenes Schreiben, damit die Leere hervortreten kann wie eine Hernie.«57 Das Anspannen und die kleinen Risse in der Oberfläche der Worte verursachen, dass sich Gewebe oder ein Organ durch das sie umschließende Muskeloder Hautgewebe hevorwölben. Die Vorstellung einer »Leere«, die wie eine »Hernie« mit der Sprache verbunden ist, lässt eher an eine Druck ausübende,

56 Beckett, »Deutscher Brief« (wie Anm. 44), S. 74 [Herv. von mir, L.S.]. 57 Ders., »Brief an Mary Manning, 11.07.1937«, in: ders., Weitermachen ist mehr, als ich tun kann. Briefe 1929-1940, hrsg. von George Craig, Martha Dow Fehsenfeld, Dann Gunn und Lois More Overbeck, für die deutschsprachige Ausgabe eingerichtet und übersetzt von Chris Hirte, Berlin: Suhrkamp, 2013, S. 581.

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ungewollte und eindringende Präsenz als an eine Absenz denken und assoziiert eine bemerkenswert körperliche und substanzielle Form des Nichts. Angesichts der ständigen Betonung der Materialität der Worte fügt sich Becketts Insistieren auf einem linguistischen Loch zusätzlich zur hervorbrechenden Hernie sehr gut in die von Evelyne Grossman sogenannte Ästhetik des Abszesses, die Beckett in den 1930er Jahren beschäftigt.58 An Zysten, Furunkeln und Herpes leidend und einen entzündeten Finger mit einer Nadel und einer Rasierklinge aufstechend,59 sieht Beckett in jener Zeit Sprache tatsächlich häufiger als etwas, das in Zusammenhang mit den Schwellungen des Unsäglichen und zuletzt dem Aufreißen steht, bei der die Oberfläche des Kunstwerks aufbricht und manchmal auch etwas von hinten hervorbricht. Diese Leere, aus der Sprache hervorgeht, ist wie der synaptische Abgrund keine aride Absenz; hier nimmt sie die Form einer prallen, überfließenden Fruchtbarkeit an. Mercier fragt Camier: »Wie geht es eigentlich deiner Zyste?«; die Antwort lautet: »Sie stagniert […], aber unter der Oberfläche bereitet sich eine Katastrophe vor.«60 1932 scheint der Abszess jedoch für eine andere Art Angst zu stehen, die genau die Kehrseite der ungewollten Akkumulation von unsäglichem, in Gestalt der Hernie verbildlichtem Material ist. Beckett klagt in einem Brief an MacGreevy darüber, dass seine unbefriedigenden Gedichte ihm gezwungen, zu gewollt vorkommen; dass seine Art des Schreibens »zusammengewichst ist, in terram bleibt, faute d’orifice [ohne Öffnung] […] – die Arbeit des Abszesses«, ohne die unfreiwillige »Integrität der Augenlider, die sich senken, bevor das Gehirn vom Staub im Wind weiß«.61 Hier wird der Abszess mit Masturbation assoziiert; er ist »zusammengewichst«62 und taucht auf als merkwürdig körperliche Form von Intentionalität, die an eine ›runtergeholte‹ Selbstbeschäftigung gebunden ist. Physiologisch gesehen erzeugt der Körper in der »Arbeit des Abszesses« 58 Vgl. Evelyne Grossman, L’Esthetique de Beckett, Liège: SEDES, 1998, S. 37-40. 59 Vgl. James Knowlson, Samuel Beckett. Eine Biographie, aus dem Englischen von Wolfgang Held, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001, S. 312f. 60 Beckett, Mercier und Camier (wie Anm. 18), S. 503. 61 Ders., »Brief an Thomas MacGreevy, 18.10.1932«, in: ders., Weitermachen ist mehr, als ich tun kann (wie Anm. 57), S. 210-213, hier S. 211. 62 Es scheint wahrscheinlicher, dass das Wort hier »frigged« ist und nicht »trigged«, wie in der Briefausgabe gelesen [in der deutschen Ausgabe mit »aufgezäumt« übersetzt]. »Frigged« ist nicht nur weniger obskur, es ist auch ein Gegenstück zu der erstrebten Ästhetik der spontanen Ejakulation, von der im selben Absatz als »die Integrität der Ejakulation eines pendu [Gehängten]« die Rede ist. John Pilling hat mir gegenüber die Meinung vertreten, dass auch das »in terrain« der Briefausgabe [in der deutschen Ausgabe »in Terrain«] als »in terram« zu lesen sei.

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im Gewebe eine Kaverne, die er dann mit eigenem Material, dem Eiter, füllt, um eine Infektion zu verkapseln und ihre Ausbreitung zu verhindern. Nach der Etymologie – »(ab weg + cedere zurückgehen), weggehen, Kontakt verlieren« (OED) – sind Abszess und Kaverne Teil eines körperlichen Prozesses, durch den Dinge voneinander getrennt gehalten werden sollen; daher lässt er sich mit Blick auf Becketts Formulierung durchaus mit Masturbation und einer momentanen Weigerung, sich mit dem Anderen zu treffen, assoziieren. In diesem Werk gibt es noch keine Ausflussöffnung, die das Punktieren des Furunkels und die Schaffung eines Verbindungskanals zwischen Innerem und Äußerem erlauben würde. Zusätzlich zu seiner schwierigen Mutterbeziehung ließen auch Becketts Furunkel und Zysten ihn 1934 den Psychotherapeuten Wilfred Bion aufsuchen. Viele Jahre später, nämlich 1957, schlug Bion dann ein Modell vor, das eine Art psychologischer Verkapselung oder Enzystierung mit der Ablehnung der Außenwelt und der Exteriorität des Anderen verband. Bion meint, dass die psychotischen Teile der Persönlichkeit dazu neigen, sich und die Welt in autistische und paranoide Einzelerfahrungen aufzuspalten: »Ich möchte betonen, dass der Psychotiker […] Objekte [die Menschen und Objekte, mit denen er interagiert und lebt] – und gleichzeitig den gesamten Teil seiner Persönlichkeit, der ihm die verhasste Realität bewusst machen könnte – in äußerst winzige Fragmente aufspaltet.« Mit Rückgriff auf Melanie Kleins Konzept der projektiven Identifikation – eine Allmachtsfantasie, nach der man unerwünschte, wenngleich manchmal geschätzte Teile der Psyche zeitweise abspalten und sie in ein Objekt verlagern kann – fährt er fort: »[D]as Bewusstsein für Sinneseindrücke, die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis, die Urteilsfällung und das Denken […] haben […] die sadistischen, vernichtenden Spaltungsangriffe gegen sich aufgebracht, durch die sie in winzige Teilchen gespalten und aus der Persönlichkeit ausgestoßen werden, damit sie in Objekte eindringen oder diese einkapseln können.«63 Für Bion existiert die projektive Identifikation in Verbindung mit einer introjektiven Aktivität, bei der die Erfahrung der Außenwelt wieder in das Selbst zurückgeholt werden kann, um die Bildung guter innerer Objekte zu erlauben. Aber bei der psychotischen, exzessiven, projektiven Identifikation schwillt das Objekt »[i]n seinem Zorn darüber, verschlungen worden zu sein, […] überschwemmt den Persönlichkeitsteil, der es festhält, und kontrolliert ihn […]«.64 In diesem Zu-

63 Wilfred R. Bion, »Zur Unterscheidung zwischen psychotischer und nichtpsychotischer Persönlichkeit«, in: ders., Frühe Schriften und Vorträge. Mit einem kritischen Kommentar: ›Second Thoughts‹, aus dem Englischen von Elisabeth Vorspohl, Frankfurt a.M.: Brandes & Appel, 2013, S. 52-75, hier S. 56f. 64 Ebd., S. 57.

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stand kann das Objekt nicht mehr in den Verstand zurückgeholt und integriert werden, obwohl es auch nicht sicher verkapselt bleiben kann. In »Angriffe auf Verbindungen« (1959) beschreibt Bion, warum die Sprache oft selbst Ziel solcher spaltenden Angriffe ist, nämlich wegen ihres Vermögens, kognitive und symbolische Verbindungen und Integrationen zwischen scheinbar sauber voneinander geschiedenen Verstandesbereichen herzustellen.65 Ein solches Modell des enzystierten Geistes und dem Werk des Abszesses als einem Angriff auf Verbindungen gestattet, in Becketts Frühwerk das Wunschbild der Monade zu erkennen, in der, wie gezeigt, »der Geist [...] am Ende sein eigenes Asyl« sucht, und auf die, vor Kontamination geschützt, er seine Hoffnung setzt. Der Brief von 1932 legt natürlich ein Begehren nahe, das in eine andere Richtung zielt. Es besteht die Hoffnung auf ein Kunstwerk, das »über einem Abszess und nicht aus einer Kaverne« geschrieben ist,66 auf eine Dichtung, die sich der Allmacht des bloß Willentlichen ohne jedweden Kontakt nach außen verweigert. Bedeutsam ist jedoch, dass in Becketts Texten aus den 1930er Jahren immer wieder andere Versionen des Abszesses und der Zyste schwären, und dort steht die Idee von Kunst und Sprache als einer infizierten Schwellung nicht mehr nur für enzystierte Elemente des Willentlichen, in dem Verbindungen angegriffen werden. Denn die Sprachkritik im »Deutschen Brief« ist mehr als ein Versuch, die Dinge in ihren Behältnissen zu lassen; der gewalttätige Angriff auf Worte durch Worte, den Beckett imaginiert, führt auch zu einer Penetration von etwas, das stark an einen Abszess erinnert, da die Perforation der Sprache als Fleisch – des epidermalen Schleiers – eine neue Öffnung erzeugt und für einen sprachlichen Ausfluss, ein unfreiwilliges Strömen sorgt. Sobald der Schleier durchlöchert ist, verwandelt sich die freiwillige Arbeit des Abszesses in ein ungewolltes Aufklaffen, eine Dehiszenz. Selbstverständlich fördert in Bions Modell gerade der Angriff auf die Verbindung, obwohl dadurch eigentlich eine Enzystierung erfolgen soll, die Katastrophe, die negativen Objekte, die aufzuplatzen und den Geist zu überschwemmen drohen. In Becketts »Deutschem Brief« punktiert der Angriff auf die Sprache auch den Abszess und erzeugt ein Loch in ihrem materiellen Gewebe, das dem darin Enthaltenen erlaubt, nach außen zu fließen, während das Innere der Kaverne zur topologischen Fortsetzung der Hautoberfläche wird. Wenn Beckett sich Sprache sowohl als umschließende Haut als auch als ausfließenden Eiter vorstellt, der in von einer sich ergießenden Leere erzeugt wird, offenbart er die angsteinflößende und unfreiwillige Fruchtbarkeit im Inne-

65 Vgl. ders., »Angriffe auf Verbindungen«, in: ders., Frühe Schriften und Vorträge (wie Anm. 63), S. 105-124, hier S. 106f. 66 Beckett, »Brief an Thomas MacGreevy, 18.10.1932« (wie Anm. 61), S. 211.

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ren von Worten und ihrer Fähigkeit, sich zu paaren, zu verbinden und zu kontaminieren. Das Wort »Dehiszenz«, das Aufplatzen oder Aufreißen einer reifen Fruchtkapsel, das Beckett aus Pierre Garniers Onanisme seul et à deux (1894) in sein Dream Notebook übertragen hat, erscheint in Traum von mehr bis minder schönen Frauen in Zusammenhang mit der Erzeugung des Ästhetischen. Der Erzähler beschwört ein »Aufreißen, das dynamische Décousu [Auftrennen], eines Rembrandt«, das die Oberfläche der Kunst wie »eine Verunwirklichung, ein désuni, ein Ungebund, ein Flottement, ein Treblement, ein Zittern, ein Tremolo, eine Zerstreuung, eine Auflösung, eine Effloreszenz, einen Abbau und eine Vervielfachung des Gewebes, die zerschürfende Dünung von Kunst«67 zu befallen droht. Den Gegensatz zu einer Kunst, die willentlich in ein undurchlässiges Behältnis eingenäht ist, bildet der unwillkürliche Druck der Hernie oder die Dehiszenz, in der Material von hinten gegen die Oberfläche der Sprache drängt und ihre Grenzen aufbricht. Der Erzähler in Traum von mehr bis minder schönen Frauen bezeichnet später das Werk Ludwig van Beethovens als etwas, das musikalische Interpunktion, die Abstände und Pausen, auf ihre etymologische Wurzel im punctum zurückführt und auf einen Punkt bringt. Hier wird die Interpunktion zur Punktierung, mit der alles sich zu trennen beginnt, statt zu einer Art, etwas zu verweben: »[Ich denke an Beethoven], wo er in das Corpus seiner musikalischen Aussage eine Interpunktion der Aufreißung [dehiscence] einbaut, der Flottements, wobei der Zusammenhang in Stücke geht, die Kontinuität infernalisch versaut wird, weil die Einheiten der Kontinuität auf ihre Einheit verzichtet haben; sie haben sich aufgespalten, sie fallen auseinander, die Noten fliegen nur so herum, ein Elektronengewitter; und dann abendliche Kompositionen, verzehrt von schrecklichen Schweigemomenten […] und überzogen von grausigem Schweigegeflecht […]. Und ich denke an das letztlich unvorhersehbare Atom, das auseinanderzubrechen droht […].«68

Auf den ersten Blick scheint das nur eine Wiederholung des früheren Gedankens vom »zusammenhanglosen Kontinuum, wie von Rimbaud etwa oder Beethoven ausgedrückt« zu sein, deren »Hörbarkeiten […] nichts weiter [sind] als Interpunktion in der Darbietung von Schweigemomenten«.69 Doch hier ist bedeutsam, dass die Interpunktion oder die Pausen einmal das »Schweigegeflecht«

67 Ders., Traum von mehr bis minder schönen Frauen (wie Anm. 20), S. 184. 68 Ebd., S. 184f. 69 Ebd., S. 137.

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zwischen musikalischen oder sprachlichen Phrasen sind, ein Andermal der Ausdruck von »Hörbarkeiten«, die Präsenz eines Interpunktionszeichens. Für Belacqua geht die Unterscheidung zwischen Interpunktion als Präsenz und Absenz, etwas und nichts, verloren, wenn es vom Buch heißt: »Das ganze Gewebe reißt in den Nähten […]. Die Musik geht in Stücke. Die Noten fliegen überall herum, ein Elektronenzyklon.«70 Dies ist von Dehiszenz geprägte Kunst und damit exakt das Gegenteil einer textuellen Monade; sie ist punktiert, lässt Bedeutung herein- und herausströmen, sodass sich Figur und Grund vermischen und in einer materiellen Schwellung von Bedeutungszeichen und Phänomenen verwischen. An früherer Stelle spricht der Erzähler vom Nachthimmel zunächst als einer Metapher für die absolute Transzendenz der Kunst: »Das nächtliche Firmament ist abstrakt verdichtete Musik, Symphonie ohne Ende, Illumination ohne Ende […]«; doch in dieser Vision wird jede Schwärze oder auch die vollständige Illumination bald von der Wahrnehmung von Unterbrechungen bedroht – das »irre Sternengetüpfel«.71 Wieder werden Zustände der Willenlosigkeit gepriesen, weil sie zur Fähigkeit gehören, sich von der ungewollten Arbeit des Abszesses abzuschließen, dem zystischen Werk einer bestimmten Art von Gedanken, das die wilde Unordnung der Sprache angreift wie ein »Blizzard« oder »Zyklon« – Sprache als ein grenzenloses Verbindungswerk: »Die straffe ungestüme Intelligenz gräbt sich, wenn das Rechnen abflaut, als Himmelsmaulwurf, unbeirrt und blindlings (wenn wir’s bedächten!) […] durch die Sterne in einem Netzwerk von Fixpunkten, das nie koordiniert wird. Das unverletzliche Kriterium von Dichtung und Musik, das Nichtprinzip ihrer Zeichensetzung [punctuation], ist in der aberwitzigen Perforation ihres Nachtsiebs figuriert.«72

Der Erzähler pocht jedoch darauf, dass der Entstehungsprozess einer solchen Kunst nicht länger zu einer »Versargsackung« gemacht werden könne, zu einem Rückzug in das Innere des abgeschotteten, abgedunkelten »Krankenzimmer[s]« des wollenden Geistes; stattdessen werden Vorhänge aufgerissen, die Fenster der subjektiven und textuellen Monade zur Außenwelt werden durchschlagen: »Der Geist, plötzlich eingesargt, dann regsam in Schaffenswut und -überschwang, im Forthasten und Fortstürzen dem Exitus zu, ist derart der letztendliche Modus und Faktor der schöpferischen Einbeziehung, ihr Proton, unkontaktierbar.«73 Genau dieses »Forthasten und Fortstürzen dem Exitus zu« produziert eine besondere 70 Ebd., S. 150. 71 Ebd., S. 25. 72 Ebd., S. 25f. 73 Ebd., S. 27.

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Art Text, in dem »eine beharrliche unsichtbare Ratte, die hinter der astralen Inkohärenz der Kunstoberfläche herumwuselt,« ihren Weg nach draußen finden kann – sich »als Himmelsmaulwurf« durchgrabend statt »zu versargsacken«. Die Kunst erscheint als etwas, worin wimmelndes, von Bildern eiternder Fruchtbarkeit gespeistes Leben in seinem Gefäß, seinem Behältnis anschwillt und hervorbricht, punktiert wird und dann wieder anschwillt. Dort, wo Beckett im »Deutschen Brief« wieder auf Beethoven zu sprechen kommt – »die von großen schwarzen Pausen gefressene Tonfläche […], so dass wir sie ganze Seiten durch nicht anders wahrnehmen können als etwa einen schwindelnden unergründliche Schlünde von Stillschweigen verknüpfenden Pfad von Lauten«74 –, erweckt der sehr spezifisch körperliche Akt des Bohrens, aus dem heraus Pausen und Schweigen entstehen und durch den sowohl Präsenz als auch Absenz löchrige Gefäße werden, den Eindruck, dass eher Sprache und Kunstwerk als »aberwitzige Nachtsiebe« vorgestellt werden denn als undurchlässige Behältnisse. Etwas später fordert Beckett die Schaffung einer »Literatur des Unworts«.75 Dabei mutet der englische Neologismus »unword«, den Martin Esslin in seiner Übersetzung des »Deutschen Briefs« geprägt hat, sehr typisch für Beckett an, auch wenn das originale »Unwort« im Deutschen kein ungewöhnlicher Begriff ist.76 Mit einem Bedeutungsspektrum zwischen »Tabuwort«, »unangemessener Ausdruck«, »Ungeheuerlichkeit« und manchmal auch »Beleidigung«, verweist der Begriff »Unwort« Becketts ästhetische Absicht aber in jedem Fall zurück auf die Vorstellung eines »Vergehens gegen eine Sprache«. Doch sowohl Esslins im Englischen ungrammatisches »unword« als auch das etwas herkömmlichere, trotzdem aber nichtstandardsprachliche »non-word«, das Viola Westbrook in ihrer Übersetzung aus dem Jahr 2009 verwendet, bewahren mehr von der Grundkonzeption einer Sprache, die »wenigstens porös geworden« ist.77 Denn trotz der Hinwendung zu »unwords« werden Literatur und Worte weder transzendiert noch negiert; stattdessen wird die Oberfläche des Wortes perforiert. Dies verkündet nicht das Erscheinen von etwas ganz anderem; stattdessen wölbt sich – genau wie bei einer Hernie – etwas aus dem Inneren nach außen und wird aus seiner eigentlichen Form herausgehoben, wodurch die normativen, 74 Ders., »Deutscher Brief von 1937« (wie Anm. 44), S. 73f. 75 Ebd., S. 75. 76 Von hier bis zum Ende des Absatzes wurde die englische Fassung des vorliegenden Beitrags geändert, um ein Missverständnis der Verwendung des deutschen »Unwort« zu korrigieren. Ich danke Sven Koch für den Hinweis und die Hilfe beim Verständnis von »Unwort«. Außerdem danke ich Lois Overbeck und Viola Westbrook für ihre Überlegungen zur Übersetzung von Becketts »Deutschem Brief«. 77 Beckett, »Deutscher Brief von 1937« (wie Anm. 44), S. 74.

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syntaktischen und lexikalischen Formen als kontingent markiert werden. In »Stotterte er …« meint Gilles Deleuze, das Symptom, das sich in Becketts Sprache manifestiere, sei eine Anspannung oder Überdehnung der grammatikalischen Grenze. Nach Deleuze schreitet Becketts Sprache entlang »inklusiver Disjunktionen« fort, während die verschiedenen lexikalischen und syntaktischen Möglichkeiten, die als schöpferische Voraussetzung jeder einzelnen Äußerung vorausgehen, in die Textur der Botschaft zurückgefaltet und nicht ausgeschlossen oder überflüssig gemacht werden – als nichts. Deleuze sagt: »Jedes Wort teilt sich allerdings mit sich selbst […], und kombiniert sich, allerdings mit sich selbst […] Beckett hat die Kunst der inklusiven Disjunktion zur höchsten Entfaltung gebracht, eine Kunst, die nicht mehr auswählt, sondern die entkoppelten Terme über ihre Distanz hinweg bejaht, ohne den einen durch den anderen zu begrenzen.«78 Im Englischen bringt das »un« das Substantiv aus dem Gleichgewicht und wird eher zu einer nagenden oder bohrenden Präsenz, statt eine Verwandlung von Etwas in Nichts zu bekunden. Hätte Beckett auf einer völligen Negation beharrt, hätte er »Nichtwort« verwenden können; doch stattdessen wählte er »Unwort«, dessen »un« nicht nur eine Negation bezeichnen kann. Ob Becketts Deutschkenntnisse ihm eine ganz idiomatische Verwendung von »Unwort« erlaubten, ist schwer zu beurteilen, auch wenn die zahlreichen Korrekturen Esslins im »Deutschen Brief« das Gegenteil nahelegen;79 mit ihren jeweiligen Entscheidungen für »unword« bzw. »non-word« registrieren jedoch beide Übersetzer zutreffend die leicht gebrochene Textur von Becketts Deutsch. Viola Westbrooks Übersetzung bewahrt über den ganzen Brief hinweg Becketts nicht ganz vollständige Beherrschung der deutschen Sprache und sogar die Wirkung einer leichten Anspannung oder Dehnung der sprachlichen Oberfläche. Damit wird auch die Nachdrücklichkeit von Becketts Entscheidung betont, von seiner Idee einer »Literatur des Unworts« in einer Sprache zu schreiben, die ihm widerstand, bei der er die Assoziationen und Verbindungen nicht kontrollieren konnte. Das »Unwort«, so wie Beckett es hier verwendet, scheint etwas vom zweideutigen und lärmenden »Grund« der Sprache auf die verzerrte Gestalt der »Figur« zu übertragen. 78 Gilles Deleuze, »Stotterte er …«, in: ders., Kritik und Klinik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S. 145-154, hier S. 149f. 79 Fehsenfeld und Overbeck merken an, dass »Martin Esslin bei seiner Transkription dieses Briefes [der in Disjecta erschien] stillschweigend eine Reihe von Korrekturen vorgenommen hat«. Samuel Beckett, The Letters of Samuel Beckett 1929-1940, hrsg. von Martha Dow Fehsenfeld und Lois More Overbeck, Cambridge: Cambridge University Press, 2009, S. 521. Die von ihnen veröffentlichte Übersetzung des Briefes bewahrt etwas von der »Unbeholfenheit« von Becketts Deutsch in jener Zeit.

