Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa 9783110912074, 9783899493085

Very different systems for corporations have always existed in Europe. These differences relate not only to the manageme

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Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa
 9783110912074, 9783899493085

Table of contents :
Vorwort
Verzeichnis der Mitglieder des Arbeitskreises „Kapital in Europa“
Das (feste Grund-)Kapital der Aktiengesellschaft in Europa – Zusammenfassung der Überlegungen des Arbeitskreises „Kapital in Europa“
Teil 1: Systematische Darstellungen
Das Mindestkapital im System des festen Kapitals
Bar- und Sachkapitalaufbringung bei Gründung und Kapitalerhöhung
Kapitalerhaltung – Das System der Kapitalrichtlinie versus situative Ausschüttungssperren –
Verdeckte Gewinnausschüttung und Kapitalschutz im Europäischen Gesellschaftsrecht
Die Rechtspflichten der Geschäftsleiter in der Krise der Gesellschaft sowie damit verbundene Rechtsfolgen im Rechtsvergleich
Insolvenzgründe und Haftung für Insolvenz¬verschleppung – Notwendige Ergänzung des Kapitalschutzes –
Fallgruppen der Durchgriffshaftung und verwandte Rechtsfiguren
Haftung der Geschäftsleiter in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union
Tätigkeitsverbote für Organmitglieder als Gläubigerschutzinstrument
Festes Kapital im Aktienrecht und seine Bedeutung für den Minderheiten- und Anlegerschutz
Zur Reform des Rechts der kapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen
Das Recht der Insolvenzanfechtung und Gläubigerschutz
Zukunft des bilanziellen Kapitalschutzes
Reicht das Vertragsrecht für einen angemessenen Schutz der Gesellschaftsgläubiger und ihrer Interessen aus?
Teil 2: Länderberichte
Großbritannien
England
Gläubigerschutz durch Insolvenzrecht in England
Frankreich
Das Kapital der Aktiengesellschaft in Frankreich
Italien
Legal Capital Rules in Italian Company Law and the EU Perspective
Niederlande
Capital and Capital Protection in The Netherlands: A Doctrine in Flux
Spanien
Capital Protection in Spanish Company Law
Polen
A Report on Selected Aspects of Legal Capital under Polish Code of Commercial Companies
USA
Capital Requirements in United States Corporation Law
Kapitalgesellschaften ohne gesetzliches Kapital: Lehren aus dem US-amerikanischen Recht
Sachregister

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Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa ZGR-Sonderheft 17

Begründet von Marcus Lutter und Herbert Wiedemann Herausgegeben von Holger Fleischer, Wulf Goette, Heribert Hirte Peter Hommelhoff, Klaus J. Hopt, Gerd Krieger, Hanno Merkt, Hans-Joachim Priester

Sonderheft 17

De Gruyter Recht · Berlin

Marcus Lutter (Hrsg.)

Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa

De Gruyter Recht · Berlin

∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN-13: 978-3-89949-308-5 ISBN-10: 3-89949-308-7

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2006 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung: WERKSATZ Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort

In Europa bestehen seit eh und je sehr unterschiedliche Systeme der Kapitalgesellschaften. Diese Unterschiede betreffen nicht nur die Leitungsstruktur der Aktiengesellschaften mit den monistischen oder dualistischen Systemen der Leitungsorgane, sie betreffen auch die Prinzipien des festen Kapitals: dieses feste Kapital ist dem englischen und irischen Recht fremd und mußte in diese Rechte (nur) für die Aktiengesellschaft (plc) aufgrund der 2. EU-Kapital-Richtlinie von 1976 übernommen werden. Angefreundet hat man sich damit in diesen Ländern nie. Daher haben das britische Accounting Standards Board und das Company Law Centre am British Institute of International and Comparative Law vor einigen Jahren eine Untersuchung über den Nutzen dieses Systems durch eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Jonathan Rickford angestoßen und gefördert. Der Bericht dieser Arbeitsgruppe ist im Jahre 2004 erschienen (European Business Law Review [2004] 919). Er kommt zu dem Ergebnis, das System des festen Kapitals sei teuer und überflüssig; er empfiehlt auf diesem Hintergrund die Abschaffung der 2. Richtlinie. Die britische Regierung hat sich dieser Auffassung angeschlossen und drängt die Europäische Kommission zu einer entsprechenden Initiative. Auf diesem Hintergrund hat sich eine Gruppe von deutschen Kennern des Rechts der Kapitalgesellschaften aus Wissenschaft und Praxis zusammengefunden, um ihrerseits Sinn und Nutzen des festen Kapitals und seiner einzelnen Elemente ganz breit zu untersuchen und zwar je unter den Aspekten • • • •

was soll das betreffende Rechtsinstitut leisten? was leistet es tatsächlich? welche Kritikpunkte gibt es? welche Vorschläge und Alternativen gibt es?

Der Arbeitskreis hat sich – anders als die Rickford-Gruppe – von Anfang an um die Mitwirkung ausländischer Kolleginnen und Kollegen bemüht, was auf das Erfreulichste gelungen ist. In diesem Band finden sich, außer einer Zusammenfassung der Ergebnisse •



insgesamt 15 Einzeluntersuchungen zu Aspekten des Kapitals in Deutschland und seiner Bezüge zu angrenzenden Rechtsbereichen (z. B. Rechnungslegung, Insolvenz); 9 Berichte zum festen Kapital im Ausland (Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Polen, Spanien und USA), je unter den gleichen Fragestellungen wie die Abhandlungen zum deutschen Recht.

Die britische Initiative richtet sich gegen die 2. Richtlinie. Diese aber betrifft nur die Aktiengesellschaft in Europa. Dem entspricht die hier vorgelegte Unter-

VI

Vorwort

suchung: sie behandelt das feste Kapital in der Aktiengesellschaft, nicht das Kapital in der GmbH. Die Untersuchung will die Europäische Kommission vom Nutzen der 2. Richtlinie überzeugen. Das ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen erscheint diese Untersuchung zur Erleichterung der Arbeit in Brüssel in leicht gekürzter Fassung auch in englischer Sprache als Sonderheft der European Company and Financial Law Review (ECFR). Zum anderen enthält sie (fast) keine Vorschläge an den deutschen Gesetzgeber, wie er das System des festen Kapitals in der Aktiengesellschaft verbessern und von Schlacken befreien könnte. Das soll – möglicherweise im Kontext mit Fragen zur Reform der GmbH – später nachgeholt werden. Solche Verbesserungen und Vereinfachungen sind nach Überzeugung des Arbeitskreises vielfach möglich und würden das nützliche System des festen Kapitals leistungsfähiger machen. Diese Untersuchung wäre ohne die großzügige und unbürokratische Hilfe der Thyssen-Stiftung nicht möglich gewesen. Dafür danken ihr alle Mitglieder des Arbeitskreises sehr herzlich. Bonn, im Juni 2006

Marcus Lutter

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Mitglieder des Arbeitskreises „Kapital in Europa“

V

. . .

IX

Marcus Lutter: Das (feste Grund-)Kapital der Aktiengesellschaft in Europa – Zusammenfassung der Überlegungen des Arbeitskreises „Kapital in Europa“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Teil 1: Systematische Darstellungen Horst Eidenmüller, Barbara Grunewald und Ulrich Noack: Das Mindestkapital im System des festen Kapitals . . . . . . . . . . . .

17

Andreas Pentz, Hans-Joachim Priester und André Schwanna: Bar- und Sachkapitalaufbringung bei Gründung und Kapitalerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

Rüdiger Veil: Kapitalerhaltung – Das System der Kapitalrichtlinie versus situative Ausschüttungssperren – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Holger Fleischer: Verdeckte Gewinnausschüttung und Kapitalschutz im Europäischen Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Susanne Kalss, Nikolaus Adensamer und Janine Oelkers: Die Rechtspflichten der Geschäftsleiter in der Krise der Gesellschaft sowie damit verbundene Rechtsfolgen im Rechtsvergleich . . . . . . . 134 Karsten Schmidt: Insolvenzgründe und Haftung für Insolvenzverschleppung – Notwendige Ergänzung des Kapitalschutzes – . . . . 188 Hanno Merkt und Gerald Spindler: Fallgruppen der Durchgriffshaftung und verwandte Rechtsfiguren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Tim Drygala: Haftung der Geschäftsleiter in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Heribert Hirte, Tim Lanzius und Sebastian Mock: Tätigkeitsverbote für Organmitglieder als Gläubigerschutzinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Jens Ekkenga und Walter Bayer: Festes Kapital im Aktienrecht und seine Bedeutung für den Minderheiten- und Anlegerschutz . . . . 342 Ulrich Huber und Mathias Habersack: Zur Reform des Rechts der kapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen . . . . . . . . . . . . . . 370

VIII

Inhalt

Christoph G. Paulus: Das Recht der Insolvenzanfechtung und Gläubigerschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Bernhard Pellens und Thorsten Sellhorn: Zukunft des bilanziellen Kapitalschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Peter Mankowski: Reicht das Vertragsrecht für einen angemessenen Schutz der Gesellschaftsgläubiger und ihrer Interessen aus? . . . . . . 488 Vermerk Die Ausarbeitung von Christoph Kuhner „Zur Zukunft der Kapitalerhaltung durch bilanzielle Ausschüttungssperren im Gesellschaftsrecht der Staaten Europas“ ist bereits in ZGR 2005, 753–787 erschienen.

Teil 2: Länderberichte Großbritannien Eva Micheler: England

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511

Thomas Bachner: Gläubigerschutz durch Insolvenzrecht in England . . 526 Frankreich Isabelle Urbain-Parleani: Das Kapital der Aktiengesellschaft in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Italien Massimo Miola: Legal Capital Rules in Italian Company Law and the EU Perspective . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 Niederlande Harm-Jan de Kluiver und Stephan F. G. Rammeloo: Capital and Capital Protection in The Netherlands: A Doctrine in Flux . . . . 655 Spanien José Miguel Embid Irujo: Capital Protection in Spanish Company Law

679

Polen Andrzej Kidyba, StanisŁaw SoŁtysiŃski und Andrzej SzumaŃski: A Report on Selected Aspects of Legal Capital under Polish Code of Commercial Companies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 USA Richard A. Booth: Capital Requirements in United States Corporation Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717 Andreas Engert: Kapitalgesellschaften ohne gesetzliches Kapital: Lehren aus dem US-amerikanischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . 743 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799

Verzeichnis der Mitglieder des Arbeitskreises „Kapital in Europa“ Bachner, Thomas Bayer, Walter Booth, Richard A. Conac, Pierre-Henri Drygala, Tim Eidenmüller, Horst Ekkenga, Jens Embid Irujo, José Miguel Engert, Andreas Fleischer, Holger Grunewald, Barbara Habersack, Mathias Hirte, Heribert Huber, Ulrich Kalss, Susanne Kidyba, Andrzej Kleindiek, Detlef de Kluiver, Harm-Jan

Kuhner, Christoph Lutter, Marcus

Mankowski, Peter Maul, Silja Merkt, Hanno Micheler, Eva

Miola, Massimo Noack, Ulrich

Dr. jur., Assistenzprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien Professor an der Universität Jena Professor an der Universität Maryland Dr. jur., Maître de Conférences an der Universität Paris (Panthéon-Sorbonne) Professor an der Universität Leipzig Professor an der Universität München Professor an der Universität Gießen Professor an der Universität Valencia Dr. jur., Wissenschaftlicher Assistent an der Universität München Professor an der Universität Bonn Professorin an der Universität Köln Professor an der Universität Mainz Professor an der Universität Hamburg Professor an der Universität Bonn Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien Professor an der Universität Lublin Professor an der Universität Bielefeld Honorarprofessor an der Universität Amsterdam; Rechtsanwalt, De Brauw Blackstone Westbroek, Amsterdam Professor an der Universität Köln Professor an der Universität Bonn, Sprecher des Zentrums für Europäisches Wirtschaftsrecht Professor an der Universität Hamburg Dr. jur., Rechtsanwältin, KPMG, Stuttgart Professor an der Universität Freiburg ao. Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien; Senior Lecturer in Law, London School of Economics and Political Science Professor an der Universität Neapel Professor an der Universität Düsseldorf

X

Verzeichnis der Mitglieder des Arbeitskreises „Kapital in Europa“

Paulus, Christoph G. Pellens, Bernhard Pentz, Andreas Priester, Hans-Joachim Rammeloo, Stephan F. G. Röhricht, Volker Schmidt, Karsten

Schwanna, André Sellhorn, Thorsten Soltysinski, Stanislaw

Spindler, Gerald Szumánski, Andrzej Urbain-Parleani, Isabelle Veil, Rüdiger

Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Professor an der Universität Bochum Dr. jur., Rechtsanwalt, Rowedder Zimmermann Haß, Mannheim Honorarprofessor an der Universität Hamburg; Notar in Hamburg Senior Lecturer an der Universität Maastricht Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a. D. Professor an der Universität Bonn, Präsident der Bucerius Law School in Hamburg Dr. jur., Rechtsanwalt, Clifford Chance, Frankfurt a. M. Dr. rer. oec., Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Bochum Professor an der Universität Posen, Rechtsanwalt, Soltysinski Kawecki & Szlezak, Warschau Professor an der Universität Göttingen Professor an der Universität Krakau Professorin an der Universität Paris (René Descartes) Professor an der Bucerius Law School, Hamburg

Das (feste Grund-)Kapital der Aktiengesellschaft in Europa Zusammenfassung der Überlegungen des Arbeitskreises „Kapital in Europa“

von Professor Dr. Dres. h. c. Marcus Lutter, Bonn

Inhaltsübersicht I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kapital der Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mindestkapital und Höhe des Kapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbringung (Leistung) des gesetzlichen oder statutarischen Kapitals Erhaltung des Kapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapital und Insolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftungsdurchgriff auf Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausschluss unseriöser Personen aus dem Management . . . . . . . . Gesellschafterdarlehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfehlungen für die Europäische Kommission . . . . . . . . . . . Nationale Reformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

1 2 7 8 9 12 12 13 13 13 14

I. Einführung 1. Alte und anscheinend bewährte, in der Praxis und Rechtsprechung ausziselierte Rechtsinstitute kommen neuerdings ganz plötzlich unter Druck und Begründungszwang. So erging es der kontinentalen Handelsbilanz mit ihrem Prinzip der Vorsicht und ihrem Satz des ehrbaren Kaufmanns, dass „on ne paie pas des espérances mais des écus“ (Realisationsprinzip). Diese Prinzipien haben ihren kurzen Kampf mit den Informationswünschen der Anleger und Investoren, mit IAS, IFRS und US-GAAP weitgehend verloren. Jetzt steht das ebenfalls kontinentale Prinzip des festen Kapitals (Grundkapitals) unter Druck. Noch vor 30 Jahren wurde es in der 2. Richtlinie von 1976 1 verbindlich festgeschrieben für heute 25 EU- und 3 EWR-Länder, verbindlich auch für die in allen diesen Ländern geltende Europäische Gesellschaft (SE), verbindlich aber auch von der

1 2. Richtlinie vom 13. Dezember 1976 (Kapital-Richtlinie) (77/91/EWG), ABl. EG Nr. L 26 vom 31. 1. 1977, S. 1 ff.

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Schweiz über die Türkei bis nach Russland. Eine vom britischen Accounting Standards Board und dem Company Law Centre am British Institute of International and Comparative Law angeregte Kommission unter der Leitung von Jonathan Rickford kommt hingegen in ihrem Bericht von 2004 2 zu einem vernichtenden Ergebnis über Sinn und Nutzen dieses Kapitals: kostspielig und überflüssig. Überflüssig, weil es weder die Insolvenz der Gesellschaft verhindere noch gewährleiste, dass die Gründer der Gesellschaft ein angemessenes Kapital zur Verfügung stellen müssen. Überflüssig aber auch, weil der Aufwand – wenn die Regeln zum festen Kapital überhaupt etwas bewirkten – in keinem Verhältnis zum Ertrag stehe. Kostspielig, weil es angemessene Ausschüttungen verhindere. Für diese reiche die Feststellung aus, ob die Ausschüttung ohne Gefährdung der Liquidität der Gesellschaft in näherer Zukunft und zur Befriedigung ihrer Gläubiger möglich sei (Solvenztest). Die Rickford-Kommission empfiehlt deshalb die Abschaffung des festen Kapitals als europaweit verbindliche Regelung durch Aufhebung der 2. Richtlinie. Dem folgt die englische Regierung und verlangt von der Europäischen Kommission mit Nachdruck eine entsprechende Initiative. 2. Die 2. Richtlinie, der Rickford-Bericht und die hier veröffentlichten Arbeiten betreffen nur die Aktiengesellschaft. Für sie allein gilt es die anstehenden Fragen zu diskutieren. Demgegenüber ist das Recht der GmbH offen für die Gestaltung der Mitgliedsländer, die davon auch fröhlich Gebrauch machen, wie die neuere Gesetzgebung in Frankreich, Italien und Spanien erweist.

II. Das Kapital der Aktiengesellschaft 1. Das feste Kapital hat in Deutschland eine Tradition von weit mehr als 100 Jahren und ist in all diesen Jahren als Rechtsinstitut nie in Frage gestellt worden. Aber das Institut hat seine Zielrichtung, seine Funktion geändert. Ursprünglich hatte es – wie in den USA 3 – die Aufgabe des Minderheitenschutzes: jeder Aktionär sollte das gleiche pro Aktie leisten müssen und auch tatsächlich leisten, alle die gleichen Chancen bei der Ausgabe neuer Aktien haben und niemand Gefahr laufen, dass seine Aktien verwässert werden. Diese Funktion hat das Kapital durchaus behalten; als seine eigentliche und zentrale Funktion aber wurde etwa seit 1930 der abstrakte Gläubigerschutz gesehen, dessen Regeln zwingend und – anders als beim Minderheitenschutz – auch 2 Jonathan Rickford, Reforming Capital, Report of the Interdisciplinary Group on Capital Maintenance, European Business Law Review (EBLR) 2004, 919, 971ff. 3 Vgl. den Bericht von Richard A. Booth in diesem Band, S. 717 ff.

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bei Zustimmung aller Gesellschafter nicht abdingbar sind und deswegen auch vor Umgehung geschützt werden müssen. Für die einzelnen Gläubiger sind alle diese Regeln belanglos, so lange ihre Schuldnerin, die betreffende Gesellschaft, arbeitet und ihre Schulden bezahlt. Insgesamt betrachtet aber sorgen diese Regeln für eine gewisse Seriosität der Unternehmensführung, die den Gläubigern mittelbar zu Gute kommt. Und in der Insolvenz führen sie zur Anreicherung der Masse und kommen den betroffenen Gläubigern zu Gute, wenn gegen sie verstoßen wurde und von den Gesellschaftern nachgeleistet werden muss. 2. In den anderen Ländern Europas und vielen Ländern in der übrigen Welt hat sich das feste Kapital vor allem mit der GmbH und ihrer Ausbreitung über die Welt seit 1894 fest etabliert. Wie der Bericht von Mme. Urbain-Parléani belegt, ist das feste Kapital in manchen Ländern Europas im Aktienrecht erst später heimisch geworden. Als Institut des Rechts der Kapitalgesellschaften ist es aber in den romanischen und germanischen Rechten und ihren Nachfolgern auf der Welt seit nahezu einem Jahrhundert fest verankert. 3. Immer wieder wird von den Gegnern des festen Kapitals darauf hingewiesen, dass es die Insolvenz der Gesellschaft nicht verhindert und nicht verhindern kann, mithin kein endgültiger Schutz für die Gläubiger ist. Das ist richtig; denn das Kapital ist eben auch unternehmerisches Eigenkapital und unterfällt damit den allgemeinen unternehmerischen Risiken. Aber diese Aussage der Gegner des Kapitals ist trivial: niemand hat je behauptet, das Kapital könne die Insolvenz verhindern und die Gläubiger endgültig schützen. Eigenkapital aber ist gewiss nicht von Schaden. Es fördert die Seriosität der Unternehmensführung: bei der Gründung unterstützt es den unternehmerischen Start und verhindert das rasche Abgleiten in die Insolvenz, im weiteren Geschehen der Gesellschaft sichert es die Ausschüttung nur von freien Mitteln, vor allem von erzielten Gewinnen und dient darüber hinaus als Warnlampe bei einer wesentlichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation der Gesellschaft verbunden mit entsprechenden Handlungspflichten des Managements und der Gesellschafter. 4. Ist das feste Kapital durch Verluste gemindert, so verhindert das Ausschüttungen an die Gesellschafter und verlangt seine Wiederherstellung aus künftigen Gewinnen. Auch das ist ein Gebot solider Unternehmensführung und sollte so auch verstanden werden. Wird die Wiederherstellung des durch Verluste angegriffenen Kapitals vom Management und den Gesellschaftern für nicht (mehr) erforderlich gehalten oder soll die Fähigkeit der Gesellschaft zu alsbaldiger Emission junger Aktien rasch wieder hergestellt werden, so kann der Verlust auch zur einfachen Reduzierung des Kapitals führen 4. 4 So genannte Kapitalherabsetzung zum Verlustausgleich; von Art. 33 der 2. Richtlinie ausdrücklich zugelassen.

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5. Das feste Kapital ist also auch eine Finanzierungsregel, hat mithin einen eminent ökonomischen Hintergrund: es zwingt die Gründer, der Gesellschaft ein Minimum an Eigenkapital zur Verfügung zu stellen; und es regt sie an, je nach den Bedürfnissen ihrer Gesellschaft ein höheres Eigenkapital in der Satzung festzulegen und ihr auf Dauer zu belassen sowie bei etwaigen Verlusten aus künftigen Gewinnen wieder herzustellen. Das Kapital verlangt mithin eine Seriosität der finanziellen Führung des Unternehmens, die den potentiellen Gläubigern und Vertragspartnern durch die Publizität des Kapitals auch bewusst offen gelegt wird. 6. Nicht zuletzt sorgt das Kapital für Rechtssicherheit 5 bei den Aktionären und Geschäftsführern. Werden seine Regeln eingehalten und wird nach seinem Verlust das förmliche Liquidations- oder Insolvenzverfahren rechtzeitig eingeleitet, so ist das ein vollkommen sicherer Hafen für sie: niemand kann dann von ihnen die Auffüllung der Insolvenzmasse unter welchen Aspekten auch immer verlangen: das Risiko tragen die Gläubiger. 7. Das führt zu einem weiteren Aspekt. Noch immer gilt der Satz, dass, wer am wirtschaftlichen Leben teilnimmt, die Vor- und Nachteile persönlich trägt. Dieser Satz gilt im System der Kapitalgesellschaften nicht. Mit der leicht erreichten Eintragung der Aktiengesellschaft trägt der Unternehmer oder Anleger nur mehr das Risiko des Verlustes dessen, was er dafür an Mitteln zur Verfügung gestellt hat. Das übrige Risiko tragen die Gläubiger. Ist es da nicht fast eine Frage der Gerechtigkeit, dass dieses Kunstgebilde „juristische Person“ von seinen entsprechend privilegierten Gesellschaftern wenigstens eine finanzielle Mindestausstattung erhält, statt nur auf Kredit und Risiko der Gläubiger zu existieren? Und sollte diese Gerechtigkeitsfrage nicht eher der Gesetzgeber als der anonyme Markt beantworten? 6 8. Die Arbeitsgruppe hat daher nahezu einhellig den Nutzen der Rechtsfigur des festen Kapitals – Grundkapitals – bejaht.7 Sein Nutzen und seine Vorteile wurden vor allem in folgenden Elementen gesehen: (1) Die wirtschaftliche und finanzielle Gesundheit der Gesellschaft ist der beste Schutz für die Gläubiger. Für dieses Ziel ist ein anfängliches Nettovermögen ebenso von Nutzen wie die Sperre gegen überhöhte Ausschüttungen. (2) Das Kapital ist eine ökonomische Regel zur Finanzierung von Gesellschaften, deren Gesellschafter persönlich nicht für deren Schulden haften. Sein 5 Das betont auch Kuhner, Zur Zukunft der Kapitalerhaltung durch bilanzielle Ausschüttungssperren im Gesellschaftsrecht Europas, ZGR 2005, 753, 786f. 6 Zu diesem Aspekt der Beteiligung des Gesellschafters am unternehmerischen Risiko und seiner verhaltenssteuernden Wirkung vgl. Vetter, ZGR 2005, 788, 800; Drygala, ZGR 2006, Heft 5, unter II. 3. 7 Vgl. nur Embid Irujo, in diesem Band, S. 680: „corporate capital plays … an economic productive role“ und „corporate capital plays an important security role for the benefit of the company’s creditors.“

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Ausweis signalisiert potentiellen Gläubigern, in welchem Maße die Gesellschafter bereit sind, der Gesellschaft Eigenkapital zur Verfügung zu stellen. Es zwingt mithin zu einer Seriosität der Finanzierung solcher Gesellschaften. (3) Das Kapital schafft Rechtssicherheit für die Gesellschafter und die Geschäftsführer: werden seine Regeln eingehalten und ggf. das Liquidations- oder Insolvenzverfahren rechtzeitig eingeleitet, so haben sie nichts zu befürchten. Das ist in Ländern mit vielen bestimmenden Großaktionären wie etwa Deutschland und Italien ein wichtiger Aspekt. (4) Das Kapital wirkt präventiv. Mit seinem Zwang zu einer gewissen Solidität und Seriosität ist es Teil der kontinentalen Rechtskultur 8 und verhindert, dass in der Insolvenz Fragen des Missbrauchs der juristischen Person etc. untersucht werden müssen 9. Dadurch aber würden für die Beteiligten und die Volkswirtschaft insgesamt die gleichen Kosten entstehen wie durch die präventive Rechtsfigur des Kapitals. (5) Große und einflussreiche Gläubiger vereinbaren nicht selten in Rechtsordnungen ohne festes Kapital zu relativ hohen Transaktionskosten Vergleichbares wie das Kapital und seine Regeln mit der Gesellschaft (sog. covenants); die anderen Gläubiger aber bleiben ungeschützt 10. Das Kapital hingegen wirkt wie ein solcher Vertrag mit allen Gläubigern. (6) Sofern das Kapital mit einem Mindestkapital kombiniert wird, verhindert es, dass unvorhergesehene Verluste sofort auf die Gläubiger durchschlagen (Risikopuffer). (7) Die Regeln zum Kapital verhindern die sog. Agiotage, also die Ausschüttung von Agio als angeblichen Gewinn, ein System, das Ertragsstärke vortäuscht und das Schneeballsystem ermöglicht 11. (8) Das Kapital verhindert in seinem Rahmen die Plünderung der Gesellschaft, insbesondere nach einer Übernahme. (9) Das Kapital sichert auf technisch einfache Weise die Minderheitsgesellschafter vor der Verwässerung ihrer Aktien (Bezugsrecht) und schützt sie außer8 Herbert Wiedemann (Gesellschaftsrecht Bd. I, 1980, S. 588) hat es als „Kulturleistung ersten Ranges“ bezeichnet. 9 Das wird ganz deutlich hervorgehoben von Miola, S. 612 ff (sub IV 2): „Das Alternativ-Konzept zum festen Kapital ist charakterisiert durch seinen Wechsel vom Gesellschaftsrecht zum … Insolvenzrecht“ und „Die ex-post-Regeln werden als vorzugswürdig gegenüber dem Kapital gesehen.“ Das genau wird hier bezweifelt. 10 Diese Aussage ist in der Literatur umstritten; näheres siehe in den Ausführungen von Mankowski, S. 488 ff. 11 Diese These gilt nur, wenn man Art. 15 der 2. Richtlinie entsprechend der Regelung und dem Verständnis in Deutschland so interpretiert, dass damit auch das Agio wie das Kapital gebunden sein soll. Tatsächlich ist das in der Literatur umstritten; insbesondere englische Autoren wie Davies, Ferran und Rickford sind hier anderer Auffassung.

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dem in ihrem Interesse, dass auch die anderen Gesellschafter ihre Einlageleistungen erfüllen müssen (Minderheitenschutz). (10) Die durch das Kapital bewirkte Ausschüttungsbegrenzung 12 befreit das Management vom Druck der Gesellschafter.13 (11) Eine durch das feste Kapital begrenzte Ausschüttung ist, im Unterschied zu der eher kurzfristigen Aussage eines alleinigen Solvenztests 14, eine langfristig wirkende Regelung. (12) Im Übrigen: Wollte man die präventiven Wirkungen des Kapitals abschaffen und durch die Eigenverantwortlichkeit der Beteiligten ersetzen, so müsste man die Haftung des Managements, also von Vorstand und Aufsichtsrat wesentlich verschärfen und ihre Durchsetzung ähnlich der Situation in den USA sicherstellen. 9. Alle diese Aspekte des festen Kapitals können nicht schlecht sein. Die Aussage, das Kapital sei überflüssig, kann daher auch nicht richtig sein. In Wahrheit geht es daher um die Frage, ob diese positiven Effekte des Kapitals durch andere, einfachere und mithin billigere Instrumente erzielt werden können. Die soeben hier vorgetragenen Aspekte sub (3), (4), (5), (6) und (12) lassen das zweifelhaft erscheinen. Das näher zu untersuchen ist Gegenstand dieses Buches. 10. Die Arbeitsgruppe war auch weit überwiegend der Meinung, dass eine Abschaffung des rechtlichen Instrumentes „Kapital“ auf jeden Fall so lange nicht angezeigt ist, wie die Funktion und Leistungsfähigkeit alternativer Instrumente nicht sicher getestet ist. Das aber ist für das Europa der 25 plus 3 bis heute ganz sicher nicht der Fall. Im Übrigen ist das feste Kapital in der Rechtskultur des Kontinents tief verankert. Seine Beseitigung müsste zu einer Fülle von Änderungen nicht nur in den nationalen Aktienrechten, sondern auch in den verschiedensten anderen Gesetzen führen. Auf den notwendigen Ausbau von Haftungsvorschriften gegenüber dem Management wurde bereits hingewiesen; ähnliches gilt für die gesamte rechtliche Ordnung der Insolvenz in den Mitgliedsländern und die Praxis der Kreditsicherung. Die Kosten einer solchen Änderung wären mithin sehr hoch, ihr Nutzen kaum überschaubar und nicht planbar.

12 Ausschüttungsbegrenzungen sind technisch auch in anderer Weise darstellbar (Beispiel: Kalifornien, Großbritannien). Dem System des Kapitals aber sind sie inhärent. 13 Gerhard Hertig/Hideki Kanda, Creditor Protection, in: Kraakman/Davies et al. (ed.), The Anatomy of Corporate Law, Oxford 2004, S. 71 ff., 88 werten das als Nachteil. 14 Dazu unten sub V.

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III. Mindestkapital und Höhe des Kapitals 1. Die Rechtsfigur des festen Kapitals ist unabhängig von der Frage eines Mindestkapitals. Das erweisen auch die neuen französischen Regeln zur EinEuro-GmbH. Man kann sich also eine AG ohne gesetzliches Mindestkapital durchaus vorstellen. Nur darf man nicht meinen, dass man damit auch die Fragen der realen Aufbringung des Kapitals beseitigt hätte; man stellt nur die Höhe des Kapitals in das Ermessen der Gesellschafter. In der von ihnen festgelegten Höhe muss es dann aber auch tatsächlich geleistet und in der Gesellschaft belassen werden. Das verlangt schon der Minderheitenschutz und die mit dem Kapital verbundene Erklärung an die Öffentlichkeit: weist die Gesellschaft ein Kapital von Euro 1 Mio. in ihrer Satzung und ihren Veröffentlichungen aus, dann muss sich die Öffentlichkeit auch darauf verlassen können, dass die Gesellschafter tatsächlich so viel (oder so wenig) der Gesellschaft real zur Verfügung gestellt haben und es ihr belassen werden. Auch das wird im Übrigen durch die französischen Regeln zur Ein-Euro-GmbH bestätigt. Aus diesen Gründen war die Frage nach einem Mindestkapital in der Arbeitsgruppe umstritten. Die Freigabe dieses Aspektes an die Mitgliedstaaten wurde durchaus erwogen 15 Doch muss man hier – was gerne übersehen wird – zwischen AG und GmbH unterscheiden. Jedenfalls in der deutschen Praxis der AG spielt das Mindestkapital von Euro 50.000 ebenso wie in Frankreich mit seinem Mindestkapital von Euro 37.000 keine besondere Rolle. Es wird in aller Regel in der individuellen Gesellschaft weit übertroffen. In allen nationalen Rechtsordnungen besteht zudem die Möglichkeit, in die GmbH mit einem deutlich niedrigeren oder gar fehlenden Mindestkapital auszuweichen. Aus nationaler, aber eben auch aus europäischer Sicht soll sich die AG mit ihrer Satzungsstrenge und Börsenfähigkeit von der GmbH des jeweiligen Mitgliedslandes deutlich unterscheiden, soll auf die Beteiligten und die Allgemeinheit seriöser wirken als die GmbH. Dem entspricht auch der Gedanke, ihr ein anfängliches, wahrlich geringes Nettovermögen von Euro 25.000, 50.000 oder 120.000 (SE) zu verschaffen und ihr eine solche Mindest-Pufferzone für die Dauer ihrer Existenz vorzuschreiben: hat man sich erst für die Beibehaltung des festen Kapitals in Europa entschieden, ist die Frage nach der Belassung auch des Mindestkapitals und seiner Höhe von deutlich geringerem Gewicht. 2. Da die Wirtschaftswissenschaft keine Regeln für eine richtige Höhe des Kapitals (Eigenkapitals) zur Verfügung stellen kann, bleibt seine Feststellung durch die Gesellschafter jenseits eines Mindestkapitals willkürlich. Das kann zur Unterkapitalisierung führen, aber auch zur Bindung überflüssigen Kapitals in der Gesellschaft, was von den Gegnern des Kapitals gerügt wird. Im Rahmen einer 15 Vgl. unten die Ausarbeitung von Eidenmüller/Grunewald/Noack zum Mindestkapital, S. 17 ff.

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regulären Kapitalherabsetzung kann dem Rechnung getragen werden. Die Regeln der 2. Richtlinie (Art. 32) dafür sind nicht übermäßig hinderlich, werden aber von manchen nationalen Rechten zusätzlich erschwert (z. B. § 225dAktG).

IV. Aufbringung (Leistung) des gesetzlichen oder statutarischen Kapitals 1. Wie soeben ausgeführt, verlangt die Figur des festen Kapitals als zweiten Schritt bestimmte Regeln und Grundsätze, die diese konkrete Erklärung an die Öffentlichkeit (Höhe des Kapitals) materiell untermauern, die die tatsächliche und reale Leistung des Versprochenen sichern. Dem folgt die 2. Richtlinie mit ihren Regeln in den Art. 3 lit (g), Art. 8–11, wobei Art. 10 zur Wertfeststellung von Sacheinlagen gerade erleichtert werden soll 16. Die nationalen Rechte folgen diesen Vorgaben und bauen sie teilweise noch aus 17. 2. Ist das Gebot der realen Leistung des Versprochenen in die Gesellschaft im System des festen Kapitals aus den genannten Gründen unabdingbar, so folgt daraus, dass alles nicht oder nur scheinbar Geleistete noch offen ist und im Interesse der Öffentlichkeit, der Gläubiger und der anderen Gesellschafter noch geleistet werden muss, bis Verjährung eingetreten ist. Dieser Grundsatz hat zu vielen, vielen Einzelfragen in Lehre und Praxis der Mitgliedsländer geführt, auch und gerade im deutschen Recht. Diese vielen Details sind lästig und umstritten und führen fraglos zu einer objektiven Verteuerung des Systems. Das zu ändern kann nicht Aufgabe der EU sein; das müssen die Mitgliedsländer selbst in die Hand nehmen. Im Übrigen: auch in Rechtsordnungen ohne ein festes Kapital gibt es die Einlagen der Gesellschafter. Und auch zu ihnen gibt es verbindliche Regeln und muss es mindestens zum Schutze der Minderheitsgesellschafter geben. 3. Eine ganz andere Frage ist es, ob sich die staatlichen Instanzen um die Erfüllung dieser oder einzelner ihrer Voraussetzungen zu kümmern haben. Gemeint sind damit nicht die Gerichte, die selbstverständlich für die Durchsetzung der Einlageansprüche der Gesellschaft gegen ihre Gesellschafter zur Verfügung stehen müssen. Gemeint ist, ob etwa die Registergerichte oder Registerbehörden die tatsächliche Leistung der Mindesteinlagen überprüfen müssen, wie das § 38 des deutschen AktG vorschreibt. Die 2. Richtlinie verlangt das nicht. Die Diskussion dazu muss mithin in den nationalen Rechtsordnungen geführt werden. Diese nationalen Besonderheiten tragen also Vorwürfe an die Figur des Kapitals in Europa nicht. Die von der Richtlinie vorgeschriebene Leistungspflicht der 16 Die Änderungs-Richtlinie zur 2. Richtlinie mit ihren Erleichterungen u. a. für Art. 10 steht vor ihrer Verabschiedung. 17 Deutschland etwa mit den erforderlichen Nachweisen in § 37 Abs. 1 AktG und der Verpflichtung zur vollen Leistung des Agios in § 36a Abs. 1 AktG.

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Aktionäre in Höhe des statutarischen Kapitals würde vollauf genügen; der Rest ist dann Aufgabe eines pflichtgemäß handelnden Managements und der notfalls gerichtlichen Durchsetzung gegen die säumigen Aktionäre.

V. Erhaltung des Kapitals 1. Das Kapital – ggf. inkl. des Agios – ist die Summe der Einlagen, die die Aktionäre ihrer Gesellschaft als Eigenkapital auf Dauer zur Verfügung stellen und das auch nach außen hin kundtun. Ist das als eine Regel der Finanzierung von Kapitalgesellschaften und „Gegenleistung“ für die Freistellung der Aktionäre von Haftung für die Schulden der Gesellschaft erst einmal akzeptiert, so liegt es auf der Hand, dass dieses Eigenkapital nicht jederzeit und beliebig wieder abgezogen werden kann. Zwar wird von manchen in diesem Zusammenhang auf die Kommanditgesellschaft verwiesen, in der eine solche Rückzahlung erlaubt ist (§ 172 Abs. 4 HGB). Das ist zwar gewiss richtig; doch wird die Rückzahlung mit dem Wiederaufleben der persönlichen Haftung in entsprechender Höhe erkauft. Für die AG ist das kein erstrebenswertes Konzept. Sie ist auf viele bis sehr viele Aktionäre angelegt; hier wäre der Gedanke an einige oder viele tausend relativ kleiner Schuldner nicht sehr hilfreich – von Fragen des Kapitalmarktes und der Schuldübernahme seitens der Aktienerwerber einmal ganz abgesehen. 2. Akzeptiert man die Lösung einer Finanzierung der Gesellschaft u. a. durch ein selbst festgelegtes festes Kapital, dann ist damit zugleich der Vorteil verbunden, dass man leicht zwischen Einlagen der Gesellschafter und erzielten Gewinnen unterscheiden kann. Und es ist fraglos notwendig zu verhindern, dass Einlagen als angeblicher Gewinn ausgeschüttet werden (sog. Agiotage). Eine solche Täuschung über die wirkliche Ertragslage der Gesellschaft würde gegen alle Prinzipien eines fairen Kapitalmarktes verstoßen. Genau das verhindert ein Liquiditätstest nicht; hingegen vermeidet man genau das dadurch, dass man die Einlagen bindet und von jeder Ausschüttung ausschließt. Das feste Kapital ist also nicht nur eine vernünftige Finanzierungsregel, es verhindert auch gefährliche Manipulationen am Kapitalmarkt 18. 3. Sind das – in den Grenzen des geringen Mindestkapitals – frei gewählte Kapital und das Agio gebunden, so ist die Gesellschaft hinsichtlich aller ihrer ordentlichen und außerordentlichen Erträge frei, ob sie das frei Verfügbare aus18 In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte der Schwede Kreuger ein Zündholz-Imperium aufgebaut. Durch hohe Dividenden gewann er im Rahmen von Kapitalerhöhungen immer neue Aktionäre. Die jungen Aktien wurden mit einem hohen Agio ausgegeben, das dann die nächste Dividende speiste – und so weiter, und so weiter bis zum Zusammenbruch der beiden Kreuger-Gesellschaften im Jahre 1931. Kreuger selbst endete durch Selbstmord. Siehe aber auch oben II, 8 (7) und dort Fn. 11.

