Das lernende Selbst in der Hochschulreform: »Ich« ist eine Schnittstelle: Subjektdiskurse des Bologna-Prozesses [1. Aufl.] 9783839421581

Wie werden in der gegenwärtigen Studienreform des Bologna-Prozesses die Studierenden als »Lernsubjekte« angesprochen? Un

137 34 272MB

German Pages 242 Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Das lernende Selbst in der Hochschulreform: »Ich« ist eine Schnittstelle: Subjektdiskurse des Bologna-Prozesses [1. Aufl.]
 9783839421581

Citation preview

Susanne Draheim Das lernende Selbst in der Hochschulreform: »Ich« ist eine Schnittstelle

Susanne Draheim hat Erziehungs- und Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg studiert und in Soziologie an der Technischen Universität Dresden promoviert_ Sie ist als Referentin in der Abteilung für Studium und Lehre der Präsidialverwaltung an der Universität Harnburg tätig.

SusANNE DRAHEIM

Das lernende Selbst in der Hochschulreform: nlch« ist eine Schnittstelle Subjektdiskurse des Bologna-Prozesses

[ transcript]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ fdnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Susanne Draheim Satz: text plus form, Dresden Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2158-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter:

info@ transcript-verlag.de

Inhalt

Danksagung

I

7

1 1.1 1.2

Einleitung I 9 Problemaufriss I 9 Forschungs- und Diskussionsstand

2

Eine kurze Geschichte der Subjektivität und ihre Relevanz für Selbstverhältnisse im Lernprozess Vorbemerkung: Historisch-soziologische Einbettung I 19 Die Soziologie der Subjektivierung I 25 Das » unternehmerische Selbst« (Bröckling) I 27 Reckwitz' »hybrides Subjekt« I 30

2.1 2.2

2.3 2.4 3 3.1 3.2

3.3 3.4 3.5 3.6

4 4.1 4.2

I

16

Überleitung: Eine institutionentheoretisch fundierte Diskursanalyse I 35 Vergehensweise und methodelogische Reflexion 41 Autonomie und Anomie. Die europäische Hochschulreform nach Bologna I 49 Vorbemerkung: Kulturkritik der Bologna-Reform I 52 Die verfehlten offiziellen Ziele der Bologna-Reform I 54 Charakter und Ausrichtung der Reform I 54 Drei exemplarische Zielsetzungen der Reform I 56 Latente Funktionen der Hochschulreform: Die Erneuerung akademischer und sozialer Eliten? 63 Die anomische Massenhochschule und die Krise des akademischen Wissensregimes I 68 Die Hochschulreform nach Bologna in institutionentheoretischer Perspektive I 80 Empirische Befunde zur ReformLösung oder Erneuerung des Anomieproblems? I 89 Das humanistische Selbst I 97 Vorbemerkung I 97 Aktuelle Referenzen: Selbstkompetenz, Schlüsselkompetenzen, Lebenslanges Lernen

I

100

I

19

4.3

4.4 4.5

5 5.1 5.2 5.3

5.4

Klassische Ausgangspunkte: Rezeption des RenaissanceHumanismus und des deutschen Neuhumanismus I 106 Melancholie und Subjektivität I I 06 Das Bildungssubjekt im Neuhumanismus I 111 Vermittlungsfigur in die Gegenwart: Die Humanistische Psychologie I 121 Ausblick: Von Freuds Melancholie zu Ehrenbergs Depression I 128 Die entgrenzte Unternehmerfigur als idealisiertes Lernsubjekt I 133 Vorbemerkung I 134 Definitionsversuche: Was ist Entrepreneurship? Wer ist ein Unternehmer? I 137 Die diskursive Verschiebung des Entrepreneurbegriffs Führerschaft und Heilserwartung I 141

I

141

Die Demokratisierung der Unternehmerfigur I 148 Die Entgrenzung des Unternehmerischen über das ökonomische Handeln hinaus I !54

6

Sozio-technische Netzwerke und lernende Schnittstellen

6.1 6.2 6.3

Vorbemerkung I 159 Universelle Lerntheorien- eine kybernetische Vorgeschichte Lerntheorien im Mensch-Maschine-Verhältnis I 165 Regelkreis-Modelle des Lernens von der kybernetischen Pädagogik bis zum Computer Based Training I 165 E-Learning I 167 Social Media I 171 Narrative Konzeptionen und sozio-technische Darstellungen personaler und sozialer Identität I 177 Fiktionalisierung und Pluralisierung 177 die Möglichkeiten narrativen Selbstbezugs Das strategische und das gefährdete Selbst: Selbstverantwortung im Social Web I 183 Ausblick: »Grenzen der Gemeinschaft« oder Takt als Verkehrsform I 190

6.4

6.5

7

Schlussbetrachtung

Literatur

I

205

I

193

!59 161

Danksagung

Das vorliegende Buch ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im April 2010 im Fach Soziologie an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden eingereicht und im Mai 2011 verteidigt wurde. Für die institutionelle, theoretische, technische und soziale Unterstützung im Verlauf dieses langjährigen Projektes bedanke ich mich herzlich bei meinen Gutachtern Karl-Siegbert Rehberg (Technische Universität Dresden) und Stephan Lessenich (Friedrich-Schiller-Universität Jena), sowie bei meinen Kolleginnen, Kollegen, akademischen Lehrern, Freundinnen und Freunden: Tilman Reitz, Eva Johach, Michael Makropoulos, Dominik Schrage, Wemer Beuschel, Alexander Urban, Stefan Meißner, Gunther Gebhard, Susanne Schneider, Christoph Heumann und Britta Lübke. Widmen möchte ich dieses Buch in dankbarer Erinnerung meiner Großmutter Charlotte Emma Wagner (1915 - 1983).

1

Einleitung

» Energies directed exclusively toward Univer-

sity reform risk blinding us to the dimensions of the task that faces us - in the humanities, the social sciences, and the natural sciences the task of rethinking the categories that have govemed intellectual life for over two hundred years. ,< Bill Readings (1996: 169)

1.1

PROBLEMAUFRISS

Lebenslange Bildung und Weiterentwicklung, einst ein elitäres Projekt für außergewöhnliche Künstler- und Gelehrtenpersönlichkeiten, wird seit einiger Zeit nicht nur in der Ausbildungs- und Berufswelt, sondern bereits in der frühkindlichen Bildung als programmatisches Leitbild angesetzt, also prinzipiell zugänglich und tendenziell verpflichtend für alle Mitglieder der Gesellschaft. Sowohl Lern- und Bildungstheorie als auch Bildungspolitik artikulieren die umfassende Forderung, sich periodisch immer wieder in neue Wissensgebiete und Themenbereiche einzuarbeiten und begleitend die eigene Persönlichkeit fortzuentwickeln bzw. zu entfalten. Dieses, so wird oft doppelstrategisch argumentiert, geschieht sowohl als Anpassung an sich immer schneller wandelnde Verhältnisse als auch in der Absicht, gestaltend auf diese einzuwirken. Wie aber ist ein solches »expansives Lernen « (Faulstich 2003) vorstellbar, wenn nicht alle vollständig mit dem eigenen Vorhaben identifiziert, dauerhaft auf der Suche nach neuen Lösungen und in ihrer individuellen Eigenart grundsätzlich akzeptiert sind? Oder anders formuliert: Lässt sich die Lebensform fortgesetzter Selbstbildung überhaupt - für alle verbindlich - gesellschaftlich implementieren? Handelt es sich möglicherweise sogar um den Versuch, einen » gigantischen

10

I EINLEITUNG

Umerziehungsprozess 1 der Bevölkerung« (Forneck 2001: 160) einzuleiten, der sich bemüht, die permanente finanzpolitische Umbruchs- und Krisensituation des Sozialstaates akteursbezogen aufzubrechen und individuelle Potentiale der Selbstaktivierung und -Verantwortung freizusetzen (Lessenich 2008), wo früher die öffentliche Hand Verantwortung getragen hat? Das Äquivalent im Bildungsbereich wäre die Umstellung von staatlichen Garantien auf private Investitionen in die je eigene Zukunft. ln bildungspolitische Formulierungen übersetzt, spricht man von einer » Individualisierung « des Lernens bei gleichzeitiger » Entgrenzung« und » Entinstitutionalisierung « der Lernorte und Lerngelegenheiten (vgl. dazu exemplarisch Faulstich 2003, Erpenbeck 1999, kritisch: Kade/Seitter 2000). Der vorliegende Text versucht diesen Fragen in einem Feld nachzuspüren, das seit etwa zehn Jahren massiv und grundlegend an seiner eigenen Neuerfindung im Horizont gesteigerter Produktivität arbeitet: den deutschen Hochschulen. Grundlegend wird dazu im Folgenden die These sein, dass an die hochschulische Akteursgruppe der Studierenden als Lernsubjekte zunehmend widersprüchlich artikulierte Anforderungen gerichtet werden, weil sich in der gegenwärtigen Hochschule im fortgesetzten Reformprozess widerstreitende Funktionen überlagern. Die Hochschule erscheint dabei, aller Bildungsverheißungen zum Trotz, nur noch als Lernort unter vielen; sie ist nicht der erste und auch nicht der letzte, sondern eine Durchgangsstation, die es, je nach persönlichen Voraussetzungen und Ambitionen, bestmöglich zu nutzen gilt. Entsprechend überlagern sich traditionelle akademische und neue (wissens-)ökonomische Ziele sowie die Erfordernisse ganz unterschiedlicher Einmündungskontexte. Die Diagnose einer zunehmend multiplen Einbindung der Hochschulen ist auch in die Gestaltung des Bologna-Prozesses eingegangen. Allerdings kann der bisher erreichte Umbau2

Der britische Soziologe Basil Bernstein hat zu Beginn des europäischen Hochschulreformprozesses die Vermutung geäußert, dass in diesem Projekt weniger die Selbstführung der Individuen als vielmehr ihre unendliche Formbarkeil für sich wandelnde Zwecke im Mittelpunkt stehe und prognostizierteangesichtssich entgrenzender Lernund Bildungsverhältnisse das Heraufziehen einer neuen »Erziehungsgesellschaft«: » [W]e move into the second totally pedagogised society, the first being that of the medieval >period Subjektivität < formulieren nun aber die aktuellen hochschulpolitischen Programmatiken? Und wie verhalten sich diese zum institutionellen Umbau der Hochschulen? In einem diskursanalytisch orientierten Teil, den Kapiteln 4 bis 6, geht es um die »Herkünfte « gegenwärtiger Konzeptionen des menschlichen Selbstverhältnisses und um die Begriffstraditionen, in denen sie sich ausgebildet haben. Die soziale Funktion dieser Konzeptionen wird dabei zunächst so begriffen, dass mit ihnen Texte wie Bildungsprogramme und wissenschaftliche Expertisen beobachtbare Verhaltenstrends an politisch beschlossene Umstrukturierungen und politisch erwünschte Handlungsweisen anzuschließen versuchen: in Richtung der Legitimation von Verhältnissen wie auch in Richtung der Anleitung von Subjekten (vgl. dazu näher mein zweites Kapitel). Die Ausgangsthese ist dabei, dass drei idealtypisch unterscheidbare Subjektfiguren dieses diskursive Feld maßgeblich organisieren:

avisiert war, wurde verlängert. Dies geschieht vor allem auch deswegen, weil die bisherigen Ergebnisse europaweit als suboptimal und an den zentralen Zielstellungen wie Vergleichbarkeit von Curricula und Abschlüssen, Mobilität und Durchlässigkeit vorbeigehend kritisiert werden. Im jüngsten » Nationalen Bericht von Kultusministerkonferenz und Bundesministerium für Bildung und Forschung« (20 12: 29) heißt es dazu knapp: »Zu den Schwerpunkten bei der Realisierung der Ziele des Bologna-Prozesses gehören nach wie vor die Konsolidierung und Optimierung des Umsetzungsprozesses und die grenzüberschreitende Konsultation zu good practice. Voraussetzungen für einen nachhaltigen Erfolg des Reformprozesses bleibt die Akzeptanz der Lehrenden, Lernenden und der beruflichen Praxis.«

12

I EINLEITUNG die »humanistische Subjektivität«, die auf die Selbstentfaltung eines kohärenten Individuums zielt, die Figur des » unternehmerischen Selbst «, das sich im ökonomischen und innovativen Umgang mit Chancen und Risiken konstituiert, sowie das » sozio-technisch 3 vernetzte Subjekt«; die Konzeption des Subjekts als interkontextuell anschlussfähige, kommunikative » Schnittstelle«.

Der humanistische Subjektbegriff, der im frühbürgerlichen Zeitalter das umkämpfte diskursive Terrain der Selbstbestimmung erschlossen hatte, gerinnt derzeit zum Imperativ » Seid Subjekte der Kommunikation! « (Lazzarato 1998: 53 f.), wird also aus seinem Entstehungszusammenhang herausgelöst und neu besetzt (vgl. Bröckling et al. 2000, Rose 2000a). Einerseits rekurriert dieser Begriff auf liberale Vorstellungen von individueller Entscheidungsfreiheit, Verantwortung und Selbstführung sich als autonom verstehender Personen, andererseits verbindet er sich im öffentlichen und alltäglichen Sprachgebrauch zunehmend mit Methoden und Techniken aus der humanistischen Psychologie, die aus dem Feld von Beratung und Selbsterfahrung heraus Eingang in Personal-, Organisationsentwicklungs- und Weiterbildungskonzepte gefunden haben (einschlägig dazu Neuberg er 1991 ). Dem » Lebenslangen Lernen « in der» Wissensgesellschaft « arbeiten diese Konzepte vor allem vermittelt durch die Formel der » Schlüsselkompetenzen« zu. 4

3

Der Begriff » sozio-technisch« wird im Kontext dieser Arbeit mit Blick auf die zeitgenössische digitale Medientechnik in Anlehnung an eine frühe Bestimmung Günter Ropohls (2009: 58f.) verwendet: » Ein Computer wird erst wirklicher Computer, wenn er zum Teil einer Mensch-Maschine-Einheit geworden ist. Wenn Text geschrieben wird, tut das nicht allein der Mensch, aber es ist auch nicht allein der Computer, der den Text schreibt; erst die Arbeitseinheit von Mensch und Computer bringt die Textverarbeitung zuwege. Da freilich im benutzten Computer immer schon die Arbeit durch Verwendung anderer Menschen verkörpert ist, da also die Mensch-MaschineEinheit nicht nur durch den einzelnen Nutzer gebildet, sondern auch von anderen Menschen mitgeprägt wird, bezeichne ich sie als soziotechnisches System. «

4

Kade/Seitter ( 1998: 2) identifizieren diese Perspektive als » post-affirm ativ«; diese Fassung hebt auf den aktuellen Zusammenhang von Emanzipation und Bildung ab: »Emanzipation wird dabei einerseits verstanden als individuelle Steigerungsmöglichkeit und Vervollkommnungsperspektive, als Verlängerung bzw. zeitgemäße Neufassung des Bildungsbegriffes, als seine zeitlich adäquate und empirisch auslegbare Verlaufsform. «

PROBLEMAUFRISS

I 13

Die diskursive Figur des unternehmerischen Selbst spezifiziert die Selbstbestimmung der Subjekte im Sinne einer »unabschließbaren Optimierung « unter ökonomischer Prämisse. Nikolas Rose bestimmt das Leitbild des Unternehmertums als »mächtige Sprache zur Artikulation einer politischen Rationalität«, die es ermögliche, »problematisch gewordene Aspekte der sozialen, wirtschaftlichen und persönlichen Existenz zu lenken« (Rose 2000b: 11 ). Der Begriff der Lenkung steht hier insbesondere für die Etablierung einer spezifischen Organisationsform bzw. eines auf inhaltsunabhängige Selbststeuerung zielenden » Aktivitätsmodus, der in verschiedenen Lebensbereichen gefördert werden soll, in Schulen, Universitäten, Spitälern, Ärztesprechzimmem, Fabriken und Untemehmensorganisationen, der Familie und in der Wohlfahrtsverwaltung« (ebd.). Diese >diskursive Ansprache< bleibt allerdings nur formal bestimmt; das heißt, sie gibt nur die Veränderungsrichtung, nicht aber ihren Inhalt vor (vgl. Bröckling 2002). Das Inhaltliche, also die Ziele und konkreten Entwicklungsprojekte, müssen die Subjekte jeweils selbst hinzufügen, was subjektiv als Möglichkeits-, Entfaltungs- und Freiheitsspielraum empfunden werden kann, aber auch Risiken5 und Verunsicherungen - vor »falschen Entscheidungen « oder »verpassten Chancen« - mit sich bringt, in denen die Problematik von Handlungsoffenheit unmittelbar sieht- und spürbar wird. Selbst diese Problematik scheint jedoch die Evidenz des Modells noch zu verstärken. Beratungs- und Entwicklungsansätze- in Unternehmens- wie Hochschulpraxis- kombinieren die ökonomischen Strategien mit psychologischen Verbesserungs- und Wachstumsformeln wie >Wandel der Lernkultur< (Arnold/Schüßler 1998) oder >Wissensmanagement< (exemplarisch: Back 2002; Weinherger et al. 2002; Mandl et al. 1997; ReinmannRotmeier 2002), setzen vor allem aber auf die » Selbststeuerungskompetenzen « der Lernsubjekte (z. B. Issing 1996; Gräsel et al. 1997) und versprechen damit, stabilisierend und wegweisend zur Vorbereitung auf unvorhersehbare Zukünfte zu wirken. Aus dieser ersten Annäherung ergeben sich wichtige Untersuchungsfragen: Auf welche Weise werden die Subjekte in diesen Ansprachen adressiert? Welche Konsequenzen und Risiken haben die Akteure zu tragen bzw. inwiefern werden, eben über den Mechanismus der »Selbststeuerung«, ihnen welche Folgen zugerechnet? Steigt damit verbunden also auch die Nachfrage nach Beratung und Führung, ebenfalls als Folge zunehmender Selbststeuerung? Der subjektive Orientierungsbedarf, der sich aus einer auf Dauer gestellten verwertungsorientierten Veränderungsaufforderung ergibt, fordert damit die beraterische Präven-

5

Zum gegenwärtigen Risikodiskurs vgl. einschlägig Luhmann (1991 ).

14

I EINLEITUNG

tions- und Interventionspraxis heraus, womit sowohl die bildungspolitische als auch die erziehungswissenschaftliche Expertenkultur gemeint ist. Aus dem zeitgenössischen Netzwerkdiskurs (initial: Castells 2000, 2001, Mark 2002, Heylighen 2007, Willems Hg. 2008) heraus rekurriere ich schließlich als Vermittlungsfigur auf die metaphorisch verwendete »Schnittstelle«, die in system- und medientheoretischen, konstruktivistischen und kybernetischen Modellen6 als Vermittlungsinstanz zwischen Systemen unterschiedlicher Logiken und Funktionalitäten auftritt (vgl. dazu Pörksen 2002). Aspekte bzw. einen Typ von Subjektivität bezeichnet sie etwa in systemisch orientierten Management- und Personalentwicklungskonzepten (exemplarisch: Laske/Gorbach 1993, von Rosenstiel 1999, 2000), wobei kooperative und kommunikative Fähigkeiten als Voraussetzung und Kern des Subjektstatus interpretiert werden. Eine prominente Rolle spielt mithin der Begriff der >Selbstorganisation < ( vgl. dazu Willke 1993; Kriz 1994; Malik 1993; Müller 1996). Subjektivität dient hier vor allem als Knotenpunkt und Verarbeitungsinstanz komplexer >Systemanforderungen Subjektivierung < zu verstehen ist. Zwar existieren zum Phänomen selbst diverse empirische Studien zu erwähnen sind insbesondere die industriesoziologischen Arbeiten von Voß/ Pongratz (1998, 2001 , 2003). Sie müssen jedoch, wie die Protagonistinnen dieser Forschungsrichtung (vgl. dazu Kleemann/MatuschekNoß 2002: 54) selbstkritisch anmerken, mit der idealtypischen Figur des »Arbeitskraftunternehmers« 10 auskommen, die sie noch empirisch zu substantiieren versuchen. Vergleichbares gilt für die Figur des »Bildungsunternehmers« (Kirchhöfer 2000: 30), die unter Bedingungen ständig erneuerter Qualifikationsanforderungen dem » Arbeitskraftunternehmer« zur Seite zu stellen ist. Zudem haben die genannten Untersuchungen einen diskurstheoretisch blinden Fleck: der Begriff Subjektivität bezieht sich ausschließlich auf angenommene empirische Individuen, nicht auf die Weise, in der sie angesprochen und somit womöglich mitgeprägt werden 11 • Hier setzt - in Auseinandersetzung mit den inzwischen vorliegenden verwandten Deutungsangeboten von Ulrich Bröckling, Andreas Reckwitz und anderen- der vorliegende Text an (siehe dazu Kapitel2), der den Versuch unternimmt,

9

Laut Schimank (2002: 60) wird der Terminus »Subjektivierung der Arbeit« bereits bei Kern/Sehnmann (1984) zur industriesoziologischen Klassifizierung ganzheitlich orientierter Produktionskonzeptionen eingeftihrt.

10 Pongratz und Voß (2003: 455f.) gehen dabei von einem strukturellen Wandel der sozialen Fassung der >Ware Arbeitskraft< aus. Sie argumentieren, dass der bis in die 1990er Jahre dominierende fordistische Typus des Arbeitnehmers in einer postfordistischen Arbeitsgesellschaft langfristig durch einen neuen (ldeal-)Typus, den » Arbeitskraftuntemehmer« ersetzt werden könnte. Als dessen Merkmale im Hinblick auf die Nutzung von Arbeitskraft machen sie eine steigende » Selbst-Kontrolle der Beschäftigten im Arbeitsprozess«, eine neue Qualität der» Selbst-Ökonomisierung « und Selbst-Ausbeutung ihrer Arbeitspotentiale sowie eine korrespondierende » Steigerung von Selbst-Management« und »Selbst-Rationalisierung im Alltagsleben « (ebd.) aus. Eine ausfUhrliehe Kritik dieses Ansatzes formuliert etwa Gerst (2005). II Kl eemann, Matuschek und Voß beziehen ihren Begriff von Subjektivität auf »zwei Fragekomplexe >Schnittpunktexistenzen« und deshalb »entpersönlicht, versachlicht oder gar automatisiert seien« (ebd.: 122f.). Fragen wir bei dieser Spurensuche weiter nach dem Stellenwert des Schnittpunktbegriffs, sieht es beinahe so aus, als handle es sich um eine genuin soziologische Metapher zur Bestimmung der Innenseite des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, die je nach Theoriegebäude eher die Chancen oder die Risiken des Modells hervorhebt. Gehlen zumindest verweist in seiner » Besorgnis um die Zukunft des eigenständigen Individuums« schließlich auf David Riesmans Untersuchungen zur Massenkultur, ohne allerdings den »other-directed character« zu nennen, den Riesman in seinem Buch» The Lonely crowdethno-method< [ ... ] der gekonnten, routinisierten, typisierten Aktivität. soziale FelderInstitutionen < oder >Klassen/Milieus Begriffe < bezeichnen kann. Allgemein konzentriere ich mich auf Begrifflichkeiten, die man frei nach Reinhart KoseHeck als »bewegliche Begriffe« bezeichnen könnte, Begriffe also, die nicht primär gesellschaftliche Erfahrungen zusammenfassen, sondern »Zu Steuerungsinstrumenten der sich wandelnden geschichtlichen Bewegung [werden]. Sie indizieren oder registrieren nicht nur vorgegebene Sachverhalte. Sie werden selber zu Faktoren der Bewusstseinsbildung und Verhaltenssteuerung. « (Koselleck 2000: 335) Allerdings hatte Koselleck bei diesen »Bewegungsbegriffen « politisch hoch aufgeladene, intensiv durchreflektierte Begriffe wie Demokratie oder Sozialismus im Sinn, und es erscheint daher durchaus zweifelhaft, bei Trendwörtern wie »Lebenslanges Lernen« oder »unternehmerischer Kompetenz« von Begriffen im vollen Sinne zu sprechen. Viel eher entsteht der begründete Verdacht, dass es sich um »leere Signifikanten«27 im Sinne Ladaus (1994: 163f.) handelt. Generell scheint das Problem zeitgenössischer Rhetorik bereits die fehlende Distanz zu ihr zu sein, aufgrund derer man nur schwer abschätzen kann, wie weit ihre Begrifflichkeiten tragen. Daher ist es mir insgesamt wichtig, neben dem konkret Sagbaren und Gesagten im Rahmen einer Diskursanalyse auch die sachlichen Probleme, Problemwahrnehmungen und Kontexte, in denen sich Begrifflichkeiten anordnen lassen, mit in den Blick zu nehmen. Spezifische Erkenntnisse werden dabei durch eine Kopplung synchroner und diachroner Vorgehensweisen möglich: zum einen zeigt die Bestandsaufnahme der Begriffsverwendung in einem bestimmten Aushandlungsfeld zu einem bestimmten Zeitpunkt, welche Probleme dort zentral sind und welche Verarbeitungschancen gesehen werden. Zum anderen gilt es, einschlägige

von Institutionen, ihrer Geschichte und der durch sie etablierten jeweiligen Ordnung spricht Rehberg auch vom »Paradox, dass gerade eine auf >Dauer < gestellte Ordnung zugleich auf einer Enthistorisierung beruht [ ... ]. >Geschichte < kann einerseits eine Legitimitätsgrundlage für das Gewordene und institutionelle Festgehaltene liefern. Sie hat aber auch eine andere Seite, denn ihre genaue Kenntnis macht bewusst, wie kontingent alle Entwicklungen und Objektivationen sind, auch, dass Traditionen oftmals nicht sehr alt sind. So präsentieren sich Institutionen zumeist mit einer spezifisch konstruierten, einer gewissermaßen >stillgestellten < Geschichte.« (Rehberg 1990: 140) Diese Geschichte genealogisch zumindest stellenweise zu entziffern, ist auch der Anspruch des hier vorgestellten Projektes. 27 Laclau (1994: 164) zufolge erfordert die Bezeichnung des Unbezeichenbaren einen Signifikanten ohne Signifikat: dieser ist ein » leerer Signifikant«.

44

I EINE KURZE GESCHICHTE DER SuBJEKTIVITÄT

Begriffstraditionen ausfindig zu machen, die in dieses Feld eingegangen sind vor allem, um herauszuarbeiten, welchen semantischen Veränderungen sie unterliegen. Lebenslanges Lernen kann etwa einmal in der humanistischen Tradition die stete Vervollkommnung der Persönlichkeit gemeint haben, während es aktuell häufig für den ständigen Austausch systemisch verlangter Qualifikationen und Kompetenzen steht - wobei dennoch die humanistische Tradition präsent gehalten wird, sofern sie die subjektive Adressier- und Zurechenbarkeit bzw. Identifikationen ermöglicht. Leitend für die synchrone Diskursanalyse und die diachrone >Genealogie < sind folgende Fragestellungen2H: Mit welchen Programmen und Leitbegriffen wird aktuell gearbeitet? Welche Bedeutungszuweisungen dominieren in ihnen? Unter welchen historischen Bedingungen und in welchen Kontexten sind sie entstanden? Wie werden sie aktuell rekonstruiert oder neu konfiguriert ? Welche Transformationslinien und >Wanderungsbewegungen < lassen sich erkennen? Wie werden begriffliche und konzeptionelle Widersprüche produktiv und lösungsorientiert reformuliert? Über dieses formale Vorgehen hinausgehend erlaube ich mir, meine Materialanalyse stellenweise mit theoretischen Deutungen zu durchsetzen, die umgekehrt auch meine Materialauswahl mit bestimmen. So komme ich in der Frühgeschichte des humanistischen Bildungssubjekts auf die Theorie zunehmenden Kontingenzbewusstseins zurück und ziehe an deren Ende ausblickend Alain Ehrenberg heran, um die Abspaltung einer aktivistischen von einer passiv-melancholischen Seite subjektiver Kontingenzverarbeitung zu erläutern. Theoretische Ausgriffe dieser Art scheinen mir sinnvoll, um den ohnehin nicht formal , sondern motivisch-thematisch zusammengestellten Textkorpus gedanklich zusammen zu halten. Sie machen aus den disparaten Quellen aktueller Diskurse eine lesbare Geschichte der Gegenwart. Die umrissene diskursanalytische Vorgehensweise hat sich jedoch in dem Maß als ergänzungsbedürftig erwiesen, indem ich erste Resultate fixiert und reflektiert habe. Zu Beginn meines Projektes war die Frage virulent, wie es möglich geworden war, ehemals progressive, kapitalismus- bzw. systemkritische,

28 Entwickelt vor allem in Auseinandersetzung mit Keller et al. (2001 ), Keller (2005: 120- 169), Eder et al. (2006); grundlegend dafür Foucault (197 1; 1973).

VeRGEHENSWEiSE UND METHODOLOGISCHE RE FLEXION

I 45

zumindest funktionalistisch unverdächtige Begriffe, die mehrheitlich aus den gegenkulturellen Bewegungen der 1960/70er Jahre zu stammen schienen, für ökonomistische und bürokratische Reformpolitik in Anschlag zu bringen. Weniger sollte es darum gehen, diese These empirisch zu überprüfen, also im empirischen Feld Hochschule zu untersuchen, aufwelche Weise diese Imperative in konkrete Mikropolitiken wie Handlungsanweisungen, Lehr- und Lern-Szenarien sowie Selbstverständnisse von Akteurinnen Eingang finden. Stattdessen wollte ich den verwendeten Begriffen und Diskursfiguren (also den Vorstellungen von humanistischen, unternehmerischen, sozio-technisch vernetzten Subjekten) genealogisch, diskursanalytisch und begriffsgeschichtlich nachspüren, um vermutete Bedeutungswandel heraus zu arbeiten und somit verkürzte bzw. ideologisch zurecht gestutzte Verwendungsweisen aufstöbern zu können. Ich wollte diese Herangehensweise weniger als sprach- und kulturkritischen Reinhaltungsappe!F 9, denn als selbstaufklärerische und ideologiekritische Haltung verstanden wissen, auch im Anschluss an Foucaults Anspruch, »nicht dermaßen regiert zu werden «. Besonders ergiebig schien mir dabei die Vermutung zu sein, dass die drei von mir favorisierten Imperative allesamt nicht nur auf kritische, sondern insbesondere auf ehemals elitäre Subjektvorstellungen rekurrierten, die zwar j eweils sehr unterschiedlichen historischen und intellektuellen Prägungskontexten entstammten, aber dennoch alle gemeinsam zu haben scheinen, dass sie das besondere, idealisierte und vorbildhafte, nur selten vorkommende Ausnahmesubjekt vor Augen hatten- den genialen Künstler, den innovativen Unternehmer, den allseits vernetzten und sich neu erfindenden Rollenspieler. Auf diese Weise entstanden die beiden Diskursanalysen zum humanistischen bzw. Unternehmerischen Selbst, in denen ich versuchte, anhand historischer Spurensuche, jedoch ohne einen fest umrissenen Textkorpus den aktuellen Diskursmustern näher zu kommen. Die Ergebnisse sind in ihrer Allgemeinheit womöglich nicht überraschend- für beide Diskursfiguren kann ein Bedeutungswandel von einem ehemals elitären, nur wenigen herausragenden Individuen vorbehaltenden Privileg zu einer allen zugänglichen, geradezu massenkulturell herbei zu führenden Lebenspraxis konstatiert werden. Bemerkenswert ist allerdings das verbindende Ergebnis, dass mit der absehbaren Demokratisierung des Zugangs eine permanent zu justierende Intensivierung sozialer Einbindung und Kontrolle einhergeht. Die dritte Diskursanalyse zum Schnittstellensubjekt geht von einem spätmodernen, im mittleren 20. Jahrhundert situierten Prägungskontext aus, der

29 Vgl. dazu etwa die kontinuierliche Berichterstattung von Jürgen Kaubeim Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

46

I EINE KURZE GESCHICHTE DER SuBJEKTIVITÄT

teils in der Biologie30 liegt, teils bei den in den 1940er Jahren einsetzenden Systemwissenschaften, aus denen heraus in den 1960-70er Jahren kybernetische Lehr- und Lernmodelle für Individuen und Organisationen entwickelt wurden. Sie liegt damit quer zu den beiden anderen, die mit emphatischen, individualistisch positivierten Subjektvorstellungen arbeiten, weist j edoch im Zeitverlauf eine interessante Parallele zu deren Entwicklung auf: auch hier steht am Beginn analog zum einsamen Subjekt der isolierte Regelkreis des (maschinell unterstützt) Lernenden, während in der Gegenwart die kommunikative Vernetzung der Lernsubjekte dominiert. Doch erscheinen möglicherweise die hauptsächlich ideengeschichtlich interessanten Befunde als Zwischenergebnis einer soziologischen Forschungsarbeit noch zu unspezifisch - und auch nicht hinreichend, um den gegenwärtigen sozialen Problemen im untersuchten Gegenstandsbereich der deutschen Hochschulreform gerecht zu werden. Auf den Ausgangspunkt - die Gouvernementalitätsstudien - bezogen, bedeutet das, die zu Beginn meines Arbeitsprozesses vernachlässigte Frage zu stellen, inwieweit empirisch überhaupt davon ausgegangen werden kann, dass bildungspolitischen Programmatiken und den ihnen angehörenden Wissensformen der vermutete subjektivierende Steuerungscharakter zugesprochen werden kann. Diese Frage lässt sich allerdings weder durch eine genealogisch orientierte Diskursanalyse noch durch klassische wissens- oder kultursoziologische Textanalyse im Anschluss an Autoren wie Mannheim und Luhmann klären, sondern legt einen qualitativen Feldzugang nahe31 • Dies geschieht nicht zuletzt als eine Reaktion auf die uneingelösten »Praxis-Versprechen« in den Ansätzen von Bröckling und Reckwitz. Dieser Anforderung versuche ich nun zum einen durch die institutionentheoretische Einbettung meiner Diskursanalysen, in der letzten Genealogie aber zusätzlich auch durch die Erweiterung des Textbegriffes zu begegnen, indem ich zunehmend internetbasierte Lernumgehungen bzw. dort stattfindende und festgehaltene Kommunikationen in die Analyse einbeziehe. Im letzten Teil meiner Arbeit (insb. im Kapitel 6) spielen daher auch textuelle Spuren, Verhaltensweisen und Anleitungen dafür eine Rolle, die sich in webbasierten sozialen Netzwerken beobachten lassen. Für beide Bereiche, die institutionelle Reform und die aktuelle Erweiterung sozio-technischer Kommunikationsformen, ist meine eigene

30 So etwa in Ludwig von Bertalanffis Arbeiten zum Systembegriff in den 1930er Jahren. 31 Übernehmen möchte ich etwa die grundsätzliche Prämisse qualitativer Forschungsmethodik: Der Forschungsgegenstand wird nicht unerheblich durch die Methodenund Materialwahl mitbestimmt (z. B. in Zugängen, die mit Ethnographie arbeiten), d. h. Theorie, Gegenstand und Material modifizieren sich wechselseitig.