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In »Erschöpft« schreibt Deleuze, die Signatur von Becketts Worten sei ihre Fähigkeit, »sich von selbst [zu] durchlöchern und [zu] wenden, um ihr eigenes Außen zu zeigen«,80 was wie eine Bekräftigung der Bemerkung aus »Stotterte er …« klingt, Äußerung und Schreiben auf diese Weise zu »spannen« heiße, »das Sprachliche an seine Grenze, an sein Außen, an sein Schweigen heran[zu]treiben. Das wäre gleichsam der boom oder Krach«.81 Die Leere, die sich wie eine Hernie unter den angespannten Worten nach außen wölbt, und die aufgestochene, geöffnete Zyste, die ausfließt, sodass die Kaverne freiliegt und das, was innen schien, nach außen dringt und sich mit der Hautoberfläche vereint, implizieren eine unzulässige Raumstruktur, bei der Innen und Außen ineinanderfließen. Und aus einer in diesen Begriffen gefassten Sprache geht eine neue Arbeit des Abszesses hervor. Obwohl diese Arbeit fürchtet, selbst nicht zulässig zu sein, beginnt sie, den Angriff auf die Verbindung, die das vermeintliche Außerhalb der Sprache markiert – die klar bestimmte Trennung des Etwas vom Nichts –, zu unterbinden, um den Wortsinn so darzustellen, als träte er aus dem hoffnungslos produktiven Anschwellen, dem Drängen und dem unabschließbaren Lärm hervor, den die Aphasiologie als Teil des Ur-Zustandes der Sprache, der in einem anfälligen, materiell verstandenen Gehirn Gestalt gewinnt, zu hören begann. Im »Deutschen Brief« eröffnet solch ein Lärm genau jenes paradoxe »Schweigen«, das gleichwohl flüstert, eine Stille, die in Deleuzes auf den ersten Blick unlogischen Worten »gleichsam der boom oder Krach« wäre. In dem Brief an Axel Kaun aus dem Jahr 1937 benennt Becketts Sprache also ihr Ziel: in Worten jene Bedingung des Lärms hörbar zu machen, in der Etwas und Nichts ineinanderfließen, und den Abszess, diese »zusammengewichste« Kaverne des Willentlichen, zu punktieren. Indem die Worte wieder ihrem Austausch mit dem Automatischen, ihrem Hang anheimgegeben werden, entlang dem Nichtpropositionalen und durch Abfolgen von wimmelnden und fruchtbaren Verbindungen fortzuschreiten, erweist sich das, was normalerweise außerhalb der Sprache vorgestellt würde, als immer schon immanent. Es bedarf nur eines Lochs im Kopf oder einer unangebrachten Anspannung des Wortes, damit sie den Weg zurück ins Innere findet.

(Aus dem Englischen von Sven Koch)

80 Gilles Deleuze, »Erschöpft«, in: Samuel Beckett, Quadrat. Geister-Trio, … nur noch Gewölk …, Nacht und Träume. Stücke für das Fernsehen, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996, S. 49-101, hier S. 99. 81 Ders., »Stotterte er …« (wie Anm. 78), S. 153.

Conceptio electro-magnetica Über das Radio bei Schwitters, Artaud und Beckett W OLF K ITTLER Gaude Virgo Mater Christi Quae per aurem concipisti Gabriele nuntio. JOSQUIN DESPREZ

1. P ER

AUREM

In dem kurzen Prosastück »Radio. Eine Anregung, den Radioapparat produktiv auszunutzen«1 von Kurt Schwitters erfüllt sich, wie andernorts2 gezeigt, der Traum des Psychologen und Philosophen Christian von Ehrenfels, der aus dem lapidaren Satz: »Der Zahl der Spermatozoen nach kann ein normaler Mann sämtliche Frauen der Erde zu Müttern machen«,3 das Prinzip einer allgemeinen Eugenik abzuleiten suchte. Ehrenfels entwickelte diese Ideen am Anfang des 20. Jahrhunderts, also zu einer Zeit, in der es schon eine Technik gab, die es 1

Kurt Schwitters, »Radio. Eine Anregung, den Radioapparat produktiv auszunutzen«, in: ders., Das literarische Werk. Bd. 3: Prosa 1931-1948, hrsg. von Friedhelm Lach, Köln: DuMont, 1975, S. 39-41.

2

Vgl. dazu meinen Aufsatz »Kurt Schwitters«, in: Fernand Hörner, Harald Neumeyer, Bernd Stiegler (Hrsg.), Praktizierte Intermedialität. Deutsch-französische Porträts von Schiller bis Goscinny/Uderzo, Bielefeld: transcript, 2010, S. 119-143.

3

Zitiert nach Wilhelm Hemecker, »›Ihr Brief war mir sehr wertvoll …‹ Christian von Ehrenfels und Sigmund Freud – eine verschollene Korrespondenz«, in: Jean Clair, Cathrin Pichler, Wolfgang Pircher (Hrsg.), Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele, Wien: Löcker, 1989, S. 561-570, hier S. 567.

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erlaubte, diese so krude und körperlich formulierte Männerphantasie in einem ganz anderen Feld, dem des Geistes nämlich, buchstäblich in die Tat umzusetzen. Denn wenn die künstliche Befruchtung »eine ins Ungeheure gehende Vervielfältigung der männlichen Zeugungspotenz der Zahl der Nachkommen nach«4 ermöglicht, dann tut der Rundfunk dasselbe für den λόγος σπερματικός – der Zahl der Empfänger nach. Die »An Alle!« gerichtete CQ-Adresse, die Ehrenfels im Reich des Körpers sogenannten »Generatoren« vorbehalten wissen wollte, verleiht Rundfunksprechern eine bis dahin noch nie dagewesene Macht über die Empfänger. Herbert Brewer hat diese Verbindung von Eugenik und Fernmeldetechnik auf den Punkt gebracht, als er in einem Aufsatz in der Eugenic Review den Begriff Eutelegenesis prägte.5 Schwitters’ Text »Radio«, der erzählt, wie eines schönen Tages »alle […] Frauen mittels elektrischer Wellenübertragung von Störchen ins Bein gebissen« wurden, zieht die theologischen Konsequenzen aus diesem neuen Stand der Dinge. Dabei stellt sich allerdings die Frage, wer diese Möglichkeit einer jungfräulichen Empfängnis von geradezu planetarischen Ausmaßen auf welche Weise nutzt. Bei Schwitters scheint es zunächst, als sollten sich die kühnsten Träume eines Christian von Ehrenfels erfüllen: »Es wurde bekannt, daß der stärkste Mann von der Welt in Radio hineinfunken sollte.« Kein Wunder also, wenn »bereits acht Tage vorher kein Empfangsapparat mehr zu haben« ist, und wenn ein Mann, der zur Zeit der großen Stunde ins Kino gehen will, kein einziges junges Mädchen findet, das ihn dahin begleitet. Der ἱερός γάμος aller Frauen mit dem stärksten Mann der Welt macht – wie in den Träumen des Christian von Ehrenfels – alle anderen Männer überflüssig. Umso schrecklicher aber, als am nächsten Tag die Nachricht durch die Presse geht, »der Athlet, Herr Soundso, habe an jenem Abend nicht in Radio gefunkt, weil er plötzlich unpässlich geworden wäre. An seiner Stelle habe sein Bruder, der bekannte Liliputaner, Herr Sowieso, in Radio gefunkt.«

Da hilft es wenig, dass »der stärkste Mann von der Welt« noch an jenem Tage »von einer Suffragette getötet« wird. Der Schaden ist einmal angerichtet, und genau neun Monate später wird »eine herrliche Predigt des Pastors Animus über die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten, die an jenem Abend durch Radio

4

Ebd.

5

Vgl. Herbert Brewer, »Eutelegenesis«, in: The Eugenics Review 27:2 (1935), S. 121126.

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verbreitet werden sollten«,6 von einem »allgemeinen Stöhnen« übertönt, denn zu dieser Stunde gibt es »keine Frau, kein junges oder älteres jüngeres Mädchen, die nicht […] einen strammen kleinen Zwerg geboren hätte. Es war eben deutsche Präzisionsarbeit.« Das Dementi, das besagt: »Der Bericht, daß seinerzeit der stärkste Mann der Welt unpäßlich geworden wäre, sei eine Falschmeldung gewesen«, kommt zu spät: »[D]ie Kinder waren alle Zwerge geworden und blieben es auch. Was doch die liebe Einbildung macht!« Das Grundthema des Textes ist ein Spiel mit dem Doppelsinn des deutschen Verbs »empfangen«. Die eigentliche Pointe aber liegt darin, dass Schwitters – gleichgültig, ob er das bewusst tut oder nicht – den Begriff der Empfängnis auf eine alte, zwar nicht kanonische, aber sehr gut dokumentierte Vorstellung aus der christlichen Patristik bezieht, nämlich auf die Vorstellung der Empfängnis Jesu durch das Ohr, per aurem. Die im Kontext von Schwitters’ Text interessanteste Variante dieser Theorie steht in des Heiligen Ephraems »Zwei Reden auf die Gottesgebärerin«,7 wo es unter anderem heißt: »Wie der Dornbusch am Horeb Gott in Flammen trug, so trug Maria Christus in ihrer Jungfräulichkeit. Gott ist ganz Vom Ohre her in den Mutterleib eingetreten. Mein Gott wurde Mensch auf reine Weise.«8

Der Schluss der Homilie liefert das typologische Vorbild nach: »Der Böse hatte durch die Schlange sein Gift in das Ohr Evas ausgeleert. Und der Gute senkte herab sein Erbarmen 6

Anmerkung im Original: »Druckfehler: es muß natürlich ›sollte‹ heißen.« Schwitters,

7

»Nachträge zu Ephraem Syrus«, in: Edmund Beck (Hrsg.), Corpus Scriptorum Chris-

Das literarische Werk. Bd. 3: Prosa 1931-1948 (wie Anm. 1), S. 41. tianorum Orientalium. Bd. 160: Versio, Louvain: Peeters, 1975 (= Vol. 364), S. 2656. Vgl. auch Ernest Jones, »The Madonna’s Conception through the Ear. A Contribution to the Relation Between Aesthetics and Religion«, in: ders., Essays in Applied Psycho-Analysis, London: The Hogarth Press, 1951, S. 261-359, hier S. 264. 8

»Nachträge zu Ephraem Syrus« (wie Anm. 7), S. 50, vv. 13-20 (Sermo II: »Eine andere Rede auf die Gottesmutter von Mar Afrem«).

190 | K ITTLER und trat vom Ohr Mariens her ein. Durch das Tor, durch das der Tod eingetreten war trat das Leben ein, das den Tot tötet.«9

Es ist schwer und vielleicht sogar unmöglich zu entscheiden, ob Schwitters diese Vorstellung von der Empfängnis Christi durch das Ohr der Jungfrau Maria gekannt hat, und wenn ja, aus welcher Quelle. Umso bemerkenswerter ist es, dass er in der Groteske »Radio« dem typologischen Deutungsmuster des Heiligen Ephraem folgt, und zwar nicht nur darin, dass er den Gegensatz zwischen der göttlichen Zeugungskraft des »stärksten Manns der Welt« und der allzu menschlichen seines Bruders, des »Liliputaners«, zum Thema macht, sondern auch durch ein Wortspiel mit dem Verb »verbreiten«, »to broadcast«, das bekanntlich »aussäen« heißt und seit dem Jahr 1922 ebenso wie das Wort »empfangen« ein Schlüsselbegriff der Radiotechnik ist. Gemeint ist die Stelle, an der von einer herrlichen »Predigt des Pastors Animus über die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten« die Rede ist, »die an jenem Abend durch Radio verbreitet werden sollten«. Ein Witz, der durch die Anmerkung: »Druckfehler: es muß natürlich ›sollte‹ heißen«, eigens hervorgehoben wird. Das Ohr als Interface, an dem das Wort Fleisch wird, aber auch als Einfallstor für Flüche, Krankheiten und teuflische Gifte wie in Shakespeares Hamlet.

2. L E

CORPS SANS ORGANES

Der schöne Doppelsinn des deutschen Wortes »empfangen« geht zwar in den englischen und französischen Wortpaaren »to receive/recevoir« und »to conceive/concevoir« zum Teil verloren, aber dennoch ist das Medium Radio auch in diesen Sprachen auf signifikante Weise mit Ideen der Befruchtung und Zeugung durch den Samen des göttlichen Wortes verknüpft. Das soll an zwei Hörspielen gezeigt werden, in denen diese Metaphorik zwar nicht so explizit im Vordergrund steht wie in Kurt Schwitters Prosastück »Radio«, aber gleichwohl nicht zu übersehen ist, nämlich Antonin Artauds Hörspiel Pour en finir avec le jugement de dieu aus dem Jahr 1947 und dem ersten der Radiostücke von Samuel Beckett, das im Jahr 1956 entstand und den Titel All That Fall trägt. Kurz nach seiner Übersiedlung aus der psychiatrischen Anstalt in Rodez in die Psychiatrie in Ivry-sur-Seine gab Fernand Pouey, der Leiter der Hörspielabteilung der Radiodiffusion-Télévision Française (RTF), Artaud den Auftrag, ein

9

Ebd., S. 54, vv. 159-164.

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Hörspiel zu produzieren, das am 22. und 29. November 1947 aufgenommen wurde und am 02. Februar des nächsten Jahres in einer Sendung ausgestrahlt werden sollte, die dann in letzter Minute von Wladimir Porché, dem Direktor der RTF, wegen des doppelten Vorwurfs der Obszönität und Blasphemie, verboten wurde. Artaud, der in den Jahren zwischen 1928 und 1934 verzweifelt gegen den Tonfilm gekämpft hatte, weil er befürchtete, dass die menschliche Stimme das Medium des Films der Psychologie des klassischen Dramas unterwerfen würde,10 führt jetzt – und zwar nicht nur als Autor, sondern auch als eine der Hauptstimmen des Hörspiels – leidenschaftlich vor, wie man Stimmen und Geräusche im Theater der Grausamkeit einsetzt. Das Stück beginnt mit einem von Artaud gesprochenen Monolog: »J’ai appris hier (il faut croire que je retarde, ou peut-être n’est-ce qu’un faut bruit, l’un de ces ragots comme il s’en colporte entre évier et latrines à l’heure de la mise aux banquets des repas une fois de plus regurgités) j’ai appris hier l’une des pratiques officielles les plus sensationnelles des écoles publiques américaines et qui font sans doute que se pays se croit à la tête du progrès. Il paraît que, parmi les examens ou épreuves que l’on fait subir à un enfant qui entre pour la première fois dans une école publique, aurait lieu l’epreuve dite de la liqueur séminale ou du sperme, et qui consisterait à demander à cet enfant nouvel entrant un peu de son sperme afin de l’insérer dans un bocal et de le tenir ainsi prêt à toutes les tentatives de fécondation artificielle qui pourraient ensuite avoir lieu. Car de plus en plus les Americains trouvent qu’ils manquent de bras et d’enfants, c’est à dire non pas d’ouvriers mais de soldats, et ils veulent à toute force et par tous les moyens possibles faire et fabriquer des soldats en vue de toutes les guerres planétaires qui pourraient ultérieurement avoir lieu, et qui seraient destinées à démontrer par les vertus écrasantes de la force la surexcellence des produits américaines

10 Vgl. dazu meinen Aufsatz »Das Theater und das Kino, sein Doppel. Bild und Ton bei Antonin Artaud«, in: Stefan Andriopoulos, Bernhard Dotzler (Hrsg.), 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002, S. 80-109.

192 | K ITTLER et les fruits de la sueur américaine sur tous les champs de l’activité et du dynamisme possible de la force.« 11 »Ich habe gestern (ich muss hintendran sein oder vielleicht ist es bloß ein falsches Gerücht, eine von den gemeinen Klatschgeschichten, die zu der Stunde, da Mahlzeiten, die wieder ausgekotzt wurden, in die Schweinefuttereimer geschmissen werden, zwischen Waschbecken und Latrine zirkulieren), ich habe gestern von einer der sensationellsten Praktiken der amerikanischen Public Schools gehört, welche ohne Zweifel einer der Gründe ist, dass dieses Land sich an der Vorfront des Fortschritts glaubt. Es scheint, dass unter den Examina und Prüfungen, denen man ein Kind unterzieht, wenn es zum ersten Mal in eine öffentliche Schule eintritt, auch die so genannte Prüfung des Spermas oder der Samenflüssigkeit stattfindet, eine Prüfung, die darin bestehen soll, dass man diesem neu eintretenden Kind ein wenig von seinem Sperma abverlangt, um es in ein Gefäß zu leiten, und es so bereit zu halten für alle Versuche künstlicher Befruchtung, die danach statt haben können. Denn die Amerikaner finden mehr und mehr, dass es ihnen an kräftigen Armen und Kindern fehlt, das heißt nicht an Arbeitern, aber an Soldaten, und sie wollen mit allen Kräften und mit allen möglichen Mitteln Soldaten machen und fabrizieren im Blick auf mögliche planetarische Kriege, die später stattfinden könnten, und die dazu bestimmt wären, durch die zerschmetternden Wirkungen der Kraft die Überexzellenz der amerikanischen Produkte zu beweisen.«

Dem folgt eine weitere Diatribe darüber, dass die amerikanischen Soldaten, die am 06. Juni 1944 in der Normandie gelandet waren und Frankreich dann von der deutschen Besatzung befreit hatten, nicht als wirkliche Männer gekämpft, sondern nur hinter ihren Maschinen hergelaufen seien, also Maschinen anstelle von menschlichen Körpern eingesetzt hätten. Dazu zunächst zwei Bemerkungen: 1. Was Artaud die Prüfung des Spermas nennt, ist bekanntlich kein Gerücht, sondern war im Gegenteil ein ernsthaftes Projekt der American Eugenic Society, 11 Antonin Artaud, »Pour en finir avec le jugement de Dieu«, in: ders., Oeuvres complètes. Bd. XIII, Paris: Edition Gallimard, 1974, S. 71 u. 102 [Übersetzung hier und im Folgenden von mir, W.K.].

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zu der so prominente Mediziner wie etwa der Nobelpreisträger Herman Miller gehörten.12 2. Die Passage über die Amerikaner ist ein bemerkenswertes Zeugnis für das auch anderswo überlieferte Faktum, dass durchaus nicht alle Franzosen die amerikanischen Truppen am Ende des Zweiten Weltkriegs als Befreier begrüßten. Aber das nur nebenbei. Was in diesem Kontext im Vordergrund stehen soll, ist die – im Jahr 1947 – erstaunliche Einsicht Artauds, dass mit dem Zweiten Weltkrieg ein neues Zeitalter beginnt, in dem nicht nur der Tod, sondern auch Zeugung und Geburt und, wie im Rückblick hinzuzufügen wäre, auch das Denken von Menschen an Maschinen abgegeben wird. Weil aber auch das Radio ein wesentliches Element dieser neuen Technik ist, trifft, was Artaud den Amerikanern vorwirft, in gewisser Hinsicht auch ihn selbst oder, um es präziser auszudrücken, plädiert auch er ganz am Schluss seines Hörspiels für eine radikal neue Definition des menschlichen Körpers im Zeitalter der Technik. Es sei an dieser Stelle die berühmte – und von Gilles Deleuze und Félix Guattari so geliebte – Stelle aus dem fiktiven Interview, mit dem das Hörspiel endet, zitiert: »– Que voulez-vous dire, monsieur Artaud? – Je veux dire que j’ai trouvé le moyen d’en finir une fois pour toutes avec ce singe et que si personne ne croit plus en dieu tout le monde croit de plus en plus dans l’homme. Or c’est l’homme qu’il faut maintenant se décider à émasculer. – Comment cela? Comment cela? De quelque côté qu’on vous prenne vous êtes fou, mais fou à lier.

12 Siehe dazu das sogenannte »Geneticist’s Manifesto«, das unter anderem von Julian Huxley und Hermann Muller unterzeichnet wurde und unter dem Titel »Social Biology and Population Improvement« in der renommierten Zeitschrift Nature erschien. Vgl. Nature 144 (16.09.1939), S. 521f.; der vollständige Text ist zu finden unter: www.bibliotecapleyades.net/sociopolitica/esp_sociopol_depopu16e.htm (01.03.2015). Zur Geschichte der Eugenik vom 19. Jahrhundert bis hin zu der von Hermann Muller gegründeten und von Robert Graham finanzierten »genius sperm bank« siehe Martin Richards, »Artificial insemination and eugenics: celibate motherhood, eutelegenesis and germinal choice«, in: Studies in History and Philosophy of Science. Part C: Studies in History of Biological and Biomedical Sciences 39:2 (2008), S. 211-221.

194 | K ITTLER – En le faisant passer une fois de plus mais la dernière sur la table d’autopsie pour lui refaire son anatomie. Je dis, pour lui refaire son anatomie. L’homme est malade parce qu’il est mal construit. Il faut se décider à le mettre à nu pour lui gratter cet animalcule qui le démange mortellement, dieu, et avec dieu ses organes. Car liez-moi si vous voulez, il n’y a rien de plus inutile qu’un organe. Lorsque vous lui aurez fait un corps sans organes, alors vous l’aurez délivré de tous ses automatismes et rendu à sa veritable liberté.« 13 »– Was meinen Sie, Herr Artaud? – Ich meine, dass ich einen Weg gefunden habe, diesem Affen ein für alle Mal ein Ende zu bereiten und dass jedermann, obwohl keiner mehr an Gott glaubt, an den Menschen glaubt. Also müssen wir uns jetzt entschließen, den Menschen zu entmannen. – Was? Was? Wie auch immer man Sie versteht, Sie sind verrückt, Sie gehören in die Zwangsjacke. – Indem man ihn [den Menschen] zum letzten Mal wieder auf den Seziertisch legt, um seine Anatomie neu zu gestalten. Ich sage, seine Anatomie neu zu gestalten. Der Mensch ist krank, weil er schlecht konstruiert ist. Man muss sich entschließen, ihn nackt auszuziehen, um ihm jenes Animalculum auszukratzen, das ihn so tödlich juckt. Gott und mit Gott seine Organe. 13 Artaud, »Pour en finir avec le jugement de Dieu« (wie Anm. 11), S. 103f.

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Denn stecken Sie mich in eine Zwangsjacke, wenn Sie wollen, aber es gibt nichts unnützeres als ein Organ. Wenn Sie ihm einen Körper ohne Organe gemacht haben, dann werden Sie ihn von all seinen automatischen Reaktionen befreit und ihm seine wahre Freiheit wieder gegeben haben.«

Das Wort »animalcule« wurde im 16. Jahrhundert für die kleinen, sich bewegenden Organismen, vor allem aber für die Spermien der Säugetiere geprägt, die unter dem Mikroskop sichtbar wurden. Artaud mag es aus dem Tagebuch der Brüder Goncourt gekannt haben, wo es heißt: »Er [Daudet] unterhielt mich mit der Geschichte eines Aufenthalts bei ihm [Mistral], wo er im Moment des Zubettgehens das seltsame Vergnügen gehabt habe, bei diesem das spermatische ›Animalcule‹ durch geschickte lüsterne Beschreibungen zu erwecken, ihn dazu zu bringen, sich anzukleiden, ihn nach draußen zu schleppen, wo man zu Fuß zwei Meilen über eine Ebene gehen musste, über die hinweg immerfort starke Winde fegten, um an einen Bahnhof zu gelangen, der sie nach Avignon und seinen Maisons d’amour brachte.«14

Das Animalcule, so Artaud, soll dem Menschen ausgetrieben werden. Wie? Durch Auskratzen. Die Entmannung soll also in Form einer Abtreibung geschehen. Wer aber ist das Kind, das dabei getötet wird? Antwort: Gott. Folglich ist der Mensch eine Mutter Gottes, die schwanger geht mit Gott. Damit kehrt das Thema der künstlichen Insemination ins Theologische gewendet ganz am Schluss des Hörspiels wieder. Eine der Stellen, die aus Zeitgründen gestrichenen wurden, führt den Gedanken weiter aus und verbindet ihn nicht nur mit der Geschichte der Elektrizität, sondern ganz speziell mit dem Phänomen des Elektromagnetismus:

14 »Il [Daudet] m’entretient d’un séjour qu’il a fait chez lui [Mistral], où au moment de se coucher, il avait un plaisir étrange à éveiller chez lui l’animalcule spermatique par des descriptions habilement voluptueuses, à le faire rhabiller, à l’entraîner au dehors, où il fallait faire deux lieues à pied, par une plaine toujours balayée par de grands vents, pour arriver à une station de chemin de fer, qui les menait à Avignon et à ses maisons d’amour.« Edmond Goncourt, Jules Goncourt: »Journal 1884«, in: dies., Journal mémoires de la vie littéraire 1883-1885, hrsg. von Robert Ricatte, Monaco: Éditions de L’Imprimerie Nationale, 1956, S. 105.