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schütten will und in welcher Form (Bar-Dividende, Sach-Dividende, Erwerb eigener Aktien). 4. Schwierig an diesem in sich schlüssigen Modell ist nur die Feststellung des Gewinns. Sie erfolgt traditionsgemäß durch die Jahresbilanz (Jahresabschluss) der Gesellschaft und ihre Gewinn- und Verlustrechnung. Diese war weit in die Geschichte zurück stets vom Gedanken der Vorsicht geprägt (Realisationsprinzip, Imparitätsprinzip). Beide Prinzipien sind heute durch IFRS wesentlich verändert. Die mit einer IFRS-Bilanz als Grundlage der Gewinnfeststellung verbundene Gefahr einer Ausschüttung reiner Buchgewinne hat den Arbeitskreis lange und nachdrücklich beschäftigt: a) Die Unternehmen am Kapitalmarkt haben nach IFRS zu bilanzieren. Daneben verlangt die Steuerbehörde eines jeden Staates eine (zweite) Bilanz nach Steuerregeln und auch die Unternehmen selbst wollen nicht realisierte Gewinne möglichst nicht versteuern und drohende Risiken berücksichtigt wissen. Eine dritte Bilanz und ihre Prüfung nach den Regeln des HGB (4. Richtlinie) zur Vermeidung des Ausweises nicht realisierter Gewinne aber wollte der Arbeitskreis den Unternehmen aus Zeit- und Kostengründen nicht zumuten. Er hat daher erwogen, die Steuerbilanz um spezifische Steuerregeln zu bereinigen und sie dann der Ausschüttung zugrunde zu legen. Aber es hat sich sehr schnell gezeigt, dass auch ein solches Vorgehen de facto zu einer eigenen und mithin dritten Bilanz tendiert, die gerade vermieden werden sollte. b) In Anlehnung an das Modell des kalifornischen Rechtes wurde sodann erwogen, der Gefahr einer Ausschüttung auf zu optimistischer Grundlage durch eine pauschal höhere Vermögensbindung gegen zu steuern. So könnte man etwa bestimmen, dass nur derjenige Teil des in der IFRS-Bilanz ausgewiesenen Überschusses der Aktiva über die Passiva (inkl. des Kapitals und Agios) ausgeschüttet werden kann, der 10 % oder 20 % der Summe der Aktiva übersteigt. Dieses Polster würde wie eine gesetzliche Rücklage wirken, sich in der Höhe aber an der Bilanzsumme und nicht am beliebig gewählten Kapital orientieren. Diese Lösung hat viele Vorzüge und könnte als Wahlrecht der Unternehmen durchaus in eine künftige Lösung eingebaut werden. Als alleinige Lösung aber erscheint sie dem Arbeitskreis zu streng, da sie möglicherweise zu einer übersteigerten Bindung der Erträge führt oder die Gesellschaften veranlasst, ihr Kapital unangemessen niedrig festzulegen. c) Schließlich war zu prüfen, ob man sich von der Bilanz ganz lösen und allein auf einen Solvenztest für Ausschüttungen abstellen sollte 19. Vor allem zwei Gründe stehen dem entgegen: (1) Zum einen erlaubt eine solche Lösung die Ausschüttung von Einlagen der Gesellschafter. Das bedeutet die Abschaffung des Kapitals und ermöglicht die 19 So der Rickford-Bericht, aaO., S. 968ff., insbesondere S. 979ff.; vgl. auch Pellens/ Richard/Sellhorn, FAZ vom 5. 12. 2005, S. 26.

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Agiotage (oben Fn. 11). Das aber widerspräche allen Vorstellungen des Arbeitskreises vom Nutzen des Kapitals und der Seriosität der Unternehmensführung. (2) Zum anderen bedarf dieser Solvenztest nach der Vorstellung des Rickford-Berichtes keiner Prüfung durch den Abschlussprüfer 20. Trifft der Solvenztest des Managements dann nicht zu, so bleiben als einzige Sanktionen nur dessen persönliche Haftung und die Pflicht der Aktionäre zur Rückzahlung. Das letztere sollte bei einer am Kapitalmarkt orientierten Gesellschaft tunlichst vermieden werden. Die persönliche Haftung des Managements für die ausgeschüttete Summe aber steht außer jedem Verhältnis zur Höhe der hier anstehenden Beträge. Dieser Mangel könnte wiederum nur durch eine sehr hohe und sehr teure D &O-Versicherung ausgeglichen werden. Verlangt man hingegen die Prüfung durch den Abschlussprüfer und sein Testat, so würde man ein Instrument schaffen, das möglicherweise zeitaufwendiger und teurer ist als das ganze System des Kapitals. d) Der Arbeitskreis hat sich daher letztlich für eine duale Lösung entschieden: Entweder erstellt die Gesellschaft – aus welchen Gründen auch immer – eine HGB-Bilanz (Bilanz nach 4. Richtlinie), die geprüft und testiert wird, und legt diese dem Ausschüttungsbeschluss zugrunde, so hat alles seine Ordnung. Oder die Gesellschaft bilanziert nach IFRS und diese Bilanz wird geprüft und testiert, so genügt das für eine Ausschüttung aus den genannten Gründen nicht. Zwar bleibt diese Bilanz für die Möglichkeit einer Ausschüttung maßgebend, wegen der genannten Gefahren aber ist zusätzlich ein Solvenztest erforderlich. Die Ausschüttung bleibt also auch in dieser Variante bilanzbezogen; statt der nahe liegenden Korrektur dieser IFRS-Bilanz unter Aspekten von Realisation und Imparität wird – wegen der unvermeidlichen Tendenz dieser Korrektur hin zu einer eigenen (dritten) Bilanz – die geplante Ausschüttung einem auf ein bis maximal zwei Jahre angelegten Solvenztest unterworfen. Andererseits kommt eine Ausschüttung allein nach einem positiven Solvenztest nicht in Betracht, da anderenfalls das feste Eigenkapital (Kapital und Agio) doch zur Disposition der Gesellschaften und ihrer Organe stünde: danach fragt dieser Test gerade nicht. Der Arbeitskreis ist sich bewusst, dass diese Lösung alle Schwächen und Inkonsequenzen eines Kompromisses in sich trägt; denn Realisation und Imparität können allenfalls zufällig durch einen Solvenztest ersetzt werden; in der Sache haben beide unterschiedliche Ziele und unterschiedliche Funktionen. Dennoch hält der Arbeitskreis diese Lösung im Interesse der Vermeidung von wesentlichen Kosten für die Gesellschaften einerseits, Vermeidung unvertretbarer Ausschüttungen und mithin der Seriosität ihrer Finanzierung andererseits nicht für ideal, aber für vertretbar. 20 AaO., S. 973–975.

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Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass der hier vorgelegte Vorschlag bereits vielfach in anderen Ländern Realität ist. So kennen die meisten US-Rechte sowie das Recht Neuseelands neben dem Solvenztest weiterhin zusätzlich den BalanceSheet-Test, also eine zusätzliche bilanzielle Ausschüttungssperre.

VI. Kapital und Insolvenz In einem System gebundenen Eigenkapitals liegt es nahe, über die Gesellschaft das Insolvenzverfahren dann zu eröffnen, wenn dieses Eigenkapital verbraucht ist und die Gesellschaft jetzt nur noch auf Risiko ihrer Gläubiger fortgeführt werden könnte. Heute entstehen in allen Ländern mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zusätzliche Lasten für die Gesellschaft, wie z. B. Abfindung der Mitarbeiter und Kosten des Verwalters. Daher liegt der Gedanke nahe, die Insolvenz schon früher auszulösen oder die Gesellschaft schon zuvor bestimmten Pflichten zu unterwerfen wie insbesondere der Wiederherstellung des Eigenkapitals durch neue Einlagen der Gesellschafter oder Liquidation der Gesellschaft einerseits, besonderen Pflichten des Managements andererseits. Der Arbeitskreis hat alle diese Aspekte untersucht, macht aber dazu keine nach Brüssel gerichteten Vorschläge: alle diese Aspekte sind so stark mit den Besonderheiten der nationalen Gesellschaftsrechte und der nationalen Insolvenzrechte verwoben, dass hier große Zurückhaltung geboten ist.

VII. Haftungsdurchgriff auf Gesellschafter Das soeben angesprochene Gebot zur Zurückhaltung gegenüber Vorschlägen zur Rechtsangleichung gilt nicht weniger für das Problem des sog. Durchgriffs auf die Gesellschafter und die Haftung des Managements. Dieser Fragenkreis ist mit Aspekten des Kapitals insoweit verknüpft, als seine Bedeutung mit dessen Verbrauch wächst. Solange die Gesellschaft liquide ist, stellt sich die Frage einer Inanspruchnahme der Aktionäre oder des Managements nicht. Für sie wachsen bestimmte Pflichten erst mit der beginnenden Insolvenz, also der Unfähigkeit der Gesellschaft, ihre Verbindlichkeiten zu erfüllen. Die hier vorgelegten eingehenden Untersuchungen zu diesen Fragen sollen die „kranken“ Fälle zeigen, die in jedem System, ob mit oder ohne festes Kapital entstehen. Allerdings: Die Erfahrung in den USA zeigt, dass in einem System ohne festes Kapital die Auseinandersetzungen um solche nachträglichen Haftungen in der Insolvenz der Gesellschaft sprunghaft ansteigen (Haftung der Gesellschafter aus Durchgriff; Haftung des Managements wegen Pflichtverletzung; Haftung von Vertragspartnern aus fraudulent transfer). So rechnet man mit bis zu 4.000 Durchgriffsfällen pro Jahr.

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VIII. Ausschluss unseriöser Personen aus dem Management Mit dem Kapital nicht näher korreliert, aber mit durchaus gläubigerschützender Zielrichtung sind auch die Fragen zum Ausschluss bestimmter Personen von der Geschäftsführung. Die damit angestrebte Sicherung einer seriösen Unternehmensführung trifft sich mit der gleichen Tendenz des Kapitals. Hier hat das britische Recht eine Vorreiter-Rolle übernommen, um unsolide Personen aus der Geschäftsführung von Kapitalgesellschaften zu entfernen. Die Zielrichtung ist klar und begrüßenswert: Eine wirtschaftlich intakte und gut und solide geführte Gesellschaft ist der beste Schutz für die Gläubiger (und die Gesellschafter). Wenngleich die Erprobung dieses Gedankens in Großbritannien von vielen Beobachtern als Erfolg gesehen wird, wirft die detaillierte Analyse seiner praktischen Umsetzung eine Reihe von noch ungeklärten Fragen auf. Deshalb meint der Arbeitskreis von Vorschlägen zur Rechtsangleichung jedenfalls vorerst absehen und die Entscheidung den nationalen Gesetzgebern überlassen zu sollen 21. IX. Gesellschafterdarlehen Die Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft können ihrer Gesellschaft nicht nur Eigenkapital, sondern auch Fremdkapital zur Verfügung stellen. Das wird weltweit nicht bezweifelt. Erst in der Insolvenz der Gesellschaft wird dann in vielen Jurisdiktionen von den USA über Italien, Spanien, Deutschland, Österreich und anderen gefragt, ob diese Gesellschafter-Kredite wie „normales“ Fremdkapital oder aber als eine Zwischenform zwischen Fremd- und Eigenkapital zu behandeln und mithin erst nach dem normalen Fremdkapital zu befriedigen sind – sog. Subordination. Wie das Beispiel der USA zeigt, besteht dieser Problemkreis aber ganz unabhängig von der Frage, ob in der betreffenden Jurisdiktion die Rechtsfigur des festen Kapitals gilt oder nicht. Aus dem Aspekt Gesellschafterdarlehen lassen sich also Argumente weder für noch gegen das feste Kapital gewinnen. X. Empfehlungen für die Europäische Kommission Die Mitglieder des Arbeitskreises „Kapital in Europa“ sprechen sich auf diesem Hintergrund für den Fortbestand der 2. Richtlinie in ihrer kürzlich geänderten Fassung aus. 21 Um der Rechtswahlfreiheit insoweit entgegenzuwirken, wäre erwägenswert, das Instrument selbst durch Richtlinie festzulegen, die Ausgestaltung hingegen dem nationalen Gesetzgeber weitgehend zu überlassen.

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Die Europäische Kommission wird jedoch gebeten, Art. 15 (1) der 2. Richtlinie unter den hier sub V. vorgetragenen Überlegungen sowie den Überlegungen von Pellens/Sellhorn in diesem Buch zu bedenken. Die in Art. 15 (1) der 2. Richtlinie formulierte klassische Ausschüttungsbegrenzung auf den Überschuss der Aktiva über die Passiva inkl. Kapital und Agio einerseits und den Jahresüberschuss andererseits nimmt Bezug auf den Abschluss des letzten Geschäftsjahres der Gesellschaft. Handelt es sich bei diesem um einen IAS/IFRS-Abschluss, so ist nicht gesichert, dass das materielle Ziel dieser Norm im Hinblick auf darin möglicherweise enthaltene Buchgewinne und die ggf. nicht berücksichtigten drohenden Verluste erreicht wird. Hier ist ein zusätzliches Instrument der Sicherung erforderlich – sei es ein nach anderen Kriterien erstellter zusätzlicher Abschluss, sei es – wie hier vorgeschlagen – ein zusätzlicher Solvenztest.

XI. Nationale Reformen Der Arbeitskreis hat sich strikt an seine Aufgabe gehalten, den Vorschlag zur Abschaffung der 2. Richtlinie zu überprüfen. Weder wurde die GmbH – von Ausnahmen in einzelnen Länderberichten abgesehen – einbezogen, noch nationale Besonderheiten erörtert 22. Doch besteht Einigkeit unter den Mitgliedern des Arbeitskreises, dass sich in vielen Rechtsordnungen und nicht zuletzt der deutschen Rechtsordnung um die Rechtsfigur des festen Kapitals viele „Schlacken“ angesammelt haben, die dringend der Überprüfung bedürfen. Aber das ist eine Aufgabe des nationalen, nicht hingegen des europäischen Gesetzgebers.

22 Ausnahme: die deutschen Regeln zum Gesellschafterdarlehen in der deutschen Fassung dieses Berichtes.

Teil 1 Systematische Darstellungen

Das Mindestkapital im System des festen Kapitals

von Professor Dr. Horst Eidenmüller, LL.M. (Cambr.), München, Professor Dr. Barbara Grunewald, Köln und Professor Dr. Ulrich Noack, Düsseldorf

Inhaltsübersicht I. II. III. IV.

Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mindestkapital, Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung Relevanz des Mindestkapitals . . . . . . . . . . . . . . . Mindestkapital und beschränkte Haftung . . . . . . . . . 1. Ökonomische Funktion der Haftungsbeschränkung . 2. Risikoanreizproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Effizienzeffekte des Mindestkapitals . . . . . . . . . . . 1. Nutzen des Mindestkapitals . . . . . . . . . . . . . . 2. Kosten des Mindestkapitals . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gesamtwürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Rechtspolitische Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Societas Europaea (SE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kapitalrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Problemstellung Das durch die 2. Richtlinie (Kapitalrichtlinie) 1 etablierte europäische System des festen Kapitals steht auf dem Prüfstand. Viele Juristen und Ökonomen halten die Schutzwirkungen des Systems für Gläubiger und/oder Gesellschafter für zu gering, um seine Kosten zu rechtfertigen.2 Die europäische Rechtspolitik hat die-

1 Zweite gesellschaftsrechtliche Richtlinie 77/91/EWG v. 13. 12. 1976, ABl. EG Nr. L 26 v. 31. 1. 1977, S. 1 ff. 2 Armour, Modern L. Rev. 63 (2000), 355; Enriques/Macey, Cornell L. Rev. 86 (2001), 1165; Kahan, Legal Capital Rules and the Structure of Corporate Law: Some Observations on the Difference Between European and U.S. Approaches, in: Hopt/ Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets and Company Law, 2003, S. 145ff.; Kübler, The

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sen Trend aufgegriffen: Nachdem sich die Winter-Gruppe dafür ausgesprochen hatte, ein festes Kapital gemeinschaftsrechtlich zumindest nicht mehr zwingend vorzuschreiben,3 kündigte die Kommission in ihrem gesellschaftsrechtlichen Aktionsplan im Mai 2003 ein zweistufiges Vorgehen an.4 In einem ersten Schritt soll die 2. Richtlinie im Hinblick auf Sacheinlagen, Aktienrückkäufe und Finanzierungshilfen gelockert werden.5 In einem zweiten Schritt wird „mittelfristig“ die Inauftraggabe einer Studie angekündigt, die Alternativen zum gegenwärtigen System untersuchen soll. Diese Studie wurde inzwischen ausgeschrieben.6 Allerdings hat sich offenbar niemand um ihre Durchführung beworben. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Mindestkapital als Teil des Systems des festen Kapitals. Das Gemeinschaftsrecht verlangt für Kapitalgesellschaften bestimmter Rechtsform (Art. 2 Abs. 1 der 2. Richtlinie – für Deutschland: die Aktiengesellschaft) ein gezeichnetes Kapital von mindestens 25.000 Euro (Art. 6 Abs. 1 der 2. Richtlinie). Das deutsche Recht geht darüber hinaus und normiert für Aktiengesellschaften ein Mindestgrundkapital von 50.000 Euro (§ 7 AktG) und für Gesellschaften mit beschränkter Haftung ein Mindeststammkapital von 25.000 Euro (§ 5 Abs. 1 GmbHG). Die Societas Europaea (SE) als „Flaggschiff“ 7 des europäischen Gesellschaftsrechts steht nach Art. 4 Abs. 2 SE-VO 8 sogar erst ab einem Betrag von 120.000 Euro zur Verfügung, und zwar mit der Begründung, auf diese Weise eine „ausreichende Vermögensgrundlage“ sicherzustellen, ohne kleinen und mittleren Unternehmen die Gründung einer SE zu erschweren.9

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Rules of Capital Under Pressure of the Securities Markets, in: Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets and Company Law, 2003, S. 95ff.; Mülbert/Birke, EBOR 3 (2002), 695; Mülbert, DK 2004, 151; Wymeersch, Company Law in Europe and European Company Law, in: Referate für den 1. Europäischen Juristentag, 2001, S. 85ff. (Tz. 43). Ein sehr früher Beitrag aus ökonomischer Sicht ist Schneider, Mindestnormen zur Eigenkapitalausstattung als Beispiele unbegründeter Kapitalmarktregulierung?, in: Schneider (Hrsg.), Kapitalmarkt und Finanzierung, 1987, S. 85ff. Vgl. den Bericht der Hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über „Moderne gesellschaftsrechtliche Rahmenbedingungen in Europa“ (abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/internal_market/de/company/company/ modern/index.htm), 2002, S. 87, 94 ff. Aktionsplan „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union“, KOM(2003) 284 endg. v. 21. 5. 2003 (abrufbar unter der in Fn. 3 genannten Adresse), S. 20f. Vgl. den Vorschlag zur Änderung der 2. Richtlinie KOM(2004) 730 endg. v. 21. 9. 2004, abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/internal_market/company/capital/index_ de.htm. Die Ausschreibung ist abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/dgs/internal_ market/calls_de.htm. Hopt, ZIP 1998, 96, 99. Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 über das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) v. 8. 10. 2001, ABl. L 294 v. 10. 11. 2001, S. 1ff. So Erwägungsgrund 13 SE-Verordnung.

Das Mindestkapital im System des festen Kapitals

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Ebenso wie das System des festen Kapitals insgesamt wird auch das Mindestkapital als Teil dieses Systems zunehmend kritisch beurteilt. Sogar einzelne Befürworter des Kapitalsystems billigen ihm keine wesentliche Bedeutung zu.10 Bemängelt wird vor allem, dass derselbe Betrag nicht für alle in Betracht kommenden Unternehmen passe. Da das satzungsmäßig festgelegte Kapital als Puffer zum Abfangen geschäftlicher und sonstiger Rückschläge dienen soll, müsste seine Höhe an sich auf die Größe der zu erwartenden Risiken abgestimmt sein. Das Mindestkapital sei indes für viele Unternehmen zu gering bemessen.11 Es könne allenfalls dazu dienen, eine gewisse – niedrige – Seriositätsschwelle zu errichten.12 In Abschnitt II. werden wir zunächst den Stellenwert des Mindestkapitals als Teil des Systems des festen Kapitals bestimmen. Abschnitt III. erörtert sodann die Frage, für welche Unternehmen das Mindestkapital überhaupt ökonomisch und juristisch relevant ist. Da sich das Mindestkapital als „Preis“ für die Erlangung beschränkter Haftung charakterisieren lässt, beschäftigt sich Abschnitt IV. mit der Funktion, aber auch den Gefahren beschränkter Haftung bei den Unternehmen, für welche das Mindestkapital bedeutsam ist. Abschnitt V. analysiert sodann die Kosten/Nutzen-Effekte des Mindestkapitals aus ökonomischer Sicht. Es wird sich zeigen, dass diese wohl zumindest dann nicht negativ sind, wenn der Prüfungsaufwand bei der Gründung begrenzt wird. Gegenstand von Abschnitt VI. sind sodann die rechtspolitischen Handlungsoptionen, die sich aus diesem Befund vor allem im Hinblick auf eine mögliche Revision der 2. Richtlinie ergeben. Dabei geht es zum einen um Änderungen auf der Basis des derzeitigen Systems, zum anderen aber auch um einen möglichen Systemwechsel, etwa in Gestalt einer Freigabe des Mindestkapitalerfordernisses im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten. In Abschnitt VII. werden die Ergebnisse der Untersuchung thesenartig zusammengefasst.

10 Vgl. etwa Schön, EBOR 5 (2004), 429, 436 ff.; T. Bezzenberger, Das Kapital der Aktiengesellschaft, 2005, S. 31 („Das Gesetz könnte daher auf einen festen Mindestbetrag des Grundkapitals ebenso gut verzichten“). Vgl. auch Hertig/Kanda, in: Kraakman/Davies/Hansmann/Hertig/Hopt/Kanda/Rock, The Anatomy of Corporate Law, 2004, S. 84: „Thus, the function of minimum capital, and its continuing popularity in much of the world, poses something of a puzzle.“ 11 Vgl. Davies, AG 1998, 346, 353; Armour, Modern L. Rev. 63 (2000), 355, 371f.; Enriques/Macey, Cornell L. Rev. 86 (2001), 1165, 1185f., 1199; Mülbert/Birke, EBOR 3 (2002), 695, 718; Mülbert, DK 2004, 151, 154f.; Merkt, ZGR 2004, 305, 317f.; Eidenmüller, FS Heldrich, 2005, 581, 593; Grunewald/Noack, GmbHR 2005, 189, 190. 12 Allen/Kraakman, Commentaries and Cases on the Law of Business Organization, 2003, S. 137 (“de minimis screening”); T. Bezzenberger, aaO (Fn. 10), S. 30; Hirte, Kapitalgesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2003, S. 215; G. Roth, FS Doralt, 2004, 479, 482; Merkt, ZGR 2004, 305, 317f.; Eidenmüller, FS Heldrich, 2005, 581, 593.

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II. Mindestkapital, Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung Das durch die 2. Richtlinie vorgegebene System des festen Kapitals ruht auf drei Säulen: zum einen auf Regeln über die Aufbringung des satzungsmäßig festgelegten Kapitals, zum anderen auf solchen über dessen Erhaltung und schließlich auf der Festlegung eines bestimmten Mindestkapitals. Die zuletzt genannte Anforderung ist kein konstitutives Element des Gesamtsystems. Dieses kann auch ohne ein gesetzlich vorgeschriebenes Mindestkapital bestehen. So ist jüngst beispielsweise vorgeschlagen worden, das satzungsmäßig festgelegte Kapital als eine „kollektive Haftungszusage“ der Gesellschafter an die Gläubiger zu interpretieren.13 Diese Rationalisierung des Systems des festen Kapitals ist von der Existenz eines Mindestkapitals unabhängig. Demzufolge ist es durchaus denkbar, auf das Mindestkapitalerfordernis zu verzichten, die übrigen Bausteine des Systems des festen Kapitals jedoch beizubehalten. Das gilt gleichermaßen für die 2. Richtlinie und die zu ihrer Umsetzung erlassenen mitgliedstaatlichen Vorschriften wie für die außerhalb der Reichweite der 2. Richtlinie ergangenen Rechtsetzungsakte der Mitgliedstaaten. Es ist deshalb kein Systembruch, wenn etwa der deutsche Gesetzgeber derzeit erwägt, das Mindeststammkapital bei der GmbH von 25.000 Euro auf 10.000 Euro herabzusetzen oder auf ein entsprechendes Mindeststammkapital sogar ganz zu verzichten. Umgekehrt gilt dies allerdings nicht. Mit anderen Worten: Die Normierung eines Mindestkapitals ohne gleichzeitige Normierung von Regeln über dessen Aufbringung sowie Erhaltung ist zwar theoretisch denkbar, aber offensichtlich nicht sinnvoll – ansonsten stünde die Mindestkapitalziffer im wahrsten Sinne des Wortes nur auf dem Papier. Daraus ergeben sich wichtige Folgen: Die Entscheidung für ein (bestimmtes) Mindestkapital impliziert eine Entscheidung für das System des festen Kapitals insgesamt, insbesondere für (bestimmte) Regeln über die Kapitalaufbringung und -erhaltung und die Kosten, die mit der Prüfung der Einhaltung dieser Regeln verbunden sind. In diesem Sinne lassen sich die Kosten/ Nutzen-Effekte eines Mindestkapitals nicht ohne Einbeziehung der Vorschriften über die Kapitalaufbringung und -erhaltung beurteilen.

III. Relevanz des Mindestkapitals 14 Für eine Vielzahl von Unternehmen ist das Erfordernis eines Mindestkapitals ökonomisch und juristisch vergleichsweise uninteressant: Sofern der Eigenkapitalbedarf 50.000 bzw. 25.000 Euro ohnehin überschreitet, spielt es keine Rolle. 13 Schön, EBOR 5 (2004), 429, 438 ff. Krit. dazu G. Roth, FS Doralt, 2004, 479, 483f.; Eidenmüller/Engert, AG 2005, 97, 105f. 14 Wesentliche Gedanken der folgenden Abschnitte III.–V. entnehmen wir Eidenmüller/Engert, GmbHR 2005, 433.

Das Mindestkapital im System des festen Kapitals

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Wie hoch dieser Eigenkapitalbedarf ist, hängt vor allem von der Art und Größe des Unternehmens und den Anforderungen ab, die der Kreditmarkt an die Eigenkapitalziffer stellt.15 Große, kapitalmarktorientierte Aktiengesellschaften verfügen demzufolge regelmäßig über ein Eigenkapital, welches das Mindestkapital weit übersteigt. Gleiches gilt für das (feste) Grundkapital solcher Gesellschaften.16 Auch die potentiell kosten- und verzögerungsträchtige Sacheinlageprüfung spielt bei entsprechenden Unternehmen regelmäßig keine Rolle. Sie erstreckt sich nur auf den Nennbetrag der dafür zu gewährenden Aktien (Art. 10 Abs. 2 der 2. Richtlinie). Bei signifikanten Sachgründungen aber wird dieser Betrag zumeist problemlos erreicht. Demgegenüber könnten kleine Unternehmen oft auch mit weniger Eigenmitteln gegründet werden. Hier wird das Mindestkapital spürbar. Die Gründer stellt es vor die Entscheidung, ihr Unternehmen entweder mit der geforderten Summe an Eigenkapital auszustatten oder es als Personengesellschaft bzw. Einzelkaufmann zu betreiben. Diese Rechtsformen unterscheiden sich von einer Kapitalgesellschaft vor allem durch die unbeschränkte Haftung. Wenn also das Mindestkapital der „Preis“ für die Haftungsbeschränkung ist, so ist zunächst zu klären, welche sinnvolle Funktion diese bei kleinen Unternehmen erfüllt. Weiter ist aber auch nach den ökonomischen Gefahren einer Haftungsbeschränkung zu fragen. Ohne derartige Nachteile wäre nicht zu begründen, weshalb ein besonderer „Preis“ dafür gefordert werden sollte.

IV. Mindestkapital und beschränkte Haftung 1. Ökonomische Funktion der Haftungsbeschränkung Die ökonomische Funktion der Haftungsbeschränkung ist bereits mehrfach Gegenstand ausführlicher Analysen gewesen.17 Die in diesen Analysen angestellten Erwägungen beziehen sich allerdings überwiegend auf große Unternehmen:

15 Vgl. Eidenmüller/Engert, AG 2005, 97, 105. 16 Im Folgenden findet sich eine Auswahl deutscher DAX-Aktiengesellschaften mit ihrem Grundkapital zum 31. 12. 2003 (gerundet, Quelle: Geschäftsberichte): Allianz AG, 985 Mio. Euro; BMW AG, 674 Mio. Euro; Deutsche Bank AG, 1.490 Mio. Euro; Deutsche Lufthansa AG, 977 Mio. Euro; Deutsche Post AG, 1.113 Mio. Euro; Schering AG, 194 Mio. Euro; Siemens AG, 2.673 Mio. Euro; Infineon Technologies AG, 1.442 Mio. Euro; ThyssenKrupp AG, 1.317 Mio. Euro; DaimlerChrysler AG, 2.633 Mio. Euro. 17 Grundlegend etwa Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law, 1991, S. 41 ff. bzw. Easterbrook/Fischel, U. Chi. L. Rev. 52 (1985), 89, 93 ff. Vgl. auch den Überblick bei Hansmann/Kraakman, Yale L. J. 110 (2000), 387, 423 ff.; Eidenmüller, JZ 2001, 1041, 1042.

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So ermöglicht erst die Haftungsbeschränkung einen breiten Markt für Gesellschaftsanteile und damit eine diversifizierte Investition in unterschiedliche Unternehmen, indem sie das unternehmensspezifische Risiko begrenzt und gleichzeitig den Wert des einzelnen Anteils von den privaten Vermögensverhältnissen der anderen Gesellschafter unabhängig macht. Auch die Trennung von Eigentum und Kontrolle – ebenfalls eine Voraussetzung für Diversifizierung – wird durch eine beschränkte Haftung erleichtert. Für kleine Gesellschaften sind diese Gesichtspunkte allerdings nahezu bedeutungslos, weil sich deren Anteile ohnehin nicht für öffentliche Kapitalmärkte eignen und die Gesellschafter regelmäßig selbst die Geschäfte führen. Beschränkte Haftung ist bei Kleinunternehmen daher wohl vor allem mit Rücksicht auf die individuelle Risikoabneigung der Gründer sinnvoll. Diese müssen fürchten, bei einem unternehmerischen Fehlschlag „Haus und Hof“ zu verlieren.18 Dieses Risiko wird durch die beschränkte Haftung natürlich nicht beseitigt, sondern nur auf die Gläubiger verschoben. Indes kann gerade dies effizient sein, weil die Kreditgeber der Gesellschaft häufig eine Vielzahl von Schuldnern haben und damit weitaus besser diversifiziert sind als ein Gesellschafter, der einen großen Teil seines Vermögens und seine gesamte Arbeitskraft in das Unternehmen investiert.19 Im Vergleich mit den USA kommt hinzu, dass die Insolvenz einer natürlichen Person in vielen europäischen Staaten ökonomisch kostspieliger ist. Eine Restschuldbefreiung ist beispielsweise in Deutschland an strenge Voraussetzungen gebunden und nicht vor Ablauf von sechs Jahren nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu erreichen (§§ 300 Abs. 1, 287 Abs. 2 InsO). Während dieser Zeit wird das Humankapital (Fähigkeiten und Arbeitskraft) der fraglichen Person nur schlecht genutzt, weil ihr Leistungsanreiz durch die Abtretung aller pfändbaren Bezüge und die Verpflichtung aus § 295 Abs. 2 InsO eingeschränkt ist. Wenn eine solche Situation durch die Haftungsbeschränkung von vornherein verhindert wird, liegt auch darin ein Effizienzvorteil. Aus der Funktion der beschränkten Haftung ergibt sich zugleich, unter welchen Umständen Unternehmensgründer besonders an ihr interessiert sind. Das ist immer dann der Fall, wenn die Risiken eines Unternehmens groß sind.20 Vergleichsweise risikoarme Aktivitäten können demgegenüber auch in unbeschränkt haftender Rechtsform ausgeübt werden. Zu denken ist etwa an Dienstleistungen, bei denen der Unternehmer die erforderlichen Investitionen (Sachmittel, Anlaufverluste usw.) selbst finanzieren kann, oder an die Verwaltung von Vermögensgegenständen ohne große Verlustrisiken (z. B. maßvoll beliehene Grundstücke). Allerdings lässt sich bei kaum einer Tätigkeit die Gefahr einer großen Einbuße 18 Vgl. Lutter, AG 1998, 375. 19 Vgl. Cheffins, Company Law: Theory, Structure, and Operation, 1997, S. 499ff. 20 Zum Begriff des Risikos als Streuung zukünftiger Rückflüsse vgl. etwa Franke/ Hax, Finanzwirtschaft des Unternehmens und Kapitalmarkt, 5. Aufl. 2004, S. 267ff.

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ganz ausschließen. So besteht bei vielen Dienstleistungen, aber auch bei der Verwaltung von Grundstücken die keineswegs ganz geringfügige Gefahr einer (umfassenden) vertraglichen oder deliktischen Haftung. Derartige Risiken sind jedoch häufig versicherbar, so dass allein ihretwegen die Haftungsbeschränkung nicht immer gebraucht wird. Der Abschluss etwa einer Haftpflichtversicherung ist also teilweise ein ausreichender Ersatz für die Nutzung einer Kapitalgesellschaft als Unternehmensträger.21 Umgekehrt ist der Bedarf an Haftungsbeschränkung dort am stärksten, wo (große) unternehmerische – und deshalb nicht versicherbare – Risiken eingegangen werden sollen.

2. Risikoanreizproblem Dass die beschränkte Haftung unternehmerische Risiken anzieht, ist für sich genommen kein Nachteil: Die Vertragspartner einer Kapitalgesellschaft können sich die von ihnen zu tragende Ausfallgefahr durch höhere Zinsen vergüten lassen oder Sicherungen vereinbaren. Aus den bereits genannten Gründen – insbesondere ihrer stärkeren Diversifikation – werden sie häufig besser als die Gesellschafter dazu in der Lage sein, einen Teil der unternehmerischen Risiken zu tragen. Höhere Zinsen bzw. Sicherheiten werden dann durch die Vorteile für die Unternehmensgründer mehr als aufgewogen. Indes verteilt die beschränkte Haftung nicht nur vorgegebene Risiken. Indem sie den Gesellschaftern Verlustrisiken über einen gewissen Betrag hinaus abnimmt, verändern sich auch deren unternehmerische Entscheidungen: Da die Gesellschafter von großen Gewinnen allein profitieren, von schweren Verlusten aber nicht berührt werden (genauer gesagt: nur bis zur Höhe des vorhandenen Eigenkapitals berührt werden), haben sie nun ein Interesse an derartigen extremen Entwicklungen – und damit an höheren Risiken. Die normalerweise vorherrschende, individuelle Risikoabneigung wird von einem Risikoanreiz überlagert.22 Dieser ist umso stärker, je niedriger die Eigenkapitalposition der Gesellschafter ist. Im Ergebnis kann er dazu führen, dass sich bestimmte „Geschäftsideen“ aus deren Sicht nur deshalb lohnen, weil ein Teil der möglichen Verluste nicht von ihnen selbst getragen wird: Die beschränkte Haftung fördert auch ökonomisch unrentable Unternehmen, sofern es den Gründern gelingt, die Verlustgefahr hinreichend auf die Gläubiger (und andere Unternehmensbeteiligte) umzulenken. Wer einem solchen unrentablen Unternehmen Kredit gewährt, erleidet wirtschaftlich eine Einbuße: Zwar kommt es nicht stets zu einem Forderungsausfall. 21 Vgl. Easterbrook/Fischel, aaO (Fn. 17 [Economic Structure]), S. 47f. 22 Vgl. etwa Ross/Westerfield/Jaffe, Corporate Finance, 7. Aufl. 2005, S. 438f.; Eidenmüller, Unternehmenssanierung zwischen Markt und Gesetz, 1999, S. 22f.; Eidenmüller, JZ 2001, 1041, 1048 f.; Engert, ZGR 2004, 813, 822 ff.

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Aber die statistisch zu erwartenden Rückflüsse decken bei derartigen Krediten nicht die Kapitalkosten. Selbstverständlich ist den Gläubigern auch bewusst, dass die beschränkte Haftung dazu einlädt, derartige unrentable Unternehmen zu gründen. Jedoch wird es ihnen häufig schwer fallen, zwischen „guten“ und „schlechten“ Gesellschaften zu unterscheiden. Über viele erfolgsrelevante Faktoren wie die persönliche Qualifikation der Gesellschafter und die Marktgegebenheiten sind die Gründer sehr viel besser im Bilde als mögliche Kreditgeber. Wenn eine solche Informationsasymmetrie nicht zu vertretbaren Kosten ausgeglichen werden kann, führt sie regelmäßig zu einem (Teil-)Versagen des betreffenden Marktes.23 Auch aussichtsreiche Unternehmen erhalten dann keine ausreichende Finanzierung, weil für potentielle Kreditgeber die Gefahr zu groß ist, an ein unrentables Unternehmen zu geraten. Im Ergebnis droht sich damit die Haftungsbeschränkung selbst auszuhebeln: Indem sie gerade für wenig aussichtsreiche Geschäftsgründungen besonders attraktiv ist, müssen Kreditgeber eine Negativauslese schlechter Kreditrisiken fürchten. Kapitalgesellschaften mit beschränkter Haftung könnten stigmatisiert werden, so dass seriöse Unternehmen nur noch in unbeschränkt haftender Rechtsform gegründet werden. Besonders groß ist diese Gefahr bei kleinen Unternehmen, weil bei ihnen die Verringerung von Informationsasymmetrien relativ – gemessen an der Kreditsumme – kostspieliger ist: Der Informations- und Überwachungsaufwand für zehn Darlehen in Höhe von 50.000 Euro ist deutlich größer als der für ein einziges Darlehen in Höhe von 500.000 Euro.