VeRGEHENSWEiSE UND METHODOLOGISCHE RE FLEXION

I 47

aktive Rolle als Beobachterio und Teilnehmerin32 durchaus von Belang. Den damit sozusagen ethnografisch erschlossenen Zustand könnte man auch mit ethnologischen Begriffen, etwa mit Viktor Turner33 als »liminalen Zustand «, einen institutionellen bzw. kommunikationstechnischen Schwellenzustand von einer Ordnung in eine andere, begreifen. Um diesen Zustand theoretisch zu erfassen, scheint es notwendig, zu reflektieren, dass der fragliche Wandel auch aus der individuellen Mikroperspektive erfahren wurde, während er zugleich den Forschungsgegenstand bildete. Ich versuche, diese praktische Involviertheit nicht als problematische Parteilichkeit auszuschalten, sondern auf zweierlei Weise als Forschungsvorteil zu nutzen: Zum einen orientiere ich mich in der Wahl meines diskursiven Materials und der beleuchteten institutionellen Funktionabtäten bewusst an dem Problemdruck, der in den fraglichen Feldern geäußert wird - was mich etwa mit dazu bewogen hat, die Analyse der Hochschulreform zentral auf die Diagnose der » anomischen« Massenhochschule 34 zu beziehen. Zum anderen nehme ich aber auch explorativ die Impulse auf, die in den betrachteten Kontexten positiv diskursiven und institutionellen Wandel befördern könnten, konkret etwa die motivierenden

32 Seit 2004 bin ich in wechselnden Rollen mit der Konzeption, Planung und Umsetzung der Bologna-Reformen befasst. 33 Der schottische Ethnologe Turner hat den Begriff der »Liminalität« bei der Erforschung von Ritualen in tribaten Gesellschaften geprägt. Damit kennzeichnet er den Zustand einer labilen Zwischenexistenz: » betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention and ceremonial « (Turner 1969: 95). Diese Schwellenphase dient der Auslösung einer Krise, in der eine herrschende Ordnung suspendiert und ein offener Raum für soziale Experimente und Innovationen geschaffen wird: »in liminality, new ways of acting, new combinations of symbols, are tried out, tobe discarded or accepted« (ebd.). ln der Schwellenphase durchlaufen di e am Ritual Beteiligten in der Regel eine Transformation, um von einem Zustand zum nächsten zu gelangen. Turner hat in späteren Arbeiten versucht, seine Theorien und Begriffe, die er in der Feldforschung im Afrika der 1950er Jahre gewonnen hatte, auch aufmoderne Industriegesellschaften zu übertragen (vgl. dazu auch Turner 1989). Die »Liminalität«, um die es im Folgenden geht, ist freilich nicht institutionell eingefriedet, sondern resultiert aus der Krise einer spezifischen institutionellen Ordnung bzw. ihrem Wandel. 34 Ich verwende den Begriff»Masse« nicht im kulturkritisch-pejorativen Sinne, sondern nur zur Kennzeichnung, dass die aktuellen Hochschulreformen aller elitären Sprachkosmetik zum Trotz in der Verlegenheit sind, akademische (Aus-)Bildung für möglichst viele Menschen zu realisieren.

48

I EINE KURZE GESCHICHTE DER SuBJEKTIVITÄT

Impulse, die in den neuen Formen sozio-technisch vernetzter Kommunikation freigesetzt werden. Entsprechend wird zum Ende des vorliegenden Textes hin die geschichtliche Tiefenbohrung in prognostisch angereicherte Gegenwartsdiagnose übergehen. Das Schnittstellensubjekt ist nicht allein eine prekäre Gegebenheit, sondern der mögliche Ausgangspunkt weiterer Veränderung. Hieraus ergibt sich schließlich der - wenn man es so ausdrücken will normative Subtext meiner Analysen. Mit Bröckling versuche ich sensibel vermeidbare Zumutungen und Überforderungen der diskursiv angesprochenen und thematisierten Lernsubjekte zu protokollieren; wie im Begriff des >passionate attachment < angelegt, jedoch weniger eindeutig auf Kritik fixiert als Butler, richte ich meine Aufmerksamkeit darauf, inwiefern neue Interaktionsmuster Attraktivität für die Beteiligten entfalten und ihnen Handlungschancen eröffnen. Das Resultat wird keine Liste von Handlungsempfehlungen sein, die zwingend aus der Verrechnung von Chancen und Risiken, Zwängen und Spielräumen hervorgehtaber im Idealfall andere Beteiligte an den laufenden Umgestaltungsprozessen in die Lage versetzen, auf diese Weise genauer zu sehen, wo sie stehen, was ihnen zugemutet wird und was ihnen möglich ist.

3

Autonomie und Anomie. Die europäische Hochschulreform nach Bologna

Unter den bildungspolitischen Akteuren hat sich in den letzten Jahren ein weitgehender Konsens gebildet, die Studienanfänger- und Absolventenquoten in Deutschland nachhaltig zu erhöhen und den Abstand zu anderen Industriestaaten zu vermindern. Diese Ziele entsprechen dem sozioökonomischen Strukturwandel, in dessen Folge hochqualifizierte Arbeit volkswirtschaftlich zunehmend an Bedeutung gewinnt. (Bildungsbericht 2008: 129)

Dieses Kapitel widmet sich der Institution, deren Wandel einen zentralen Kontext für die Transformation lernender Subjektivität bildet: der Hochschule, die in Deutschland seit zehn Jahren radikal, bis zur Infragestellung ihres institutionellen Charakters umgestaltet wird. Die Perspektive, in der dieser Wandlungsprozess betrachtet werden soll, ist eine kritisch institutionenanalytische; spezifisch lmüpfe ich an einen Aspekt der von Rehberg et al. ( 1990, 1994) entwickelten » Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen (TAIM)« an: die Konzeption umstrittener »Leitideen « und ihrer Repräsentationen. Damit möchte ich versuchen, die »unterschwellige « Stoßrichtung der Reform zu entschlüsseln, weil ich der mittlerweile verbreiteten Diagnose zustimme, dass diese an zentralen selbst gesetzten Zielen wie mehr Hochschulabsolventen in kürzerer Zeit, weniger Bürokratie, Internationalisierung und Standardisierung vorbeisteuert1• Es lassen sich

So sehen es etwa viele unter den hauptsächlich Betroffenen des Bologna-Prozesses, den Studierenden. Eine Reaktion waren die im Wintersemester 2009/10 europa-

50

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE H o c HSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

daher andere oder nur am Rand ausgesprochene Perspektiven unterstellen: von der Stärkung sozialer Eliten über die Bereitstellung preiswert verfügbarer Wissensarbeiterinnen bis zur Beendigung von mutmaßlich anomischen Zuständen in der Massenuniversität der 1970er und 1980er Jahre. Frühere Versuche, solche Funktionen zu benennen (darunter auch mein eigener in Reitz/Draheim 2006), werden, wie ich vermute, den diskursiven Anteilen und ideologischen Kompromissen im Reformprozess nicht hinreichend gerecht. Um eben diese Anteile stärker in den Blick zu nehmen, eignet sich die Analyse institutionellen, gleichermaßen organisatorisch-strukturellen wie ideell-symbolischen Wandels - der, wie sich zeigen lässt, auch subjektive Selbstverhältnisse des » Personals« oder der »Klientel «, in diesem Fall der Studierenden, einschließt. Daher will ich nicht zuletzt fragen, inwieweit das Reformgeschehen dazu beiträgt, studentische Ansprüche und Erwartungen an die Institution Hochschule zu wecken, zu kanalisieren oder auch zu enttäuschen. Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht die folgende zu plausibilisierende These: Die Hochschulreform nach Bologna verschiebt die institutionelle Leitidee2 akademischer Autonomie von subj ektiver und wissenschaftlicher zu organisatorischer Selbstständigkeit; zugleich verlagert sich der Schwerpunkt akademischen Lebens von der temporär freigesetzten Reflexion von Selbst- und Weltverhältnissen auf eine Ausbildung und eine Forschung, die permanent ihre gesellschaftliche Normalität und Verwertbarkeit unter Beweis stellen müssen. 3

weit stattfindenden Protest-Aktionen. Die Kultusministerkonferenz sieht nun eine Anpassung der » Ländergemeinsamen Strukturvorgaben flir die Akkreditierung von Bachelor- und Master-Studiengängen « und der »Rahmenvorgaben flir die Einführung von Leistungspunktsystemen und die Modularisierung« vor, um bislang nicht erreichte Ziele wie u. a. Mobilität von Studierenden, Flexibilisierung von Angebotsstrukturen sowie verbesserte Studierbarkeit durch Transparenz einerseits und formale Vorgaben andererseits forcierter zu verfolgen. (Vgl. dazu die aktualisierten KMKStruktmvorgaben

vom

04. 02.2010, http://www.kmk.org/fil eadmin/veroeffentli-

chungen_ beschluesse/2003/2003 _1 0_I 0-Laendergemeinsame-Strukturvorgaben.pdf, 09. 04. 2012). 2

Grundsätzlich ist mit dieser Vorgehensweise nicht gemeint, dass Autonomie die einzige oder die zentrale Leitidee ist. Vielmehr wird im Anschluss an Rehberg immer von widerstreitenden Bündelungen geeigneter Ideen ausgegangen, die institutionell umkämpft sind.

3

Aus diesem politisch und gesellschaftlich angeleiteten Programm entsteht derzeit ein neues Wissensregime, dessen Prinzipien lauten: 1) Erzeugung, Bereitstellung und Weitergabe von gesellschaftlich nützlichem Wissen, 2) formale und kommunikative

AuTONOMIE UND ANOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NACH BoLOGNA

I 51

Die symbolische Dimension des Prozesses, die im Folgenden herausgearbeitet werden soll, lässt sich wesentlich in den widerstreitenden Ansichten und Handlungszielen beobachten, die im Reformprozess aufeinander prallen: Während die Reformkritik, besonders die konservative (vgl. für Beiträge dazu K.aube, Hg. 2009, sowie als Beobachtung Reitz/Draheim 2007), deutlich macht, welche Formen traditioneller akademischer Autonomie zurzeit abgebaut werden, lässt sich optimistischeren Aussagen, vor allem aber praktisch-reformerischen Erfolgserwartungen wie Misserfolgsmeldungen entnehmen, welche neuen Autonomiestandards stattdessen Gestalt annehmen. In der Analyse dieses Wandels kommen unweigerlich auch Diskurse zur Subjektivität der Lernenden in den Blick: Zum einen lässt sich zeigen, dass gerade deren Gefährdung in als anomisch interpretierten Verhältnissen einen >lagerübergreifend < anerkannten Grund für die Reformen bildet, zum anderen bleibt die neue akademische Leitidee unvollständig, wenn sie nicht auch Auskunft darüber gibt, was in der neuen Hochschule mit den Studierenden geschehen soll4 • Daher rückt die in diesem Kapitel vorgelegte Skizze institutionellen Wandels die in den Hauptkapiteln der Arbeit folgenden Diskursanalysen in eine spezifische Perspektive: Sie zeigen gleichsam Kernaspekte einer Leitidee in the making. Vorgehen möchte ich wie folgt: Nach einer einleitenden Reflexion darüber, inwiefern gegenwärtig überhaupt von einem institutionellen Wandel der Hochschulen die Rede sein kann (1 ), widme ich mich zunächst kurz den verfehlten offiziellen Zielen (2) und möglichen latenten Funktionen der Reform (3). Darauf-

Einbindung und Steuerung aller Akteursgruppen und 3) Selbstpräsentation und Marketing in eigener Sache (vgl. dazu Reitz/Draheim 2006: 381 ff.). Ich vertiefe diese Argumentation in den Abschnitten 3.4 und 3.5 dieses Kapitels. 4

Das im Februar 2010 verabschiedete »Leitbild Demokratische und Soziale Hochschule. Vorschlag für die Hochschule der Zukunft« der Hans-Böckler-Stiftung (entstanden in Kooperation mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund und seinen Mitgliedsgewerkschaften) zumindest bricht in seiner Auffassung von Autonomie eine Lanze für die Mitbestimmung aller am Hochschulsystem Beteiligten und schließt die Gruppe der Studierenden explizit ein: Betont wird, dass »Autonomie [ ... ] sich aus der Verwirklichung der individuellen Wissenschaftsfreiheit Partizipations-, Selbstverwaltungs-und Mitbestimmungsrechte aller am Wissenschaftsprozess Beteiligten« ableitet. Man positioniert sich kritisch gegen »wirtschaftsliberale« Reformauffassungen: »Wer Autonomie der Hochschule mit dem Rückzug der staatlichen Verantwortung zugunsten von Wettbewerbsmechanismen und Steuerungsinstrumenten gleichsetzt, wie sie mit dem Konzept der >Unternehmerischen Hochschule< [ .. .] vehement eingefordert und[ ... ] umgesetzt werden, verfehlt diesen Wesenskern. « (II)

52

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE H o c HSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

hin diskutiere ich präzisierend, inwiefern wahrgenommene Anomie im Studium eines ihrer wesentlichen Bezugsprobleme bildet und welche Strategien daraufreagieren (4). Es folgt, eingebettet in allgemeine Überlegungen zu den symbolischen Anteilen institutionellen Wandels, eine Skizze zur Veränderung der Leitidee hochschulischer Autonomie (5). Abschließend lege ich dar, dass weder die neue Fassung dieser Idee noch die Realität der reformierten Hochschule bereits eine überzeugende Antwort auf das Anomieproblem bieten (6). Sie könnte sich einerseits erst aus der veränderten Praxis ergeben, in der das Selbst erfolgreich als Entfaltungspotential, Unternehmerio und sozio-technische Schnittstelle angesprochen wird. Andererseits besteht der Zweck dieser diskursiven Ansprachen in einem nicht unerheblichen Maße darin, die neue Praxis zu legitimieren bzw. zu problematisieren.

3.1

VoRBEMERKUNG: KuLTURKRITIK DER BoLOGNA-REFORM

Bestimmt ist die Reform [...] von Einfallslosigkeit, von primitiven Vorstellungen darüber, was Forschung und Lehre sind, von einer abergläubischen Einstellung zu Kennziffern- Studierquoten, Studiendauern, Abschlusszahlen, Drittmittelsummen-und schli eßlich von einer völligen Indifferenz gegenüber widersprüchlichen, weil undurchdachten Zielsetzungen des Reformierens. ( Kaube 2009: 7)

Die Ausgangssituation der aktuellen Hochschulreformen, die Ende des vergangenen Jahrhunderts einsetzten5 , war laut Jürgen Kaube (2009: 12) durch drei »Tatbestände fern aller Idealität idealistischer Universitätsentwürfe« gekennzeich-

5

Der Bildungsbericht aus dem Jahr 2008 fasst den grundsätzlichen Anspruch der bildungsreformerischen Aktivitäten prägnant zusammen: »Der auch von deutscher Seite maßgeblich vorangetriebene Bologna-Prozess führt nicht nur zu neuen Studienstrukturen und Studienabschlüssen, sondern umfasst auch eine Reihe weiterer wichtiger Handlungsfelder, zum Beispiel die Förderung der internationalen Mobilität, der Doktorandenausbildung und die Durchlässigkeit zwischen beruflicher Bildung und Hochschule. Insgesamt nimmt der internationale Anpassungs- und Wettbewerbsdruck auf die deutschen Hochschulen zu. [ ... ] Der Reformdruck hat sich über Jahre kumulativ

VoRBEMERKUNG: Ku LTU RKRITIK DER BoLOGNA-REFORM

I 53

net: Erstens durch ein erhebliches Anwachsen der Studierendenzahlen seit der Mitte der sechziger Jahre, welches mit langen Studierzeiten und zum Teil spektakulären Abbrecherquoten einherging, zweitens durch ein ebenfalls signifikantes Wachstum von Forschungsaktivitäten, den daraus entstandenen Finanzbedarf und das wissenschaftspolitische Kalkül, diesen durch Konkurrenz um Fördermittel zu kanalisieren. Drittens sei auch die universitäre Selbstverwaltung infolge ihrer Demokratisierung erheblich gewachsen. Kaube konstatiert angesichts dieser Entwicklungen den Niedergang der Institution Hochschule. Zu ihm trage das »hochschulpolitische Desinteresse der Gegenwart« (2009: 7) bei, welches sich seiner Ansicht nach gerade in Reformwut manifestiert. Die Fülle der Zurichtungen und Zweckerwartungen zeige bereits, dass man die Einrichtung selbst nicht mehr respektiere. Wird derzeit tatsächlich eine ehemals staatstragende Institution - das Modell Humboldt - sowohl qualitativ als auch strukturell zugrunde gerichtet? Oder geht es doch eher um eine Verschiebung ihrer gesellschaftlichen Funktion, die wohl unvermeidlicherweise von Kritik aus dem Lager der Privilegien- und Traditionsbewahrer- Schimank (20 10) nennt sie schlicht die bildungsbürgerlichen » Humboldtianer« 6 - begleitet wird? Könnte es sein, dass das von Kaube diagnostizierte Desinteresse der so genannten Gegenwart vielmehr eine Ablehnung der Institution Hochschule, wie man sie kannte ist; dass also seit Reformbeginn erneut ein gesellschaftspolitischer Kampf darum entbrannt ist, welche Funktion(en) der Institution Hochschule zukünftig zugetraut bzw. zugemutet werden können? Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen.

aufgebaut, und die entsprechenden Reformdebatten haben schon weit vor dem Bologna-Prozess eingesetzt.« (Bildungsbericht 2008: 129) 6

Uwe Schimank (20 I 0: 49 ff.) wählt in seiner Beschreibung des jüngsten Hochschulreformprozesses als konflikttheoretische Zuspitzung die Einteilung der Akteure in zwei Lager: die bildungsbürgerlichen »Humboldtianer« und die aufstiegsorientierten »Bologneser«, jeweils bestehend aus Studierenden und Lehrenden (ferner Angehörigen der Administration und der Politik) ähnlicher sozialer Herkunft. Im Rückgriff auf Lepsius' (1993) Charakterisierung des Bildungsbürgertums im 18. und 19. Jahrhunderts als staatstragende, aber politikferne Elite bemüht er sich darum, sozialstruktureHe Interessengegensätze, die bereits in früheren Hochschulreformen (zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nach 1945, um 1968 bis in die 1970er Jahre) implizit oder explizit auf der Agenda standen, seither latent weiterwirkten, erneut und verstärkt in den Mittelpunkt zu rücken.

54

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

3.2

DIE VERFEHLTEN OFFIZIELLEN ZIELE DER BoLOGNA-REFORM

Je weiter das »Unternehmen Bologna« voranschreitet, desto offensichtlicher wird, dass der europäische, besonders gründlich in Deutschland durchgeführte Reformprozess (dazu detailliert Maese 2010, zuerst Witte 2006 7), in seiner ersten Ausbaustufe an zentralen selbst erklärten Zielen vorbei gesteuert ist8 • Ob es um internationale Mobilität9 , flexibleres Studieren 10, die Entbürokratisierung von Entscheidungsstrukturen (so Krücken 2005) oder das übergreifende Ziel Lebenslangen Lernens (Banscherus 201 0) geht, nahezu alles, was offiziell intendiert wurde, wird von der Praxis der Reform derzeit eher behindert denn befördert. Wodurch wurde die Reform dennoch vorangetrieben, wie wurden habituelle Widerstände aufgelöst und wo werden überhaupt Fortschritte erzielt? Charakter und Ausrichtung der Reform

Dass eine deutsche Hochschulreform unter europäischer Anleitung verläuft, ist eine Premiere. Noch in den späten 1990er Jahren war sie kaum mehr als ein Bündel strukturverwandter Vorstöße des Blmdes, der Länder sowie ehrgeiziger Hochschulstandorte und Stiftungen; bis etwa 2002 diskutierte man als zentrale Reformthemen primär die Einführung von Studiengebühren und Juniorprofessuren. Doch seit die Hochschulen auf breiter Front die Beschlüsse zu europaweit vereinheitlichten Studienstrukturen umsetzen, hat sich die Situation grundlegend geändert. Der nach der Stadt, in welcher sein Beginn 1999 erklärt wurde, benannte Bologna-Prozess begann, das Geschehen zu dominieren, und alle nationalen Innovationen laufen seither unter diesem Titel mit. Dies bedeutet allerdings nicht,

7

Johanna Wittes frtiher, umfassender Vergleich der Studiengangsreformen in vier europäischen Staaten bescheinigt dem deutschen System für die Jahre 1998- 2004 in nahezu allen Bereichen einen »high degree ofpolicy change«; weder Frankreich und die Niederlande noch England können hier mithalten. Bei der » policy implementation« wird hingegen nur ein mittlerer bis niedriger Änderungsgrad erreicht, weil die anderen Hochschulsysteme in der Praxis schneller reformiert wurden (Witte 2006: 457).

8

Eine ausführliche Zwischenbilanz des Bolognageschehens mit ausführlicher Bibliographie sowie den »Chancen, Risiken und Nebenwirkungen« der Reform bietet Winter (2009), so auch Nickel (Hg. 20 II ).

9

V gl. dazu den Expertenbericht von Alesi/Kehm (2009).

10 V gl. zu Programmatik und Empirie von Flexibilisierung und » Employabililty « Bloch (2009).

D1E vERFEHLTEN OFFIZIELLEN ZIELE DER BoLOGNA-REFORM

I 55

dass die europäische Harmonisierung 11 den schlechthin bestimmenden Reforminhalt bildete. Vielmehr sind inzwischen zwei Erneuerungsprozesse im Gang, die sich wechselseitig durchdringen und verstärken: a) die strukturelle Angleichung der europäischen, tendenziell sogar der globalen Studiensysteme und b) ein Aufbruch in Richtung modernisierte Forschungs- und Ausbildungshochschule 12 . Auf der einen Seite konnte sich der europäische Prozess wohl nur den Weg bahnen, weil erbereits länger angestaute Modemisierungsimpulse aufnimmt. Zum anderen konnten die lose verknüpften Zielsetzungen vereinzelter deutscher Reformer erst in Kopplung mit den europäischen, auf allen regionaleren Ebenen als unverfligbar geltenden Vorgaben für Verbindlichkeit sorgen. So meint etwa Ulf Wuggenig (2008: 138- 148), dass im Vorfeld von Bologna (1996- 98) intranational bereits etliche Weichen flir die späteren Reformen gestellt wurden, z. B. die von Jürgen Rüttgers vorbereitete Novelle des Hochschulrahmengesetzes (vgl. dazu auch Witte 2006). Nach Wuggenigs Einschätzung gab es in Deutschland bereits in den 1990er Jahren eine starke Allianz von Vertretern eines nach amerikanischem Vorbild modellierten zweistufigen Hochschulsystems; nach dem Bolognastart konnten sich diese Initiativen an die europäische Reform anhängen, um damit ihr eigenes Projekt zu legitimieren und voranzubringen. 13 Clemens Albrecht (2009) erkennt be-

11 Skeptisch hingegen sind A1esi/Kehm in ihren Einschätzungen zur Bewertung der re-

forminduzi erten Internationalisierungsaktivitäten als Konvergenzproduktion: » Es gibt eine Reihe von Anhaltspunkten, wonach der Bologna-Prozess in Teilbereichen die Vielfalt in den Studiensystemen sogar noch erhöht hat.« (201 0: 61 ). Als Beispiele werden das parallele Angebot von Diplomstudiengängen bzw. die unterschiedlichen Konzepte von Bachelor- und Masterstudien (3 +2 versus 4+ 1 Jahre) angeführt. 12 Bereits 2003 haben Torsten Bultmann und Oliver Schöller von einer einer » Dienstleistungshochschule« gesprochen und die dominanten Reformziele zusammengefasst: eine höhere Bildung, die auf lebenslange Weiterqualifikation umgestellt und »durch private Eigenbeteiligung marktförmig erschlossen« wird (330), sowie Hochschulen, die sich rhetorisch und organisatorisch Unternehmen annähern. Als treibende Kraft machen die Autoren »transnationale Diskursgemeinschaften« (ebd.) aus, die sich in Institutionen wie OECD, Weltbank und IWF sowie in Unternehmensstiftungen formiert haben, in Deutschland wesentlich vertreten durch das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) der Bertelsmann-Stiftung. Einen Hintergrund dieses Prozesses bildet die Anerkennung höherer Bildung als Dienstleistung im GATS (vgl. Hahn 2003, Hartmann 2005). 13 Ähnliches lässt sich für alle beteiligten Länder sagen: » By bringing existing developments, or those moving towards the implementation stage at the national Ievel, un-

56

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

reits in einem 1984 vor der Westdeutschen Hochschulrektorenkonferenz (WRK) gehaltenen Vortrag von Peter Graf Kielmansegg 14 mit dem beziehungsreichen Titel »Adam Smith und Wilhelm von Humboldt. Überlegungen zur Frage, ob mehr Wettbewerb im deutschen Hochschulsystem wünschenswert und möglich sei«, den Beginn der »Ökonomisierung im Kontext des globalen Wettbewerbs « (Albrecht 2009: 101). Dass sich das Gesamtpaket von Bologna und ökonomisch ausgerichteter Modernisierung durchgesetzt hat, ist inzwischen offenkundig. Fraglich bleibt allerdings, was mit den installierten Maßnahmen 15 erreicht wird und inwiefern sie als erfolgreich zu bewerten sind. Drei exemplarische Zielsetzungen der Reform

An drei Zielen, die im Gefüge europäischer und landesspezifischer Reformbemühungen jeweils unterschiedliche Stellen einnehmen, kann gezeigt werden, wie weit Anspruch und allmählich einschätzbare Realität auseinander klaffen: 1) an der Mobilisierung von Studierenden, Lehr- und Forschungspersonal, 2) der Flexibilisierung der Studienverläufe und 3) dem Abbau von Bürokratien. Das Ziel, Mobilität zu fördern, ist offenkundig zentral ftir den europäischen Hochschulraum. Seit der Lissabon-Erklärung von 1997 hat die Förderung akademischen Austauschs an Priorität gewonnen, zumindest im Fall der Naturwissenschaften verbindet sie sich mit Motiven transatlantischer Konkurrenz, und bereits in der Vor- und Startphase der Reform haben die Studienaufenthalte an ausländischen Hochschulen leicht zugenommen16. Doch haben gerade die Maßnahmen

der the shadow ofBologna's wing, it is possible to impart an unprecedented sense of achievement, apparent consensus and agreement, all in a miraculously short space of time.« (Neave 2002: 186; vgl. Witte 2006: 3) 14 Dokumentiert hier: WRK (Hg. 1989: 183-192). 15 Vgl. für eine bilanzierende Gesamtdarstellung Burtscheidt (2010). 16 Der Anteil der deutschen Studierenden, die einen Teil ihres Studiums im Ausland verbringen, ist in den vergangeneu Jahren kontinuierlich angestiegen- zwischen 1994 und 2003 von 4,7% auf7,0% aller Studierenden (HIS 2006: 8; vgl. zu den Schwierigkeiten einer europaweit einheitlichen Datenerhebung Lanzendorf 2003). Die rap ide Zunahme des umgekehrten Zuzugs (vgl. Statistisches Bundesamt 2006: 33) wurde gegen Ende der Amtszeit Bulmahns als Beweis dafür präsentiert, dass Deutschlands Hochschulen international wieder attraktiv sind- nach den englischen und amerikanischen belegen sie im internationalen Vergleich die dritte Stelle (vgl. die Daten in

D1E vERFEHLTEN OFFIZIELLEN ZIELE DER BoLOGNA-REFORM

I 57

zur europäischen Angleichung bzw. funktionell-nominellen 17 Kompatibilität bisher eher Mobilitätshürden aufgebaut. Eigentlich sollten sie den Ortswechsel erleichtern: Die Module, in die man die Fächer nunmehr ausdifferenziert, sollten nicht nur variabel zusammengesetzt, sondern auch deutschland- bzw. europaweit anschlussfähig sein; die Leistungspunkte, mit denen man das studentische Arbeitsvolumen festhält, sollten grundsätzlich überall im neuen Hochschulraum anerkennungsfähig sein; die Bachelor- und Master-Grade schließlich, die mittlerweile großflächig an die Stelle landesspezifischer Abschlüsse wie Magister oder Diplom getreten sind, sind überdies auf Ähnlichkeit mit dem anglo-amerikanischen System angelegt. Unter der Oberfläche der Benennungen und Rahmenvorgaben verschafft sich jedoch eine Vielfalt nationaler respektive regionaler Traditionen ihr Recht, die Vergleichbarkeit unterläuft. Während Deutschland mehrheitlich, zumindest formal, um innovative Bachelor- und Master-Profile und die administrative Umsetzung dieser neuen Struktur ringt, wurden in den Niederlanden teilweise einfach vorhandene Abschlüsse umdeklariert1R, in Frankreich hat sich das große und vor allem privilegierte Segment der Grandes Ecoles von der Reform abgekoppelt, und Großbritannien bleibt ohnehin beim Bewährten, etwa dem nur an landeseigenen Universitäten zu erwerbenden »Bachelor of Honours«, der anders als der kontinentale Bachelor automatisch zum Masterstudium qualifiziert19 • Schwieriger noch ist der Transfer einzelner Studienleistungen. Denn bislang sind die Module und ihre Belegung mit Leistungspunkten relativ frei variierbar - in Deutschland hat nicht nur jedes Bundesland und jede Universität, sondern nahezu jede Fakultät und nicht selten jedes Institut im ersten Anlauf ein eigenes System auf den Weg

OECD 2005: 7 f). Hierzu ist einschränkend festzustellen, dass ein Großteil des aktuellen Datenmaterials sich immer noch auf Abschlüsse des alten Systems bezieht. 17 Gemeint sind hier vor allem europaweit vergleichbare Sprachregelungen für Containerbegrifflichkeiten wie Bachelor und Master, ECTS, Credit Point, Diplama Supplement, Modul etc., die im Detail aufgrund der weiter wirkenden lokalen Hochschultraditionen sehr Unterschiedliches bezeichnen können. 18 Sowohl die berufsqualifizierenden hogeschool-Abschlüsse als auch das weiterhin nicht berufsqualifizierende Grundstudium an Universitäten, die nun beide in den Bachelor überführt wurden, haben sich in ihrer internen Struktur kaum geändert (Witte 2006: 237- 251). 19 Darüber hinaus scheinen viele US-Hochschulen anscheinend den eigenen, vierjährigen Bachelor gegen die neue europäische Konkurrenz verteidigen zu wollen (Forschung und Lehre 112005: 3).