196 | K ITTLER »Le corps humain est une pile électrique chez qui on a châtré et refoulé les décharches, dont on a orienté vers la vie sexuelle les capacités et les accents alors qu’il est fait justement pour absorber par les déplacements voltaïques toutes les disponibilités errantes de l’infini du vide, des trous de vide de plus en plus incommensurables d’une possibilité organique jamais comblée.«15 »Der menschliche Körper ist eine elektrische Säule, in der man die Ladungen kastriert und verdrängt hat, dessen Kapazitäten und Akzente man auf das sexuelle Leben ausgerichtet hat, während er doch just dazu gemacht ist, alle die irrenden Disponibilitäten der Unendlichkeit der Leere, der mehr und mehr inkommensurablen Löcher der Leere einer niemals vollendeten organischen Möglichkeit durch seine voltaischen Verschiebungen zu absorbieren.«

Ganz präzise ist das vielleicht nicht, aber die Begriffe sind klar genug. Die nach ihrem Erfinder benannte voltaische Säule ist die erste elektrische Batterie. Und dass Radiowellen sich nicht durch eine Äther genannte materielle Substanz, sondern vielmehr durch den leeren Raum ausbreiten, ist eins der Ergebnisse von Einsteins Relativitätstheorie. Folglich ist die Entmannung bzw. Abtreibung, die dem Menschen das Spermium Gottes auskratzt und ihm einen Körper ohne Organe schafft, seine Verwandlung in das Medium, durch das diese Worte verbreitet wurden, die Verwandlung des Menschen aus einem – in zwei Geschlechter gespaltenen und von Gott geschwängerten – Tier in ein elektromagnetisches Feld. In diesem Sinn wäre Artauds Hörspiel der Exorzismus, der den Geist des Wortes, das Fleisch werden will, ein für alle Mal nicht nur aus dem Medium des Radios, sondern aus der Geschichte der Menschheit überhaupt verbannt.

15 Artaud, »Pour en finir avec le jugement de Dieu« (wie Anm. 11), S. 108.

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3. P FERDEHINTERBACKEN »Was immer die Eigenart dieses Hörspiels ist«, so schreibt Beckett an seinen Verleger Barney Rosset, »sie hängt davon ab, dass die ganze Sache aus dem Dunkel kommt«.16 Gemeint ist das Hörspiel All That Fall, das im Jahr 1956 auf Anfrage der BBC entstand.17 Das Dunkel, das der Hörer am Radio mit einer der Hauptfiguren, dem blinden Mr. Rooney, teilt, ist erfüllt von Klängen und Geräuschen. Schon im ersten Zeugnis zur Entstehung, einem Brief an Nancy Cunard, spricht Beckett ausschließlich vom Gehör. Er schreibt: »Dachte nie an Hörspieltechnik, aber neulich mitten in der Nacht kam mir eine grausige Idee voller Wagenräder, schleppender Schritte, Keuchen und Hecheln, die vielleicht oder auch nicht zu irgend etwas führen.«18 Am Radio hört man dann den Wind sausen, Regentropfen fallen, einen vielstimmigen Chor von Tierstimmen wie in Walter Benjamins Hörspiel Radau um Kasperl19, die Räder eines Mistkarrens, eine

16 »It is no more theatre than Endgame is radio and to ›act‹ it is to kill it. Even the reduced visual dimension it will receive from the simplest and most static of readings … will be destructive of whatever quality it may have and which depends on the whole thing’s coming out of the dark.« Lois Oppenheim (Hrsg.), Directing Beckett, Ann Arbor, MI: University of Michigan Press, 1994, S. 19 [Übersetzung von mir, W.K.]. 17 Ich zitiere den Text nach der mehrsprachigen Ausgabe: Samuel Beckett, Dramatische Dichtungen in drei Sprachen, französische Originalfassungen, deutsche Übertragung von Elmar Tophoven, englische Übertragung von Samuel Beckett, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981; Seitenzahlen jeweils in Klammern nach dem Zitat. An der deutschen Übersetzung war Beckett zwar nachweislich beteiligt, sie enthält aber nichtsdestoweniger einige gravierende Fehler. Deshalb bin ich an vielen Stellen von dieser Übersetzung abgewichen, merke das aber nur bei besonders signifikanten Fehlern an. 18 Samuel Beckett, »Brief an Nancy Cunard, 04.07.1956«, in: ders., Ein Unglück, das man bis zum Ende verteidigen muß. Briefe 1941-1956, hrsg. von George Craig, Martha Dow Fehsenfeld, Dann Gunn und Lois More Overbeck, für die deutschsprachige Ausgabe eingerichtet und übersetzt von Chris Hirte, Berlin: Suhrkamp, 2013, S. 651f., hier S. 652; ders.: »Letter to Nancy Cunard, 04.07.1956«, in: The Letters of Samuel Beckett. Volume II: 1941-1956, hrsg. von George Craig u.a., Cambridge: Cambridge University Press, 2011, S. 630f., hier S. 631: »Never thought about radio play technique but in the dead of t’other night got a nice gruesome idea full of cartwheels and dragging of feet and puffing and panting which may or may not lead to something.« 19 Walter Benjamin, »Radau um Kasperl. Hörspiel«, in: ders., Gesammelte Schriften IV, 2, hrsg. von Tillmann Rexroth, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991, S. 674-695.

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Fahrradklingel, ein Auto, das ohrenbetäubende Getöse einer Dampflok, das Rattern der Waggons und menschliche Stimmen, Sprache und Gesang, darunter auch das Schubert-Lied Der Tod und das Mädchen, das ganz am Anfang (8f.) und dann noch einmal in der zweiten Hälfte aus einem fernen Haus herüber und zwar von einem Grammofon erklingt (76f.). Die Handlung des Stücks ist einfach. Mrs. Rooney, eine alte Frau, hat beschlossen, ihren blinden Mann selbst vom Bahnhof abzuholen, wo er wie an jedem Wochentag nach seiner Arbeit in der Stadt eintrifft. Denn es ist ein besonderer Tag: Mr. Rooneys Geburtstag (52f.). Auf ihrem Hinweg begegnet Mrs. Rooney drei männlichen Bekannten. Der Zug hat Verspätung, weil es einen Unfall gab. Auf dem Rückweg führen die beiden Eheleute ein Gespräch. Am Ende werden sie von Jerry eingeholt, dem kleinen Jungen, der sonst Mr. Rooneys Blindenführer ist. Er bringt Mr. Rooney nicht nur ein schwarzes, einem Ball ähnliches Objekt, das dieser offenbar verloren hat, sondern weiß auch, warum der Zug Verspätung hatte: Ein kleines Mädchen ist aus dem Fenster gefallen und unter den Zug gekommen. Der Tod und das Mädchen nach dem Gedicht von Matthias Claudius schlägt das Thema an, das im Hörspiel in mehreren Variationen, nämlich sowohl in der Gestalt der »Little Minnie« (12f.), der Tochter von Mrs. Rooney, als auch in der des kleinen Mädchens wiederkehrt, das unter die Räder gekommen ist (80f.). Das Schicksal dieser beiden Kinder bleibt gleichermaßen unbestimmt. Man weiß nicht, ob Mrs. Rooney ein zu früh verstorbenes oder ein nie geborenes, bloß gewünschtes, vielleicht sogar abgetriebenes Kind betrauert. Und es bleibt unklar, welchen Anteil Mr. Rooney am Tod des verunglückten kleinen Mädchens hatte, ob er es als der Kinderhasser, der er ist, aus dem Zug gestoßen hat oder ob er nur unfreiwilliger Zeuge eines Unfalls war. Um den Tod und das Mädchen geht es schließlich auch in der Anspielung auf den Fall des zehnjährig an einer Infektion gestorbenen Mädchens (73), von dem Carl Gustav Jung in der Diskussion zu einer Vorlesung in London, bei der Beckett selbst anwesend war, behauptet hatte, es sei »niemals richtig geboren worden«.20 In All That Fall kehrt Beckett nach vielen Jahren des räumlichen und sprachlichen Exils nicht nur zurück zu seiner Muttersprache, sondern auch in die Landschaft seiner Heimat, nach Foxrock, einer Vorstadt Dublins. Das Stück markiert 20 Carl Gustav Jung, The Symbolic Life. Miscellaneous Writings, übersetzt von R.F.C. Hull, Princeton: Princeton University Press, 1950 (= Bollingen Series; XX), S. 95f. Bei Jung heißt es: »She had never been born entirely« (S. 96) bzw. in der deutschen Ausgabe: »Sie war nie ganz geboren worden«. Vgl. ders., Das symbolische Leben. Verschiedene Schriften. Gesammelte Werke Bd. 18, Halbbd. 1, Olten: Walter Verlag, 1981, S. 111-118, hier S. 112.

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aber auch in anderer Hinsicht einen Wendepunkt. An die Stelle der Söhne, Einzelgänger und Landstreicher, von denen die frühen Dramen und Romane handeln, tritt jetzt eine alte Frau. Mit ihr kommt auch ein neues Thema in den Blick, eine Obsession für das Problem des Zeugens und Gebärens, und zwar aus der Sicht von Frauen, die nicht – oder nicht mehr – dazu fähig sind. Mrs. Rooney beklagt sich über ihre »Kinderlosigkeit« (»childlessness«) (12f.) und von ihrer Tochter Minnie sagt sie, diese hätte, wenn sie noch am Leben wäre, jetzt, also zu der Zeit, in der das Stück spielt, schon die Menopause hinter sich.21 Es ist Mr. Tylers Schicksal, »enkelkinderlos« (»grandchildless«) zu sein, weil seiner Tochter, wie er es formuliert, »die … äh … ganze Trickkiste« (»the whole … er … bag of tricks«) (14f.) herausgenommen werden musste. Und die einzige Gestalt, die sich noch ganz und gar der Fortpflanzung, all dem »Eierlegen und Brüten« (»all the laying and hatching«) (26f.) widmen konnte, ist eine Henne, die – vermutlich genau in dem Moment, in dem der Zug das kleine Mädchen überfährt – unter die Räder von Mr. Slocums Auto kommt. Deshalb steht auch der Ball, Becketts Version der Proustschen Madeleine,22 in diesem Stück nicht – wie in Krapp’s Last Tape23 – für den Tod der Mutter, sondern für den Tod eines kleinen Mädchens (78-81). Zur Menge der unfruchtbaren weiblichen Figuren gehört auch das vor den Mistkarren Christys gespannte Zugtier, dem Mrs. Rooney ganz am Anfang ihres Wegs begegnet und das ihr offensichtlich besser bekannt ist als der Kärrner, der es führt: »MRS ROONEY […] Is that you, Christy? CHRISTY It is, Ma’am. MRS ROONEY I thought the hinny was familiar. How is your poor wife?« (8f.) »MRS. ROONEY […] Sind Sie es, Christy? CHRISTY Ja, ich bin’s, Ma’am. MRS. ROONEY Der Maulesel kam mir doch bekannt vor. Wie geht es Ihrer armen Frau?«

21 »In her forties now she’d be, I don’t know, fifties, girding up her lovely loins, getting ready for the change …« »Sie wäre jetzt Mitte Vierzig, ich weiß nicht, oder fünfzig, sie würde sich ihre schönen Lenden gürten, um sich gegen die Wechseljahre zu wappnen …« (20f.) 22 Zu Becketts Beschäftigung mit Proust vgl. Samuel Beckett, Proust, London: John Calder, 1965. Siehe insbesondere die Liste der verschiedenen mit der mémoire involontaire verknüpften Gegenstände in Prousts À la recherche du temps perdu (S. 36f.). 23 Vgl. Beckett, Dramatische Dichtungen (wie Anm. 17), S. 98f.

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Die ausdrücklich als weiblich gekennzeichnete Mauleselin24 erweist sich als ein Knotenpunkt, an den Mrs. Rooney im Verlauf des Hörspiels ein weit verzweigtes Netzwerk von Gedanken knüpft. Es geht um den Ursprung der Sprache, um Zeugung und Geburt und zwar nicht nur der Tiere und Menschen, sondern auch der olympischen Göttersöhne und des Menschen- oder Gottessohnes aus dem Neuen Testament. Fangen wir bei der Sprache an. Die Mauleselin gibt einen Laut von sich, sie wiehert: »The hinny neighs« (10). Mrs. Rooney kommentiert: »Maulesel wiehern also. Na ja, warum auch nicht.« (»So hinnies whinny. Well, it is not surprising.«) (10f.). Die Verben »to neigh« und »to whinny« (8) sind Synonyme, beide bezeichnen das Wiehern der Pferde. Sehr viel später, als Mrs. Rooney schon mit ihrem Mann auf dem Rückweg vom Bahnhof ist, gibt ein anderes Exemplar der Gattung Equus den für seine Species typischen Laut von sich: »MRS ROONEY […] Silence. A donkey brays. Silence. That was a true donkey. Its father and mother were donkeys.« (56f.) MRS. ROONEY […] Schweigen. Ein Esel iaht. Schweigen. Das war ein echter Esel. Sein Vater und seine Mutter waren Esel.«

Das Zugtier vor dem Mistkarren Christys, ein Maulesel, kein Maultier, spricht dagegen nur die Sprache seines Vaters, eines Pferdehengstes,25 nicht die Sprache 24 In der deutschen Übersetzung wird an keiner der angegebenen Stellen der Maulesel mit einem femininen Personalpronomen angesprochen (9-12). Damit wird ein wichtiges Element des Stücks, nämlich Mrs. Rooneys Identifikation mit der Mauleselin Christys, unterschlagen. 25 Dass es auf diese Wortwahl ankommt, geht aus dem Zeugnis von Erika Tophoven hervor, die das Hörspiel zusammen mit ihrem Mann Elmar Tophoven aus dem Englischen übersetzte: »Letzte Probleme wurden telefonisch besprochen, unter anderem die Frage, ob Maulesel tatsächlich wiehern (»the hinny neighs«). Man hatte in Hamburg einen Spezialisten aus Hagenbecks Tierpark konsultiert, der fest behauptete, dass Maultiere einen anderen Laut, eine Mischung aus Wiehern und Iahen, von sich geben. Der Autor fand später in einem Fachbuch das Wiehern zwar bestätigt, aber bei der deutschen Produktion hat man einen Maulesel oder Tierstimmen-Imitator aufgetrieben, der den echten Laut beisteuerte.« Erika Tophoven, »Beckett. Im Lichtstrahl der Gefangenen. Von wiehernden Maultieren und anderen Schwierigkeiten beim Übersetzen und im Umgang mit Beckett – von seinem Autofahrstil ganz zu schweigen«, in: Die Zeit, 12.04.2006. Zum Unterschied der Hybriden aus Pferd und Esel siehe auch Tanja Warter, »Maultier oder Maulesel?«, in: Salzburger Nachrichten, 11.11.2013.

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seiner Mutter, hat also keine Muttersprache wie das kleine Lämmchen, welches sich in Mrs. und Mr. Rooneys Gespräch über Sprache mischt: »MR ROONEY Never pause … safe to haven … Do you know, Maddy, sometimes one would think you were struggling with a dead language. MRS ROONEY Yes indeed, Dan, I know full well what you mean, I often have that feeling, it is unspeakably excruciating. MR ROONEY I confess, I have it sometimes myself, when I happen to overhear what I am saying. MRS ROONEY Well, you know, it will be dead in time, just like our own poor dear Gaelic, there is that to be said. Urgent baa MR ROONEY startled: Good God! MRS ROONEY Oh, the pretty little woolly lamb, crying to suck its mother! T h e i r s has not changed, since Arcady. Pause« (68f.) »MR. ROONEY Sonder Rast und Ruh! … Bis zum sicheren Hafen … Weißt du, Maddy, manchmal könnte man meinen, daß du dich mit einer toten Sprache herumschlägst. MRS. ROONEY Ja, das stimmt, Dan, ich weiß es nur zu gut, was du meinst, ich habe selbst oft das Gefühl, es ist unsagbar quälend. MR. ROONEY Ich gebe zu, daß es mir manchmal genauso geht, wenn ich einmal zufällig höre, was ich sage. MRS. ROONEY Weißt du, sie wird eines Tages auch tot sein, wie unser armes geliebtes Gälisch, das muß man sich sagen. Herzzerreißendes Blöken MR. ROONEY erschrocken: Guter Gott! MRS. ROONEY Oh, das süße kleine wollige Lämmchen, wie es danach schreit, an seiner Mutter zu nuckeln! I h r e Sprache hat sich nicht geändert, seit Arkadien. Pause«

Über die Sprache dieser Tiere heißt es in dem Beitrag: »Die lustigste Mischung bildet jedoch ihre Stimme: das wiehernde Ia-ia!« Warter stimmt also mit dem Spezialisten aus Hagenbecks Tierpark überein: Die Stimmen von Maultier und Maulesel sind eine Mischung aus den Stimmen ihrer Eltern und gerade deshalb nicht voneinander unterschieden. Wenn Beckett dennoch und womöglich sogar gegen den Rat der Spezialisten darauf beharrt, dass die Mauleselin keine Muttersprache hat, sondern das Idiom ihres Vaters spricht, dann ist das ein Hinweis darauf, wie wichtig ihm die Filiation dieses Tieres ist.

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Der Zwischenruf des kleinen Lämmchen verkehrt Mrs. und Mr. Rooneys Gesprächsthema in sein genaues Gegenteil: weg vom Sterben der Sprachen, hin zu deren Geburt. Denn es ist kein Zweifel, dass diese Szene eine genaue Replik der Urszene aus Johann Gottfried Herders Abhandlung »Vom Ursprung der Sprache«26 ist. Das »Bäh«, der dem Schaf eigentümliche Laut, ist dieser Theorie zufolge genau das Kriterium, das die Besonnenheit des Menschen auf sich zieht und ihn so dazu motiviert, dem blökenden Schaf einen Namen in seiner ihm eigenen, also menschlichen Sprache zu geben. Bei Beckett aber hat diese Sprache keinen Bestand, sie ist sterblich, wie der Mensch selbst, der sie spricht. Es kommt aber noch etwas anderes hinzu. Bei Herder ist das Tier, das sich in seiner Sprache äußert, ganz allgemein »ein Wolliges«, »ein Schaf«. Beckett macht daraus ein Lämmchen, das nach seiner Mutter ruft. Mr. Rooney reagiert erschrocken (»startled«) auf diesen Appell. Er spielt also den Part dessen, der bei Herder auf die Eigenart des Schafes aufmerkt, den Part der Besonnenheit. Angesichts dessen aber, wie gut Mr. Rooney sich in der historischen Sprachwissenschaft und zwar besonders der deutschen auskennt,27 darf man wohl vermuten, dass seine Reaktion nicht die von Herders Urszene, sondern vielmehr die eines Lesers ist, der plötzlich an diese Abhandlung erinnert wird. Damit tritt nicht er, sondern vielmehr seine Frau an die Stelle des – wie immer – in seiner Allgemeinheit als männlich codierten »Menschen« in Herders Mythos vom Ursprung der Sprache. Erfinder der menschlichen Sprache ist nicht mehr der Mann der abendländischen Philosophie, sondern eine Frau, und zwar eine Frau, die, gerade weil sie ihr Kind verloren hat, den Dialog zwischen dem Lämmchen und seiner Mutter nur allzu gut, in schmerzlicher Identifikation, versteht. Arkadisch, unschuldig und also unsterblich ist das Verhältnis zwischen Mutter und Kind. Menschen und mit ihnen Maultiere und Maulesel, Produkte, die der Mensch der Natur gegen ihren Willen abringt, sind aus diesem Paradies vertrieben. Christys Mauleselin konnte nicht einmal so mit ihrer Mutter sprechen wie das kleine Lämmchen mit der seinen. Umso grausamer, dass es ausgerechnet Mrs. Rooney

26 Johann Gottfried Herder, »Abhandlung über den Ursprung der Sprache«, in: ders., Werke. Band 1: Frühe Schriften (1764-1772), hrsg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1985, S. 695-810. 27 Wie seine gelehrten Ausführungen zu Grimms Gesetz der Lautverschiebung im Gälischen beweisen (vgl. S. 70f.). Vgl. auch seine Ausführungen zur Etymologie des Ausdrucks »in the buff« (S. 76f.). Es ist nicht auszuschließen, dass Mr. Rooney – und also auch Beckett – sein Wissen über das Gälische aus einem alten Buch bezieht: Rev. Ulick J. Bourke, The Aryan Origin of the Gaelic Race and Language, London: Longmans, Green and Co., 1875, S. 230f.

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ist, die den Kärrner dazu auffordert, das störrische Tier mit Peitschenschlägen anzutreiben: »CHRISTY to the hinny: Yep! Pause. Louder. Yep wiyya to hell owwa that! Silence MRS ROONEY She does not move a muscle. Pause. I too should be getting along, if I do not wish to arrive late at the station. Pause. But a moment ago she neighed and pawed the ground. And now she refuses to advance. Give her a good welt on the rump. Sound of welt. Pause. Harder! Sound of welt. Pause. Well! If someone were to do that for me, I should not dally. Pause. How she gazes at me to be sure, with her moist cleg-tormented eyes! Perhaps if I were to move on, down the road, out of her field of vision … Sound of welt. No, no, enough! Take her by the snaffle and pull her eyes away from me. Oh this is awful! She moves on. Sound of her dragging feet. What have I done to deserve all this, what, what? Dragging feet.« (12f.) »CHRISTY zur Mauleselin: Hüh! Pause. Lauter. Hüh, zum Teufel, hüh! Stille MRS. ROONEY Sie rührt sich nicht vom Fleck. Pause. Ich sollte mal sehen, dass ich weiterkomme, wenn ich nicht zu spät an der Bahn sein will. Pause. Gerade wieherte sie noch und stampfte die Erde. Und jetzt weigert sie sich, auch nur einen Fuß voranzusetzen. Ziehen Sie ihr ordentlich einen über die Rippen. Peitschenschlag. Pause. Fester! Peitschenschlag. Pause. Na, wenn einer mir das täte, würde ich nicht rumtrödeln. Pause. Wie sie mich doch tatsächlich anstarrt mit ihren feuchten von Bremsen gequälten Augen! Vielleicht wenn ich weiterginge, die Straße hinunter, aus ihrem Gesichtsfeld … Peitschenschlag. Nein, nein, genug! Nehmen Sie sie beim Zaum und drehen Sie ihre Augen von mir weg. Oh, das ist furchtbar! Sie geht weiter. Schlurfen ihrer Füße. Womit habe ich das alles verdient? Schlurfende Füße.«

Gerade weil Mrs. Rooney sich mit der Mauleselin identifiziert, weil sie im legendär störrischen Wesen dieses Tiers ihre eigene Lethargie und Melancholie gewahr wird, verlangt sie, dass es mit der Peitsche angetrieben wird, wird aber dann, als sie den Blick der gequälten Kreatur auf sich gerichtet sieht, von Schuldgefühlen überwältigt. Deshalb kommt die Mauleselin Mrs. Rooney nicht mehr aus dem Sinn und das, obwohl man fortan nichts mehr von ihr hört, wie etwa im folgenden Monolog, der Mrs. Rooneys Antwort auf die Frage ihres Gatten ist, ob er hundert Jahre alt geworden sei: »MRS ROONEY All is still. No living soul in sight. There is no one to ask. The world is feeding. The wind – brief wind – scarcely stirs the leaves and the birds – brief chirp – are

204 | K ITTLER tired singing. The cows – brief moo – and sheep – brief baa – ruminate in silence. The dogs – brief bark – are hushed and the hens – brief cackle – sprawl torpid in the dust. We are alone. There is no one to ask. Silence« (62f.) »MRS. ROONEY Alles ist still. Keine Menschenseele in Sicht. Niemand da, den ich fragen könnte. Die Welt ist beim Essen. Der Wind – kurzer Windstoß – bewegt die Blätter kaum, und die Vögel – kurzes Zwitschern – sind des Singens müde. Die Kühe – kurzes muh – und Schafe – kurzes mäh – sind still am Wiederkäuen. Die Hunde – kurzes Bellen – sind verstummt und die Hennen – kurzes Gackern – räkeln sich benommen im Staub. Wir sind allein. Niemand da, den man fragen könnte. Stille«

Das ist ein selbstreferenzielles Spiel mit der Gattung des Hörspiels, eine Anspielung nicht nur auf die Stille im Aufnahmestudio, sondern auch auf die – an bestimmte Stichwörter geknüpfte – Einspielung von Geräuschen und Geräuschkonserven. Die Passage hat aber noch einen anderen, tieferen Sinn. Es ist eine Parodie der Geschichte vom Ursprung der adamitischen Sprache und zwar sowohl in der Version des Alten Testaments als auch in der von Herders »Abhandlung über den Ursprung der Sprache«, die nichts anderes als eine Auslegung des biblischen Textes ist: »Und Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen ward keine Gehilfin , die um ihn wäre.«28

Nicht der Mann, sondern die Frau ruft die Tiere beim Namen. Und anders als bei Herder ist es nicht die einer jeden Tiergattung eigene Stimme, die der Mensch in seiner Besonnenheit zum Anlass nimmt, das Tier nicht etwa mit einem onomatopoetischen, sondern mit einem seiner ihm eigenen menschlichen Sprache entnommenen Namen zu benennen. Es ist vielmehr umgekehrt: Der Mensch in Gestalt von Mrs. Rooney nennt ein jedes Tier bei seinem Namen und dieses gibt Antwort in der ihm jeweils eigenen Sprache. Ein Pferd ist nicht dabei, also auch kein Maultier und kein Maulesel. Als Hybriden sind die letzteren nicht nur von 28 Genesis 2, 19-21, in: Die Bibel. Oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart: Württembergische Bibelanstalt Stuttgart, 1967, S. 16f.