V. Effizienzeffekte des Mindestkapitals Mit der Gefahr einer Negativauslese ist ein Problem bezeichnet, das durch ein Mindestkapitalerfordernis möglicherweise gemildert wird. Hieraus ergeben sich die ökonomischen Vorteile eines solchen Erfordernisses. Zu berücksichtigen sind aber selbstverständlich auch mögliche Effizienznachteile. Vor- und Nachteile (Nutzen und Kosten) lassen sich nicht präzise quantifizieren, sondern nur (grob) abschätzen.

1. Nutzen des Mindestkapitals Muss eine Aktiengesellschaft mit wenigstens 25.000 Euro (so die Vorgabe der 2. Richtlinie) bzw. 50.000 Euro (so das deutsche Recht) Grundkapital ausgestattet werden, so erschwert dies die Gründung unrentabler Unternehmen. Immerhin müssen die Gesellschafter nun einen nicht unerheblichen Betrag aufs Spiel setzen, 23 Zum Problem der adversen Selektion grundlegend Akerlof, Q. J. of Econ. 84 (1970), 488.

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der zudem vorrangig für entstehende Verluste haftet. Zwar ist es sicher richtig, dass das Mindestkapital für viele größere Unternehmen völlig unzureichend ist.24 Daraus ergibt sich jedoch noch kein schlagender Einwand gegen die Nützlichkeit eines solchen Erfordernisses bei kleinen Unternehmen. Gleiches gilt auch für den Vorwurf, das Mindestkapital spiegele nur eine Anfangsausstattung wider und sei deshalb für die Gläubiger unerheblich.25 Sofern ein Mindestkapitalerfordernis überhaupt die Gründung beschränkt haftender Kapitalgesellschaften verhindert – was angesichts der großen Nachfrage etwa deutscher Unternehmensgründer nach der englischen oder irischen Limited (statt nach einer deutschen GmbH) nahe liegt –, dann ist eine Filterwirkung kaum zu leugnen.26 Auf den ersten Blick gravierender ist hingegen ein anderer Einwand: Dass ein Eigenbeitrag der Gründer die Durchschnittsqualität der mit Haftungsbeschränkung betriebenen Unternehmen verbessern kann, wissen natürlich auch potentielle Vertragspartner. Es ist deshalb keineswegs klar, weshalb eine zwingende gesetzliche Regelung erforderlich sein sollte. Gerade die Vorschriften über die Kapitalaufbringung und -erhaltung (die für die vorliegende Untersuchung als gegeben unterstellt werden) erleichtern es den Gläubigern, eine ausreichende Risikotragung durch die Gründer durchzusetzen.27 Echte ökonomische Vorteile erbringt ein Mindestkapitalerfordernis daher nur, wenn sich zeigen lässt, dass auch dieser Marktmechanismus wenigstens zum Teil versagt. Tatsächlich sprechen gute Gründe für eine solche Annahme. Zunächst einmal können natürlich nur Vertragspartner auf einen Eigenbeitrag der Gesellschafter achten. Gesetzliche Gläubiger haben diese Möglichkeit nicht. Weiter muss man sich vor Augen halten, dass die Kreditwürdigkeit einer bestimmten Gesellschaft von einer großen Zahl unterschiedlicher Faktoren abhängt. Für viele Vertragspartner – etwa Lieferanten – lohnt es sich angesichts eines relativ geringen Kreditvolumens gegenüber dem einzelnen Unternehmen nicht, alle diese Informationen zu beschaffen. Um die Höhe des gezeichneten und einbezahlten Kapitals einer Gesellschaft festzustellen, muss immerhin das Handelsregister eingesehen (bzw. abgerufen) werden. Das ist kein vernachlässigbarer Aufwand. Die Situation ähnelt der bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen: Dort wird zu Recht unterstellt, dass jede einzelne Klausel für den Vertragspartner des Verwenders zu unbedeutend ist, um eine Überprüfung zu rechtfertigen.28 24 So eine verbreitete Kritik, vgl. etwa Davies, AG 1998, 346, 353; Enriques/Macey, Cornell L. Rev. 86 (2001), 1165, 1185 f.; Mülbert/Birke, EBOR 3 (2002), 695, 718; Schön, EBOR 5 (2004), 429, 437. 25 Vgl. etwa Enriques/Macey, Cornell L. Rev. 86 (2001), 1165, 1186f. 26 Fragen kann man allerdings, ob diese Filterwirkung womöglich auch die Gründung rentabler Unternehmen verhindert, vgl. näher im Text Abschnitt V. 2. 27 Dies ist der außerordentlich einleuchtende Kerngedanke bei Schön, EBOR 5 (2004), 429, 438ff. 28 Vgl. etwa Schäfer, FS Ott, 2002, 279.

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Nicht tragfähig ist diese Argumentation allerdings bei Bankkrediten, auf die nur wenige kleine Unternehmen verzichten können. Zudem würde es an sich genügen, wenn nur ein entsprechender Kreditgeber (etwa die „Hausbank“) ein ausreichendes festes Kapital durchsetzt – in diesem Fall erübrigte sich eine gesetzliche Bestimmung. Indessen ist eine Bank natürlich nur an ihrer eigenen Sicherung interessiert. Deshalb wird sie nicht in erster Linie auf hohe Einlagen der Gründer in die Gesellschaft dringen, sondern auf die Gewährung von Kreditsicherheiten. Als solche eignen sich die (mit dem Darlehen beschafften) Investitionsgüter, vor allem aber Sach- und Personalsicherheiten aus dem Privatvermögen der Gesellschafter. Diesen wird also zumeist doch ein Mindestbetrag an eigenen Mitteln abverlangt werden, wenn auch nur in Form einer Kreditsicherheit zugunsten der Bank.29 Auch ein solcher Eigenbeitrag („Quasi-Eigenkapital“) wirkt der Gründung unrentabler Unternehmen entgegen, wenn – dies ist der entscheidende Punkt – ein Zusammenbruch der Gesellschaft zur Inanspruchnahme der Sicherheit führt. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, fehlt es hinsichtlich des Unternehmens an einem nennenswerten eigenen Verlustrisiko der Gründer, so etwa dann, wenn die erforderlichen Investitionen außerhalb der Gesellschaft getätigt werden, um sie im Falle eines Zusammenbruchs mit einer neuen „Betriebsgesellschaft“ weiter nutzen zu können. Dieses Szenario ist keineswegs völlig unrealistisch. Das zwingende Mindestkapital erschwert es somit, Unternehmen „aufzuspalten“ und Verlustrisiken in einer Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung zu konzentrieren, um sie auf kleinere Vertragspartner, Arbeitnehmer und gesetzliche Gläubiger abzuwälzen. Ein weiterer Gesichtspunkt kommt hinzu. Zwar ist das Mindestkapital kein separates, von dem übrigen Gesellschaftsvermögen getrenntes und nur für die Gläubiger reserviertes Vermögen, wie es der missverständliche Ausdruck „Haftungsfond“ suggeriert. Vielmehr kann und soll es als Betriebsmittel für das Unternehmen eingesetzt werden und nimmt daher an dem wirtschaftlichen Wagnis voll teil; lediglich ein Rückfluss an die Gesellschafter ist untersagt. Allerdings wirkt das von den Gesellschaftern aufzubringende Kapital in begrenztem Maß als Risikopuffer, weil Verluste zuerst zu Lasten dieses Postens gehen.30 Das dürfte –

29 Daten über die Kapitalisierung kleinerer (personalistisch strukturierter) Kapitalgesellschaften bestätigen diese Einschätzung. So verfügten in Deutschland nur 11 % der von Januar bis Oktober 2004 neu gegründeten Gesellschaften mit beschränkter Haftung über ein Stammkapital von mehr als 25.000 Euro (Auskunft des Verbands der Vereine Creditreform e.V. gegenüber den Verf. vom 17. 11. 2004). Die Eigenkapitalquoten nicht börsennotierter Aktiengesellschaften liegen deutlich unter denjenigen von Publikums-Aktiengesellschaften und denjenigen sonstiger börsennotierter Aktiengesellschaften, vgl. T. Bezzenberger, aaO (Fn. 10), S. 39ff. 30 Diese Wirkung ist allerdings sehr krude und begrenzt, weil das Mindestkapital keinen Bezug zu dem konkreten Risikoprofil einer Gesellschaft besitzt und auch

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ebenso wie die Selektion erfolgreicherer Geschäftsmodelle – die Insolvenzwahrscheinlichkeit und damit auch die erwarteten Insolvenzkosten reduzieren: Jedenfalls kleinere und nicht abrupte wirtschaftliche Rückschläge lassen sich so auffangen und schlagen nicht unmittelbar und sofort auf die Gläubiger durch. Dadurch wird auch der Risikoanreiz der Gesellschafter bei entsprechenden Rückschlägen zumindest etwas gemildert.31 Gleichzeitig ist nach dem oben Ausgeführten nicht zu erwarten, dass der Marktmechanismus diese Funktion adäquat immer übernehmen kann. Eine zwingende gesetzliche Regelung erscheint damit geboten.

2. Kosten des Mindestkapitals Dem gesetzlichen Mindestkapital lässt sich also ein gewisser Nutzen nicht absprechen. Diesem stehen indes auch Nachteile gegenüber, die sich in zwei Gruppen einteilen lassen: Zum einen kann ein gesetzlich geforderter Eigenbeitrag der Gründer auch einmal rentable Unternehmen behindern. Zum anderen zwingt das Mindestkapital die Gesellschafter dazu, von dem System des festen Kapitals insgesamt Gebrauch zu machen und dabei Kosten insbesondere für die gerichtliche Überwachung der Kapitalaufbringung zu tragen.

a) Gründungserschwernis für rentable Unternehmen Es leuchtet unmittelbar ein, dass das Mindestkapitalerfordernis zu hoch angesetzt werden kann. Natürlich ist es außerordentlich schwierig, ein handhabbares Maß für das erforderliche Eigenkapital einer Gesellschaft zu finden. Dies scheitert zwar nicht bereits daran, dass hierzu keine wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse vorlägen.32 Die ökonomische Finanzierungstheorie hat durchaus Gesichtspunkte für die angemessene Kapitalstruktur von Unternehmen heraus-

keine Pflicht zur (Wieder-)Auffüllung eines verbrauchten Kapitals besteht, vgl. Eidenmüller, FS Heldrich, 2005, 581, 593. 31 Freilich wird diese verhaltenssteuernde Wirkung des Mindestkapitals auch dadurch sehr begrenzt, dass bei Aktiengesellschaften – anders als bei geschlossenen Gesellschaften – eine unmittelbare Einflussnahme der Gesellschafter auf geschäftspolitische Entscheidungen häufig ausgeschlossen ist (vgl. etwa für Deutschland § 76 Abs. 1 AktG), der Risikoanreiz der Gesellschafter also nicht unmittelbar auch das Verhalten der Geschäftsleiter determiniert. Vgl. zu diesen Fragen Davies, EBOR 7 (2006) [im Druck]. 32 So allerdings – unter Berufung auf die Irrelevanztheoreme von Modigliani/Miller, Am. Econ. Rev. 48 (1958), 261 – Schön, EBOR 5 (2004), 429, 437; Schneider, aaO (Fn. 2), S. 90f.

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gearbeitet.33 Diese lassen sich allerdings nicht auf eine einfache Formel bringen, mit der ein konkreter Kapitalbedarf ermittelt werden könnte.34 Unterstellt man einmal, dass die durchschnittliche Eigenkapitalquote kleiner Unternehmen in Deutschland von etwa 5 % ökonomisch jedenfalls nicht offensichtlich unangemessen ist,35 so besagt ein Mindestkapital in Höhe von 25.000 Euro (die Vorgabe der 2. Richtlinie), dass eine Kapitalgesellschaft ein Gesellschaftsvermögen in Höhe von 500.000 Euro erreichen muss, um diesem (hypothetischen) Ideal zu entsprechen. Bei einem Mindestkapital für die Aktiengesellschaft von 50.000 Euro (deutsches Recht) ergäbe sich ein Wert von 1 Mio. Euro. Geht man demgegenüber von einer „angemessenen“ Eigenkapitalquote von 10 % aus, hätte dies Werte von 250.000 Euro bzw. 500.000 Euro zur Folge. Unternehmen mit einem entsprechenden Gesellschaftsvermögen sind jedenfalls nicht als ganz kleine anzusehen – zumindest die typische „Ich-AG“ würde es danach jedenfalls nicht zur Rechtsform einer Aktiengesellschaft, ja nicht einmal zu derjenigen einer GmbH bringen. Es lässt sich daher wohl nicht ausschließen, dass das Mindestkapitalerfordernis rentable Unternehmen zu einer unangemessen hohen Eigenkapitalquote oder zu einem Verzicht auf die Wahl einer Rechtsform mit beschränkter Haftung zwingt. Zu denken ist insbesondere an bestimmte Dienstleistungsbetriebe mit niedrigem Investitionsbedarf.36 In Einzelfällen könnte das Mindestkapital sogar die Gründung eines rentablen Unternehmens verhindern. Man kann insoweit von Opportunitätskosten des Mindestkapitals sprechen. Indes dürfte ein solches Szenario nur selten eintreten, denn es müssten drei Umstände zusammenkommen: Erstens muss es einem einzelnen Gründer unmöglich sein, 25 % des Nennbetrags der Aktien einzuzahlen (Art. 9 Abs. 1 der 2. Richtlinie, § 36a Abs. 1 AktG), also 6.250 Euro (2. Richtlinie) bzw. 12.500 Euro (deutsches Recht). Zweitens muss das unternehmerische Risiko aus Sicht der Gründer so schwer wiegen, dass sie ihr Vorhaben lieber aufgeben, als die unbeschränkte Haftung in Kauf zu nehmen. Drittens schließlich muss das ins Auge gefasste Unternehmen so aussichtsreich sein, dass die erwarteten Rückflüsse wenigstens die banküblichen Zinsen für die zu tätigenden Investitionen und ein auskömmliches Einkommen für die Gründer decken. Häufig dürften diese drei Umstände nicht zusammentreffen.

33 Vgl. den Literaturüberblick von Harris/Raviv, J. Fin. 46 (1991), 297. 34 Vgl. K. Schmidt, JZ 1984, 771, 777f. 35 Die Zahl bezieht sich auf das Jahr 1998 und auf Unternehmen mit weniger als fünf Millionen DM Jahresumsatz, vgl. Deutsche Bundesbank, Verhältniszahlen aus Jahresabschlüssen west- und ostdeutscher Unternehmen für 1998, 2001, S. 14. Sie ist insofern unzutreffend, als das Eigenkapital bilanziell typischerweise deutlich zu gering ausgewiesen wird. 36 Vgl. Grunewald/Noack, GmbHR 2005, 189, 190.

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b) Kosten der Gründungsprüfung Stärker ins Gewicht fallen kann demgegenüber ein zweiter Kostenpunkt: Ein Mindestkapital erzwingt nämlich gerade für kleinere Unternehmen die gerichtliche Kontrolle der realen Kapitalaufbringung. Der Aufwand hält sich in Grenzen, wenn Bareinlagen erbracht werden. Handelt es sich hingegen um Sacheinlagen, muss eine Gründungsprüfung durch einen unabhängigen Prüfer erfolgen. Dieser hat unter anderem zu ermitteln, ob der Wert der Sacheinlagen den Ausgabebetrag der dafür zu gewährenden Aktien erreicht (Art. 10 Abs. 2 der 2. Richtlinie, § 34 Abs. 1 Ziff. 2 AktG). Der dadurch hervorgerufene finanzielle und sonstige Aufwand ist dem Mindestkapital anzulasten: 37 Es erscheint wenig wahrscheinlich, dass die Gründer ohne ein solches Erfordernis ein festes Kapital in signifikanter Größenordnung wählen und sich damit einer so aufwendigen Prüfung unterziehen würden. Wie bereits dargelegt, ist nämlich nicht zu erwarten, dass die Höhe des Kapitals bei potentiellen Vertragspartnern eine signifikante Beachtung findet (vgl. oben Abschnitt V. 1.). Andererseits kann auf eine Prüfung der Kapitalaufbringung auch nicht ganz verzichtet werden, ohne das Ziel des Mindestkapitals zu gefährden: Könnten sich die Gründer mit nicht werthaltigen Vermögensgegenständen von ihrer Einlagepflicht befreien, so müssten sie im wirtschaftlichen Ergebnis eben doch kein nennenswertes Eigenrisiko übernehmen (vgl. oben Abschnitt II.). Vorstellbar wäre es aber, Sacheinlagen erst dann zu überprüfen, wenn es auf die befreiende Leistung rechtlich ankommt, nämlich in einem Nachforderungsprozess in der Insolvenz der Gesellschaft.38 Dies hätte eine nicht unerhebliche Kostenersparnis zur Folge: Eine Prüfung würde nicht mehr in jedem Fall, sondern nur noch für insolvente Gesellschaften erfolgen. Die Beweislast für die Werthaltigkeit der Einlagen wäre den Gesellschaftern aufzubürden.39 Das ist diesen zumutbar: Sie könnten dann bei der Gründung selbst entscheiden, welchen Aufwand sie treiben, um diese Werthaltigkeit „im Fall des Falles“ später dokumentieren zu können. Dadurch würde der Prüfungsaufwand insgesamt auch bei unterstellter Vorsicht der Grün-

37 Vgl. Eidenmüller, FS Heldrich, 2005, 581, 593. Die geplanten Änderungen der Richtlinie (vgl. KOM(2004) 730 endg. v. 21. 9. 2004, S. 10 ff. [Einfügung von Art. 10a und 10b]) werden insoweit gewisse Erleichterungen bringen. 38 Weitergehend schlägt Kallmeyer, GmbHR 2004, 377, 379f. vor, dass sich die Haftung der Gesellschafter überhaupt erst in der Insolvenz verwirklichen soll. Zu diesem Vorschlag Grunewald/Noack, GmbHR 2005, 189, 194f. Die derzeit geplanten Änderungen der Richtlinie (vgl. Fn. 37) beschränken sich demgegenüber darauf, in bestimmten Fällen einen Sachverständigenbericht nicht mehr zwingend vorzuschreiben. Darin liegt ein Fortschritt gegenüber dem status quo im Sinne einer Verringerung des Prüfungsaufwandes. Der im Text gemachte Vorschlag geht darüber allerdings noch hinaus. 39 Vgl. Grunewald, FS Rowedder, 1994, 111, 116.

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der wohl reduziert, weil diese die Werthaltigkeit der Einlagen selbst am besten einschätzen können und deshalb den Dokumentationsaufwand dem Einzelfall anpassen würden.40

3. Gesamtwürdigung Versucht man eine Gesamtwürdigung der Effizienzeffekte des Mindestkapitals, so ist zunächst nochmals darauf hinzuweisen, dass insoweit allenfalls eine quantitative Grobabschätzung möglich ist. Sodann ist festzuhalten, dass die symbolische Bedeutung dieser Frage für die (vermeintliche) Modernisierung des Gesellschaftsrechts ihre ökonomische Tragweite wohl weit übersteigt.41 Weder ist das Mindestkapital ein signifikanter Bremsklotz für vielversprechende Unternehmensgründungen noch ist es ein unverzichtbarer Eckpfeiler des Gläubigerschutzes – Letzteres schon deshalb nicht, weil es für alle etwas größeren Unternehmen bedeutungslos ist. Allerdings wäre es auch verfehlt, dem Mindestkapital jede Wirkung abzusprechen: Es sorgt dafür, dass eine Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung regelmäßig nur gründet, wer damit einigermaßen ernsthafte unternehmerische Absichten verfolgt. Eindeutig missbräuchliche Vorgehensweisen werden zwar nicht ausgeschlossen, aber doch erschwert. Bei den möglichen Nachteilen ist die Höhe des Mindestkapitals als solche unbedenklich: Wer für seine Geschäftsidee überhaupt 25.000 Euro (2. Richtlinie) bzw. 50.000 Euro (deutsches Recht) aufbringen kann, wird in aller Regel auch seine Mindesteinlage finanzieren können. Bei noch kleineren Vorhaben sollte auch eine Haftungsbeschränkung entbehrlich sein – gegenüber Unternehmen mit kleinstem Kapitalbedarf, aber großen Risiken ist Misstrauen angebracht. Problematisch ist daher allein der Fall, dass eine kleine Kapitalgesellschaft durch Sachgründung errichtet werden soll, insbesondere bei Einbringung eines kleinen Un-

40 Unter dem Gesichtspunkt der Fungibilität der Gesellschaftsanteile (Aktien) sollte die Haftung auf die Gründer beschränkt werden, also nachfolgende Erwerber nicht erfassen. Ansonsten drohte eine kostenträchtige Prüfung der Werthaltigkeit der erbrachten Einlagen durch jeden nachfolgenden Erwerber. Sinnvoll erscheint ferner eine Regelung, nach der die Haftung etwa nach zehn Jahren verjährt (vgl. beispielsweise § 9 Abs. 2 GmbHG). Je länger die Gründung zurückliegt, desto schwieriger und damit kostenträchtiger wird die Werthaltigkeitsprüfung und desto niedriger ist die Wahrscheinlichkeit, dass die eingetretene Insolvenz durch eine unzureichende Kapitalausstattung mitverursacht wurde. 41 Zu Recht hat die von der EU-Kommission berufene Hochrangige Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts in ihrem Bericht, aaO (Fn. 3), S. 88 bezogen auf die 2. Richtlinie deshalb gemahnt, „ … nicht zu viel Zeit auf das Mindesteigenkapital zu verwenden, sondern relevanteren Fragen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.“

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ternehmens.42 Hier dürfte der Aufwand derzeit außer Verhältnis zu dem nicht sehr großen Nutzen des Mindestkapitals stehen. Indes ließe sich dieses Problem, wie soeben gesehen (vgl. oben Abschnitt V. 2. b)), mittels einer Ersetzung der zwingenden Sacheinlageprüfung bei Gründung durch eine (potentielle) Nachhaftung im Falle der Insolvenz deutlich abmildern. Zudem sind natürlich auch alternative Gläubigerschutzkonzepte nicht kostenlos zu haben: Verzichtete man nämlich auf das Mindestkapital, so müsste der Risikoanreiz von Gesellschaftern (vgl. oben Abschnitt IV. 2.) anders bekämpft werden, etwa durch eine Ausweitung der gesellschaftsrechtlichen und deliktischen Durchgriffshaftung sowie der persönlichen Haftung von Organwaltern. Damit aber sind zwangsläufig Administrations- und/oder Risikokosten verbunden.43 Entsprechende Administrationskosten brächte auch ein gesetzlicher Zwang zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung zugunsten bestimmter Gläubiger bzw. Gläubigergruppen (etwa Deliktsgläubiger) mit sich.44

VI. Rechtspolitische Optionen Auf dieser Grundlage sollen im Folgenden die rechtspolitischen Optionen für das Erfordernis eines Mindestkapitals im europäischen Gesellschaftsrecht diskutiert und bewertet werden. Dort begegnet das Mindestkapital zum einen in der europäischen Rechtsform der Europäischen Gesellschaft (SE) und zum anderen in der für Aktiengesellschaften geltenden 2. Richtlinie (Kapitalrichtlinie). Mindestkapital bedeutet, dass ein bestimmter Betrag bei der Gründung ganz oder teilweise (Art. 9 der 2. Richtlinie) an die Gesellschaft zu leisten ist.

1. Societas Europaea (SE) Art. 4 Abs. 2 SE-VO bestimmt für die Europäische Gesellschaft, das „gezeichnete Kapital“ habe mindestens 120.000 Euro zu betragen. Aufbringung und Erhaltung des gezeichneten Kapitals regeln sich nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem die SE eingetragen ist (Art. 5 SE-VO). Erwägungsgrund 13 erklärt die Regelung des Mindestkapitals wie folgt: „Um eine sinnvolle Unternehmens42 Bei größeren Sachgründungen verursacht das Mindestkapital wiederum keine Schwierigkeiten, vgl. im Text Abschnitt III. 43 Zutr. Lutter, AG 1998, 375, 377. 44 Dahingehende Vorschläge kommen vor allem von Kritikern des Mindestkapitals, vgl. etwa Armour, Modern L. Rev. 63 (2000), 355, 372; Mülbert/Birke, EBOR 3 (2002), 695, 725; Schön, EBOR 5 (2004), 429, 438. Siehe auch die Analyse von Shavell, Minimum Asset Requirements and Compulsory Liability Insurance As Solutions to the Judgment-Proof Problem, NBER Working Paper 10341, 2004.

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größe dieser Gesellschaften zu gewährleisten, empfiehlt es sich, ein Mindestkapital festzusetzen, das die Gewähr dafür bietet, dass diese Gesellschaften über eine ausreichende Vermögensgrundlage verfügen, ohne dass dadurch kleinen und mittleren Unternehmen die Gründung von SE erschwert wird.“ Die Festlegung eines Mindestkapitals soll also offenbar den Bestand der Gesellschaft stützen helfen („ausreichende Vermögensgrundlage“). Freilich war es weniger die hier anklingende gläubigerschützende Intention, welche zu dem Erfordernis eines vergleichsweise hohen Mindestkapitals führte, sondern das Bestreben, die Rechtsform der SE eher größeren Unternehmen zugänglich zu machen.45 In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als die ersten Vorschläge für eine SE behandelt wurden, war je nach Gründungsvariante sogar ein Mindestkapital von (umgerechnet) 1 Mio. bis 4 Mio. DM im Gespräch.46 Die Summe wurde im Zuge der Richtlinienvorschläge 1970,47 1975 48 und 1989/1991 49 immer weiter gesenkt. Der heute maßgebliche Betrag von 120.000 Euro, der anfangs zu einem Viertel zu leisten ist, ist lediglich für kleinere Unternehmen eine ernste Hürde.50 Hier erfüllt das Erfordernis eines Mindestkapitals nach dem bereits Ausgeführten aber auch eine wichtige Funktion. Änderungen der SE-VO sind insoweit nicht zu empfehlen. Für die (kostenträchtige) Aufbringungsprüfung gilt das Recht des Mitgliedstaats für Aktiengesellschaften, in dem die SE eingetragen ist (Art. 15 Abs. 1 SE-VO).51 Etwaige Reformüberlegungen hinsichtlich dieser Prüfung sind daher an die Mitgliedstaaten zu richten bzw. – soweit deren Aktienrecht durch die 2. Richtlinie determiniert ist – betreffen mögliche Revisionen der 2. Richtlinie.

45 Vgl. Hommelhoff, AG 2001, 279, 286 f.; Hirte, NZG 2002, 1, 9. 46 Sanders, Vorentwurf eines Statuts für die Europäische Aktiengesellschaft, 1966; erläuternd Sanders, AG 1967, 344, 346; dazu Martens, Kapital und Kapitalschutz in der SE, in: Lutter (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft, 1976, S. 165, 167f.; Gessler, BB 1967, 381, 383. 47 ECU 100.000–500.000. 48 ECU 100.000–250.000. 49 ECU 100.000. 50 Vgl. Blanquet, ZGR 2002, 20, 52; stärker die Selektionswirkung betonend Krüger, Mindestkapital und Gläubigerschutz, 2005, S. 102, 107. 51 Bei der erstmaligen Aufbringung des Gesellschaftskapitals der SE ist nicht Art. 5 SEVO, sondern Art. 15 Abs. 1 SE-VO die maßgebliche Verweisungsvorschrift, vgl. Fleischer, Die Finanzverfassung der Europäischen Gesellschaft, in: Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), Die Europäische Gesellschaft, 2005, S. 169, 172.

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2. Kapitalrichtlinie a) Inhalt und Entstehung Die 2. Richtlinie 77/91/EWG vom 13. 12. 1976 (Kapitalrichtlinie) verlangt in Art. 6 Abs. 1 eine mitgliedstaatliche Regelung, die für die Gründung einer Aktiengesellschaft „die Zeichnung eines Mindestkapitals“ vorschreibt. Der Betrag dieses Mindestkapitals darf „nicht auf weniger als 25.000 Europäische Rechnungseinheiten festgesetzt“ werden. Dies entspricht heute 25.000 Euro.52 Art. 9 Abs. 1 der 2. Richtlinie legt fest, dass die Einlagen auf ausgegebene Aktien bei der Gründung mindestens ein Viertel des Nennbetrages erreichen müssen (vgl. bereits oben Abschnitt V. 2. a)). Sacheinlagen sind innerhalb von fünf Jahren nach der Gründung vollständig zu leisten (Art. 9 Abs. 2). Bei „schweren Verlusten des gezeichneten Kapitals muss die Hauptversammlung“ einberufen werden (Art. 17 Abs. 1). Als Rechtsgrundlage der Richtlinie werden eingangs der Erwägungsgründe Art. 44 Abs. 2 EGV (damals: Artikel 54 Abs. 3 Buchstabe g EWG-Vertrag) sowie das „Allgemeine Programm zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit“ genannt.53 Die weiteren Erwägungsgründe geben an, die Koordinierung der einzelstaatlichen Vorschriften über die Gründung der Aktiengesellschaft sei vor allem bedeutsam, um beim Schutz der Aktionäre einerseits und der Gläubiger der Gesellschaft andererseits ein „Mindestmaß an Gleichwertigkeit“ sicherzustellen. Eine konkrete Erläuterung zum Grund und zur verlangten Höhe des Mindestkapitals findet sich nicht. Insoweit ergiebiger ist die Begründung zum Richtlinienentwurf aus dem Jahr 1970. Dort wird die Regelung mit der Funktion des Kapitals als Sicherheit für Dritte begründet, weshalb ein gewisser Umfang erforderlich sei. Des Weiteren sollten kleinere Unternehmen an einer Flucht in die Anonymität gehindert werden.54 Der letztgenannte Aspekt des Ausschlusses kleinerer Unternehmen taucht im Normtext der geltenden 2. Richtlinie wieder auf. Dort heißt es im Hinblick auf die Anpassung des Mindestbetrags, die Wahl der Rechtsform der Aktiengesellschaft sei tendenziell „großen und mittleren Unternehmen vorzubehalten“ (Art. 6 Abs. 3). Von den damaligen sechs Mitgliedstaaten hatten Deutschland, Frankreich und Italien ein Mindestkapital für Aktiengesellschaften bereits gesetzlich vorgese-

52 Nach Errichtung des Europäischen Währungssystems (EWS) wurde die Europäische Rechnungseinheit 1979 von der European Currency Unit (ECU), nach Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. 1. 1999 vom Euro abgelöst. 53 Krit. Steindorff, EuZW, 1990, 251, 253. 54 ABl. EG Nr. C 48 v. 24. 4. 1970, S. 8, 10; vgl. dazu auch Drinkuth, Die Kapitalrichtlinie – Mindest- oder Höchstnorm?, 1998, S. 131 f.; Krüger, aaO (Fn. 50), S. 92.

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hen.55 Großbritannien und Irland, die 1973 der EWG beitraten, kannten in ihren Gesellschaftsrechten kein Mindestkapital; beide Staaten führten dieses Institut für ihre public company limited by shares im Zuge der Umsetzung der 2. Richtlinie ein.56

b) Höhe des Mindestkapitals Zur Zeit des ersten Entwurfs der 2. Richtlinie 1970 entsprach die vorgesehene Summe dem für deutsche Aktiengesellschaften geltenden Mindestkapital von 100.000 DM.57 Der Betrag ist seit 1976 nicht angepasst worden. Der Ausgleich einer Inflationsrate von (nur) 2 % würde nach dreißig Jahren einer Summe von über 45.000 Euro entsprechen, bei 5 % ergäben sich schon über 100.000 Euro. Von der in Art. 6 Abs. 3 der 2. Richtlinie erwähnten Möglichkeit der Anpassung an die wirtschaftliche und monetäre Entwicklung in der Gemeinschaft ist freilich kein Gebrauch gemacht worden. Die Hürde für die Gründung einer Aktiengesellschaft ist damit (heute) durchaus niedrig angesetzt,58 vor allem wenn man bedenkt, dass nur ein Viertel des Mindestnennbetrags (= 6.250 Euro) sofort geleistet werden muss. Dies hindert keine ernsthaft gewollte Errichtung einer Aktiengesellschaft.59 Die ihr ursprünglich zugeschriebenen Funktionen einer gewissen Gläubigersicherung und einer Abwehr kleinerer Unternehmen hat die Regelung des Art. 6 Abs. 1 der 2. Richtlinie damit mittlerweile wohl weitgehend verloren. Es kommt hinzu, dass sich für den intendierten Ausschluss entsprechender Unternehmen von der Rechtsform der Aktiengesellschaft zwar ökonomische Argumente ins Feld führen lassen (vgl. dazu oben Abschnitt V. 1.), dies aber in gewissem Kontrast zu den Bestrebungen in vielen Mitgliedstaaten steht, die Gründung und Führung von Aktiengesellschaften zu erleichtern, etwa in Deutschland in den neunziger Jahren durch die Gesetzgebung über die „kleine AG“. Zumindest erwägenswert ist ferner, ob es sich bei Art. 6 Abs. 1 der 2. Richtlinie um eine „Höchstnorm“ handelt. Damit soll ausgedrückt sein, dass die Mitgliedstaaten nicht nur nicht nach unten abweichen dürfen, sondern auch keine höheren Beträge für das Mindestkapital festsetzen können. Dagegen spricht aller55 Vgl. Niessen, AG 1970, 281, 285. 56 Vgl. Gansen, Harmonisierung der Kapitalaufbringung im englischen und deutschen Kapitalgesellschaftsrecht, 1992, S. 24 f.; Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, 4. Aufl. 1996, S. 48. 57 Vgl. Ankele, BB 1970, 988, 990. 58 Ebenso die Hochrangige Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts in ihrem Bericht, aaO (Fn. 3), S. 88. 59 Vgl. Niederleithinger, AG 1998, 377, 378; Baldamus, Reform der Kapitalrichtlinie, 2002, S. 89.

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dings der klare Wortlaut der Bestimmung, die von „nicht weniger“ spricht. Auch die durch den EGV verbürgte Niederlassungsfreiheit zwingt zu keiner anderen Deutung.60 Die Praxis der Mitgliedstaaten sieht Beträge zwischen 25.000 Euro und 120.000 Euro (Italien) vor.

c) Reform der Richtlinie Der 2004 veröffentlichte Reformvorschlag der Kommission für die 2. Richtlinie will an dem Erfordernis des Mindestkapitals nichts ändern. Die Frage einer Änderung ist offenbar einer möglichen „großen“ Reform vorbehalten. Zurückhaltend formulierte insoweit allerdings bereits der Bericht der High Level Group of Company Law Experts im November 2002, der Aufwand für eine Reform der Mindestkapitalbestimmung der Richtlinie lohne nicht: „Die Gruppe ist zu dem Schluss gekommen, dass die einzige Funktion des Mindesteigenkapitals in der Abschreckung vor einer leichtfertigen Gründung von Aktiengesellschaften besteht. Wir sind nicht davon überzeugt, dass das Mindesteigenkapital in seiner derzeitigen Höhe irgendeine andere nützliche Funktion erfüllt, aber es gibt auch keine Belege dafür, dass es ein Hindernis für die Geschäftstätigkeit darstellt. In einer Reform zur Steigerung der Effizienz des derzeitigen Systems wäre es wahrscheinlich klug, nicht zu viel Zeit auf das Mindesteigenkapital zu verwenden, sondern relevanteren Fragen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Das vorgeschriebene Mindesteigenkapital sollte weder abgeschafft noch angehoben werden.“ 61 Die 1999/2000 tagende SLIM-Arbeitsgruppe hatte das System des (Mindest-)Kapitals nicht als solches thematisiert, weil das ihr vorgegebene Verfahren dafür kein geeigneter Rahmen gewesen wäre; 62 ihre Vorschläge bauen auf einem Mindestkapital und (vor allem) dem System des festen Kapitals überhaupt auf.63 Die Rechtsprechung des EuGH schließlich hat dem Mindestkapital keine große Bedeutung für den Gläubigerschutz eingeräumt. In der Entscheidung „Centros“ verwies das Gericht auf die Möglichkeiten des Selbstschutzes der Gläubiger mit Blick auf Transparenzvorschriften.64 In der Entscheidung „Inspire Art“ wurde

60 So aber Drinkuth, aaO (Fn. 54), S. 132 ff.; Steindorff, EuZW 1990, 251, 252f.; sympathisierend Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2004, Rdn. 328; auf der Basis des anders formulierten Richtlinienvorschlags auch Niessen, AG 1970, 281, 285 ff.; Ankele, DB 1970, 988, 990; dagegen Krüger, aaO (Fn. 50), S. 96; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2003, Rdn. 41, 139. 61 Hochrangige Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts in ihrem Bericht, aaO (Fn. 3), S. 88; dazu etwa die Stellungnahme der deutschen Arbeitsgruppe Europäisches Gesellschaftsrecht, ZIP 2003, 863 ff. 62 SLIM-Erläuterungen S. 7 (abgedruckt etwa bei Baldamus, aaO [Fn. 59], S. 251ff.). 63 Vgl. Drygala, AG 2001, 291ff.; Baldamus, aaO (Fn. 59), S. 78f. 64 EuGH v. 9. 3. 1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 („Centros“), Tz. 32ff.; noch

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diese Sichtweise bekräftigt und festgestellt, dass Mindestkapitalbestimmungen für die Eintragung einer Zweigniederlassung einer englischen private limited company gegen die Niederlassungsfreiheit verstoßen.65 Es reiche aus, wenn sich die Gläubiger über die Kapitalausstattung der Gesellschaft informieren könnten. Welche Folgerungen für eine Reform des Mindestkapitalrechts sind aus diesen unterschiedlichen Einschätzungen vor dem Hintergrund der in Abschnitt V. gewonnenen Erkenntnisse zu ziehen? Im Hinblick auf eine Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich, zwischen Änderungen der 2. Richtlinie auf der Basis einer Beibehaltung des geltenden Systems und solchen bei einer (partiellen) Aufgabe dieses Systems zu unterscheiden. aa) Beibehaltung des geltenden Systems aaa) Erhöhung des Mindestkapitals Zu erwägen ist zunächst ein Inflationsausgleich oder eine aus Gründen der „Seriositätsgewähr“ in Betracht zu ziehende deutliche Erhöhung des Mindestkapitals.66 Dieser Schritt wäre konsequent, wenn man das ursprüngliche Schutzniveau der 2. Richtlinie fortschreiben (Inflationsausgleich) bzw. anheben wollte (deutliche Erhöhung des Mindestkapitals). Indes dürfte der mit einer solchen Maßnahme verbundene Grenznutzen einer Milderung des Risikoanreizes für die Gesellschafter wohl nur recht gering sein: Ein Mindestkapital von 25.000 Euro „bringt“ insoweit deutlich mehr als beispielsweise eine Erhöhung von 25.000 Euro auf 50.000 Euro. Auch stünden diesem geringen Grenznutzen einer Anhebung des Mindestkapitals schwer quantifizierbare Kosten der Durchsetzung höherer Mindestbeträge als auch solche aufgrund einer (zusätzlichen) Abschreckung bestimmter rentabler Unternehmungen gegenüber. Angesichts dessen ist eine rechtspolitische Legitimation allenfalls für einen Inflationsausgleich, jedenfalls nicht aber für eine signifikante reale Erhöhung der gegenwärtigen Beträge zu erkennen. bbb) Ausdehnung auf GmbH (geschlossene Gesellschaften) Eine entsprechende Legitimation fehlt auch bezüglich einer Ausdehnung der 2. Richtlinie auf geschlossene Gesellschaften, wie sie in der Vergangenheit verschiedentlich gefordert wurde.67 Anfang der neunziger Jahre war eine Studie der skeptischer der Schlussantrag des Generalanwalts La Pergola v. 16. 7. 1998, Tz. 21; vgl. dazu Kieninger, ZGR 1999, 724, 742ff. 65 EuGH v. 30. 9. 2003, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155 („Inspire Art“), Tz. 135, 141. 66 Baldamus, aaO (Fn. 59), S. 89 empfiehlt eine Orientierung an Art. 1 Abs. 2 SE-VO (120.000 Euro). 67 Vgl. Lutter, ZGR 2000, 1, 9f.; Ulmer, JZ 1999, 662, 664; Wymeersch, aaO (Fn. 2),

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Kommission über eine „Erweiterung des Anwendungsbereichs der zweiten Richtlinie auf Gesellschaften anderer Rechtsformen“ erstellt worden, die in den erheblichen nationalen Abweichungen im Hinblick auf ein Mindestkapital das Haupthindernis für eine Harmonisierung sah.68 Die Studie empfahl, ein Mindestkapital für geschlossene Gesellschaften in Höhe von 10.000 ECU einzuführen. Offizielle Initiativen für eine Ausdehnung der 2. Richtlinie hat es allerdings nicht gegeben. Der Aktionsplan der Kommission aus dem Jahr 2003 geht auf diese Frage an keiner Stelle ein. Die Einführung des Erfordernisses eines Mindestkapitals für geschlossene Gesellschaften durch europäisches Richtlinienrecht ist nicht zu befürworten.69 Zwar sind die ohne Mindestkapital errichtbaren Gesellschaften im Lichte der neueren Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit gewiss ein Problem für Mitgliedstaaten, die dem Kapitalsystem großes Gewicht beilegen. Umgekehrt kann das übrigens genauso gelten, wenn Gesellschaften aus Staaten, die eine ex-ante-Kontrolle bevorzugen, in Staaten tätig werden, bei denen eine ex-postHaftung strenger ausgeprägt ist.70 Die EU sollte in dieser Situation den Wettbewerb der Rechtsformen und ihrer Gläubigerschutzkonzepte aber nicht durch Festlegung auf ein bestimmtes Modell unterbinden. Dieser Wettbewerb ist ein Instrument, um die Effizienz des Kapitalsystems und seiner Alternativen gewissermaßen „zu testen“: Jedenfalls auf der Basis des gegenwärtigen Erkenntnisstandes ist nämlich davon auszugehen, dass dieser Wettbewerb effiziente Ergebnisse hervorbringt.71 Schließlich würde eine Ausdehnung der 2. Richtlinie auf geschlossene Gesellschaften sicher auch an den rechtspolitischen Realitäten scheitern: Es ist angesichts der Einführung einer Ein-Euro-Gesellschaft in Frankreich 2003 72 und der – gerade auch im jüngsten Reformprozess 73 – weiterhin ohne Mindestkapital konzipierten englischen Ltd. nicht zu erwarten, dass entsprechende Pläne auch nur eine geringe Durchsetzungschance hätten.