58

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

gebracht2°. Im harmlosesten Fall werden so Erfolgsmodelle kopiert und allmählich zum Standard erhoben; im Gegenextrem tun sich die Institute sehr schwer, Module bzw. andernorts absolvierte Veranstaltungen anzuerkennen21 • Zudem stehen mittlerweile einige mühsam etablierte »Standards« wie das 6+4-SemesterModell für Bachelor und Master wieder zur Debatte; besonders die Diskussion über die Länge von Bachelor-Studiengängen (zwischen 6 und 8 Semestern) ist mit den letzten Studierendenprotesten erneut entflammt, und die Reformpolitiker sprechen sich mittlerweile dafür aus, dass » die Ländergemeinsamen Strukturvorgaben für die Akkreditierung von Bachelor- und Master-Studiengängen entsprechend der intendierten Flexibilität zu nutzen « sind (KMK 2010: l ). Vielleicht prägen diese Ungereimtheiten nur eine Übergangszeit; durch multilaterale Anerkennungsabkommen, Mehrfachabschlüsse sowie die flächendeckende System- und Programmakkreditierung könnten sich längerfristig neue, verbindlichere Standards herausbilden (vgl. dazu auch Winter 2009, kritisch Heumann 2007). Doch wo sie greifen, steht das nächste, nachhaltigere Problem an: Wo, wie angestrebt, eine Verkürzung des Studiums erreicht wird, fehlt einfach die Zeit für den Ortswechsel, zumal für den selbst organisierten. Allgemein kann man annehmen, dass ein weiteres Ziel verfehlt wird: die Absicht, das Studium individueller, eigenverantwortlicher und flexibler anzulegen. Diese Absicht korrespondiert mit einer lerntheoretischen Umstellung von Lehrenden- auf Lernendensicht, wie sie von Seiten der Hochschuldidaktik seit den 1970er Jahren immer wieder gefordert wurde (vgl. exemplarisch BülowSchramm 2004, Mandl 1995, Greif/Kurtz 1996) und ist auch in den Erlassen der Kultusministerkonferenz nachweisbar: »Die Einführung von Modulen und Leistungspunkten [ . ..] ermöglicht die individuelle Gestaltung des Studiums bei gleich bleibender Inanspruchnahme der Kapazitäten.« (KMK 2000: 1) Dringlicher hat das Anliegen eine u. a. mit Wirtschaftsvertretern besetzte Arbeitsgemeinschaft des Centrums für Hochschulentwicklung formuliert, die in der » Öffnung der Studienstrukturen durch das konsekutive Modell [ .. . ] Möglichkeiten einer sehr viel größeren Flexibilisierung und Anpassungsfähigkeit individueller Bildungs-, Berufs- und Familienbiographien« sieht- wobei auch »größere Flexibilität[ ... ] in der Gestaltung des Studiums« eine zentrale Rolle spielt (Bensel et al. 2003: 60 f).

20 Mittlerweile sehen die ländergemeinsamen Strukturvorgaben der Kultusministerkonferenz in ihrer Fassung aus dem Jahre 2010 formale Rahmenstandards vor (wie z. 8. eine Richtgröße für Module von 5 ECTS), »um einer Kleinteiligkeit der Module, die ebenfalls zu hoher Belastung durch Prüfungen führt, entgegen zu wirken.« (KMK 2010: 15) 21 V gl. dazu eine Einschätzung des Wissenschaftsrates (2006: 58 f).

D1E vERFEHLTEN OFFIZIELLEN ZIELE DER BoLOGNA- RE FORM

I 59

Das betrifft nicht allein die gestuften Abschlüsse und eine durch den flankierenden »Kopenhagen-Prozess« beförderte größere Durchlässigkeit zwischen akademischer und beruflicher Bildung. Ein wachsendes Angebot von Teilzeit- und Ergänzungsstudiengängen ist mitgemeint - und hat umso bessere Aussichten, als für die letzteren Gebühren anstehen oder erwogen werden. Es geht also in der Tat um diversifizierte Angebots- und Bedarfslagen, mit der Perspektive auf » individualisierte Vertragsbeziehungen « zwischen Studierenden und Hochschulen (Bultmann/Schöller 2003: 348). Die Aussichten für das Erststudium sind allerdings enger. Denn Modularisierung bedeutete innerhalb der ersten Reformwelle, jedenfalls in Deutschland zumeist eine stärkere Verregelung der Studienstrukturen und eine strukturelle Erhöhung der Prüfungsdichte; besonders die flir die Mehrheit der Studierenden vorgesehenen Bachelor-Studiengänge sind weitgehend stark strukturiert, bieten nur wenig Wahlmöglichkeiten und Raum für studentische Flexibilität22 . Die Re-Standardisierung bildet hier nicht allein, wie Ulrich Beck angenommen hat (1986: 210), die Kehrseite, sondern geradezu den Kern dessen, was zunächst als Individualisierung auftritt. Die organisatorische Rückseite der Reformbemühungen besteht vielerorts wesentlich in verdichteter Regulierung und expliziter Formalisierung akademischer Lehr- und Forschungspraxis. Statt einiger weniger Zwischen- und Abschlussprüfungen gilt es nun, informationstechnisch durch Lern- und CampusmanagementSysteme unterstützt, den gesamten Studienverlauf digitalisiert in einem Worliflow abzubilden und zu kontrollieren; der Kampf um den Zuschnitt von Studiengängen, Modulen und Punktesystemen beschäftigt unzählige Lehr-, Evaluations- und Prüfungsausschüsse - und die Aldaeditienmgs- oder Qualitätssicherungsagenturen, die deren Maßnahmen zusammenhalten sollen, bringen in ihrer Eigenschaft als »Prüfinstanz« zusätzliche Prozesskomplexität ins Spiel (vgl. Krücken et al. 2005, Heumann 2007). Auch in diesem Punkt hatten die Programme einst anderes versprochen. Der wirtschaftsliberale Teil der Reformbewegung prangert seit langem die bürokratische» Verkrustung«23 und Ineffizienz der Universitäten an.

22 Mittlerweile haben sich die jüngeren Studierendenproteste gegen eben diese Phänomene wie Verschulung und Überfrachtung des Studiums gewendet; und die zuständigen Volksvertreterinnen haben eilig neuen Reformbedarf (Stichworte sind: Bologna 2.0, Reform der Reform) zugestanden, der mittlerweile Thema nahezu jeder HRK-Tagung zu sein scheint. 23 Zwei Buchtitel umschreiben prägnant die Frühphase dieses Diskurses: Was derzeit noch herrscht, ist Die blockierte Universität (Daxner 1999), was kommen muss, Die entfesselte Hochschule (Müller-Böling 2000). Die internationale Literatur zur Entrepreneurial University ist inzwischen kaum noch zu überschauen, legt aber gemein-

60

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

Die Gegenvorschläge, die mittlerweile weitgehend Gesetzesform angenommen haben, lauten im Kern: Autonome Leitungs- und Managementstrukturen - nach dem Leitbild Unternehmen oder wenigstens Organisation24 - sowie Anreizstrukturen in Form von Wettbewerben, wo es nur geht- man konkurriert um »Exzellenz« 25, »Kunden« und Forschungsgelder (dazu kritisch-ironisch Münch 2007). Beides bedeutet fraglos einen Abbau demokratischer Mitbestimmung26, sofern in den Hochschulen» Vorstand« und » Aufsichtsrat«27 überkommene Gremien der Selbstverwaltung ersetzten, sowie einen Abbau akademischer Freiräume, weil Forscherinnen und Lehrende nun regelmäßig quantitativ messbare

hin gleichfalls auf Entbürokratisierung Wert (vgl. dazu, signifikant und einflussreich, Clark 2004). 24 Die in den ersten Reformjahren verabschiedeten Hochschulgesetze und -gesetzesänderungen der Bundesländer sehen sämtlich unternehmensähnliche Strukturen vor: finanziell verselbständigte Stiftungsuniversitäten, ein gestärktes Präsidium, seine Ergänzung durch » Hochschulräte «, die Aufsichtsräten nachempfunden sind und z. T. auch so heißen sollen. In Bayern, Berlin, Harnburg und im Saarland, wo die Kompetenzen dieser Räte am weitesten reichen, entscheiden sie etwa >> über grundsätzliche Fragen der Haushalts- und Wirtschaftspläne, die Gliederung der Hochschule in Fakultäten und zentrale Einrichtungen, Studiengänge und« - noch ein Instrument aus der privatwirtschaftliehen Praxis - » den Abschluss von Zielvereinbarungenechte< akademische Innovation schon aufgrund von Mittelknappheit auf der Strecke bleibt. 26 Dagegen hat sich jüngst das von der Böckler-Stiftung und den Gewerkschaften herausgebrachte » Leitbild Demokratische und Soziale Hochschule« (20 I 0) positioniert. 27 Vgl. für diese Terminologie das Zweite Gesetz zur Änderung hochschulrechtlicher Vorschriften Baden-Württembergs, § 15 (Gesetzesblatt für Baden-Württemberg, 05.0 I. 2005).

D1E vERFEHLTEN OFFIZIELLEN ZIELE DER BoLOGNA-REFORM

I 61

Erfolge nachweisen müssen. Bürokratie wird dagegen nur abgebaut, um andernorts nachzuwachsen. »Die neue Autonomie der Hochschulen bedeutet [ ... ] nicht nur eine Erweiterung der Aufgaben des institutionellen Managements, sondern es zeichnet sich zugleich ein deutlicher Trend zur Entstehung einer Vielfalt von Pufferorganisationen und Vermittlungsinstanzen ab: Evaluationsagenturen [ ... ], Landeshochschulräte, Kuratorien, Strukturkommissionen, nationaler Aldaeditierungsrat u. ä. « (Kehm/Pasternack 2001: 67) Die meisten dieser Instanzen sind ironischerweise mit der Aufgabe betraut, in bislang davon ausgenommenen Bereichen einen freien Markt oder zumindest engagierte Marktakteure zu simulieren2 x. Von den Hochschulrankings (z. B. CHE) und berufungsrelevanten Zitationsindizes über den Kampf um Drittmittel und Anteile am Globalhaushalt bis zum Wettbewerb um das lukrative Etikett Exzellenz (Münch 2007), überall werden Apparaturen der Erfassung, Einordnung und Zuweisung geschaffen, um Konkurrenz herzustellen. Parallel zum Befund bei der individuellen Studiengestaltung kann man also zusammenfassen: Was als Deregulierung auftritt, erweist sich weitgehend als schleichende »Re-Regulierung « (Krücken et al. 2007). Dieses Phänomen ist nicht neu: in Großbritannien zeigte sich z. B. schon in der Thatcher-Ära (dazu auch Albrecht 2009: l 02 ff. ), dass die (neo-)liberal angeleitete Reform Regierungsinterventionen und Regulierungen weniger abbaut als erweitert, denn die Umsteuerung »from advance regulation to performance control «bringt nahezu naturwüchsig eine fein adjustierte Kontrolle mit sich (Bleiklie 2000: 29). Diese Spannung zwischen Zielen und Umsetzung, Individualismus und Verregelung, Flexibilisierung und Bürokratisierung haben auch viele kritische Reflexionen zu Bologna bemerkt. Die eine Lesart lautet dabei, dass die Kontrolle zusehends in die Individuen verlagert wird. Ludwig Pongratz etwa überträgt F oucaults

28 Aldo Geuna hat in Großbritannien bereits 1997 solche »simulated markets« der Mittelvergabe identifiziert und aufunerwünschte Konsequenzen wie eine Zentralisierung der Forschungslandschaft hingewiesen. 29 Auch kommt das Medium des gestalteten Wettbewerbs verlässlich dem Reformziel Innovation in die Quere; der Zwang, ständig neue Mittel einzuwerben ruft nahezu automatisch Orientierung am Bestehenden oder gar Konformismus hervor: » [R]itualistic and short-term research, simply tobring in grants and improve ratings« (Parker/Jary 1995, zit. n. Schimank 2002: 11 ). Dieser einst von Großbritannien ausgegangene Trend zur » indirekten Steuerung« bildete im Übrigen auch die Keimzelle der gesamteuropäischen »Gouvernementalitätsstudien« (überblicksartig dazu Rose 1999).

62

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NACH B oLOGNA

Überlegungen zur (neo-)liberalen Regierungsweise auf die gegenwärtige Rhetorik der europäischen Hochschul- und Arbeitsmarktreform: Die Kunst neoliberaler Regierung besteht gerade darin, die Grenzen zwischen Selbst- und Fremdführung aufzuheben, um die Imperative des >Unternehmens EU< in die Selbstreflexion der Subjekte einzuschließen. [ ... )Kein Wunder also, dass sich die Lissabon-Strategie dem Lebenslangen Lernen verschreibt. Es wird den Exkludierten gleichsam als Selbst-Therapie anempfohlen, als Sprungbrett zur Inklusion aus eigener Kraft. (Pongratz 2009: 19f.)

Ergänzend gilt dann, dass Exklusion als Konsequenz mangelhafter » Selbst-Aktivierung« erscheint (vgl. dazu Lessenich 2008). Man kann aber auch umgekehrt die Vermehrung äußerer Verhaltensregeln hervorheben. Ulf Wuggenig (2008: 153) fragt sich, ob aufgrunddes »hierarchischen und bürokratischen Charakters der Implementierung der Bologna-Reform[ ... ] sie überhaupt als >neoliberal< bezeichnet« werden könne, da die deutschen Reformen »mit Strategien und Modellen> neoliberaler Gouvernementalität Realpolitik< der Einführung der neuen Programme, dass den »bürokratischen Kontrollmechanismen von staatlicher Seite« der Akkreditierungsagenturen nun noch private hinzugefügt würden (ebd).

Der Bologna-Prozess werde also »nicht in erster Linie von Vertretern einer individualistischen Rationalität getragen, sondern in starkem Maße von Vertretern bürokratischer bzw. hierarchischer Denkstile« (ebd). Festzuhalten bleibt vorerst allgemein, dass die Reformen des Bologna-Prozesses neben ehrgeizigen strukturellen und diskursiven Vereinheitlichungen zugleich Autonomie-Versprechen und erweiterte Regulierungen für sämtliche Beteiligten hervorgebracht haben, wobei die Frage nach der Etikettierung dieser Politik (z. B. als neo liberal) hier nicht abschließend diskutiert werden kann. Welche Ziele im Prozess nachhaltig verfolgt werden und welche Veränderungen er voraussichtlich etabliert, lässt sich also kaum aus den Absichtserklärungen seiner Vertreter entnehmen. Der folgende Abschnitt soll mögliche alternative Ursachen und Konsequenzen des Reformprozesses beleuchten.

LATENTE F uNKTIONEN DER HocHSCHULRE FORM

3.3

I 63

LATENTE FUNKTIONEN DER HOCHSCHULREFORM: DIE ERNEUERUNG AKADEMISCHER UND SOZIALER ELITEN?

Inwiefern können radikale reformerische Projekte wie der Bologna-Prozess überhaupt längerfristig Aussicht auf Stabilisierung haben? Von Robert K. Merton stammt die Unterscheidung zwischen manifesten und latenten Funktionen; er versprach sich von dieser Unterscheidung vor allem Aufschluss über vermeintlich irrationales soziales Verhalten: »Clarifies the analysis ofseemingly irrational social patterns. In the first place, the distinction aids the sociological interpretation of many social practices which persist even though their manifest purpose is clearly not achieved« (1948: 118). Betrachtet man das ambivalente Erscheinungsbild der aktuellen Hochschulreformen aus dieser Perspektive, ist natürlich zu beachten, dass sie bislang keine verstetigte Praxis30 darstellen, sondern allenfalls eine solche sukzessive herstellen und andere Verhältnisse abschaffen. Funktional können sie damit in mindestens zweierlei Hinsicht sein: 1) Als Herausbildung einer Ordnung, die eine bereits veränderte Praxis offizielllegitimiert und stabilisiert bzw. veränderten Rahmenbedingungen gerecht wird, aber auch 2) als Anpassungsprozess, der dysfunktional gewordene Wirkungszusammenhänge außer Kraft setzt. In beiden Fällen ist jedoch vonnöten, dass die Beteiligten überhaupt Gründe sehen, den Umbau zu akzeptieren - zumal dann, wenn die Strukturanpassungen noch im Zustand des Aufbaus oder der Nachsteuerung sind. Solche Gründe können nun auch unterhalb der politisch erklärten Ziele liegen. Im Reformgeschehen konnte man immer wieder feststellen, wie Akzeptanzhaltungen als Nebenfolge entstehen: Module, ECTS-Punkte und ihre Begründungen mögen vielen Mitwirkenden prinzipiell gleichgültig oder unerwünscht sein, sie kommenjedoch dem vor und während der Reform verbreiteten Bedürfnis entgegen, dem Studium eine stringente, verbindliche Struktur zu geben (vgl. Bellmann 2005: 26). Das Beispiel macht deutlich, dass das im Hinblick auf erklärte

30 Das gilt zumindest fiir die spezifische, hier untersuchte Stoßrichtung des BolognaProzesses. Allgemeiner kann man vermuten: » Bildung [ ... ] fällt zusammen mit ihrer Reform. Von den Schulreformern der Aufklärung über die humboldtschen Bildungsreformen, die Reformpädagogik der zwanziger Jahre, die Reform(hoch)schulen, die nach Ausrufung der deutschen Bildungskatastrophe in den sechzigerund siebziger Jahren gegründet worden waren, bis hin zu den wettbewerbsorientierten Universitäts- und Schulreformen der Gegenwart zieht sich der Bogenjener Veränderungen, die Bildung als unablässiges Bemühen um Ausweitung, Strukturveränderung und Anpassung erscheinen lassen. « (Liessmann 2006: 159)

64

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

Zwecke Latente nicht schlechthin unsichtbar sein muss: Um zunächst unbeabsichtigte Vorteile ausfindig zu machen, kann man sich auch an inoffiziellen Urteilen sowie an Untertönen und Nebenbotschaften dessen orientieren, was im Umfeld eines Veränderungsprozesses geäußert wird. Diese Öffnung wird es später erlauben, von der Unterstellung latenter Funktionen zur Analyse institutionellen Wandels überzugehen. In jedem Falllässt sich mit einer offenen Begriffsverwendung der Entstehungszusammenhang latenter Funktionen auch handlungstheoretisch beschreiben. Sie können sich besonders dann herausbilden, wenn verschiedene relevante Gruppen inkompatible Interessen verfolgen. Der zähe Widerstand der Professorenschaft gegen die externe Bewertung und Kontrolle von Forschung und Lehre etwa wird durchlässig, wenn man als Ziel Exzellenz ausgibt und als Anreizstruktur die Befreiung vom studentischen und bürokratischen Mittelmaß in Aussicht stellt. Die aus Sicht der Sozialund Arbeitsmarktpolitik notwendige Rekrutierung von Studierenden in zunehmend bildungsferneren Milieus lässt sich mit dem Label Diversity und spezifisch dafür bereitgestellten Fördergeldern als gesellschaftliches Engagement der Hochschulen darstellen. Clusterformeln dieser Art sind unter anderem deshalb wahrscheinlich, weil die Reform in mehreren Anläufen auf den Weg gebracht wurde und sich entsprechend viele Ziele angesammelt haben3 1• Die Benennungen, die sich als hinreichend inhaltsleer erwiesen haben, können von den ebenfalls zahlreichen beteiligten Interessengruppen eingesetzt oder als Kompromissformel akzeptiert werden (vgl. Kehm/Pasternack 2004: 234; dazu diskursanalytisch Maese 2010: 243 ff.), wenn diese eigene Privilegien verteidigen und fremde angreifen, partikulare Überzeugungen verbreiten oder alte Evidenzen auflösen wollen. Neben Exzellenz zählen Effizienz, Flexibilität, Vielfalt, Diversity, Qualität und Kompetenz zu diesen Leerformeln, deren Aufstieg primär signalisiert, dass man sich nicht einig ist, wohin es gehen soll. 32 Die bisher genannten Überlegungen sind auf die direkt Beteiligten begrenzt. Stabilisierbare Effekte der Bolognareform wurden in den letzten Jahren aber auch

31 V gl. für die verschiedenen Anläufe und z. T. widersprüchlichen Ziele im europäischen Rahmen Wächter (2004), für den der marktoffene Geist von Bologna seit 2003 einer »anti-liberal « bzw. » anti-globalist attitude« gewichen ist (272 t). Umgekehrt sieht Kellermann in der Vorgeschichte des Prozesses, zwischen der Sorbonne- und der Bologna-Erklärung, einen »Umstieg von humanistischen Bildungszielen aufutilitaristische Instrumentalität« bzw. einseitig »wirtschaftliche Zwecke « (2006: 57). 32 Nimmt man die fraglichen Begriffe zusammen, könnte man in Anlehnung an einen Gedanken Jon Elsters auf die Idee kommen, dass einzig die Kritiker der Reform an ihre Ernsthaftigkeit glauben.

LATENTE F uNKTIONEN DER H ocHSCHULREFORM

I 65

hinsichtlich der sozialstruktureilen Einbettung und sozialen Sortierungsfunktion der Hochschulen diskutiert: Einerseits vermuten kritische Beobachter, dass sich im Reformprozess paradoxer Weise wieder die klassische, elitäre Universität als oberes Segment der verallgemeinerten Hochschulbildung herausschälen wird; andererseits lassen sich, komplementär dazu, Ordnungseffekte akademischer » Massenausbildung « für die verstärkt nachgefragte Wissensarbeit erwarten. Ich möchte beide Positionen kurz referieren, weil sie sich, wie später argumentiert wird, gut auf die »problematisch gewordenen « Selbstverhältnisse der Lernenden abbilden lassen. Den Hintergrund bildet in beiden Fällen die laufende oder angestrebte Dreiteilung der Hochschullandschaft in 1) international bekannte, mit Sondermitteln geförderte Spitzenstandorte, 2) national anerkannte Ausbildungsstätten und 3) Einrichtungen von nur noch regionaler Bedeutung, so genannte regionale Kompetenzzentren. Der deutsche Bologna-Prozess trägt zu dieser Entwicklung einerseits bei, indem er durch Verkürzung und Strukturierung die Zugangschwellen zum Studium abzubauen anstrebt; den Gegenakzent an der Spitze setzen die Bemühungen um die Etablierung von Exzellenz-Universitäten. 33 Nimmt man beides zusammen, kann man darin eine »Diversifizierung« erkennen, wie sie der Hochschulforscher Martin Trow (1974, 1979) als natürliche Folge des Übergangs von »elite higher education« zu »mass higher education« geschildert hat: die Erstere wird nicht abgeschafft, sondern vom Ganzen zum Teilbereich der höheren Bildung34 . Diese Annahme wird von Bologna-Kommentatoren neu aufgelegt, die

33 So fasst es etwa Heike Schmoll: »Es wird künftig nur noch eine sehr kleine Zahl international konkurrenzfähiger Hochschulen geben, dann einige Hochschulen mit einzelnen herausragenden Forschungszentren und schließlich eine Masse von Ausbildungsanstalten mit regionaler Bedeutung. Welche Hochschulen dann die vom Bologna-Prozess diktierte Aufgabe zu leisten haben, Tausende von Studenten zumindest zu einem Bachelor-Abschluss zu führen, liegt auf der Hand.« (FAZ, 16. I 0. 06) Enthusiastischer hat die Einteilung 2002 der britische Staatssekretär Clarke formuli ert: » We need to identifY more clearly the great research universities, the outstanding teaching universities and those that make a dynamic, dramatic contribution to their regional and local economies. The funding system flows from the conclusions« (zit. n. Hazelkorn 2005 : 21 ). In Deutschland entspricht diesem Trend prominent die Einrichtung von Exzellenz-Clustern, aber auch die gewachsene Bedeutung staatlich geförderter Drittmittelprojekte insgesamt. 34 Diese Entwicklung wird in der Hochschulforschung je nach Anlass prognostiziert oder gefordert - wobei Europa gegenüber den USA gewöhnlich als Anomalie erscheint (vgl. Trow 1976, Clark 1987, Teichler 2005 : 100 ff).

66

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

davon ausgehen, dass nur ein überschaubarer Teil der Bevölkerung, ob zeitweilig oder langfristig, eine intensive und fruchtbare Beziehung zur Wissenschaft pflegen kann. Die aktuellen Studierendenquoten überschreiten definitiv dieses Maß; beliebt ist der Zahlenvergleich von 4% (um 1900) und 30-40% der heutigen Studierenden in einem Jahrgang (vgl. OECD 2009). Jochen Hörisch stellt sich konsequent auf eine Rücldcehr zum erstgenannten Zustand ein: » Viele Indizien sprechen dafür, dass sich etwa flir jeden zehnten Professor und für drei bis fünf Prozent der Jahrgänge im Studienalter wieder traditionelle Airna-Mater-Strukturen herausbilden werden. [ ... ] Statt vierzig Prozent studieren dann ca. vier Prozent eines Jahrgangs >richtig> Während die traditionellen Universitäten zu mehr oder weniger berufsqualifizierenden Ausbildungsgängen [ ... ] heruntergewirtschaftet worden sind, rettet sich die halbierte humanistische Universitätsidee in die aus dem neoliberalen Geist des Wettbewerbs geborene Elitekonzeption.« (Liessmann 2006: 128) Sollten diese Prognosen zutreffen, hätte die Bologna-Reform tatsächlich Konsequenzen, die der Rhetorik und den Zielen vieler ihrer Vertreter entgegengesetzt sind - sie aber für ihre Gegner tendenziell akzeptabel machen (so Draheim/Reitz 2007: 501 ). Ähnliches gilt für das Thema bildungsvermittelter Ungleichheit. Wie auch immer sich die akademische >Elite < rekonfigurieren wird; eine forcierte und offiziell ausgewiesene Hierarchisierung der Hochschullandschaft - auch heute oft Diversifizierung genannt (Alesi/Kehm 201 0) - lässt erwarten, dass nicht nur die wissenschaftliche, sondern zugleich die soziale Selektion befördert wird. Folgt man etwa den elitesoziologischen Befunden von Michael Hartmann (exemplarisch 2005 und 2007), richten bildungs- bzw. finanzstarke Eltern in allen Systemen, die das zulassen, die Bildung ihrer Kinder von früh an darauf aus, dass sie einmal eine möglichst hochrangige Universität besuchen können. In den Sonderfmormative Kraft als Postulat«, die geeignet ist, die » Vernünftigkeit des Staates « fraglos anzuerkennen und auf die eigenen Tätigkeitsfelder (Bildung, Kunst, Kultur) auszudehnen (1993: 310).

DIE ANOMISCHE MASSENHOCHSCHULE UND DIE KRISE DES AKAD EMI SC HEN WISSENSREG IMES

I 71

Schulzuganges auf enge, nur langsam erweiterte Kreise vonnöten42, sondern auch eine spezifische Limitierung der Bildungsgüter. Auch wenn sich ab 1810 nicht unmittelbar eine neuhumanistische »Idee der Universität« realisiert und verbreitet hat43 , fügte sich die u. a. durch die Entscheidung gegen augewandte bzw. spezialisierte Hochschultypen bedingte Konzentration auf alte Sprachen, klassische Autoren und vorbildliche geschichtliche Vorgänge gut ins rekonfigurierte Verhältnis von Wissenschaft und Staat ein. Während die neoabsolutistischen Regierungen die korporative Verkrustung wie auch die tradierte Selbständigkeit der Universitäten aufbrachen44 , pflegten die zusehends professionalisierten Wissenschaften geistesaristokratische Ideale und ein Bewusstsein nationaler Besonderheit45. Die Gymnasiallehrerausbildung, die zu einer akademischen Kemaufgabe46 wurde, beförderte diese Orientierungen in breitere gebildete Schichten. Kanonisierte Weltdeutung konnte derart die unmittelbar autoritäre Vergesellschaftung beerben, wo diese nicht ohnehin im Meister-Schüler-Verhältnis fortgeführt wurde. Voll entfaltet hat sich dieses Regime erst mit der Herausbildung und vielfachen Bearbeitung des »Mythos Humboldt« im 20. Jahrhundert; die Spätfolgen finden sich etwa noch in der gegenwärtigen Kulturkritik des Bolognaprozesses (etwa bei Albrecht 2009, Liessmann 2006). Nach der weitgehend an den Vorkriegszustand anknüpfenden Wiederaufnahme des Lehr- und Forschungsbetriebes nach 1945 (exemplarisch: Konrad 2008, Burtscheidt 2010, Schimank 2010), begann sich in den späten 1960er Jah-

42 Zu recht wurde festgestellt, dass die deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert auch ein Vehikel sozialen Aufstiegs waren (Lübbe 1993: 97)- aber eben nur für wenige und in eine sich zusehends selbst ergänzende staatliche bzw. staatsnahe Elite (vgl. die auch von Lübbe genutzten Daten in Turner 1987). 43 Der Mythos um die Berliner Universität, die u. a. auf die Ideen Humboldts, Fichtes und Schleiermachers zurückgeführt (A nrich, Hg. 1956) und als Vorbild für ganz Deutschland sowie die USA gehandelt wird (vgl. den Überblick bei Turner 2001), ist von der Forschung inzwischen gut widerlegt; Sylvia Paletschak (2001) zeigt, dass im 19. Jh. weder das Berliner Arrangement besonders innovativ oder vorbildhaftnoch Humboldts Konzeption als solche geläufig war, bekanntlich wurde seine zentrale Denkschrift ja auch erst um 1900 publiziert. 44 Zum Beispiel: Berufungsrecht, ökonomische Selbständigkeit, akademische Gerichtsbarkeit (Paletschak 2001: 85 f). 45 Besonders natürlich die zunächst die Philosophische Fakultät dominierenden Geisteswissenschaften (vgl. Ringer 1987). 46 In den Jahren 1840-1860 strebten 40-55 % der deutschen Studierenden das Amt des Gymnasiallehrers an (Turner 1987: 231).