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der Sprache zumindest eines ihrer Eltern, sondern auch aus der adamatischen Sprache ausgeschlossen. Der ihrer Sprache eigene Laut ist nicht eindeutig an das Wort, das sie benennt, geknüpft. Maultiere und Maulesel sind aber nicht nur sowohl aus der ursprünglichen Sprache der Menschen als auch aus der Sprache eines ihrer Eltern ausgeschlossen, sie haben auch nicht teil am ewigen Kreislauf des Lebendigen. Das fällt Mrs. Rooney bei einer ganz besonderen Gelegenheit, nämlich bei Betrachtung eines Laburnums, also eines Goldregens, ein.29 »MRS ROONEY […] There is the lovely laburnum again. Poor thing, it is loosing all its tassels. Dragging steps, etc. There are the first drops. Rain. Dragging feet, etc. Golden drizzle. Dragging steps, etc. Do not mind me, dear, I am just talking to myself. Rain heavier. Dragging steps, etc. Can hinnies procreate, I wonder. They halt, on Mr Rooneys’s initiative. MR ROONEY Say that again. MRS ROONEY Come on, dear, don’t mind me, we are getting drenched. MR ROONEY forcibly: Can what what? MRS ROONEY Hinnies procreate. Silence. You know, hinnies, or is it jinnies, aren’t they barren, or sterile, or whatever it is? Pause. It wasn’t an ass’s colt at all, you know, I asked the Regius Professor. Pause MR ROONEY He should know [.] MRS ROONEY Yes, it was a hinny, he rode into Jerusalem or wherever it was on a hinny. Pause. That must mean something. Pause. It’s like the sparrows, than many of which we are of more value, they weren’t sparrows at all.« (74f.) »MRS. ROONEY […] Da ist wieder das reizende Laburnum. Armes Ding, es verliert wieder all seine Troddeln. Schlurfende Schritte usw. Da fallen die ersten Tropfen. Regen. Schlurfende Schritte usw. Gold’nes Geniesel. Schlurfende Schritte usw. Mach dir nichts draus, mein Lieber, ich sprech nur mit mir selbst. Heftigerer Regen. Schlurfende Schritte usw. Ich frage mich, ob Maulesel sich fortpflanzen können? Sie bleiben auf Mr. Rooneys Veranlassung stehen. MR. ROONEY Wie bitte? MRS. ROONEY Komm, mein Lieber, kümmere dich nicht um mich, wir werden klatschnass. MR. ROONEY heftig: Wer soll was können?

29 Der Goldregen war ihr schon ganz am Anfang auf dem Hinweg zum Bahnhof aufgefallen (vgl. S. 14f.).

206 | K ITTLER MRS. ROONEY Maulesel sich fortpflanzen. Schweigen. Du weißt schon Maulesel, sind sie nicht unfruchtbar oder steril oder was immer das ist? Pause. Weißt du, es war überhaupt kein Eselfohlen, ich hab den Regius Professor30 gefragt. Pause MR. ROONEY Der muss es wissen. MRS. ROONEY Ja, es war ein Maulesel, er ritt nach Jerusalem, oder wo immer es war, auf einem Maulesel hinein. Pause. Das muss doch etwas bedeuten. Pause. Es ist wie mit den Sperlingen, dass wir viel mehr wert sind denn ihrer viele, sie waren überhaupt keine Sperlinge.«

Warum dieser Unterschied? Warum meint Mrs. Rooney, dass das Reittier, auf dem Jesus nach Jerusalem einzog, kein Esel, sondern ein Maulesel war? Erste Antwort: weil dieses Tier ein Bastard ist wie der Menschensohn, die Kreuzung zwischen Gottvater und der Jungfrau Maria. Warum aber ein Maulesel, englisch hinny, und kein Maultier, englisch mule? Die Antwort auf diese Frage gibt der Kontext. Der Maulesel, genauer Christys Mauleselin, fällt Mrs. Rooney, wie gesagt, bei der Betrachtung eines verblühenden Goldregens ein. Als es dann auch noch wirklich zu regnen beginnt, kommentiert Mrs. Rooney: »Da sind die ersten Tropfen. […] Gold’nes Geriesel.« Es ist der goldene Regen, imber aureus, aus dem Mythos der Danaë, von der es in den Fabeln des Hyginus heißt: »Danae Acrisii et Aganippes filia. Huic fuit fatum, ut, quod peperisset Acrisium interficeret; quod timens Acrisius, eam in muro lapideo praeclusit. Iovis autem in imbrem aureum conversus cum Danae concubuit, ex quo compressu natus est Perseus.«31 »Danae war die Tochter des Akrisios und der Aganippe. Ein Orakel hatte ihr bestimmt, dass das Kind, welches sie gebären werde, den Akrisios töten werde. Aus Furcht davor sperrte Akrisios sie in ein steinummauertes Gefängnis ein. Jupiter aber, verwandelt in einen goldenen Regen, schlief mit Danae, und aus dieser Umarmung ging Perseus hervor.«

Was Mrs. Rooney mit der mythischen Danaë verbindet, ist das Schicksal der Kinderlosigkeit, nicht aber deren Remedium, die Liebe eines Gottes und die daraus folgende Geburt eines göttergleichen Helden, der das Orakel, die Tötung

30 Das heißt einen vom König berufenen Professor auf einem vom König gestifteten Lehrstuhl. 31 Hyginus [Mythographus], Fabulae, hrsg. von Peter K. Marshall, Stuttgart, Leipzig: B.G. Teubner, 1993, S. 63f. [Fabulae LXIII].

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seines allzu menschlichen Großvaters, schließlich wahr machen wird. Ein Diskus, den Perseus wirft, wird vom Wind abgetrieben und tötet den Akrisios. Mrs. Rooney stellt also ein Paradigma von drei einander analogen Kreuzungen oder, wenn man will, von drei Bastarden auf: 1. 2. 3.

die Mauleselin, eine Züchtung aus Pferdehengst und Eselstute; den Perseus, Sohn eines Gottes und einer Sterblichen; Jesus Christus, den Sohn Gottes und der Jungfrau Maria.

Mrs. Rooneys lebenslanges Interesse für die aus Pferd und Esel erzeugten Hybriden ist der Grund, weshalb sie es einst für nötig gehalten hat, sich den Vortrag jenes Nervenarztes anzuhören, von dem auch die Fallgeschichte des kleinen Mädchens, das nie ganz geboren wurde, stammt: »MRS ROONEY I remember once attending a lecture by one of these new mind doctors, I forget what you call them. He spoke – MR ROONEY A lunatic specialist? MRS ROONEY No no, just the troubled mind, I was hoping he might shed a little light on my lifelong preoccupation with horses’ buttocks. MR ROONEY A neurologist. MRS ROONEY No no, just mental distress, the name will come back to me in the night. I remember his telling us the story of a little girl, very strange and unhappy in her ways, and how he treated her unsuccessfully over a period of years and was finally obliged to give up the case. He could find nothing wrong with her, he said. The only thing wrong with her as far as he could see was that she was dying. And she did in fact die, shortly after he had washed his hands of her. MR ROONEY Well? What is there so wonderful about that? MRS ROONEY No, it was just something he said, and the way he said it, that have haunted me ever since. MR ROONEY You lie awake at night, tossing to and fro and brooding over it. MRS ROONEY On it and other … wretchedness. Pause. When he had done with the little girl he stood there motionless for some time, quite two minutes I should say, looking down at his table. Then he suddenly raised his head and exclaimed, as if he had had a revelation, The trouble with her was she had never been really born! Pause. He spoke throughout without notes. Pause. I left before the end. MR ROONEY Nothing about your buttocks? Mrs Rooney weeps. In affectionate remonstrance. Maddy! MRS ROONEY There is nothing to be done for those people! MR ROONEY For which is there? Pause.« (70-73)

208 | K ITTLER »MRS. ROONEY Ich habe mal einen Vortrag von einem dieser Seelenärzte gehört. Ich habe vergessen, wie man sie nennt. Er sprach – MR. ROONEY Ein Spezialist für Irre? MRS. ROONEY Nein, nein, nur für geistige Nöte. Ich hatte gehofft, dass er ein wenig Licht auf meine lebenslange Beschäftigung mit Pferdehinterbacken werfen könne. MR. ROONEY Ein Neurologe.32 MRS. ROONEY Nein, nein, bloß geistige Beschwerden. Der Name wird mir in der Nacht wieder einfallen. Ich erinnere mich, wie er die Geschichte eines sehr seltsamen und auf ihre Weise unglücklichen kleinen Mädchens erzählte, und wie er sie über einen Zeitraum von mehreren Jahren erfolglos behandelte und schließlich gezwungen war, den Fall aufzugeben. Er konnte nicht das geringste Übel an ihr finden, sagte er. Das einzige Übel an ihr war, so weit er sehen konnte, dass sie am Sterben war. Und nachdem er seine Hände in Unschuld gewaschen hatte, ist sie tatsächlich kurz darauf gestorben. MR. ROONEY Na und? Was ist daran so bemerkenswert? MRS. ROONEY Nein, es war einfach etwas an dem, was er sagte, und die Art, wie er es sagte, die mich seitdem nicht mehr losgelassen haben. MR. ROONEY Du liegst nachts wach, wälzt dich hin und her und grübelst darüber nach. MRS. ROONEY Darüber und über anderes … Elend. Pause. Als er mit dem kleinen Mädchen fertig war, stand er eine Weile, ich würde sagen, gute zwei Minuten bewegungslos da und sah auf den Tisch hinunter. Dann hob er plötzlich den Kopf und rief, als hätte er gerade eine Offenbarung gehabt. Sie litt darunter, dass sie nie richtig geboren worden war! Pause. Er sprach durchweg ohne Notizen. Pause. Ich bin vor Schluss gegangen. MR. ROONEY Nichts über deine Hinterbacken?33 Mrs. Rooney weint. In liebevollem Einspruch: Maddy! MRS. ROONEY Für solche Leute kann man nichts tun! MR. ROONEY Für wen denn sonst? Pause.«

Alle Arten der Gattung Equus können sich miteinander kreuzen, aber da ihre Chromosomenzahl jeweils verschieden ist, sind die daraus entspringenden Bastarde mit Ausnahme weniger und zwar in der Regel weiblicher Tiere meistens unfruchtbar. So hat das Hauspferd, Equus ferus caballus, 64, der Afrikanische 32 In Tophovens Übersetzung steht an dieser Stelle: »Ein Veterinär.« Zwar ist nicht ganz auszuschließen, dass es sich dabei um einen Scherz handelt, der vom Übersetzer eingebaut und dann womöglich sogar von Beckett selbst gutgeheißen, also autorisiert wurde. Ich halte das aber angesichts der ansonsten dokumentierten Abscheu Becketts vor fremden Eingriffen in sein Werk für äußerst unwahrscheinlich. 33 Tophovens Übersetzung »Gar nichts über deine Pferdehinterbacken?« verfehlt die Doppeldeutigkeit von Mr. Rooneys Satz.

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Esel oder Hausesel, Equus asinus, dagegen nur 62. Die Zucht der Hybriden ist schwierig, weil auch das Paarungsverhalten der beiden Arten verschieden ist. Schon für Pferde gilt: »Man findet, dass die Beschäler Stuten nicht mit gleicher Neigung decken, und dass hier eine Auswahl statt findet, dass Pferde, welche in Race und Körperbeschaffenheit sich ähnlich sind, sich auch mit mehr Neigung nähern, als jene, welche sich unähnlich sind, und man sieht oft, dass der Beschäler die Stute von fremder Körperform, Farbe oder Race, wenn ihm eine Wahl bleibt, nicht gern bedeckt.«34

Dass diese Schwierigkeiten sich bei Tieren verschiedener Art weiter potenzieren, liegt auf der Hand. Dazu kommen Größenunterschiede: »Es decken die kleinen Beschäler die großen Stuten noch mit mehr Bequemlichkeit, als die großen Beschäler die kleinen Stuten […].«35 Bei Pferden ist es üblich, der Stute vor dem eigentlichen Beschäler einen Probierhengst36 zuzuführen, um zu prüfen, ob sie sich in der sogenannten Duldungsphase befindet, also empfängnisbereit ist. Bei der Kreuzung eines Eselhengstes mit einer Pferdestute hat der Probierhengst auch die Funktion, die Stute über die Identität ihres männlichen Partners hinwegzutäuschen. Bei weitem am schwierigsten aber ist die Kreuzung von Pfer34 Georg Gottlieb Ammon, Handbuch der gesammten Gestüts-Kunde und Pferdezucht, Königsberg: Verlag der Gebrüder Bornträger, 1833, S. 232, § 440. 35 Ebd., S. 234, § 442. 36 Eine Figur in Goethes Farce Hanswurstens Hochzeit beschreibt die ménage à trois zwischen Werther, Lotte und deren Verlobten Albert in der Terminologie der Pferdezucht: »Mir ist das liebe Wertherische Blut Immer zu einem Probierhengst gut Den laß ich mit meinem Weib spazieren Vor ihren Augen sich abbranlieren Und hinten drein komm ich bei Nacht Und vögle sie daß alles kracht Sie schwaumelt oben in höhern Sphären Läßt sich unten mit Marks der Erde nähren Das gibt Jungs Leibselig brav Allein macht ich wohl ein Schweinisch Schaf.« Johann Wolfgang Goethe, »Hanswursts Hochzeit oder Der Lauf der Welt. Ein mikrokosmisches Drama«, in: ders., Gedenkausgabe der Werke. Bd. 4: Frühe dramatische Fragmente und die Alexandriendramen, hrsg. von Ernst Beutler, Zürich: Artemis, 1953, S. 247-259, hier S. 257f.

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dehengst und Eselstute. In diesem Fall bedarf es gelegentlich auch einer Probierstute. Sie wird dem Hengst vorgeführt, dann werden ihm die Augen verbunden, schließlich wechselt man die Pferdestute gegen eine Eselstute aus. Das ist ein kompliziertes und aufwendiges Verfahren, zumal wenn man bedenkt, dass die Bastarde aus Pferd und Esel – wie alle Bastarde – in der Regel nach der Mutter schlagen, das heißt, dass ein Maulesel eher ein kleines Tier bleibt, während Maultiere nahezu Pferdegröße haben und deshalb als Arbeitstiere sehr viel leistungsfähiger sind als Maulesel, also auch begehrter. Ein Maulesel ist eigentlich ein Unding – schwer zu erzeugen und nicht besonders brauchbar oder nützlich. Bei Mrs. Rooneys Obsession für Pferdehinterbacken geht es genau um eine solche Kreuzung, also um das Tier, das dadurch erzeugt wird, dass man einem Pferdehengst die Hinterbacken einer Pferdestute zeigt, ihm dann aber zur Paarung eine Eselstute unterschiebt. Es geht um Bastarde oder Hybriden in den Fällen, wo der Vater ein höher gestelltes oder edleres Wesen ist als die Mutter, also um Perseus, den Sohn des Zeus und der Danaë, Jesus Christus, den Sohn Gottes und der Jungfrau Maria, und die Mauleselin vor dem Mistkarren Christys, eine Kreuzung zwischen einem Pferdehengst und einer Eselstute. Die Pointe liegt darin, dass die drei Glieder dieser Serie keineswegs so homogen sind, wie es zunächst scheint. Sie unterscheiden sich vielmehr in zwei Punkten: im Erscheinungsbild und in der Fortpflanzungsfähigkeit. Perseus und Jesus Christus sind Göttersöhne, die nach ihren göttlichen Vätern schlagen, während die Mauleselin nur die Stimme ihres Vaters erbt, sonst aber ihrer Mutter gleicht, also keine Göttin, keine Heldin und nicht einmal ein edles Ross ist. Perseus zeugt mit seiner Frau Andromeda sieben Kinder. Jesus bleibt kinderlos wie Mr. Tylers Tochter. Und die Mauleselin ist unfruchtbar wie die Bastarde aus Pferd und Esel allesamt. Die lebenslange Beschäftigung mit Pferdehinterbacken ist Mrs. Rooneys Frage nach ihrer eigenen Funktion als Frau und Mutter. Ihr Ehemann spricht es, wenn auch vielleicht ohne sich dessen selbst bewusst zu sein, in seiner zweideutig formulierten Frage aus: »Nothing about your buttocks?« (72). Im Kontext des Dialogs zwischen den beiden Ehegatten ist kein Zweifel, was er damit meint. Er will wissen, ob der Psychiater seiner Frau ein wenig Licht auf ihr Problem, die Obsession für Pferdehinterbacken, werfen konnte. Für sich genommen aber kann der Satz sich nur auf Mrs. Rooney selbst beziehen, auf ihr eigenes Hinterteil. Diese Gleichsetzung ihrer menschlichen mit Pferdehinterbacken ist der Schlüssel zu Mrs. Rooneys Obsession, nämlich zu der Frage, die sie sich – und vielleicht auch ihrem Mann – ein Leben lang gestellt hat: Was ist die Liebe zwischen Mann und Frau? Ein Verhältnis zwischen zwei Individuen ein und derselben Art? Oder zwischen zwei Partnern, die, obwohl sie beide zum Genus Homo gehören, einander so fremd sind wie Pferd und Esel, so fremd wie zwei Wesen, die

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nicht zur selben Art gehören? Wenn diese zweite Hypothese stimmt, dann würde sie erklären, warum es Kinder gibt, die – wie Carl Gustav Jungs Patientin, aber auch wie das Kind der Rooneys – niemals ganz geboren wurden, Bastarde also, die Maultier und Maulesel darin gleichen, dass sie das Geschenk des Lebens nicht mehr selber weitergeben können. Fragt sich nur, wer bei der Zeugung eines solchen Bastards das Pferd und wer den Esel spielt oder – weniger irdisch ausgedrückt – wer göttlich und wer sterblich ist, der Mann oder die Frau. Die Antwort auf diese Frage gibt Mr. Rooney selbst: »MRS ROONEY What is the matter, Dan? Are you not well? MR ROONEY Well! Did you ever know me to be well? The day you met me I should have been in bed. The day you proposed to me the doctors gave me up. You knew that, did you not? The night you married me they came for me with an ambulance. You have not forgotten that, I suppose? Pause. No, I cannot be said to be well. But I am no worse. Indeed I am better than I was. The loss of my sight was a great fillip. If I could go deaf and dumb I think I might pant on to be a hundred. Or have I done so? Pause. Was I a hundred to-day? Pause. Am I a hundred, Maddy? Silence« (60-63) »MRS. ROONEY Was ist los, Dan? Geht’s dir nicht gut? MR. ROONEY Gut! Hast du jemals erlebt, dass es mir gut ging? Am Tag, als du mich trafst, hätte ich ins Bett gehört. An dem Tag, an dem du um mich angehalten hast, hatten mich die Ärzte aufgegeben. Das wusstest du doch, oder? In der Nacht, in der du mich heiratetest, holten sie mich im Krankenwagen ab. Ich nehme an, dass du das nicht vergessen hast? Pause. Nein, von mir kann man nicht sagen, es ginge mir gut. Aber es geht mir auch nicht schlechter. Es geht mir in der Tat besser als zuvor. Der Verlust meiner Augen war ein großer Ansporn. Wenn ich es schaffen würde taub und stumm zu werden, könnte ich noch bis hundert weiterschnaufen. Oder bin ich das schon? Pause. Bin ich heute hundert geworden? Pause. Bin ich hundert, Maddy? Schweigen«

Wie in der Novelle Premier Amour, die schon 1946 entstand, aber erst 1970 veröffentlicht wurde,37 ist die Liebe – einschließlich der traditionell den Männern vorbehaltenen Brautwerbungsrituale – die Domäne der Frau. Die Männer lassen sich nur widerwillig darauf ein, vor allem aber scheuen sie sich vor deren Folgen, den von ihnen gezeugten Kindern. Allerdings mit dem Unterschied, dass der anonyme Ich-Erzähler der Novelle nur vor dem Babygeschrei die Flucht ergreift, während Mr. Rooney nicht nur explizite Todesdrohungen gegen Kinder 37 Samuel Beckett, Premier Amour, Paris: Les Éditions de Minuit, 1970.

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ausstößt,38 sondern vielleicht auch aktiv zum Unfalltod des kleinen Mädchens, das während des Hörspiels unter den Zug kommt, beigetragen hat. Über seine Rolle beim frühen Tod der von Mrs. Rooney betrauerten kleinen Minnie kann man nur spekulieren. So kehrt in Gestalt von Mr. Rooney der sanfte Liebhaber aus dem Claudiusgedicht und Schubertlied in der Fratze des makabren, weil gealterten Todes zurück. Empfängnis ist, wie ein Ausspruch Mr. Tylers bezeugt, Männern überhaupt ein Gräuel und zwar selbst dann, wenn sie die Bedingung ihrer eigenen Existenz betrifft: »MR TYLER Nothing, Mrs Rooney, nothing, I was merely cursing, under my breath, God and man, under my breath, and the wet Saturday afternoon of my conception.« (16f.) »MR. TYLER Nichts, Mrs. Rooney, nichts, ich hab nur in meinen Bart hinein geflucht, Gott und Mensch verflucht, in meinen Bart hinein, und den regnerischen Samstagnachmittag meiner Zeugung.«

Für Mrs. Rooney dagegen, das zeigen ihre mythologischen, theologischen und biologischen Phantasien, ist die Liebe ein Spiel, das mit großen Hoffnungen, aber auch mit bitteren Enttäuschungen verknüpft ist. Entweder der Geliebte ist ein Gott, dann ist das mit ihm gezeugte Kind ein Held wie Perseus oder gar der Retter der Menschheit wie Jesus Christus. Oder der Liebhaber ist ein kränkliches Individuum wie ihr Mann, Mr. Rooney, dann wird das von ihr empfangene und geborene Kind niemals ganz geboren werden. Der griechische Mythos der Göttersöhne und das daraus abgeleitete Evangelium von der göttlichen Natur des Menschensohnes sind schöne Träume, deren kreatürliche Wahrheit sich in den 38 »MR ROONEY Did you ever wish to kill a child? Pause. Nip some young doom in the bud. Pause. Many a time at night, in winter, on the black road home, I nearly attacked the boy. Pause. Poor Jerry! Pause. What restrained me then?« »MR. ROONEY Hast du jemals den Wunsch verspürt, ein Kind zu töten? Pause. Ein junges Unglück im Keim ersticken. Pause. Manchmal, nachts, im Winter, auf der stockdunklen Landstraße nach Hause hätte ich fast den Jungen angegriffen. Pause. Armer Jerry. Pause. Was hielt mich damals zurück?« (60f.) Das Wort »restrain« kehrt dann bezeichnenderweise auch in Mr. Rooneys Beschreibung seiner Zugfahrt wieder: »I had the compartment to myself, as usual. At least I hope so, for I made no attempt to restrain myself. My mind –« »Ich war allein im Coupé, wie gewöhnlich. Das hoffe ich jedenfalls, denn ich habe nicht versucht mich zurückzuhalten. Mein Verstand –« (62f.); Tophovens Übersetzung »ich habe mich zwanglos verhalten, ganz ungebührlich« verschleiert den offensichtlichen Zusammenhang mit der Stelle, an der Mr. Rooney seinen Wunsch artikuliert, ein Kind zu töten.