68 69 70 71 72

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S. 118; Merkt, VGR 1999, S. 111, 138; dagegen Bachmann, ZGR 2001, 351, 365; zurückhaltend auch Fleischer, DStR 2000, 1015, 1020. Erwähnt und zitiert bei Krüger, aaO (Fn. 50), S. 100 f. Ebenso der Tendenz nach wohl van Hulle, EWS 2000, 521, 523. Weller, Europäische Rechtsformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2004 (passim). Vgl. Eidenmüller, FS Heldrich, 2005, 581, 585 ff. Loi pour l’ initiative économique, LIE = Loi No. 2003-721 v. 1. 8. 2003; dazu Le Cannu, Revue des Societes 2003, 409 ff.; Becker, GmbHR 2003, 1120f.; Merkt, ZGR 2004, 305, 317; Mülbert, Der Konzern 2004, 151, 152; Schön, Der Konzern 2004, 162, 165; Wachter, GmbHR 2003, R 377 f. Vgl. www.dti.gov.uk/cld/review.htm.

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ccc) Revision der Aufbringungsprüfung Anders verhält es sich im Hinblick auf die bereits in Abschnitt V. 2. b) diskutierte Reform des Rechts der Aufbringungsprüfung. Würde die in Art. 10 Abs. 2 der 2. Richtlinie verlangte Gründungsprüfung durch einen Nachforderungsprozess in der Insolvenz der Gesellschaft ersetzt, könnten erhebliche Kosten gespart werden. Prüfung und Bewertung von Sacheinlagen würden dann nämlich nicht mehr bei der Gesellschaftsgründung für alle Gesellschaften, sondern nur noch für solche erfolgen, die zum Eintritt in ein Insolvenzverfahren gezwungen sind. Damit wäre eine erhebliche Kostenreduktion verbunden.74 Dass diese Kostenreduktion durch einen übermäßigen Dokumentationsaufwand der Gründer zunichte gemacht würde, ist nach dem bereits Ausgeführten nicht zu erwarten. Die derzeit diskutierten Vorschläge zur Änderung der 2. Richtlinie, nach denen ein Sachverständigenbericht (nur) in bestimmten Fällen (Einbringung übertragbarer Wertpapiere, Vorliegen eines Gutachtens, Übernahme zum Bilanzwert) entbehrlich sein soll, gehen demgegenüber nicht weit genug.75 bb) Änderung des geltenden Systems Während die bisher diskutierten, möglichen Änderungen der 2. Richtlinie das Erfordernis eines zwingenden Mindestkapitals im Grundsatz unangetastet lassen würden, sind auch Modifikationen in Betracht zu ziehen, die auf eine Aufgabe dieses Erfordernisses hinauslaufen. aaa) Verbot des Mindestkapitals Diese Aufgabe kann man sich in zwei unterschiedlichen Varianten vorstellen. Die eine läge in einem Verbot, ein Mindestkapitalerfordernis in den nationalen Gesellschaftsrechten vorzusehen. Unabhängig von der Frage einer europarechtlichen Legitimierung eines entsprechenden Verbotes sollte dieser Weg rechtspolitisch nicht verfolgt werden. Dadurch würde den Mitgliedstaaten ein Experimentieren mit unterschiedlichen Gläubigerschutzsystemen unmöglich gemacht. Dafür gibt es angesichts der zumindest nicht auszuschließenden positiven Effizienzeffekte eines Mindestkapitalerfordernisses (vgl. oben Abschnitt V. 1.) sowie der effizienzfördernden Effekte eines Wettbewerbs der Rechtsformen (vgl. oben Abschnitt VI. 2. c) aa) bbb)) keinen Sachgrund.

74 Zur Begrenzung der Haftung auf die Gründer und zur Verjährung der Haftung vgl. Fn. 40. 75 Vgl. Fn. 37 und 38.

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bbb) Freigabe des Mindestkapitals Etwas weniger eindeutig fällt die rechtspolitische Beurteilung im Hinblick auf eine andere Variante der Aufgabe des Mindestkapitals aus. Diese liegt darin, das Mindestkapitalerfordernis der 2. Richtlinie in dem Sinne freizugeben, dass die Mitgliedstaaten von ihm abweichen können (aber nicht müssen). Dafür hat sich tendenziell die High Level Group of Company Law Experts ausgesprochen.76 Gegen eine solche Lösung spricht allerdings zunächst, dass ein zwingender Mindesteigenkapitalbetrag in Höhe der gegenwärtigen (25.000 Euro) bzw. einer zum Zwecke des Inflationsausgleichs etwas angehobenen Ziffer die Gründung von Aktiengesellschaften kaum erschwert (vgl. oben Abschnitt V. 2. a)), gleichzeitig aber dieser Gesellschaftsform ein Plus an Ansehen vermittelt. Wird das Mindestkapital zur Disposition der Mitgliedstaaten gestellt, so gibt es in Europa – von der SE abgesehen – nicht mehr zwingend eine Kategorie von Gesellschaftsrechtsformen, die sich durch eine anfängliche Mindestkapitalisierung von anderen abhebt. Auf der anderen Seite würde auch durch eine dispositive Vorschrift zumindest ein Referenzpunkt zugunsten des Mindestkapitals in dem Sinne gesetzt, dass dieses nach Ansicht des europäischen Gesetzgebers als Gläubigerschutzinstrument innerhalb des Kapitalsystems nicht unbedeutsam ist. Gleichzeitig lässt sich für einen diesbezüglichen Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten die Erwägung ins Feld führen, dass das Mindestkapital für einen effizienten Gläubigerschutz nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung besitzt: Die Pflicht zur anfänglichen Ausstattung der Gesellschaft mit einem gewissen Betrag an Eigenmitteln mildert den Anreiz der Gesellschafter, unrentable Geschäftsmodelle auf Kosten der Gläubiger zu realisieren und schafft für kleinere geschäftliche Rückschläge einen bescheidenen Risikopuffer (vgl. oben Abschnitt V. 1.). Weder schützt ein bei Gründung aufzubringendes Mindestkapital die Gläubiger jedoch vor schweren Unternehmenskrisen noch wirkt es gegen den Risikoanreiz der Gesellschafter in solchen Krisen, also in Situationen, in denen das Eigenkapital der Gesellschaft bereits verbraucht ist. Gegeben die Kosten eines Mindestkapitalregimes (vgl. oben Abschnitt V. 2.) reicht dessen beschränkter Nutzen im Ergebnis wohl nicht aus, alle Mitgliedstaaten auf ein solches Regime festzulegen.77 Dieses sollte daher zu deren Disposition stehen.

76 Bericht der Hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts, aaO (Fn. 3), S. 94 ff. 77 So auch die Frage von Hopt, FS Röhricht, 2005, S. 235, 239.

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VII. Zusammenfassung Die wesentlichen Ergebnisse dieser Untersuchung lassen sich thesenartig wie folgt zusammenfassen: 1. Das Mindestkapital ist ein Baustein innerhalb des durch die 2. Richtlinie für bestimmte Gesellschaftstypen (für Deutschland: die Aktiengesellschaft) vorgegebenen Systems des festen Kapitals. Andere Bausteine sind die Regeln über die Aufbringung des satzungsmäßig festgelegten Kapitals und diejenigen über dessen Erhaltung. Das System des festen Kapitals kann ohne ein Mindestkapital bestehen. Umgekehrt gilt dies nicht. 2. Für große Kapitalgesellschaften ist das Erfordernis eines Mindestkapitals ökonomisch und juristisch vergleichsweise uninteressant. Demgegenüber könnten kleine Unternehmen oft auch mit weniger Eigenmitteln gegründet werden. In diesem Fall wird das Mindestkapital spürbar. Es ist der „Preis“, den die Gründer für die Erlangung einer Haftungsbeschränkung zu zahlen haben. 3. Haftungsbeschränkung erfüllt auch bei kleinen Unternehmen eine wichtige ökonomische Funktion. Das Risiko eines Scheiterns kann von gut diversifizierten Kreditgebern regelmäßig besser getragen werden als von im Allgemeinen risikoaversen Gründer-Gesellschaftern, zumal wenn deren Humankapital bei einer Insolvenz nicht oder nur schlecht genutzt wird. 4. Haftungsbeschränkung hat aber auch eine (negative) Selektionswirkung: Sie verleitet zur Eingehung übermäßiger Risiken und ggf. auch zur Realisierung unrentabler Unternehmen auf Kosten der Gläubiger, sofern diese entsprechende Unternehmen nicht oder nur schwer erkennen können. Besonders groß ist diese Gefahr bei kleinen Unternehmen, weil bei ihnen die Verringerung von Informationsasymmetrien durch die Kreditgeber relativ – gemessen an der Kreditsumme – kostspielig ist. 5. Muss eine Kapitalgesellschaft mit einem bestimmten Mindest(eigen)kapital ausgestattet werden, so erschwert dies die Gründung unrentabler Unternehmen. Maßgebliche Kreditgeber (insbesondere Banken) haben insbesondere bei kleinen Gesellschaften keinen genügend großen Anreiz, auf eine entsprechende Kapitalausstattung hinzuwirken. Sicherheiten aus dem Privatvermögen der Gesellschafter dienen ebenfalls ihren Interessen, und diese wirken der Gründung unrentabler Unternehmen nur entgegen, sofern ein Zusammenbruch der Gesellschaft zwingend zur Liquidation der Sicherheit führt. Das ist jedoch nicht der Fall. Ein weiterer (begrenzter) Nutzen des Mindestkapitals liegt darin, dass es als Risikopuffer wirkt und damit die Insolvenzwahrscheinlichkeit sowie die erwarteten Insolvenzkosten verringert. 6. Das Mindestkapital ist mit volkswirtschaftlichen Kosten verbunden. Zum einen kann es im Einzelfall auch einmal die Gründung rentabler Unternehmen behindern oder sogar unmöglich machen. Häufig dürfte dies jedoch nicht vorkommen. Zum anderen ist insbesondere die Prüfung der Aufbringung des Mindest-

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kapitals bei kleinen Unternehmen kostenträchtig, sofern Sacheinlagen erbracht werden sollen. Dieser Aufwand ließe sich allerdings verringern, wenn die Prüfung nur noch im Insolvenzfall erfolgen würde (vgl. dazu auch sogleich 7.). 7. Rechtspolitisch ist im Hinblick auf eine mögliche Revision der 2. Richtlinie auf der Grundlage des geltenden Systems zunächst eine maßvolle Anhebung des Mindestkapitals unter dem Gesichtspunkt des Inflationsausgleichs zu erwägen. Ferner sollte die Aufbringungsprüfung bei Sacheinlagen nur im Insolvenzfall erfolgen. Eine Ausdehnung der 2. Richtlinie auf geschlossene Gesellschaften wäre nicht sinnvoll: Die Mitgliedstaaten sollten die Möglichkeit haben, bei solchen Gesellschaften mit alternativen Gläubigerschutzinstrumenten zu experimentieren. 8. Nicht zu befürworten ist aber auch eine Änderung des geltenden Systems dergestalt, dass den Mitgliedstaaten verboten wird, für Aktiengesellschaften ein Mindestkapitalerfordernis vorzusehen. Für ein solches Verbot gäbe es angesichts der (schwachen) positiven Effizienzeffekte eines Mindestkapitalregimes keinen Sachgrund. Wohl aber ist daran zu denken, dieses Regime dispositiv auszugestalten, das heißt den Mitgliedstaaten freizugeben, ob und welches Mindestkapital sie fordern. Dadurch würde das Mindestkapital als „Referenzpunkt“ etabliert und eine Wertungsentscheidung zugunsten dieses Instruments sowie eine Abstandsentscheidung im Verhältnis von Aktiengesellschaften zu geschlossenen Gesellschaften getroffen. Gleichzeitig könnten die Mitgliedstaaten angesichts der wohl nur schwachen positiven Effizienzeffekte des Mindestkapitals aber auch abweichende Gläubigerschutzregime vorsehen – das Mindestkapital würde dem Wettbewerb der Rechtsformen in Europa auch für Aktiengesellschaften ausgesetzt.

Bar- und Sachkapitalaufbringung bei Gründung und Kapitalerhöhung

von Rechtsanwalt Dr. Andreas Pentz, Mannheim, Notar Professor Dr. Hans-Joachim Priester, Hamburg und Rechtsanwalt Dr. André Schwanna, Frankfurt/a. M.

Inhaltsübersicht A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das Grundkapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Funktionen des Grundkapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Haftungsfonds/Pufferfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Betriebskapital der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mäßigung der Aktionäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Seriositätsschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Signalwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gleichmäßige Beteiligung der Aktionäre am Gewinn und Verlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Gezeichnetes Kapital als kollektives Vertragsangebot . . . . . . . II. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Aufbringung des Grundkapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gewährleistung der Kapitalaufbringung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mindestkapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Übernahme des aufzubringenden Kapitals durch die Gründungsaktionäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vollständige Übernahme des Grundkapitals, Verbot der Unterpariemission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Leistung der (Mindest-)Einlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Keine Befreiung von der Einlageverpflichtung . . . . . . . . . . 6. Sicherung der Kapitalaufbringung bei Sacheinlagen . . . . . . . . a) Einlagefähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Differenzhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verdeckte Sacheinlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Offenlegung und präventive Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . .

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Bar- und Sachkapitalaufbringung

8. Haftung wegen falscher Angaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Nachgründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Alternativmodelle/Reformüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Abschaffung des Mindestkapital- bzw. des Festkapitalsystems? . II. Einführung echter nennwertloser Aktien? . . . . . . . . . . . . . III. Abschaffung des präventiven Systems? . . . . . . . . . . . . . . . IV. Reformüberlegungen zu den Sachgründungsvorschriften . . . . . 1. Entbehrlichkeit der Werthaltigkeitskontrolle? . . . . . . . . . . 2. Verantwortlichkeit der Geschäftsführungsorgane statt externer Kontrolle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kontrolle allein durch den Abschlussprüfer? . . . . . . . . . . 4. Prospekthaftung statt Sacheinlagevorschriften? . . . . . . . . . 5. Entbehrlichkeit der Werthaltigkeitskontrolle in geeigneten Fällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Verdeckte Sacheinlage: Änderungs-/Reformbedarf? . . . . . . . V. Umfang der Kapitalaufbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mindesteinzahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Agio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Nachgründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hintergrund des Nachgründungsrechts in Deutschland . . . . 2. Überdimensionierung bei kleineren Aktiengesellschaften . . . 3. Änderungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . .

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62 63 64 65 65 67 69 70 70 74 74 74 75 77 79 79 81 82 82 83 83 84 87

A. Einleitung Das aktienrechtliche Kapitalaufbringungsrecht soll sicherstellen, dass das satzungsmäßig festzusetzende Grundkapital der AG tatsächlich aufgebracht wird, die versprochenen Einlagen dem angegebenen Wert entsprechen und sich die Verpflichteten ihrer Einlageverpflichtung nicht entziehen können (Grundsatz der realen Kapitalaufbringung). Dies gilt sowohl für den Fall der Gründung als auch für den Fall der Kapitalerhöhung. Das Recht der Kapitalaufbringung ist nur ein Element des Kapitalschutzsystems für deutsche Aktiengesellschaften. Dem deutschen Kapitalgesellschaftsrecht liegt ein einfaches, geschlossenes und dem Interesse der Gesellschafter sowie der Gläubiger gerecht werdendes Modell zugrunde, das sich im Überblick wie folgt beschreiben lässt: Das Recht der Kapitalaufbringung gewährleistet, dass ein mit einem Mindestbetriebskapital ausgestatteter tauglicher Marktteilnehmer (ein Zuordnungssub-

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jekt) in die Welt gesetzt wird und deshalb unter Ausschluss der Haftung der dahinter stehenden Gesellschafter Gläubigerinteressen hieran geknüpft werden können. Die Aufrechterhaltung dieses Zustands ist Gegenstand des Kapitalerhaltungsrechts, das sich als die logische Fortsetzung der Kapitalaufbringung verstehen lässt und eine Herausnahme des zugesagten Kapitals zugunsten der Gesellschafter nur über die gesetzlich geregelte, den vorrangigen Gläubigerschutz beachtende Kapitalherabsetzung zulässt. Bahnt sich eine Situation an, die das Überleben der Gesellschaft bedrohen kann 1, ist der Vorstand verpflichtet, die Hauptversammlung einzuberufen, um den Aktionären insbesondere die Möglichkeit zu geben, neues Kapital zuzuführen oder sonstige Maßnahmen zu ergreifen. Ist die Gesellschaft aus sich heraus nicht mehr lebensfähig, ohne dass es bereits zu einer Bedrohung der Gläubiger kommt, sorgt grundsätzlich das Interesse der Aktionäre am Erhalt wenigstens eines Teils der geleisteten Einlage dafür, dass die Gesellschaft über ihre Liquidation (Auflösung) nach einem geordneten, die Interessen der Gläubiger vor den Interessen der Aktionäre berücksichtigenden Verfahren unter Verwertung ihres Vermögens wieder vom Markt genommen wird. Werden die Interessen der Gläubiger dagegen bedroht, weil das Vermögen der Gesellschaft nicht mehr zum Ausgleich ihrer Verbindlichkeiten genügt oder weil die Gesellschaft zahlungsunfähig ist (Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit), ist der Vorstand verpflichtet, einen Insolvenzantrag zu stellen. Die Gesellschaft wird dann über ein geregeltes Verfahren unter Wahrung der Gleichbehandlung ihrer Gläubiger und nachrangiger Berücksichtigung der Interessen ihrer Gesellschafter vom Markt genommen. Eine Sonderkonstellation ergibt sich, wenn dieses System dadurch gestört wird, dass die Gesellschaft aus sich heraus zwar nicht mehr lebensfähig ist, aber durch einen Aktionär oder eine ihm gleichzustellende Person noch künstlich durch Darlehen oder sonstige Leistungen am Leben gehalten wird; solche Leistungen werden unter bestimmten Voraussetzungen wie Eigenkapital behandelt und diesem fast vollständig gleichgestellt (so gen. Kapitalersatz). Der nachfolgende Beitrag befasst sich in seinem ersten Teil (unter B) mit dem Grundkapital als dem unmittelbaren Schutzobjekt der Kapitalaufbringungsregeln. Sodann folgt (unter C) ein Überblick über die wesentlichen Elemente des Kapitalaufbringungsrechts. Gegenstand des dritten Teils (unter D) sind Alternativmodelle und Reformüberlegungen. In einem letzten Teil werden (unter E) die wesentlichen Ergebnisse zusammengefasst.

1 Das Gesetz sieht in § 92 Abs. 1 AktG einen Verlust in Höhe des hälftigen Grundkapitals als die maßgebliche Grenze an.

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B. Das Grundkapital I. Funktionen des Grundkapitals Dem aktienrechtlichen Grundkapital wird eine Reihe von Funktionen zugesprochen. Zunächst wird ihm die Funktion eines Garantie- oder „Haftungsfonds“ zugeschrieben, der den Gläubigern der AG zur Befriedigung ihrer Forderungen zur Verfügung stehen soll. Darüber hinaus soll es Verlustpufferfunktion besitzen, da Verluste der Gesellschaft nicht unmittelbar zu Lasten der Gläubiger gingen, sondern zunächst das Grundkapital angriffen. Im Fall der Liquidation wird das Grundkapital als Verwertungspuffer der AG gesehen, weil das Grundkapital erst nach Befriedigung aller Gläubiger an die Aktionäre ausgezahlt werde und insoweit etwaige Verluste bei der Verwertung des Gesellschaftsvermögens zugunsten der Gläubiger kompensiere. Daneben wird das Grundkapital als anfängliches Betriebskapital, also als Anlaufkapital der AG verstanden, damit die Gesellschaft ihren Geschäftsbetrieb aufnehmen kann. Außerdem soll es der Mäßigung der Aktionäre dienen, da diese durch ihre Kapitalbeteiligung unmittelbar am Ausfallrisiko der AG partizipierten und daher Geschäftsrisiken verantwortlicher eingingen. Das Grund- bzw. Mindestkapital soll zudem eine Seriositätsschwelle darstellen und Personen abhalten, eine Aktiengesellschaft ohne einen geschäftlichen Plan oder gar mit betrügerischer Absicht zu gründen. Weiter wird eine Signalwirkung an die Fremdkapitalgeber in dem Sinne gesehen, dass die Aktionäre bzw. Gründer als Eigenkapitalgeber von dem wirtschaftlichen Konzept der AG überzeugt seien. Das Grundkapital soll aber auch als bilanzielle Sperrziffer Ausschüttungen an die Aktionäre zu Lasten des eingebrachten Haftkapitals verhindern, da das Grundkapital betragsmäßig auf der Passivseite der Bilanz einzustellen ist und sich daher bei der Ermittlung des ausschüttungsfähigen Gewinns ähnlich einer Verbindlichkeit auswirkt. Schließlich soll das Grundkapital eine gleichmäßige Beteiligung der Aktionäre am Gewinn der AG gewährleisten, da die Kapitalaufbringungsvorschriften dafür sorgen, dass die Beteiligung am Gewinn und der finanzielle Beitrag miteinander im Einklang stehen, und es wird auch als ein kollektives Vertragsangebot zugunsten der Gläubiger verstanden. Hierzu im Einzelnen 2:

2 Zu den Funktionen des Grundkapitals und zur Kritik am Mindest- und Festkapitalsystem s. aus jüngerer Zeit statt anderer die umfassende Übersicht bei Koll-Möllenhoff, Das Prinzip des festen Grundkapitals im europäischen Gesellschaftsrecht, 2004, S. 43 ff.; Wilhelmi, GmbHR 2006, 13, 14ff.; zur Kritik aus England ausführlich Micheler, ZGR 2004, 324, 330 ff.; alle mit umfangreichen Nachweisen.

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1. Haftungsfonds/Pufferfunktion Die wohl am häufigsten genannte Funktion des Grundkapitals ist die Bildung eines Garantie- oder „Haftungsfonds“, der den Gläubigern der AG zur Befriedigung ihrer Forderungen zur Verfügung stehen soll. Insoweit ist jedoch zu präzisieren: a) Das Grundkapital kann diese Funktion erfüllen, soweit es wertmäßig zumindest teilweise noch gedeckt ist, die Gesellschaft also über ein Vermögen verfügt, das ihre Verbindlichkeiten übersteigt. In diesem Falle besteht über das Grundkapital tatsächlich ein gewisser Puffer, der dafür sorgt, dass sich ggf. vorhandene unrichtige Bilanzansätze bei den Aktiva oder den Passiva nicht sofort zu Lasten der Gläubiger auswirken. Auch vor sonst unvorhergesehenen Belastungen schützt die über das Grundkapital gleichsam erzwungene Vermögensreserve die Gläubiger. Befindet sich die Gesellschaft demgegenüber in wirtschaftlich schlechteren Verhältnissen und ist das Grundkapital nicht mehr gedeckt, relativiert sich diese Funktion, da die Gesellschaft das zur Deckung des Grundkapitals notwendige Vermögen vollständig aufbrauchen kann, bevor sie insolvent wird 3. b) In jedem Falle führt die Existenz des Grundkapitals jedoch dazu, dass sich Verluste der Gesellschaft nicht unmittelbar zum Nachteil der Gläubiger der Gesellschaft auswirken, weil diese bilanziell gesehen zunächst zu Lasten des Grundkapitals gehen. Insoweit leistet das Grundkapital damit auch einen Beitrag zur ordnungsgemäßen Unternehmensfinanzierung und verhindert, dass die hinter der Gesellschaft stehenden Aktionäre diese zu Lasten der Gläubigerinteressen vermögensmäßig „aussaugen“. c) Die Gläubiger können sich also nicht darauf verlassen, dass das Grundkapital als Haftungsmasse zur Verfügung steht. Sie können aber darauf vertrauen, dass das zu seiner Deckung erforderliche Vermögen nicht an die Aktionäre (zurück)fließt. Bildlich wird das Grundkapital deshalb auch zuweilen als Staumauer umschrieben: Es könne wie eine Staumauer dafür sorgen, dass nur Überschüsse an die Gesellschafter fließen, aber nicht verhindern, dass es nicht regnet und der Stausee austrocknet 4.

3 Hierzu eingehend etwa Mülbert, Konzern 2004, 151, 154f.; s. zum Mindestkapital auch Wilhelmi, GmbHR 2006, 13, 14 mwN.: Gewährt den Gläubigern nicht primär einen nachträglichen Schutz in der Insolvenz, sondern einen vorsorglichen Schutz vor der Insolvenz. 4 Würdinger, Aktienrecht, 4. Aufl., S. 32; Baldamus, Reform der Kapitalrichtlinie, 2002, S. 79.

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2. Betriebskapital der Gesellschaft a) Würde die Aktiengesellschaft über kein von ihren Gesellschaftern bzw. Gründern aufzubringendes Grundkapital verfügen 5, stünde der Gesellschaft zu Beginn ihrer Geschäftstätigkeit keine ausreichende Vermögensgrundlage zur Verfügung. Aus diesem Grund wird dem Grundkapital auch die Funktion eines (zumindest anfänglichen) Betriebskapitals zugesprochen. Solange die AG noch nicht durch eigene Einnahmen ihre Verbindlichkeiten begleichen kann, dient das Grundkapital der Gesellschaft zur Finanzierung der Anlaufphase. Besonders deutlich wird die Funktion des Betriebskapitals bei der Kapitalerhöhung, weil diese dazu dient, der Gesellschaft frisches Kapital zuzuführen, das typischerweise zum Betrieb ihres Unternehmens – und nicht in dem nur reflexiv geschützten Gläubigerinteresse – verwendet werden soll. Auch in der Verordnung über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) 6 wird im Zusammenhang mit der Notwendigkeit eines hinreichenden (Anfangs-) Vermögens auf die Bedeutung eines Mindestkapitals als zumindest anfängliches Betriebskapital hingewiesen. Der Erwägungsgrund Nr. 13 lautet: „Um eine sinnvolle Unternehmensgröße dieser Gesellschaften zu gewährleisten, empfiehlt es sich, ein Mindestkapital festzusetzen, das die Gewähr dafür bietet, dass diese Gesellschaften über eine ausreichende Vermögensgrundlage verfügen, ohne dass dadurch kleinen und mittleren Unternehmen die Gründung von SE erschwert wird.“ b) Das Grundkapital als Betriebskapital steht der Gesellschaft aber auch zur langfristigen Finanzierung des Geschäftsbetriebs zur Verfügung. Anders als das Fremdkapital kostet das Grundkapital wie das gesamte Eigenkapital keine Zinsen und kann in Krisenzeiten nicht gekündigt werden. c) Gegen die Funktion des Grundkapitals als Betriebskapital wird eingewandt, dass die Grundkapitalvorschriften keine effiziente Finanzierung einer Gesellschaft gewährleisteten, da die Vorschriften nicht auf die konkreten Anforderungen der jeweiligen Gesellschaft ausgerichtet seien. Das Grundkapital stelle nicht sicher, dass das aufgebrachte Kapital in irgendeinem Verhältnis zu dem realen Finanzierungsbedarf der Gesellschaft stehe. So sei statistisch nur bei einer sehr kleinen Zahl von Aktiengesellschaften das gesetzlich verlangte Mindestkapital in Höhe von EUR 50.000 für den Geschäftsbetrieb ausreichend. Bei einer materiellen Unterkapitalisierung bedürfe es vielmehr des gesetzlich nicht geregelten,

5 Zum Umfang des bei der Gründung aufzubringenden Mindestvermögens s. § 36 Abs. 2 S. 1 AktG; näher unter C. II. 4. 6 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. Nr. L 294 vom 10. 11. 2001 S. 1ff.; das Mindestkapital ist dort auf 120.000 Euro festgelegt; der gleiche Betrag ist in Italien für die Aktiengesellschaft vorgeschrieben, Art. 2327 Codice Civile.

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von der Rechtsprechung entwickelten Instituts der Durchgriffshaftung. Außerdem könne das aufgebrachte Kapital bereits am ersten Tag der Geschäftsaufnahme aufgebraucht sein. aa) Bei dieser Kritik wird zunächst verkannt, dass das Grundkapital eine effiziente Finanzierung der Gesellschaft weder gewährleisten kann noch soll: (1) Es kann diese Funktion nicht übernehmen, da der vorgeschriebene Mindestbetrag des Grundkapitals ohnehin nur eine Mindestgröße darstellt 7. Gegenständlich richtet sich dieser Einwand damit im Kern nicht gegen das Institut des Grundkapitals als solches, sondern gegen die hiervon zu unterscheidende Frage seiner Mindesthöhe. Die Notwendigkeit bzw. das Bedürfnis, die Mindestgröße des Grundkapitals herabzusetzen, ist im Aktienrecht nicht erkennbar. Einen höheren Betrag als den Mindestbetrag können die Gründer jederzeit bestimmen, wenn sie dies für die Finanzierung der geplanten Unternehmung für erforderlich halten. Eine Vorgabe dafür, für welche der in Betracht kommenden Unternehmungen welches Kapital notwendig ist, könnte das Gesetz nicht leisten und will dies mit der Notwendigkeit, ein bestimmtes Grundkapital aufzubringen, auch nicht. Schon von daher geht dieser nicht gegen die Institution des Grundkapitals, sondern eher gegen seine geringe Höhe gerichtete Einwand fehl. Eine Relation zwischen dem Betrag des Grundkapitals und dem Umfang des beabsichtigten Geschäftsbetriebs lässt sich weder dem europäischen noch dem deutschen Recht entnehmen.8 (2) Das Grundkapital soll und braucht diese Funktion aber auch nicht zu übernehmen. Die Aufbringung des Grundkapitals soll nur dafür sorgen, dass die Aktiengesellschaft als künstlich gebildetes Rechtssubjekt nicht ohne jegliche Eigenmittel am Rechtsverkehr teilnimmt. Ohne die vorherige Aufbringung eines Grundkapitals bestünde die Gefahr, dass die Gesellschaft beim ersten kleinen Verlust insolvent würde, Gründung also Gläubiger schädigend erfolgt 9. Das Grundkapital stellt insoweit einen Mindest- oder Minimalschutz dar und be-

7 S. auch Schön, Konzern 2004, 162, 165: Fehlende Korrespondenz zwischen Mindestkapitalziffer und betrieblichem Kapitalbedarf entzieht der Kritik, durch dieses System würde Insolvenzen nicht vorgebeugt, den Boden. Kapitalaufbringung und -erhaltung kontrollierten nur die Verlagerung von Vermögenswerten, beeinflussten jedoch nicht den betriebswirtschaftlichen Erfolg. 8 Vgl. Art. 6, 34 der 2. RiLi; in Deutschland gelten allerdings als Folge eines besonderen Risikos der jeweiligen unternehmerischen Tätigkeit in den betreffenden Geschäftszweigen bzw. des regelmäßig erhöhten Schutzbedürfnisses der Kunden und Geschäftspartner solcher Aktiengesellschaften für bestimmte Branchen Sondervorschriften, die ein höheres Grundkapital vorschreiben, s. hierzu nur GroßKommAktG/Brändel, 4. Aufl., § 7 Rdn. 22 ff.; MünchKommAktG/Heider, 2. Aufl., § 7 Rdn. 13ff. 9 S. auch Zöllner, GmbHR 2006, 1, 12 (zur GmbH): Wer das Mindestkapital nicht aufbringen könne, gründe zu Lasten der Gläubiger, wer nur das Geld nicht in der Gesellschaft festlegen wolle, gründe zumindest Gläubiger gefährdend.

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zweckt nicht die Ausstattung der Gesellschaft mit einer angemessenen Kapitalausstattung, die vor Aufnahme der Geschäfte wegen der Vielzahl der für eine Aktiengesellschaft in Betracht kommenden Unternehmensgegenstände gesetzlich ohnehin nicht zu bestimmen wäre. (3) Wenn Aktiengesellschaften in der Praxis häufig ein höheres als das gesetzlich vorgeschriebene Mindestgrundkapital ausweisen, zeigt dies zunächst, dass die Vorschriften über die Aufbringung des Grundkapitals entgegen vereinzelt geäußerter Auffassung nicht die Gründung von Aktiengesellschaften behindert. Es wird aber auch deutlich, dass die Kapitalaufbringungsvorschriften eben nicht ungenügend und damit entbehrlich sind. Dies wäre nur der Fall, wenn die Kapitalschutzvorschriften nur für die Aufbringung des Mindestgrundkapitals in Höhe von EUR 50.000 gelten oder in der Praxis die überwiegende Mehrheit der AG trotz materieller Unterkapitalisierung lediglich ein Grundkapital von EUR 50.000 ausweisen würden. Entschließen sich die Gesellschafter der AG aus freien Stücken zu einem höheren Grundkapital, gewährleistet das bestehende Kapitalaufbringungssystem, dass das gesamte Grundkapital, also auch über die gesetzliche Mindestgrundkapitalziffer von EUR 50.000 hinaus, auch tatsächlich aufgebracht wird. bb) Auch der Einwand gegen das bestehende Kapitalaufbringungsregime, dass zwar mit großem Aufwand die Bildung eines Grundkapitals sichergestellt werde, dieses Grundkapital jedoch bereits am ersten Tag der Geschäftsaufnahme aufgebraucht 10 sein könne, geht ins Leere: Methodisch arbeitet dieser Einwand des möglichen Verlustes auf der Ebene tatsächlicher Unterstellungen und vermengt diese mit der Schlüssigkeit eines rechtlichen Systems. Diese Erwägung wäre nur berücksichtigungsfähig, wenn der Verbrauch des aufgebrachten Kapitals am ersten Tag ein nahe liegender und typischer Fall wäre, der die Sinnhaftigkeit des gesamten Systems in Frage stellen würde. Tatsächlich handelt es sich insoweit jedoch nur um einen vielleicht theoretisch möglichen, praktisch aber nicht relevanten und wirklichkeitsfernen Fall, der bestenfalls auf einem grobem Managementfehler, betrügerischem Handeln oder einem Unglücksfall beruhen könnte und zudem der Sinnhaftigkeit jeder unternehmerischen Tätigkeit entgegen gehalten werden könnte. Der Schlüssigkeit des aufgezeigten Systems, nach dem einem die Haftung seiner Mitglieder ausschließenden Rechtsträger in der Anfangsphase ein bestimmtes Betriebskapital für die Verwirklichung des angestrebten Geschäftsbetriebs und zur Befriedigung der Gläubiger zur Verfügung stehen muss, steht der Hinweis auf einen theoretisch möglichen „Verbrauch“ der eingelegten

10 Unter aufgebraucht wird in diesem Zusammenhang verstanden, dass es ohne adäquate Gegenleistung reduziert wird. Erwirbt die AG mit den Bareinlagen der Aktionäre am Tag 1 beispielsweise einen Pkw zu einem marktüblichen Kaufpreis, führt dies nicht zu einem „Verbrauch“ des Grundkapitals, sondern lediglich zu einem Aktivtausch.

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Mittel sonach nicht entgegen. Maßgeblich ist allein, dass das aufzubringende Grundkapital als Betriebsvermögen zur Verfügung stehen soll und diesen Zweck auch erreicht. Was im Anschluss an die Aufbringung damit geschieht, ist nicht nur nach dem gesetzlichen Plan, sondern auch nach den natürlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten Sache der mit der Geschäftsführung befassten Organe, die für die ordnungsgemäße Verwendung des eingebrachten Vermögens verantwortlich sind.