72

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

renjedoch das Gegenmodell zu formieren. Indem die Wissensordnung und die Hierarchien innerhalb der Hochschule in Frage gestellt wurden, meinte man zugleich auch die Sozialordnung außen umwälzen zu können (skeptisch: Maihofer 1973). Wie auch immer die Erfolge dieser Strategie heute zu bewerten sein mögen, sie verlieh der akademischen Forschung, Lehre und Sozialisierung für etwa zwei Jahrzehnte ihren funktionalen Akzent. Die Hochschulen wurden dadurch zum Austragungsmedium gesellschaftspolitischer Konflikte - wenngleich in Stellvertreterposition- sowie zum Labor neuer Lebensformen- gleichwohl nicht erreichbar filr alle. Für ein Verständnis dessen, was aktuell an den deutschen Hochschulen geschieht, ist vor allem ein genauerer Blick auf diesen zweiten Aspekt hilfreich. Es ist mittlerweile ein Gemeinplatz geworden, die Entstehung und Folgen von 1968 mit der Entwicklung zu verknüpfen, dass sich die Hochschulen einem neuen Massenpublikum öffneten47 , vom rasanten Anstieg der Studierendenzahlen in der Nachkriegszeit über die rund fünfzig Hochschulgründungen der 1970er Jahre, die auf eine bislang nicht akademisch sozialisierte Klientel - idealtypisch: das katholische Arbeitermädchen vom Land - zielten, bis zum 1977 beschlossenen Zustand weiterer Öffnung und stagnierender Haushalte (vgl. Teichler 2005: 30ff., im Überblick: WRK 1989). Die Massenuniversität, die sich in diesem Prozess herausbildete, gilt seit den einflussreichen Studien Trows als Nachfolgemodell der »elite higher education«, sofern sie zugleich dem oben angesprochenen Imperativ der »diversification«4~ oder Ausdifferenzierung von Elitesegmenten entspricht. Wo diese noch fehlen, wird die Realität der Massenuniversität überwiegend negativ eingeschätzt. Sie anonymisiere die Lehrbeziehungen, reduziere die Studierenden auf Verwaltungsobjekte, entwerte die Abschlüsse, ersticke innovative Impulse im Mittelmaß. In nuce: Sie zerstört alles, was höhere Bildung zum Versprechen gemacht hat. Im Hintergrund solcher Einschätzungen lauert, mehr oder weniger explizit, die Furcht vor anomischen Zuständen. Für den Hochschulhistoriker Thomas Ellwein etwa verwies die Studentenrevolte » auf spezifische Probleme einer Massenuniversität, in der es an jenem persönlichen Umgang fehlt, der Konflikte in einer Form auszutragen erlaubt, welche das jeweilige Ganze nicht gefährdet, sondern weiterbringt« (Ellwein 1992: 254). Der kulturrevolutionäre Geist der späten 1960er und 1970er Jahre wird also zugleich aus dem Unbehagen in der Massen-

47 Vgl. z. 8. Jarausch (1999), Lundgreen (1997) und Eilwein (1992). 48 Diese Entwicklung wird in der Hochschulforschung je nach Anlass prognostiziert oder gefordert - wobei Buropa gegenüber den USA gewöhnlich als Anomalie erscheint (vgl. Trow 1976, Clark 1987, TeichleT 2005: 100ft).

DIE ANOMISCHE MASSENHOCHSCHULE UND DIE KRISE DES AKADEMISCHEN WISSENSREG IMES

I 73

universität hergeleitet und als Manifestation ihrer Defekte gedeutet - man habe eben die Fähigkeit verloren oder den Habitus nicht ausgebildet, Konflikte formvollendet auszutragen. Die Entwicklung kann aber auch völlig anders interpretiert und weitergedacht werden. Schließlich hat erst der anonymisierte Massenverkehr Alternativen zu den typisch hierarchischen Lehrer-Schüler-Symbiosen eröffnet, erst das Aufbrechen vermeintlich unversöhnlicher Konflikte hat es möglich gemacht, überkommende Wissensordnungen und Lehrformen umzugestalten, und erst die anhaltende soziale Öffnung dieses in Bewegung geratenen Feldes sorgte dafür, während des Studiums alternative Lebensformen bzw. Gegenkulturen erproben zu können. Von den Wohn-, Theorie- und Agitationsgemeinschaften der 1970er Jahre bis zu den exzentrischen ldentitäten der Postmoderne49 haben die Hochschulen eine erstaunliche Breite von Bildungs- und Lebensexperimenten hervorgebracht, samt der Sackgassen und der prekären Biographien, die mit solchen Versuchen leider einhergehen. Inzwischen ist die skizzierte Entwicklung längst an Grenzen gestoßen. Für die planvolle akademische Ausbildung größerer Kohorten hat sie sich nur begrenzt als funktional erwiesen, weil eben massenhaft nicht auf den Beruf hin studiert wurde. Die berüchtigten langen Studienzeiten50 , die wachsenden Einschreibquoten in Fächern mit hoher Abbrecherquote5 1 sowie die Schwierigkeit, der Qualifikation angemessene Arbeit52 zu finden, hätten ohne den Umbau der ostdeutschen Hochschulen ab 1990 vermutlich schon früher politische Eingriffe provoziert53 .

49 Als eine exemplarische Dokumentation kann etwa die Festschrift » Was kostet den Kopf?« zu Dietmar Kampers 65. Geburtstag (Neidhöfer/Ternes 2000) gelten. 50 In den 1980er Jahren stieg die durchschnittliche Studiendauer an deutschen Universitäten auf7 Jahre, England liegt demgegenüber bei 3,4 Jahren (Teichler 2005 : 33; HIS 2005: 48). 51 So wuchs beispielsweise in Westdeutschland zwischen 1985 und 1991 die Zahl der Soziologie-Erstsemester um mehr als ein Drittel, von 7 569 auf 12 902; die Zahl der Absolventen betrug dagegen nur 1 643 bzw. 2 244 (Burkhardt et al. 2000: 64). 52 Auch Akademikerarbeitslosigkeit wurde um die Mitte der 1980er Jahre (u. a. aufgrund einer sprunghaften Zunahme der absoluten Zahlen von Studierenden und arbeitslosen Absolventen) als Problem entdeckt (vgl. Keller/Linke 1986: 66 f); seither sind die Beschäftigungschancen für Akademiker jedoch stabil und im allgemeinen Durchschnitt vorteilhaft geblieben - auch fur Geistes- und Sozialwissenschaftler (vgl. Burkhardt/Schomburg/Teichler 2000). 53 Die Reformvorstöße der späten 1970er und 1980er Jahre (Teichler 2005: 110-113) lassen bereits Kernpunkte des gegenwärtigen Prozesses erkennen: Verkürzung der

74

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

Jedenfalls ist es anderthalb Jahrzehnte danach beinahe unschicklich geworden, dass junge Menschen zu spät und zu selten an die Einmündung auf den Arbeitsmarkt denken könnten. Der oben umrissene Wandel der Wissensarbeit zur Normalarbeit betrifft auch die hochschuhsehe Bildungsfunktion: zieloffene akademische respektive intellektuelle Selbstentfaltung wird nicht zuletzt insofern obsolet, als sie einen Restbestand älterer Elitevorrechte darstellt. Es könnte daher sein, dass die Anomiegefahr, die mit der Entwicklung der Elitehochschule zur Massenhochschule einhergeht, das funktionale Bezugsproblem der aktuellen Reformen darstellt - und entscheidend dazu beiträgt, deren Durchsetzbarkeit zu erklären. Streitbare Kommentatoren des deutschen Bologna-Prozesses wie etwa Wolfgang Eßbach (2003 , 2009) haben darauf hingewiesen, dass das Studieren in der Massenuniversität zwischen den 1960er und den 1990er Jahren in zunehmend anomischen Strukturen stattgefunden habe 54, was nicht zuletzt der Öffnung der Hochschulen für schließlich weit über 30 % eines Abiturjahrganges bei nahezu gleich bleibendem Personal geschuldet gewesen sei: Die politisch gewollte Steigerung der Studienaufanger allein in den achtziger Jahren um 70 Prozent bei einer Vermehrung von Professorenstellen um 7 Prozent führte zur Anomie der Massenuniversität in Deutschland. Die Mehrheit der Professoren hat diese ver-

antwortungslose Überfiillungspolitik, die VeJWahrlosung der Universität, den Abbau von Leistungskontrollen, das Durchwinken bei Zwischenprüfungen, das Absenken des Niveaus mitgetragen. [ ... ] Die deutschen Professoren hatten die Hoftimng, dass bei solcher Überfüllung die Regienmg sich erbarmen und Gelder für die Universitäten bereitstellen würde. (Eßbach 2009: 23)

Studienzeit und gestufte Studiengänge, mehr Wettbewerb sowie größere Rangunterschiede in und zwischen den Hochschulen. 54 In veJWandter Stoßrichtung argumentieren auch Liessmann (2006: 159 ff.) , Neef (2009: 124) und Münte-Goussar/Spieker/Wischmann (2009: 148 f. ). Wenngleich sie nicht direkt von Anomie sprechen, so werden doch zumindest aus sehr differenten Perspektiven Missstände problematisiert, die daran erinnern, dass das deutsche Hochschulsystem nicht erst seit Bologna mit chronischer Unterfinanzierung bei bürokratischer Strangulierung seiner Insassen (Liessmann), permanenter Neuausrichtung ohne klare berufliche Zielperspektiven (Neef) sowie eklatanten Ungerechtigkeiten, politischen Verschleierungen und invisibilisierten Selektionsmechanismen (MünteGoussar/Spieker/Wischmann) zu kämpfen hat, die im zeitgenössischen Reformprozess nicht einmal annähernd erkannt und angefasst worden sind.

DIE ANOMISCHE MASSENHOCHSCHULE UND DIE KRISE DES AKADEMISCHEN WISSENSREG IMES

I 75

Eßbach greift mit >Anomie< auf einen starken Krisenbegriff zurück, der in der Regel zur Kennzeichnung gesellschaftlicher Desintegration (Makro-Ebene) bzw. zur sozialen Erklärung abweichenden Verhaltens (Mikro-Ebene) herangezogen wird. Im Allgemeinen bzw. etymologisch bezeichnet Anomie bekanntlich Gesetz- oder Regellosigkeit, den Zustand einer sich auflösenden oder zusammengebrochenen sozialen Ordnung. In der Fassung Emile Durkheims55 tritt Anomie in gesellschaftlichen Umbruchs- oder Ausnahmesituationen auf, wobei zuvor geltende Normen ins Wanken geraten, bestehende Werte und Handlungsorientierungen die Verbindlichkeit einbüßen, Gruppenregeln und -moral erschüttert werden bzw. die damit verbundene soziale Kontrolle brüchig wird. Diese Verflüssigung von Normen setzt unbegrenzte Möglichkeiten und Erwartungen frei. Da diese nicht alle umgesetzt und erfüllt werden können, sind permanente soziale und psychische Spannungen die Folge, die sich in weiteren Normbrüchen oder destruktiven Handlungen wie Selbstmord, Devianz, Ehescheidungen usw. manifestieren. Geschichtlich bezieht Durkheim Anomie auf einen Zeitpunkt, als die zunehmende gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Arbeitsteilung der Industriegesellschaft die >mechanischeorganische>Anomie [ ... ] gibt jeder Illusion und damit jeder Enttäuschung dadurch Raum, dass sie die Bedürfnisse von allen ihren Schranken befreit. [ ... ] Die vollständige Auflösung aller seiner Lebensgewohnheiten versetzt ihn in einen Zustand der Raserei[ .. .] « (Durkheim 1983: 329).

76

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

Diskrepanz von kulturell tradierten Zielen und Werten einerseits sowie den sozial erlaubten Möglichkeiten, diese Ziele und Werte zu erreichen, andererseits56. Aus dem Zustand der Anomie resultiert auch hier für die Individuen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit devianten, wenngleich nicht zwangsläufig destruktiven Verhaltens. Je nach Anerkennung oder Ablehnung der kulturellen Ziele und Werte oder der erlaubten Mittel wird dieser anomische Zustand durch die verschiedenen Formen der Anpassung- Konformität, Innovation, Ritualismus, Rückzug und Rebellion57 - bewältigt. Wie lässt sich nun die Verwendung des Anomie-Begriffes in kritischen Analysen jüngerer Hochschulgeschichte58 deuten ? Wolfgang Eßbach (2009) untersetzt mit seiner Krisenrhetorik die Notwendigkeit der Hochschulreform in Deutschland, indem er den Zustand der Hochschulen vor Bologna als sozial verwahrlost und politisch aufgegeben bezeichnet; die Massenuniversität gleiche einem großstädtischen Ghetto. Die von ihm gleichfalls stark kritisierte Reform erklärt sich damit aus einer Mischung realer und wahrgenommener Krise, fortgeschrittener Resignation und fehlenden Gegenentwürfen: Es bestand bei vielen Hochschullehrern [ ... ] kein ernsthafter Grund, sich dem BolognaProzess zu verweigern, zumal überall versichert wurde, der Zug sei schon abgefahren. Auch waren die Universitäten seit Jahren in der Kritik, und nicht zuletzt dies schmiedete die Koalition eifriger Bologna-Fans mit denen, die meinten, man müsse wenigstens so tun, als ob man etwas gegen die »Misere der Universitäten« unternehme. Zudem war der Reformnachweis eine Voraussetzung geworden, um in den Genuss von Sonderfürdermitteln zu kommen, mit denen die Landesregierungen, auf die Begehrlichkeit der Professoren spekulierend, irgendwelche Regulierungen vornehmen wollten. (Eßbach 2009: 15)

56 Merton (1968: 188): » It is [ ... ] my central hypothesis that aberrant behavior may be regarded sociologically as a symptom of dissociation between culturally prescribed aspirations and socially structured avenues for realizing these aspirations. « 57 Dazu Merton (1968: 193-211): Wichtige Voraussetzung zum Verständnis dieser von Merton beschriebenen individuellen Verarbeitungsformen ist, dass » [t]hese categories refer to roJe behavior in specific types of situations, not to personality. They are types of more or less enduring response, not types of personality organization « ( 194 ). 58 In den USA hat Spady bereits 1970 Durkheims Selbstmordtheorie für die Erklärung des Studienabbruchs als soziales Desintegrationsphänomen fruchtbar gemacht. Vgl. zum Überblick der internationalen Forschung zum Studienabbruch der 1970er bis 1990er Jahre die annotierte Bibliographie von Schröder/Daniel (1998), hier S. 22.

DIE ANOMISCHE MASSENHOCHSCHULE UND DIE KRISE DES AKAD EMI SC HEN WISSENSREG IMES

I 77

Die Kritik der Reform macht Eßbach dann daran fest, dass ihre inhaltlichen Zielbestimmungen auch an wenig mehr als den wahrgenommenen anomischen Verhältnissen orientiert sind: »Der überforderte Studienahbrecher wurde zum Leitbild der Studienreform, die mit der Modularisierung des Studiums ihren Höhepunkt erreicht hat. Nach dem Prinzip >fordern und fördernideellen< Bezüge notwendig ist, um die beteiligten Akteure zu kooperativem Alltagshandeln zu motivieren.

63 Dazu polemisch Münch (2008: 93 ff.). 64 Das Jahresgutachten des Aktionsrates Bildung aus dem Jahre 2008 fasst den Schulterschluss von Lissabon und Bologna als geradezu sich selbst verstehende europäische Selbstbehauptungsstrategie zusammen: »Bei dem Bologna-Prozess als europäische Globalisierungsstrategie geht es nicht nur um die Mobilität innerhalb Europas, sondern auch um die Schaffung eines Europäischen Hochschulraums. Das Bestreben der EU besteht darin, mithilfe eines Europäischen Hochschul- und Forschungsraums eine gemeinsame Positionierung der Hochschul- und Wissenschaftseinrichtungen Europas im Rahmen einer globalen Strategie zu erreichen.« (VBW 2008: 141 )

D1E HocHSCHULREFORM NACH BoLOGNA IN INSTITUTIONENTHEORETISCHER PERSPEKTIVE

I 81

Wie klassisch von Schelsky festgestellt, lässt sich die Leitidee der HumboldtUniversität teilweise auf dessen idealisierende Formel »Einsamkeit und Freiheit« im Sinne autonomen akademischen Lebens in einer »Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden« bringen; die zugleich etablierte» Einheit von Lehre und Forschung« bezog sich wie ausgeführt auf eine elitär zugeschnittene Reproduktion von Akademikern und Wissenschaftlerinnen, die staatlich alimentiert zum Wohl des Staates erst gebildet und dann lebenslang als Beamte loyal für ihn tätig sein sollten. Durch die Öffnung der Universitäten in den 1960er Jahren, den studentischen Protest im Gefolge von 1968 sowie die fortschreitende Ausdifferenzierung des Hochschulwesens in Voll- und Spezialuniversitäten bzw. Fachhochschulen wurde diese Leitidee jedoch im Zeitverlaufimmer stärker ausgehöhlt und schließlich mit den aktuellen Reformen flir weite Teile des akademischen (Aus-)Bildungswesens aufgegeben. Ob die Phase der Institutionenkritik hier zwischenzeitlich Abhilfe geschaffen, nämlichen neuen institutionellen Zusammenhalt gestiftet hat, wird nach wie vor unterschiedlich bewertet65 ; und Autoren wie Schelsky würden es wohl vehement bestreiten. Meine These im vorliegenden Abschnitt ist, dass mittlerweile ein Leitideewandel der Hochschule » auf dem Weg nach Bologna« eingesetzt hat, der wieder mehr Geschlossenheit verspricht. Den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Reformbefürwortern und Reformgegnern stellt dabei die Forderung nach Autonomie dar, wenn auch teilweise Neues und jeweils ganz Unterschiedliches unter diesem Begriff verstanden wird: Während die Reformbefürworter damit die »Freilassung« der Hochschulen aus staatlicher Regulierung und bürokratischer Normierung meinen, etwa im Sinne des nordrhein-westfälischen Hochschulfreiheitsgesetzes66, begreifen die Reformgegner diesen Begriff eher als die Rettungsformel, um sich von den Output-Forderungen des politischen Systems, wie der zeitnahen Produktion von Arbeitskräften, einer möglichst geringen Anzahl von Studienabbrechern, Stärkung des (Forschungs- und Technologie-)Standortes Deutschland etc., zu befreien67 •

65 Im Überblick: Burtscheidt (20 10: 78-82), skeptisch: Maihofer (1989: 11 7 -119). 66 Siehe dazu im Wortlaut die Webpräsenz des Ministeriums für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (http://www.wissenschaft. nrw.de/hochschulen_und_ forschung!hochschulrecht/gesetze/hochschul frei heit/index. php, 08. 04. 20 12). 67 Liessmann hingegen macht in traditioneller Stoßrichtung deutlich, warum Autonomie, zumindest für den Wissenschaftsanteil der Hochschulen, historisch unverzichtbar war und seiner Ansicht nach weiter ist: » Zur Erinnerung: Die Innovationsschübe der Modeme, deren Zentren die Universitäten wurden, begannen in der Neuzeit mit

82

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

Die stark polarisierte und verstreute Debatte macht auf den ersten Blick fraglich, ob überhaupt von einer erneuerten Leitidee die Rede sein kann. Doch Haurious Formel könnte sich ohnehin realistischer zur Anwendung bringen lassen, wenn Konflikt und Auseinandersetzung als zulässige bzw. sogar die gewöhnliche Begleiterscheinung von Leitideen begriffen werden. Für diese Korrektur, nun allerdings mit Bezug aufGehlens lnstitutionentheorie, hat Karl-Siegbert Rehberg argumentiert. »Eine Schwierigkeit des >LeitideeEinheitenLeitideen< sich ausdrücken können« (ebd.). Zum anderen müssen selbst solche Resultate, wenn sie orientierend sein sollen, noch eine große Bandbreite praktischer Konsequenzen zulassen. »Leitideen werden stets selektiv aktualisiert. Sie legitimieren das Handeln bestimmter Gruppen innerhalb einer Institution sehr unterschiedlich; oftmals sind sie gerade dann am sichersten, wenn sie unbestimmt und auslegungsfahig bleiben. « (Ebd.) Beide Beschreibungen lassen sich gut auf die Erneuerung der Hochschulen beziehen. Einerseits wird das kontroverse Reformvokabular von Berufsqualifizierung über Qualitätssicherung bis zu Profliierung und Marketing tatsächlich durch positive und negative Sanktionen verbindlich gemacht, sei es in Form von Wettbewerben und Fördermitteln, sei es durch die Drohung mit Nichtakkreditierung und Mittelkürzungen. Andererseits bleiben wie schon erwähnt zentrale Begriffe hinreichend leer, um verschieden gefüllt werden zu können: Exzellenz, Diversität und eben Autonomie.

einem Konzept von Wissenschaft, das di ese allen politischen, religiösen, aber auch merkantilen Bindungen und Verpflichtungen befreien sollte. Darauf gründete der Wissenschaftsoptimismus der Modeme: Die ihrer eigenen Logik überlassene Forschung, die keinerlei Rücksicht nehmen muss, sollte der Garant für den zivilisatorischen Fortschritt sein.« (Liessmann 2006: 114)

D1E HocHSCHULREFORM NACH BoLOGNA IN INSTITUTIONENTHEORETISCHER PERSPEKTIVE

I 83

Meine These besagt, dass sich der zentrale Leitidee-Wandel im Feld akademischer Autonomie vollzieht: Im Reformdiskurs hat eine Umschrift des Autonomie-Begriffes von der individuellen und wissenschaftlichen zur organisatorischen oder in einem schwachen Sinn institutionellen Autonomie stattgefunden. Hochschulen sollen durch organisatorischen Wandel zu »autonomen Akteuren« (Meier 2009: 246)68 erzogen werden; von außen betrachtet werden institutionelle Kooperationseinheiten erzeugt, die zueinander in bürokratisch kontrollierte Konkurrenz69 gesetzt werden. Die unterschiedlich gelagerten Autonomiekonzeptionen der Reformgegner werden in diesem Prozess soweit möglich absorbiert. Einige Kritiker wehren freilich eben diese Vereinnahmung ab: »Bemerkenswert ist zudem, dass im Zuge der Transformationen des Feldes der Hochschuleinrichtungen selbst der Begriff der Autonomie nicht unangetastet bleibt. [ ... ] [S]o unterscheiden führende Verfechter der Bologna-Reform des deutsches Typs[ . . . ] scharfzwischen der Autonomie von Institutionen und der von Individuen. [ .. . ]Auf diese Weise ist es möglich, Autonomie zu fordern, [ . .. ] und gleichzeitig den zentralen Wert der Autonomie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Frage zu stellen.« (Wuggenig 2008: 154)70

68 Frank Meiers Einschätzung zur Implementierungsfrage bleibt allerdings etwas unkonkret: »So ist die Etablierung des Akteursmodells im deutschen Hochschulsystem eng mit der diskursiven Durchsetzung von Wettbewerbsvorstellungen verbunden, obwohl die Strukturwirkungen von Wettbewerb im Hinblick auf bestimmte Akteursmerkmaldurchhaus ambivalent sind.« (Meier 2009: 246) 69 Metz-Göckel hebt zusätzlich die Spannungen zwischen Akteursstatus und Kontrolle, Wettbewerbsgeist und Bürokratie hervor: »Die Reformen adressieren die Hochschule als kollektiven Akteur und zielen sowohl auf mehr Transparenz als auch mehr Kontrolle. Neben dem Wettbewerb zwischen den Hochschulen auf nationaler und internationaler Ebene wird hochschulintern mehr Konkurrenz angestrebt und mehr Ungleichheit in Kauf genommen. Damit unterscheidet sich die Reformphase der Hochschulen in der Bundesrepublik von der Hochschulreform der l 970er Jahre, deren Zielsetzung Demokratisierung der Entscheidungsprozesse und soziale Chancengleichheit in der Rekrutierung von Studierenden und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern waren.« (Metz-Göckel2008: 209) 70 Ähnlich auch Liessmann: »Die in vielen Bereichen in den letzten Jahren durchgesetzte so genannte Autonomie der Universitäten scheint auf den ersten Blick genau der Forderung nach Freiheit der Lehre und Forschung zu entsprechen. Es ist allerdings erstaunlich, dass dort, wo dieser Übergang in die Autonomie vollzogen wird, die davon Betroffenen nicht selten den Eindruck haben, dass Freiheitsräume nicht erweitert, sondern [... ] auf allen Ebenen eingeengt werden. Die in einem institutionellen

84

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

Auf eine fundamentale Umgestaltung von Autonomie weist nicht zuletzt hin, dass dieser zwar im Diskurs der jüngsten Hochschulreform von Anfang an eine wichtige Rolle zugesprochen wurde, ihre Umsetzung, Verkörperung und Symbolisierung jedoch permanent umkämpft blieb. Auf diese Weise wurde der hochschulische Autonomiekem, bestehend aus Privilegien wie Freiheit von Forschung und Lehre, Selbstverwaltung etc. so umgedeutet, dass er mit dem Gedanken gesellschaftlicher Nützlichkeit vereinbar wurde.71 Hierbei können drei zentrale Differenzierungen von Autonomie ausgemacht werden: 1) die formale Konstruktion des »Akteurs Hochschule« als Träger organisatorischer Autonomie, 2) die multiple gesellschaftliche Verflechtung statt eindeutiger Abhängigkeit (z. B. vom Staat) als Funktionszuschreibung: Hochschule als Wissenschaftsraum und Erziehungsstätte, Kompetenzzentrum und Standortfaktor, 3) die professionelle interne und externe Selbstdarstellung als Konstitutionsbedingung: zielgruppenspezifische » Corporate Communication « und profilierte »Corporate ldentity « der jeweiligen Hochschule. 1) Wie Frank Meier (2009: 241) resümierend feststellt, trägt der Reformdiskurs nicht unerheblich dazu bei, die Hochschule als Akteur zu konstruieren: Für ihn lassen sich »die Reformelemente und die damit verbundenen Strukturbildungen in den Hochschulen tatsächlich als Aktualisierungen eines Akteursmodells der Universität lesen. Durch sie erscheint die Hochschule als verantwortlicher Hand1ungsträger. Sie wird gegenüber dem Staat und anderen extemen Stakeholdern einer als Rechenschaftspflicht ausbuchstabierten Verantwortlichkeit unterworfen, sie wird auf der Grundlage ihrer Leistungen belohnt oder bestraft, sie wird Vertragspartner des Staates, sie richtet Stellen ein, die eine Organisationale Zuständigkeit für verschiedene selbst gewählte Ziele demonstrieren. « Diese von zahl-

und ökonomischen Sinn autonome Universität ist noch lange keine freie Universität. Autonomie ist oft ein Euphemismus für Mangelverwaltung [ ... ].« (Liessmann 2006: 12 1) 71 Zu den latenten Funktionen der Hochschulreform habe ich an anderer Stelle diese Anpassung genauer beschrieben, allerdings noch dahingehend begriffen, dass im Bologna-Prozess ein » postautonomes Wissensregime« Gestalt annimmt (Reitz/Draheim 2006: 385 f.). Inzwischen scheint der Gedanke einer Redefinition des Autonomie-Begriffes einleuchtender zu sein.

D1E HocHSCHULREFORM NACH BoLOGNA IN INSTITUTIONENTHEORETISCHER PERSPEKTIVE

I 85

reichen politiknahen Akteuren getragene und von vielen Beobachtern bestätigte72 organisatorische Autonomisierung der Hochschulen73 könnte den Kern der neuen Leitidee ausmachen- ob sie freilich auch institutionelle Autonomie in einem stärkeren, symbolisch ausgestalteten, überzeugungs-und motivationskräftigen Sinn74 nach sich zieht, wird erst in den beiden anderen Bereichen umgeformter Autonomie deutlicher. 2) Reformuliert man das genannte Problem in Anschluss an Luhmann, lässt sich die Autonomie von zwei Seiten her näher bestimmen: zum einen in Hinblick auf die Leistungsbeziehungen zu verschiedenen sozialen Subsystemen bzw. Mehrfacheinbindungen75 (vgl. dazu Stichweh 2009); zum anderen mit Bezug auf

72 Zu den wenigen skeptischen Stimmen zählt Liessmann, für den auch hier Heteronomie die Autonomie überwiegt: » [Ü]ber Budgetvereinbarungen, Wissensbilanzen und europäische Vorgaben sind die Universitäten nicht nur nach wie vor der Politik ausgeliefert; über Drittmittelgeber, Akkreditierungs- und Evaluationsagenturen und Universitätsräte regieren auch zunehmend private Interessen in die Belange der Universitäten hinein. [ ... ] Der Zugriff des Marktes und eine Auslagerung der politischen Kontrolle auf informelle mediale Öffentlichkeiten führt zu einer >Zähmung der wissenschaftlichen NeugierInstitutionen in einem Fall< begreifen und darstellen müssen: ihr Funktions- und Identitätskern schält sich idealiter im Prozess ihrer internen und zumeist kontrovers geführten Profilbildung heraus. 3) Für diesen Aspekt der umgestalteten Hochschulautonomie bzw. für seine symbolische Artikulation ist der Bereich öffentlicher, professioneller Selbstdarstellung einschlägig. In jeder reformierten Hochschule werden verstärkt » Corporate Identity« und »Corporate Design « als Transparenzverstärker gefördert77 ; im Kontext von Profilbildung betrifft dies die Anlage der Institute und Fachbereiche ebenso wie die Eimichtung von Forschungsschwerpunkten und die Personalrelautierung. 78 Zudem befördert man die Einführung so genannter » Codes of conduct « oder »Selbstverständnis- und Zielerklärungen «; gemeint sind Kommunikationsleitlinien oder Leitbilder, die sichtbar machen sollen, »auf welche zen-

77 Die Checkliste der Akkreditierungsagentur ACQU lN zur Selbstdokumentation neuer Studiengänge regt an, die hierfür ergriffenen Maßnahmen darzustellen. 78 Eine St. Gallener Dissertation schlägt vor, u. a. die » Neustrukturierung von Studiengängen«, die Einrichtung von »Drittmittelprojekten« und den Umgang mit » Mittelknappheit« durch Aufbau einer » Universitätsmarke« zu integrieren (Gerhard 2004:

251) - Beispiele sind die Marken St. Gallen, Harvard und Humboldt-Universität.

88

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

tralen Werte sich die Hochschule selbst verpflichtet« (Hamann 2004: 242). Bei all diesen Maßnahmen stellt sich die Frage, ob sie nach innen ein kollektiv getragenes institutionelles Selbstverständnis der Hochschulen befördern können oder weitgehend nur kosmetisch nach außen wirken. Gleichwohl werden symbolische Positionierungen dieser Art von den Studierenden durchaus zur Kenntnis genommen und mit Blick auf ihre Auswirkungen für Lehre und Studium kritisch an Lehrende zurückgespiegelt Die Unternehmen, die das terminologische Vorbild dieser symbolischen Bemühungen abgeben, bleiben trotz Unternehmenskultur wesentlich Organisationen. Über diesen Status können die neu profilierten Hochschulen nur hinauskommen, wenn sie auch ihre öffentliche Funktion erfolgreich zur Darstellung bringen. Gerade ihre im Reformprozess häufig anzutreffende Bezugnahme auf Studierende als Kunden- anstatt als institutionelles Personal- könnte daher ihre Autonomie eher gefahrden als stärken. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass organisatorisch-institutionelle Autonomie als mögliche neue Leitidee der Hochschule(n) nicht allein diskursiv umstritten, sondern bislang auch sachlich prekär ist. Spezifisch tritt ihre Problematikjeweils am Status, der Einbindung und der zugeschriebenen Selbstverständnisse der Studierenden hervor. Wie sie in das neue Wissensregime integriert und von der umgestalteten Leitidee Autonomie angesprochen werden könnten, ließ sich im ersten kursorisch theoretischen Zugriff nicht hinreichend klären. Weiteren Aufschluss über diesen Bereich werden die Diskursanalysen der drei folgenden Kapitel geben; der bisherige Überblick verdeutlicht immerhin schon, dass hier erheblicher Problemdruck herrscht. Noch klarer wird dieser Sachverhalt, wenn man abschließend einige erste empirische 79 Anhaltspunkte dafür hinzunimmt, dass die

79 Die evidenzbasiert-repräsentative, vor allem quantitative Forschung zu den Auswirkungen des Bologna-Prozesses auf Studienverhalten, -Zufriedenheit und -qualität befindet sich in Deutschland bislang noch im Aufbaustadium. Gleichwohl gibt es bereits eine große Vielfalt von explorativen Studien, die sich auf die Reformwirkungen an einzelnen Hochschulen, in spezifischen Fächergruppen oder in einzelnen Bundesländern beziehen. Einen zusammenfassenden Überblick liefert hier das CHE-Arbeitspapier »Der Bologna-Prozess aus Sicht der Hochschulforschung. Analysen und Impulse für die Praxis«, herausgegeben von Sigrun Nickel (2011). Als vorsichtiges, lakonisches Zwischenresümee wird in einem Beitrag von Martin Winter unter Berücksichtigung der heterogenen Datenlage und diversen Forschungsdesigns formuliert: »Eine substanzielle Studienreform fand nicht flächendeckend statt. Abgesehen von den formalen Änderungen (deren Umsetzung den Hochschulen viel Arbeit machte), hat sich nicht sehr viel getan. Um diese Befunde empirisch zu erhärten, ist weitere Forschung

EMPIRISCHE BEFUNDE ZUR REFORM - LöSUNG ODER ERNEUERUNG DES ÄNOMIEPROBLEMS?