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Kreuzungen zwischen Pferd und Esel enthüllt, die allesamt nicht nach dem Vater, sondern nach der Mutter schlagen. Das Beste, was man unter diesen Umständen erwarten kann, ist die Umkehrung der mythischen Struktur, nämlich dass die Mutter edler, wenn auch gewiss nicht göttlicher als der Vater ist. Mrs. Rooneys lebenslange Beschäftigung mit Pferdehinterbacken kreist genau um diese Frage: Wie ist es bei der Zeugung meines Kindes zugegangen? Wie bei der Kreuzung zwischen Eselhengst und Pferdestute oder etwa umgekehrt? War mein Kind, die kleine Minnie, so eine erbärmliche Kreatur wie die Mauleselin vor dem Mistkarren Christys, eine lebensunfähige Kreuzung aus einer schwachen Mutter und einem noch schwächeren kränkelnden Vater?

4. E SSE

EST PERCIPI

Becketts Drehbuch für seinen – nach der Gattung selbst benannten – Film39, in dem dann Buster Keaton die Hauptrolle spielte, steht unter George Berkeleys Diktum esse est percipi40. Am Ende versteckt sich der Held unter einer Decke, negiert also seine Existenz, indem er sich nicht nur vor den Augen seiner Haustiere, sondern auch vor denen der Zuschauer verbirgt. Mr. Rooney folgt der gleichen Spur, geht allerdings einen Schritt weiter, vom Stummfilm zum Hörspiel: »The loss of my sight was a great fillip. If I could go deaf and dumb I might pant on to be a hundred.« (62f.) »Der Verlust meiner Augen war ein großer Ansporn. Wenn ich es schaffen würde, taub und stumm zu werden, könnte ich noch bis hundert weiterschnaufen.«

39 Samuel Beckett, The Complete Dramatic Works, London, Boston: Faber & Faber, 1986, S. 323. 40 Die Formulierung steht so nicht in Berkeleys A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, wo es (in Punkt 3) von nicht denkenden Dingen (»unthinking things«) heißt: »Their esse is percipi, nor is it possible they should have any existence out of the minds or thinking things which perceive them.« George Berkeley, A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, hrsg. von Jonathan Dancy, Oxford, New York: Oxford University Press, 1998, S. 104.

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Mrs. Rooney liefert die Gegenprobe zum Exempel ihres Mannes. Sie fürchtet die Auslöschung, die ihr Mann sich wünscht:41 »MRS ROONEY [...] Oh there is that Fitt woman, I wonder will she bow to me. […] Miss Fitt halts, stops humming. Am I then invisible, Miss Fitt? Is that cretonne so becoming to me that I merge into the masonry. Miss Fitt descends a step. That is right, Miss Fitt, look closely and you will finally distinguish a once female shape.« (34f.) »MRS. ROONEY [...] Oh, da ist die Fitt, bin gespannt, ob sie mich grüßt. […] Miss Fitt bleibt stehen, hört auf zu summen. Bin ich denn unsichtbar, Miss Fitt? Steht mir diese Kretonne so gut, dass ich mit dem Mauerwerk verschmelze? Miss Fitt geht eine Treppenstufe zurück. Genau, Miss Fitt, schauen Sie und Sie werden eine einstmals weibliche Gestalt unterscheiden.«

Dieses autoreferenzielle Spiel mit der Unsichtbarkeit der Figuren in der Gattung des Hörspiels wird schließlich auch ins Akustische übersetzt: »MRS ROONEY Do not imagine, because I am silent, that I am not present, and alive, to all that is going on.« (44f.) »MRS. ROONEY Denken Sie nicht, weil ich schweige, wäre ich nicht lebendig und gegenwärtig, merkte also nicht genau, was vorgeht.«

Wenn Sein (esse) Wahrgenommenwerden (percipi) heißt, dann hört eine Gestalt im Hörspiel, sobald sie verstummt, auf zu existieren. In diesen Kontext gehört auch die Hymne, die Miss Fitt bei ihrem Auftritt summt und in die Mrs. Rooney schließlich einstimmt: »Miss Fitt hums her hymn. After a moment Mrs Rooney joins in with the words: … the encircling gloo-oom Miss Fitt stops humming […].« (40f.) »Miss Fitt summt ihren Choral. Kurz darauf stimmt Mrs. Rooney mit den Worten ein: … die Düsternis um mich heruu-uum. Miss Fitt hört auf zu summen […].«

41 An anderer Stelle behauptet sie freilich selbst, nicht existent zu sein: »Don’t mind me. Don’t take any notice of me. I do not exist. The fact is well known.« »Kümmere dich nicht um mich. Nimm keine Notiz von mir. Ich existiere nicht. Das weiß doch jeder.« (28f.) Vgl. auch Miss Fitts Beschreibung ihres, wenn man so sagen darf, Nichtvorhandenseins. (36f.)

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Mrs. Rooney kommentiert: »Wasn’t it that they sung on the Lusitania? Or Rock of Ages? Most touching it must have been. Or was it the Titanic?« (40f.) »War das nicht, was sie auf der Lusitania sangen? Oder war es ›Fels des Heils‹? Muss sehr ergreifend gewesen sein. Oder war es die Titanic?«

Zu den Mythen um den Untergang der Titanic, die sehr wahrscheinlich erst nachträglich erfunden wurden, gehört, dass das Orchester bis zum Schluss gespielt haben soll, um die Passagiere während der Rettungsaktionen bei Laune zu halten. Dabei werden neben anderen Musikstücken auch drei Kirchenlieder genannt: »Lead, kindly Light«, »Nearer my God to Thee« und »Rock of Ages«. Aus der ersten dieser drei Hymnen stammt die von Mrs. Rooney gesungene Zeile, »die Düsternis um mich herum«. Von der Lusitania, die, nachdem sie von einem deutschen U-Boot aus torpediert worden war, innerhalb von nicht mehr als 18 Minuten sank, ist vermutlich keine solche Legende überliefert. Das Absingen der Hymne »Lead Kindly Light« in Gefahr und höchster Not ist aber sehr wohl für einen anderen Unfall bezeugt, nämlich für das West Stanley Pit Disaster vom 16. Februar 1909, einem Unglück in einer Kohlengrube, bei dem 168 Bergleute einer Explosion zum Opfer fielen. Es leuchtet ein, dass die restlichen 25 Überlebenden einstimmten, als einer von ihnen in der vollständigen Dunkelheit zu summen begann: »Lead, Kindly Light, amidst th’encircling gloom, / Lead Thou me on! / The night is dark, and I am far from home, […].«42 Es kann als wahrscheinlich gelten, dass diese rührende Geschichte die Quelle der Legenden über das letzte Lied der Musiker und Passagiere auf der sinkenden Titanic ist. Denn schließlich passt nicht nur der Text der Hymne, sondern auch die Tatsache, dass im Angesicht des Todes überhaupt gesungen wurde, sehr viel besser zur Situation des quälenden Wartens im Stollen eines verschütteten Bergwerks als zur Hektik eines Schiffsuntergangs. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass sich Beckett dieses Zusammenhangs bewusst gewesen ist, ob er aber bei der Niederschrift des Hörspiels All That Fall auch an das West Stanley Pit Disaster gedacht hat, bleibt dahingestellt. Wahrscheinlich ist jedoch, dass die Beschäftigung mit den beiden spektakulären Schiffsuntergängen aus dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts schon in Becketts Kindheit stattfand. Die Titanic ging zwei Tage nach seinem sechsten Geburtstag unter43 und als die Lusitania versenkt wurde, war er gerade neun 42 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Lead,_Kindly_Light (Juli 2015). 43 13.04.1906 und 15.04.1912.

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Jahre alt geworden. Im Übrigen wollte es der Zufall, dass jede dieser beiden Katastrophen mit der Geschichte der Stadt Cobh im Süden seiner Heimat Irland verknüpft ist. Der letzte Stop der Titanic vor ihrer verhängnisvollen Jungfernfahrt war die damals noch Queenstown genannte Hafenstadt, in der dann auch die überlebenden Passagiere der Lusitania versorgt wurden, weil das Schiff ganz in ihrer Nähe versank. Später, in den Jahren 1938-39, hatte Beckett eine Affäre mit Peggy Guggenheim, deren Vater Benjamin mit der Titanic unterging. Doch genug davon: Schließlich tragen die biografischen Bezüge nicht viel zur Erklärung bei. Ein signifikanter Hinweis findet sich dagegen in Becketts Roman Watt und zwar an der Stelle, an der der Held ein Bild beschreibt, in dem ein nicht ganz geschlossener Kreis und ein Punkt dargestellt sind, die sich in einer ganzen Kombinatorik von unterschiedlichen Konstellationen aufeinander zuzubewegen scheinen oder auch nicht, in jedem Fall aber nie zueinander finden. Die schicksalhafte Verbindung zwischen diesem Kreis und diesem Punkt erscheint bei Beckett, der ja auch ein schönes tagelied44 geschrieben hat, als ein letztes Aufflackern der amor de lonh vor dem epochalen Einbruch der universalen Vernetzung durch den Funkverkehr: »Watt wondered if they had sighted each other, or were blindly flying thus, harried by some force of merely mechanical mutual attraction, or the playthings of chance. He wondered if they would eventually pause and converse, and perhaps even mingle, or keep steadfast on their ways, like ships in the night, prior to the invention of wireless telegraphy. Who knows, they might even collide.«45 »Watt fragte sich, ob sie einander gesichtet hatten oder ob sie einfach blind so dahinflogen, bedrängt von einer bloß mechanischen Anziehungskraft oder als Spielbälle des Zufalls. Er fragte sich, ob sie schließlich anhalten und sich unterhalten, vielleicht sogar zueinander kommen würden, oder ob sie standfest ihres Weges gehen würden wie Schiffe in der Nacht vor der Erfindung der drahtlosen Telegraphie. Wer weiß, vielleicht würden sie sogar zusammenprallen.«

Vor der Erfindung der Funkentelegrafie waren Schiffe auf hoher See für die Welt verloren, also nach Berkeleys Seinsverständnis nicht existent. Zwar war nicht nur die Titanic, der modernste Ozeandampfer seiner Zeit, sondern auch die Schiffe, die sich am 07. Mai 1912 in ihrer Nähe befanden, mit Telegrafen ausgerüstet, aber das Problem des Wahrgenommenwerdens war damit keineswegs 44 Samuel Beckett, »da tagte es«, in: ders., Collected Poems in English and French, London: John Calder, 1977, S. 27. 45 Ders., Watt, London: Faber & Faber, 2009, S. 110 [Übersetzung von mir, W.K.].

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gelöst. Ein einzelner Sender ist schließlich nur so viel wert wie das gesamte Netz, in dem er operiert. Genau daran aber mangelte es im Jahr 1912. An Geräten fehlte es nicht, so weit hatte Guglielmo Marconi, der Admiral sowohl der italienischen Flotte als auch der Royal Navy, seine Erfindung schon erfolgreich durchgesetzt, aber – und das ist ein wesentlicher, von Oscar-gekrönten Hollywood-Filmen nicht einmal registrierter Teil der Geschichte – sie waren nicht rund um die Uhr bemannt. Cyril Evans,46 der Telegrafist auf der Californian, kontaktierte seinen Kollegen Jack Phillips auf der Titanic um 9:05 p.m., New York Time, um ihm im Auftrag seines Kapitäns zu melden, dass dieser sein Schiff angehalten habe, weil es von Eis umgeben sei. Phillips, der dabei war, private Nachrichten von Cape Race, einer in Neufundland gelegenen Relaisstation auf dem Weg nach New York aufzunehmen, antwortete: »Shut up, shut up, I am busy; I am working Cape Race.« »Halt den Mund, halt den Mund, ich bin beschäftigt; ich kommuniziere mit Cape Race.« Um 11:25 p.m. war er immer noch dabei, Nachrichten mit dieser Station auszutauschen. Zehn Minuten später, um 11:35, war Evans’ Schicht zu Ende. Er schaltete sein Gerät ab, denn einen zweiten Telegrafisten gab es auf der Californian nicht, und ging zu Bett. Fünf Minuten später, um 11:40, stieß die Titanic mit einem Eisberg zusammen. Eine reichliche Stunde später, um 00:45, schickte die Titanic acht Leuchtraketen in die Luft, die zwar allesamt von der Mannschaft der Californian bemerkt wurden, aber niemanden dazu veranlassten, den schlafenden Telegrafisten aufzuwecken. Deshalb erreichte ihn weder das alte Notrufsignal »CQD« noch das neue »SOS«, das schon 1906 auf der RadioKonferenz in Berlin vereinbart worden war,47 obwohl die Titanic beide Signale kurz nach Mitternacht gesendet hatte.48 Weniger als drei Stunden später, um 2:20, war sie versunken, aber Evans wurde erst eine weitere Stunde später, nämlich um 3:30, geweckt. Infolgedessen konnte die Californian erst am Morgen mit der Rettung der Schiffbrüchigen beginnen, während die Carpathia, die ihren Telegrafendienst die ganze Nacht lang aufrecht erhalten hatte, zu diesem Zeitpunkt schon mehr als siebenhundert Leben gerettet hatte.49 Ein letztes Mal waren

46 Das Folgende nach der Zeugenaussage von Cyril Evans: http://www.titanicinquiry. org/USInq/AmInq08EvansCF01.php (01.07.2015). 47 Vgl. George Arthur Codding, The International Telecommunication Union. An Experiment in International Cooperation, New York: Arno Press, 1972, S. 96. 48 Vgl. Eugene L. Rasor, The Titanic. Historiography and Annotated Bibliography, Westport, Connecticut, London: Greenwood Press, 2001 (= Bibliographies and Indexes in World History; 53), S. 9 u. 31. 49 Vgl. ebd., S. 30f.

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zwei Schiffe im Abstand von nur zwölf Seemeilen so unerreichbar weit voneinander entfernt, wie sie es bis dato immer schon gewesen waren. Die dritte Funkverwaltungskonferenz, die zu diesem Zeitpunkt schon geplant war und dann am 04. Juni 1912 in London zusammentrat, zog die ersten Konsequenzen. So heißt es schon in der Eröffnungsrede des britischen Postdirektors: »The recent disaster of the ›Titanic‹ … has shown the necessity for wider use of radiotelegraphy on the open sea and for the investigation of new methods to make it more effective in its important duty of preventing disasters and assisting in rescue work.«50 »Die jüngste Katastrophe der ›Titanic‹ ... hat gezeigt, dass es notwendig ist, den Gebrauch der Radiotelegraphie auf offener See weiter auszubauen und neue Methoden zu entwickeln, um sie noch effektiver in ihrer wichtigen Pflicht zu machen, Katastrophen zu verhindern und Rettungsarbeiten zu unterstützen.«

Zu den wichtigsten Empfehlungen, die auf dieser Konferenz ausgesprochen wurden, gehörten die folgenden vier Punkte: a) b) c) d)

a) b) c) d)

The obligatory installation of radio sets on ships. The obligation to have a radio operator on continuous duty. The obligation to install, on ships, an auxiliary radio set provided with an independent source of power, for use in case of a breakdown of the main apparatus. The establishment of more rigid requirements for, and control over, both the radio apparatus and the radio operator.51 Die Pflicht, Radiogeräte auf Schiffen einzubauen. Die Pflicht, rund um die Uhr einen Telegrafisten im Bereitschaftsdienst zu haben. Die Pflicht, ein zweites Radiogerät mit einer unabhängigen Stromversorgung für den Fall, dass das Hauptgerät zusammenbricht, auf Schiffen einzubauen. Die Einrichtung strengerer Anforderungen für, und Kontrolle über sowohl den Radioapparat als auch den Telegrafisten.

Zwar hielten sich die Delegierten nicht für befugt, international bindende Regeln aufzustellen, aber die Notwendigkeit für solche Maßstäbe hatten sie ein für allemal festgestellt. Zwei Jahre später wurden nahezu alle ihre Vorschläge auf der Internationalen Konferenz über die Sicherheit auf See, die ebenfalls in London tagte, ohne weiteres ratifiziert. Explizit erklärt wurde erstens: »alle Schiffe, die 50 Zitiert nach Codding, The International Telecommunication Union (wie Anm. 47), S. 98. 51 Ebd., S. 102.

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im internationalen Handel mehr als 50 Passagiere aufnehmen, sind verpflichtet, mit einem Radiogerät von mindestens 100 Seemeilen Reichweite ausgestattet zu sein«. Und zweitens: »[A]lle Schiffe, die bestimmte Bedingungen erfüllen, müssen ununterbrochen Funkkontakt halten.«52 Zwischen dem Untergang der Titanic und dem der Lusitania liegt ein ganzes Kapitel Funk- und Radiogeschichte. Vor der sogenannten Titanic-Konferenz konnte man auf hoher See zwar schon funkentelegrafisch wahrgenommen werden, aber erst danach wurde die Empfangsbereitschaft, und das heißt in der Terminologie Berkeleys, Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden, Pflicht. Dazu gehören, wie die Vorgänge beim Untergang der Lusitania zeigen, dann im Ersten Weltkrieg auch die Versuche, sich dieser Pflicht zu entziehen und zwar sowohl im Spektralbereich der Radio- als auch in dem der Lichtfrequenzen, also sowohl durch Verschlüsselungstechniken und Funkstille als auch durch Untertauchen und Dazzle-Camouflage, wie im Fall der Mauretania, des Schwesterschiffs der Lusitania, die während der Schlacht von Gallipoli als Truppentransporter eingesetzt war. Wie in der zitierten Stelle aus Becketts Roman Watt geht es auch in dem Hörspiel All That Fall um das Sein als Wahrgenommenwerden, das esse als percipi. Watt sieht in dem Bild, das er beschreibt, eine Neuauflage der amor de lonh, und auch Mrs. Rooneys Denken kreist um eine Fernliebe, aber mit dem Unterschied, dass sie das percipere nicht nur als bloß sinnliche Wahrnehmung, sondern auch als concipere begreift und zwar sowohl im physisch-sexuellen Sinn der Empfängnis als auch in der technischen Bedeutung des Empfangs. Ihre lebenslange Beschäftigung mit Pferdehinterbacken ist das irdische Pendant eines mythischen und theologischen Ereignisses, der Geburt eines göttlichen Kindes aus der Kreuzung zwischen einem Gott und einer Sterblichen. In der Geschichte des christlichen Abendlandes wird dieser Zeugungsakt im Bild der Verkündigung gedacht, die – wie die Tradition der Annunciazione in der italienischen Malerei zeigt – sowohl eine optische als auch eine akustische Komponente hat. Gottvater sendet den heiligen Geist als Lichtstrahlenbündel aus, und der Engel Gabriel überbringt der Jungfrau Maria das göttliche Wort:53 »Et ingressus angelus ad eam dixit: Ave gratia plena: Dominus tecum: benedicta tu in mulieribus. Quæ cum audisset, turbata est in sermone ejus, et cogitabat qualis esset ista salutatio. Et ait angelus ei: Ne timeas, Maria: invenisti enim gratiam apud Deum. Ecce concipies in utero, et paries filium, et vocabis nomen ejus Jesum: hic erit magnus, et Filius 52 Ebd., S. 107f. 53 Und das, obwohl es im Text Lukas 1, 35, ausdrücklich heißt, der heilige Geist habe Maria »überschattet«, »obumbravit«.

220 | K ITTLER Altissimi vocabitur, et dabit illi Dominus Deus sedem David patris ejus: et regnabit in domo Jacob in æternum, et regni ejus non erit finis. Dixit autem Maria ad angelum: Quomodo fiet istud, quoniam virum non cognosco? Et respondens angelus dixit ei: Spiritus Sanctus superveniet in te, et virtus Altissimi obumbrabit tibi. Ideoque et quod nascetur ex te sanctum, vocabitur Filius Dei. Et ecce Elisabeth cognata tua, et ipsa concepit filium in senectute sua: et hic mensis sextus est illi, quæ vocatur sterilis: quia non erit impossibile apud Deum omne verbum. Dixit autem Maria: Ecce ancilla Domini: fiat mihi secundum verbum tuum. Et discessit ab illa angelus.« (Lukas 1, 28-38) »Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Gegrüßet seist du, Hochbegnadete! Der Herr ist mit dir! Sie aber erschrak über seine Rede und dachte bei sich selbst: Welch ein Gruß ist das? Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, Du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, des Namen sollst du Jesus heißen. Der wird groß sein und ein Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird ein König sein über das Haus Jakob ewiglich, und seines Reichs wird kein Ende sein. Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß? Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird Dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das von dir geboren wird, Gottes Sohn genannt werden. Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn in ihrem Alter und geht jetzt im sechsten Monat, von der man sagt, daß sie unfruchtbar sei. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich. Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr.«54

In der Gestalt der Elisabeth findet sich die kinderlose und längst schon unfruchtbare Mrs. Rooney wieder, zumal weil diese – anders als die Jungfrau Maria – nicht von sich behauptet, sie wisse nichts von einem Mann. In diesen Zusammenhang gehört nicht nur die Szene, in der Mrs. Rooney Mr. Tyler nachruft, er möge sie hinter einer Hecke von ihrem »cursed corset« (20f.) befreien, dazu gehört auch ihr Wunsch nach Liebe, der nur das Einfachste verlangt: »Love, that is all I asked, a little love, daily, twice daily, fifty years of twice daily love like a Paris horse butcher’s regular, what normal woman wants affection? A peck on the jaw at morning, near the ear, and another at evening, peck, peck, till you grow whiskers on you. There is that lovely laburnum again.« (14f.)

54 Die Bibel (wie Anm. 28), S. 71.

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»Liebe, das ist alles, was ich mir erbat, ein bisschen Liebe, täglich, zweimal täglich, fünfzig Jahre zweimal täglich Liebe wie in den Armen eines Pariser Pferdeschlächters, welche normale Frau will denn Zuneigung? Ein Küsschen auf die Kinnbacke am Morgen, nahe dem Ohr, und noch eins am Abend, Küsschen, Küsschen, bis dir ein Backenbart wächst. Da ist wieder der liebliche Goldregen.«

So wird, was Mrs. Rooney unter Liebe versteht, unmittelbar mit dem Goldregen der Danaë verknüpft. Aber die Liebe hat für sie, wie ihre Reaktion auf das Gurren der Ringtauben zeigt, nicht nur eine antike, sondern auch eine christliche Konnotation: »MRS ROONEY […] Cooing. Venus birds! […] Silence. Cooing. Faintly: Jesus!« (20f.) »MRS. ROONEY […] Gurren. Venusvögel! […] Stille. Gurren. Schwach: Jesus!«

Eine weniger subtile Parallele zu diesen Anspielungen auf den Diskurs der Liebe liefern die grotesken Geräusche sowie die Doppeldeutigkeit von Mrs. Rooneys Konversation mit Mr. Slocum, die man vernimmt, während sie in dessen Auto steigt: »MR SLOCUM cooly: May I then offer you a seat, Madam? MRS ROONEY with exaggerated enthusiasm: Oh that would be heavenly, Mr Slocum, just simply heavenly. Dubiously: But would I ever get in, you look very high off the ground today, these balloon tires, I presume. Sound of door opening and Mrs Rooney trying to get in. Does this roof never come off? No? Efforts of Mrs Rooney. No … I’ll never do it … you’ll have to get down, Mr Slocum, and help me from the rear. Pause. What was that? Pause. Aggrieved: This is all your suggestion, Mr Slocum, not mine. Drive on, Sir, drive on. MR SLOCUM switching off the engine: I’m coming, Mrs Rooney, I’m coming, give me time, I’m as stiff as yourself. Sound of Mr Slocum extracting himself from driver’s seat. MRS ROONEY Stiff! Well I like that. And me heaving all over back and front. To herself: The dry old reprobate. MR SLOCUM in position behind her: Now, Mrs Rooney, how shall we do this? MRS ROONEY As if I were a bale, Mr Slocum, don’t be afraid. Sounds of effort. That’s the way! Effort. Lower! Effort. Wait! Pause. No, don’t let go. Pause. Suppose I do get up, will I ever get down? MR SLOCUM breathing hard: You’ll get down, Mrs Rooney, you’ll get down. We may not get you up, but I warrant you we’ll get you down.