3. Mäßigung der Aktionäre a) Eine weitere Funktion des Grundkapitals wird in der mäßigenden Wirkung auf die Gesellschafter gesehen. Die vom Gesetzgeber gewollte, rechtspolitisch sinnvolle Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen der AG könne dazu führen, dass die Gesellschafter der AG zur Erzielung höherer Gewinne unvernünftig hohe Geschäftsrisiken eingingen, da nicht sie, sondern die AG mit ihrem Gesellschaftsvermögen und darüber hinaus die Gläubiger der AG für den Fall des Misserfolgs haften würden (moral hazard). Durch die zwingende Bildung eines Grundkapitals müssen sich die Gesellschafter aber selbst finanziell an der Gesellschaft beteiligen und tragen so im Umfang ihrer Beteiligung das wirtschaftliche Risiko eines Misserfolgs der Gesellschaft mit. Aufgrund ihres eigenen finanziellen Engagements ist anzunehmen, dass die Gesellschafter unternehmerische Risiken verantwortlicher eingehen. So hieß es bereits zum GmbH-Gesetzesentwurf aus dem Jahr 1892, dass die Mindesteinlage „ein gewisses Interesse des Teilnehmers am Schicksal des gemeinsamen Unternehmens gewährleisten“ solle 11; in der Begründung zur GmbHG-Novelle 1980 heißt es, dass die dortige Anhebung des Mindestkapitals eine erzieherische Funktion habe, es fördere das verantwortungsbewusste Wirtschaften, wenn dieses mit einem spürbaren eigenen Risiko verbunden sei 12. Der Gedanke ist – neben der Bildung eines Betriebskapitals als Grundstock der Gesellschaft – für die Funktion des Grundkapitals wesentlich. Das Korrelat zur Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen ist die Pflicht der Gesellschafter, sich selbst und mit ihrem eigenen Vermögen an dem Rechtssubjekt zu beteiligen, mit dem sie das Haftungsrisiko abschirmen wollen. Nur dann, wenn die Gesellschafter nicht nur am Erfolg der Aktiengesellschaft partizipieren, sondern über ihre zwingende kapitalmäßige Beteiligung an der Bildung des Grundkapitals auch das Risiko des Misserfolgs mittragen, ist es gerechtfertigt, die Haftung auf das Gesellschaftsvermögen zu beschränken.

11 GmbHGE 1892 zu § 5 S. 54. 12 BTDrucks. 8/3908 S. 69.

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b) Gegen die Funktion der Mäßigung der Gesellschafter wird vorgebracht, dass moral hazard-Probleme in einer Aktiengesellschaft schon deshalb weniger aktuell seien, da dort aufgrund der Weisungsungebundenheit des Vorstands nur eingeschränkt die Möglichkeit bestehe, als Aktionär auf die Geschäftsführung Einfluss zu nehmen. Auch faktisch solle ein solcher Einfluss nicht gegeben sein, wenn die Aktien – dem gesetzlichen Leitbild als Publikumsaktiengesellschaft entsprechend – sich zum größten Teil in Streubesitz befänden. Schließlich handele es sich hier nur um einen Schutz auf Zeit, da das Grundkapital nur solange mäßigend wirken könne, wie es vorhanden sei. Dem ist nicht zuzustimmen. Das Argument des nur eingeschränkten Einflusses des Gesellschafters auf den Vorstand der AG geht an der Praxis vorbei. Dies gilt auch in einer börsennotierten Aktiengesellschaft mit größerem Streubesitz. Das Beispiel TCI/Deutsche Börse AG hat gezeigt, wie weit der faktische Einfluss des Aktionärs auf den Vorstand einer Aktiengesellschaft reichen kann; weitere Beispiele sind aus dem Konzernrecht bekannt, und nicht ohne Grund sieht das deutsche Aktienrecht in den §§ 291 ff., 311 ff. AktG besondere Schutzvorschriften in diesem Zusammenhang vor. Soweit behauptet wird, das Grundkapital biete nur einen Schutz auf Zeit, da es durch einen negativen Geschäftsverlauf aufgezehrt werden und die Gefahr einer risikoreicheren Geschäftspolitik wieder ansteigen könne, spricht der hierin liegende Hinweis auf das vom Risiko abhängige Verhalten der Beteiligten nicht gegen, sondern gerade für die Notwendigkeit einer solchen, über das Grundkapital vermittelten Risikobeteiligung. Insofern ähnelt die Wirkung des aufzubringenden Kapitals dem Selbstbehalt bei Versicherungen, durch den die Versicherten ebenfalls vor der leichtfertigen Übernahme von Risiken wegen ihrer hiermit verbundenen Selbstbetroffenheit abgehalten werden sollen und dies erfahrungsgemäß auch werden. Es wäre darüber hinaus unstimmig und rechtsethisch zweifelhaft, zwar die Gewinne allein den hinter der Gesellschaft stehenden Aktionären zuzuordnen, die Verluste jedoch zu Lasten der Gläubiger zu sozialisieren.

4. Seriositätsschwelle Das zumindest in Höhe des Mindestkapitals aufzubringende Kapital soll auch eine Seriositätsschwelle darstellen. Es soll von vornherein solche Personen abhalten, die nicht bereit oder in der Lage sind, sich zur Erbringung eines Mindestkapitals im Nennwert von EUR 50.000 zu verpflichten, um ihre geschäftlichen Aktivitäten aufzunehmen. Planlose bzw. voreilige, betrügerische oder sonstige kriminelle Gründungen von Aktiengesellschaften sollen so verhindert werden. Die Seriositätsschwelle betrifft lediglich das Gründungsstadium von Aktiengesellschaften mit einem Mindestgrundkapital von EUR 50.000. Betrügerische oder auch nur planlose Gründer einer AG werden nur selten freiwillig ein höhe-

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res Grundkapital wählen. Das Grundkapital muss – vorbehaltlich eines immer in voller Höhe zu leistenden Aufgelds (Agio) 13 – im Fall einer Bargründung nur zu einem Viertel aufgebracht sein. Ob dieser aus heutiger Sicht relativ geringe Betrag schon des Mindestkapitals betrügerische Geschäftsleute von der Gründung einer AG abhalten können, mag man bezweifeln; auch dieser Mindestbetrag führt aber „immerhin zu einem Ausschluss der Habenichtse“ 14 und stellt nach wie vor eine gewisse Sperre vor übereilten Gründungen dar 15. Insgesamt ist die Funktion des Grundkapitals als Seriositätsschwelle aber gegenüber dem früheren Recht, das aus Gründen des Ausschlusses kleinerer Unternehmen von der Rechtsform der Aktiengesellschaft ein erheblich höheres Mindestkapital vorsah,16 deutlich relativiert. 5. Signalwirkung a) Das Grundkapital soll weiterhin ein Glaubwürdigkeitssignal an die Kapitalgeber der Gesellschaft darstellen. Die finanzielle Selbstbeteiligung der Gesellschafter soll signalisieren, dass die Gesellschafter von dem Erfolg der Gesellschaft überzeugt sind. b) Der Signalwirkung wird von Kritikern entgegengehalten, dass sie nur von kurzer Dauer sei und in der Kreditvergabepraxis kaum eine Rolle spiele. Schließlich zeugten gesetzlich vorgeschriebene Kapitalausstattungsvorschriften kaum von besonderem Vertrauen der Gründer in die Gesellschaften. c) Richtig ist hier zu differenzieren. Soweit es die Fremdkapitalgeber angeht, dient das Grundkapital grundsätzlich nicht als Nachweis, dass in der Gesellschaft ein bestimmtes Vermögen als Sicherheit für die Fremdmittel vorhanden ist. Vielmehr geht es darum, am Grundkapital das commitment der Gesellschafter ablesen zu können. Ein Kreditgeber wird kaum bereit sein, eine Unternehmung zu finanzieren, für die der Gesellschafter keine Eigenmittel riskiert. Diese Signalwirkung sollte auch bei den bisherigen oder zukünftigen Eigenkapitalgebern nicht unterschätzt werden. Wandelt beispielsweise ein Gesell-

13 § 36 Abs. 1 AktG. 14 Escher-Weingart, Reform durch Deregulierung im Kapitalgesellschaftrecht, 2001, S. 122. 15 Ebenso der Bericht der High Level Group Kapitel IV unter 3a (S. 88): Abschreckung vor leichtfertigen Gründungen von Aktiengesellschaften, Mindestkapital sollte weder abgeschafft noch angehoben werden. 16 Das Mindestkapital ist, worauf noch zurückzukommen sein wird, für Aktiengesellschaften erst 1923 eingeführt worden, und zwar zunächst mit 5 Mio. Mark, dann 50.000 Goldmark; 1937: 500.000 RM; vgl. hierzu Thiessen in Duss/Linder, Rechtstransfer in der Geschichte, 2006, unter C. I. mit Fn. 93 (im Erscheinen); GroßKommAktG/Brändel § 7 Rdn. 1 ff.; MünchKommAktG/Heider § 7 Rdn. 1ff.; KölnKommAktG/Kraft, 2. Aufl., § 7 Rdn. 2ff.

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schafter sein Gesellschafterdarlehen in Eigenkapital um, wird dies aufgrund der Nachrangigkeit des Eigenkapitals gegenüber dem Fremdkapital regelmäßig als besonderes Zeichen für das anhaltende commitment des Gesellschafters verstanden. Ebenso wird bei Kapitalerhöhungen vor allem in der Krise der Gesellschaft erfahrungsgemäß genau beobachtet, ob und in welchem Umfang sich ein Mehrheitsaktionär an der Kapitalerhöhung beteiligt.

6. Gleichmäßige Beteiligung der Aktionäre am Gewinn und Verlust Das Grundkapital hat nicht nur Gläubiger-, sondern auch Anlegerschutzfunktion. Die Anleger (Aktionäre) haben ein Interesse daran, dass die finanziellen Lasten und Nutzen der Gesellschaft unter ihnen gleich verteilt sind, also mit der Beteiligung und den hieraus resultierenden Rechten korrespondieren. Durch die Kapitalaufbringungsvorschriften zur Bildung des Grundkapitals wird sichergestellt, dass die Beteiligung und der finanzielle Beitrag miteinander im Einklang stehen. Könnte beispielsweise ein Aktionär mit einer überbewerteten Sacheinlage oder mit einer von der AG erlassenen Bareinlageverpflichtung Aktien zeichnen, würde seine Beteiligung am Gewinn der AG (zum Nachteil der übrigen Aktionäre) nicht mit seinem finanziellen Einsatz korrespondieren.

7. Gezeichnetes Kapital als kollektives Vertragsangebot Mit Recht wird außerdem auf die Funktion des gezeichneten Kapitals als gleichsam „kollektives Vertragsangebot“ an die Gläubiger hingewiesen 17. Den Gläubigern wird durch das Grundkapital die sonst notwendige und insbesondere mit Kosten verbundene Aufgabe abgenommen, über individuelle Vereinbarungen Einlage- und Entnahmepflichten zu vereinbaren, ohne dass zusätzliche Vereinbarungen hierdurch ausgeschlossen würden. Hierauf wird noch unter D VII. zurückzukommen sein.

II. Zusammenfassung Dem deutschen Aktienrecht liegt ein in sich geschlossenes, einfaches System zugrunde, das die Aufbringung und den Verbleib dieses Kapitals bei der Gesellschaft sichert und dafür sorgt, dass vor einer Verteilung des Gesellschaftsvermögens an die Aktionäre die Interessen der Gläubiger berücksichtigt werden. Das aufzubringende, nur im Mindestbetrag vorgeschriebene Grundkapital erfüllt, wie 17 Eingehend hierzu Schön, Konzern 2004, 162, 166ff. mwN.

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auch in der SE-Verordnung bestätigt wird, im Gründungsstadium schwerpunktmäßig die Aufgabe, der Gesellschaft ein für den Betrieb der beabsichtigten Unternehmung notwendiges (Mindest-)Vermögen zur Verfügung zu stellen, mit dem nicht nur gearbeitet werden darf, sondern auch soll. Die Festschreibung eines für eine unternehmerische Tätigkeit notwendigen bestimmten Vermögens ist hiermit nicht beabsichtigt. Die Festsetzung der für die geplante unternehmerische Tätigkeit notwendigen, den Mindestbetrag ggf. überschreitenden Kapitalausstattung der Gesellschaft bleibt vielmehr Sache der Gründer, weshalb auch die Kritik, das Grundkapital könne keine angemessene Unternehmensfinanzierung gewährleisten, ins Leere geht. Darüber hinaus soll mit dem für das Grundkapital geltenden Mindestbetrag eine gewisse Seriositätsschwelle statuiert und eine gewisse Sperre vor übereilten Gründungen errichtet werden; außerdem führt es dazu, dass aufgrund des hiermit verbundenen „Selbstbehalts“ für die Aktionäre Risiken verantwortlicher eingegangen werden. Hat die Gesellschaft ihre unternehmerische Tätigkeit aufgenommen, kommt dem zur Deckung des Grundkapitals notwendigen Vermögen der Gesellschaft, soweit es (teilweise) noch besteht, die Bedeutung eines Haftungspuffers zu, der verhindert, dass Verluste unmittelbar auf das zum Überleben der Gesellschaft notwendige Vermögen durchschlagen. Durch den Bezug zwischen Grundkapital und Beteiligungshöhe der Aktionäre sichert das Grundkapital außerdem die angemessene Gleichbehandlung der Aktionäre bei der Gewinnverteilung und dem sie über die Beteiligung mittelbar treffenden Unternehmensrisiko. Dadurch, dass Verluste zunächst zu Lasten des Grundkapitals der Gesellschaft gehen, wird außerdem verhindert, dass – was als Verteilungssystem verfehlt wäre – die Aktionäre die Verluste „ihrer“ unternehmerischen Veranstaltung über ein Abwälzen auf die Gläubiger sozialisieren und nur an ihren Gewinnen teilnehmen. In gewissem Sinne lässt sich auch davon sprechen, dass dem aufzubringenden, sich in der Höhe des Grundkapital der Gesellschaft widerspiegelnden Risikokapital der Aktionäre eine ähnliche regulierende Funktion zukommt wie dem Selbstbehalt bei Versicherungen.

C. Die Aufbringung des Grundkapitals 18 I. Überblick Vor dem Hintergrund der vorstehend beschriebenen Bedeutung des Grundkapitals als ein die Gesellschafterhaftung ausschließendes Betriebs- und Haftungskapital muss das Gesetz die ordnungsgemäße Aufbringung des von den Aktio18 Bei der Gründung ist das gezeichnete Kapital (Grundkapital) nach Art. 2 lit. c der 2. Richtlinie einschließlich eines etwaigen genehmigten Kapitals offen zu legen, die hierauf übernommenen Aktien und die hierfür geleisteten/zu leistenden Einlagen nach Art. 3 lit. b, c, g und h. Die 2. Richtlinie verbietet – vorbehaltlich der in Art. 8

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nären versprochenen Kapitals sicherstellen. Das dem zugrunde liegende Prinzip wird heute unter dem Begriff „Grundsatz der realen Kapitalaufbringung“ 19 zusammengefasst. Maßgeblicher Gedanke ist dabei, dass das in der Satzung zugesagte Kapital tatsächlich der Gesellschaft zu Händen des sie vertretenden Vorstands zugeführt und dort endgültig verbleiben soll, damit es von ihm im überindividuellen Interesse der Gesellschaft verwendet werden kann. Dies ist der Kern des im Grundsatz einfachen Rechts der Kapitalaufbringung. Mit Blick auf die in diesem Zusammenhang gemachten historischen Erfahrungen sind die das Gründungsrecht regelnden Gesetzesbestimmungen durch besondere Sicherstellungen geprägt, auf die noch zurückzukommen sein wird. Für die Kapitalerhöhung gelten im Wesentlichen die für die Gründung geltenden Grundsätze entsprechend 20. II. Gewährleistung der Kapitalaufbringung 1. Mindestkapital Die Gründer einer Aktiengesellschaft sind zunächst verpflichtet, ein Grundkapital festzulegen, das einen bestimmten Mindestbetrag, das so genannte Mindestkapital, nicht unterschreiten darf 21. Das deutsche Aktienrecht schreibt ein in Abs. 2 gemachten, hier zu vernachlässigenden Ausnahme – in Art. 8 Abs. 1 die Ausgabe von Aktien unter dem Nennbetrag bzw. dem rechnerischen Wert der Aktien sowie in Art. 12 den Verzicht auf die Einlageleistung außerhalb der Kapitalherabsetzung. Ein zu Lasten der Gesellschaft gehender Gründungsaufwand und jeder Sondervorteil ist gem. Art. 3 lit. j und k der Richtlinie offen zu legen. Wer die Aktien übernimmt, ist nach Art. 3 lit. i offen zu legen. Der Gegenstand einer Sacheinlage ist gem. Art. 3 lit. h offen zu legen. Die Satzung insgesamt wird nach den Vorschriften der Art. 2, 3 der 1. (Publizitäts-)Richtlinie offen gelegt. Die Werthaltigkeit des Gegenstandes der Sacheinlage muss gem. Art. 10 Abs. 1 bis 3 der 2. Richtlinie durch einen Sachverständigen geprüft werden, der durch eine Behörde oder ein Gericht bestellt wird und über den Gegenstand der Sacheinlage, seine Werthaltigkeit und das Ergebnis seiner Prüfung zu berichten hat. 19 Grundlegend in diesem Zusammenhang Lutter, Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in den Aktien- und GmbH-Rechten der EWG, 1964; zum Folgenden auch mwN. MünchKommAktG/Pentz § 27 Rdn. 5. 20 §§ 182ff. AktG. Bei der Kapitalerhöhung gebieten Art. 2, 3 der 1. Richtlinie die Offenlegung und die Durchführung der Kapitalerhöhung, Art. 25 Abs. 1 der 2. Richtlinie. Die für die Bar- und die Sacheinlage geltende Unterscheidung in Art. 26 und 27 entspricht weitgehend der für die Gründung geltenden Bestimmungen in Art. 9 und 10. Für das Aufgeld (Agio) schreibt Art. 26 S. 2 der 2. Richtlinie vor, dass ein Mehrbetrag in voller Höhe aufzubringen ist; diese Regelung hat für die Gründung keine Parallelbestimmung. 21 Das Mindestkapital ist nicht zwingend deckungsgleich mit dem Grundkapital. Das Grundkapital kann dem Mindestkapital entsprechen oder es übersteigen, jedoch nicht unterschreiten.

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der Satzung zwingend festzulegendes 22 Grundkapital von mindestens EUR 50.000 vor 23. Es geht damit über die Vorgaben der 2. Richtlinie hinaus, die lediglich ein Mindestkapital von EUR 25.000 24 verlangt 25.

2. Übernahme des aufzubringenden Kapitals durch die Gründungsaktionäre Der in der Satzung festgesetzte Betrag des Grundkapitals muss mit dem Gesamtbetrag aller ausgegebenen Nennbetragsaktien oder dem auf die einzelnen Stückaktien entfallenden anteiligen Betrag identisch sein und auf jede Aktie muss ein Betrag von mindestens 1 EURO entfallen 26.

3. Vollständige Übernahme des Grundkapitals, Verbot der Unterpariemission Die Gründer sind zur Übernahme aller (in der Summe der Beträge dem Grundkapital entsprechenden) Aktien verpflichtet,27 eine Unterpariemission (die

22 § 23 Abs. 3 Nr. 3 AktG. Auch die 2. Richtlinie verlangt, dass sich aus der Satzung der AG entweder das „genehmigte Kapital“ oder, wenn die AG kein genehmigtes Kapital hat, das „gezeichnete Kapital“ ergeben muss, Art. 2. 23 § 7 AktG. 24 Zur Geltung des EURO als Werteinheit bei Art. 6 der 2. Richtlinie s. Art. 2 der Verordnung (EC) Nr. 1103/97 vom 17. 6. 1997, ABl. Nr. L 162 vom 19. 6. 1997, und Art. 1 der Verordnung (EEC, Euratom) Nr. 3308/80 vom 16. 12. 1980. 25 In Österreich beträgt der Mindestnennbetrag des Grundkapitals EUR 70.000 gem. § 7 öAktG. Das französische Aktienrecht verlangt für die société anonyme ein Grundkapital (capital sociae) in Höhe von mindestens EUR 37.000, das ebenfalls zwingend in der Satzung anzugeben ist; wird öffentlich zur Zeichnung von Aktien der société anonyme aufgerufen, muss das Grundkapital mindestens EUR 225.000 betragen. Das englische Recht schreibt für die Gründung einer public company ein Mindestkapital (authorised minimum) von 50.000 britische Pfund vor, das zwingend in der Gründungsurkunde (memorandum of association) festgelegt sein muss, Section 11, 118(1) CA 85. 50.000 britische Pfund entsprechen etwa EUR 74.030. 26 §§ 8, 9 AktG. 27 §§ 1 Abs. 2, 2, 29 AktG. Auch Frankreich verlangt die vollständige Zeichnung art. 225-3 al. 1, 225-12 L (art. 75, 84 L66); vorher darf die Gesellschaft nicht zur Eintragung in das Handelsregister angemeldet werden. Nach englischem Recht ist keine vollständige Zeichnung aller Aktien erforderlich. Das in der Gründungsurkunde zu nennende authorised share capital ist lediglich ein Höchstbetrag, bis zu dem Aktien ohne Kapitalerhöhung ausgegeben werden dürfen. Demgegenüber handelt es sich bei dem so genannten issued share capital um das tatsächlich gezeichnete Kapital, also um die Summe der Nennbeträge der bisher gezeichneten Aktien. Die Differenz zwischen dem authorised share capital und dem issued share capital ist mit dem genehmigten Kapital nach §§ 202 ff. AktG vergleichbar, vgl. Schwanna, Die Gründung von Gesellschaften in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, S. 359 m.w.N.

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Ausgabe der Aktien unter dem auf sie entfallenden Betrag) ist sowohl bei der Barals auch bei der Sacheinlage unzulässig.28

4. Leistung der (Mindest-)Einlage Die Gründer haben vor der Anmeldung der Gesellschaft zu ihrer Eintragung in das Handelsregister einen bestimmten Teilbetrag zu leisten (Mindesteinlage), der im Fall einer Bargründung mindestens ein Viertel des geringsten Ausgabebetrags einer jeden Aktie umfassen muss. Die Resteinlage ist auf Verlangen des Vorstands zu leisten 29, im Falle der Einpersonengründung muss hinsichtlich der noch offenen Resteinlage eine Sicherung bestellt werden 30. Ein Aufgeld (Agio) ist immer in voller Höhe zu leisten 31. Die Einlagen selbst müssen zur endgültigen freien Verfügung des Vorstands geleistet werden, dürfen also – weil dann der Gesellschaft tatsächlich die ausgewiesenen Mittel nicht zur Verfügung stünden – auch nicht mittelbar wieder an die Gründer zurückfließen; sonstige Verwendungsabreden sind zulässig. Der Vorstand muss auf die Einhaltungen dieser gesetzlichen Vorgaben achten und hat bei der Anmeldung der Gesellschaft zur Eintragung in das Handelsregister zu versichern, dass die Einlagen in diesem Sinne ordnungsgemäß an ihn geleistet worden sind 32. Die unten noch näher zu behandelnden Sacheinlagen können, sofern sie nicht in einer Gebrauchs- oder Nutzungsüberlassung bestehen, innerhalb einer fünfjährigen Frist bewirkt werden 33.

28

29 30 31 32 33

Die 2. Richtlinie trägt dem Rechnung, indem sie als zwingenden Satzungsinhalt verlangt „die Höhe des gezeichneten Kapitals“, sofern die Gesellschaft kein genehmigtes Kapital hat, bzw. „die Höhe des genehmigten Kapitals und die Höhe des gekennzeichneten Kapitals“, sofern die Gesellschaft über genehmigtes Kapital verfügt, vgl. Art. 2 lit. c). Der Begriff „gekennzeichnetes Kapital“ ist gleichbedeutend mit dem Begriff „gezeichnetes Kapital“ (capital subscribed), Die Richtlinie bestimmt nicht, wann das Grundkapital (nicht zu verwechseln mit der Leistung der Einlage) zu übernehmen ist. §§ 9, 36a Abs. 1, 2 S. 3 AktG. Entsprechendes gilt in Österreich nach § 9 öAktG und in England nach dem Companies Act 1985, s. 100(1) („A company’s share shall not be alloted at a discount.“). In Frankreich ist die Unterpariemission nach allgemeiner Auffassung ebenfalls unzulässig, vgl. Ripert/Roblot Rn 1439; Guyon, Droit des affaires, Rn 430; Cass.crim. 15. 05. 1936, J.Soc. 1937, 536. § 63 Abs. 1 AktG. § 36 Abs. 2 S. 2 AktG. § 36 Abs. 1 AktG. § 37 Abs. 2 S. 1 iVm. §§ 36a, 36 Abs. 2 S. 2, 54 Abs. 2 und 3, 37 Abs. 1 AktG. § 36 a Abs. 2 S. 1 AktG; hierzu Hüffer, AktG, 6. Aufl., § 36 a Rdn. 4; GroßKommAktG/Röhricht § 36a Rdn. 6ff.; MünchKomAktG/Pentz § 36a Rdn. 10ff.

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5. Keine Befreiung von der Einlageverpflichtung Eine Befreiung von der Einlagepflicht ist ebenfalls unzulässig, weil in diesem Falle der Gesellschaft der ausgewiesene Betrag nicht zufließen würde 34. Die 2. Richtlinie enthält in Art. 12 eine entsprechende Vorgabe 35.

6. Sicherung der Kapitalaufbringung bei Sacheinlagen 36 a) Einlagefähigkeit Fähig, als Sacheinlage (bzw. als hier nicht weiter zu behandelnden Sachübernahme) eingebracht zu werden, sind nur solche Vermögensgegenstände, deren wirtschaftlicher Wert feststellbar ist; Dienstleistungen können nicht als Sacheinlagen eingebracht werden 37. Die Sacheinlagefähigkeit in diesem Sinne ist weit gefasst. Sacheinlagefähig sind nicht nur bewegliche und unbewegliche Sachen,

34 §§ 55, 66 Abs. 1 AktG. Entsprechendes gilt in Österreich nach § 60 öAktG, in Frankreich gem. Art. 225-3 al. 2 L (art. 75 L 66); Mercadal/Janin Rn 2646 sowie im englischen Recht, vgl. Re Wragg, Limited (1897) I Ch. 796 (796). 35 Nach Art 12 der 2. Richtlinie dürfen Aktionäre nicht von der Verpflichtung befreit werden, ihre versprochenen Einlagen zu leisten (unbeschadet der Vorschriften über die Herabsetzung des gezeichneten Kapitals). 36 Die 2. Richtlinie definiert in Art. 10 Abs. 1 Sacheinlagen als Einlagen, „die nicht Bareinlagen sind“. Diese Regelung ist im Zusammenhang mit Art. 7 der 2. Richtlinie zu lesen. Hiernach darf das „das gezeichnete Kapital“ nur aus „Vermögensgegenständen bestehen, deren wirtschaftlicher Wert feststellbar ist“, wobei diese Vermögensgegenstände nicht aus Verpflichtungen zu Arbeitsleistungen oder Dienstleistungen bestehen dürfen. Weiter bestimmt Art. 10 der 2. Richtlinie, dass diese Sacheinlagen „Gegenstand eines besonderen Berichts“ sind, der vor der Gründung der Gesellschaft bzw. dem Zeitpunkt der Genehmigung der Aufnahme ihrer Geschäftstätigkeit erhält, durch einen oder mehrere, durch eine Verwaltungsbehörde oder ein Gericht bestellte Prüfer zu erstellen ist. Der Bericht muss mindestens jede Einlage beschreiben, die angewandten Bewertungsverfahren nennen und angeben, ob sich hiernach die Werthaltigkeit der Sacheinlage ergibt. Art. 10 Abs. 4 der 2. Richtlinie enthält Ausnahmen hiervon, auf die vorliegend jedoch nicht näher eingegangen werden soll. 37 § 27 Abs. 2 AktG; zu den Gründen hierfür s. nur Lutter, Kapital, Sicherung der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung in den Aktien- und GmbH-Rechten der EWG, 1964, S. 232; ders. in KölnKommAktG § 183 Rdn. 14; Hüffer, AktG § 27 Rdn. 29; MünchKommAktG/Pentz § 27 Rdn. 33f.; GroßKommAktG/Röhricht § 27 Rdn. 18ff.; der zwischenzeitliche Überlegung im Bericht der High Level Group (S. 90), diese Leistungen denn als Sacheinlage zuzulassen, wenn sie abgesichert werden, ist die Kommission nicht näher getreten, vgl. den Vorschlag der EUKommission vom 29. 10. 2004 zur Änderung der 2. Richtlinie, abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/internal_market/company/docs/capital/2004-proposal/ proposal_de.pdf.

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sondern auch Rechte, einschließlich Forderungen 38, selbst wenn sie gegen die Gesellschaft gerichtet sind 39. Zu den sacheinlagefähigen Rechten zählen auch Nutzungsrechte, wie etwa das Recht zur Nutzung eines Grundstücks oder auch Lizenzrechte; Voraussetzung ist wegen der Notwendigkeit, dem Recht einen wirtschaftlichen Wert beimessen zu können, dass sich eine bestimmte (Mindest-) Nutzungsdauer feststellen lässt.40 Wenn das Gesetz Bar- und Sacheinlagen unterscheidet, bedeutet dies nicht, dass die zu leistende Einlage von den Gründern bzw. Aktionären jeweils nur in einer der genannten Formen eingebracht werden darf. Zwar gibt es keine dritte Einlageform. Es ist aber zulässig, in der Satzung Mischformen vorzusehen und etwa eine Sacheinlagevereinbarung des Inhalts festzusetzen, dass der Sacheinleger sowohl eine Bar- als auch eine Sacheinlage auf die von ihm übernommene Einlageverpflichtung zu erbringen hat („Mischeinlage“). Ebenso ist es zulässig, dass der Sacheinleger einen Vermögensgegenstand einlegen soll, dessen Wert den der von ihm übernommenen Einlageverbindlichkeit übersteigt, und er deshalb für den übersteigenden Teil als Ausgleich ein Entgelt von der Gesellschaft erhält („gemischte Sacheinlage“). Insoweit haben die Gründer und Aktionäre jede Freiheit, die Einlage an ihre Möglichkeiten bzw. die Bedürfnisse der Gesellschaft anzupassen. 38 Soweit sie nicht gegen den Sacheinleger selbst gerichtet sind, sonst käme es nur zu einem schlichten Forderungsaustausch. 39 Der Wert einer solchen Forderung bestimmt sich danach, inwieweit die Gesellschaft sie und ihre weiteren fälligen Verbindlichkeiten tatsächlich erfüllen könnte; die schlichte Befreiung der Gesellschaft vom rechnerischen Wert der Verbindlichkeit wird nicht zugrunde gelegt. 40 Das österreichische Recht entspricht dem in § 20 öAktG, vgl. MünchKommAktG/Doralt öAnh. zu § 27 Rdn. 137 ff. Im französischen Recht kann Gegenstand einer Sacheinlage (apport en nature) jeder Gegenstand sein, der einen Vermögenswert besitzt, gleichgültig, ob er beweglich oder unbeweglich, materiell oder immateriell ist, vgl. Germain/Vogel in: Ripert/Roblot, Droit commercial, 1043. In Betracht kommen Eigentum (propriété), Nießbrauch (usufruit), ein sonstiges Rechts oder die Verschaffung tatsächlicher Nutzungen (jouissance), Immobilien, Handelsunternehmen (fonds de commerce), Forderungen, Erfindungen oder Marken; vgl. Bézard/Letulle in: Juris-Classeur, Band 3, Fasc. 48–20, Nr. 14; Dienst- und Arbeitsleistungen (apports en industrie) als dritte Einlagenform sind bei der société anonyme unzulässig, da sie nicht zur Bildung eines Gesellschaftskapitals beitragen, Art. 1843-2 Abs. 2 C. civ., vgl. Merle, Droit commercial, Nr. 28; Bougnoux in: Juris-Classeur, Band 1, Fasc. 10, Nr. 102–126. Ausgeschlossen sind auch so gen. fiktive Einlagen (apports fictifs); dies sind Einlagen, die keinen Vermögenswert besitzen. Im englischen Recht sind alle materiellen oder immateriellen Gegenstände einlagefähig, die einen geldwerten Vorteil darstellen (money’s worth, Companies Act 1985, s. 99(1), einlagefähig sind auch Lizenzen, Patente und Urheberrechte, sowie knowhow oder der goodwill; vgl. Pennington/Gansen in: Lutter, Die Gründung einer Tochtergesellschaft im Ausland, ZGR-Sonderheft 3, S. 281, 292, Dienstleistungen sind auch bei der public company ausgeschlossen, Companies Act 1985, s. 99(2).

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b) Prüfung Die Prüfung der Sacheinlagen auf ihre Werthaltigkeit verhindert, dass die übrigen Aktionäre den Sacheinleger (Inferent) „quer subventionieren“, er also durch die Einlage eines Gegenstands, dessen Wert dem des versprochenen Einlagebetrags nicht entspricht, auf Kosten der anderen Aktionäre einen Vorteil erhält. Die Gründer und auch später hinzukommende Aktionäre werden durch die Werthaltigkeitsprüfung davor geschützt, gleichsam mittelbar über ihre Gesellschaftsbeteiligung einen Vermögensgegenstand zu teuer zu „kaufen“. Ebenso wird zugleich die notwendige Vermögensgrundlage der Gesellschaft gewährleistet und damit zugleich das Interesse späterer Gesellschaftsgläubiger geschützt.

c) Differenzhaftung Erreicht der Wert des als Sacheinlage eingelegten Vermögensgegenstands nicht den Wert der übernommenen Einlage, haftet der Sacheinlager (Inferent) verschuldensunabhängig in Höhe der Differenz, die er durch Geldleistung auszugleichen hat; ergänzend kommt zugunsten der Gesellschaft die Anwendung allgemeiner Bestimmungen in Betracht 41. Diese Haftung ergibt sich aus dem Grundsatz der realen Kapitalaufbringung (vgl. oben C. I.). Sie hat Auswirkungen in dreierlei Hinsicht: Zunächst gleicht sie Ungleichbehandlungen unter den Aktionären aus, weil diese sonst Beteiligungen zu unterschiedlich hohen Beiträgen erhalten würden. Gleichzeitig wird der Gesellschaft zugesagtes, aber bislang nicht geleistetes (Betriebs-)Kapital zugeführt und es werden mittelbar (reflexiv) hierdurch zugleich auch die Gläubiger der Gesellschaft geschützt.

d) Verdeckte Sacheinlage 42 Flankiert werden die Sacheinlagebestimmungen durch die auch von der Rechtsprechung seit langem anerkannte Lehre von der verdeckten Sacheinlage.

41 Vgl. zuletzt Ulmer/Ulmer GmbHG § 105 f.; In Italien haftet der Inferent gem. Art. 2342, 2254, 2255 Codice Civile nach kaufrechtlichen Grundsätzen, bei Einbringung einer Forderung haftet er für die Zahlungsfähigkeit des Schuldners. In England soll die Gesellschaft den Inferenten wegen Vertragsbruchs auf Schadensersatz in Anspruch nehmen können, aber nicht auf Zahlung des Nominalbetrags der Aktien, Pennington, Company Law, 1995, S. 185. 42 Vgl. hierzu statt anderer hierzu Hüffer, AktG § 27 Rdn. 9ff.; GroßKommAktG/ Röhricht § 27 Rdn. 188 ff.; MünchKommAktG/Pentz § 27 Rdn. 84ff., jew. mwN.

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Ihr Anliegen ist es, zu verhindern, dass die Sacheinlagevorschriften dadurch umgangen werden, dass der tatsächlich geplante Vorgang der Erbringung einer Sacheinlage aufgrund einer Abrede formal in zwei oder mehr Teile aufgespaltet wird, nämlich in eine (vorgebliche) Bareinlage und den anschließenden Erwerb des betreffenden Vermögensgegenstands mit den Bareinlagemitteln. Eine solche nur formale Aufteilung wäre unvereinbar mit dem Sinn und Zweck der Sacheinlagevorschriften, die im Interesse der Aktionäre und der Gläubiger die Offenlegung und Werthaltigkeitskontrolle des betreffenden sicherstellen sollen. Wäre das beschriebene Vorgehen zulässig, liefe dies darauf hinaus, die Sacheinlagevorschriften entgegen ihrem allgemein anerkannten Schutzzweck völlig zu entwerten 43. Die für die verdeckte Sacheinlage notwendige, im Einzelfall für Außenstehende möglicherweise aber nur schwer zu beweisende Abrede wird dabei vermutet, wenn zwischen der Begründung der Einlagepflicht und dem jeweiligen Rechtsgeschäft ein zeitlicher und sachlicher Zusammenhang besteht, beispielsweise also der betreffende Vertrag kurze Zeit nach der Begründung der Einlagepflicht abgeschlossen wird und die von der Gesellschaft zu erbringende Gegenleistung der Höhe nach im Wesentlichen der Einlageverbindlichkeit entspricht. Liegt eine verdeckte Sacheinlage vor, erfüllt die Zahlung der Einlage, weil diese an den Einlageschuldner absprachegemäß zurückfließen und nicht endgültig bei der Gesellschaft verbleiben soll, die Einlageverbindlichkeit nicht; außerdem ist die im deutschen Recht von dem schuldrechtlichen Vertrag zu unterscheidende dingliche Übertragung des Vermögensgegenstands gegenüber der Gesellschaft unwirksam 44.