I 89

Anomieprobleme im Hochschulstudium durch Bologna einstweilen nicht gelöst, sondern nur verschoben werden.

3.6

EMPIRISCHE BEFUNDE ZUR REFORM LöSUNG ODER ERNEUERUNG DES ÄNOMIEPROBLEMS?

Problembeschreibungen lassen sich gegenwärtig nicht nur aus der Perspektive der Reformkritik rekonstruieren, sondern auch eingeschränkt aus ersten Erhebungen zu Selbsteinschätzungen der Studierenden~0 ableiten, die mit der Umbruchsituation im Hochschulsystem praktisch zurechtkommen müssen. Der 10. Deutsche Studierenden-Survey zumindest kommt zu dem mertonschen Schluss, » das größte Problem der deutschen Universitäten und Hochschulen [sei] nicht mehr die Anonymität [ ... ], sondern die Anomie unter den Studierenden. Sie kennzeichnet Lebensverhältnisse, in denen eine größere Diskrepanz zwischen erstrebten Zielen und ihrer Erreichbarkeit besteht, nicht zuletzt aufgrund fehlender Mittel oder gesellschaftlicher Hindernisse. Es entsteht zunehmend der Eindruck, den gewünschten Lebensweg nicht mehr individuell gestalten und durch eigene Leistung steuern zu können.« (BMBF 2008: 24) Die Stoßrichtung, in die der Begriff der Anomie als Signalwort wirkt, scheint also klar: es geht um unsichere

vonnöten. « (Winter 2011: 23) Als Fazit heißt es: »Generell verfestigt sich aber der Eindruck, dass die inhaltlichen Unterschiede - nicht die formalen - zwischen alten und neuen Studiengängen und die Unterschiede in der Einschätzung der Studienpraxis nicht allzu groß sind. Die angekündigte, erhoffte oder befürchtete » Bologna-Revolution« fand offenbar so nicht statt. Der Umbruch in der formalen Studienganggestaltung bedingt also kein gänzlich neu es Studieren.« (31) 80 Einschätzungen zur reformierten Studienpraxis werden in den bislang durchgeführten Forschungsprojekten zumeist basierend auf Studierenden- und Absolventenbefragungen gewonnen. Hier sind insbesondere die Erhebungen des HIS-Instituts für Hochschulforschung in Hannover, der AG Hochschulforschung der Universität Konstanz und des Internationalen Zentrums für Hochschulforschung (INCHER) in Kassel einschlägig. Ich beziehe mich im Folgenden auf einige ausgewählte Ergebnisse aus HIS-Studien sowie auf den Konstanzer Studierenden-Survey. Die gleichfalls erwähnte »Masterstudie« habe ich als Kontrast hinzugenommen, da sie durch ihre Partner aus Medien und Industrie (u. a. ZEIT-Verlag, Lufthansa, Hewlett-Packard, Fraunhofer) diskursiv und medial höchst sichtbar geworden ist, ihre Funktion also eher im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit liegt (vgl. dazu http://www.swop-exchange.de/konferenzen/master-studie-20 12/studie.html, 08. 04.20 12).

90

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

Selbstverständnisse und Zukunftsentwürfe. » Als ein Ausweis für Anomie kann die Bereitschaft angesehen werden, bei Problemen der Stellentindung die berufliche Identität ganz und auf Dauer aufzugeben, d. h. die eigene Qualifikation abzuschreiben und etwas ganz anderes zu machen. Der Anteil Studierender, der sich dazu eher oder sicher bereit erklärt, ist seit 1993 von 11 % auf20% angestiegen.« (BMBF 2008: 30) Allerdings werden mittlerweile weniger die Verhältnisse an den Hochschulen »Auslöser für Anomie und entsprechende Belastungen der Studierenden [beals griffen], sondern vielmehr die Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt [ ... ]. Sie haben immer mehr Konsequenzen für die Studienentscheidung, die Fachwahl, die Motive und Strategien im Studium.« (BMBF 2008: 30) Man kann die hier angedeutete Strategie der Studierenden der von Merton beschriebenen Reaktionsform des »Ritualismus« zuordnen: » lt involves the abandoning or scaling down ofthe lofty cultural goals of great pecuniary success and rapid social mobility to the point where one's aspirations can be satisfied.« (Merton 1957: 203) Die Studierenden agieren also frei nach dem Motto: » Don't aim high and you won't be disappointed. « (204) In die gleiche Richtung weisen die Daten der bereits 2006 durchgeführten HISBUS Online-Umfrage81 zum Thema » Lebensziele und Werte Studierender« (Müßig-Trapp/Willige 2006), die detaillierter den Zusammenhang von Zukunftsunsicherheit und Anpassungsbereitschaft herausstellt. Demnach sind immerhin 43% der Befragten82 besorgt ob der fehlenden Praxisnähe ihres Studiums; 26 % stimmen der Aussage zu, mit ihrem Studium am Arbeitsmarkt vorbei zu studieren. Darüber hinaus verfolgen zwar 52% ihren »lang gehegten Berufswunsch«, 84 % sind aber vor allem daran interessiert, im Studium » fundierte, ausbaufähige berufliche Kompetenzen « zu erwerben und ihre » Persönlichkeit zu entfalten«: 79% der Befragten stimmen dem zu (ebd.: 6). Diese Aussagen legen insgesamt eine erhöhte Verunsicherung der Studierenden hinsichtlich ihrer beruflichen Einmündung und zukünftigen Beschäftigungsfähigkeit nahe; sie verlassen sich zunehmend weniger auf mit ihrem Studienfach verbundene Aussichten, sondern konzentrieren sich eher auf den persönlichen Kompetenzerwerb und eine

81 Im Rahmen dieser Umfrage wurden 3170 deutsche Studierende per Online-Fragebogen befragt; die Zusammensetzung der Befragten ist für Deutschland insgesamt repräsentativ. 82 Bei den folgenden Prozentangaben ist jeweils eine starke und sehr starke Zustimmung der Befragten berücksichtigt.

EMPIRISCHE BEFUNDE ZUR REFORM - LöSUNG ODER ERNEUERUNG DES ÄNOMIEPROBLEMS?

I 91

möglichst hohe Passfahigkeit in Hinblick auf prospektive Arbeitsmärkte83 . So sind 79% der befragten Studierenden daran interessiert, »langfristige finanzielle Sicherheit zu erreichen« ebd.: 7) und 77% orientieren sich an dem Ziel, einen »sicheren Arbeitsplatz zu haben«. Die These einer grundsätzlichen Verunsicherung bei gleichzeitig ausgeprägter Anpassungsbereitschaft unterstützen auch die Einstellungen zur Wertigkeit des Studiums im Allgemeinen: 52 % der Befragten neigen der Einstellung zu, dass »meine Generation [ ... ] es viel schwerer haben [wird] als die meiner Eltern«, gleichzeitig sind 78% der zumindest ambivalent zu deutenden Ansicht: »Meine Generation hat viel mehr Möglichkeiten als die meiner Eltern« (ebd.: 10). Auch das folgende Aussagenpaar weist weiter in Richtung einer Verunsicherung der Studierenden: 88% der Befragten stimmen der Aussage zu: »Der Leistungsdruck auf meine Generation, immer besser ausgebildet und flexibler zu sein, ist enorm hoch«, gleichzeitig sind nur 28% der Ansicht, dass sich » ein Studium[ ... ] noch nie so gelohnt [habe] wie heute« (ebd.: 10)84 . Diese Zahlen kontrastieren auffallig mit dem politischen Versprechen oder Ziel, Bildung als präventive Sozialpolitik zu begreifen. Liessmann hat dessen gegenwärtige Dimensionen in geschichtlicher Perspektive so zusammengefasst:

83 So kommt etwa die HISBUS-Studie (2008), die studentische >Zufriedenheit und Glück< untersucht hat zu einem verhalten optimistischen Ergebnis, welches freilich nicht ohne den Hinweis auf Arbeitsmärkte auskommt: »Es gibt nicht den typischen glücklichen Studierenden, aber es gibt beispielsweise Unterschiede in der Gesamtzufriedenheit nach Fachzugehörigkeit Unter den Studierenden der Wirtschaftswissenschaften (87 %) oder der Medizin (86%) finden sich größere Anteile zufriedener Studierender als in den Kulturwissenschaften (80 %). Eine Erklärung könnte die ermittelte größere Unsicherheit Studierender dieser Fächergruppe hinsichtlich ihrer Berufsaussichten sein.« (Willige 2008: 7) 84 Im Hinblick auf die grundsätzliche Zufriedenheit der Studierenden mit Studium und Zukunftsperspektiven kommt eine HISBUS-Studie zu verhalten optimistischen Ergebnissen, wenn sich auch zeigt, dass immer stärker die Vereinbarkeit von Berufund Familie im Mittelpunkt des Interesses zu stehen scheint: »Während die beruflichen Ziele um bis zu 10 Prozentpunkte an Wertigkeit verloren haben, erfahrt das Ziel, >sich der Familie/Partnerschaft zu widmenIn fachlicher Hinsicht Überdurchschnittliches leisten< von 2002: 67% (sehr) stark zu 2008: 57%, sowie >Eine leitende Funktion zu übernehmen< von 2002: 57% (sehr) stark zu 2008:47 % und >Anerkennung im Beruf zu erwerben< von 2002: 85% (sehr) stark zu 2008: 78 % (Willige 2008: 5).

92

I AuTONOMIE UND A NOMIE. D1E EUROPÄISCHE HocHSCHULREFORM NAC H B oLOGNA

Bildung war die Utopie des Kleinbürgers, dass es zwischen Lohnarbeit und Kapital noch eine dritte Existenzform geben könnte, Bildung war die Hoffimng der Arbeiterklasse, durch Wissen jene Macht zu erringen, die ihr die misslungenen oder ausgebliebenen Revolutionen verwehrt hatten, Bildung war und ist das Vehikel, mit dem Unterschichten, Frauen, Migranten, Außenseiter, Behinderte und unterdrückte Minderheiten emanzipiert und integriert werden sollen, Bildung gilt als begehrte Ressource im Kampf um die Standorte der Inforrnationsgesellschaft, Bildung ist das Mittel, mit dem Vorurteile, Diskriminierungen, Arbeitslosigkeit, Hunger, Aids, Inhumanität und Völkermord verhindert, die Herausforderungen der Zukunft bewältigt und nebenbei noch Kinder glücklich und Erwachsene beschäftigungsfahig gemacht werden sollen. (Liessmann 2006: 50)

Die diskutierten ersten Befunde zu studentischen Einschätzungen 85 deuten an, dass diese Versprechen zumindest bei der Klientel akademischer Bildung nicht (mehr) gut greifen.

85 Nur explorativ erhellende Yergleichsbefunde, da nur mit wenig belastbarem Forschungsdesign, bietet die so genannte Master-Studie; betrachtet werden hier die Ergebnisse aus dem Jahre 2009. Der Titel Master-Studie scheint eher aus Marketinggründen gewählt worden zu sein, denn die Befragten sind offenbar nicht unbedingt nur Masterstudierende. Durchgeführt wurde sie vom Berliner Kommunikationsdienstleister » SWOP. Medien und Konferenzen« in Kooperation mit dem ZEIT-Verlag; es handelte sich um eine Online-Befragung im Juni und Juli 2009. Aufgefordert zur Befragung waren rund 45 000 studentische Abonnent/innen des Magazins »ZEIT Campus«; teilgenommen haben insgesamt 5 l 00 Personen, davon reale 4 000 Studierende. Das Sampie basiert also nicht repräsentativ auf freiwilligem Teilnahmeinteresse; die Kurzauswertung enthält keine Aufschlüsselung der soziodemografischen Zusammensetzung der Befragten. Zudem sind die Fallzahlen bei einzelnen Frageauswertungen noch geringer und variieren zwischen 2700 und 2900. Vor diesem Hintergrund relativieren sich natürlich die Ergebnisse, da sie eher die Interessenlage und Situation der Zielgruppe des ZEIT-Campus-Magazins reflektieren als der Gesamtheit deutscher Studierender. Zentrale Befunde: !) Studierende investieren in ihre individuelle Bildung und weiterführende fachliche Entwicklungsperspektiven D ieses Interesse steht vor den unmittelbaren Arbeitsmarktchancen Hervorgehoben wird dabei,

dass die Befragten als Karriereziele >> Intellektuelle Herausforderung «, sowie » Kreativität und Innovativität in der täglichen Arbeit« angeben, außerdem wird die Investition in die persönliche »Bildung« und Entwicklungsfahigkeit als sehr wichtig erachtet: »Die Ergebnisse sind eindeutig: Bildung spielt eine herausragende Rolle ftir die beruflichen und Iebensplanerischen Erwägungen der Befragten. Dabei dient Bildung in erster Linie der persönlichen Entwicklung, erst in zweiter Linie der Siehe-

EMPIRISC HE BEFUNDE ZUR REFORM - L öSUNG ODER E RNE UERUNG DES Ä NOMIEPROBLEMS?

I 93

Die nicht nur theoretische Frage bleibt nun, welche konkreteren Versprechen, Formen der Ansprache und Angebote zum Selbstverständnis Studierender an ihre Stelle treten könnten. Vorab scheint nur eine Antwort gewiss: Es werden nicht einfach die Diskurse der Eigenverantwortung, Flexibilität und Selbstaktivierung sein, die (neo-)liberalen Politiken zugerechnet werden und die von den Govemmentality Studies bis zu Boltanski/Chiapello als gesamtgesellschaftliche Leitideologie angegriffen wurden. Diese Diskurse kommen nämlich einerseits nachweislich nur bei wenigen an, weil sich etwa nur wenige als künftige Initiativ- und Führungskräfte begreifen (vgl. dazu illustrierend die in der Fußnote dargestellten Ergebnisse der Master-Studie). Andererseits erscheinen sie in ihrer kritischen Darstellung oft noch einmal gewaltsam bzw. klaustrophobisch vereinfacht. Ein Beispiel unter vielen gibt, direkt auf Erwartungen an die Studierenden bezogen, Pongratz:

rung ihres beruflichen Erfolges.« (Kurzauswertung Masterstudie, S. 4) 2) Studierende erkennen die Bedeutung von »Employability « und » mahnen verbesserte Berufi'vorbereitung an« (S. 11 ). Immerhin 54% der Befragten gaben an, dass sie sich nicht ausreichend auf eine berufliche Tätigkeit vorbereitet fühlen, 46 % bejahen dies (S. 11). » Ein klares Defizit erkennen die Studierenden vor allem im Bereich des unternehmeTisehen Denkens und Handelns, aber auch bei ihren >Soft Skills Selbstorganisation < wird zur Chif!Te fur: Selbstbeauftragung, Selbstmotivation, Selbstoptimierung, Selbstkontrolle. Sie führt die gigantische Selbstverpflichtung der Bevölkerung moderner Industriegesellschaften im Schlepptau, für die Kosten ihrer (Aus-)Bildung in Zukunft selbst Sorge zu tragen. Dass sich nun jeder unter Kuratel stellen muss, wir als die neue Freiheit und Glanzpunkt subjektiver Selbstverwirklichung gefeiert. Doch bleibt diese neue Freiheit ohne Substanz und inhaltliche Bestimmung. (Pongratz 2009: 70)

Eine solche Darstellung lässt mehrere Punkte unklar: Zieht der Diskurs der Selbstverantwortung tatsächlich unmittelbar eine reale Selbstverpflichtung der Vielen nach sich? Wie, wenn nicht inhaltlich entleert, sollte eine säkularisierte und enttraditionalisierte Freiheitsvorstellung86 aussehen? Grundlegend fragt sich aber vor allem, ob nicht auch die Realitäten sozialer Einbindung, Abhängigkeit und Reglementierung bereits in die Modi eingegangen sind, in denen gegenwärtig Studierende angesprochen, motiviert und zur Verantwortung gezogen werden. Mir scheint es daher einleuchtend, mit Liesner davon auszugehen, dass auch individuelle Autonomie wie die organisatorisch-institutionelle gegenwärtig vorherrschend im Modus des double binds thematisiert wird: » Die Individuen werden einerseits ständig als autonome Subjekte angerufen, während sie zugleich in spezifische Sicherheitsstrategien eingebunden werden, damit die abverlangte Selbständigkeit nicht aus dem Ruder läuft.« (Liesner 2006: 124 ff., in Pongratz 2009: 16) Damit ist der Rahmen für die nun folgenden genealogischen Untersuchungen zu den wirkmächtigen Konzeptionalisierungen von Lernsubjektivität umrissen: Solche Konzeptionalisierungen werden dringend benötigt, um die nach wie vor wahrgenommene bzw. durchlebte Anomiegefahr der Massenhochschule zu verarbeiten; erst durch sie könnte sich das veränderte Verständnis akademischer Autonomie zur dominanten Leitidee entfalten - und wenn ein dafür geeignetes Selbstverhältnis in den Blick kommt, sollte es selbst die Form sozial eingebetteter, mit multiplen Abhängigkeiten vereinbarer Autonomie haben. Ich möchte diese Annahmen im F algenden erhärten, indem ich F orrnen der diskursiven Ansprache untersuche, die gehaltreicher sind als ökonomische Selbstbehauptung und -Optimierung: das humanistisch begriffene Subjekt der Selbstentfaltung, das kreative Unternehmersubjekt und schließlich hybride Subjektivität in sozio-technischen

86 Als Alternativprogramme stehen mittlerweile unter dem Titel » Ürientierungswissen« Ethik, Politik und Metaphysik bereit, doch auch die scheinen nicht für allgemeine Allsprachemuster geeignet.

EMPIRISCHE BEFUNDE ZUR REFORM- LöSUNG ODER ERNEUERUNG DES ÄNOMIEPRO BLEMS?

I 95

Netzwerken. In allen diesen Feldern werden sich darüber hinaus zwei Entwicklungen aufzeigen lassen, die in der Figur eingebetteter Autonomie münden: die Demokratisierung und die Sozialisierung des humanistischen, Unternehmerischen und sozio-technisch modellierten Selbstverhältnisses.

4

Das humanistische Selbst

4.1

VORBEMERKUNG

»Es existiert aus dem 16. Jahrhundert ein viel verbreiteter kleiner Stich, welcher einen alten Mann in einem Räderstuhl für Kinder darstellt, mit der Beischrift: Anchora imparo, noch immerfort lerne ich.« (Burckhardt 1986: 748) Gibt man heute das Stichwort »Ancora imparo« in eine Internet-Suchmaschine ein, gelangt man auf die Webseite eines britischen IT-Untemehmens gleichen Namens 1• Die dort zu lesende Unternehmensphilosophie greift auf das aus der Spätrenaissance stammende Motto zurück und kleidet es in eine kleine Geschichte ein, die Michelangelo diese Worte während der Arbeit an der Sixtinischen Kapelle in den Mund legt. Lebenslange Entfaltung der Persönlichkeit, in der Renaissance ein Projekt für priviligierte Künstlereliten, wird gegenwärtig als programmatisches Leitbild universalisiert, also prinzipiell zugänglich und tendenziell verpflichtend für alle Mitglieder der Gesellschaft. Um Rückgriffe dieser Art, also um die Aktualisierung und Plausibilisierung humanistischer Denkfiguren im Umfeld gegenwärtiger Selbsttechniken soll es in den folgenden Abschnitten gehen- nicht mit Anspruch auf Vollständigkeit, sondern in genealogischer Absicht. Seit den 1990er Jahren verbinden bildungspolitische Programmschriften wie etwa der Delors-Report (1997), das Memorandum über Lebenslanges Lernen der EU (2000) oder das Berlin-Communique der europäischen Kultusminister (2003) das klassisch humanistische Postulat der individuellen Selbstentfaltung scheinbar selbstverständlich mit Marktrationalität und Verwertungslogik2. Den Adressierten

Vgl. dazu http://www.ancora-imparo.co.uk (09. 04.20 12). 2

Zur Verdeutlichung ein zwar autorloses, aber typisches Diskursbeispiel: » Enabling ubiquitous access to personalised learning throughout life - Learning for anyone, at any time, at any place. With the shift towards the knowledge society, the change of

98

I DAs HUMANISTISCHE SELBST

scheint hiermit sowohl eine permanente Arbeit an der Entfaltung der je eigenen Potentiale und einem stimmigen Selbstverhältnis nahe gelegt als auch eine Orientierung auf unmittelbar praktisch einsetzbare Kompetenzen abverlangt zu werden. Es geht um die Aktivierung von Selbsttätigkeit, die durch die Subjekte hindurch gesellschaftlich nutzbar und sozial integrativ wirksam werden soll, selbst wenn das bedeutet, Menschen zu Handlungen anzuleiten, die sie »von sich aus« wollen müssten (Elster 1983). Rhetorisch harmonisiert wird dieser Widerspruch durch die semantische Ausweitung von Begriffen wie Freiheit, Entscheidung und Selbstverantwortung, die beispielsweise geeignet sind, innovationsoffenen Unternehmergeist mit individuell ausgeprägtem Bildungswillen zusammenzuschmelzen - im Typus des »Bildungsuntemehmers« (Kirchhöfer 2001). Doch wie ist eine solche Harmonisierung möglich geworden? Im Rückgriff auf drei historische Humanismen möchte ich skizzenhaft entwerfen, welche theoretischen Bestandteile und typischen Denkmuster dieser heterogenen Tradition als Anschlussstellen für subjektive Verwertungs- und Optimierungslogiken in Frage kommen. Gemeinsam ist den Bewegungen, die geistesgeschichtlich seit dem 19. Jahrhundert als humanistische verstanden werden, sowohl die Akzentuierung des genuin >Menschlichen < bzw. der zentralen Stellung des Menschen im Universum (vgl. dazu ausfUhrlieh Ricken 1999) als auch ein Ideal von Bildung als potentiell unendlich entwickelbares perfektibles Selbstverhältnis. Um diese Beschreibung soziologisch zu wenden, möchte ich, zunächst relativ abstrakt, nach gesellschaftlichen Implikationen der humanistischen Modelle fragen, insbesondere danach, wie sie soziale Kontingenz3 freilegen und verarbeiten. Dabei gehe ich exemplarisch verkürzend von drei Humanismen aus: der geistesgeschichtlichen Rezeption des italienischen Renaissance-Humanismus mit seiner Spannung zwischen dem Modell des allseits gebildeten

working conditions and the high-speed evolution of inforrnation and communication technologies, peoples< knowledge and skills need continuous up-dating. Learning, based on collaborative working, creativity, multidisciplinarity, adaptiveness, intercultural communication and problern solving, has taken on an important role in everyday life. The leaming process is becoming pervasive, both for individuals and organisations, in formal education, in the professional context and as part of Ieisure activities. Leaming should be accessible to every citizen, independent of age, education, social status and tailored to his/her individual needs. « (http://www.cordis.lu/ist/ directorate_ e/telearn/index.htm, 08. 04. 20 12) 3

Meinen Kontingenzbegriff entlehne ich der Modemetheorie von Michael Makropoulos (1997); dazu ausführlicher den Abschnitt 4.3.

VORBEMERKUNG

I 99

Tatmenschen (Burckhardt) und des einsamen, gefährdeten, melancholischen Intellektuellen (Klibansky/Panofsky/Saxl, Lepenies), dem neuhumanistischen Bildungspostulat des frühen 19. Jahrhunderts, exemplarisch vertreten durch Wilhelm von Humboldt, mit seinen Topoi »Bildung durch die Alten«, » Einsamkeit und Freiheit«,» soviel Welt wie möglich in sich aufnehmen« und seiner Einbettung in die Erneuerung des preußischen Staates (vgl. dazu Schelsky 1963, Bollenheck 1996, Herrmann 1993), der humanistischen Psychologie des 20. Jahrhundert, die in der amerikanischen Therapeutik und Pädagogik ihren Ausgang nahm, im Gefolge der sozialen Bewegungen nach 1968 die BRD erreichte und dort gleichermaßen Eingang in Bildungs- wie Organisationskonzepte fand4 • Zentral wird mich interessieren, welcher diachrone Wandel der Figur des lernenden Subjekts sich zwischen diesen Stationen feststellen lässt. Die Ergebnisse werden dann als Orientierungsraster für meine folgenden beiden Genealogien des Unternehmer- und des Schnittstellensubjekts dienen.

4

Z. B. Gestalttherapie oder Themenzentrierte Interaktion; vgl. dazu Bühler/ Allen ( 1974 ), Völker ( 1980), Hutterer ( 1998).

I DAs HUMANISTISCHE SELBST

100

4.2

AKTUELLE REFERENZEN: 5ELBSTKOMPETENZ, 5CHLÜSSELKOMPETENZEN, LEBENSLANGES LERNEN

Lifelong learning is an overarching strategy of European co-operation in education and training policies and for the individual. The lifelong learning approach is an essential policy strategy for the development of citizenship, social cohesion, employment and for individual fulfillment. (European Commission 2002: 4) Lifelong Learning is an essential policy for the development of citizensh ip, social cohesion and employment [...]. Today, a noticeable shift towards more integrated policies that combine social and cultural objectives with the economic rationale for lifelong learning is taking place. (EU 2000: 6, 9)

Laut einer im Jahr 2003 veröffentlichten Erklärung der Kultusministerkonferenz der Länder soll zukünftig die berufliche Ausbildung um einen allgemeinen Bildungsanteil erweitert werden. Dieser soll »zur Erfüllung der Aufgaben im Beruf sowie zur Mitgestaltung der Arbeitswelt und Gesellschaft in sozialer und ökologischer Verantwortung befähigen«5 • Weiterhin enthalten die im Bologna-Prozess neu geordneten zweistufigen Bachelor- und Masterstudiengänge einen nicht unerheblichen Anteil an Lehrveranstaltungen, die »nachweisbar« zum Aufbau von überfachlich einsetzbaren Fähigkeiten (z. B. sozialen und Selbstkompetenzen) gedacht sind. Es stellt sich die Frage, ob ein derartiger allgemeiner6 Bildungs-

5

Es handelte sich um den » Rahmenlehrplan für den berufsbezogenen Unterricht der Berufsschule « (vgl. dazu BMBF: Zukunftsfähigkeit des dualen Systems sichern, http://www.bmbf.de/de/9022.php, 08. 04. 2012).

6

Sehr vehement hat Klafki ( 1996: 53) dieses Anliegen mit Inhalt zu füllen zu füll en versucht: »[D]eshalb muss die Folgerung für unsere Zeit heißen: Allgemeinbildung als Bildung für alle zur Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit, als kritische Auseinandersetzung mit einem neu zu durchdenkenden Gefüge des Allgemeinen als des uns alle Angehenden und als Bildung aller uns heute erkennbaren humanen Fähigkeitsdimensionen des Menschen. «

AKTUELLE REFERENZEN: SELBSTKOM PETENZ, SCHLÜSSELKOMPETENZEN, LEBENSLANGES LERN EN

1101

anspruch als humanistischer begriffen werden kann und welche genealogischen Pfade zu seiner Untersuchung beschritten werden könnten. In jedem Fall wird es helfen, das Feld abzustecken, in dem substanziell an den klassischen Bildungsbegriff angeschlossen wird. Konzeptionen bzw. Nachfolgekonzeptionen von Bildung im Sinne des humanistischen »Ancora lmparo« finden sich heute vor allem im begrifflichen Umfeld des Lebenslangen Lernens. Der Gedanke des Lebenslangen Lernens ist seit den frühen 1970er Jahren 7 wiederholt wissenschaftlich reflektiert und in seiner wechselnden gesellschaftsstrukturellen und ökonomischen Rahmung unterschiedlich gedeutet wordenx. Prominent wurde die Rede vom Lebenslangen Lernen allerdings besonders durch die Aktivitäten internationaler Organisationen wie der UNESCO, der Europäischen Union, der OECD sowie des Europarates, die den Diskurs durch Konzepte wie »education permanente«, »lifelong learning « oder »recurrent education « begrifflich und konzeptionell ausgestaltet haben9 . Zu den-

7

Bereits im » Strukturplan des Deutschen Bildungsrates« (1970) war die Notwendigkeit kontinuierlicher Weiterbildung zur Erschließung »ungenutzter Lernressourcen« (Dewe 1999: 150) hervorgehoben worden. In Verbindung mit wechselnden gesellschaftsdiagnostischen Etikettierungen sind seither die theoretisch unterschiedlichsten Konzepte im Einsatz: von der »Lerngesellschaft« der OECD (1971 , 1987), der » Bildungsgesellschaft« (Lübbe 1991 , Kade 1992) bis hin zur »learning society« nach einer 1976 durchgeführten Studie der Europäischen Kulturstiftung.

8

Vgl. zum Begriff» Lebensentfaltender Bildung« Faulstich (2003, 2009).