222 | K ITTLER He resumes his efforts. Sounds of these MRS ROONEY Oh! … Lower! … Don’t be afraid! … We’re past the age, when … There! … Now! … Get your shoulder under it … Oh! Giggles. Oh glory! … Up! Up! … Ah! I’m in! Panting of Mr Slocum. He slams the door. In a scream: My frock! You’ve nipped my frock! Mr Slocum opens the door. Mrs Rooney frees her frock. Mr Slocum slams the door. His violent unintelligible muttering as he walks round to the other door. Tearfully: My nice frock! Look what you’ve done to my nice frock! Mr Slocum gets into his seat, slams driver’s door, presses starter. The engine does not start. Releases starter. What will Dan say when he sees me? MR SLOCUM: Has he then recovered his sight? MRS ROONEY No, I mean when he knows, what will he say when he feels the hole? Mr Slocum presses starter. As before. Silence. What are you doing, Mr Slocum? MR SLOCUM: Gazing straight before me, Mrs Rooney, through the windscreen, into the void. MRS ROONEY Start her up, I beseech you, and let us be off. This is awful!« (22-27) »MR. SLOCUM kühl: Kann ich Sie ein Stück mitnehmen, Mrs. Rooney? MRS. ROONEY übertrieben enthusiastisch: Oh, das wäre himmlisch, Mr. Slocum, ganz einfach himmlisch. Unsicher: Ob ich aber jemals da hineinkomme, Sie thronen, wie ich sehe, heute ziemlich hoch über dem Boden, das machen wohl diese neuen Ballonreifen. Geräusch der aufgehenden Tür und von Mrs. Rooney, die einzusteigen versucht. Klappen Sie das Verdeck nie zurück? Nein? Mrs. Rooneys Anstrengungen. Nein ... Das schaff ich nie ... Sie müssen schon heruntersteigen, Mr. Slocum, und mir von hinten helfen. Pause. Was war das? Pause. Gekränkt: Sie haben es selber vorgeschlagen, Mr. Slocum, nicht ich. Fahren Sie doch weiter, mein Herr, fahren Sie doch weiter. MR. SLOCUM stellt den Motor ab: Ich komme schon, Mrs. Rooney, ich komme schon. Warten Sie einen Moment, ich bin genauso steif wie Sie. Man hört Mr. Slocum sich aus dem Führersitz herauswinden. MRS. ROONEY Steif! Also das mag ich.55 Dabei bin ich vorn und hinten überall am Schwabbeln. Zu sich selbst: Alter Schwerenöter. MR. SLOCUM in Hilfestellung hinter ihr: Also jetzt, Mrs. Rooney, wie sollen wir’s anstellen? MRS. ROONEY Wie wenn ich ein Strohballen wäre, nur keine Bange. Geräusch ihrer Anstrengungen. So wirds gemacht! Anstrengungen. Weiter unten! Anstrengungen. Warten Sie. Pause. Nein, nicht loslassen. Pause. Angenommen ich komme jemals hoch, werde ich jemals wieder runter kommen?

55 Tophoven verfehlt mit der Übersetzung: »Steif! Ich steif!« (25) die Zweideutigkeit dieser Stelle.

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MR. SLOCUM schwer atmend: Sie kommen wieder runter, Mrs. Rooney, Sie kommen wieder runter. Vielleicht kriegen wir Sie nicht hoch, aber ich garantiere Ihnen, dass wir Sie wieder runter kriegen. Er nimmt seine Anstrengungen wieder auf. Deren Geräusch MRS. ROONEY Oh! … Weiter unten! … Keine Bange! … Wir sind über das Alter hinaus, in dem … Da! … Jetzt! … Stemmen Sie Ihre Schulter drunter … Oh! Kichern. Oh du Herrlichkeit! … Hoch hinauf! Hoch hinauf! … Ah! Ich bin drin! Schnaufen von Mr. Slocum. Er knallt die Tür zu. Schreiend: Mein Kleid! Sie haben mein Kleid eingeklemmt! Mr. Slocum öffnet die Tür. Mrs. Rooney befreit ihr Kleid. Mr. Slocum knallt die Tür zu. Sein heftiges unverständliches Gemurmel während er zur anderen Tür herumgeht. Tränenvoll: Mein hübsches Kleid! Sehen Sie nur, was Sie meinem hübschen Kleid angetan haben! Mr. Slocum steigt ein, schlägt die Fahrertür zu, betätigt den Anlasser. Der Motor springt nicht an. Er gibt es auf, den Anlasser zu betätigen. Was wird Dan nur sagen, wenn er mich sieht? MR. SLOCUM Hat er denn sein Augenlicht wieder erlangt? MRS. ROONEY Nein, ich meine, wenn er es erfährt, was wird er sagen, wenn er das Loch fühlt? Mr. Slocum betätigt den Anlasser. Wie zuvor. Stille. Was machen Sie, Mr. Slocum? MR. SLOCUM Ich starre gradeaus, Mrs. Rooney, durch die Windschutzscheibe, ins Leere. MRS. ROONEY Ich flehe Sie an, lassen Sie das Auto an, fahren wir los. Das ist ja schrecklich!«

Dieses pornografische Hörspiel ist die menschliche Seite von Mrs. Rooneys Obsession. Die göttliche aber ist ein autoreferenzielles Spiel mit der Gattung selbst. Wie Gottvater nicht nur das Licht des heiligen Geistes, sondern auch das von seinem Engel Gabriel überbrachte Wort aussendet, so ist auch das Übertragungsmedium Funk auf eben diese beiden Träger angewiesen. Elektromagnetische Wellen durchdringen den Raum bis in seine tiefsten Tiefen, sind also allgegenwärtig wie Gott selbst. Und die Geschwindigkeit, mit der sie sich ausbreiten, ist zwar durchaus endlich, aber dennoch viel zu groß, als dass wir – zumindest innerhalb der Dimensionen des Planeten Erde, den wir bewohnen, und mit den Sinnen, über die wir verfügen – bei ihrer Übertragung auftretende Verzögerungen wahrzunehmen vermöchten. Funksprüche erreichen uns demnach, wie man sagt, in Echtzeit, müssen aber, da wir sie mit den Augen nicht entziffern können, durch die Membran des Lautsprechers in Schallwellen zurückverwandelt werden. Eine immaculata conceptio, wie sie sich Theologen ausdenken und Radiohörer erträumen, hat nicht statt, weil das, was schließlich unsere Ohren erreicht, weder der Goldregen des Zeus noch der λόγος σπερματικός des christlichen Gottes ist, sondern vielmehr aus irdischen Lauten, tierischen Stimmen und menschlichen Worten besteht.

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Der λόγος wird über andere Kanäle empfangen als das σπέρμα. Empfang ist nicht Empfängnis. Deshalb kehrt Mrs. Rooney ihre Gedanken von dem gottgleichen Menschensohn, der einst in Jerusalem einzog, ab und wendet sie dem Tier, auf dem er reitet, zu. Es ist, wenn man ihrer Deutung folgt, der irdische Doppelgänger Jesu Christi, also kein Esel wie in den vier Evangelien, sondern eine Mauleselin wie das Tier vor dem Karren Christys, der, wie schon sein Name sagt, selbst ein Doppelgänger Christi ist, aber nicht das göttliche Wort zu verkünden, sondern nur eine Ladung Mist zu verkaufen hat (vgl. 8f.). Daran ist Mrs. Rooney aber nicht interessiert. Ihre lebenslange Beschäftigung mit Pferdehinterbacken betrifft etwas anderes, nämlich deren Funktion bei der Kreuzung von Pferdehengst und Eselstute, die sie als das reale Korrelat der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria begreift. In das Paradigma der Bastarde Christus/Mauleselin fällt auch ihre eigene Tochter, die kleine Minnie, ein Bastard wie wir alle, nämlich eine Kreuzung aus einer Frau und einem Mann, Wesen, die zwar beide zur Gattung Homo sapiens gehören, aber einander dennoch so fremd bleiben wie zwei Lebewesen, die nicht zu ein und derselben Art gehören. Den Frauen geht es um Empfängnis und Empfang, den Männern um den Tod.

Erschöpfte Literatur Über das Neue bei Samuel Beckett* A RMIN S CHÄFER

1. Samuel Beckett hat die Sprache als einen »Schleier« bezeichnet, »den man zerreissen muss, um an die dahinterliegenden Dinge (oder das dahinterliegende Nichts) zu kommen.«1 Wenn ein Versuch, den Schleier wegzuziehen, nicht ins Leere greifen soll, muss er sowohl an den zerschlissenen Stellen in der »willkürliche[n] Materialität der Wortfläche«2 ansetzen als auch den Schleier auf eine neue Art und Weise aufspannen. Beckett ist den Weg, den James Joyce eingeschlagen hat, ein Stück weit mitgegangen.3 Joyce trägt die Spannung zwischen der Geschichtlichkeit der Sprache und der Intentionalität des Sprachgebrauchs *

Der Beitrag ist eine gekürzte und korrigierte Fassung meines Aufsatzes »Erschöpfte Literatur. Über das Neue bei Samuel Beckett«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 32:4 (2009), S. 329-344.

1

Samuel Beckett, »German Letter of 1937«, in: ders., Disjecta. Miscellaneous Writings and a Dramatic Fragment, hrsg. und mit einem Vorwort von Ruby Cohn, New York: Grove Press, 1984, S. 51-54, hier S. 52. Beckett schrieb den Brief auf Deutsch.

2 3

Ebd., S. 53. Vgl. Richard Ellmann, James Joyce, revidierte und ergänzte Ausgabe, betreut von Fritz Senn, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996, S. 903-1078. Die Beziehung zwischen Joyce und Beckett ist vielfach im Rückgriff auf das Konzept der »anxiety of influence«, das von Harold Bloom stammt, beschrieben worden; siehe z.B. Friedhelm Rathjen, Beckett zur Einführung, Hamburg: Junius, 1995, S. 23-41; Harold Bloom, Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, Second Edition, Oxford, New York: Oxford University Press, 1997.

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aus und entfesselt in den Wörtern neue Bedeutungen.4 Während Joyce den Konventionen der Literatur zu entfliehen sucht, indem er einen besonders dichten Sprachschleier webt, zielt Becketts Interesse auf die Verfahren, die den Schleier zusammenhalten. Das Erzählen verleiht der Sprache die Dichte, Fülle und Kohärenz einer textimmanenten Wirklichkeit, die es mit psychologisch motivierten Figuren bevölkern kann. Hierbei wirken der Subjektivitätseffekt der Sprache und ein sensomotorisches Schema zusammen: Das Erzählen stellt, wenn es eine literarische Figur schafft, zwangsläufig auch eine Subjektivität hin; das sensomotorische Schema organisiert einen habituellen Zusammenhang von Wahrnehmung, Bewegung und Handeln, der die Figuren mit einer Psychologie ausstattet. Was in der Lebenswelt den Zusammenhang von Wahrnehmung, Bewegung und Handeln stiftet, ist in der Erzählliteratur zur Konvention geworden: Die Figur durchläuft eine Abfolge von Situationen, die sie wahrnimmt, auf die sie reagiert und die sie durch Reden und Handlungen klärt, sodass von ihr insgesamt eine Entwicklung durchlaufen wird. Beckett skizziert die Problemlage, die aus der herkömmlichen Auffassung von literarischer Subjektivität resultiert, in seinem Vortrag Le Concentrisme (1930), der den fingierten französischen Dichter Jean du Chas vorstellt. Du Chas, so geht die Fiktion, habe nach seinem Tod im Alter von 22 Jahren ein Paket mit Heften hinterlassen: »Cette vie, telle qu’elle se dégage, vide et fragmentaire, de l’unique source disponible, son Journal, est une de ces vies horizontales, sans sommet, toute en longueur, un phénomène de mouvement, sans possibilité d’accélération ni de ralentissement, déclenché, sans être inauguré, par l’accident d’une naissance, terminé, sans être conclu, par l’accident d’une mort. Et vide, creuse, sans contenu, abstraction faites des vulgarités machinales de l’épiderme, celles qui s’accomplissent sans que l’âme en prennent connaissance.«5

Du Chas vollbrachte keine sichtbaren Taten, akkumulierte keinen Besitz und hinterließ so gut wie keine Spuren. Dennoch war sein Leben »une vie d’individu, le premier individu européen depuis l’expédition d’Egypte«.6 Dieser Dichter ohne Werk, der ein Vagantenleben führte, kündigte nämlich den heroischen Modus der Individuation auf: Weder diente ihm das Schreiben als Mittel, sich als Dichter zu etablieren, noch schuf er heroische Figuren. Seine wenigen überlie4

Vgl. Donald Davidson, »James Joyce und Humpty Dumpty« [1989], in: ders., Wahrheit, Sprache und Geschichte, aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008, S. 229.

5

Beckett, »Le concentrisme«, in: ders., Disjecta (wie Anm. 1), S. 35-42, hier S. 38.

6

Ebd., S. 39.

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ferten schriftlichen Äußerungen können, wie der Titel des Vortrags ankündigt, in den Zusammenhang der zeitgenössischen Literatur eingeordnet werden. Becketts Vortrag gerät zu einem Rundumschlag gegen die literarische Moderne. Er polemisiert gegen deren Vertreter, die sich entweder in »braiements anti-sociaux«7 äußern oder aber von der Wirklichkeit absehen. Du Chas hingegen stehe dem sozialen Engagement ebenso fern wie den Selbstinszenierungen der Dichter. Er zitiere, so die Fiktion, in seinen Aufzeichnungen aus einem Brief, in dem Proust erklärt »pour quelles raisons il ne peut pas, mais absolument pas, se moucher le dimanche matin avant six heures«.8 Die Präsentation literaturwissenschaftlicher Auslegungen der Briefstelle, die zum Objekt der Satire werden, beendet Beckett mit einer Bemerkung, die nicht weiter ausgeführt wird: »Ou vous pourriez considérer tout cela sous la lumière de la physiologie. Ce serait plus égayant.«9 Beckett stößt in Physiologie, Psychologie und Psychiatrie auf neuartige Beschreibungen des Wahrnehmens, Bewegens und Handelns, die jenseits des heroischen Modus der Individualität angesiedelt sind. Der Weg, den er einschlägt, durchquert ein physiologisches und psychologisches Wissen, das in die literarische Form selbst einwandert. Denn die Wissenschaften lösen nicht schon die dreiseitige Problemstellung, an der er arbeitet: Wie kann das Erzählen eine Subjektivität fingieren, die nicht beliebig ist, weil sie irgendwelchen Bedingungen untersteht, denen aber nichts in der Welt entspricht? Wie kann das Erzählen ein sensomotorisches Schema aufstellen und es zugleich auflösen? Wie kann das Erzählen dem klassischen Subjektivitätseffekt samt den sprachlichen und erzählerischen Klischees, die hieran hängen, entfliehen, wenn es doch eine Figur benötigt? Jedenfalls hat der Held ausgedient, der im Laufe der Handlung immer größer wird, weil er eine Folge von Abenteuern besteht oder eine Bildung erwirbt. Selbstverständlich kann das Erzählen eine beliebige Figur fingieren, die nicht den alltäglichen Bedingungen des Wahrnehmens, Bewegens und Handelns unterliegt. Doch es kann den Subjektivitätseffekt der Sprache nicht vermeiden, der sich beim Gebrauch der Personalpronomina der ersten und dritten Person zwangsläufig einstellt. Und der Subjektivitätseffekt der Sprache spielt wiederum mit dem sensomotorischen Schema zusammen: Das Erzählen entkommt ihm nicht allein dadurch, dass es seine Protagonisten ihres Heldentums entkleidet oder die Bezugnahmen auf die psychologischen und physiologischen Bedingungen kappt, wie sie für Menschen in der Welt gelten. Das Erzählen muss also einerseits dem sensomotorischen Schema entfliehen und es von Innen heraus auflösen, indem es neue Weisen der Subjektivierung erfindet. Und es muss 7

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andererseits dem unvermeidlichen Subjektivitätseffekt der Sprache entfliehen und Antworten auf die Frage finden, wie eine personale Instanz sprechen bzw. erzählen kann, ohne zu einer festen Subjektivität zu gerinnen.

2. Das allgemeine Kennzeichen des Erzählens ist dessen Mittelbarkeit, die im Grundbegriff des ›Erzählers‹ konkretisiert wird. Die Standardtheorie des Erzählens bietet mit diesem Grundbegriff für die literarische Subjektivität eine ebenso einfache wie elegante Erklärung an. Denn das Erzählen stellt mit jeder Person oder, genauer gesagt, Figur, die auftaucht, auch eine Subjektivität hin. Und dieser Effekt tritt beim Erzählen in der ersten Person Singular besonders prägnant hervor. Das Personalpronomen »ich« regiert nämlich sprachliche Anordnungen: Es ist die sprachliche Nahtstelle, an der die personale Form einer Subjektivität zu fassen ist. Das kann auf zweifache Weise erklärt werden. Eine erste Erklärung begreift Subjektivität als den sprachlichen Ausdruck einer konkreten Person: Die Pronomina, so erläutert Émile Benveniste, sind diejenigen Elemente der Sprache, die es einem Sprecher erlauben, das »Gefühl« auszudrücken, das er »von seiner nicht weiter zu zerlegenden Subjektivität besitzt«.10 Hierfür sind die Pronomina geeignet, weil sie »leere«, nicht refereielle und immer verfügbare Zeichen sind, die »voll« werden, sobald ein Sprecher sie in seine Rede aufnimmt: Wer »ich« sagt, markiert nicht an einzelnen Momenten, dass er sich die Rede als subjektive angeeignet habe, sondern er markiert die gesamte ergehende Rede als seine eigene. Damit greift Benveniste eine Unterscheidung auf, die Edmund Husserl zwischen »wesentlich subjektiven und okkasionellen Ausdrücken« einerseits und »objektiven Ausdrücken« andererseits getroffen hat. »Wir nennen einen Ausdruck objektiv«, so definiert Husserl, »wenn er seine Bedeutung bloß durch seinen lautlichen Erscheinungsgehalt bindet, bzw. binden kann, und daher zu verstehen ist, ohne daß es notwendig des Hinblickes auf die sich äußernde Person und auf die Umstände ihrer Äußerung bedürfte«.11 Die Subjektivität der Ausdrücke steckt, wie Husserl festhält, in den Sprechern und den Umständen der

10 Émile Benveniste, »Die Natur der Pronomen«, in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, aus dem Französischen von Wilhelm Bolle, Frankfurt a.M.: Syndikat, 1977, S. 279-286, hier S. 283. 11 Edmund Husserl, Gesammelte Schriften. Band 3: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. I. Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, hrsg. von Elisabeth Ströker, Hamburg: Felix Meiner, 1992, S. 86 [Herv. i.O.].

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Äußerung: »Schon jeder Ausdruck, welcher ein Personalpronomen enthält, entbehrt eines objektiven Sinnes. Das Wort ich nennt von Fall zu Fall eine andere Person, und es tut dies mittels immer neuer Bedeutung. Welches jeweilig seine Bedeutung ist, kann nur aus der lebendigen Rede und den zu ihr gehörenden, anschaulichen Umständen entnommen werden.«12 So wenig subjektive Ausdrücke vom jeweiligen Sprecher und den Umständen ihrer Äußerung losgelöst werden können, so unvollständig ist deren Bedeutung durch ihre schiere Lautlichkeit bereits festgelegt: »Das Wort ich hat an sich nicht die Kraft, direkt die besondere Ichvorstellung zu erwecken, die seine Bedeutung in der betreffenden Rede bestimmt.«13 Benveniste führt die Argumentation von Husserl weiter, indem er die Pronomina sowohl als Teil der Sprache als auch der instances du discours begreift.14 Die zweite Erklärung begreift Subjektivität als einen sprachlichen Effekt, der sich zwangsläufig beim Gebrauch des Pronomens einstellt. »Grundlage der Subjektivität«15 in der Sprache ist nun nicht mehr das Gefühl, das der Sprecher von sich selbst besitzt und ausdrückt, sondern die Sprache selbst: Die bloße Verwendung des Personalpronomens produziert bereits einen Subjektivitätseffekt.16 Sobald es auftaucht, wird gewohnheitsmäßig von den Äußerungen auf eine Subjektivität geschlossen. Der »systematische Charakter«17 der Sprache bewirkt dann, dass sich die einmal erfolgte Zuschreibung einer Subjektivität formal auf das Gefüge der Sprache überträgt. Diese Erklärung eröffnet der Literaturwissenschaft die methodische Option, nicht nur nach der Subjektivität, sondern auch nach der Subjektposition zu fragen und diesen Stellplatz beispielsweise mithilfe der Diskursanalyse zu rekonstruieren: Sie stößt dann auf Regeln, die in der Sprache selbst und den historischen Gesetzmäßigkeiten eines Wissens zu fassen sind. Michel Foucault hat, nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit Beckett, die Untersuchung der Pronomina von der Bezugnahme auf konkrete Individuen abgelöst: Anstatt die Subjektivität des Sprechers zu dechiffrieren, der »ich« sagt, schlägt Foucault vor, den Ort zu bestimmen, von dem aus eine Aussage überhaupt möglich ist. Foucault versucht also, die Subjektposition unter der 12 Ebd., S. 87. 13 Ebd., S. 88. 14 Karl Bühler zeigt, dass das Zeigewort »ich« keine logische, sondern eine psychologische Bestimmung erfordert. Siehe Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz, ungekürzter Neudruck der Ausgabe von 1934, Stuttgart, New York: Gustav Fischer, 1982, S. 102-107. 15 Émile Benveniste, »Über die Subjektivität in der Sprache«, in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft (wie Anm. 10), S. 287-297, hier S. 290. 16 Vgl. ebd., S. 293. 17 Ders., »Die Natur der Pronomen« (wie Anm. 10), S. 284.