7. Offenlegung und präventive Kontrolle Absprachen über Sondervorteile und Gründungsaufwand oder Sacheinlagen und Sachübernahmen sind zu ihrer Wirksamkeit in die Satzung aufzunehmen und werden offen gelegt, außerdem findet eine (Werthaltigkeits-)Kontrolle statt 45. Die Aufnahme in die Satzung führt dazu, dass sowohl die Gründer unter-

43 In England ist dieses Problem bislang augenscheinlich nicht erkannt worden, vgl. Rickford Reforming Capital, EBLR 2004, S. 919, 935, der auf die Möglichkeit einer einfachen Umgehung der Sacheinlage-/Sachübernahmevorschriften auch seine Forderung stützt, diese abzuschaffen. 44 Dies folgt unmittelbar aus § 27 Abs. 3 AktG. 45 §§ 26, 27, 32 Abs. 2, 33 Abs. 2 Nr. 4, 34 Abs. 1, 2, 36 Abs. 2 S. 2, 37 Abs. 4 Nr. 2, 38, 40, 41 Abs. 3 AktG. Wird eine beabsichtigte Sacheinlage in der Satzung nicht festgesetzt, muss der Gründer – sofern die Satzung nicht noch vor der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister entsprechend korrigiert wird – das leisten, was sich mangels anderweitiger Festsetzungen objektiv aus der Satzung ergibt, also eine Bareinlage, §§ 27 Abs. 3, 54 Abs. 2 AktG. Die Gesellschaft kann den Vermögensgegen-

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einander als auch später hinzukommende Aktionäre Kenntnis von diesen Absprachen erhalten und nicht bestimmte Aktionäre zu Lasten des Gesellschaftsvermögens, und damit mittelbar zu Lasten der anderen Aktionäre, Vorteile erhalten. Die (Werthaltigkeits-)Kontrolle durch das Gericht – und ggf. die externen Gründungsprüfer, hierzu sogleich im Text – dient dazu, keine unseriös gegründete Gesellschaft als Aktiengesellschaft, und damit als eine größere Zahl von späteren Aktionären potentiell gefährdende Institution, in den Rechtsverkehr gelangen zu lassen. Über den Hergang der Gründung haben die Gründer einen Bericht (Gründungsbericht) anzufertigen. Die Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat haben die Gründung zu prüfen und ihren hierüber erstatteten Bericht (Prüfungsbericht) dem Handelsregister mit der Anmeldung der Gesellschaft zur Eintragung vorzulegen. Sind Mitglieder von Vorstand oder Aufsichtsrat selbst unmittelbar oder mittelbar als Gesellschafter an der Gründung der Gesellschaft beteiligt bzw. sollen sie eine Belohnung in diesem Zusammenhang bekommen oder liegt eine Gründung mit Sacheinlagen oder Sachübernahmen vor, ist die Gründung auch durch einen gerichtlich zu bestellenden Gründungsprüfer zu prüfen. Hierhinter steht die Überlegung, dass von den Verwaltungsmitgliedern in diesen Fällen keine neutrale Prüfung erwartet werden kann bzw. ggf. eine besondere Sachkunde bei der Wertermittlung notwendig ist 46. Durch die Berichte können sich das mit dem Eintragungsverfahren befasste Gericht, aber auch die Aktionäre selbst, einen schnellen Überblick über die Ordnungsmäßigkeit der Gründung verschaffen.

8. Haftung wegen falscher Angaben Für die Richtigkeit der gemachten Angaben haften die Beteiligten, einschließlich etwaiger Hintermänner, zivil- und strafrechtlich 47. Hierdurch wird in zivilrechtlicher Hinsicht sichergestellt, dass neben der ordnungsgemäßen Erbringung der Einlagen etwaige Vermögensbeeinträchtigungen der Gesellschaft wieder ausgeglichen und so der Zustand herbeigeführt wird, der bei ordnungsgemäßem Handeln bestanden hätte. Die strafrechtliche Sanktion soll präventiv wirken, die Bedeutung der Angaben betonen und die so gen. Schwindelgründungen von Ak-

stand aber im Wege der Nachgründung erwerben, Lutter/Gehling, WM 1989, 1445, 1455f.; Hüffer, AktG § 52 Rdn. 21; MünchKommAktG/Pentz § 27 Rdn. 106ff., § 52 Rdn. 70; für die Zulässigkeit einer nachträgliche Satzungsänderung GroßKommAktG/Röhricht § 27 Rdn. 219; GroßKommAktG/Priester § 52 Rdn. 106ff., jew. mwN. 46 §§ 32 bis 35 AktG; ist die Prüfung wegen der Beteiligung der Verwaltungsmitglieder an der Gründung erforderlich, kann sie aus Vereinfachungsgründen auch durch den beurkundenden Notar stattfinden. 47 §§ 46ff., 399 AktG.

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tiengesellschaften verhindern. Die Kapitalaufbringung ist durch diese flankierenden Bestimmungen insgesamt gesichert, und eine zusätzliche Einführung weiterer Haftungsbestimmungen, etwa durch eine teilweise Übernahme ausländischer Bestimmungen, ist nicht veranlasst. Sie empfiehlt sich auch nicht, weil es hierdurch zu einer Störung des in sich geschlossenen aktienrechtlichen (Haftungs-)Systems käme 48 und weitere Haftungen zu einer industriepolitisch unerwünschten und auch nicht sachgerechten Haftungshypertrophie zu Lasten der Betroffenen führen würde.

9. Nachgründung Ergänzt wird dieses System durch die Nachgründungsvorschriften 49, die den Sacheinlagevorschriften nachgebildet, inhaltlich aber zugleich daran angepasst sind, dass die betreffende Gesellschaft bereits eingetragen und damit das eigentliche Gründungsstadium abgeschlossen ist. Bei der Nachgründung geht es nicht um die Gründung im eigentlichen Sinne, sondern um bestimmte gründungsnahe Verträge, nämlich solche, die die Gesellschaft innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren nach ihrer Eintragung in das Handelsregister schließt. Diese Verträge bedürfen, wenn sie mit Gründern oder an der Gesellschaft mit mehr als 10 % des Grundkapitals beteiligten Aktionären geschlossen werden und wenn die Gesellschaft hiernach Vermögensgegenstände zu einer 10 % des Grundkapitals über-

48 Hierauf weist auch Baldamus, Reform der Kapitalrichtlinie, 2002, S. 59 mit Recht hin. 49 §§ 52, 53 AktG. Auf europäischer Ebene ist die Nachgründung in Art. 11 der 2. Richtlinie geregelt. In Frankreich ist die Nachgründung in art. 225-101 L (art. 157-1 L 66) geregelt. Erfasst sind nur Verträge mit Aktionären, die innerhalb der Zweijahresfrist geschlossen werden. Die Verträge sind durch einen gerichtlich bestellten Prüfer zu prüfen, und die Hauptversammlung hat zur Wirksamkeit der Verträge über sie abzustimmen, wobei dem anderen Vertragsteil kein Stimmrecht zukommt. Ausnahmen gelten für den Erwerb über die Börse, unter gerichtlicher Kontrolle oder im laufenden Geschäftsbetrieb. In England ist die Nachgründung in 104, 105 CA 1985 geregelt. Die Regelung erfasst nur Verträge mit Gründern innerhalb von zwei Jahren ab Ausgabe des Geschäftsaufnahmezertifikates, nach denen die Gesellschaft eine Gegenleistung (auch in Form von Aktien) von mehr als 10 % des Wertes des ausgegebenen Kapitals zu erbringen hat. Zulässigkeitsvoraussetzung des Vertrags ist die Prüfung durch einen unabhängigen Prüfer und die Zustimmung der Gesellschafter. In Österreich ist die Nachgründung in §§ 45, 46 öAktG geregelt. Die Rechtslage entspricht im Wesentlichen derjenigen in Deutschland. Unterschiede bestehen insoweit, als das Gesetz Leistungen der Gesellschaft von mindestens 10 % des Grundkapitals und nur Gründer und ihnen nahe stehende Personen erfasst und Geschäfte freistellt, die den Gegenstand des Unternehmens bilden oder wenn sie in der Zwangsvollstreckung erfolgen.

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steigenden 50 Vergütung erwerben soll, zu ihrer Wirksamkeit eines zustimmenden Hauptversammlungsbeschlusses und ihrer Eintragung in das Handelsregister. Außerdem hat eine der Sacheinlage vergleichbare Prüfung stattzufinden. Ausnahmen gelten insoweit, als der Erwerb im Rahmen der laufenden Geschäfte der Gesellschaft, der Zwangsvollstreckung oder über die Börse erfolgt. Hinter diesen Regelungen steht historisch die Befürchtung, dass die Gründer den Erwerb des betreffenden Gegenstandes bereits vor der Errichtung der Gesellschaft planen und den Abschluss des betreffenden Vertrages dann nach der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister durch die von ihnen beherrschten Vorstandsmitglieder durchführen lassen, um die für die Sacheinlage geltenden Offenlegungsund Prüfungsvorschriften zu umgehen. Denn nach Auffassung des Gesetzgebers ist bei derart bedeutenden Geschäften in einem solchen engen zeitlichen Zusammenhang anzunehmen, dass „der Erwerb schon bei der Errichtung hätte vorgenommen werden können und auch sollen“.51 Werden die Nachgründungsvorschriften nicht eingehalten, sind die betreffenden Verträge und die zu ihrer Ausführung vorgenommenen Rechtshandlungen der Gesellschaft gegenüber unwirksam.

III. Zusammenfassung Das Gründungsrecht der Aktiengesellschaft ist gekennzeichnet durch Offenlegung und präventive Kontrolle. Bevor die Gesellschaft als Aktiengesellschaft und damit ihrem Charakter nach als Publikumsgesellschaft durch die Eintragung in das Handelsregister ins Leben tritt, wird maßgeblich im Interesse der späteren Aktionäre, mittelbar damit aber auch zugunsten der späteren Gläubiger, die effektive Aufbringung des notwendigen Mindestkapitals geprüft. Die Kapitalaufbringung ist geprägt durch das Gebot der vollständigen Übernahme des Kapitals, das Verbot der Unterpariemission und der Befreiung von den Leistungspflichten sowie der Notwendigkeit, die zugesagten Einlagen zur endgültigen freien Verfügung des Vorstands zu erbringen. Sacheinlagen werden durch ein besonderes Verfahren auf ihre Werthaltigkeit überprüft, die die Werthaltigkeit sichernden Vorschriften sind umgehungsfest. Für Wertdifferenzen haftet der Sacheinleger

50 Die Vorgaben der 2. Richtlinie, die bereits bei 10 %, und nicht erst bei einem hierüber liegenden Betrag ansetzen, sind in Deutschland insoweit nicht umgesetzt worden, s. bereits Pentz, NZG 2001, 346, 350. 51 Vgl. die Begründung zum Entwurf eines Gesetzes betreffend die KGaA und die AG von 1884, abgedr. bei Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, ZGR-Sonderheft 4 S. 387, 453, sowie die Materialien zu § 207 HGB bei Hahn/Mugdan, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 6 HGB, 1897, S. 297 f.

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verschuldensunabhängig, hinzukommen kann eine verschuldensabhängige Haftung weiterer an der Gründung beteiligter Personen. Abgesichert wird das Sacheinlagerecht durch das Recht der Nachgründung.

D. Alternativmodelle/Reformüberlegungen I. Abschaffung des Mindestkapital- bzw. des Festkapitalsystems? 1. Eine Abschaffung des aktienrechtlich vorgeschriebenen Mindestkapitals ist weder in Deutschland noch auf europäischer Ebene geplant. Die High Level Group hat sich nicht hierfür ausgesprochen 52, und für die Richtigkeit der Beibehaltung des bisherigen Mindestkapitalsystems spricht auch die oben (unter B. I. 2. a) bereits erwähnte SE-Verordnung, die in Erwägungsgrund Nr. 13 ebenfalls auf die Notwendigkeit eines für jedes wirtschaftliches Handeln notwendigen Anfangsvermögens hinweist. Ein Bedürfnis für die Abschaffung oder die Senkung des über Art. 6 der 2. Richtlinie vorgeschriebenen Mindestkapitals von EUR 25.000 53 hat sich bislang nicht ergeben, was sich schon mit Blick auf die für eine als Publikumsgesellschaft ausgelegte Gesellschaftsform relativ geringe Mindesthöhe 54 erklärt. Mit dem genannten Mindestbetrag liegt eine nach heutigen Maßstäben eher geringe Größe vor, die einerseits der Gesellschaft ein für ihre wirtschaftlichen Unternehmungen notwendiges Mindestkapital sichert, andererseits jedoch auch die Flexibilität bei AG-Gründungen nicht einschränkt. Gegen die Abschaffung des Mindestkapitals spricht auch die historische Rechtsentwicklung in Deutschland. Das deutsche Aktienrecht kannte ursprüng-

52 Vgl. bei Fn. 15. 53 Zur Geltung des EURO als in Art. 6 der Richtlinie angesprochenen Rechnungseinheit s. Art. 6 der 2. Richtlinie in Verbindung mit Art. 2 der Verordnung (EC) Nr. 1103/97 vom 17. 6. 1997, ABl. Nr. L 162 vom 19. 6. 1997, und Art. 1 der Verordnung (EEC, Euratom) Nr. 3308/80 vom 16. 12. 1980. 54 Aus der geringen Mindesthöhe des Grundkapitals ist kein Grund für die vollständige Abschaffung des Mindestkapitalsystems abzuleiten. Zur GmbH-rechtlichen Diskussion in Deutschland vgl. nur Priester, ZIP 2005, 921: Wer die Abschaffung des Mindestkapitals mit dem Argument verlange, das Mindestkapital bewirke auch keinen Gläubigerschutz, erinnere an jemanden, der einem bei Eis und Schnee in der Badehose frierend herumlaufenden Manne rate, er solle diese doch auch ausziehen, weil sie ohnehin nicht wärme. Mit Recht hat auch Zöllner auf dem 2. Deutschen Insolvenzrechtstag in These 10 darauf hingewiesen, dass die aus der geringen Höhe des GmbH-Mindestkapitals von derzeit EUR 25.000 abgeleitete Forderung, es ganz abzuschaffen, logisch fehlerhaft ist, weil sich aus dieser Feststellung lediglich die Anhebung des Mindestkapitals ergeben könne, nicht aber umgekehrt seine Senkung bzw. Abschaffung.

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lich keinen Mindestbetrag für das Grundkapital, der Gesetzgeber hatte die Kapitalausstattung vielmehr völlig in die Hände der Gründer gegeben 55. Diese Liberalität hat sich jedoch praktisch nicht durchhalten lassen und wurde 1923 abgeschafft 56. Es hatte sich nämlich gezeigt, dass die ursprüngliche Vorstellung des Gesetzgebers, die Gründer würden den nach ihrer Überzeugung zum Ingangsetzen der geplanten Unternehmung oder des beabsichtigten Vorhabens notwendigen Betrag in der erforderlichen Höhe selbst bestimmen,57 sich als auf Dauer gesehen illusorisch erwiesen hatte. Die hinter der Einführung des Mindestkapitals stehenden konkreten historischen Erfahrungen belegen die Unverzichtbarkeit eines vorgeschriebenen Mindestkapitals. 2. Diese Überlegungen sprechen zumindest für das Aktienrecht auch gegen die Übernahme des belgischen Business-Plan-Modells, wonach die Gründer bei der Gründung der Gesellschaft einen solchen Plan aufzustellen und später unplanmäßig eingetretene Verluste auszugleichen haben. Die Richtigkeit eines solchen Plans wäre einer präventiven Kontrolle durch das Handelsregister kaum zugänglich und die Haftung wegen einer nicht eingehaltenen Planung erscheint wenig sachgerecht, nachdem Managementfehler, für die die Gründer vernünftigerweise nicht haften können, die Hauptursache für Unternehmenskrisen darstellen 58. Hinzu kommen Bedenken mit Blick auf den Charakter der Aktiengesellschaft als Publikumsgesellschaft und die notwendige Fungibilität der Aktie, zu denen eine solche Haftung nicht passen würde.

55 Ein Mindestkapital der Gesellschaft ergab sich lediglich mittelbar daraus, dass das Gesetz mindestens fünf Gründer verlangte, die jeweils mindestens eine Aktie im Nennbetrag von 1000 Mark zu übernehmen hatten (§§ 180, 182 HGB 1897). Im Übrigen ging der Gesetzgeber offensichtlich davon aus, dass die Gründer der Gesellschaft den Betrag, der nach ihrer Überzeugung zum Ingangsetzen der geplanten Unternehmung oder des beabsichtigten Vorhabens notwendig war, selbst in der erforderlichen Höhe bestimmen würden. Hierzu bereits Hommelhoff in Schubert/ Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, ZGR-Sonderheft 4 S. 53, 82ff. 56 Mit dem Gesetz über den Mindestbetrag des Grundkapitals von Aktiengesellschaften und KGaA vom 12. 5. 1923 ist ein Mindestbetrag von 5 Mio. Mark, mit der GoldbilanzVO vom 28. 12. 1923 ein solcher von 50.000 Goldmark vorgeschrieben worden. Seither hat es für Aktiengesellschaften durchgehend ein gesetzlich vorgeschriebenes Mindestkapital gegeben, AktG 1937: 500.000 Reichsmark; DM-Bilanzgesetz 1949 (für Neugründungen): 100.000 DM; AktG 1965: 100.000 DM, Währungsumstellung auf Euro 1999: EUR 50.000. Zur Entwicklung etwa Thiessen in Duss/Linder, Rechtstransfer in der Geschichte, 2006, unter C. I. mit Fn. 93 (im Erscheinen); s. auch GroßKommAktG/Brändel § 7 Rdn. 1ff.; MünchKommAktG/ Heider § 7 Rdn. 1 f.; zu höheren Mindestbeträgen ders. bei Rdn. 13ff. mwN. 57 Hierzu Hommelhoff in Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, ZGR-Sonderheft 4 S. 53, 82 ff. 58 Vgl. hierzu die bei Kühn, Insolvenzindikatoren und Unternehmenskrise, 1991, S. 201 ff. wiedergegebenen Ergebnisse der empirischen Insolvenzursachenforschungen.

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3. Auffangen ließe sich ein Verzicht auf die mit dem Mindestkapital gewährleistete, für ein unternehmerisches Handeln notwendige vermögensmäßige (Mindest-)Ausstattung über eine persönliche Haftung der Gesellschafter oder der Leitungsorgane. Die Haftung der Gesellschafter, etwa in Anlehnung an die Kommanditistenhaftung gem. § 171 HGB oder gar weiter gehend, wäre allerdings mit dem Charakter der Aktiengesellschaft als Publikumsgesellschaft und der notwendigen Fungibilität der Aktien unvereinbar. Eine erweiterte Haftung der Leitungsorgane, die auch nach den Feststellungen der High Level Group nicht befürwortet wird 59 und auf die später noch näher einzugehen sein wird, wäre ebenfalls nicht empfehlenswert, da ein Verteilungsprinzip, nach dem die Gesellschafter auch ohne Kapitaleinlage sämtliche Vorteile, die Gesellschaftsorgane und die Gläubiger der Gesellschaft dagegen alle Risiken zu tragen hätten, nicht sachgerecht und rechtsethisch bedenklich erschiene. Hinzu käme, dass eine solche Haftung der Leitungsorgane zu (laufenden) Mehrkosten führen würde 60, weshalb es auch unter ökonomischen Aspekten vorzugswürdig ist, von vornherein über ein bestimmtes Mindestvermögen die Markttauglichkeit des zukünftigen Marktteilnehmers sicherzustellen. 4. Wegen weiterer Einzelheiten zur Bedeutung des Mindestkapitals und des Festkapitalsystems ist auf den Beitrag von Eidenmüller/Grunewald/Noack zu verweisen, zu den Funktionen des festen Kapitals für den Minderheiten- und Anlegerschutz auf den Beitrag von Bayer/Ekkenga.

II. Einführung echter nennwertloser Aktien? 1. In Deutschland sind echte nennwertlose Aktien 61 nicht zulässig. Sie wäre mit der 2. Richtlinie auch nicht vereinbar. Die SLIM-Arbeitsgruppe hat angeregt, die Einführung echter nennwertloser Aktien zu überprüfen 62. Auch die High Level Group hat sich mit dieser Frage beschäftigt 63. Schließlich beabsichtigt das britische Handelsministerium (Department of Trade and Industry), den Nennwert bzw. den rechnerischen Wert von Anteilen zwingend abzuschaffen. Es hat

59 Vgl. den Bericht (Fn. 15) auf S. 87. 60 Im Einzelnen noch bei D VII. 61 Echte nennwertlose Aktien sind möglich, wenn die Gesellschaft entweder über kein Grundkapital verfügt oder aber das Grundkapital nicht in Aktien aufgeteilt ist, näher MünchKommAktG/Heider § 8 Rdn. 13ff., 21ff. 62 Vgl. 2. Vorschlag. Die Vorschläge der Arbeitsgruppe Simpler Legislation for the Internal Market (SLIM) sind abrufbar über http://europa.eu.int/comm/internal_ market. 63 Winter-Konsultation S. 27 f. Das Konsultationspapier der Hochrangigen Expertengruppe auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts vom 25. 04. 2002 ist abrufbar unter www.europa.eu.int/comm/internal_market/de/company/company/modern.

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die Europäische Kommission aufgefordert, in der Kapitalrichtlinie no par value shares zuzulassen 64. 2. Die Einführung echter nennwertloser Aktien wäre, selbst bei Festhalten am gegenwärtigen Regime der Kapitalaufbringung und -erhaltung, nur mit einem erheblichen gesetzgeberischen Aufwand möglich und hätte komplexe Änderungen vor allem im geltenden Aktienrecht, Umwandlungsrecht und Steuerrecht zur Folge 65. Die Einführung nennwertloser Aktien wäre deshalb nur sinnvoll, wenn damit nennenswerte Vorteile verbunden wären, was indessen nicht der Fall ist: a) Für die Zulassung echter nennwertloser Aktien wurde in der Vergangenheit angeführt, sie erleichtere ein Aktiensplitting bei schweren 66 Aktien 67. Außerdem sei die nennwertlose Aktie sanierungsfreundlicher. Liege in einer Unternehmenskrise der Marktwert der Aktien unterhalb des Nennwerts oder des rechnerischen Nennwerts, könne die Gesellschaft nämlich aufgrund des Verbots der Unterpari-Emission keine neuen Aktien zu Marktpreisen ausgeben, sofern nicht zuvor eine Kapitalherabsetzung mit anschließender Kapitalerhöhung durchgeführt werde 68. Schließlich sei die nennwertlose Aktie nötig, um im internationalen Wettbewerb mithalten bzw. dem internationalen Standard genügen zu können 69. b) Seit der Herabsetzung des Aktienmindestnennbetrags auf einen Euro sowie der Einführung von Stückaktien dürften die meisten Argumente für eine echte nennwertlose Aktie an Bedeutung verloren haben 70. Der Unterschied zwischen low par shares mit einem Nennbetrag von nur einem Euro und echten no par shares ist aus praktischer Sicht zu vernachlässigen. Mit der vereinfachten Kapitalherabsetzung nach §§ 229 ff. AktG, die sogar eine Herabsetzung auf Null mit anschließender Kapitalerhöhung gestattet 71, steht ein effektives Mittel zur

64 Company Law Review, Modern Company Law, Kapitel 6: Capital Maintenance, A Consultation Document from the Company Law Review Steering Group S. 4, abrufbar unter http://www.dti.gov.uk/cld.review.htm; vgl. auch Baldamus, Reform der Kapitalrichtlinie, S. 40, 105 f. 65 Vgl. Baldamus, Reform der Kapitalrichtlinie S. 113, 203 Fn. 63 mit Beispielen; Bauer, Gläubigerschutz durch eine formelle Nennkapitalziffer – Kapitalgesellschaftsrechtliche Notwendigkeit oder überholtes Konzept? S. 335. 66 Schwere Aktien sind solche mit einem nominal hohen Aktienkurs. 67 Deutsches Aktieninstitut e.V., Ja zur nennwertlosen Aktie. Stellungnahme für das Bundesministerium der Finanzen, S. 3. 68 Kübler, Die Aktie, Unternehmensfinanzierung und Kapitalmarkt, 1989, S. 12, ders. WM 1990, 1853, 1854; Escher-Weingart, Reform durch Deregulierung im Kapitalgesellschaftrecht, 2001, S. 343 f. 69 Heider, AG 1998, 1, 4; Lehmann, S. 283. 70 So wohl auch Bauer, Gläubigerschutz durch eine formelle Nennkapitalziffer – Kapitalgesellschaftsrechtliche Notwendigkeit oder überholtes Konzept? S. 335. 71 BGHZ 142, 167, 169f. – Hilgers.

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Verfügung, um bei Kapitalbedarf auf bilanzielle Verluste zu reagieren. Ob es erforderlich bleibt, die echte nennwertlose Aktie zur Anpassung an einen so genannten „internationalen Standard“ einzuführen, ist ebenfalls zweifelhaft. In der Diskussion über den internationalen Wettbewerb oder Standard wird zwar regelmäßig auf die USA verwiesen, in denen es echte nennwertlose Aktien bereits seit 1912 gibt. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich gleichwohl die deutliche Mehrheit der US-amerikanischen Gesellschaften nach wie vor für die Ausgabe von Nennbetragsaktien entscheidet 72. Wenn sich aber echte nennwertlose Aktien augenscheinlich auch in den USA nicht durchsetzen konnten, lassen sich aus einem Hinweis auf die dortige Rechtslage keine Gründe dafür ableiten, ihre Einführung sei durch eine gebotene Anpassung an einen internationalen Standard gefordert.

III. Abschaffung des präventiven Systems? 1. Mit Blick auf die geführte Reformdiskussion stellt sich zunächst die grundsätzliche Frage, ob das bestehende, durch Prävention gekennzeichnete Kapitalschutzsystem durch ein System der nachträglichen Kontrolle ersetzt werden kann. Konkret könnten dann Aktiengesellschaften auch ohne präventive Kontrolle gegründet und eingetragen werden. Erst im Nachhinein, insbesondere im Insolvenzverfahren, würde dann überprüft werden, ob die zugesagten Einlagen auch tatsächlich geleistet worden sind. Nicht geleistete Einlagen würden zugunsten der Insolvenzmasse eingefordert werden. Denkbar wäre auch, den Aktionären ein Wahlrecht dahin einzuräumen, dass sie ihre Einlagen entweder wie bisher unter einem präventiven Kontrollsystem leisten könnten und dann keine weitere Inanspruchnahme fürchten müssten, oder aber nach einem freien System, verbunden aber mit dem Risiko einer späteren Inanspruchnahme. 2. Ein solcher Systemwechsel empfiehlt sich indessen nicht. Die Erfahrung zeigt, dass Gesellschafter, die wegen nicht geleisteter bzw. zurückerhaltener Einlagen in Anspruch genommen werden, zum Ausgleich dieser Forderungen häufig nicht in der Lage sind. Die Erwartung, ausstehende Einlagen könnten erfolgreich zur Masse gezogen werden, erscheint, abgesehen von den hier auftretenden Verjährungsproblemen, lebensfremd. Ein Wechsel zu einer nur nachträglichen Kontrolle würde damit die hier als notwendig erkannte, mit Blick auf die Höhe der Mindesteinlage (unter C. II. 4) ohnehin nicht zu hart ausgestaltete Kapitalaufbringung insgesamt in Gefahr bringen. Wie die Erfahrung zeigt, würde der Wegfall einer präventiven Kontrolle neben der Gläubigergefährdung dazu führen, 72 Vgl. Nachweise bei Bauer, Gläubigerschutz durch eine formelle Nennkapitalziffer – Kapitalgesellschaftsrechtliche Notwendigkeit oder überholtes Konzept? S. 303, 335; Koll-Möllenhoff, Das Prinzip des festen Grundkapitals im europäischen Gesellschaftsrecht, 2004, S. 279.

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dass später (insbesondere auch im Rahmen einer Kapitalerhöhung) hinzukommende Aktionäre keine Sicherheiten hinsichtlich der notwendigen Kapitalausstattung der Gesellschaft hätten und einem volkswirtschaftlich unerwünschten Handel mit wertlosen Aktien Vorschub geleistet würde 73. Vor dem Hintergrund, dass aktienrechtliche Schwindelgründungen seit der Einführung des Mindestkapitals und der präventiven Kontrolle der Kapitalaufbringung so gut wie keine Rolle mehr gespielt haben, ist auch kein Anlass erkennbar, ein doch offensichtlich gut funktionierendes System zu ändern und durch ein solches zu ersetzen, mit dem bereits schlechte Erfahrungen gemacht worden sind. Hinzu kommt, dass es im Falle der Zulassung eines solchen erst nachträglich eingreifenden Systems im Ergebnis unmöglich wäre, die hierdurch für die übrigen Aktionäre verbundenen Nachteile auszugleichen. Denn ein Aktionär, der eine überbewertete Sacheinlage einbringt, würde möglicherweise über Jahre hinweg zu hohe, weil auf einen höheren Beteiligungswert bezogene Gewinnanteile (Dividenden) beziehen, und diese gleichheitswidrige Bevorzugung wäre, insbesondere bei zwischenzeitlichen Aktienveräußerungen, für die hierdurch benachteiligten übrigen Aktionäre als solches praktisch nicht mehr rückgängig zu machen.

IV. Reformüberlegungen zu den Sachgründungsvorschriften 1. Entbehrlichkeit der Werthaltigkeitskontrolle? a) In der Literatur sind die Vorschriften über Werthaltigkeitskontrolle bei Sacheinlagen teilweise kritisiert und der Sache nach als überflüssig und zu teuer bezeichnet worden. In diesem Zusammenhang ist auch die Auffassung vertreten worden, die Einbringung einer Sacheinlage sei mit dem Erwerb eines sonstigen Vermögensgegenstandes zu vergleichen und könne dementsprechend behandelt werden.74 b) aa) Dem ist nicht zuzustimmen. Zunächst macht es aus Gläubigersicht durchaus einen Unterschied, ob er sich anhand der Sacheinlagen ein Bild von der Gesellschaft und der Zusammensetzung ihres Anfangsvermögens machen kann oder nicht. Zu Recht ist gerade in diesem Zusammenhang auf die mit der Werthaltigkeitskontrolle für die Gläubiger verbundenen Vorteile hingewiesen worden,

73 Vgl. zu den seinerzeitigen Missständen, die zur Reform des aktienrechtlichen Gründungsrechts in seinen noch heute geltenden Grundzügen geführt haben, Hommelhoff in Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, ZGR-Sonderheft 4 S. 55 ff. sowie das Gutachten des ROHG, ebenda S. 157, 160ff. und die Allgemeine Begründung des Gesetzentwurfs von 1884, ebenda S. 407, 408ff., 426ff. 74 Rickford Reforming Capital, EBLR 2004, S. 919, 934ff.

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weil diese insoweit nicht mit Informationsdefiziten und weiteren Transaktionskosten belastet werden 75. bb) Entgegen der geäußerten Kritik lässt sich die Erbringung einer Sacheinlage auch nicht mit dem sonstigen Erwerb eines Vermögensgegenstands vergleichen. Zunächst sorgen bei einem normalen Rechtsgeschäft die widerstreitenden Interessen gleichgewichtiger Vertragspartner dafür, dass sich Leistung und Gegenleistung wertmäßig im Regelfall entsprechen. Diese bei normalen Austauschgeschäften geltende Richtigkeitsgewähr ist bei einer Sacheinlage typischerweise nicht gegeben, weil hier auf beiden Seiten die gleichen Personen agieren bzw. gleiche Interessen verfolgt werden. Darüber hinaus hat der Erwerb eines überbewerteten Sacheinlagegegenstands im Unterschied zum Erwerb eines sonstigen Vermögensgegenstands einen leverage-Effekt. Denn der Inferent würde der Gesellschaft nicht nur einmalig einen Gegenstand zu teuer verkaufen, sondern er würde auch laufend höhere Gewinne abschöpfen, die zwar seiner Beteiligungshöhe, nicht aber dem Wert der dafür erbrachten Sacheinlage entsprechen, und die hiermit verbundene Ungleichbehandlung ließe sich – wie bereits dargelegt – insbesondere bei zwischenzeitlichen Aktienveräußerungen praktisch nicht mehr rückabwickeln. Auch systematisch gehört der Vorgang der Einbringung einer Sacheinlage zur Zuständigkeitsebene der Gesellschafter und nicht zu derjenigen der Geschäftsführung, weil der Wert der Sacheinlage bedeutsam für die Beteiligungshöhe und damit für die Gesellschafterrechte des Inferenten und der übrigen Gesellschafter ist 76. Der Vergleich bzw. die Gleichsetzung des Erwerbs einer Sacheinlage mit einem normalen Umsatzgeschäft verbietet sich damit aus mehreren Gründen. cc) Hinzu kommen der mit den Sacheinlagevorschriften erreichte Schutz der übrigen Gründer und der späteren Aktionäre sowie die den vorstehenden Befund bestätigenden praktischen Erfahrungen, die der heutigen Regelung zugrunde liegen: Die Sacheinlagevorschriften führen mit ihrer Wertkontrolle zur Vermeidung einer „Quersubventionierung“ des Inferenten durch die anderen Aktionäre.77 Die Sacheinlagevorschriften haben in Deutschland ihren Ursprung im präventiven Schutz der Aktionäre davor, dass ihnen über eine Sacheinlage ein Vermögensgegenstand zu einem unangemessen hohen Preis über die Gesellschaftsbeteiligungen gleichsam mittelbar „verkauft“ wird.78 Ein nur nachträglich eingreifender 75 Vgl. hierzu Schön, Konzern 2004, 162, 167 f., s. auch noch unter VII. 76 Der weite Spielraum des Vorstands beim genehmigten Kapital, vgl. zuletzt BGH ZIP 2005, 2205 und 2207, spricht nicht gegen diese systematische Unterscheidung, weil auch dort der Maßnahme ein Hauptversammlungsbeschluss zugrunde liegt. 77 Treffend Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2003, Rdn. 158. 78 Vgl. hierzu Begründung zum Entwurf eines Gesetzes betreffend die KGaA und die AG von 1884, abgedr. bei Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, ZGR-Sonderheft 4 S. 387, 414, 435 f.; Hommelhoff aaO. S. 53, 64f.; s. auch

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Schutz wurde vor dem Hintergrund der seinerzeit konkret gemachten Erfahrungen als ungenügend angesehen, weil gerade in dem Bereich der überbewerteten Sacheinlagen die größten Missbräuche festgestellt worden sind. An diesem Gefahrenpotential hat sich, wie sich derzeit in Deutschland an den zahlreichen Fällen der Kapitalanlagegesellschaft in der Rechtsform der Kommanditgesellschaft und der in diesem Zusammenhang festzustellenden Klagewelle zeigt, nichts geändert. Es ist bei diesen Gesellschaften auch nach der Erfahrung der Verfasser seit langem 79 zu beobachten, dass sie weit überbewertete Vermögensgegenstände (insbes. auch Immobilien, Schiffsbeteiligungen und ähnliche Objekte) von den Gründern erwerben. In allen diesen Fällen übernehmen die anderen Gründer, jedenfalls aber später hinzukommende Gesellschafter Anteile im Glauben, es handele sich um eine ordnungsgemäß kapitalisierte Gesellschaft, ohne dass ihrer Einlage (dem von ihnen geleisteten „Kaufpreis“) eine auch nur annähernd werthaltige Substanz gegenüber steht. Selbst wenn die Gesellschaft sodann mangels Überlebensfähigkeit nach kurzer Zeit liquidiert werden sollte, sind die Einlagen der Gesellschafter im Regelfall völlig verloren, weil das Gesellschaftsvermögen von den die Gesellschaft beherrschenden Gründern über Verträge abgezogen worden ist. dd) Eine eigene Prüfung durch die Aktionäre vermag die durch das Sacheinlagerecht gewährleistete präventive Kontrolle nicht aufzufangen 80. Denn die Eigenkontrolle durch die Aktionäre, insbesondere die später hinzukommenden, ist – wie sich heute auch an den Kapitalanlagegesellschaften zeigt – praktisch nicht durchführbar. Die Leichtgläubigkeit der durch Gewinnversprechungen angelockten Anleger lässt bei diesen im Regelfall auch kein Bedürfnis hiernach aufkommen. Gerade mit Blick auf diesen bereits seit langem bekannten Befund ist historisch die präventiv angelegte Werthaltigkeitskontrolle im Aktienrecht eingeführt worden.

die eingehende Darstellung der seinerzeit aufgetretenen Missstände im Gutachten des Reichsoberhandelsgerichts, abgedr. bei Schubert/Hommelhoff aaO. S. 157, 161 ff., 180 ff. 79 S. auch bereits die Darstellung der über die Presse bekannt gewordenen Fälle vom Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts von Kohl/Kübler/Walz/Wüstrich, ZHR 138 (1974) 1, 8 ff.; Beispiele hieraus: 1. Fall: Erwerb ausrangierter Flugzeuge durch Gründer für 2,8 Mio. DM, Einlage in die KG für 24,7 Mio. DM, Rückfluss an Gründer über Umrüstungsverträge 21 Mio. DM aus der Einlage der Kommanditisten. 2. Fall: Erwerb gebrauchter Flugzeuge durch den Gründer für 17 Mio. DM, Erwerb durch die KG für 43 Mio. DM. 80 Hierzu ablehnend auch bereits das Gutachten des ROHG, abgedruckt in Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, ZGR-Sonderheft 4 S. 157, 162 ff.

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Bestätigt wird diese schon für das Aktienrecht getroffene Einschätzung auch durch die Entwicklung im GmbH-Recht.81 Das deutsche GmbH-Recht kannte nämlich zunächst keine Prüfung und Haftung im Zusammenhang mit der Werthaltigkeit von Sacheinlagen. Hierhinter stand die Überlegung, dass den Teilhabern mehr Freiheit eingeräumt werden solle, der bei der GmbH typischerweise kleinere Gesellschafterkreis sowie die Erwartung, die Gesellschafter würden schon im eigenen Interesse darauf achten, dass nur werthaltige Sacheinlagen eingebracht würden. Entsprechende Überlegungen finden sich auch in der heutigen Kritik am präventiv ausgelegten Kapitalschutzsystem bei der Aktiengesellschaft. Das seinerzeit auf der Eigenkontrolle basierende Modell im GmbH-Recht hat sich in der Praxis indessen als nicht tragfähig erwiesen. Die GmbH wurde in Folge dieser Liberalität als die „bevorzugte Rechtsform für Schwindelgründungen, Verschiebebahnhöfe, Dachgesellschaften, waghalsige Spekulationsunternehmen, kurz der Deckmantel zum Konkursbetrug“ 82 bezeichnet. Es wurde für notwendig erachtet, die Freiheit der Gesellschafter durch die Einführung von Gründungsvorschriften entsprechend den aktienrechtlichen Bestimmungen einzuschränken. Wenn jedoch schon bei der GmbH, also einer Gesellschaftsform mit einem typischerweise kleineren Gesellschafterkreis und engeren persönlichen Bindungen, die Erfahrung zeigt, dass die Selbstkontrolle durch die Beteiligten praktisch nicht zum Tragen gekommen ist, gilt dieser Befund umso mehr bei der als Publikumsgesellschaft ausgelegten Aktiengesellschaft. c) Die historischen und die bei den Kapitalanlagegesellschaften gemachten aktuellen Erfahrungen belegen sonach, dass sowohl aus ordnungspolitischen Gesichtspunkten als auch aus Gründen des notwendigen Individualschutzes eine gesetzlich vorgeschriebene präventive Kontrolle der Eigenkontrolle vorzuziehen ist, da sich letztere in der Praxis als untauglich erwiesen hat. Das notwendige Schutzniveau kann über eine Eigenkontrolle nicht erreicht werden. Auch Kostenaspekte sprechen für eine solche Lösung. Würde die gesetzlich vorgeschriebene einmalige Werthaltigkeitskontrolle und die hieran geknüpften Rechtsfolgen (Ablehnung der Eintragung bei fehlender Werthaltigkeit) fehlen, wären zahlreiche eigene Werthaltigkeitskontrollen der Gründer bzw. der später hinzukommenden Aktionäre erforderlich; aus Gläubigersicht gilt Entsprechendes 83.

81 Eingehend zum Folgenden und mit zahlreichen Nachweisen Thiessen in Duss/Linder, Rechtstransfer in der Geschichte, 2006, unter C. II. (im Erscheinen). 82 Bachmann, Die Deutsche Volkswirtschaft 1935, 1120, 1121, der zeitliche Hintergrund der Äußerung stellt die Richtigkeit des tatsächlichen Befundes nicht in Frage. 83 Näher noch unter VII.