9

»Anfänglich als Synonym zu lifelong education oder education permanente gebraucht, verwenden der UNESCO-Bericht der Fanre-Kommission [ ...]und 1979 der Club of Rome den Begriff. Das Europäische Jahr des lebenslangen Lernens 1996 [ ... ]lässt den Begriff zum allgemeinen Paradigma werden. Der Begriff wird von nun an von lebenslanger Erziehung unterschieden und fasst nur noch das »Aufnehmen, Erschließen, Deuten und Einordnen von Informationen, Eindrücken, Erfahrungen während der gesamten Lebenszeit«. Das Lernen soll danach nicht durchgehend in schulartig organisierten Formen stattfinden, die Feststellung, dass es auch freiwillig sein sollte, ist allerdings nicht durchzuhalten. Lebenslanges Lernen fasst damit einen dem Lebenslauf inhärenten Kompetenzerwerb. Zunehmend wird der Begriff » lebenslanges Lernen« mit der Beifügung »aller« oder» für alle« gebraucht. Damit orientiert der Begriff auf die Einbeziehung aller Bürger in das Lernen und auf die Berücksichtigung aller Lebensbereiche (lebensumspannend). Die Aufforderung » lebenslang zu lernen« ist nicht nur ein Anspruch an das Individuum, sondern auch an die Öffentlichkeit, die Umwelt lernfreundlicher zu gestalten und entsprechende lernförderliche Inrrastrukturen zu schaffen. Lebenslanges oder lebensbegleitendes Lernen bezeichnet

102

I DAs HUMANISTISCHE SELBST

ken ist hier etwa an die im Auftrag der UNESCO erstellte Faure-Studie (Faure u. a. 1972), den in den 1970er Jahren von der OECD protegierten Ansatz einer »recurrent education« (vgl. dazu Kallen/Bengtsson 1973), aber auch an neuere Konzeptionen wie »Lifelong Learning for All« (OECD 1996), den UNESCOBericht »Learning - The Treasure Within« (Delors 1996) oder das EU-Memorandum (EU 2000). Insbesondere die Delors-Studie verfolgte das Anliegen, Lebenslanges Lernen verstärkt als Herausforderung spätmoderner Gesellschaften zu betrachten, der sich alle nationalen Bildungssysteme zu stellen haben, obwohl die Entwicklungsunterschiede sowohl innerhalb der Länder als auch im europäischen Vergleich noch sehr ausgeprägt sind (EURYDICE 2000, EU 2002). Um die Bewegung der Programmatik des Lebenslangen Lernens von der konzeptionellen auf die Umsetzungsebene zu vollziehen, werden zur Implementierung, ganz im Sinne eines »Management by Objectives « (Drucker 1949), Leitlinien formuliert, nach denen die Arrangements der » Lerngelegenheiten « - und flankierend ihre Finanzierung - so ausgerichtet sein sollten, dass die Möglichkeit, über die gesamte Lebensspanne zu lernen, individuell überhaupt realisiert werden kann. Dazu wird nahe gelegt, dass gesamtgesellschaftlich ein verändertes Verständnis von Lernen benötigt wird, etwa damit Menschen ihre Lebenszeit planvoll in Lern-, Arbeits- und Freizeiten aufteilen können- dieses wird auch als »Individualisierung von Bildungsentscheidungen « bezeichnet. Als offen gehaltener Begriff umschreibt Lebenslanges Lernen damit »die Gesamtheit aller formalen, nicht formalen und informellen Lernprozesse über den gesamten Lebenszyklus eines Menschen« (BLK 2004: 13) 10 • Diese begriffliche Differenzierung

einen alle Bürger erfassenden Prozess der lebenslangen Veränderung durch das freiwillige Aufnehmen, Erschließen, Deuten und Einordnen von Informationen während der gesamten Lebenszeit. Weiterbildung versteht sich als Bestandteil lebenslangen Lernens. « (Kirchhöfer 2004: 56) 10 Versteht man unter formalem Lernen im Allgemeinen das institutionalisierte Lernen in Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen, das zu anerkannten Zertifikaten und Qualifikationen führt, so findet nicht-formales oder informelles Lernen außerhalb der Institutionen der allgemeinen und beruflichen Bildung statt und hat nicht unbedingt den Erwerb einer anerkannten Qualifikation zum Ziel. Zum Beispiel kann nicht-formales Lernen am Arbeitsplatz oder im Rahmen von ehrenamtlichen Aktivitäten stattfinden. Im Gegensatz zum formalen Lernen und nicht-formalen Lernen ist informelles Lernen eine kontinuierliche Begleiterscheinung des Alltags, daher wird es von den Akteurinnen selbst zumeist nicht reflexiv als Erweiterung von Wissen und Handlungsfähigkeiten eingeordnet. Interessant und problematisch ist hierbei, dass eine präzise begriffliche Abgrenzung zwischen formellen, nicht-formellen und informellen

AKTUELLE REFERENZEN: SELBSTKOMP ETENZ, SCHLÜSSELKOMPETENZEN , LEBENSLANGES LERN EN

1103

verweist auf eine systematische Erschließung subjektiver Potentiale und Ressourcen, die bisher dem unmittelbaren Zugriff des Bildungswesens und der Erwerbsarbeit entzogen schienen, die nunmehr aber aus vielerlei Gründen gesellschaftlich relevant werden 11 • In jüngerer Zeit hat das Konzept des Lebenslangen Lemens eine formale, sozusagen systemtheoretische 12 Bedeutungserweiterung erfahren (vgl. auch Engemann/Tuschling 2004), die wohl eine zentrale Verschiebungen gegenüber den früheren Phasen der Debatte markiert. Sie wird vor allem darin manifestiert, dass Lebenslanges Lernen nicht ausschließlich auf die anhaltende Lernbereitschaft und Lernfähigkeit erwachsener Menschen bzw. auf Weiterbildungsinstitutionen bezogen wird. Stattdessen greift der Begriff auf die Gesamtheit aller Lernprozesse vom Kindes- bis zum Rentenalter aus 13 und erfasst schließlich sämtliche Lernprozesse von Personen, Institutionen, Organisationen und sogar Regionen als

Lernprozessen nicht verfügbar scheint bzw. theoretisch umstritten ist. Insbesondere die Übergänge zwischen nicht-formalem und informellem Lernen sind fli eßend (siehe hierzu Dohmen 200 1: 18 ff.). Die Erweiterung des Lernbegriffs über organisiertes und qualifikationsrelevantes Lernen in entsprechenden Bildungsinstitutionen hinaus wird trotzdem als einer der wichtigsten Erträge aus den Forschungen zum lebenslangen Lernen betrachtet (vgl. auch den Beitrag von Baltes zum Lernen als Ausdruck einer zunehmend notwendigen lebenslangen »adaptiven Ich-Plastizität« des Menschen, 2001). II Vgl. dazu die Studien von Voss/Pongratz ( 1998, 200 l) zum Arbeitskraftunternehmer und zur Subjektiv ierung der Arbeit, auch Moldaschi et al. (2002). In den betreffenden Programmtexten selbst treten mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Erfordernisse einer Wissensgesellschaft auf, deren maßgebliches Merkmal die tragende Bedeutung des Produktionsfaktors Wissen zu sein scheint - wobei zumeist etwas unscharf bleibt, was darunter verstanden werden kann (vgl. dazu kritisch Weingart 2001). 12 Dewe (1999: 151) fasst den »modernen Lernbegriff« als »Spezialkompetenz« in Anlehnung an Luhmann wie folgt: »Lernen wird abstrakter [ ... ], weil es Inhalte nur noch als Medium benutzt, an denen Personen formale Lernfähigkeit entwickeln. [ ... ] In dem Maße, wie das Individuum sich als Umwelt [ ... ) der Gesellschaft realisiert, wird auch »alter« für »ego« zunehmend irrtransparenter [ ... ).Ego muss deshalb primär kognitiv erwarten (lernen!), weil soziales Verhalten unter Bedingungen doppelter Kontingenz Lernbereitschaft zunehmend prämiert. Das bedeutet, dass Lernen im Kontext der [ ... ] Modernisierungsprobleme zunehmend von Einheit auf Differenz umstellen muss.« 13 Vgl. dazu kritisch Otto/Rauschenbach (Hg. 2004); rein deskriptiv kann man »the emergence of an inclusive understanding of lifelong learning including the complete

104

I DAs HUMANISTISCHE SELBST

eine Art Querschnittsaufgabe. Lebenslanges Lernen in dieser Fassung liest sich als ein übergeordnetes und durchlässiges Interdependenz-Prinzip gesellschaftlicher Systeme, das auf die Interpenetration unterschiedlicher Elemente und Austauschbarkeit von Komponenten ausgerichtet ist. Auf der Individualebene wird dieses Prinzip durch die Herstellung von Anschlussfähigkeit unterschiedlicher biographischer Abschnitte und Qualifizierungsschritte implementiert. Zudem soll die institutionelle und curriculare Vernetzung zwischen aufeinander folgenden oder nebeneinander stehenden pädagogischen Institutionen verbessert oder überhaupt erst ermöglicht werden 14 • Daneben lässt sich auch eine latent bildungstheoretische Bedeutungserweiterung ausmachen. lm Gegensatz zu eng geführten, primär auf gestiegene Bedarfe und Anforderungen des Arbeitsmarktes abhebenden Argumentationen hat sich im Umfeld internationaler Organisationen (EU, UNESCO etc.) mittlerweile ein Verständnis von Lebenslangem Lernen etabliert, das neben der gesamtgesellschaftlichen Steigerung des Humankapitals zugleich auch die Staatsbürgerrolle und die sozio-kulturell wirksam werdende Entfaltung der Persönlichkeit einschließt. Dieser neuere begriffliche Strang führt gleichermaßen demokratie- und gerechtigkeitstheoretische Diskurse weiter und versucht eine »comprehensive and coherent strategy « Lebenslangen Lernens (EU 2000: 13) politisch zu plausibilisieren, die auf den Abbau sozialer Ungleichheit durch Bildung zielt. Lebenslanges Lernen wird in diesem Kontext oft so gedacht, dass nicht nur in der vertikalen, biographischen Dimension lebenslang, sondern auch in der strukturellen Dimension gleichsam »lebensweit« gelernt werden kann (vgl. zum vetwandten Begriff der» lebensentfaltenden Bildung« auch Faulstisch 2003). Dazu trägt sowohl die mit dem Internet zunehmende weltweite Verfligbarkeit von Bildungsangeboten als auch der Rekurs aufnicht-formelle und informelle Lernaktivitäten bei (vgl. dazu einschlägig Dohmen 2001, sowie Overwien 2007). Die Programme zum Lebenslangen Lernen wurden verschieden aufgenommen und teils kontrovers diskutiert. 15 Resümierend lassen sich in der deutschen

leaming biography and the sequence of all educational institutions over the entire lifespan « (Wolter 2004: 26) feststellen. 14 Z.B. wird im Rahmen des »Kopenhagen-Prozesses« parallel zur Etablierung eines europäischen Hochschulraumes auch am Aufbau internationaler Vergleichbarkeit von beruflicher und Weiterbildungsstandards gearbeitet, die mit dem Hochschulsystem durch die wechselseitige Anerkennbarkeit von Leistungen im ECTS-System als Währungseinheit verzahnt werden sollen (BLK-Kommissionen der Länder, 2004). 15 V gl. als einschlägigen Überblick zu Theorie, Politik, Konzeptionen und Empirie des Lebenslangen Lernens die Arbeiten von Andrä Wolter (HU Berlin).

AKTUELLE REFERENZEN: SELBSTKOMP ETENZ, SCHLÜSSELKOMPETENZEN , LEBENSLANGES LERN EN

1105

wissenschafts- und bildungspolitischen Debatte um den Begriff und die ihn flankierenden Konzepte vier Rezeptionstypen identifizieren: I) Zunächst eine nicht selten als Zurückweisung oder Abwehrreaktion artikulierte allgemeine Einschätzung, die Lebenslanges Lernen als bildungspolitisches Schlagwort für Erfordernisse der Wissensgesellschaft auffasst. In dieser Lesart verbindet sich mit Lebenslangem Lernen nicht mehr als die Zumutung, dass aufgrund forcierten technologischen und sozialen Wandels sowie der abnehmenden Halbwertzeit von Wissen und Qualifikationen die Menschen zu permanenter Weiterbildung angehalten seien. 2) Eine zweite Rezeptionshaltung bezieht denselben Phänomenbereich - zumeist positiv - auf wirtschaftliche Probleme, nämlich als Ausrichtung Lebenslangen Lernens am Ziel der Beschäftigungsfähigkeit (» Employability «). Danach reiche die berufliche Erstausbildung als Basis lebenslanger Beschäftigungsfähigkeitangesichts prekärer Arbeitsmarktbedingungen und globaler Konkurrenz nicht mehr aus. Diese Auffassung geht zumeist mit der Konzentration auf betriebliche Weiterbildung einher. An dieser Stelle sind auch die gegen den Ansatz des Lebenslangen Lernens vorgebrachten Einsprüche einzuordnen, welche den gesellschaftlichen Imperativ »lebenslänglichen« Lernens angreifen, weil er dem Individuum so gut wie keine » lernfreien « Zonen mehr lasse (so etwa Geißler 1990). 3) Eine dritte Rezeptionsform lässt sich als medien- und kommunikationstechnische Engführung deuten, die etwa die Idee Lebenslangen Lernens wesentlich mit neueren Formen mediengestützten bzw. elektronisch vermittelten Lernens zusammenschließt. Hier gehen die Erwartungen dahin, dass die Individuen durch die Implementierung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien im Bildungs- und Ausbildungssektor unabhängig von zeitlichen und räumlichen Einschränkungen, mit erweiterten individuellen Frei heitsgraden lernen können. Häufig legitimieren sich solche Vorstellungen im didaktischen Bezugsrahmen als expansives, selbst-gesteuertes und selbst-organisiertes Lernen; oft präsentieren sie sich jedoch in technikfixierter oder verwertungsorientierter Form (vgl. dazu Trappmann/ Draheim 2009). 4) Eine vierte Auffassungsweise verschmilzt (teils präskriptiv, teils kritisch) in der Vorstellung des Lebenslangen Lernens die Privatisierung mit der Individualisierung von Bildung als Humankapitalbildung. Individualisierung kann in dieser Lesart als Tendenz verstanden werden, die Verantwortung für die » lebensbegleitende Bildung« primär dem Individuum- im Sinne subjektiver »Bringschuld« - zuzurechnen (kritisch dazu Tuschling 2004; Masschelein/ Simons 2005). Auch beinhaltet Privatisierung zumeist die Forderung, das

I DAs HUMANISTISCHE SELBST

106

Angebot von Bildung und Lernen von staatlichen Institutionen in stärkerem Maße auf private Institutionen zu verlagern und Lebenslanges Lernen der Regulierung durch den Markt zu überlassen bzw. die staatlichen Bildungseinrichtungen sukzessive durch die Implementierung von Marktmechanismen zu modernisieren (vgl. kritisch dazu Lohmann/Rilling 2001).16 Ich will im Folgenden an keine einzelne dieser spezifischen funktionalen Einund Zuordnungen des Lebenslangen Lernens direkt anschließen, sondern fragen, ob dessen humanistischer Kern bzw. Anteil, der in allen genannten Bereichen in Anspruch genommen wird, selbst eine bestimmbare gesellschaftliche Rolle spielt. Dazu bietet sich der diachrone Vergleich mit Kontexten an, in denen man noch verbreiteter und direkter vom Menschen und seiner Entfaltung gesprochen hat. Entsprechend werden mich die genealogischen Spuren in der Rede vom Lebenslangen Lernen beschäftigen, die sich als humanistische charakterisieren lassen, solche also, die die »Entwicklung und Nutzung des Menschen als entscheidende Ressource« (Greif/Kurtz 1996: 7) in den Mittelpunkt stellen und dabei möglicher Weise ein genuin humanwissenschaftliches Wissen überhaupt erst hervorbringen.

4.3

KLASSISCHE AusGANGSPUNKTE: REZEPTION DES RENAISSANCE-HUMANISMUS UND DES DEUTSCHEN NEUHUMANISMUS

Melancholie und Subjektivität

Die Plausibilität des begriffsarchäologischen Unternehmens, eine Genealogie des Bildungssubjekts der Gegenwart in der italienischen Renaissance beginnen zu lassen, lässt sich mit guten Gründen bezweifeln. Mitte des 20. Jahrhunderts schrieb Arnold Hauser: »Wir sind in vielem die Opfer einer optischen Täuschung, indem wir die Bedeutung der Renaissance flir die Gegenwart überschätzen. Wir befinden uns immer noch in einer allzu unmittelbaren Nähe zu der Zeit, die die

16 Dabei scheint die Herausforderung insbesondere darin zu bestehen, fur ein hochgradig komplexes, »verregeltes« Bildungssystem wie das deutsche, neue Bewertungsund Anerkennungsverfahren, insbesondere für diejenigen individuellen Potentiale, die mit der Pluralisierung und Individualisierung biographischer Verläufe und sozialer Erfahrungen einhergehen (vgl. Forschungen zum Kompetenzbegriff, etwa das europäische Forschungsprojekt TUNING, sowie einschlägig Erpenbeck et al. 1999).

KLASSISCHE AusGANGSPUNKTE

I 107

Renaissance von neuem entdeckt, umgewertet und [ ... ] rehabilitiert hat. Die Renaissance, wie wir sie heute sehen, ist nicht nur die Neuentdeckung, sondern zum Teil auch die Neuschöpfung der [ ... ] Geschichtsphilosophie jener Zeit. « (Hauser 1964: 31 f.)' 7 Dennoch versuche ichjenseits der klassizistischen RenaissanceRezeption des 19. Jahrhundert - deren Distanzierungswillen vom Gegenstand Hauser wohl zu Recht in Zweifel gezogen hat - den Blick neu zu schärfen, indem ich in der Auseinandersetzung mit wirkmächtigen Rezeptionsmustern versuche, Probleme und Problematisierungen des Bildungssubjekts ausfindig zu machen, die bis heute virulent geblieben sind. Gerade die Angriffe auf ein klassizistisches Renaissancebild wurden nämlich wiederholt im Namen einer problematischen Subjektivität geführt. ln diesem Zusammenhang ist nicht die Verdeckung der historischen Wahrheit, sondern die fortgesetzte Neu- und Umdeutung der betreffenden Vergangenheit entscheidend. Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet der kulturgeschichtliche Rückgriff auf die so genannte »Geburt des Individuums« im Italien des 14. bis 16. Jahrhunderts - von Petrarca bis Raffael. In klassischen kulturhistorischen Erzählungen, etwa bei Burckhardt, Burke oder Garin wird dabei der >humanistische< Mensch zumeist als uomo universale skizziert, der » zur größten Vielseitigkeit aufgefordert [ist], indem sein [ ... ] Wissen lange nicht bloß [ ... ] der objektiven Kenntnis des klassischen Weltalters, sondern einer täglichen Anwendung auf das wirkliche Leben dienen muss « (Burckhardt 1860/1999: 168 f.) . Dieser schöpferischen, experimentellen und handlungsorientierten Figur - für die u. a. Leon Battista Alberti oder Leonardo da Vinci Gewährsmänner abgeben ist in weniger fortschrittsfokussierten Lesarten das Bild des Genies, Künstlers oder Intellektuellen als abgesonderter Melancholiker entgegengestellt worden (Lepenies 1969/1998, Klibansky et al. 1990). Nimmt man diesen Gegensatz näher in den Blick, erschließt sich eine grundsätzliche soziale Problematik des Bildungssubjekts.

17 Der Mittelalter-Historiker Kurt Flasch findet für diese Rezeptionsweise mehr als deutliche Worte: Für ihn » diente die florentinische Renaissance seit Jakob Burckhardt bestimmten ideologischen Bedürfnissen des Bürgertums. [ ... ] Ihre Widersprüche und Brüche wurden eher verdeckt als analysiert.[ ... ] Seit etwa 1928 hat die Forschung dieses Bild ständig korrigiert und erweitert, aber die deutsche Universität hat I 933 die hervorragendsten Kenner vertrieben - Ernst Cassirer, Paul Oskar Kristell er, Hans Baron, Raymond Klibansky. In Deutschland hat sich die Kenntnis der Philosophie dieser Zeit seitdem zwar [ ... ] erweitert. Aber allgemein herrscht immer noch ein zu idealisiertes Bild« (Flasch I 986: 515).

108

I D As HUMANISTISCHE SELBST

Die Disposition der Melancholie, als Teil der Temperamentlehre bereits seit Aristoteles bekannt, erfährt im Verlauf der italienischen Renaissance eine folgenreiche Neubewertung, die laut Wolf Lepenies auf die Readjustierung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft hinausläuft. 1x Die zugleich experimentelle und an der antiken Überlieferung orientierte Lebensauffassung humanistischer Gelehrter wie etwa Marsilio Ficino 19, die sie aus der mittelalterlichen Welt- und Sozialordnung freisetzt, geht mit einem ambivalenzgesättigten Möglichkeitsbewusstsein einher, das sich in gesteigerter Reflexion ergeht und zunehmend die Entscheidung für reale Handlungen erschwert20 - ein gewisserma-

18 Wolf Lepenies spannt in seinem Vorwort zur Neuauflage seiner Dissertation » Melancholie und Gesellschaft« (1998) den argumentativen Bogen der europäischen Melancholietradition bewusst sehr weit: » Die melancholische Reflexion entsteht aus der Handlungshemmung, und zugleich hemmt sie weiteres Tun: wenn Jacques Delors im dauernden Nachdenken der Europäer über sich selbst, im repli sur soi, das größte Hemmnis auf dem Weg zur Einigung des Kontinents sah, beklagte er damit eine Krankheit, die zur europäischen Identität ebenso sehr gehört wie ursprünglich der vor Gesundheit strotzende Wille zur Welteroberung, der heute eher den homo

americanicus prägt. Und doch haben die Intellektuellen Grund zur Klage, [ . .. ] -die besten und die tapfersten Intellektuellen sind, wie bereits Aristoteles feststellte, Melancholiker. « (Lepenies 1998 : XVIII f.) In ähnlicher Richtung argumentiert auch Hans-Jürgen Schings ( 1977): Ihm stellt sich Melancholie insbesondere als Deutungsangebot gesamtgesellschaftlicher Pathologie dar, »als Indiz für Säkularisierung, für eine religiöse und metaphysische Krise « (5). Vor diesem Hintergrund sieht Schings ein »spezifisch anti-melancholisches Interesse der Aufklärung an der Melancholie. Von Hobbes bis Lamettrie [ ... ] bis Kant, von Shaftesbury und Swift bis Wieland [ ... ] findet man wohl schwerlich einen Aufklärer, den nicht polemische Energien an das vielseitig schillernde Phänomen [ . . .] fesseln, im Namen des Glücks, das gegen die Mächte der Finsterni s durchgesetzt werden muss.« (39) 19 Der Arzt, Philosoph und Geistliche Marsilio Ficino (1433-1499) wirkte u. a. als Haupt der Platonischen Akademie von Florenz (ab 1462) und hat in seiner dreibändigen Schrift »De triplici vita« ( 1489) eine umfangreiche Melancholietheorie vorgelegt. Eine deutsche Ausgabe ist mir nicht bekannt; vgl. aber die kritische kommentierte englische Ausgabe von Kaske und Clark (1989). 20 Zu Ficinos Melancholie-Studien und ihrer Übertragung in die Gedankenwelt der deutschen Renaissance bis hin zu Dürer und Agrippa von Nettesheim vgl. Benesch (1 977: 8-114), für die kultur-und geistesgeschichtliche Forschung zu Ficino und sein neuplatonisches Umfeld vgl. exemplarisch Kristeller (1972/ 1976); ferner Cassirer (1927: 77- 129), sowie Dilthey (1929: 416ft). Für Michael Theunissen ist in der Rezeptions-

KLASSISCHE Aus GANGSPUNKTE

I 109

ßen modernes Bewusstsein für problematische oder unentscheidbare Alternativen entsteht. Ein derartiges Selbstverhältnis ist in zweifacher Hinsicht bedeutsam: zum einen steht es quer zu der klassischen Erzählung vom schöpferischen, expansiv tätigen Humanisten, zum anderen scheint eben der melancholische Prozess unabschließbaren Reflektierens den Innenraum des neuzeitlichen Individuums, der uns heute zeitlos gültig erscheint, überhaupt erst aufzuschließen - selbst wenn man mit Heller (1982: 221) einschränken könnte, dass in der Renaissance noch nicht von Innerlichkeit im modernen Sinne zu sprechen ist. Ich schließe mich im Weiteren der These von Verena Lobsien (1 998) an, die aus literaturwissenschaftlicher Perspektive feststellt: »Das frühneuzeitliche Melancholieparadigma befindet sich in einem Verhältnis der Homologie zum Subjektivitätsparadigma. Melancholie ist eines der zentralen Medien frühneuzeitlicher Selbstverständigung; die Melancholietheorie der Renaissance greift vor auf das, was später Subjektivität heißen wird. « (Lobsien 1998: 714) Damit ist angedeutet, dass bereits lange vor der begrifflichen Prägung von Subjektivität im frühen 18. Jahrhundert21 das damit korrespondierende Problemfeld wahrnehmbar war 22 . Das melancholische Bewusstsein davon, dass im menschlichen Handeln das meiste immer auch anders sein könnte, korrespondiert mit »ein[em] gesteigerte[n] Wissen um sich selbst« (Kiibansky u. a. 1990: 339).23 Auch Klibansky, Panofsky und Sax! sehen im Renaissance-Humanismus den» Wunsch nach Emanzipation, der die Persön-

geschichte gerade der melancholische Anteil verdrängt worden: » Gewiss ist Marsilio Ficino zum Ahnherr des neuzeitlichen Geniekults geworden, weil er in seiner Rezeption des Textes den Selbstgenuss hervorhebt, dessen der Melancholiker dank seiner Sublimierungsleistung fähig wird. Mehr und mehr haben seine Nachfolger allerdings von dem in Genuss verwandelten Leiden abstrahiert. « (Theunissen 1996: 22) 21 Lobsien verortet die früh ste englischsprachige Erwähnung (subjectivity) im Oxford English Dictionary aus dem Jahre I 82 I (713). 22 Lobsien (1997: 7 14) konfiguriert Subjektivität dabei als von wechselnden Konturen und Positionen beherrschtes Arrangement, das sich aus Elementen wie Bewusstsein, Selbstbezug, Reflexivität, Individualität, Alteritäts-, Welt- und Gottesbezug, Stimmung, Leiblichkeit etc. zusammensetzt. 23 lm 16. Jahrhundert bereits » ist dieses Bewusstsein sosehr zu einem Teil des Selbstbewusstseins geworden, dass kaum noch ein bedeutender Mensch angetroffen wird, der nicht wirklich Melancholiker war oder wenigstens von sich selbst und anderen dafür gehalten wurde. Selbst von Raffael, den wir uns so gerne als vornehmlich heiteren, glücklichen Menschen vorstellen, bekundet ein Zeitgenosse, dass >er zu Melancholie neige wie alle Leute von so überragender Begabung«Zentrum des Universumsimmer auch < die potentielle Rückseite der Handlungshemmung, die als Reflexion, Melancholie oder in zeitgenössischer medizinischer Diktion als Depression24 (vgl. Ehrenberg 2004) in Erscheinung tritt. Beide, Aktivität wie Paralysierung, reagieren auf die Potentialität von Optionen, Chancen und Risiken. Und sobald hiervon nicht mehr nur einige privilegierte Persönlichkeiten, sondern die Mitglieder einer erweiterten Funktionselite oder potentiell alle Individuen der demokratischen Massengesellschaft betroffen sind, wird die Rückseite der Handlungshemmung zum gesellschaftlichen Problem, für das im weitesten Sinn pädagogische Verarbeitungsformen geschaffen werden müssen.

24 Medizinhistorisch einschlägig, aber auch ideen- und geistesgeschichtlich fruchtbar ist die Studie von Teilenbach (196111976). Für die psychoanalytische Begriffswelt findet sich die klassische Beschreibung bei Freud: » Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufh ebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfahigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung von Strafe steigert.« (Freud 1963: 429) Siehe dazu ausführlicher den Exkurs zum freudschen MelancholieVerständnis.

KLASSISCHE AUSGANGSPUNKTE

I 111

Das Bildungssubjekt im Neuhumanismus

Exemplarisch lässt sich eine solche Problematik am Beispiel prominenter Paradoxien (neu-)humanistischer Bildung diskutieren, deren begriffliche Nachwirkungen bis heute spürbar sind. In jedem Fall war der deutsche Bildungsbegriff als Subjektivitätsgenerator par exellence geeignet, die Struktnr des melancholischen Selbst- und Weltverhältnisses aus dem philosophisch-ästhetischen Feld in den sich um 1800 etablierenden Bereich staatlicher Kultur- und Erziehungspolitik zu vermitteln25 • Die semantischen Berührungspunkte, die Melancholie, Subjektivität und Bildung über ihre Zugehörigkeit zu einem >Humanismus< hinaus haben, können typisiert daran festgemacht werden, dass Bildung zugleich als ein Prozess und sein Resultat auftritt, dass dieser Prozess zugleich als zielorientiert, sozial hergestellt und abgeschlossen (Reife), aber auch als offen, individuell zurechenbar und unabschließbar gelten kann (vgl. dazu begriffsgeschichtlich Vierhaus 1972 und K.oselleck 1990, aktueller Lenzen 1999). Wie im Fall potentiell melancholischer Selbstverhältnisse scheint also auch hier die Gefahr zu drohen, dass die Selbstreflexion zu keinem Ergebnis kommt und nicht in sozialem Handeln terminiert- allerdings lässt die oft schon terminologisch als »Selbsttätigkeit« bestimmte Bildung verglichen mit der melancholischen Selbstvertiefung deutlich weniger Handlungshemmnisse vermuten. Es bietet sich an, den neuhumanistischen Bildungsdiskurs auf diese Motive hin zu durchsuchen. Allerdings ist eine Auseinandersetzung mit dem Begriff und Ansätzen des »(Neu-)humanismus«26 insofern nicht unproblematisch, als auf diesem Schlachtfeld kontinuierlich bis heute um die Reformierung des deutschen Bildungssystems gerungen wird. Schon Niethammer sprach vom »Bedürfnis einer gänzlichen Reform«, als er die Gefahr sah, dass der Philanthropismus die letzten » Freistätten der allgemeinen Bildung [... ] in bloße Berufsschulen« zu verwandeln drohe (Niethammer 1808: 25). In seinem Text zum Streit des Philanthropismus und Humanismus stellt Niethammer entsprechend der Erziehung für praktisch-berufliche Zwecke die (humanistische) Konzeption einer allgemeinen Menschenbildung entgegen27 : »Der

25 Vgl. zur unmittelbaren Vorgeschichte, dem Verhältnis von Melancholie in Ästhetik und Politik im 18. Jahrhundert (Schings 1977). 26 Der Begriff» Neuhumanismus« wurde durch Friedrich Paulsen ( 1896/7) geprägt. Die wichtigsten Dokumente zum Neuhumanismus finden sich bei Rudolf Joerden (1962). 27 So auch Vierhaus, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1 (S. 529), der jedoch keinen Gegensatz zur politisch-sozialen Eingliederung der Bildungssubjekte sieht: » Damit

112

I DAS HUMANISTISCHE SELBST

ganze Mensch ist die mit mannigfaltigsten Anlagen und Kräften zu einem wunderbaren Ganzen vereinigte Vernunft: die vollendete, allseitige, harmonische Ausbildung zu einem Ganzen ist das Ideal der Menschheit« (ebd: 190). Diese bis in die Gegenwart strikt vom Individuum aus gedachte Bildungsidee2H wurde wesentlich vorbereitet durch den deutschen Idealismus - z. B. durch Fichtes Subjektivitätsbegriff - und die Klassik, etwa Schillers Konzeption ästhetischer Bildung. ihre philosophisch-anthropologische Dimension lässt sich mit Aussagen wie der folgenden aus Wilhelm von Humboldts Frühschrift »Entwurf zur Bildung des Menschen« (1 791/2) verdeutlichen: » Die letzte Aufgabe unseres Daseins, dem Begriff des Menschheit in unserer Person [ ...] einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.« (Humboldt 1964: 283) Der weithin mit Humboldt identifizierte bildungspolitische Neuanfang Preußens (1809110), wird zumeist in die Phalanx der geschichtlichen Humanismen

war individuelle Bildung nicht in einen Gegensatz zu Gesellschaft und Staat gebracht; galt doch den Bildungsrefom1ern der Zeit als sicher, dass höchste Entfaltung des Individuums eo ipso der Gesellschaft, dem Staate, der Menschheit den höchsten Nutzen bringe.«

28 Der u. a. wortgeschichtlichen Entwicklung des Bildungsbegriffes als spezifisch deutsches Projekt ist seit ihren Anfangen ausgiebig Aufmerksamkeit geschenkt worden, so dass sie hier nicht in ihren Verästelungen nachgezeichnet werden muss. Die klassischen Studien (vgl. exemplarisch Weil 1930, Schaarschmidt 193 1/ 1965, Rauhut 1953/1965) heben unter anderem die religiösen Anteile und den europäischen Ideentransfer in der Begriffsbildung hervor: )) Nun hat die Wortforschung verfolgt, wie der religiöse Gedanke des Bildens lebendig bleibt bis ins 18. Jahrhundert hinein [... ]. Jetzt ist es belangvoll, dass gerade im 18. Jahrhundert der Gedanke der Bildung säkularisiert wurde. [ .. . ] Der Philosoph Shaftesbury stellte ein ästhetisch-sittliches Ideal der weltlichen Kultur der Persönlichkeit auf: [ ... ]; die Seele muss schön geformt werden, eine inward form erhalten. Es ist wichtig, wie damals ein deutscher Übersetzer die betreffenden Ausdrücke Shaftesburys wiedergab: inwardform mit innere Bildung; formation ofa genteel character mit Bildung. Wenn aber diese weltliche Art der Gestaltung der Seele mit bilden und Bildung bezeichnet wird, dann sind diese Worte verweltlicht.« (Rauhut 1955/1965: 19)

K LASSISCHE AusGANGS PUNKTE

I 113

eingeordnet29 , insbesondere in der durch Humboldt angestoßenen30 Gründung der Berliner Universität 1810 hat man wiederholt eine institutionelle Verkörperung (neu-)humanistischer Ideale gesehen31 • Soziologisch ist damit allerdings noch nichts erklärt. Einen Ansatz bietet Niklas Luhmann in seiner posthum veröffentlichten Schrift »Das Erziehungssystem der Gesellschaft« (2002), wo er die humanistische Semantik auf den Übergang von einer stratifikatorischen zu einer modernen sozialen Ordnung bezieht:

29 Vgl. dazu Menze (Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, S. 1218), der vorschlägt, »drei Stadien des Humanismus [zu] unterscheiden: der Renaissance-Humanismus des 15. und 16. Jh., der für Deutschland eingeschränkte Neu-Humanismus zur Zeit der deutschen Klassik sowie die um 1900 einsetzenden Bestrebungen zur Wiedererweckung des Idealismus und der Antike, die unter dem Titel >Dritter Humanismus< zusammengefasst wurden.« Über den » Neuhumanismus « heißt es speziell: »Der Neu-H. teilt mit dem Renaissance-H. die Liebe zum klassischen Altertum, unterscheidet sich aber von ihm durch seine philosophische Tiefe, durch die aus dem Ungenügen an der eigenen Zeit entsprungene Griechensehnsucht sowie durch eine neue Konzeption literarisch-ästhetisch historischer Bildung, die er anthropologisch fundiert. [ ... ] Der letzte Zweck des Weltalls besteht in der Bildung der Individualität.« (Ebd.)