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Bedingung »was liegt daran wer spricht«18 zu bestimmen. Er unterscheidet zwischen Äußerungen und Aussagen: »Eine Aussage unterscheidet sich unter anderem von einer beliebigen Folge von sprachlichen Elementen durch die Tatsache, daß sie mit einem Subjekt eine bestimmte Beziehung unterhält.«19 Das Subjekt einer Aussage lässt sich »nicht auf jene grammatischen Elemente in der ersten Person reduzieren« und fällt auch nicht mit deren Urheber zusammen: »Keine Zeichen, so weiß man, ohne daß jemand sie von sich gibt, auf jeden Fall ohne etwas wie ein sendendes Element.«20 Obwohl das Vorhandensein von Zeichen eine Produktionsinstanz, einen Urheber, Sender oder Autor erfordert, ist diese Instanz »nicht mit dem Subjekt der Aussage identisch; und das Produktionsverhältnis, das er [der Autor] mit der Formulierung unterhält, ist nicht deckungsgleich mit dem Verhältnis, das das äußernde Subjekt und das, was es äußert, verbindet«.21 Mit anderen Worten: Das Subjekt, das spricht, muss weder substanziell noch funktional mit dem Urheber oder Sender einer Rede identisch sein. Vielmehr ist es »ein determinierter und leerer Platz, der wirklich von verschiedenen Individuen ausgefüllt werden kann«.22 Äußerungen werden also dadurch zu Aussagen, dass in ihnen die Position des Subjekts bestimmt werden kann, nicht aber dadurch, dass »es eines Tages jemand gab, der sie vorbrachte oder irgendwo ihre provisorische Spur niederlegte«.23 Foucault hat daraus die Konsequenz gezogen, Aussagen unter Absehung dessen, wer spricht, zu untersuchen und stattdessen nach den Bedingungen und Regeln zu fragen, die ihre Hervorbringung ermöglichen. Und diese Bedingungen und Regeln liegen keineswegs in den sprechenden Individuen, sondern sie steigen von einem apersonalen Grund der Sprache auf. Die Pronomina der ersten Person Singular sind also eine Instanz, durch die sich eine Subjektivität ausspricht. Und sie sind zugleich eine Instanz, die den 18 Michel Foucault, »Was ist ein Autor? (Vortrag)«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band 1: 1954-1969, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001, S. 1003-1041, hier S. 1007: »Was liegt daran wer spricht, hat jemand gesagt, was liegt daran wer spricht.« Samuel Beckett, »Texte um Nichts«, in: ders., Dante und der Hummer. Gesammelte Prosa, aus dem Französischen und Englischen von Elmar und Erika Tophoven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S. 137-185, hier S. 144. 19 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, aus dem Französischen von Ulrich Köppen, 5. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992, S. 134. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 139. 23 Ebd.

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Effekt einer Subjektivität hervorbringt. Die Pronomina der dritten Person Singular hingegen erzeugen diesen Subjektivitätseffekt auf andere Weise. Die klassische Erzähltheorie ging noch davon aus, dass nicht allein die erste Person Singular, sondern ebenso die dritte Person Singular eine Subjektivität hinstellt. Die »epische Fiktion« sei der »einzige erkenntnistheoretische Ort, wo die IchOriginität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann«.24 Die heterodiegetische Erzählung, in der die Pronomina Er oder Sie vorkommen, wird auf das Modell der Ich-Erzählung zurückgeführt und die Ich-Erzählung wiederum als Aussprache einer Subjektivität begriffen. Rückhalt findet diese Auffassung nicht zuletzt in einer Definition der dritten Person Singular, der zufolge diese Pronomina keine eigentlichen Personalpronomina seien: »Sie [die dritte Person] existiert und kennzeichnet sich […] durch Opposition zur Ich-Person des Sprechers, der, indem er sie aussagt, sie als ›NichtPerson‹ festlegt. Dies ist ihr Statut. Die Form er … erhält ihren Wert aufgrund der Tatsache, daß sie notwendigerweise zu einem Diskurs gehört, der von einem ›ich‹ ausgesagt wird.«25 Oder anders formuliert: Die dritte Person ist immer nur der Gegenstand der Rede einer ersten Person. Während nämlich die erste Person einen Sprechakt ausführen kann, erlaubt die dritte Person allenfalls dessen Beschreibung. Woher bezieht jedoch die erste Person die performative Kraft, eine dritte Person als Subjektivität zu konstituieren? Die sprachwissenschaftlichen Theorien erkennen in den Personalpronomen der dritten Person eine Unterbestimmung der Subjektivität, so als ob die Pronomina wie ein unbestimmter Artikel oder ein unbestimmtes Pronomen funktionieren. Gilles Deleuze und Félix Guattari schlagen stattdessen vor, auch die Analyse der dritten Person auf eine Analyse der diskursiven und nichtdiskursiven Bedingungen auszuweiten: »Wir glauben dagegen, daß das Unbestimmte der dritten Person Singular und Plural, er, sie, es keinerlei Unbestimmtheit enthält und die Aussage nicht mehr auf ein Äußerungssubjekt bezieht, sondern auf ein kollektives Gefüge als Bedingung.«26 Deleuze und Guattari können zeigen, dass sich solche angeblich unterbestimmten Elemente der Rede aus dem Kontext und den diskursiven Bedingungen weitgehend klären und bestimmen lassen. Der Gebrauch der dritten Person im Redeauftritt lässt zwar unklar, welche Person überhaupt 24 Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, ungekürzte Ausgabe nach der 3. Aufl. von 1977, Frankfurt a.M., Berlin, Wien: Ullstein, 1980, S. 79. 25 Benveniste, »Über die Subjektivität in der Sprache« (wie Anm. 15), S. 296 [Herv. i.O.]. 26 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve, 1992, S. 360.

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spricht; gleichwohl lässt sich rekonstruieren, unter welchen Bedingungen diese Rede ergeht. Der Sprechakt ist derjenige Teil eines sprachlichen und nichtsprachlichen Gefüges, der eine Handlung, die dieses Gefüge insgesamt ausübt, vollendet: So wie Sprechakte Handlungen nur als Teil eines Gefüges ausführen, das die einzelne Äußerung überschreitet, so wird auch die dritte Person nicht durch die Äußerungen einer ersten Person, sondern als Teil eines sprachlichen Gefüges konstituiert, das mehr und anderes ist als die Äußerungen der ersten Person. Insofern geht die dritte Person aus einem differenziellen Spiel zwischen der Instanz des Erzählers und der erzählten Figur hervor.27 Die heterodiegetische Erzählung, in der eine dritte Person vorkommt, ermöglicht genauso wie die Erzählung in der ersten Person eine Figuration von Subjektivität, die weder deren Aussprache noch selbstverständlicher Effekt des Pronomengebrauchs ist.28

3. In den 1930er Jahren betreibt Beckett philosophische, psychologische und psychiatrische Studien. Deren Spuren sind in seinen literarischen Texten wiedergefunden worden.29 So ist etwa der Roman Murphy (1938) gespickt mit Anspielungen auf die zeitgenössische Psychologie: Es werden der Begründer der Würzburger Schule der Denkpsychologie, Oskar Külpe, und seine Mitarbeiter Karl Marbe, Karl Bühler, Henry J. Watt und Narziß Kaspar Ach ebenso erwähnt wie Pavlovs Reflextheorie und die Gestaltpsychologie. Jedoch ist die literarische Subjektivität, die der Roman hinstellt, keine bloße Thematisierung oder Abbildung psychologischer Theorien, sondern von Anfang an als bruchstückhaft, statisch und unabgeschlossen angelegt. Schon der Romananfang kündigt keine harmonische Aufteilung zwischen einer Ordnung der Natur, die für die Welt überhaupt gelte, und einer Sphäre des freien Menschen an, sondern bezeichnet eine Bruchlinie, an der Wissenschaften, soziale Ordnung und Subjektivität

27 Vgl. Dorrit Cohn, Transparent Minds. Narrative Models for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton, NJ: Princeton University Press, 1978, S. 7f. u. S. 21-140. 28 Vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, mit einem Nachwort hrsg. von Jochen Vogt, aus dem Französischen von Andreas Knop, 2. Aufl., München: Wilhelm Fink, 1998, S. 137. 29 Vgl. Chris J. Ackerley, Demented Particulars: The Annotated »Murphy«, Second edition, revised, Tallahassee, FL: Journal of Beckett Studies Books, 2004; ders., Obscure Locks, Simple Keys: The Annotated »Watt«, Tallahassee, Fl: Journal of Beckett Studies Books, 2005.

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aufeinandertreffen. Das Erzählen setzt mit einer ebenso souveränen wie ironischen Geste ein, die die fiktionale Welt auf die Wirklichkeit bezieht und sie deren Gesetzen unterstellt: »The sun shone, having no alternative, on the nothing new.« Wenn diese Geste die diegetische Welt ins Gleichmaß mit der Wirklichkeit rückt, kehrt sie der zweite Satz sogleich um und weist die klassische Bestimmung von Subjektivität als eine Fiktion aus: »Murphy sat out it, as though he were free, in a mew in West Promptom.«30 So wenig die Fiktion einer Freiheit, die lange Zeit als Bestimmung von Subjektivität diente, aufrecht zu erhalten ist, so unabänderlich ist, was geschieht unter »the poor old sun in the Virgin again for the billionth time«.31 Der Roman exponiert diese Spannung nicht zuletzt als Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Forschung und alltäglicher Lebenswelt und wendet sie ins Satirische.32 Die Situation in einem Labor ist eben nicht auf die Lebenswelt übertragbar. Wenn die Figur Murphy einen Tearoom aufsucht, gerät ihre Bestellung zum komischen Experiment: »The only solution was to take his lunch at once, more than an hour before he was due to salivate. […] The waitress stood before, with an air of such abstraction that he did not feel entitled to regard himself as an element in her situation. At last, seeing that she did not move, he said: ›Bring me‹, in the voice of an usher resolved to order the chef’s special selection for a school outing. He paused after this preparatory signal to let the fore-period develop, that first three moments of recreation in which, according to the Külpe school, the major torments of response are undergone. Then he applied the stimulus proper: ›A cup of tea and a packet of assorted biscuits.‹«33

In der Kollision von theoretischem Konzept und konkreter lebensweltlicher Situation, von Wirklichkeit und sprachlicher Repräsentation, blitzt die Inkongruenz von wissenschaftlicher und literarischer Beschreibung auf. Dennoch besitzt die Psychologie eine gewisse Relevanz für die Konzeption einer literarischen Figur. Sie ist für Beckett insofern von Interesse, als sie aufzeigt, wie sich eine Subjektivität konstituiert. Auch wenn er über die zeitgenössische Psychologie spottet, verdankt er ihr neue Einsichten. Sie entdeckt zum einen allgemeine Gesetzmäßigkeiten, die Wahrnehmung, Bewegung und Verhal30 Samuel Beckett, Murphy, Montreuil, London: John Calder, 2003, S. 5. 31 Ebd. 32 Beckett favorisierte einen Buchumschlag für den Roman, der die Fotografie zweier Affen zeigte, die einander an einem Schachbrett gegenüber sitzen. Siehe hierzu The Letters of Samuel Beckett. Volume 1: 1929-1940, hrsg. von Martha Dow Fehsenfeld und Lois More Overbeck, Cambridge: Cambridge University Press, 2009, S. 381f. 33 Beckett, Murphy (wie Anm. 30), S. 48f.

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ten regieren und für die Konstitution von Subjektivität ausschlaggebend sind.34 Zum anderen ist in der Psychologie ein Verständnis von Subjektivität angelegt, das nicht mehr auf deren klassische Bestimmungen wie Vernunft oder Freiheit abzielt, sondern Subjektivität als Schauseite von nicht bewussten Abläufen begreift. Schließlich bietet die Psychologie verschiedene Erklärungen dafür an, warum das sensomotorische Band so stabil und elastisch ist, dass die meisten Bewegungen wie von selbst ablaufen. Während der Behaviorismus die Bewegung als Reflex und den Reflex als mechanisch ablaufende Reaktion auf einen Reiz begreift, schlägt die Gestaltpsychologie vor, Bewegung als ein ineinander geschachteltes Wechselspiel von Figur und Grund zu begreifen.35 Die Psychologie entdeckt mit den Gesetzmäßigkeiten des Wahrnehmens, Bewegens und Handelns auch eine abgeschwächte Form der Subjektivität, die der Untergrund für deren aktive und entwickelte Form bildet. Unterhalb der Aktivität des Subjekts liegt ein Gebiet, auf dem das klassische Verständnis von Subjektivität aufruht. Allerdings ist im Alltag die Einsicht in dieses Gebiet zumeist verstellt: Einerseits treten in den lebensweltlichen Situationen die Gesetzmäßigkeiten und Mechanismen nicht zutage, welche die Wahrnehmung, Bewegung und Handlung eines Subjekts bestimmen; andererseits vermag das Erzählen auf selbstverständliche Weise eine Subjektivität hinzustellen, ohne dass deren psychologische Voraussetzungen jemals thematisch werden müssen. Was Psychologie und Physiologie, Reflexlehre und Gestalttheorie entdecken, ist also eine Wirklichkeit, die unter 34 So exzerpiert Beckett aus Robert S. Woodworths Contemporary Schools of Psychology unter anderem folgende Stellen: »The distinction of figure and ground is regarded by the Gestalt psychologists as absolutely fundamental in the process of seeing. […] Figure and ground are not peculiar to the sense of light. A rhythmical drumbeat or the chugging of a motorboat stands out as a figure against the general background of less distinct noises; and something moving on the skin stands out from the general mass of cutaneous sensations. […] Gestalt psychology has seized upon this distinction of figure and ground as a fundamental principle in the organization of experience and behaviour.« »[T]he Gestalt psychologist urges that we get no true picture of a person’s character by listing the various personality traits. […] The personality is not a mere sum of traits, but an organized whole, a gestalt.« Robert S. Woodworth, Contemporary Schools of Psychology, London: Methuen & Co. Ltd., 1931, S. 107f. u. S. 97. Vgl. hierzu Ackerley, Demented Particulars (wie Anm. 29); James Knowlson, Samuel Beckett. Eine Biographie, aus dem Englischen von Wolfgang Held, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001, S. 737. 35 Vgl. Kurt Goldstein, Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen, Den Haag: Martinus Nijhoff, 1932, S. 75.

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dem Schleier der Sprache, wie ihn die klassische Erzählliteratur aufspannt, unsichtbar bleibt.

4. Beckett stößt in seiner Literatur zu einem Gebiet passiver Synthesen vor, die eine larvenhafte Subjektivität konstituieren.36 Es handelt sich um elementare Vorgänge, die wiederholt, kombiniert und permutiert werden und allenfalls einen abgeschwächten Subjektivitätseffekt hervorbringen. So heißt es im Roman Watt über den Gang der Titelfigur: »Watt’s way of advancing due east, for example, was to turn his bust as far as possible towards the north and at the same time to fling out his right leg as far as possible towards the south, and then to turn his bust as far as possible towards the south and at the same time to fling out his left leg as far as possible towards the north, and then again to turn his bust as far as possible towards the north and to fling out his right leg as far as possible towards the south, and then again to turn his bust as far as possible towards the south and to fling out his left leg as far as possible towards the north, and so on, over and over again, many many times, until he reached his destination, and could sit down. So, standing first on one leg, and then, on the other, he moved forward, a headlong tardigrade, in a straight line. The knees, on this occasion, did not bend. They could have, but they did not. No knees could better bend than Watt’s, when they chose, there was nothing the matter with Watt’s knees as may appear. But when out walking they did not bend, for some obscure reason.«37

Die literarische Fiktion thematisiert hier nicht nur das Gehen, sondern bildet eine flüchtige Einheit von Erzählen und Wissen aus. Das Erzählen verschränkt Wissensstruktur und Darstellung in einer Wiederholung, Permutation und Kombination von Elementen, die das Gehen als einen Vorgang denotieren, der ohne Beteiligung des Bewusstseins abläuft. So schreiben die Brüder Wilhelm und Eduard Weber 1836 in der »Vorrede« ihres Buchs Die Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge:

36 Vgl. Edmund Husserl, Gesammelte Schriften. Band 8: Cartesianische Meditationen. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hrsg. von Elisabeth Ströker, Hamburg: Felix Meiner, 1992, S. 1-161, hier S. 114116. 37 Samuel Beckett, Watt [1953], London: John Calder, 1998, S. 28f.

236 | A. S CHÄFER »Man könnte vielleicht daran zweifeln, dass es überhaupt möglich sey, vom Gehen und Laufen eine Theorie zu geben, da wir keine Gehmaschinen sind, und also diese Bewegungen durch die Freyheit unseres Willens sehr mannigfaltig abgeändert werden. In der That würde es ein vergebliches Bemühen seyn, wenn man die Gesetze bestimmen wollte, nach denen ein erwachsener Mensch sich bewegen würde, der früher nie seine Beine gebraucht hätte und zum ersten Male zu gehen versuchte. Ein solcher Mensch würde von der Freiheit im Gebrauch seiner Muskeln die willkührlichste und regelloseste Anwendung machen, zumal wenn ihm kein Muster zur Nachahmung gegeben würde.«38

Die Brüder Weber stellen fest, dass das Gehen ein Bewegungsablauf ist, der nicht vom Willen abhängt, sondern durch Übung funktioniert. Der alltägliche Gebrauch der Gehwerkzeuge unterliegt keiner bewussten Formung der Bewegungsabläufe, sondern vollzieht sich automatisch und ohne Beteiligung des Bewusstseins. Man weiß nicht, was man tut, wenn man geht. Deshalb unternehmen sie eine Reihe von Experimenten, mit denen sie herauszufinden suchen, wie überhaupt die Bewegung der Beine erfolgt. Sie entdecken einen komplizierten, schwingenden und gleichmäßigen Bewegungsablauf beim Gehen, der auch dann noch funktioniert, wenn die Versuchsperson ermüdet oder tot ist. »Sogar beim Leichnam«, erklären die Brüder Weber, »kann man diese schwingende Bewegung des Beins durch Anstossen des Beins hervorbringen, wenn die durch Todtenerstarrung entstehende Steifheit vorüber ist, oder die starr gewordenen Muskeln durchschnitten worden sind. […] Aus allen diesen Umständen erhellt [sich], dass die gleichförmige Zeitdauer dieser Schwingungen durch die Kraft der Schwere von selbst herbeigeführt wird, ohne dass unser Wille dazu nöthig ist. Dieses ist eine sehr wichtige Eigenschaft der Beine, durch welche eine so grosse Regelmässigkeit der Aufeinanderfolge der Schritte möglich wird, dass sie unsere Bewunderung erregt.«39

Die Gehbewegung ist nämlich eine Pendelbewegung, die mechanischen Gesetzen folgt, nicht aber vom Willen hervorgebracht wird. Der Wille kann zwar in die Gehbewegung eingreifen, aber weder lässt sich die Entstehung dieses Bewegungsablaufs, noch dessen spezifische Form durch den Willen der Versuchspersonen erklären. Der Körper vermag selbst dann eine Gehbewegung auszuführen, 38 Wilhelm Weber, Eduard Weber, Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. Eine anatomisch-physiologische Untersuchung, Göttingen: Dieterichsche Buchhandlung, 1836, S. V. Vgl. hierzu Friedrich Kittler, »Man as a Trunken Town-musician«, in: Modern Language Notes 118:3 (2003), S. 637-652. 39 Weber, Weber, Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge (wie Anm. 38), S. 19.

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wenn der Wille beeinträchtigt ist, etwa weil man müde oder tot ist: Die Bewegung, die einmal angestoßen ist, setzt sich selbstständig fort, insofern das Wechselspiel von Beugern und Streckern in den Muskeln automatisch abläuft. Im 20. Jahrhundert wird dieser Befund von der Psychologie weitgehend bestätigt, wenn auch den Beugern eine modifizierte Rolle zugeschrieben wird. Während die Strecker als diejenigen Muskeln gelten, die in unwillkürlichen Bewegungsvorgängen einsetzen, führen die Beuger die willentlich kontrollierten Bewegungen aus. Es handelt sich um elementare Vorgänge, die allenfalls einen abgeschwächten Subjektivitätseffekt hervorbringen. Vor diesem Hintergrund erscheint Becketts Figur Watt als die konsequente Umsetzung eines psychophysiologischen Wissens: Sie ist keine souveräne und selbstbestimmte Instanz eines Geschehens, sondern ein Aggregat oder Knotenpunkt von stereotypen Bewegungen. Beckett stellt solche Bewegungen als Episoden dar, die von ihrem Vorher und Nachher abgetrennt sind und in keinem unmittelbaren Zusammenhang zur Romanhandlung stehen. Die Aufzählung, Kombination und Permutation von Bewegungen, die ziel- und richtungslos werden, im Kreise laufen, sich endlos wiederholen, verlangsamen und schließlich verlöschen, treten an die Stelle einer progredierenden Handlung. Die Figur führt die Bewegungsabläufe solange aus, bis alle kombinatorischen Möglichkeiten durchlaufen sind. Hierüber ermüdet sie und gerät schließlich in einen Zustand der Erschöpfung, in dem ihre Subjektivität zu zerfallen droht.

5. Um 1860 entdecken Physiologen die Ermüdung des Körpers als wissenschaftlichen Gegenstand.40 Der Turiner Physiologe Angelo Mosso erforscht systematisch Ursachen, Verlauf und Folgen der Ermüdung.41 Er zeichnet mit einem eigens hierfür entwickelten Gerät, dem Ergografen, die Arbeitsleistungen von Versuchspersonen auf und kann zeigen, dass die »eigenartigsten, charakteristischen Merkmale unseres individuellen Lebens, die Art nämlich, wie wir müde werden«,42 Naturgesetzen unterworfen sind: Einerseits ermüdet jede Person, und

40 Vgl. Anson Rabinbach, Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien: Turia & Kant, 2001 (= Wiener Schriften zur Historischen Kulturwissenschaft; 19), S. 161-174. 41 Zu Angelo Mosso vgl. Philipp Felsch, Laborlandschaften. Physiologische Alpenreisen im 19. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein, 2007. 42 Angelo Mosso, zitiert nach Rabinbach, Motor Mensch (wie Anm. 40), S. 163.

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zwar in je unterschiedlicher Weise. Andererseits verändert sich die Persönlichkeit, sobald ein gewisses individuelles Maß an Ermüdung überschritten wird: »Wenn die Ermüdung sehr groß ist, sei es, daß eine geistige Arbeit oder eine Muskelanstrengung sie herbeiführt, vollzieht sich eine Aenderung in unserer Stimmung: wir werden reizbarer, und es scheint fast, als habe die Ermüdung das, was an edlen Gefühlen in uns war, jene Fähigkeit des Gehirnes, durch welche sich der civilisirte Mensch vom Naturmenschen unterscheidet, aufgezehrt. Wir vermögen uns nicht mehr zu beherrschen, und die Leidenschaften brechen so heftig hervor, daß wir sie nicht mehr mit unserer Vernunft zügeln und ihnen entgegen arbeiten können. Die Erziehung, welche die unwillkürlichen Bewegungen im Zaume hielt, verliert ihre Macht und es ist, als ob wir um einige Stufen in der gesellschaftlichen Hierarchie hinunterstiegen.«43

Mossos Beobachtung, dass die Ermüdung auch die Persönlichkeit verändert, wird von der Psychiatrie aufgegriffen, die um 1900 mit einer eigenständigen Forschung beginnt. Emil Kraepelin knüpft an Mossos Arbeiten an und untersucht körperliche und geistige Ermüdung sowie die Wechselwirkungen von geistiger und körperlicher Arbeit. Sein schlichter Befund besagt: Was auch immer man tut oder nicht tut, stets wird man ermüden. »Die Ermüdung«, schreibt er, »beginnt ohne Zweifel mit der Thätigkeit selbst; es hieße daher, auf die Arbeit überhaupt zu verzichten, wenn man das Auftreten der Ermüdung gänzlich vermeiden wollte. Aber auch ohne eigentliche Arbeit würden wir den Ermüdungserscheinungen nicht entgehen können.«44 Denn nicht allein die Arbeit macht müde, sondern auch das Nichtstun. »Für das Gehirn«, schreibt Kraepelin weiter, »bedeutet das ›Nichtsthun‹ keine vollständige Ruhe. Vielmehr genügt das Wachsein, der einfache Ablauf unserer Bewußtseinsvorgänge vollständig, um allmählich unweigerlich jenen Zustand von Leistungsunfähigkeit herbeizuführen, welcher nur durch den Schlaf in Verbindung mit der Nahrungsaufnahme wieder beseitigt werden kann. Die Arbeitspause allein schon bedingt, wenn auch in geringerem Grade als die Arbeit selbst, eine langsam fortschreitende, durch einfache Erholung nicht ausgleichbare Herabsetzung unserer geistigen Leistungsfähigkeit.«45

43 Ders., Die Ermuedung, uebersetzt von J. Glinzer, Leipzig: S. Hirzel, 1882, S. 238f. 44 William H.R. Rivers, Emil Kraepelin, »Ueber Ermüdung und Erholung«, in: Psychologische Arbeiten 1 (1896), S. 627-678, hier S. 669. 45 Ebd., S. 670.