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2. Verantwortlichkeit der Geschäftsführungsorgane statt externer Kontrolle? Anstelle einer präventiven Kontrolle durch einen externen Prüfer auf die Kontrolle der Gesellschaftsorgane allein zu setzen, kann angesichts der praktischen Erfahrungen ebenfalls nicht überzeugen. Eine solche Kontrolle läuft im Regelfall auf die Eigenkontrolle der zu Kontrollierenden hinaus und muss deshalb bereits im Ansatz fehl gehen. Selbst eine Kontrolle durch später hinzukommende unabhängige Organmitglieder scheitert, wie die Erfahrung zeigt, häufig am Widerstand noch vorhandener Gründer, die das betreffende Mitglied dann kurzer Hand abberufen bzw. für seine Abberufung sorgen. Kostenersparnisse bei einer echten Prüfung durch unabhängige Organmitglieder gegenüber dem heutigen Rechtszustand wären bei einem solchen Konzept ebenfalls nicht zu erwarten. Unabhängige Organmitglieder werden regelmäßig schon aus Haftungsgründen externe Sachverständige einschalten, deren Vergütung mindestens so hoch liegen dürfte wie die der gerichtlich bestellten Prüfer. Im Ergebnis liefe diese Konstellation auch auf das geltende Recht und die dort vorgeschriebene Kontrolle durch einen externen neutralen Prüfer hinaus. Eine auf die Geschäftsführungsorgane beschränkte Überprüfung wäre deshalb weder geeignet, ein mit dem heutigen Recht vergleichbares Schutzniveau für Gläubiger oder Aktionäre zu gewährleisten, noch wäre davon auszugehen, dass sie kostengünstiger wäre.

3. Kontrolle allein durch den Abschlussprüfer? Vorteile einer Kontrolle allein durch den Abschlussprüfer der Gesellschaft sind nicht erkennbar. Zum einen ist nicht jede Gesellschaft prüfungspflichtig. Zum anderen dürfte es auch unter Kostenaspekten keinen Unterschied machen, ob ein gerichtlich bestellter Prüfer oder der Abschlussprüfer der Gesellschaft die Werthaltigkeit der Einlage prüft. Hinzu kommt, dass es sich auch bei einer solchen Prüfung nicht um eine präventive Kontrolle handeln würde, sondern nur um eine nachträglich eingreifende, die das mit Blick auf die zu verhindernde Quersubventionierung des Inferenten durch die anderen Aktionäre und den mittelbaren „Verkauf“ nicht werthaltiger Gegenstände (unter C. II 6. b) erforderliche Schutzniveau nicht gewährleisten kann.

4. Prospekthaftung statt Sacheinlagevorschriften? Die zwingende Einführung einer Prospektveröffentlichung bzw. einer hiermit zusammenhängenden Prospekthaftung bei der Gründung oder Kapitalerhöhung anstelle der bislang vorgesehenen präventiven Werthaltigkeitskontrolle

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der Sacheinlagen erscheint nicht sachgerecht 84. Zum einen würde dies den geschädigten Anlegern, wie die Erfahrung mit den Kapitalanlagegesellschaften in Deutschland zeigt, keine bessere Rechtsposition einräumen, weil – wie die Erfahrung zeigt – diese Haftungsansprüche sich häufig nicht realisieren lassen. Zum anderen wäre ein solches, erst nachträglich einsetzendes System einem präventiv wirkenden in der Effektivität deutlich unterlegen. Schließlich würde die Erstellung eines Prospekts keinesfalls kostengünstiger sein, sondern im Regelfall deutlich teurer, und wäre für kleinere Gesellschaften auch überdimensioniert.

5. Entbehrlichkeit der Werthaltigkeitskontrolle in geeigneten Fällen a) Nach dem Kompromisstext des Ministerrats vom 29. 11. 2004 zur Änderung der 2. Richtlinie 85 sollen die Mitgliedstaaten beschließen können, auf Vorschlag des Verwaltungs- oder Leitungsorgans von dem nach Art. 10 Abs. 1 bis 3 der 2. Richtlinie geforderten Bewertungsgutachten in folgenden Fällen abzusehen: Erstens, wenn als Sacheinlagen Wertpapiere oder Geldmarktinstrumente eingebracht werden, die zu einem gewichteten Durchschnittspreis bewertet werden, zu dem sie in den drei Monaten vor ihrer Einbringung auf einem geregelten Markt gehandelt wurden, es sei denn, dieser Preis wurde erheblich durch außergewöhnliche Umstände beeinflusst. Zweitens, wenn der Vermögensgegenstand bereits zu einem nicht länger als drei Monate vor seiner Einbringung zurückliegenden Zeitpunkt durch einen Sachverständigen nach allgemein anerkannten Grundsätzen bewertet worden ist. Drittens, wenn der Wert des Vermögensgegenstands aus einem geprüften Jahresabschluss hervorgeht, sofern nicht in den beiden letztgenannten Fällen zwischenzeitlich Wert mindernde Umstände eingetreten sind (in diesen Fällen verbleibt es bei der bisherigen Gründungsprüfung) oder ein Quorum von Aktionären, die zusammen mindestens 5 % des gezeichneten Kapitals halten, bis zum Tag der effektiven Einbringung der Sacheinlage eine Bewertung verlangen. In den drei genannten Ausnahmefällen sollen die Mitglieder des Verwaltungs- bzw. Leitungsorgans einen Bericht über die Werthaltigkeit einreichen, der der gerichtlichen Prüfung unterliegt. Für das Nachgründungsrecht ist eine entsprechende Anpassung vorgesehen. 84 Diese Überlegungen sind in Deutschland bereits im Zusammenhang mit der Aktienrechtsreform 1884 verworfen worden, vgl. Schubert in Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, ZGR-Sonderheft 4 S. 10 f. sowie die Begründung des Entwurf eines Gesetzes, betreffend die KGaA und die Aktiengesellschaften vom 7. 5. 1884, abgedruckt bei Schubert/Hommelhoff aaO., S. 438. 85 Der vorangegangene Vorschlag der Kommission vom 21. 9. 2004 ist abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/internal_market/company/docs/capital/2004-proposal/ proposal_de.pdf, dort die Vorschläge zu Art. 10 a, 10 b (bzgl. der Sachgründung), 11 (Nachgründung) und 27 (Kapitalerhöhung) der Richtlinie.

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b) aa) Diese Vorschläge sind im Grundsatz zu begrüßen. Sie stellen der Sache nach wegen ihrer Anknüpfung an feste Anhaltspunkte materiell ein nur geringfügiges Abweichen vom bisherigen System dar und können insbesondere nicht in dem Sinne verstanden werden, dass nunmehr statt einer neutralen Werthaltigkeitskontrolle eine (sonst abzulehnende, vgl. unter D.IV2.) Kontrolle allein durch das Verwaltungs- oder Leitungsorgans vorgesehen sei. bb) Soweit es in dem ersten der aufgeführten Fälle um die Werthaltigkeit der genannten Wertpapiere geht, gibt der auf dem Markt erzielbare Wert regelmäßig hinreichende Anhaltspunkte für die Bestimmung des Werts der Papiere, und auch ein mit der Werthaltigkeitsüberprüfung befasster Sachverständiger würde sich maßgeblich hieran orientieren 86. Bedenken drängen sich allerdings mit Blick auf die mögliche Überbewertung der Papiere in Zeiten einer Börsenhausse auf, die durch einen Sachverständigen vermutlich eher berücksichtigt würde als durch die Mitglieder des Verwaltungs- oder Leitungsorgans. In ihrer Reichweite nicht ganz eindeutig ist die Ausnahme für den Fall, dass der bezeichnete Preis durch außergewöhnliche Umstände (einschließlich Illiquidität des Marktes für diese Wertpapiere oder Geldmarktinstrumente) beeinflusst wird, die eine erhebliche Änderung des Werts des Vermögensgegenstands zum Zeitpunkt seiner effektiven Einbringung bewirken würden. Mit Blick auf den Sinn und Zweck der Regelung dürfte diese Ausnahme entsprechend der Formulierung von § 38 Abs. 2 S. 2 AktG zu verstehen sein und eine erhebliche Wertänderung bereits dann vorliegen, wenn der Wert nicht unwesentlich (d. h. nicht innerhalb der üblichen Bewertungsbandbreiten 87) hinter dem zugesagten Einlagebetrag zurückbleibt. Einer großzügigeren Handhabung sollte nicht zugestimmt werden. cc) In den beiden weiteren Fällen wird auf bereits vorliegende sachverständige Feststellungen zurückgegriffen, sodass die Anforderungen der in § 33 Abs. 2 AktG verlangten externen Gründungsprüfung zumindest im Ansatz materiell erfüllt sind. Im Übrigen ist jedoch zwischen Aspekten des Minderheitenschutzes und des Schutzes des Verwaltungs- oder Leitungsorgans zu unterscheiden: (1) Soweit im dritten Fall, ohne Unterschied hinsichtlich ihrer Aktualität, die Werte aus der Bilanz des letzten vorausgegangenen Geschäftsjahres genügen sollen, besteht aus Sicht des Minderheitenschutzes ein Wertungswiderspruch zur zweiten Ausnahme, weil dort mit drei Monaten eine zeitnahe Bewertung vorausgesetzt wird 88, der im Falle des Ansatzes der Bilanzwerte fehlt. Ob dies durch die

86 Kritisch und im Ergebnis ablehnend zu diesem Vorschlag allerdings Baldamus, Reform der Kapitalrichtlinie, 2002, S. 97ff., mit dem Hinweis, dass die Einlage von Anteilen im Regelfall bei Unternehmenszusammenschlüssen erfolge. 87 Hierzu Hüffer, AktG § 38 Rdn. 12; GroßKommAktG/Röhricht § 38 Rdn. 41; MünchKommAktG/Pentz § 38 Rdn. 60. 88 Anders auch etwa § 209 Abs. 1 AktG für die Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmit-

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Überprüfungs- und Angabepflichten des (möglicherweise befangenen) Verwaltungs- oder Leitungsorgans bzw. die gerichtliche Kontrolle aufgefangen werden kann, ist zweifelhaft. Für Gründer lassen sich immerhin noch weitere Anhaltspunkte bezüglich der Werthaltigkeit aus dem Gründungsbericht § 32 AktG entnehmen, wonach vor allem auch die (für eine künstliche Erhöhung des Buchwertes besonders kritischen) vorausgegangenen Rechtsgeschäfte offen zu legen sind. Bei der Kapitalerhöhung fehlt hingegen ein vergleichbares Instrument. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, auch in diesem Fall zumindest die Aktualität der Werte durch ein bestimmtes Höchstalter der Bilanz (z. B. acht Monate vor Erfüllung der Einlagepflicht) zu sichern. Das Recht der Minderheitsaktionäre, eine Werthaltigkeitsüberprüfung zu verlangen, kann die Gefährdung der Kapitalaufbringung nicht auffangen, weil das Prüfungsverlangen an ein 5 %iges Quorum gebunden ist und die Minderheitsaktionäre sich bei der Gründung zu dem Zeitpunkt, in dem der Verzicht auf die externe Prüfung virulent wird, der durch die Verwaltung geschaffenen Situation nicht mehr entziehen können, weil sie ihren Beitritt bereits unwiderruflich erklärt haben 89. (2) Die Entscheidung über die Durchführung der bisherigen Sacheinlageprüfung in die Hände des Verwaltungs- oder Leitungsorgans zu geben, erscheint mit der vorstehenden Einschränkung insofern akzeptabel, als sie dem Verwaltungsoder Leitungsorgan nur die Möglichkeit dieses Weges eröffnet, die Entscheidung hierüber – und damit zugleich über das auf die Organmitglieder zulaufende Haftungsrisiko – aber letztlich dem Verwaltungs- oder Leitungsorgan überlässt, die Offenlegung der Gründe und der Werthaltigkeit verlangt und eine gerichtliche Kontrolle anschließt. Eine unter Haftungsaspekten unzumutbare Belastung der Mitglieder des Verwaltungs- oder Leitungsorgans ist deshalb hiermit nicht verbunden.

6. Verdeckte Sacheinlage: Änderungs-/Reformbedarf? a) An der Lehre von der verdeckten Sacheinlage ist verschiedentlich Kritik geübt worden. Teilweise wird angenommen, ihr stünden die als abschließend zu verstehenden Art. 10 und 11 der 2. Richtlinie oder aber das Nachgründungsrecht des § 52 AktG entgegen. Teilweise werden ihre Rechtsfolgen auch als überzogen angesehen und es wird vorgeschlagen, diese auf eine Differenzhaftung zu beschränken: Erreiche der Wert des verdeckt eingelegten Vermögensgegenstandes

teln und § 17 Abs. 2 S. 4 UmwG: Stichtag der Bilanz höchstens 8 Monate vor der Anmeldung der Kapitalerhöhung bzw. der Umwandlung. 89 Zur Unzulässigkeit einer bedingten Aktienübernahme vgl. RGZ 83, 256, 258f.; MünchKommAktG/Pentz § 23 Rdn. 56; grds. auch GroßKommAktG/Röhricht § 23 Rdn. 68.

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den geschuldeten Einlagebetrag, wofür der Gesellschafter beweisbelastet sei, habe es hierbei sein Bewenden; bleibe er dagegen hinter dem Einlagebetrag zurück, müsse der Gesellschafter den Differenzbetrag in bar ausgleichen 90. b) aa) Im Ergebnis überzeugt keine dieser Einwendungen 91. Die Art. 10, 11 der 2. Richtlinie können angesichts des mit der 2. Richtlinie intendierten Schutzes der Aktionäre und Gläubiger nicht als abschließend in dem Sinne verstanden werden, dass sie der Lehre von der verdeckten Sacheinlage entgegenstünden. Im Gegenteil ist umgekehrt davon auszugehen, dass das Umgehungsverbot den Regelungen der 2. Richtlinie über die Sacheinlagen immanent ist. Das Nachgründungsrecht enthält nur eine abstrakte Regelung des Umgehungsschutzes, die schon mit Blick auf die Anordnung in § 27 Abs. 3 AktG (Unwirksamkeit der Verträge und der zu ihrer Ausführung vorgenommenen Rechtshandlungen gegenüber der Gesellschaft) nicht dahin ausgelegt werden kann, dass alle durch sie nicht erfassten Sachverhalte als unbedenklich anzusehen sein sollten. Die vorgeschlagene Differenzhaftung lässt sich nach geltendem Recht nicht begründen, weil ihr das durch die Offenlegung und die präventive Kontrolle geprägte Sacheinlagerecht entgegensteht. bb) Vor diesem Hintergrund könnte sich lediglich die Frage stellen, ob es sich rechtspolitisch empfiehlt, die Rechtsfolgen der verdeckten Sacheinlage de lege ferenda im Sinne einer Differenzhaftung zu regeln 92. Hiergegen sprechen zunächst der hiermit verbundene Bruch mit den Vorgaben des sonst gesetzlich geltenden präventiven Systems und die hiermit verbundene Belastung des Insolvenzanspruchs mit Wertdiskussionen 93. Außerdem spricht die hiermit verbundene Gefahr eines Leerlaufens der Sacheinlageregelungen überhaupt hiergegen, weil die Betreffenden durch solche Rechtsfolgen geradezu zu Umgehungsgeschäften eingeladen würden, aber auch die hinter den heutigen Sacheinlagebestimmungen stehenden historischen Erfahrungen, die gerade die Notwendigkeit eines präventiven Schutzes deutlich gemacht haben. Auch eine zu Lasten des Gesellschafters ausgestaltete Beweislastregelung hinsichtlich der Werthaltigkeit des verdeckt eingelegten Gegenstandes könnte den als notwendig erkannten präventiven Schutz vor Schwindelgründungen nicht gewährleisten. Die schließlich noch zu erwägende Festlegung einer zeitlichen Grenze für die Annahme einer verdeckten Sacheinlage 94 empfiehlt sich wegen der Vielzahl der in Betracht 90 Mit eingehender Begründung Grunewald in FS Rowedder, 1994, S. 111, 115ff.; Einsele, NJW 1996, 2681, 2688 f.; für eine solche Lösung de lege ferenda auch Brandner in FS Boujong, 1996, S. 37, 44ff. 91 Näher zum Folgenden GroßKommAktG/Röhricht § 27 Rdn. 190ff.; MünchKommAktG/Pentz § 27 Rdn. 86f., 98, jew. mwN.; s. auch bereits Priester in FS GmbHG, 1992, S. 159, 179f. 92 Zu diesen Vorschlägen s. die Nachweise bei Hüffer, AktG § 27 Rdn. 9a. 93 Zutr. Hüffer, AktG § 27 Rdn. 9 a mwN. 94 Eine ähnliche Erwägung liegt der im Nachgründungsrecht nach § 52 AktG geltenden

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kommenden Gestaltungen nicht und erscheint wegen der in diesem Zusammenhang notwendigen Abrede und der relativ engen Voraussetzungen für ihre Vermutung auch nicht notwendig; insoweit sind die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze flexibler und sachgerechter. Für die Einführung einer teilweise noch geforderten Heilungsregelung entsprechend der Rechtslage bei der GmbH 95 besteht aus Sicht der Gründer zunächst insoweit ein Bedürfnis, als hierdurch ihre Einlageverbindlichkeit umgewandelt werden könnte. Mit Blick auf die Nachgründungsbestimmungen in § 52 AktG und den Umstand, dass es sich bei der Aktiengesellschaft ihrem Charakter nach um eine Publikumsgesellschaft handelt, bei der einer solche Umwandlung wegen des hiervon betroffenen größeren Gesellschafterkreises eine andere Wirkung als bei der GmbH zukäme, erscheint die Einführung einer solchen Bestimmung derzeit rechtspolitisch jedoch fraglich, ebenso die Vereinbarkeit einer solchen Regelung mit den Vorgaben der 2. Richtlinie zur Sacheinlage und zur Nachgründung.

V. Umfang der Kapitalaufbringung 1. Mindesteinzahlung a) Mit der Feststellung, dass die Aktiengesellschaft über ein bestimmtes Mindestkapital zur Ermöglichung ihrer unternehmerischen Tätigkeit und zur Rechtfertigung des Haftungsausschlusses ihrer Gesellschafter verfügen muss, noch nicht beantwortet ist die Frage, wie die Aufbringung des hiernach notwendigen Kapitals auszugestalten ist. Insoweit bieten sich für die Gründung grundsätzlich drei Modelle an 96:

Zweijahresfrist zugrunde, Lutter/Gehling, WM 1989, 1445, 1450; MünchKommAktG/Pentz § 52 Rdn. 10, jew. mwN. 95 Hierzu die Nachweise bei Hüffer, AktG § 27 Rdn. 9a; zur Rechtslage bei der GmbH statt anderer Roth in Roth/Altmeppen GmbHG, 4. Aufl., § 19 Rdn. 63 ff.; Fastrich in Baumbach/Hueck GmbHG, 17. Aufl., § 19 Rdn. 46; Lutter/Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG § 5 Rdn. 55ff.; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG § 19 Rdn. 162ff., Scholz/Priester § 56 Rdn. 37ff.; Scholz/Winter GmbHG § 5 Rdn. 106 ff.; Ulmer/Ulmer GmbHG § 5 Rdn. 180, § 19 Rdn. 136ff. 96 Die 2. Richtlinie verlangt für Bareinlagen in Art. 9 Abs. 1 die Einbringung von mindestens 25 % des Nennbetrags der Aktien bzw. ihres rechnerischen Wertes (nicht: des Ausgabebetrages) zum Zeitpunkt ihrer Gründung oder der Erteilung der Genehmigung zur Aufnahme ihrer Geschäftstätigkeit; für die Resteinlage enthält die Richtlinie keine Vorgaben, insbesondere ist die anfängliche Volleinzahlung selbstverständlich zulässig. Für Sacheinlagen verlangt Art. 9 Abs. 2 deren Leistung innerhalb von fünf Jahren nach dem genannten Zeitpunkt.

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Entweder das gesamte Kapital ist von vornherein bei der Gründung der Gesellschaft in voller Höhe zu leisten, oder das Grundkapital ist erst nach Eintragung der Gesellschaft und damit nach ihrem Entstehen je nach ihrem Kapitalbedarf aufzubringen oder aber man geht einen Mittelweg und lässt zu, dass das Grundkapital zu einem bestimmten Teil vor der Eintragung der Gesellschaft geleistet werden muss und der Rest hiernach eingezahlt werden kann.

b) In Deutschland ist man den dritten der vorstehend als möglich aufgezeichneten Wege gegangen. Bareinlagen müssen zu mindestens 25 % vor der Anmeldung der Gesellschaft zur Eintragung in das Handelsregister geleistet werden, wobei ein zusätzlich vereinbartes Aufgeld unabhängig davon stets in voller Höhe zu leisten ist.97 Ob und welche Sacheinlagen vor der Eintragung zu leisten sind, wird unterschiedlich gesehen und richtet sich nach der Art der Sacheinlage.98 Der für Deutschland gewählte Mittelweg geht bereits auf das Jahr 1884 zurück und beruht auf einer Vielzahl ausländischer Aktiengesetze 99. Hintergrund dieser Regelung waren die in Deutschland mit der bis dahin geltenden Mindesteinzahlung von nur 10 %igen Einzahlung gemachten schlechten Erfahrungen.100 Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass derart geringe Einzahlungen keine

97 §§ 36 Abs. 2, 36a Abs. 1 AktG. 98 Hierzu statt anderer Hüffer, AktG, § 36 a Rdn. 4; MünchKommAktG/Pentz § 36 a Rdn. 13ff.; GroßKommAktG/Röhricht, § 36 a Rdn. 6 ff. mwN. In Österreich ist nach § 27 a AktG ebenfalls die Einzahlung von mindestens einem Viertel des geringsten Ausgabebetrags der Aktien und die Zahlung eines Aufgeldes (Agio) in voller Höhe vorgeschrieben. In Frankreich müssen seit 1994 (bis dahin war ein Viertel aufzubringen) gem. Art. 225-3 al. 2, 225-12 al. L (art. 75, 84 L 66) mindestens 50 % der Bareinlage vor der Eintragung der Gesellschaft eingebracht sein; die Resteinlage ist innerhalb von fünf Jahren einzufordern. In England dürfen nach 101 (2) Companies Act 1985 Aktien den Aktionären nicht zugewiesen werden, bevor nicht wenigstens ein Viertel des Nominalwertes und das Agio eingezahlt sind. Für Sacheinlagen finden sich keine besonderen Vorschriften, ihre Einlage richtet sich nach der jeweiligen Natur der Einlage. In Italien müssen nach Art. 2342 Codice Civile bei der Unterfertigung des Gründungsakts mindestens 25 % der Bareinlagen eingezahlt sein. Für die Gründung einer Societas Europaea (SE) ergibt sich im Falle der Gründung einer gemeinsamen Tochter-SE nach Art. 2 Abs. 3, 35 die Notwendigkeit, mindestens 25 % der Bareinlagen zu leisten, aus Art. 15 SE-VO, der auf das anzuwendende nationale Aktienrecht verweist und damit auch die aufgrund Art. 9 Abs. 1 der 2. Richtlinie erlassenen Regelungen erfasst. 99 Die Begründung zum Entwurf eines Gesetzes betreffend die KGaA und die AG von 1884, abgedr. bei Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, ZGR-Sonderheft 4 S. 387, 444 verweist auf die Regelungen in Ungarn, Italien, Venezuela, der Schweiz, Österreich. 100 Näher hierzu die Begründung zum Entwurf eines Gesetzes betreffend die KGaA und die AG von 1884, abgedr. bei Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, ZGR-Sonderheft 4 S. 387, 443f.

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genügende Gewähr für die vollständige Kapitalaufbringung geboten hatten, zu Agiotagen sowie zu unbedachten Zeichnungen verleitet hatten. Die Einzahlung des gesamten Grundkapitals bereits bei der Gründung ist ebenfalls erwogen, im Ergebnis aber abgelehnt worden. Ihr stand entgegen, dass die Gesellschaft in der Anfangsphase ihres Bestehens regelmäßig noch nicht auf den vollen Betrag des Grundkapitals angewiesen ist und die Mittel entweder dort ungenutzt blieben oder zu Spekulationen missbraucht werden könnten. Die Schwelle von 25 % wurde sonach einerseits mit der Vorsorge vor unseriösen Gründungen und leichtsinnigen Beteiligungen, andererseits mit den dargelegten wirtschaftlichen Bedenken gegen eine Volleinzahlung begründet. Spätere Aktiengesetze haben diese Regelung übernommen. An der sachlichen Richtigkeit dieser Erwägungen hat sich bis heute nichts geändert. Die getroffene Bestimmung stellt damit einen vernünftigen Mittelweg zwischen der Vermeidung unseriöser Gründungen bzw. der voreiligen/leichtsinnigen Beteiligung an einer Gründung einerseits und der Berücksichtigung wirtschaftlicher Notwendigkeiten andererseits dar. Die Regelung kann vor diesem Hintergrund insbesondere nicht als ungerechtfertigte Bindung unbenötigter Mittel angesehen werden, weil die Vorschriften zur Einlageleistung den Kapitalgebern eine ausreichende Flexibilität gewähren. Ein Anlass, diese Bestimmung zu ändern (was eine Änderung der 2. Richtlinie voraussetzen würde), ist nicht ersichtlich. 2. Agio a) Die in Deutschland und in anderen Staaten geltende Pflicht, bei der Gründung neben der in jedem Falle zu leistenden Mindesteinlage auch den Betrag eines Aufgeldes (Agio) in voller Höhe aufzubringen (unter C. II 4.)101, ist durch die 2. Richtlinie nicht geboten. Art. 26 S. 2 der 2. Richtlinie sieht eine solche Pflicht nur für die Kapitalerhöhung vor 102. Hierhinter dürfte die Auffassung stehen, dass ein Agio bei der Gründung im Regelfall keine so große Rolle spielt, als dass dies zum Anlass einer europarechtlichen Harmonisierung genommen werden müsste 103. Für eine Überarbeitung der 2. Richtlinie empfiehlt sich eine Angleichung zwischen der Situation zur Kapitalerhöhung und der Gründung gleichwohl: Denn durch die Pflicht, ein zugesagtes Agio in voller Höhe erbringen zu müssen, werden „Luftversprechungen“ in dieser Richtung verhindert 104. Das 101 Eingehend zur Rolle des Agios im Rahmen der Finanzverfassung der AG Herchen, Agio und verdecktes Agio im Recht der Kapitalgesellschaften, 2004, S. 120ff. mwN. 102 Kritisch deshalb Rickford Reforming Capital, EBLR 2004, S. 919, 940. 103 Zur Bedeutung des Agios bei der Gründung s. Priester FS Lutter, 2000, S. 617f. 104 Die Gründe für die bereits auf das Jahr 1884 zurückgehende Pflicht zur Volleinzahlung des Agios sind nicht ganz eindeutig, s. hierzu die Darstellung der seinerzeit

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Agio muss in die Kapitalrücklage eingestellt werden 105 und darf nur unter engen Voraussetzungen verwendet werden 106. Hierdurch werden die – auch heute wieder bei den Kapitalanlagegesellschaften in der Rechtsform der Kommanditgesellschaften festzustellenden – Agiotagen in Form der Zahlung von Scheingewinnen an die Gesellschafter aus dem Agio verhindert. Auf deutscher Ebene besteht hier kein Änderungsbedarf. b) Ob sich die teilweise erwogene Pflicht zur Durchführung einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln bei Überschreiten eines bestimmten Verhältnisses zwischen Grundkapital und Rücklagen 107 empfiehlt, soll hier mit Blick darauf, dass eine solche Regelung jedenfalls derzeit rechtpolitisch nicht durchzusetzen wäre, nicht näher untersucht werden.

VI. Nachgründung 1. Hintergrund des Nachgründungsrechts in Deutschland Das Nachgründungsrecht geht in seinen Grundzügen in Deutschland bereits auf das Jahr 1884 zurück. Es wurde (wie bereits oben unter C. II 10. dargelegt) die Gefahr gesehen, dass die Gründer den Erwerb des betreffenden Gegenstandes bereits vor der Errichtung der Gesellschaft planen und den Abschluss des betreffenden Vertrages dann nach der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister durch die von ihnen beherrschten Vorstandsmitglieder durchführen lassen, um die für die Sacheinlage geltenden Offenlegungs- und Prüfungsvorschriften zu umgehen. In Deutschland ist dieser Bereich weitgehend durch die (unter C. II 6. d) bereits dargestellte Lehre von der verdeckten Sacheinlage erfasst. Der Unterschied zwischen dem Nachgründungsrecht und der Lehre von der verdeckten Sacheinlage besteht jedoch darin, dass das Nachgründungsrecht in jedem Falle, und unabhängig vom Vorliegen einer bei der Gründung tatsächlich getroffenen Abrede über die Erbringung des betreffenden Vermögensgegenstandes, eingreift. Denn Art. 11 der 2. Richtlinie knüpft nur an das Vorliegen eines Vertrages mit einem bestimmten Personenkreis und die mindestens 10 % des Grundkapitals betragende Gegenleistung der Gesellschaft an, nicht aber an eine (ggf. zu vermutende) Abrede.

herrschenden Missstände im Gutachten des ROHG und die Begründung des Gesetzentwurfs bei Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre modernes Aktienrecht, ZGRSonderheft 4 S. 157, 160f.; 407, 444. 105 § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB. 106 § 150 Abs. 3 und 4 AktG. 107 Hierzu GroßKommAktG/Hirte § 207 Rdn. 94ff. mit zutr. Hinweis auf die hiermit verbundenen praktischen Schwierigkeiten.

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2. Überdimensionierung bei kleineren Aktiengesellschaften Geht man von den Vorgaben der 2. Richtlinie zur Mindestgröße des Grundkapitals mit EUR 25.000 aus, kann das Nachgründungsrecht bereits ab einer Gegenleistung der Gesellschaft in Höhe von EUR 2.500 eingreifen, bei einer nur über die Mindestkapitalausstattung verfügenden deutschen Aktiengesellschaft ab EUR 5.000. Für diesen Bereich, der regelmäßig bereits bei Erwerb einer Computeranlage überschritten wird, ist das Durchlaufen des vollständigen Sacheinlageverfahrens mit Prüfung, Bericht, Hauptversammlungsbeschluss und Eintragung überdimensioniert und im Verhältnis zum Bedrohungspotential zu kostenträchtig. Andererseits erscheint vor dem Hintergrund der mit den Umgehungsversuchen bei den Sacheinlagevorschriften gemachten Erfahrungen zumindest bei Gesellschaften in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft eine präventive Kontrolle erforderlich. Dies gilt umso mehr, als das Problem der Umgehung der zwingend erforderlichen (unter D. IV.) Sacheinlagevorschriften und die in diesem Zusammenhang zu beachtenden Vorgaben der 2. Richtlinie augenscheinlich noch nicht in allen Mitgliedstaaten erkannt wird 108 und der Anwendungsbereich des Nachgründungsrechts wegen der Einschränkungen in Art. 11 Abs. 2 der 2. Richtlinie ohnehin eng gefasst ist. Außerdem eröffnet das Nachgründungsverfahren für die Beteiligten die Möglichkeit, geplante, aber (versehentlich) nicht festgesetzte Sacheinlagen oder Sachübernahmen doch noch durchzuführen.109

3. Änderungsvorschlag Eine Abschaffung des Nachgründungsrechts, die wegen der Vorgaben des Art. 11 der 2. Richtlinie ohnehin nur bei einer entsprechenden Freigabe möglich wäre, ist aus den dargelegten Gründen nicht angezeigt. Auch hinsichtlich der Lösung des mit dem Nachgründungsrecht geregelten Problems als solcher, nämlich der angepassten Anwendung der Sachgründungsvorschriften und die hiermit verbundene Beteiligung der vermögensmäßig von diesem Vorgang betroffenen Aktionäre, die Offenlegung und die Wertkontrolle durch eine neutrale Person, bestehen keine Einwendungen, weil diese auf die besondere Problematik in Nachgründungsgestaltungen zugeschnitten ist. Änderungsbedarf besteht jedoch bei der unterschiedslosen Bezugnahme auf einen Prozentsatz des Grundkapitals. Eine solche ist bei Gesellschaften, die über ein größeres Grundkapital verfügen, sachgerecht, bei einem kleineren Grundkapital nicht. In Art. 11 der 2. Richtlinie sollte deshalb zusätzlich ein Betrag als

108 Vgl. bei Fn. 43. 109 Pentz, NZG 2000, 225, 228 mwN.

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Bagatellgrenze festgelegt werden, unterhalb dessen eine Einhaltung des Nachgründungsverfahrens nicht erforderlich ist. Die Höhe dieses Betrages sollte sich einerseits an den mit Nachgründungsverträgen verbundenen Gefahren, andererseits aber auch an dem hiermit verbundenen Aufwand orientieren. Dass eine solche Grenzziehung bei der Gründung nicht von der Einhaltung der Sacheinlagevorschriften entbinden würde, also nicht dahin verstanden werden dürfte, dass unter dieser Grenze liegende Vorgänge in der Satzung nicht festgesetzt werden müssten, versteht sich von selbst.

VII. Kosten 1. Untersucht man den Sinn und Zweck des Grundkapitals und seine Sicherung sowie alternative Schutzsysteme speziell unter Kostenaspekten, ist zunächst festzustellen, dass zum einen der legislative Aufwand zur Änderung eines bestehenden Rechtssystems immer mit erheblichen Kosten verbunden wäre, zum anderen die Einführung eines alternativen Schutzsystems ökonomisch nur dann sinnvoll angesehen werden könnte, wenn materiell-rechtliche Änderungen zu keiner erhöhten Kostenbelastung führen. 2. Eine konkrete Kostenanalyse unter Berücksichtigung absoluter Zahlen ist hier nicht möglich. Dazu müssten Kosten quantitativ erfasst oder zumindest verlässlich geschätzt werden können, was den Rahmen der vorliegenden Darstellung sprengen würde. Möglich ist aber eine systematische Analyse der Kosten, die mit dem bestehenden Kapitalschutzsystem sowie einem vergleichbaren Alternativsystem verbunden wären. 3. a) In einem präventiv wirkenden Kapitalschutzsystem, wie es derzeit in Deutschland gilt, fallen Kosten 110 vornehmlich nur einmalig an. Um die Kapitalaufbringung sicherzustellen, entstehen Notarkosten, Handelsregistergebühren, Kosten für die Bekanntmachung sowie Honorare des Gründungsprüfers; diese Kosten können im Falle ihrer Festsetzung in der Satzung gem. § 26 AktG als Gründungsaufwand auf die Gesellschaft abgewälzt werden. Hinzu kommen – als laufende Kosten – Beratungshonorare von Rechtsanwälten und Steuerberatern, die die Gesellschaft bei der Gründung oder beabsichtigten Kapitalmaßnahmen, aber auch generell bei der Beachtung der Kapitalerhaltungsvorschriften aus steuerrechtlicher und kapitalgesellschaftsrechtlicher Sicht unterstützen. b) In einem nachträglich wirkenden Kapitalschutzsystem, wie es derzeit beispielsweise im US-amerikanischen Rechtssystem gilt, gibt es keine vergleichbaren Kapitalaufbringungsvorschriften. Zwar müsste die Gesellschaft auch hier Grün-

110 Gemeint sind Kosten der Gesellschaft, nicht solche der Gesellschafter (Aktionäre).

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dungsgebühren tragen 111. Der Vorstand wäre aber nicht verpflichtet, bei Gründung die Aufbringung eines bestimmten Mindestkapitals zu überprüfen bzw. später für seine Erhaltung zu sorgen. Vielmehr würde der Schutz „nach hinten“ verlagert. Der Vorstand hätte sich an einem weit reichenden Treue- und Sorgfaltspflichtenkatalog auszurichten und würde bei Verletzung gegenüber den Aktionären und Gläubigern der Gesellschaft ex post haften. 4. Ein nachträglich wirkendes Kapitalschutzsystem wäre dem bestehenden, präventiv wirkenden Kapitalschutzsystem auch unter Kostenaspekten nicht überlegen. Zwar entfiele dann, wenn keine Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsvorschriften zu beachten wären, die Aufbringung des Mindestkapitals; damit verbundene Kosten, insbesondere für Werthaltigkeitsprüfungen, würden gar nicht erst entstehen. Aus Haftungsgründen liegt es jedoch nahe, dass das hierfür haftende Leitungsorgan den Wert der Einlage unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen ebenfalls feststellen lässt, womit eine anfängliche Kostenersparnis entfällt. Darüber hinaus wäre auch in einem solchen System ohne das zu jedem wirtschaftlichem Handeln notwendige (Anfangs-)Vermögen nicht auszukommen, und die Verlagerung des Schutzes „nach hinten“ würde – worauf bereits oben hingewiesen worden ist – andere, nicht zwingend niedrigere Kosten zur Folge haben. Der Vorstand einer Aktiengesellschaft wäre in einem nachträglich wirkenden Schutzsystem nämlich einem deutlich höheren Haftungsrisiko ausgesetzt. Dieses Risiko würde der Vorstand zum einen durch entsprechend umfangreichere und kostenintensive D &O-Versicherungen absichern, deren Kosten von

111 Solche Gründungsgebühren sind in den US-amerikanischen Rechtsordnungen deutlich höher als in der Europäischen Union. Hintergrund ist, dass das Gesellschaftsrecht in den USA weitgehend Recht der Bundesstaaten ist. Es gibt kein einheitliches, staatenübergreifendes Gesellschaftsrechtssystem; der Einfluss des Bundesrechts auf das Gesellschaftsrecht ist gering. Die Staaten bemühen sich daher in einem Wettbewerb der Gesellschaftsrechtsordnungen darum, ihr jeweiliges Gesellschaftsrecht stets an die sich ändernden Unternehmensbedürfnisse anzupassen (so gen. „Delaware-Effekt“, benannt nach dem Bundesstaat Delaware, der sich bislang im Wettbewerb der Gesellschaftsrechtsordnungen am besten durchgesetzt hat). Im Ergebnis läuft dies auf einen relativ geringen, gesetzlichen Schutz der Aktionäre, Gläubiger und Arbeitnehmer hinaus. (Ob dies nun ein „race to the bottom“ oder gar ein „race to the top“ darstellt, mag dahingestellt bleiben; vgl. hierzu Baldamus, Reform der Kapitalrichtlinie, 2002, S. 57 f.) Der Kampf um das unternehmensfreundlichste Gesellschaftsrecht wird geführt, um möglichst hohe Einkünfte aus Gründungsgebühren zu erzielen. So hat allein der Staat Delaware von 1960 bis 1995 etwa 16 % seiner gesamten Einkünfte aus Gründungsgebühren von Gesellschaften bezogen, vgl. Baldamus, aaO. S. 57 mwN. In der Europäischen Union ist ein solcher Kampf undenkbar. Bereits 1997 hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Handelsregistergebühren bei der Eintragung von Aktiengesellschaften sowie bei Kapitalerhöhungen nur kostendeckend sein dürfen (vgl. EuGHE 1997, I-6783, 6841. Demgegenüber sollen die Gründungsgebühren in Delaware die Kosten um das 37-fache übersteigen, vgl. Nachweise bei Baldamus, aaO. S. 85 Fn. 225).