30 Unter anderem Ulrich Herrmann (1993: 9) hat herausgearbeitet, dass » die Beschäftigung mit der >Humboldtschen Universität< [ ... ] in vieler Hinsicht nichts anderes als die Beschäftigung mit einem Mythos (ist).« Zwar habe Humboldt während seiner 16-monatigen Amtszeit als Sektionsleiter ftir Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium in Königsberg zum Entstehungsprozess der Berliner Universität beigetragen; als diese jedoch zum Wintersemester 1810 ihren Betrieb aufnahm, war er bereits als Botschafter in Wien installiert (Herrmann 1993: 10 f.). Vgl. für weitergehende Zweifel am Mythos Humboldt Paletschak (2001). 31 Auch Hermann betont, dass Humboldt keine neuartige Hochschule im damaligen Zeitverständnis gründen wollte - also nach dem französischen Vorbild der Ecole Polytechnique (vgl. dazu auch Blankertz 1969: 6 1 ff.), sondern ihm eine Institution ftir höhere Bildung vorschwebte, die wesentlich - » im Sinne des Deutschen Idealismus und Neuhumanismus« - aus Gedanken von Schelling, Schleiermacher und Fichte gespeist wurde. Zusammengeführt zwischen zwei Buchdeckeln finden sich die Reformschriften Schellings, Fichte, Schleiermachers, Steffens und Humboldts bei Ernst Anrich (1956). Anrich verfolgt gleichfalls ein reformerisches Ziel, wenn er die versammelten Schriften unter einer Stoßrichtung gebündelt ftir die Universität des Nachkriegsdeutschlands fruchtbar macht, um die» Dynamik der Wesensfrage« der deutschen Universität wachzurufen.

114

I DAS HUMANISTISCHE SELBST

»Im 18. Jahrhundert wird dieser alteuropäische Humanismus durch einen Neuhumanismus ersetzt, der von sozialer Stratifikation abstrahiert und sich auf> Subjekte< schlechthin bezieht. Dem entspricht die Ersetzung des Begriffs der [ . ..] Perfektion durch den Begriff der Bildung.« (Luhmann 2002: 18) Obwohl ein solches Argument nicht spezifisch flir die damalige Situation Preußens ist - ein militärisch stark geschwächter Staat versucht unter Einbindung sämtlicher, auch kritischer zivilgesellschaftlicher Kräfte wieder an Bedeutung zu gewinnen (vgl. Reitz 2003: 118-133) - lenkt es doch den Blick auf ein entscheidendes Paradox. Im Gefolge der idealistischen Subjektphilosophie wird gerade ein von allen gesellschaftlichen Bindungen befreites Einzelwesen zur Adresse staatlicher Anstrengungen und AnfordemngenY Man kann diese Spannung nationalgeschichtlich einordnen. Bekanntlich ist die Trias von (Neu-)Humanismus- Subjekt- Bildung mit einiger Plausibilität als deutscher Sonderweg gedeutet worden33 : »In Deutschland lebt die Verehrung der Griechen aus einem Bildungsindividualismus, der problembewusst den Spätabsolutismus wie das bürgerliche Erwerbsleben ablehnt, und der die politischen Hand-

32 Das Problem hieran fasst Luhmann ( 1993: 18) so: » Selbst wenn es diese Subjektivität als intern zugängliches Faktum des Bewusstseins in jedem Menschen gäbe, wäre damit nichts bezeichnet, was durch Erziehung zu ändern, zu entwickeln, zu verbessern wäre. Auch ergab sich aus der Subjektivität des Menschen kein Hinweis darauf, für welche Gesellschaft die Menschen zu erzi ehen seien.« Einen Lösungsansatz könnte der Begriff der Individualität bilden. In seinen Semantikstudien konstatiert Luhmann nicht nur eine neuartige Verbindung von Individualität und Subjektivität (die er um 1800 datiert), sondern schildert die erstere auch als durchaus formbar: » Das individuelle Subjekt ist kein defizienter Sozialitätsmodus, sondern Fülle und Reichhaltigkeit, wodurch die Innerlichkeit und Steigerungsfähigkeit zum Ausdruck gebracht wird « (Band 111, S. 208). Erhellend ist für die begriffliche Herausbildung und (professionelle) Eingl iederung des Neuhuman ismus am Beispiel der Erziehungswissenschaft auch Luhmann ( 1993, insb.: 121 ff.) 33 Dies ist die positive Funktion des bis in die bildungspolitische Gegenwart bemühten »Humboldt-Mythos«. Im Rückgriff auf dessen Bildungsbegriff, seine Neubegründung von Gymnasium und Universität konnte man » den Aufstieg des deutschen Bildungsbürgertums und damit Deutschlands zur kulturellen und wissenschaftlichen >Weltmacht Bildung< und >Kultur< sind nach 1800 erfolgreich konzeptionalisiert, sie können sich aber als Deutungsmuster erst sozial folgenreich durch ihre institutionelle Ausformung entfalten. « (Bollenbeck: 166?5 Mit Blick auf die in Deutschland ausgebliebene Revolution, deren Folgen sich im sozialen Feld von apolitischem Besitz- und Bildungsindividualismus abbilden lassen, könnte man beinahe von einem in Humboldts Rezeptionsgeschichte verkapselten »Trauma« sprechen. Wann immer die Bildungspolitik in Sackgassen steckte und sich Reformideen nicht realisieren ließen, konnte man entsprechende Erwartungen auf die vereinzelten Bildungssubjekte projizieren. Das Traumatische, also verkürzt gesagt die unaufhörliche Wiederholung eines unbewältigten Zustandes, bestünde dabei darin, dass man sich scheinbar »freiwillig« immer wieder in die Humboldt-Situation zmüclculture< in unsere Nachbarsprachen übersetzt, so überlappen sich zwar di e Bedeutungsfelder, aber Kultur verweist, wie im Deutschen auf die Summe gemeinschaftlicher [ ... ] Tätigkeiten und ihrer Produktionen, die im Gegensatz zum Naturbegriff gedacht werden. Das spezifische Unterscheidungskriterium im deutschen Sprachgebrauch, Bildung auch auf natürliche Anlagen zurückzuführen, vor allem aber als eine individuelle Leistung darzustellen, die nur in der Selbstreflexion zu gewinnen sei, geht dabei verloren.« (Koselleck 1990: 14) 35 Hier bringt Bollenheck die bekannte These GehJens in Anschlag, nach der Ideen nur dann sozial weiterwirken können, wenn sie in Institutionen verkörpert werden. Auf die Universität hat sie besonders Schelsky bezogen, der allgemein festhält » Die Idee einer institutionellen Neugründung muss immer zugleich eine neue Sozialidee sein, d. h. sie muss das Bild und Vorbild einer sozialen Lebensform mit sich tragen. [ ... ]In ihr muss eine neue Sachidee mit dem Willen zu einer institutionell neuen Lebensform verschmolzen sein, der sich sachlich und politisch gegenüber bestimmten Gegnern in der Gesellschaft durchsetzt.« (Schelsky 197 1: 66; siehe auch Kap. 2) 36 Expliziert wird das etwa bei Anrich (1956: VIII): »Alle wirklichen Krisen der deutschen Universität kamen aus einer Bedrohung der geistigen Einheit oder der sittlichen Anerkennung des einheitlichen Fragens und Forschens im geistigen Gesamtgefüge

116

I DAS HUMANISTISCHE SELBST

Ich möchte mich jedoch nicht auf diese Problematik konzentrieren, sondern fragen, inwiefern die Unbestimmtheit des Bildungssubjekts als allgemeine Anrufungsfigur aussichtsreich gewesen sein könnte. Meine These lautet: Sie ermöglicht es, möglichst vielfältige, programmatisch bzw. sozial eigentlich unverfügbare individuelle Potentiale zu aktivieren. Ziel der Bildung soll die individuelle Entfaltung sein, das Mittel ist Selbstbildung, aufkeinen Fall Fremdbeeinflussung oder utilitaristische lndienstnahme individueller Kräfte - das Bildungsarrangement führt vielmehr indirekt eine Entfesselung der individuellen Kräfte herbei, die dann eventuell doch gesellschaftlich nutzbar werden. 37 Derartige Anschauungen, die Schelsky 1963 als» Einsamkeit und Freiheit«3K auf die Formel gebracht

des Volkes. Und alle wurden überwunden in der Universität und weithin von der Universität aus für das Gesamtvolk nicht unbedingt aus dem Erreichen der Einheit: aber aus dem erneuten Ringen um diese Einheit. « In soziologischer Diktion, aber mit gleicher Stoßrichtung äußert sich Schelsky mit Bezugnahme auf » die deutsche Situation nach 1945«: »Diese Situation [ ... ] bietet dem Indi viduum also eine geistige Vorwegnahme des Daseins als ganz personale Verantwortung, die den Kern des Sittlichen und ideellen Individualismus der deutschen Universitätsbildungsidee ausmachte « (Schelsky 1963: 123 ; 125). Kritisch fasst ein neuerererziehungswissenschaftlicher Beitrag die Funktion des Bildungsbegriffes in diesem Sinne auf: » Der emphatische Begriff der Bildung, [ ... ] schließt nun die klaffende Lücke zwischen kritischer Bestandaufnahme und hoffnungsvoller Zukunftsperspektive und wird damit zu einem [ ... ] Leitbegriff, der die Selbstreflexion des Erziehungssystems maßgeblich organisiert. [N]eben der Anknüpfung an die unterschiedlichen Krisendiskurse stößt sich die Pädagogik von di esen beunruhigenden Zeitdiagnosen doch auch immer wieder entschlossen ab und überschreitet sie im Modus einer meist metaphorischen Rede von jenem Bereich, in dem die Brüche, die die Gegenwart charakterisieren, [ ... ] überwunden und die unübersehbaren Differenzen (wieder) versöhnt sind. « (Rieger-Ladich 2002: 58) 37 Auch diesen Punkt unterstützt die Begriffsgeschichte: » Die neuzeitliche Bildung zeichnet sich also, von ihren semantischen Grundzügen her typisiert, dadurch aus, dass sie religiöse Vorgaben umgießt in Herausforderungen persönlicher Lebensführung, dass sie, die Autonomie der Individualität generierend, offen und anschlussfähig ist in alle konkreten Lebenslagen hinein und dass sie, als Arbeit begriffen, das integrierende Element der arbeitsteiligen Welt ist.« (Koselleck 1990: 34) 38 Die humboldtsche Formulierung lautete: » Der Universität ist vorbehalten, was nur der Mensch durch und in sich selbst finden kann, die Einsicht in die reine Wissenschaft. Zu diesem SelbstActus im eigentlichen Verstand ist nothwendig Freiheit, und hülfereich Einsamkeit [ ... ]. Das Kollegienhören ist nur Nebensache, das Wesentliche,

K LASSISCHE AusGANGSPUNKTE

I 117

hat, waren bei den preußischen Reformern insgesamt verbreitet und wirkten prägend auf die preußische Universitätsreform; zu ihrem näheren Verständnis hilft jedoch ein Blick auf ihren Entstehungskontext in Humboldts Frühwerk. Um individuelle Selbsttätigkeit und deren indirekten sozialen Nutzen geht es bereits in Humboldts »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen« (1792). Mit Unbestimmtheitsformeln wie Individualität oder Entfaltung »setzt Humboldt (hier) einen opaken Persönlichkeitskem, der an die Stelle der universalistisch normierten Subjektivität tritt, in dynamische Beziehung zum je besonderen Erfahrungs- und Handlungsfeld. « (Reitz 2003 : 106) Wenn schon nicht als Citoyens, so doch zumindest programmatisch unabhängig von sozialer Stratifikation werden die Subjekte auf verschiedenste Weise vorpolitisch, etwa wissenschaftlich, wirtschaftlich und künstlerisch produktiv. Die freigesetzte Handlungskontingenz wird durch das Programm der Selbstvervollkommnung39 nicht nur gebändigt, sondern produktiv gewendet. Damit scheint - denkt man an den Renaissancehumanismus zurück- die Gefahr unabschließbarer Reflexionsschleifen und Handlungshemmungen grundsätzlich eingedämmt. Das neuhumanistische Bildungssubjekt ist in der Tat fundamental aktivistisch konzipiert; dass es passiv bleiben könnte, ist nicht einmal mehr als Möglichkeit vorgesehen. Zugleich kann Humboldt (besonders in frühen Jahren) im Namen des freien Individuums gegen einen rationalistischen Staatsdirigismus polemisieren, wie er ihn im revolutionären Frankreich ausgebildet sah40 . Die Rückseite dieser Aktivierung ist, dass es bei Humboldt primär und oft ausschließlich um den Einzelnen geht; unklar oder suspekt bleiben die Mechanismen seiner Vergesellschaftung: »Das höchste ideal des Zusammenexistirens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in demjedes nur aus sich selbst, und um

dass man in enger Gemeinschaft mit Gleichgestimmten und Gleichaltrigen, und dem Bewusstseyn, dass es am gleichen Ort eine Zahl schon vollendet Gebildeter gebe [ ... ].« (Humboldt 1964: 188f.)

39 Man könnte auch sagen, dass der Neuhumanismus, für den Humboldt in Anspruch genommen wird, immer wieder auch als implizites Anthropologieprogramm rezipiert wurde: »Man kann [ ... ] wissenschaftlich um das Eigentliche der Bildung nur >drum herumreden Theorie der Bildung< vertreten.« (Schelsky 1971: 304) 40 Vgl. dazu Humboldts Schrift »Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Konstitution veranlaßt« (1903: 77- 87).

11 8

I DAS HUMANISTISCHE SELBST

seiner selbstwillen sich entwickelte. « (Humboldt 1903: 109) Und: »Je mehr der Mensch für sich wirkt, desto mehr bildet er sich. In einer großen Vereinigung wird er zu leicht zum Werkzeug.« (Ebd., 132) Diese idealistisch gedachte Absonderung des Bildungssubjektes von seiner Sozialordnung41 geriet bereits bei Hege! in der Phänomenologie des Geistes42 und in Goethes Wilhelm Meister in Misskredit. Erst recht steht das geschilderte Absonderungsideal in einem Spannungsverhältnis zur aktuellen Bildungspolitik. Die eingangs erwähnte Forderung der Kultusministerkonferenz nach Allgemeinbildung - möglicherweise als eine Art Residualhumanismus? - in der beruflichen Bildung ist insofern nicht vereinbar mit Humboldt, als sie ja trotz des Insistierens auf Allgemeinheit unmittelbar auf gesellschaftliche Eingliederung orientiert ist. Man kann wohl allgemein davon ausgehen, dass heute die Alternative zwischen allgemeiner Menschenbildung und Berufsausbildung eher zugunsten der letzteren entschieden wird, was in einer funktional differenzierten kapitalistischen Gesellschaft (mit ihrer Arbeitsteilung und Spezialisierung) durchaus einen sachlichen Grund hat. Allerdings lässt sich differenzierend hinzufügen, dass der von Humboldt vorgesehene Zugriff auf die je individuellen Potentiale weiterhin- durchaus mit direkter Bezugnahme (vgl. Nida-Rümelin 2006) angestrebt wird - man zieht nur überhaupt nicht mehr in Erwägung, dass die Verwirklichung dieser Potentiale strikt individuell43 , abseits gesellschaftlicher Planung, Einbindung und Verwertung stattfinden könnte.

41 Allerdings ist dieser auch von Schelsky ( 197 1: 55 f. ) vertretenen Annahme, Humboldt löse das Bildungssubj ekt aus dem gesellschaftlichen Gefüge, durchaus widersprochen worden, denn ))eS ist ein Missverständnis, wenn von dieser Bildungs- und Wissenschaftskonzeption gesagt wird, sie werfe das Individuum auf seine personale Einsamkeit zurück und enthebe es [ ... ] den gesellschaftlichen Zwängen und Verpflichtungen « (Riede! 1977: 237). Vielmehr sei »Einsamkeit [ .. . ] kein sozialer Dauerzustand; sie ist ein Durchgangsstadium zur Selbstverständi gung des Individuums und zu jener Bildung, die es in wechselnder Lage [ ... ] in der Gemeinschaft erfährt « (ebd.: 238). 42 Die stärksten Argumente gegen individuelle Besonderung trägt Hege! in seiner Entfremdungstheorie vor. Wirklich ist am Einzelnen nur, was allgemein anerkennungsfähig ist: »Wenn daher fälschlicherweise die Individualität in die Besonderheit der Natur und des Charakters gesetzt wird, so finden sich in der realen Welt keine Individualitäten und Charaktere, sondern die Individuen haben ein gleiches Dasein füreinander; jene vermeintliche Individualität ist eben nur das gemeinte Dasein, welches in dieser Welt, worin nur das sichselbstentäußernde und darum nur das Allgemeine Wirklichkeit erhält, kein Bleiben hat. « (Hege! 1807/1970: 364) 43 Diese Diagnose gilt zumindest für die bildungstheoretische Aktivierungsrhetorik im Rahmen der aktuellen europäischen Hochschulreformen (vgl. dazu u. a. Forneck

K LASSISCHE AusGANGSPUNKTE

I 119

Humboldts Vorschlag, das Studium als Moratorium für den Nachwuchs im Staatsdienst zu begreifen, von Adorno (1959) als »Lücke« in der Sozialisation reformuliert, die Bildung erst möglich mache, wird heute programmatisch weitgehend verworfen. Zur Begründung wird dabei nicht auf drohende Einsamkeit verwiesen, sondern zumeist darauf, dass die kulturellen Tradierungen und Deutungsmuster, die der idealistisch geprägte Bildungsbegriffl4 im Gepäck trägt, in massenkulturell geprägten Milieus mindestens obsolet, wenn nicht gar untragbar elitär45 sind. In der Tat dürfte die Verbindung beider Motive den Kontrast zwischen damaligen und heutigen Bildungsidealen erklärbar machen: Während der weiterhin begrenzten, in ihrer Herkunft vergleichsweise homogenen und in ihrer Ausbildung personal kontrollierbaren Gruppe zukünftiger Staatsdiener, die im Preußen des frühen 19. Jahrhunderts die Universitäten durchlaufen sollte, noch vertrauensvoll ein Moratorium der Selbsttindung zugestanden werden konnte, 46

1998, Kirchhöfer 1999, Kehm/Pasternack 2001, Reitz/Draheim 2006). Wirft man hingegen einen Blick auf die benachbarten zeitgenössischen» Lerntheorien «, so verkehrt sich die Einschätzung scheinbar in ihr Gegenteil, da seit der » konstruktivistischen Wende« (vgl. dazu Terhart 1999, sowie kritisch Ludwig 1999) Lernen weithin als ein von außen direkt unbeeinflussbarer Prozess gilt, der in den Subjekten nach individuell unterschiedlichen Schemata strukturiert abläuft - der allein ein anregendes, jedoch nicht überambitioniertes Umfeld mit sozialen Kontakten und komplexen Lernobjekten benötigt (vgl. zum Konstruktivismus als Erkenntnis- und Lerntheori e Baumgartner I 997). Gegenwärtige Lerntheorien, namentlich die >konnektivistische natürlich < gegeben hinzunehmen, sondern als Humankapital aufzuschlüsseln - indem man nachvollzieht, was in einem ökonomischen Kontext aufgewendet werden muss, um sie herzustellen (Schultz 1990: 35 f.). Konkret bedeutet dies etwa, dass» Wissen und Fertigkeiten, der Gesundheitszustand, [ ... ] das äußere Erscheinungsbild, Sozialprestige, Arbeitsethos und persönliche Gewohnheiten als knappe Ressourcen anzusehen sind, die aufzubauen, zu erhalten und zu steigern Investitionen erfordert« (Bröckling 2007: 90). Im Fall des Un-

152

I DIE ENTGRENZTE UNTERNEHMERFIGUR ALS IDEALISIERTES LERN SUBJEKT

ternehmers müsste man wohl noch die Investitionen in Reaktionsfähigkeit, Findigkeit und Innovationsbereitschaft hinzunehmen. Schultz wendet sich vor allem gegen Kirzners Auffassung, Entrepreneurship sei keine marktgängige Ressource: What went wrong in arriving at this conclusion ? The economic value of the costs of opportunity time that entrepreneurs devote to being entrepreneurs is lost sight of. It is as if they devoted their time to being entrepreneurs with no expectation that they would receive any rewards for their endeavors. (Schultz 1990: 36)

Schultz strebt damit eine Begrifflichkeit an, die den Entrepreneur zur volkswirtschaftlich relevanten Größe macht. Allerdings folgt daraus noch keine aktivierende Adressiemng der Unternehmerischen Subjekte oder aller Subj ekte als Unternehmer. Ein solches Programm, das zwar nicht in direkte Auseinandersetzung mit Kirzners oder Schultz' Positionen tritt, diese aber implizit voraussetzt, hat der Management-Theoretiker Peter Drucker in seinem umfangreichen Oeuvre - hier einschlägig »The Age of Discontinuity « (1 968), » Innovation and Entrepreneurship « (1 985) und »Management for the 21. Century « (1999) - vorgelegt. Interessanterweise versucht er dabei neben der Analyse von Wirtschaftsabläufen eine gesellschaftstheoretische Fundiemng seiner Thesen zu entwickeln, die auf eine » Entrepreneurial Society « zuläuft - die Signalwörter lauten Innovation, permanenter Wandel und Wissensarbeit Drucker hebt bei der Charakterisierung des Entrepreneurships betont auf den Verhaltensaspekt ab, d. h. er begreift den Prozess des Unternehmerischen Handeins als etwas grundsätzlich Plan- und Organisierbares. Es handelt sich in seiner Beschreibung um eine komplexe Form des Managements, die als universelle Technologie überall, wo Wandel kontinuierlich organisiert wird, zum Einsatz kommen kann: But everyone who can face up to decision making can leam to be an entrepreneur and to behave entrepreneurically. Entrepreneurship then, is behavior rather than personality trait. And its foundation lies in concept and theory rather than in intuition. (Drucker 1985: 26)

Auf dieser Grundlage kann man detailliert auflisten, was ein Entrepreneur alles zu tun hat: Die Lage beobachten und analysieren, mit Beteiligten sprechen, Pläne entwerfen und revidieren, die eigenen Stärken und Schwächen protokollieren, Ziele formulieren und regelmäßig ihre Erfüllung überprüfen. Man kann darüber hinaus aber auch in Feldern, in denen das Ziel der Profiterwirtschaftung nicht zentral ist, unternehmerisches Handeln entwerfen und fordern: Hence entrepreneurship is by no means limited to the economic sphere although the term originated there. It pertains to all activities of human beings other than those one might term

DIE DISKURSIVE VERSCHIEBUNG DES ENTREPRENEURBEGRIFFS

I 153

)) existential« rather than »social«. And we know that there is little difference between entrepreneurship whatever the sphere. The entrepreneur in education and the entrepreneur in health care [ ... ] do very much the same things, use very much the same tools, and encounter very much the same problems as the entrepreneur in a business or a Iabor union. (Drucker 1985: 27)

Damit ist die oben angekündigte positivierte Demokratisierung des Entrepreneurbegriffs diskursiv tatsächlich hergestellt, und zugleich wird sichtbar, dass sie mit erweiterten Anrufungsmöglichkeiten einhergeht. Denn mit der neuen demokratischen Verflüssigung des Begriffs und seiner Übertragbarkeit in sämtliche Sphären des Sozialen entsteht zugleich die Möglichkeit, die einzelnen Akteme umfassender als bisher anzusprechen und in die Pflicht zu nehmen. Lücken sehen und füllen, ein ständig labiles Gleichgewicht immer wieder neu herstellen, die eigene kleine Chance entdecken und nutzen, und sei es nur durch eigenständige Anwendung von bereits Bekanntem, können viele - und fordern kann man es von allen. Aber damit stellt sich erneut die Frage nach der faktischen Universalisierbarkeit des überdeterminierten Persönlichkeits- und Verhaltensmusters: Sind die klassischen, anthropologisch aufgeladenen, aber charismatisch überhöhten Eigenschaften wie freiwillige Risikoträgerschaft, Verantwortungsübernahme, Innovation und Entscheidungsfahigkeit überhaupt noch anwendbar, wenn Unternehmerschaft eine Chiffre für das politisch und ökonomisch erwünschte Selbstverhältnis eines jeden wird, im Sinne des »Jeder könnte, aber nicht alle können « (Bröckling 2002)? Sind K.irzners Demokratisierung, Schultz' Kapitalisierung und Druckers Methodisierung des Unternehmerbegriffs überhaupt vereinbar mit den Schöpfungs- oder Heilserwartungen, die dieser Begriff nach wie vor mit sich führt? Auffällig ist immerhin, dass sogar Drucker als vorbildliche Entrepreneure bevorzugt große Männer der europäischen Geistesgeschichte heranzieht - allen voran Wilhelm von Humboldt. Zu fragen bleibt schließlich, was durch die demokratisierte Begriffserweiterung strukturell bzw. diskursiv möglich gemacht wird. Etwa die flächendeckende Einführung von Lehrstühlen für Entrepreneurship an reformorientierten Fachbereichen? Mit der Aufgabe, dieses Fach zu lehren, setzen sie sich dem Paradox aus, ein Verhalten willentlich hervorrufen zu wollen, dessen Zustandekommen sehr unterschiedlich, nämlich als »Konglomerat aus Person und Situation« (Jacobsen 2003: 242) beschrieben wird und nach Auffassung der meisten Theoretiker nur partiell erklärt werden kann. So meint auch der systemtheoretisch inspirierte Schumpeterianer Jochen Röpke: »Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Komplex> Unternehmertum< lässt sich bis heute >wissenschaftlich exakt< nicht leisten, wenn damit Aussagen über eindeutige Ursache-Wirkungs-Beziehungen gemeint sind.« (Röpke 2002: I)

I DIE ENTGRENZTE UNTERNEHMERFIGUR ALS IDEALISIERTES LERN SUBJEKT

154

5.4

DIE ENTGRENZUNG DES UNTERNEHMERISCHEN ÜBER DAS ÖKONOMISCHE HANDELN HINAUS Das Individuum der Zukunft wird selbstverantwortlicher und in Bezug auf sein Leben >untemehmerisch < tätig sein [ ... ] In allen Lebensbereichen sind personale Schlüsselqualifikationen zu vermitteln. Diese sind insbesondere: soziale Kompetenz, Verantwortungsbereitschaft, Nachhaltigkeitsbereitschaft,

Durchsetzungsbe-

reitschaft, Kompromissfahigkeit, Selbstverwirklichungsmotiv, Leistungsmotiv, Selbstwirksamkeitserwartung, Unabhängigkeitsstreben, Stressresistenz,

Ungewissheitstoleranz,

emotionale

Stabilität, Optimismus, Unkonventionalität/Kreativität, Problem-Löseorientierung, Risikobereitschaft und Selbstorganisationsfähigkeit (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2003: 5; lOf.)

In der seit den 1980er Jahren anhaltenden Renaissance des Unternehmerbegriffs haben sich die Akzente noch einmal verschoben - namentlich auf individuelle Selbstführung. Seither ist die Analyse der Unternehmerfigur verstärkt zum Gegenstand der Arbeits- und Betriebspsychologie avanciert (vgl. von Rosenstiel et al. 1998, Lang-von Wins 2004; psychoanalytisch: Kets de Vries 1998), aber ebenso prägt sie die Rhetorik von Programmen der Arbeits-, Sozial- und Bildungspolitik (etwa die Agenda 2010 oder den Zukunftsbericht Bayern-Sachsen 1997) 1K. In die-

18 Nicht zuletzt hat sich die Bezeichnung in jüngerer Zeit auch im zivilgesellschaftlich bestimmten dritten Sektor als »Social Entrepreneurship« etabliert. Darunter wird im Wesentlichen individuelles bürgerschaftliebes Engagement von Unternehmerpersönlichkeiten gefasst, die »mit einem neuen Ansatz eine nicht oder bisher nur unzureichend gelöste gesellschaftliche Aufgabe angeh[ en]. « (Memorandum der Sylter Runde 2004: 3) »Social Entrepreneurs« werden dort als Menschen gekennzeichnet, »die sich mit unternehmerischem Engagement innovativ, pragmatisch und langfristig für einen bahnbrechenden gesellschaftlichen Wandel einsetzen « (ebd.). Ihr Handeln wird z. B. von internationalen Non-Profit-Organisationen wie Ashoka (http://www. germany.ashoka.org, 20. 04. 20 12) monetär und ideell gefördert. Zur wissenschaftlichen Einordnung des sozialen Entrepreneurships verweisen Beyes/Jäger auf den Vor-

DIE ENTGRENZUNG DES UNTERNEHMERISCHEN ÜBER DAS ÖKONOMISCHE HANDELN HINAUS

I 155

semMedium wird es schließlich möglich, die Förderung unternehmerischer Qualitäten tentativ mit Persönlichkeitsbildung überhaupt gleichzusetzen: Der Umgang mit Unbestimmtheit, mit Komplexität, Risikobereitschaft, Überzeugungskraft und Netzwerkarbeit sind nun exakt jene Kompetenzen, die erfolgreiche Unternehmer auszeichnen [ ... ]; Erziehung zur Selbstständigkeit - ein uraltes Thema der Pädagogik - zu eigenverantwortlichem Tun, zu theoretischer Reflexion und zu solidarischem Handeln sind die modernsten Antworten auf die Herausforderungen der Postmoderne. (Braun 2003: 7)

Ich möchte hier abschließend nur skizzierend andeuten, welche Realprobleme sich hinter solchen Chiffren verbergen können. Das führt mich zurück zum in Reform begriffenen Hochschulbereich, dem nun seit über zehn Jahren das unternehmerischeDenken und Handeln (Daxner 1999; Müller-Böling 2000) dringend angeraten wird19. Zuweilen empfiehlt man sogar eine Hochschule, in der » die klassische humboldtsche Doppelfunktion, Lehre und Forschung, um Unternehmertum erweitert ist [ ... ]. Die unternehmerische Wissensgesellschaft [ .. .] entfaltet sich durch Unternehmerische Kopplung von Hochschule und Wirtschaft.« (Röpke 2001: 2) Dabei werden nicht nur die Entscheidungsträger der Institution bzw. Organisation Hochschule und ihrer Teileinheiten als Unternehmer adressiert, auch ihre» Kunden « sind aktuell aufgefordert, ein souveränes, innovativeres und zielorientierten Verhältnis zu ihrem Bildungssystem auszuprägen20 . Neben und

schlag von Steyaert/Katz (2003), es handle sich um einen » sozial[en] Handlungstyp, der überall und ständig stattfinden kann- ein alltägliches Phänomen, das nicht zwingend Organisationen oder gar Volkswirtschaften verändert, sondern jegliche sozialen Beziehungsgefüge « (Beyes/Jäger 2005: 25). 19 Die Hoffnungen auf größere Effektivität und Effizienz gehen dabei durchaus mit Erwartungen zu einer mentalen Veränderung der Hochschullandschaft einher: » Dezentralisierung, Autonomie und Wettbewerb können eine neue Universitätskultur schaffen, die zu Eigeninitiative, zur Entfaltung eigenständiger Profile und zur Entwicklung unternehmerischer Kompetenzen bei Studierenden und Hochschullehrern anregt. Und aus Universitäts-Verwaltern müssen Universitätsgestalter werden mit entsprechenden Führungseigenschaften, Motivationen und einer Organisationsstruktur, die die Entfaltung dieser Eigenschaften erleichtert, statt sie zu behindern. « (Braun 2003: 8) 20 Masschelein/Simons (2005: 69) sprechen hier in Anlehnung an Foucault vom » Lerndispositiv«, welches im fortgeschrittenen Liberalismus benötigt werde: » eine[m] strategischen Komplex, der auf die Sicherstellung der Veränderung abzielt. Die Richtung dieser Veränderung ist nicht mehr etwas, worüber der Staat entscheidet, sondern