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Das erste Anzeichen der Ermüdung ist eine steigende Zahl von Fehlern, die bei der Verrichtung der Tätigkeit begangen werden. Werden diese Anzeichen, die ein Signal zur Einstellung des Arbeitens sind, ignoriert, droht die Erschöpfung. Die Psychiater und Mediziner geben unterschiedliche Erklärungen für die psychophysiologischen Vorgänge bei Ermüdung und Erschöpfung. Als Ermüdung gilt der Verbrauch einer unbekannten Substanz oder die Selbstvergiftung des Körpers durch Stoffwechselprodukte; als Erschöpfung die »Zerstörung der körperlichen Träger unseres Seelenlebens in Folge zu starken Verbrauches oder ungenügenden Ersatzes. Während wir uns die Ermüdung lediglich durch die Anhäufung lähmend wirkender Zerfallsproducte im Blute zu erklären pflegen, würde die Erschöpfung dann beginnen, wenn der Verbrauch im Nervengewebe den Ersatz bis zur dauernden Gefährdung des Bestandes überschreitet.«46

Ungeachtet der unterschiedlichen Erklärungen sind sich Mediziner und Psychiater einig hinsichtlich der Gefährdung, die von Ermüdung und Erschöpfung ausgeht. Während der willentliche Antrieb die Ermüdung kompensiert, nicht aber zur Fortsetzung der Arbeit bis zur Erschöpfung drängt, führt die »gemüthliche Erregung« zur Fortsetzung der Arbeit bis zur Selbstschädigung. Die gesteigerte Ermüdung, so warnen die Mediziner, »ist der erste Schritt zu einer Selbstvernichtung des Nervensystems durch die eigene Thätigkeit«.47 Deswegen befindet sich der Erschöpfte auch in einem ›gefährlichen‹ Zustand, in dem die Mediziner und Psychiater ein Krankheitsbild erkennen, das einer geistigen Störung vergleichbar ist. Die Folgen der Erschöpfung sind, wie die Psychiater beobachten, »Erschöpfungsdelirien«48, eine Dissoziation des Selbst, ein Verlust an Persönlichkeit oder ein Zerfall des Ich: »Als Erschöpfungsirresein wollen wir diejenigen Formen geistiger Störung bezeichnen, als deren Ursache wir einen übermäßigen Verbrauch oder ungenügenden Ersatz von Nervenmaterial in der Hirnrinde ansehen dürfen.«49 Der menschliche Körper ist, wie die Psychiater annehmen, grundsätzlich in der Lage, sich selbst zu regulieren. Im Zustand der Erschöpfung ist jedoch das 46 Emil Kraepelin, Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studirende und Aerzte. I. Band. Allgemeine Psychiatrie, sechste, vollständig umgearbeitete Aufl., Leipzig: Johann Ambrosius Barth, 1899, S. 30f. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 58. 49 Ders., Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. I. Band: Allgemeine Psychiatrie, unveränderter Abdruck der achten Aufl., Leipzig: Johann Ambrosius Barth, 1920, S. 55f.

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Vermögen zur Selbstregulation ausgesetzt und die Kontrolle über die ausgeübte Tätigkeit zusammengebrochen. Es droht eine ernsthafte Schädigung des Organismus und zudem werden andere gefährdet. Denn die Symptome der Erschöpfung sind keineswegs Apathie, Rückzug und das Verlöschen der Bewegungen, sondern bloßes Agieren: Der Erschöpfte ist nur mehr ein Bündel von Funktionen, die mechanisch angetrieben werden. Er setzt, und davon geht auch die größte Gefahr aus, seine Tätigkeit unablässig fort wie eine leer laufende oder durchdrehende Maschine oder eben wie ein Wahnsinniger. Während die gelingende Selbststeuerung des Organismus die konstitutive Wurzel der Subjektivität – die Gewohnheit – nährt, beginnt im Zustand der Erschöpfung, in dem die Selbststeuerung zusammenbricht, die Subjektivität zu zerfallen: Die Subjektform verliert ihre Selbstverständlichkeit.

6. Die Erschöpfung ist also anderes und mehr als eine große Müdigkeit. »Erschöpft sein«, schreibt Gilles Deleuze, »heißt sehr viel mehr als ermüdet sein«.50 Die Pause oder der Schlaf stellt das Vermögen des Ermüdeten wieder her, erneut seine Tätigkeit ausführen oder seine Gedanken aufgreifen und weiterführen zu können. Insofern ist eine Pause oder der Schlaf keine Unterbrechung einer Tätigkeit, sondern bloß deren Aufschub. Der Wechsel in die horizontale Lage, in der man in den Schlaf hinübergleitet, bereitet die Wiederaufnahme und Fortsetzung der Tätigkeit vor. »Sich hinlegen«, schreibt Deleuze, »ist nie das Ende, das letzte Wort, es ist das vorletzte, und man läuft allzusehr Gefahr, ausgeruht genug zu sein, wenn auch nicht, um wieder aufzustehen, so doch wenigstens, um sich umzudrehen oder zu kriechen«.51 Während der Ermüdete nach der Pause seine Tätigkeit in vorhersehbarer Weise wieder aufnehmen kann, ist ungewiss, ob und wie der Erschöpfte sie überhaupt fortsetzen kann. Der Erschöpfte tritt aus dem Kalkül jeder Tätigkeit heraus, denn er richtet seinen Kräftehaushalt nicht auf das Ziel ein, erneut die Tätigkeit ausüben zu können, sondern er versucht, seine Tä-

50 Gilles Deleuze, »Erschöpft«, in: Samuel Beckett, Quadrat. Geister-Trio, … nur noch Gewölk …, Nacht und Träume. Stücke für das Fernsehen, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996, S. 49-101, hier S. 51. Siehe hierzu auch Isabelle Ost, Samuel Beckett et Gilles Deleuze. Cartographie de deux parcours d’éccriture, Brüssel: Facultés Universitaires Saint-Louis, 2008 (= Publications des Facultés Universitaires Saint-Louis; 118). 51 Deleuze, »Erschöpft« (wie Anm. 50), S. 58.

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tigkeit weiter fortzusetzen oder irgendetwas anderes zu tun, nicht aber zu schlafen. Wer müde ist, wird seine Bewegungen irgendwann einstellen, der Erschöpfte aber macht weiter: »Der Ermüdete verfügt über keinerlei subjektive Möglichkeiten mehr, er kann also gar keine objektive Möglichkeit mehr verwirklichen.«52 Nach und nach wird der Ermüdete seine Tätigkeit einstellen, während dem Erschöpften, weil er, auf welche Art und Weise auch immer, weiter agiert, noch irgendwelche Möglichkeiten offen stehen, seine Tätigkeit fortzusetzen: Sei es, weil er weiterhin seine Tätigkeit, wenn auch mit Fehlern oder mit reduzierter bzw. fehlender Kontrolle, ausübt, oder sei es, weil er seine Tätigkeit auf eine gänzlich unvorhersehbare Weise ausübt. Den Ermüdeten hält die Aussicht auf Regeneration ab, sich weiter zu bewegen; der Erschöpfte hat seinen Haushalt nicht auf ein Ziel eingerichtet, sondern auf die nächste Bewegung. Der Selbstlauf einer Bewegung, die in herkömmlicher Weise erlernt wurde, sichert vor allem das Weitermachen: Wer sich immerfort auf eine bestimmte Weise bewegen kann (ohne zu ermüden), kann sich dem Selbstlauf seiner Bewegungen überlassen und braucht nicht zu entscheiden, ob und wie es weitergeht. Der Selbstlauf kennt in diesem Sinne auch keine innere Stoppregel, sodass der Zweck einer Bewegung nicht zuletzt darin besteht, dass es eben weitergeht. Und weil es immerzu weitergehen kann, wird sich die Art und Weise, wie man sich bewegt, auch nicht ändern müssen. Die Bewegung, die aus der Erschöpfung geboren wird, ist hingegen in viel höherem Maß gefährdet und kann jederzeit abbrechen. Im Zustand der Erschöpfung wird unvorhersehbar, was als Nächstes geschieht. Wer erschöpft ist, übt seine Tätigkeit auf eine unbestimmte Art und Weise aus, sodass die Relation von Zweck und Mittel untergraben wird. Der Erschöpfte kann sich bei der Ausübung seiner Tätigkeit nicht mehr auf das Erlernte verlassen. Er führt Bewegungen aus, die nicht mehr der Forderung nach Kraftersparnis, kürzestem Weg und maximaler Wirkung genügen. Vielleicht nimmt er eine andere Körperhaltung ein oder führt ganz neue Bewegungen aus. Man will sich weiter bewegen, muss aber eine neue Form der Bewegung erfinden. Die Bewegung des Erschöpften ist nicht als herausgehobenes, besonderes Moment, nicht als einzelne, exzeptionelle Bewegung zu begreifen, sondern als eine Transformation der Bewegung selbst. In der Erschöpfung wird eine stetige Beziehung von Fähigkeiten und Fertigkeiten und deren Produkt unterbrochen. Die passiven Synthesen stocken und die Selbststeuerung setzt aus, sodass sich eine andere Form der Subjektivität ausbilden kann. Wenn die Gewohnheit die konstitutive Wurzel der Subjektivität ist, die sich im bloßen Ablauf der Zeit mittels passiver Synthesen von Wahrneh52 Ebd., S. 51.

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mungen und Empfindungen verfertigt, unterbricht die Erschöpfung diesen Selbstlauf und öffnet die Subjektivität ins Unbestimmte.53 Jetzt kann das Gefüge von sprachlichen Äußerungen und sensomotorischem Schema umgebaut werden.

7. Die Uraufführung von Becketts Theaterstück A Piece of Monologue fand am 14. Dezember 1979 mit David Warrilow im La Mama Theater in New York statt.54 Warrilow hatte Beckett um ein Solostück gebeten und vorgeschlagen, dass der Schauspieler vom Tod rede. Beckett antwortete: »›Meine Geburt war mein Tod.‹ Aber ich könnte das nie auf 40 Minuten bringen (5000 Wörter) mit dieser alten Kamelle.«55 Es gibt keine Handlung des Stücks in dem Sinn, dass sichtbare Bewegungen auf der Bühne präsentiert würden. Stattdessen spricht eine Person, die Beckett den Sprecher nennt, von Handlungen, die in einem räumlichen und zeitlichen Ungefähr vollzogen wurden, ohne dass sich genau angeben ließe, wann sie wer wo ausgeführt hat.56 Ein weißhaariger Mann steht im Nachthemd auf der Bühne in einem Zimmer, das von einer Lampe schwach und diffus beleuchtet wird. Weiter hinten oder rechts außen auf der Bühne ist der Fuß eines Bettgestells zu erkennen. Der Sprecher selbst steht, wie aus der Regieanweisung hervorgeht, regungslos und wie angewurzelt auf der Bühne. Der Sprecher ist der Ort einer Verlautbarung, nicht aber ein Akteur, der eine äußere Handlung ausübt. Das ist umso auffälliger, weil die Handlungen einzig und allein in der Sprache zur Darstellung gelangen. Es heißt im Text des Sprechers:

53 Vgl. Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus (wie Anm. 26), S. 324f. 54 Vgl. Samuel Beckett, »A Piece of Monologue«, in: ders., Collected Shorter Plays, London: Faber & Faber, 1984. Es gibt eine französische Bearbeitung, die von Beckett stammt und den Titel Solo trägt. Vgl. Knowlson, Samuel Beckett (wie Anm. 34), S. 845f. 55 Samuel Beckett, »Brief an David Warrilow«, zitiert nach Knowlson, Samuel Beckett (wie Anm. 34), S. 811. 56 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren, 1999. Lehmann spricht von »Szenen ohne konkreten Zeitindex«, die eine »schwebende Temporalität« erzeugen (S. 318), und bemerkt, dass es in Becketts Stücken eine »Einheit von Ort und Zeit« gibt, aber diese Einheit »parodiert« werde (S. 324).

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»Loose matches in right-hand pocket. Strikes one on his buttock the way his father taught him. Takes off milk white globe and sets it down. Match goes out. Strikes a second as before. Takes off chimney. Smoke clouded. Holds it in left hand. Match goes out. Strikes a third as before and sets it to wick. Puts back chimney. Match goes out. Puts back globe.«57

Man hört also, was nicht zu sehen ist. Alles, was geschieht, sind Wörter, und diese Wörter sind nahezu das einzige Geschehen auf der Bühne. Der Mann spricht immer wieder über das umständliche Entzünden der Lampe, in der die Bewegung in das Herstellen von Sichtbarkeit überführt wird. Der Sprecher spricht also über ein Handeln, das sich nicht als sichtbare Bewegung im Raum vollzieht, und dieser Zusammenhang von Sichtbarkeit und Handlung wird in jener Handlung, von der gesprochen wird – dem Entzünden einer Petroleumlampe – selbst thematisch. Das sich ändernde Licht wiederum markiert eine Temporalstruktur, die sich von der Temporalität der Bewegung im Raum unterscheiden lässt: Die hereinbrechende Dunkelheit ist keine Bewegung im Raum, keine verräumlichte Bewegung, sondern eine Zeitlichkeit, die als Veränderung der Sichtbarkeit selbst sichtbar wird. Schließlich sind Sprechen und Handeln nicht durch eine stabile Subjektposition miteinander verbunden: Es ist unklar, ob der Sprecher von Handlungen spricht, die er selbst oder ein anderer begangen hat, ja es ist unklar, wer überhaupt spricht, da der Sprecher kein einziges Mal das Personalpronomen der ersten Person Singular verwendet, sondern weitgehend auf Pronomina verzichtet und allenfalls die dritte Person Singular gebraucht. Wie sehr Bewegung und Licht miteinander verknüpft sind, verdeutlicht die Petroleumlampe, die im Unterschied zu elektrischer Beleuchtung das Zeichen ihres eigenen temporalen Verlaufs ist. Der Text ist insgesamt durch eine eigentümliche Temporalstruktur geprägt, die sich an Wiederholungen bemisst, nicht aber an der Progression einer äußeren Handlung im Raum. Der Verlauf des Geschehens wird überhaupt nicht verräumlicht, und dementsprechend sind alle Hinweise auf die Zeitlichkeit des Geschehens auch nicht als Bewegungen im Raum oder als Bewegungen auf der Bühne gegeben, sondern im Sprechen über sich ändernde Lichtverhältnisse. Das Am-Leben-Sein wiederum ist aufs Engste mit einer gewissen Sichtbarkeit und der Sichtbarkeit von Bewegungen verbunden: Der Text entfaltet unablässig eben diesen Zusammenhang, dass Leben dort ist, wo eine Bewegung sichtbar wird, und Sterben dort beginnt, wo die Sichtbarkeit schwindet und die Bewegung zum Stillstand kommt. Nicht zuletzt deshalb spricht der Mann immer wieder über das umständliche Entzünden der Lampe, in der die Bewegung in eine Herstellung von Sichtbarkeit überführt wird. Licht und

57 Beckett, »A Piece of Monologue« (wie Anm. 54), S. 266.

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Sichtbarkeit sind, mit anderen Worten, an eine Bewegung geknüpft, sei es im Entzünden der Lampe oder im Gang an das Fenster, um hinauszublicken. Der Text formuliert keine Subjektposition: In dem gesamten Text verwendet der Sprecher kein einziges Mal das Personalpronomen »ich«. Stattdessen sagt er über die dritte Person »he all but said« bzw. »il allait dire«, d.h., er war drauf und dran zu sagen.58 Der Sprechakt präsentiert sich als ein zukünftig vergangener. Wenn sich im Laufe des Sprechens dennoch so etwas wie eine Subjektposition herauskristallisiert, entsteht sie jedenfalls nicht über ein Ich-Sagen. Der Psychologe und Sprachtheoretiker Karl Bühler kann zeigen, dass keine Artikulation des Pronomens für die Produktion eines Subjektivitätseffekts erforderlich ist und hierfür schon die Stimmeigenschaften hinreichen. Die schiere Verlautbarung einer Stimme auf der Bühne produziert ein »Hier–Jetzt–Ich-System der subjektiven Orientierung«.59 In einer Situation des Hörens konstituieren bereits »das reine ›hier‹« eines »Positionssignals« und das »Individualsignal« der schieren stimmlichen Artikulation eine Subjektposition, die ausgeformt wird.60 In jeder Situation des Hörens ist also eine Subjektposition gegeben, doch in der Subjektposition noch nicht impliziert, wie dieser leere, determinierte Platz ausgefüllt werden wird. Literarische Subjektivität wird in einem sprachlichen Gefüge konstituiert, das mehr und anderes ist, als die Äußerungen einer Person und die Äußerungen über eine Person.61 Die sprachliche Äußerung ist gerade kein neutrales Medium der Subjektivierung, in der eine problemlose Aussprache von einer vorgängigen, psychologischen Subjektivität gelänge, sondern die Äußerung vollzieht sich in einem kollektiven Gefüge, das Subjektivitätseffekte hervorbringt. Beckett schrieb 1965 einen kurzen Prosatext, der den Titel imagination morte imaginez trägt. Der Titel fordert, wörtlich genommen, dazu auf, sich vorzustellen, dass die Imagination selbst tot sei. Diese paradoxe Forderung schreibt dem imaginativen Akt seine Selbstaufhebung ein: Die Imagination soll sich das Ausgelöschtsein dessen vorstellen, woraus sie selber ist. Damit wird die Imagination auf ein Schwellenphänomen gerichtet, und zwar auf den Punkt oder den Moment, an dem die Imagination verlöscht und schwindet. Dieses Paradoxon einer Selbstaufhebung eines Vorstellungsakts wird dann in dem Prosatext entfaltet, der wie folgt beginnt: »Nulle part trace de vie, dites-vous, pah, la belle affaire, imgination pas morte, si, bon, imagination morte imaginez. 58 Vgl. ders., »solo«, in: ders., Catastrophe et autres dramaticules. Cette fois, Solo, Berceuse, Impromtu d’Ohio, Quoi où, Paris: Les Éditions de Minuit, 1986, S. 29-37. 59 Bühler, Sprachtheorie (wie Anm. 14), S. 373. 60 Ebd. 61 Vgl. Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus (wie Anm. 26), S. 360.

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Iles, eaux, azur, verdure, fixez, pff, muscade, une éternité, taisez. Jusqu’à toute blanche dans la blancheur la rotonde.«62 Es gibt eine gewisse Räumlichkeit, die bald eine Rotunde, später im Text dann einen Schädel evoziert; konkrete Räume hingegen sind nur im Modus ihres Hinschwindens präsent. Und es gibt Imperative, die zwar eine Richtungsänderung befehlen, sich aber zugleich wieder zurücknehmen. Es heißt im Text: »Attendez, plus ou moins longtemps […]. Plus ou mois longtemps, car peuvent intervenir, l’expérience le montre, entre la fin de la chute et le début de la montée des durées très diverses, allant d’une fraction de seconde jusqu’à ce qui aurait pu, en d’autres temps et lieux, paraître une éternité.«63

Die Imagination, so könnte man sagen, entspringt hier einer diskontinuierlichen Bewegung, die richtungslos verläuft. Am Grund der Imagination, wo sie sich noch nicht in Geschichten oder Erzählungen oder eben ausgearbeiteten Fiktionen artikuliert, gibt es nur mehr eine diffuse Bewegung, nicht aber bereits so etwas wie Handlung oder einen Plot. Die Imagination präsentiert sich als eine Art Zustand des Wartens oder als eine Schwellbewegung, nicht aber als Handlung. Alles geschieht in der Sprache, die elementare Akte des Bewegens präsentiert, die zwar nicht nichts sind, aber diesseits einer Erzählung oder Handlung verharren.

62 Samuel Beckett, »imagination morte imaginez« [1965], in: ders., Têtes-Mortes, Paris: Les Éditions de Minuit, 2000, S. 51-57, hier S. 51; siehe hierzu Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991, S. 412-425. 63 Beckett, »imagination morte imaginez« (wie Anm. 63), S. 52f.

Autorinnen und Autoren

Karin Harrasser ist Professorin für Kulturwissenschaft an der Kunstuniversität Linz. Nach einem Studium der Geschichte und der Germanistik Dissertation an der Universität Wien, Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin über Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne. Mit Elisabeth Timm gibt sie die Zeitschrift für Kulturwissenschaften heraus. Forschungsinteressen sind Körper-, Selbst- und Medientechniken, Prozesse der Verzeitlichung, Theorien des Subjekts/der Objekte, Populärkultur/Science Fiction, Genres und Methoden der Kulturwissenschaft. Wolf Kittler ist Professor für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California, Santa Barbara. Er lehrte an den Universitäten Erlangen-Nürnberg, Freiburg im Breisgau, Konstanz, München und Cornell. Er forscht zu westlicher Literatur von der griechischen Antike bis heute, Philosophie, Medien- und Wissenschaftsgeschichte. Karin Kröger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und assoziiertes Mitglied der Laborgruppe »Kulturtechniken« an der Universität Erfurt. Studium der Literaturwissenschaft in Erfurt, Sankt Petersburg und Santa Barbara, Promotion begonnen als Stipendiatin des Graduiertenkollegs »Mediale Historiographien« in Weimar/Erfurt/Jena. Forschungsinteressen sind Schrift, Papier, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, Mathematik und Spiel. Laura Salisbury ist Senior Lecturer in Medizin und Englischer Literatur an der University of Exeter. 2012 erschien Samuel Beckett: Laughing Matters, Comic Timing (Edinburgh). Forschungsinteressen sind moderne, postmoderne und zeitgenössische Literatur (Fiktion), Medical Humanities, Poststrukturalismus, Philosophien des Zeitlichen, Gender und Sprache, Neurowissenschaft und Sprache.

Armin Schäfer ist Professor für Neugermanistik, insbesondere Literatur des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungen u.a. zur Literatur des Barock, zur Lyrik, zum Verhältnis von Literatur und Psychiatrie. Martin Jörg Schäfer ist seit 2014 Professor für Neuere deutsche Literatur/Theaterforschung am Institut für Germanistik der Universität Hamburg. Zuvor Lehre und Forschung an der Universität Paderborn, der New York University, der Universität Erfurt, der Akademie der bildenden Künste Wien und der Universität Siegen. Forschungsinteressen: Literatur, Theater, »Theorie« ab 1750, Traditionsbrüche und Krisennarrative, Theorien der Theatralität und des Darstellens, Arbeit, Faulheit, Müßiggang, Muße etc., Figuren des Übersetzens und Übertragens, Produktionen des politischen Imaginären. Peter Schuck wurde als Stipendiat und Mitglied des Forums »Texte. Zeichen. Medien« an der Universität Erfurt mit einer Arbeit über Zombies promoviert. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und Philosophie in Erfurt und Bochum. Forschungsinteressen: Dramen-Textualität, Filmtheorie, Medien und Poetiken des Untoten, Horror- und Splatterkino, deutsch- und englischsprachige Nachkriegsliteratur, Gegenwartslyrik, Kulturund Medientheorie, Queer- und Gender-Studies, Theorien des Subjekts und der Gemeinschaft. Friederike Thielmann arbeitet als Dozentin für Regie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt. Studium der Angewandten Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, 2011-2013 Stipendiatin am Graduiertenkolleg »Mediale Historiographien« Weimar/Erfurt/Jena, Promotion zur Ästhetik der Leiche im Barock- und Gegenwartstheater an der Universität Erfurt. Forschungsinteressen: Regiepraxis und Regietheorie, Puppen-, Objekt- und Materialtheater, Barockes Theater, Verhältnis von Theater und Tod, Samuel Beckett, aktuelle Arbeiten zwischen Theater und Bildender Kunst. Katrin Trüstedt ist Juniorprofessorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Studium der Kulturwissenschaften in Berlin, Frankfurt (Oder) und New York, mit Schwerpunkten im Spannungsfeld von Literaturwissenschaft, Philosophie und Recht. Humboldt Fellow am German Department der Yale University. Aktuelles Habilitationsprojekt im Forschungsfeld von Recht und Literatur zu Figuren der Stellvertretung.

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Dezember 2014, 208 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2871-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-2871-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die ZiG kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € (international 28,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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