156

I DIE ENTGRENZTE UNTERNEHMERFIGUR ALS IDEALISIERTES LERN SUBJEKT

unterhalb der Anstrengung, einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum zu schaffen, bezwecken die Reformen eine höhere Bildung, die auflebenslange Weiterqualifikation umgestellt und »durch private Eigenbeteiligung marktförmig erschlossen« wird, sowie Hochschulen, die sich rhetorisch und organisatorisch Untemehmen annähem (Bultmann/Schöller 2003: 330). Auch spricht einiges dafür, die Angleichung als neue >Regierungsform < zu beschreiben (vgl. Masschelein/Simons 2005 ; Reitz/Draheim 2006): Da die klassischen, zwischen Politik und individueller Autonomie oszillierenden Formen akademischer Führung immer weniger greifen, sollen den akademischen Subjekten mit dem Modell der Markt- und Wettbewerbsorientierung wieder klarere Verhaltensstandards gezeigt und vermittelt werden. Diese Annahme lässt sich u. a. durch einen inoffiziellen Gegendiskurs stützen. Mit der Ansprache von Lehrenden und Lemenden als Untemehmer, die nicht zuletzt aus den Reihen der Bildungspolitik und -administration geäußert wird, konkurriert die Binnenperspektive vieler Hochschullehrender, die sich über mangelnde Verlässlichkeit, Initiative, Durchhaltefähigkeit und Eigenständigkeit ihrer Studierenden beklagen 21• Möglicherweise liegt das Realproblem in der Schnittmenge der beiden konträren Beschreibungsweisen: die anthropologischen Grundzüge des entgrenzten Untemehmerbegriffs decken sich nahezu mit den erwünschten Eigenschaften studierfähiger Subjekte. Gestützt wird diese Vermutung durch den Umstand, dass >Subjektivität< im Sinne von Eigenständigkeit, Selbstführung und Handlungsfähigkeit scheinbar in der Hochschulbildung nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Stattdessen wird mit vielfältigen Strategien daran gearbeitet, sie synthetisch herzustellen, etwa durch Coaching, Schlüsselkompetenztraining oder Beratung und Supervision. 22

sie ist abhängig von den individuellen und kollektiven Bedürfnissen des untemehmerischen Selbst.« 21 Zu vermuten ist, dass die Demokratisierung von Hochschulbildung, die mit dem Bologna-Prozess fortschreitende Öffnung der Hochschulen für die so genannten» bildungsferneren Schichten«- hinter der bildungspolitisch u. a. die seit Jahren geforderte Erhöhung der Akademiker-Quote im OECD-Einzugsgebiet steht (vgl. Kap. 2; sowie Reitz/Draheim 2006: 375)- diese Problem wahrnehmung weiter verti eft. 22 Auf der Ebene der strategischen und praktischen Umsetzung von Studienreformprozessen begegnen uns sowohl integrative als auch additive Vermittlungskonzepte: während bei Ersteren so genannte >Mikromodule>Untemehmerischen Handeins « als Handeln schlechthin wird er zum >leeren Signifikanten black box< bleiben, sofern sich ihr Verhalten systematisch beschreiben und beeinflussen lässt. Um den Prozess ihrer modifizierbaren Eigenaktivität zu modellieren, stehen verschiedene Begriffe aus dem Übergangsfeld von Biologie, Technik und Humanwissenschaften bereit, die kybernetischen oder der Kybernetik eng benachbarten Theoriezusammenhängen entstammen (vgl. dazu Pörksen 2002). Bekannte Fälle bilden etwa die oft synonym verwendeten Begriffe »Selbststeuerung « aus dem Prägungskontext der Regelungstheorie, »Selbstregulation« aus dem Prägungskontext der kognitiven Psy-

2

Luhmann führt diese Form als »Semantisches Artefakt« ein: »Eine Person ist dann nicht einfach ein anderer Gegenstand als ein Mensch oder ein Individuum, sondern eine andere Form, mit der man Gegenstände wie menschliche Individuen beobachtet.« (Luhmann 1995: 148)

162

I SOZIO-TECHNISCHE NETZWERKE UND LERNENDE SCHNITTSTELLEN

chologie3 oder » Selbstorganisation « aus dem Prägungskontext der systemischen Biologie bzw. der Physik. Auch Luhmanns eigene Terminologie der » Selbstreferenz« war in der frühen Phase an die der Kybernetik angelehnt. Für kybernetische Ansätze im engeren Sinn ist entscheidend, dass Abläufe als Regelkreise modelliert werden können - und in eben diesem Kontext wurden auch historisch erstmalig Lernprozesse als technologische Arrangements abgebildet. Instruktiv flir die medientheoretische und wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung der Kybernetik ist Claus Pias' editorische bzw. das Forschungsfeld erschließende Arbeit (2003) über ihre Formierung und Frühzeit. Laut Pias haben die ab Ende der 1940er Jahre entwickelten kybernetischen Modelle » drei Hauptbestandteile, die allesamt auf amerikanische Forschungsaktivitäten der frühen 40er Jahre datieren: erstens den logischen Kalkül der Nervenaktivität von Pitts und McCulloch, zweitens die Informationstheorie Shannons und drittens die Verhaltenslehre von Wiener, Bigelow und Rosenblueth. « Man bemühte sich also, »eine universale Theorie digitaler Maschinen, eine stochastische Theorie des Symbolischen und eine nicht-deterministische und trotzdem teleologische Theorie der Rückkopplung[ ... ] zu einer Theorie zu überblenden[ ... ], die dann für Lebewesen ebenso wie fiir Maschinen, fiir ökonomische ebenso wie für psychische Prozesse, flir soziologische ebenso wie ftir ästhetische Phänomene zu gelten« beanspruchte (Pias 2003 : 13).4 Folgt man der kybernetischen Bewegung (vgl. dazu von Cube 1970) darin, dass sie die» Ursprünglichkeit« der organischen Informations- und Regelungsprozesse adäquat modellhaft abbildet, bietet sie nicht nur eine »formale Metatheorie aller denkbaren Technologien « (Müller 1996: 126), sondern auch eine fundamentale >Technik des Lebendigen als Ideologie< zur ersten Produktivkraft. Sie bestätigen und radikalisieren die These von Adorno, Horkheimer und Marcuse über die Massenkultur - in ihnen gehen Unter- und Überbau ineinander über; die Technik selbst wird zum Schleier, den zuvor die Ideologie darstellte und schränkt zugleich die Möglichkeit eines kritischen Diskurses beträchtlich ein.« 6

Pias (2003: 33) vermutet weit über das oben Geschilderte hinausgehend, dass die kybernetischen Entwürfe die Keimzelle jener Diagnosen bildeten, die unsere Gegenwart als >>Wissens- bzw. Informations- oder gar Kontrollgesellschaften zu fassen versuchen - Gesellschaften, in denen man mie mit etwas fertig wird< und deren postmoderne Kommunikations- und Verkehrsformen explizit auf die Kybernetik datieren«. Auch für Lyotard (1986: 20f.) zeichnet sich das » Postmoderne Wissen« durch »die Probleme der Kommunikation und die Kybernetik aus, die modernen Algebren und die Informatik, die Computer und ihre Sprachen, die Probleme der Sprachübersetzung und die Suche nach Vereinbarkeiten zwischen Sprachen«.

7

Wie umfassend die kybernetischen Anstrengungen waren, um die Lehr- und Lerntechnologien terminologisch zu revolutionieren, mag die kursorische folgende Zusammenstellung zentraler reformulierter Grundbegriffe der Didaktik aus dem Begr!ffi·wörterbuch der kybernetischen Pädagogik zeigen: »Adressat: Mensch, dessen

Lernen durch einen Lehrprozess bewirkt wird, welcher für Menschen hinsichtlich ihrer Psychestruktur von einer augewandten Didaktik aus geeignet erscheint. « (Frank/ Hollenbach 1973: 17) » Bildungsalgorithmus: a) Gesamtheit der Regelung, welche das

164

I SOZIO-TECHNISCHE NETZWERKE UND LERNENDE SCHNITTSTELLEN

eine Erziehung, die auf Logik, Semantik und Kybernetik aufgebaut ist«, nicht weniger als »Grundlagen für das Zurechtfinden in der zukünftigen [ ... ] Welt« (Steinbuch 1969: 9). Wichtig ist hierbei nicht nur der überzogene Anspruch, der die Kybernetik als Gesamtprojekt inakzeptabel machte, sondern auch die faktisch eneichte Übertragbarkeit, luaft derer sich ihre einzelnen Konzeptionen trotzdem in den verschiedensten Feldern festsetzen konnten. Das humanwissenschaftliche Fortwirken der Kybernetik könnte jedoch auch inhaltlich bedingt sein. Ulrich Bröckling (2008) verweist auf die - durch ein Übersetzungsmissverständnis beförderte - Popularisierung des Feedback-Begriffs durch Kurt Lewin (vgl. dazu überblicksartig: Heigl-Evers 1979) im Feld der humanistischen Psychologie und Pädagogik, die eine starke sozialpolitische Zielperspektive erkennen lässt:» Lewins Forschungen und die daraus entwickelten pädagogischen und sozialpolitischen Programme changieren zwischen einem sozial-technologischen Planungsoptimismus, der den Aspekt der Selbststeuerung betont, und einem demokratischen Ethos, das die Seite der Selbststeuerung stark macht.« (Bröckling 2008: 329) Diese Verbindung der anvisierten Universalwissenschaft mit universalistischen Leitwerten findet sich auch in der kybernetischen Pädagogik. Die Vision ist dabei eine sich selbst über ihre Zielentwürfe steuernde demoluatische Gesellschaft (Kade/Hujer 1974). »Es gibt [ ... ] keinen Grund«, so ließ Helmar Frank (1971: 218) seine Kybernetischen Grundlagen der Pädagogik enden, »weswegen Untertanengeist und Verantwortungslosigkeit zusammen zukünftig [ ... ] nicht genauso selten werden sollen wie [ ... ] Analphabetismus.«

äußere Verhalten des Lehrsystems gegenüber dem Lernsystem festlegt. « (Ebd.: 36) »Denkzeug: Ein Nachverarbeitung leistendes System ohne Bewusstsein.« (Ebd.: 46) »Lernen: Änderung des Zustandes eines Systems aufgrund der Verarbeitung oder

Speicherung von Nachrichten derart, dass sich das System zu einem Zeitpunkt, der um die ggfs. wirksame Gegenwartsdauer nach dem Abschluss der Nachrichtenverarbeitung liegt, gegenüber dem Referendum der Nachricht zweckmäßiger verhalten kann.« (Ebd.: 100) »Lernsystem: Adressat oder Lernmaschine, teaching system.« (Ebd.: 102) »Personal: Eine Person, deren Bewusstsein dabei bedacht wird, ganz oder teilweise enthaltend.« (Ebd.: 118) »Regelkreis: Kreisrelationale Verknüpfung, die dazu dient, eine veränderliche Größe unabhängig von Störeinflüssen zu machen, so dass sie stets einem vorgebendem Wert zustrebt.« (Ebd.: 125) »Rückkopplung: a) Einwirkung der Ausgangsgröße eines Übertragungssystems über mind. ein weiteres, zwischengeschaltetes solches System auf den Eingang. b) Die kausale Abhängigkeit des augenblicklichen Zustandes eines Übertragungssystems innerhalb eines aus mindestens zwei solchen Systemen bestehend kreisrelationalen Systems von einem früheren Zustand desselben Übertragungssystems. « (Ebd.: 126)

LERNTHEORIEN IM MENSCH-M ASCHINE- VER HÄLTN IS

I 165

Man kann vermuten, dass das multifunktional einsetzbare Instrumentarium einer grundlegenden Formalisier-, Operationalisier- und Darstellbarkeit durch Modelle erst zusammen mit Demokratie- und Partizipationsversprechen das Erfolgsgeheimnis des kybernetischen Projekts bzw. seiner weiterwirkenden Anteile bildetH. Während in der Geschichte des humanistischen und des Unternehmerischen Lernsubjekts Demokratisierung erst eine späte Entwicklung bildet, steht sie in der des sozio-technisch konzipierten also bereits am Anfang. Allerdings ist dieses Subjekt, wie sich zeigen wird, zunächst noch gar nicht sozialisiert, sondern ziemlich einsam.

6.3

LERNTHEORIEN IM MENSCH-MASCHINE-VERHÄLTNIS

Regelkreis-Modelle des Lernens von der kybernetischen Pädagogik bis zum Computer Based Training

Felix von Cube (1982: 20f.) zufolge gibt es einige grundsätzliche Gemeinsamkeiten zwischen den Begriffen Erziehung, Ausbildung, Lehre und Unterricht; eine Ausnahme stellt der Bildungsbegriff dar, weil dieser eine positive »Bewertung bestimmter Erziehungsziele und Erziehungsprozesse« vornehme: Zentral sind angestrebte Verhaltensänderungen, die »durch Lernen erreicht werden soll[en] und nicht durch veränderte Reizsituationen « (ebd.). Es gibt jeweils einen Prozess, bei dem Adressaten an ein Ziel gesteuert werden sollen. Den Kern der Aktivitäten kann daher der »Begriff der ständig korrigierten Steuerung von Menschen zu einem gegebenen Zielverhalten « (ebd.) bezeich-

8

»Die Breitenwirkung der Kybernetik war nicht zuletzt dieser ausgeprägten Fähigkeit zur Sprachregelung zu verdanken. Mehr oder weniger plausible Generalisierungen ihres Vokabulars prägten zunehmend die Psychologie der Kommunikation, die Theorie politischer Institutionen und- was für eine technologisch inspirierte Wissenschaft gewiss erstaunlich ist- die soziologische Handlungstheorie. [ .. . ] Konstitutiv für die verallgemeinerte Kybernetik waren funktionale Analogien zwischen technischen Apparaten, biologischen Prozessen und Denkvorgängen. Der weite Bogen kybernetischer Begriffsbildungen sollte in den Worten W. Ross Ashbys gleichermaßen >die Hirnrinde des frei lebenden Organismus, den Ameisenhaufen als funktionstüchtiges Staatswesen und di e menschliche Ökonomie Lehrmaschinen< gehört dabei, dass diese sich den Neigungen und Geschwindigkeiten des Einzelnen anpassen und jeden, wenngleich auf wechselvollen Wegen, einmal zum Ziel führen werden.« (Pias 2003: 29) Eigensinn und Abweichung, früher Störfaktoren, werden hier produktiv gewendet, denn sie dienen dazu, immer neue, unerwartete Anpassungen des Lernenden an seine Umwelt herauszufordern und damit Lernerfolge herzustellen. Jede Lernende sollte also nach ihren eigenen Maßstäben gefördert werden, statt den Vorgaben der Lehrpersonen und dem Durchschnitt der Lerngruppe ausgeliefert zu sein. Mit diesem Ziel schreibt sich die kybernetische Pädagogik emphatisch in das oben geschilderte demokratische Projekt ein. Mit diesen hochgesteckten Zielen verbinden sich zugleich kühne Effizienzerwartungen: »Die große Aufgabe, welche die Kybernetik der Pädagogik stellt, ist die Beschleunigung des Lernens und Umlernens. Die kybernetische Pädagogik ist der Versuch, zur Bewältigung dieser Aufgabe die Kybernetik zur Hilfe zu nehmen und pädagogische Arbeit zu objektivieren.« (Frank 1971: 26) Ob mit Lehrautomaten, »Bildungsalgorithmen«, CUU, dem computer-unterstützten Unterricht, oder PI, der programmierten Instruktion, überall wurden Automatisierung, Formalisierung und Operationalisierung in Regelkreisen angestrebt und getestet. Lernen sollte mit Hilfe informationstheoretischer Grundlagen neu interpretiert- nämlich als Prozess von abnehmender Information zu zunehmender Ordnung - und entsprechend durch Feedback der Apparatur unterstützt werden. Kybernetische Didaktik verstand sich als »Wissenschaft von den möglichen Eingriffen in die Lernprozesse des Menschen« nach dem »allgemeine[n] Prinzip « der» Erzeugung und Beschleunigung informationsabbauender bzw. ordnungsaufbauender Prozesse« (Groothoff 1964: 182 f.). In der Rückschau stellt sich dieses didaktische und pädagogische Projekt so dar, dass »unter dem Titel einer >kybernetischen Pädagogik< sehr ambitionierte theoretische Entwürfe und sehr bescheidene technische Realisierungen hervor [gebracht wurden], deren Diskrepanz wohl bis in gegenwärtige Teleteaching-Konzepte hinein virulent geblieben ist « (Pias 2003: 29). Rückblickend schätzt Jürgen Oelkers (2008) nicht nur die technischen Realisierungen als bescheiden ein. Er geht vielmehr von einer strukturellen Wirkungslosigkeit der kybernetischen Pädagogik insbesondere in Westdeutschland aus,

LERNTHEORIEN IM MENSCH-MASCHINE- VER HÄLTNIS

I 167

deren Axiome Formalisierbarkeit, Objektivierbarkeit und Modellierbarkeit von Lernprozessen allein, wenn überhaupt, durch die Verschmelzung mit durchgreifender Ökonomisierung im Bildungsbereich angekommen seien. Dieses Ankommen führt er allerdings nicht näher aus, sondern beschränkt sich auf den Nachweis der institutionellen Erfolglosigkeit kybernetisch gewandeter Pädagogik, speziell der Arbeiten von Helmar Frank und Felix von Cube. E-Learning

Im engeren lerntheoretischen Rahmen lassen sich zumindest Nachfolgeprojekte der pädagogischen Kybernetik beobachten. Oelkers selbst spricht von der Rückkehr des »programmierten Lernen[s]«, das »in Gestalt des computergestützten E-Learnings, [ ... ) mit dem alten Argument der lndividualisierung9 des Lernens angeboten und verkauft« wird (Oelkers 2008: 228). Verschwunden ist seiner Auffassung nach nur die » Programmierung« im emphatischen Sinne, die einer eher pragmatischen Nutzungspraxis gewichen sei. Dieser Befund ist kaum von der Hand zu weisen, zumindest nicht, wenn man vom heutigen Stand der (deutschen) E-Learning-Debatte ausgeht, wo es derzeit hauptsächlich um lehr- und lernorganisatorische Verbesserungen wie »Prozess- und Servicequalität« bei sinkenden Hochschulbudgets und knappen Personalressourcen geht (vgl. dazu exemplarisch Schulmeister 2006). Tatsächlich fällt im Bereich des oben angesprochenen Qualitätsmanagements auf, dass sich die kybernetische Expertise der Formalisierung und Modellierung von rekursiven Prozessen mit den Zielen der Effektivierung, Steuenmg und Ressourcenoptimierung quasi unbemerkt als neue »Kultur« in den aktuellen Umbau der Hochschulen und ihrer Lehre einschreibt. So werden von Hochschulleitungen Lernmanagementsysteme wie MOODLE 10 oder ILIAS 11 zur Unterstützung der

9

Wenn auch in diesem Zusammenhang unter Individualisierung des Lernens zumeist weniger die Abbildung innerer Lernvorgänge gefasst wird, sondern vielmehr die flexibilisierte Kontextualität des Lemens einer Person (formales versus informelles Lernen, Gruppen- versus Einzelarbeit, Online- versus Präsenzlernen etc.).

10 MOODLE (= Modular Object-Oriented Dynamic Learning Environment) ist eine weit verbreitete frei verfügbare Software zum Aufbau von Lernplattformen resp. Lernmanagementsystemen (http://www.moodle.de/, 12. 04.20 12). II ILIAS ist eine frei verfügbare Software zur Erstellung von E-Leaming-Inhalten und zur Verwaltung von webbasierten Lehrveranstaltungen (http://www.ilias.de/docu/, 12.04.2012).

168

I SOZIO-TECHNISCHE NETZWERKE UND LERNENDE SCHNITTSTELLEN

Präsenzlehre 12 eingeführt. Didaktische Argumente wie die Qualitätsverbesserung der Lehre oder die Etablierung innovativer Lernkulturen stehen hier verstreut neben Rationalisierungserwartungen wie Prozesstransparenz, Serviceoptimierung und Zielgruppenorientierung. Es scheint, dass das kybernetische Arbeitsprogramm in der Betriebswirtschaftslehre und Organisationsentwicklung besonders produktiv geworden ist, denn aus diesen Bereichen kommen die derzeitig im deutschen Lehrbetrieb in Anschlag gebrachten lnstrumente. 13 Doch neben der Feststellung dieser offensichtlichen Strukturreformen lohnt es sich, das Weiterwirken der technologisch untersetzten Individualisierungsversprechen genauer zu verfolgen. Überlebt hat eine im weitesten Sinne nachkybemetische Regelungslehre, das Instruktionsdesign (vgl. dazu etwa lssing 1997) - auch »Drill-and-Practice« genannt - , zunächst in den seit den 1980er Jahren in der Erwachsenenbildung eingesetzten, meist modular und instruktiv aufgebauten »computer-based Trainings « (CBTs), die zu Beginn der 1990er in »web-based Trainings« (WBTs) überführt wurden. Diesen E-Learning-Vorläufern ist gemeinsam, dass sie zumeist als Selbstlernprogramme (z. B. zum Sprachenlemen) flir das autonome zeit- und ortsungebundene Lernen gestaltet und signifikant häufig an kognitivistischen Lerntheorie-Ansätzen orientiert sind, wenn auch behavioristische Verstärkungs- und Bestrafungsmodelle ebenfalls weit verbreitet waren 14 •

12 Siehe als Beispiel einer technologisch fundierten, methodisch-didaktischen Plattform das u. a. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung aufgebaute Portal » e-teaching.org« (http://www.e-teaching.org, 12. 04. 2012). 13 Wissenschaftshistorisch sind für die Anschlussstelle der Kybernetik zur Organisations- und Betriebswirtschaftslehre die Arbeiten des britischen Kybernetikers und Managementtheoretikers Stafford Beer einschlägig (vgl. exemplarisch Beer 1967 und 1973). Die Gedanken Beers wurden im deutschsprachigen Raum u. a. vom St. Gallener Wirtschaftswissenschaftler Fredmund Malik aufgenommen und in systemischer Ausprägung weitergedacht (einschlägig: Malik, zuerst 1984, 1O.Aufl. 2008, siehe auch http://www.kybernetik.ch/fs _ mankyb.html, 12. 04. 20 12). 14 »Ein behavioristisches CBT-Programm ist eine absolute Autorität, welche beurteilt und >weißglobal brain Menschen als Wissensträger < erhalten ?2~ Diese Fragen verweisen auf eine Spannung im konnektivistischen Modell: einerseits scheint sich hier die posthumanistische Vision der l990er Jahre fortzuschreiben, dass das Subjekt aufein » Schaltmoment im Medienverbund« im bolzsehen Sinne reduziert werde. Andererseits erscheint aber genau diese sozio-mediale Einhegung nunmehr als Multiplikation menschlicher Erkenntnis-, Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten allgemein positiviert worden zu sein29. Diese spannungsreiche Kopplung lässt sich besser begreifen, wenn man realisiert, dass auch und gerade im Kontext der » Social Software « die soziale Darstellung und psycho-soziale Aktivierung von Individualität von zentraler Bedeutung ist. Gefragt sind nicht allein vernetzte Wissensbestände, sondern zugleich die je persönlichen Motivationen und Anreize, sie zu nutzen, zu teilen und zu erweitern30. Im Hintergrund steht die Genese einer sozio-technisch angereicherten und dadurch zunehmend entgrenzten Lebenswelt3 1 • Das Internet ist mittlerweile » bewohnbar« geworden, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass weltweit immer mehr Personen bereit sind, ihre reale (Offline-)Identität, ihre Biografie und ihre Expertise für andere aufbereitet darzustellen, private und professionelle Kontakte und Kooperationen anzubahnen (z. B. zur Sozialkapitalbildung), vor allem aber Erfah-

28 Immerhin geht es Siemens auch um Sinn und Bedeutung: >> Üur desire to connect - to externalize - isa vital component ofthe leaming process. Inslead of learning for careers, we have an obligation to create a leaming ecology where leam ers are able to shape their own meaning. « (Siemens 2006a: 33) 29 Man ist versucht, an eine partielle Realisierung von Donna Haraways Cyborg Manifesto zu denken.

30 Zu Partizipation und Lernen am Beispiel Weblogs: Panke/Gaiser/Draheim (2007: 81 ff.). 3 1 Der lntemetforscherin Danah Boyd zufolge (2007: 2) werden durch das Social Web zunehmend realweltliche Strukturen in die Internetwelt eingelassen, zumindest wenn es um die Akteursgruppe der amerikanischen Teenager geht: » People are modeling their offline social network; the digital is complementing (and complicating) the physical.«

LERNTHEORIEN IM MENSCH-MASCHINE-VERHÄLTN IS

I 175

rungenund Wissen jeglicher Art auszutauschen bzw. gemeinsam herzustellen32 . Diese Entwicklung leistet der Integration des anfangs »virtuellen« Möglichkeitsraums Internet in die reale soziale Lebenswelt weiteren Vorschub und vice versa. Daneben durchdringen sich die sozio-technischen Kommunikationsformen und medialen Repräsentationen zunehmend mit der Verbreitung und Veralltäglichung von sozialen Rückkopplungs-, Feedback- undAushandlungsprozessen; das heißt, Internetkommunikationen wirken so auf Realweltkommunikationen zurück. Aus diesem Möglichkeitspool schöpft inzwischen auch die avancierte webbasierte Didaktik33 . Lehrveranstaltungen mit kommunikativer Webanhindung in Echtzeit versuchen etwa, die informelle Selbstorganisation Studierender anzuregen oder einzuspannen. Neben der so erweiterten Kommunikation lassen sich lerntechnologische Angebote nennen, die direkt auf die optimierte Selbstrefiexion, Selbstverantwortung, Selbstdarstellung und Dokumentation des lernenden Individuums abzielen. Das im anglo-amerikanischen Raum an Universitäten und Bildungsinstitutionen seit den 1990er Jahren genutzte Assessment-Instrument des » Personal Development Planning« (PDP) beispielsweise setzt »on a learner-centred approach which supports and enables the learner to take responsibility for the planning and development of their own learning, and ultimately lifelong learning and career development« (PDP-Policy, University ofthe West ofScotland 2008: 2). Spezifischer wird damit ein Ansatz verfolgt, der Studierende in die Lage versetzen soll, mehr Verantwortung für die Organisation und Strukturierung ihrer Lernprozesse zu übernehmen, weniger auf institutionelle Vorgaben zu setzen, sich stärker ihrer eigenen Lernbedürfnisse und Lernziele im Hinblick auf ihre berufliche Karriere bewusst zu werden sowie grundsätzlich eine positive Haltung zum Lernen zu etablieren:

32 Auf Social-Networking-Plattformen aktiv zu sein, heißt insbesondere von anderen auffindbar (Profiling), bewertbar (Ranking), anerkennbar (Sozialkapitalbildung) und kritisierbar bzw. verletzbar (Cyberbullying) zu sein. Vor allem die beiden letzteren Qualitäten sprechen in besonderem Maße für einen taktvollen (für diesen Hinweis danke ich Dominik Schrage) und sorgfältigen Umgang mit persönlichen Daten (Konzeption, Gestaltung, Kontrolle), auch wenn die Fluidität und gefühlte Oralität des Webmediums in Richtung kompromissloser Selbst- Transparenz und Authentizität weist. Siehe dazu auch näher den letzten Abschnitt dieses Kapitels. 33 Exemplarisch als Überblick: Apostolopoulos et al. (Hg. 2009), Zauchner et al. (Hg. 2008), Dittler et al. (Hg. 2007).

176

I SOZIO-TECHNISCHE NETZWERKE UND LERNENDE S CHNITTSTELLEN

POP will help students to: become more effective, independent and confident leamers; understand how they are leaming and relate their leaming to a wider context; manage their own learning according to their individual needs improve their generat skills for study and career management; talk about their personal goals and evaluate progress towards their achievement; take a morepositive attitude to learning. (Ebd.).

Weblogs als Lernjournale und digitale Lebensläufe bzw. Portfolios als Dokumentationen von Lernfortschritten können als Werkzeuge zur empirischen Umsetzung dieser oder ähnlicher Palieies gelten (z. B. Egloffs tein/Oswald 2008, Lüders 2007, kritisch Reichert 2008). Mit ihnen sind Lernende konkret aufgefordert, ihr Wissen über sich und ihr je eigenes Lernverhalten zu verschriftlichen und auf diese Weise der kontinuierlichen Selbstreflexion, Fremdbewertung und Erweiterung zugänglich zu machen. Insbesondere die Bedeutung des permanenten Feedbacks wird zum Aufbau einer » more positive attitude« zum Lernen in der Literatur immer wieder hervorgehoben (dazu auch Reinmann 2008). Bloch (2009: 202 ff.) analysiert den PDP-Ansatz kritisch als sich verbreitende gouvernementale Praxis des um sich greifenden » self assessment«. Damit scheint ein diskursiver Extrempunkt sozialer Einbindung des Lernsubjekts erreicht zu sein: Die in der Internet-Lebenswelt trainierte Individualitätsdarstellung34, -adressierung und -vernetzung wird in ein aktivierendes Lernarrangement rückübersetzt, das das lernende Individuum selbst zum Gegenstand hat35 . Freilich hören auch hier die für Aktivierung typischen, eigensinnigen An-

34 Die Social-Media-Forscherin Danah Boyd vertritt die angesprochene Verschmelzung von Real- und Internetwelt in besonderer Weise; sie bedient sich hierbei der KörperMetapher: » l see profil es as >digital bodies < in that they both uniquely identify a person and are the product of self-reflexi ve identity production. To me, profil es locate and are the combination of controlled self-descriptions in the context of social Connections. « (Boyd 2008: 125) 35 Christine Rosen bemerkt dazu treffend: » [ ... ] today's social networking sites organize themselves around metaphors of the person, with individual profiles that Iist hobbies and interests. As a result, one's entn!e into this world generally isn 't through a virtual neighborhood or community but through the revelation of personal information.« (Rosen 2007: 22) Rosen bezweifelt hingegen Boyds Optimismus im Hinblick auf die Unterstützung informeller Lernprozesse: » As Danah Boyd, [ ... ] told [ ... ]social networking promotes >informallearning [ ... ] It's where you leam socialnorms, rules, how to interact with others, narrative, personal and group history, and media Ii-

NARRATIVE KONZEPTIONEN UND SOZIO-TECHNISCHE DARSTELLUNGEN

I 177

eignungsstrategien von Adressaten nicht auf. PDP wird nach Praxisberichten entweder (wo es freiwillig ist) oft selektiv genutzt oder (wo es verbindlich gemacht wurde) verbreitet mit formellen Als-ob-Auskünften bedient. Möchte man die Hinterbühne dieser empirischen Anhaltspunkte näher erkunden, empfiehlt es sich, das Thema der Selbstdarstellung bzw. Identitätsproduktion im Netz diskursanalytisch zu betrachten. Die neue Ära der webbasierten Selbsterzählung und Selbstdarstellung bedeutet nämlich keineswegs, dass sich die Individuen uneingeschränkt dem sozialen Medium, nicht einmal im geschützten institutionellen Rahmen zu Bildungszwecken, preisgeben. Vielmehr macht der folgende, ergänzende genealogische Anlauf Strategien der Selbstkontrolle und -beschränkung sichtbar.

6.4

NARRATIVE KONZEPTIONEN UND SOZIO·TECHNISCHE DARSTELLUNGEN PERSONALER UND SOZIALER IDENTITÄT

Fiktionalisierung und Pluralisierung die Möglichkeiten narrativen Selbstbezugs Eine Persönlichkeit, das sei der »Ausgangspunkt und Fluchtpunkt alles dessen, was gesagt wird, und wie es gesagt wird«, soll Robert Musil einmal festgestellt haben, und Arnold Gehlen gab einem ähnlichen Gedanken im letzten Satz seines Buches »Die Seele im technischen Zeitalter« Ausdmck: » Eine Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Fall.« (2007: 133) Mittlerweile sind derartig zentral-perspektivische, auf Essenz zielende Vorstellungen kohärenten und gleichsam opaken Selbstseins nicht nur vielfach kritisiert, sondern auch genealogisch und gesellschaftstheoretisch relativiert worden. Entsprechend treten, wie bereits im Feld der humanistischen Psychologie zu sehen war, an die Stelle des Persönlichkeitsbegriffs relationale Kategorien wie >Identität < oder >Selbst Selbst