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der Aktiengesellschaft getragen werden müssten. Außerdem wäre dieses erhöhte latente Haftungsrisiko, wie der Vergleich mit den Vorstandsgehältern in den USA zeigt, durch ein – verglichen mit europäischen Standards – deutlich höheres Gehalt zu entschädigen. Auch diese erhöhten Kosten gingen zu Lasten der Gesellschaft. 5. Bei Wegfall des eher strengeren Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsregimes entfiele der damit verbundene Gläubigerschutz. Auch ginge das Vertrauen in die ordnungsgemäße Finanzierung der Aktiengesellschaft (rechtsformspezifischer goodwill) verloren 112. Beides hätte – worauf schon hingewiesen worden ist – erhöhte Transaktionskosten zur Folge. In einem nachträglich wirkenden Schutzsystem würden vertragliche Gläubiger sich durch individualvertraglich vereinbarte Schutzklauseln (so gen. covenants) 113 zu schützen versuchen. Die Absicherung unfreiwilliger Gläubiger müsste durch erweiterte (Pflicht-)Versicherungen gewährleistet werden 114. Die Verlagerung der Haftung „nach hinten“ würde schließlich dazu führen, dass alle Entscheidungen in das Ermessen des Leitungsorgans gestellt würden 115. Rechtsstreitigkeiten über die Angemessenheit solcher Entscheidungen wären vorprogrammiert und zahlreich, was wiederum erhöhte Rechtsanwalts-, Prozess- und auch Versicherungskosten zur Folge hätte. 6. Der systematische Vergleich der Kostenfolgen der verschiedenen Kapitalschutzsysteme verdeutlicht einen entscheidenden Vorteil des präventiven Kapitalschutzsystems gegenüber dem nachträglich wirkenden Kapitalschutzsystem: In einem präventiv wirkenden Kapitalschutzregime fallen Kosten vornehmlich bei der Gründung bzw. Umsetzung der Kapitalmaßnahme und damit einmalig

112 Der rechtsformspezifische goodwill lässt sich nicht in absoluten Zahlen bestimmen, seine Existenz dürfte aber unbestritten sein. Die Aktiengesellschaft genießt aufgrund der strengeren Kapitalschutzvorschriften im Rechtsverkehr ein erhöhtes Vertrauen der Gläubiger und Anleger. Wenn durch Beibehaltung der Kapitalschutzvorschriften dieses Vertrauen der Marktteilnehmer in die Seriosität der Unternehmensfinanzierung erhalten werden kann, wird dies auch weiterhin die Teilnahme der Aktiengesellschaft am Rechtsverkehr erleichtern und die Transaktionskosten senken. Dies gilt insbesondere, worauf Baldamus zu Recht hinweist, für grenzüberschreitende Sachverhalte, weshalb ein gemeinschaftsweit verbindliches Mindestkapital ebenfalls der Integration des Binnenmarktes dient; vgl. Baldamus, S. 88. 113 Durch covenants verpflichten sich die Schuldner (Aktiengesellschaften) z. B. zu Ausschüttungssperren oder zur Übermittlung von bestimmten Informationen. Vgl. hierzu auch Baldamus, Reform der Kapitalrichtlinie, 2002, S. 85 mwN.; Habersack, ZGR 2000, 384, 393. 114 Vgl. Escher-Weingart, Reform durch Deregulierung im Kapitalgesellschaftrecht, 2001, S. 150. 115 Was rechtspolitisch fragwürdig wäre, vgl. Bauer, Gläubigerschutz durch eine formelle Nennkapitalziffer – Kapitalgesellschaftsrechtliche Notwendigkeit oder überholtes Konzept? S. 322.

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an 116. Demgegenüber handelt es sich bei den Kosten des nachträglich wirkenden Schutzsystems nahezu ausschließlich um laufend anfallende Kosten 117. Zudem wäre häufiger mit Rechtsverfolgungskosten zu rechnen, da hier die Verantwortung auf das Management übertragen sein würde, welches sich – im Gegensatz zum Management in einem präventiv wirkenden Kapitalschutzsystem – in einem relativ freien (Kapitalschutz-)Rechtsrahmen bewegen würde. Langfristig dürften laufende Kosten zu einer höheren Kostenbelastung der Gesellschaft als einmalig entstehende Kosten führen 118.

E. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse 1. Das derzeitige aktienrechtliche Kapitalgesellschaftsrecht bietet für die Beteiligten eine einfache und rechtssichere Möglichkeit, die gewünschte unternehmerische Veranstaltung unter Ausschluss ihrer persönlichen Haftung zu betreiben. Durch die präventive Kontrolle entfällt für die Beteiligten bei rechtskonformen Verhalten das Risiko, späteren Haftungsansprüchen ausgesetzt zu sein, und gewährt ihnen damit die für wirtschaftliches Handeln notwendige Planungssicherheit. Für eine Änderung des bestehenden Systems ist angesichts dessen, dass es seit mehr als 100 Jahren funktioniert, kein sachlich rechtfertigender Grund ersichtlich. Eine Änderung des Rechts der Kapitalaufbringung wäre mit einer Erhöhung der Haftungsrisiken für die Aktionäre oder die Verwaltungsmit-

116 Nennenswerte laufende Kosten wären lediglich Kosten für die anwaltliche und/ oder steuerliche Beratung zum Zwecke der Beachtung vor allem von Kapitalerhaltungsvorschriften sowie einzelfallbezogene Kosten für Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit vorgeblichen Verletzungen des Kapitalaufbringungs- und erhaltungsregimes. 117 Zu den einmalig entstehenden Gründungsgebühren kämen vor allem laufende Kosten wie Gebühren der D &O-Versicherungen und erhöhte Jahresgehälter des Managements hinzu. Auch dürften die Transaktionskosten steigen. So führen beispielsweise das Ausverhandeln von covenants (selbst bei einer weit reichenden Standardisierung solcher Vertragsklauseln) sowie anschließende Prozesskosten zu beratungsbedingten (anwaltlichen) Mehrkosten. Soweit das bestehende Kapitalschutzsystem (beispielsweise durch Ausschüttungssperren) solche Transaktionskosten auch nur zum Teil antizipiert, dürften die Kosten des Kapitalschutzregimes jedenfalls auf lange Sicht die Transaktionskosten unterschreiten; vgl. auch Baldamus, Reform der Kapitalrichtlinie, 2002, S. 86; Alberth, WPg 1997, 744, 745). 118 Plakativ formuliert: Selbst wenn im präventiv wirkenden Kapitalaufbringungsregime eine Sacheinlagenprüfung EUR 100.000 kostete, würde ein solcher Betrag in einem nachträglich wirkenden Schutzsystem vielleicht gerade genügen, um damit die Versicherungsgebühr für eine D &O-Versicherung für ein Haftungsrisiko bis EUR 10 Millionen für ein Jahr zu decken. Die Versicherungsprämie müsste aber – im Unterschied zu den Kosten für die Sacheinlagenprüfung – jedes Jahr geleistet werden.

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glieder verbunden, was weder im industriepolitischen Interesse läge noch mit der Fungibilität der Aktie vereinbar wäre. Insbesondere verbietet sich die partielle Implementierung auf das deutsche Recht nicht zugeschnittener ausländischer Regelungen, weil dies mit dem in sich geschlossenen System des deutschen Aktienrechts unvereinbar wäre und zu einem industriepolitisch unerwünschten und den Betroffenen unzumutbaren hypertrophen Haftungsregime führen würde. 2. Durch die vorgeschriebene Aufbringung eines bestimmten (Mindest-)Kapitals wird sichergestellt, dass die mit der Eintragung in das Handelsregister als Aktiengesellschaft, und damit ihrem Charakter nach als Publikumsgesellschaft, entstehende Gesellschaft über eine gewisse vermögensmäßige Mindestausstattung verfügt, ohne die ein seriöses wirtschaftliches Handeln von vornherein nicht möglich wäre. Die Abschaffung dieses Systems empfiehlt sich deshalb nicht. Die historischen Erfahrungen mit der völligen Freigabe der Höhe des aktienrechtlichen Kapitals in Deutschland haben gezeigt, dass ohne eine solche (auch: Seriositäts-) Schwelle nicht auszukommen ist, und europarechtlich wird die Bedeutung dieses Aspekts zu Recht in Erwägungsgrund Nr. 13 der SE-VO betont. Die Sicherstellung einer für das konkrete unternehmerische Vorhaben hinreichenden Kapitalausstattung der Gesellschaft soll und will das Mindestkapital nicht gewährleisten, eine solche Sicherstellung wäre wegen der Vielzahl der in Frage kommenden Gestaltungen auch gar nicht möglich. Die Festlegung und konkrete Ausgestaltung der Unternehmensfinanzierung ist vielmehr nach wie vor Aufgabe der Gründer als der Initiatoren und primären Finanziers der Gesellschaft. 3. Das durch Offenlegung und präventive Kontrolle gekennzeichnete aktienrechtliche Gründungs- und Kapitalerhöhungsrecht ist vor dem Hintergrund konkreter historischer Erfahrungen entwickelt worden und erfüllt die ihm zukommenden Aufgaben des Aktionärs- und Gläubigerschutzes effizient. Der aktienrechtliche Gründungsschwindel spielt heute praktisch keine Rolle mehr. Würde man das Recht der präventiven Kapitalaufbringungskontrolle abschaffen, wäre, wie insbesondere die derzeitige Situation bei den Kapitalanlagegesellschaften zeigt, mit einem Wiederaufleben des auch volkswirtschaftlich schädlichen Gründungsschwindels zu rechnen. Ein nur nachträglich einsetzendes Kontrollsystem könnte das notwendige Niveau des Aktionärs- und Gläubigerschutzes nicht gewährleisten und wäre zudem für die Beteiligten mit haftungsrechtlichen Unsicherheiten verbunden, die der Wahl der Aktiengesellschaft als Rechtsform und Kapitalsammelbecken abträglich wären. 4. Die Einführung einer echten nennwertlosen Aktie wäre nur mit einem erheblichen legislativen Aufwand möglich. Dieser Aufwand wäre mit dem beschränkten Nutzen dieser Aktienart nicht zu rechtfertigen. Zumindest seitdem der Aktienmindestnennbetrag auf einen Euro herabgesetzt sowie die unechte nennwertlose Aktie (Stückaktie) eingeführt worden ist, wären mit der echten nennwertlosen Aktie im deutschen Aktienrecht keine nennenswerten Vorteile (mehr) verbunden.

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5. Das Sachgründungsrecht gewährleistet im Wege der präventiven Werthaltigkeitskontrolle einen notwendigen Aktionärs- und Gläubigerschutz, der sich ausweislich der gemachten Erfahrungen, aber auch mit Blick auf die heutige Situation bei den Kapitalanlagegesellschaften, im Wege der Eigenkontrolle der betroffenen Kreise praktisch nicht erreichen lässt. Die Aktionäre werden durch das Sachgründungsrecht davor geschützt, dass ihnen mittelbar über ihre Beteiligung ein Vermögensgegenstand zu teuer „verkauft“ wird und sie zu ihren Lasten andere Aktionäre begünstigen („quer subventionieren“). Die Gläubiger ersparen sich Transaktionskosten, die sie sonst für die Informationsbeschaffung und eine eigene Prüfung aufzuwenden hätten. Es spricht alles dafür, dass das geltende Recht mit seiner im Interesse der verschiedenen Gruppen durchgeführten einmaligen Kontrolle kostengünstiger ist als ein etwaiges Alternativsystem. Der Wechsel zu einem anderen System, insbesondere zu nur nachträglich eingreifenden Haftungsregelungen, einer Kontrolle allein durch die Geschäftsführungsorgane bzw. den Abschlussprüfer oder zu einer Prospekthaftung, empfiehlt sich nicht, weil das bei der Aktiengesellschaft erforderliche Schutzniveau hierdurch nicht hergestellt werden kann. 6. Ein Verzicht auf die (ggf. nochmalige) Werthaltigkeitsprüfung bei Sacheinlagen mit einem feststehenden Wert entsprechend dem Kompromisstext des Ministerrats vom 29.11. 2004 zur Änderung der 2. Richtlinie ist grundsätzlich akzeptabel, in Einzelheiten aber noch diskussionsbedürftig. 7. Die Lehre von der verdeckten Sacheinlage ist einschließlich ihrer Rechtfolgen systemkonform und beizubehalten. Den Sacheinlagevorschriften ist das hierüber verwirklichte Umgehungsverbot immanent, eine Lockerung der Rechtsfolgen oder deren Beschränkung auf eine Differenzhaftung würde zu rechtspolitisch unerwünschten und unter dem Aspekt des notwendigen Aktionärsschutzes bedenklichen Umgehungsversuchen einladen sowie zu einer Belastungen des Insolvenzverfahrens mit Bewertungsfragen führen. Eine gesetzliche Regelung dieses Bereichs empfiehlt sich wegen der größeren Flexibilität richterrechtlicher Reaktionen auf einzelne Fallgestaltungen nicht, eine gesetzliche Regelung erscheint wegen der Notwendigkeit der einer verdeckten Sacheinlage zugrunde liegenden Abrede und den engen Voraussetzungen ihrer Vermutung auch nicht erforderlich. 8. Der derzeit geltende Umfang der Mindestkapitalaufbringung stellt einen vernünftigen Mittelweg zwischen der Vermeidung unseriöser bzw. leichtfertiger Gründungen einerseits und der Berücksichtigung betriebswirtschaftlicher Notwendigkeiten andererseits dar. Ein Änderungsbedarf ist insoweit nicht festzustellen. 9. Die Einführung des in Deutschland geltenden Volleinzahlungsgebots für das Aufgeld (Agio) nicht nur für die Kapitalerhöhung, sondern auch schon für die Gründung der Gesellschaft ist unter Aspekten der Harmonisierung der Aktienrechte in Europa wegen der begrenzten Bedeutung des Agios bei der Gründung

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Andreas Pentz, Hans-Joachim Priester und André Schwanna

zwar nicht notwendig, rechtspolitisch aber zur Vermeidung von unseriösen Finanzausstattungszusagen wünschenswert. 10. Das Nachgründungsrecht ist in seinen Grundzügen schon deshalb beizubehalten, weil die mit der verdeckten Sacheinlage verbundenen Gefahren noch nicht in jedem Mitgliedsstaat erkannt worden sind. Allerdings empfiehlt sich die Einführung einer neuen Bagatellgrenze, unterhalb derer die Nachgründungsbestimmungen nicht einzuhalten sind, wobei eine solche Grenze auf die Pflicht zur Einhaltung der Sacheinlagevorschriften keinen Einfluss hätte. 11. Ein systematischer Vergleich der Kosten des bestehenden, präventiv wirkenden Kapitalschutzsystems mit einem nachträglich wirkenden Schutzregime ergibt, dass in einem präventiv wirkenden Kapitalschutzsystem vornehmlich einmalige Kosten anfallen, während in einem auf nachträglichen Schutz ausgerichteten Regime überwiegend laufende und typischerweise höhere Kosten zu begleichen wären. Laufende Kosten führen gegenüber Einmalkosten zumindest langfristig zu einer höheren Kostenbelastung. Auch unter Kostenaspekten aus Sicht der Gesellschaft empfiehlt sich eine Umstellung des bestehenden Systems mithin nicht. Hinzu kommt, dass ein nachträglich eingreifendes System das aktienrechtlich erforderliche Schutzniveau nicht gewährleisten kann und die aus diesem Grunde entstehenden Kosten für die Beteiligten insgesamt bei einer Gesamtschau deutlich höher liegen dürften als beim gegenwärtige System.

Kapitalerhaltung Das System der Kapitalrichtlinie versus situative Ausschüttungssperren

von Professor Dr. Rüdiger Veil, Hamburg

Inhaltsübersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Kapitalerhaltungssystem der Kapitalrichtlinie . . . . . . . . . . . 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutz des Grundkapitals und der gesetzlichen Rücklagen . . . . . 3. Festlegung eines Höchstbetrags der Ausschüttung . . . . . . . . . . 4. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Situative Ausschüttungssperren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Elemente einer Ausschüttungssperre . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Solvenzbestätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Simple Balance Sheet Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Absicherung der Ausschüttungssperre durch Publizität und Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bewertung des Systems situativer Ausschüttungssperren im Vergleich zum System der Kapitalrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vor- und Nachteile des geltenden Kapitalerhaltungssystems . . . . 3. Vor- und Nachteile einer situativen Ausschüttungssperre . . . . . . a) Haftung der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aussagegehalt einer Solvenzerklärung und Haftung der Geschäftsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Nachteile einer ausschließlich solvenzbezogenen Ausschüttungssperre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Schlussfolgerungen und Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Die zweite gesellschaftsrechtliche Richtlinie (Kapitalrichtlinie) verordnet den Mitgliedstaaten ein strenges, auf einer festen Grundkapitalziffer beruhendes Regime der Kapitalerhaltung. Dieses System steht zur Disposition. So hat die High Level Group of Company Law Experts in ihrem Schlussbericht angeregt, ein alternatives System der Kapitalerhaltung in Betracht zu ziehen.1 Kurz darauf hat sich auch die sog. Rickford-Gruppe dafür stark gemacht, situative Ausschüttungssperren zu etablieren. Im Auge hat sie einen Solvenztest, der im Kern auf ausländische Regelungsvorbilder zurückgeht und der von ihr in einem besonderen Gepräge für den europäischen Gesetzgeber serviert wird.2 Es muss daher nicht verwundern, dass die EU-Kommission daraufhin einen Diskussionsbedarf anerkannt und eine Machbarkeitsstudie ausgeschrieben hat.3 Die Reformbestrebungen sind von der Vorstellung getragen, dass der Gläubiger- und Aktionärsschutz möglicherweise effektiver und kostengünstiger durch einen Solvenztest verwirklicht werden könnte. Ein alternatives System der Kapitalerhaltung könnte außerdem in Erwägung zu ziehen sein, weil ein wichtiger Baustein des tradierten Kapitalerhaltungssystems porös zu werden droht. Unternehmen, die als Wertpapieremittenten an einem organisierten Kapitalmarkt auftreten, sind nach der IAS-Verordnung 4 verpflichtet, ab 2005 in ihren Konzernabschlüssen zwingend die International Financial Reporting Standards (IFRS; früher: IAS) anzuwenden. Von der Ermächtigung der IAS-Verordnung, die Anwendung der IFRS auch auf den Einzelabschluss vorzuschreiben, hat der nationale Gesetzgeber zwar abgesehen.5 Doch ist zu erwarten, dass die IFRS-Bilanz trotz ihrer primär kapitalmarktrechtlichen Informationsfunktion mittelfristig auch

1 Moderne gesellschaftsrechtliche Rahmenbedingungen in Europa: Ein Konsultationspapier der Hochrangigen Expertengruppe auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts, S. 87, 94 ff. Der Schlussbericht vom 4. November 2002 kann abgerufen werden unter http://europa.eu.int/comm/internal_market/de/company/company/modern/index. htm. Eine ähnliche Grundlinie wird vertreten von Enriques/Macey, Creditors versus Capital Formation: The Case against the European Legal Capital, Cornell Law Review 86 (2001), 1165; Kübler, ZHR 159 (1995), 550; Mülbert/Birke, EBOR 3 (2002), 695. Ablehnend Bezzenberger, Das Kapital der Aktiengesellschaft, 2005, S. 191 ff.; Schön, Der Konzern 2005, 162. 2 Rickford, Reforming Capital – Report of the Interdisciplinary Group on Capital Maintenance, EBLR 2004, 919. 3 Vgl. AG Report 2005, R 450. 4 VO Nr. 2002/1606/EG vom 19. Juli 2002 über International Accounting Standards (IAS-VO, Abl. EG Nr. L 243, S. 1). 5 Als Grund hat der Gesetzgeber angeführt, dass ein IFRS-Abschluss nicht als Grundlage für eine Ausschüttung an die Aktionäre und als Grundlage für die steuerliche Gewinnermittlung herangezogen werden könne. Vgl. Begr. RegE Bilanzrechtsreformgesetz, BT-Drucks. 15/3419, S. 23.

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für die Zwecke der Ausschüttungsbemessung nutzbar gemacht wird; 6 selbst für kleine und mittelständische Unternehmen könnte sie in Betracht zu ziehen sein.7 Schon deshalb könnte es geboten sein, einen Solvenztest – alternativ oder kumulativ zum bislang anzutreffenden System der Kapitalerhaltung – vorzusehen. Im Zentrum der folgenden Darstellung stehen die in ausländischen Gesellschaftsrechten anzutreffenden alternativen Modelle einer Kapitalerhaltung, die zum Zwecke eines effektiveren und kostengünstigeren Gläubiger- und Aktionärsschutzes in die Kapitalrichtlinie Eingang finden könnten. Anliegen ist es, die Vor- und Nachteile der verschiedenen Wege einer Kapitalerhaltung herauszuschälen. Angesichts der Komplexität der Materie ist es unvermeidlich, die Untersuchung auf das Szenarium einer offenen Ausschüttung an Aktionäre zu beschränken. Die mit dem Erwerb eigener Aktien verbundenen Probleme können nicht behandelt werden. Zunächst soll ein Blick auf die Kapitalrichtlinie geworfen und das System einer festen Kapitalbindung in seinen Grundzügen vor Augen geführt werden (unter II.). Im Anschluss werden die zentralen Elemente situativer Ausschüttungssperren vorgestellt (unter III.), sodass abschließend eine Bewertung der beiden Systeme möglich ist (unter IV.).

II. Das Kapitalerhaltungssystem der Kapitalrichtlinie 1. Übersicht Art. 15 Abs. 1 Kapital-RL legt fest, dass ein bestimmter Anteil des Gesellschaftsvermögens durch Ausschüttungen an die Aktionäre nicht vermindert werden darf. Zweck dieser Vermögensbindung ist es zum einen, die Gläubiger der Gesellschaft im Vorfeld der Insolvenz 8 vor einem Zugriff auf das Vermögen zu schützen.9 Zum anderen sollen Ungleichbehandlungen der Aktionäre durch Sonderzuwendungen an Einzelne vorgebeugt werden.10 Als eine Ausschüttung i.S.d. Kapital-RL ist insbesondere die Zahlung von Dividenden und von Zinsen für

6 Siehe hierzu den Beitrag von Pellens/Sellhorn, in diesem Buch, S. 451 ff. 7 Vgl. zu den Bestrebungen, IFRS für Kleinbetriebe zu entwickeln, den Bericht von Wadewitz, Börsenzeitung vom 25. Oktober 2005, S. 7. 8 Vgl. Schön, Der Konzern 2005, 162, 168. 9 Drinkuth, Die Kapitalrichtlinie – Mindest- oder Höchstnorm, 1998, S. 184; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2003, Rdn. 164; Leinekugel, Die Sachdividende im deutschen und europäischen Aktienrecht, 2001, S. 11; SchutteVeenstra, Harmonisatie van het kapitaalbeschermingsrecht in de EEG, 1991, S. 79; Ullrich, Verdeckte Vermögensverlagerungen in den Aktien- und GmbH-Rechten Frankreichs, Belgiens und Deutschlands, 1994, S. 12, 187, 189; Nienhaus, Kapitalschutz in der Aktiengesellschaft mit atypischer Zwecksetzung, 2002, S. 110. 10 Drinkuth (Fn. 9), S. 184; Leinekugel (Fn. 9), S. 11; Nienhaus (Fn. 9), S. 110.

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Aktien zu verstehen (offene Vermögenszuwendungen der Gesellschaft an ihre Aktionäre).11 Art. 15 Kapital-RL legt den ausschüttbaren Betrag fest, indem erstens in Abs. 1 lit. a) eine Ausschüttung davon abhängig gemacht wird, dass der Gesellschaft ein bestimmtes Mindestvermögen verbleibt (balance sheet net assets test), und zweitens in Abs. 1 lit. c) festgelegt wird, dass eine Auszahlung das Jahresergebnis der Gesellschaft nicht überschreiten darf (net earned surplus test).12

2. Schutz des Grundkapitals und der gesetzlichen Rücklagen Nach Art. 15 Abs. 1 lit. a) Kapital-RL darf „ausgenommen in den Fällen einer Kapitalherabsetzung keine Ausschüttung an die Aktionäre erfolgen, wenn bei Abschluss des letzten Geschäftsjahres das Nettoaktivvermögen, wie es der Jahresabschluss ausweist, den Betrag des gezeichneten Kapitals zuzüglich der Rücklagen, deren Ausschüttung das Gesetz oder die Satzung nicht gestattet, durch eine solche Ausschüttung unterschreitet oder unterschreiten würde“. Der ausschüttbare Betrag ergibt sich somit aus einem Vergleich zwischen dem Nettoaktivvermögen und dem Grundkapital (einschließlich der Rücklagen).13 Das Nettoaktivvermögen (Reinvermögen) wird ermittelt, indem von den Gesamtaktiva die Verbindlichkeiten und Rückstellungen der Gesellschaft abgezogen werden.14 Es wird aus den Werten der Jahresbilanz bestimmt.15 Festzuhalten ist, dass nur in der Höhe ausgeschüttet werden darf, in der das Reinvermögen über das geschützte Kapital hinausgeht.16

11 Ferner begründet Art. 15 Abs. 2 Kapital-RL eine weitere Ausschüttungssperre für Abschlagszahlungen auf Dividenden. Dieser Komplex wird im Folgenden nicht betrachtet. 12 Habersack (Fn. 9), Rdn. 164; Leinekugel (Fn. 9), S. 19f. 13 Vgl. Ullrich (Fn. 9), S. 6. 14 Schutte-Veenstra (Fn. 9), S. 80, Fn. 5; Leinekugel (Fn. 9), S. 13; Edwards, EC Company Law, 1999, S. 69. 15 Leinekugel (Fn. 9), S. 14; Ullrich (Fn. 9), S. 6. 16 Zu beachten ist ferner Art. 15 Abs. 1 lit. b) Kapital-RL. Nach dieser Vorschrift wird der Betrag des unter Buchstabe a) genannten gezeichneten Kapitals um den Betrag des gezeichneten Kapitals, der noch nicht eingefordert ist, vermindert, sofern der letztere nicht auf der Aktivseite der Bilanz ausgewiesen wird. Damit soll sichergestellt werden, dass sich die unterschiedlichen Möglichkeiten des Ausweises des gezeichneten Kapitals bei der Berechnung des ausschüttbaren Betrages nicht niederschlagen. Vgl. Leinekugel (Fn. 9), S. 15f.; Schutte-Veenstra (Fn. 9), S. 80f.; Werlauff, EU Company Law, 2. Aufl. 2003, S. 252.

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3. Festlegung eines Höchstbetrags der Ausschüttung Art. 15 Abs. 1 lit. c) Kapital-RL begründet eine weitere Ausschüttungssperre: Der Betrag einer Ausschüttung an die Aktionäre darf den Betrag des Ergebnisses des letzten abgeschlossenen Geschäftsjahres, zuzüglich des Gewinnvortrags und der Entnahmen aus hierfür verfügbaren Rücklagen, jedoch vermindert um die Verluste aus früheren Geschäftsjahren sowie um die Beträge, die nach Gesetz oder Satzung in Rücklagen eingestellt worden sind, nicht überschreiten. Der auf diese Weise festgelegte Höchstbetrag für eine Ausschüttung 17 darf auch dann nicht überschritten werden, wenn eine Ausschüttung keine Verminderung des Grundkapitals und der gesetzlichen Rücklage zur Folge hätte.18 Die Berechnung des Höchstbetrages knüpft an das Jahresergebnis an, wie es sich aus der Gewinn- und Verlustrechnung ergibt.19 Von einem sich daraus ergebenden positiven Jahresergebnis sind noch die Verluste früherer Geschäftsjahre sowie die Beträge abzuziehen, die aufgrund gesetzlicher oder statutarischer Bestimmungen in Rücklagen eingestellt werden sollen.

4. Zwischenbefund Die skizzierten Kapitalerhaltungsregeln errichten klar formulierte und im Einzelfall rechtssicher zu bestimmende Hürden für eine Ausschüttung. Sie gründen im Jahresabschluss der Gesellschaft und sind damit aufs engste verwoben mit dem Bilanzrecht, das durch das Vorsichts-, Realisations- und Imparitätsprinzip 20 geprägt ist.21 In diesem System ist für opportunistische Annahmen der Geschäftsleitung oder der Gesellschafter (in Bezug auf die Geschäftsentwicklung, etc.) grundsätzlich kein Raum.22

17 Leinekugel (Fn. 9), S. 18. 18 Habersack (Fn. 9), Rdn. 164; Schwarz, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2000, Rn. 596; Nienhaus (Fn. 9), S. 111. 19 Leinekugel (Fn. 9), S. 18; Ullrich (Fn. 9), S. 6. 20 Vgl. hierzu Baumbach/Hopt/Merkt, HGB, 31. Aufl. 2003, § 252 Rdn. 10ff. 21 Eindringlich in diesem Sinne Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2002, 2372, 2373. 22 Vgl. Schön, Der Konzern 2005, 162, 169.

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III. Situative Ausschüttungssperren 1. Übersicht Im US-amerikanischen Gesellschaftsrecht sind zwei grundverschiedene Systeme der Kapitalerhaltung auszumachen.23 Zu nennen ist zum einen das traditionelle System, das ähnlich der Kapitalrichtlinie auf einem bestimmten Grundkapital der Gesellschaft („stated capital“, „legal capital“) beruht und eine Ausschüttung an Aktionäre einem „balance sheet test“ unterwirft. Zum anderen sind vielfältige „modern approaches“ anzutreffen, denen gemein ist, dass auf ein gesetzliches Grundkapital verzichtet wird (Aufgabe des Nennwertsystems). Ob Dividenden an Gesellschafter ausgeschüttet werden dürfen, ist in diesen Ordnungen höchst unterschiedlich geregelt.24 Vorbildcharakter für zahlreiche Bundesstaaten hat der Modell Business Corporation Act,25 der seit seiner grundlegenden Überarbeitung 1980 eine Ausschüttung (distribution 26) von einem zweistufigen Test abhängig macht. Die Gesellschaft muss erstens nach der Verteilung in der Lage sein, ihre Verbindlichkeiten bei Fälligkeit zu erfüllen [§ 6.40 (c) (1); equity insolvency test]. Zweitens muss gewährleistet sein, dass die gesamten Verbindlichkeiten der Gesellschaft durch ihr Vermögen gedeckt sind [§ 6.40 (c) (2); balance sheet test] 27. Ähnlich ist die Rechtslage in Neuseeland, das im Zuge der Reform des dortigen Gesellschaftsrechts 1993 in Anlehnung an den MBCA einen „solvency test“ einführte.28 Auch er weist zwei Prüfungsebenen auf: einen zukunftsorientierten Liquiditätstest (Sec. 4 (1) (a) Companies Act 1993) und einen vergangenheits23 Vgl. Gevurtz, Corporation Law, 2000, § 2.3.2. 24 Zur Rechtslage in Kalifornien, das einen eigenständigen Weg gegangen ist, vgl. Gevurtz (Fn. 23), § 2.3.2; Kummert, State Statutory Restrictions on Financial Distributions by Corporations to Shareholders, 59 Wash. L. Rev. (1984), 185, 226ff. Vgl. auch die Skizze von Böckmann, Gläubigerschutz bei GmbH und close corporation, 2005, S. 88ff. 25 Sec. 6.40 Model Business Corporation Act (Stand: Juni 2002) haben 37 Staaten vollständig bzw. im Wesentlichen übernommen. Vgl. Hamilton/Macey, Corporations Including Partnerships and Limited Liability Companies, 8. Aufl., 2003, Ch. 8 I.1. 26 § 1.40 (4) MBCA: „Distribution means a direct or indirect transfer of money or other property (except its own shares) or incurrence of indebtedness by a corporation to or for the benefit of its shareholders in respect of any of its shares. A distribution may be in the form of a declaration or payment of dividend; a purchase, redemption, or other acquisition of shares; a distribution of indebtedness; or otherwise“. 27 Zum Betrag der Verbindlichkeiten ist außerdem der Betrag hinzuzurechnen, der erforderlich wäre, um bei einer Auflösung im Zeitpunkt der Zahlung der Dividende die Vorzugsdividenden zu bedienen. 28 Vgl. Haynes, The Solvency Test: A New Era in Directorial Responsibility, 8 Auckland U.L. Rev. (1996–1999), 125.

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orientierten bilanziellen Vermögenstest (Sec. 4 (1) (b) Companies Act 1993). Eine Ausschüttung darf nur vorgenommen werden, wenn die Geschäftsleitung eine Solvenzerklärung abgibt (Sec. 52 (2) Companies Act 1993), die mit einer Begründung zu versehen ist. Der Reformvorschlag der Rickford-Gruppe ist ähnlich wie das neuseeländische System konzipiert. Anliegen ist es, einen angemessenen Gläubigerschutz zu verwirklichen.29 Ein Kapitalerhaltungssystem, so eine der zentralen Thesen der Rickford-Gruppe, müsse vornehmlich mit Blick darauf modelliert werden, den aus Ausschüttungen an die Aktionäre resultierenden Insolvenzgefahren effizient zu begegnen. Der unterbreitete Vorschlag ist aber noch liberaler als das US-amerikanische und das neuseeländische Vorbild. Dies artikuliert sich bereits in der Vorstellung, dass auch die wohlfahrtsmehrenden Aspekte einer Auskehrung von Gesellschaftsvermögen anzuerkennen seien, sowie in der Forderung, Entscheidungen über die Unternehmensfinanzierung nicht durch rigide Verbotsvorschriften zu begrenzen.30 Folglich präsentiert die Rickford-Gruppe ein Kapitalerhaltungssystem in einem neuen Gewand. Es hat zwar ebenfalls zwei Elemente. Gefordert wird eine „Solvency Certification“, die durch einen „Additional Assets Test“ (Simple Balance Sheet) abgesichert wird. Im Unterschied zur Lösung des MBCA und des neuseeländischen Companies Act 1993 soll aber eine Ausschüttung auch dann möglich sein, wenn die Verbindlichkeiten der Gesellschaft nicht durch das Aktivvermögen gedeckt sind.31 Als Grundlage für eine Bewertung der verschiedenen Kapitalerhaltungssysteme sind im Folgenden die einzelnen Elemente situativer Ausschüttungssperren vorzustellen. Mustert man die ausländischen Regelungen einschließlich des von der Rickford-Gruppe unterbreiteten Vorschlags durch, lassen sich zwei Bausteine ausmachen. So ist zunächst festgelegt, wie die von der Geschäftsleitung abzugebende Bestätigung, die Gesellschaft werde auch nach der Ausschüttung noch solvent sein, auszusehen hat. Regelungsbedürftig ist vor allem die Frage, auf welche Zeiträume sich die Solvenzerklärung erstrecken sollte. Erforderlich ist zweitens ein effektives Schutzsystem. Als Instrumente kommen Publizitäts- und Prüfungspflichten sowie flankierende Haftungsregeln in Betracht.

29 Der Bericht bestätigt, dass sich hiermit auch Fragen des Gesellschafterschutzes verbinden, lässt diese aber weitgehend außer Betracht. Vgl. Rickford, EBLR 2004, 919, 966 sowie implizit 937–943. 30 Rickford, EBLR 2004, 919, 967. 31 Auch die Verfasser des MBCA hatten erwogen, auf einen balance sheet test zu verzichten, davon dann jedoch Abstand genommen. Vgl. hierzu Hamilton/Macey (Fn. 25), Ch. 8. I.1.

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2. Elemente einer Ausschüttungssperre a) Solvenzbestätigung Sowohl der MBCA 32 als auch der neuseeländische Companies Act 1993 33 begnügen sich damit, die Anforderungen an den „equity insolvency test“ bzw. den „liquidity test“ mit wenigen Worten zu umreißen: Voraussetzung für eine Ausschüttung ist, dass die Gesellschaft nach der Auszahlung in der Lage ist, ihre im gewöhnlichen Geschäftsgang fällig werdenden Verbindlichkeiten zu erfüllen. Diese karge Formel wirft einige Fragen auf. Im Mittelpunkt steht das zeitliche Element: Wie weit muss der Horizont reichen, den die Geschäftsleitung ins Auge zu fassen hat, um die zukünftig fällig werdenden Verbindlichkeiten zu bestimmen? Der Hinweis der Kommentatoren des MBCA, grundsätzlich sei auf die kurzfristigen Geschäftsentwicklungen abzustellen,34 vermag lediglich eine grobe Orientierung zu vermitteln.35 Auch ihre weitere Vorstellung, eine eingehende Prüfung der Solvenz sei nur dann erforderlich, wenn besondere Anhaltspunkte vorlägen,36 legt es nahe, dass keine hohen Anforderungen an die Liquiditätsprüfung gestellt werden. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die Rickford-Gruppe darum bemüht ist, den zu überblickenden Zeitraum klarer zu definieren und die Liquiditätsprüfung zu verfeinern.37 So soll die Geschäftsleitung zunächst verpflichtet sein zu erklären, es könne vernünftigerweise erwartet werden, dass die Gesellschaft für die voraussehbare Zukunft ihre Verbindlichkeiten wird erfüllen können. Dabei soll sie die Geschäftsaussichten nach dem gewöhnlichen Gang der Geschäfte zugrunde legen.38 Ferner soll die Geschäftsleitung verpflichtet sein, eine 32 § 6.40 (c) (1) MBCA: „No distribution may be made if, after giving it effect the corporation would not be able to pay its debts as they become due in the usual course of business.“ 33 Sec. 4 (1) (a) Companies Act 1993: „For the purpose of this Act, a company satisfies the solvency test if the company is able to pay its debts as they become due in the normal course of business.“ 34 MBCA, Official Comment § 6.40, 6–58. 35 Ähnlich auch für das neuseeländische Recht die Einschätzung von Haynes, The Solvency Test: A New Era in Directorial Responsibility, 8 Auckland U.L. Rev. (1996–1999), 125: „However, an element of uncertainty remains …“ 36 § 6.40, Official Comment, 6–57: „Indeed, in the case of a corporation having regularly audited financial statements, the absence of any qualification in the most recent auditor’s opinion as to the corporation’s status as a ‚going concern‘, coupled with a lack of subsequent adverse events, would normally be decisive. It is only when circumstances indicate that the corporation is encountering difficulties or is in an uncertain position concerning its liquidity and operations that the board of directors … may need to address the issue.“ 37 Vgl. Rickford, EBLR 2004, 916, 979. 38 Vgl. Rickford, EBLR 2004, 916, 979: „We believe … that the directors should be required to reach the view that for the reasonably foreseeable future, taking account

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Liquiditätsaussage zum folgenden Geschäftsjahr abzugeben: Wird die Gesellschaft mit Blick auf ihre Absichten und die Einnahmen, mit denen nach Ansicht der Geschäftsleitung wahrscheinlich gerechnet werden kann, in der Lage sein, ihre fällig werdenden Verbindlichkeiten zu erfüllen? 39 Dieser Test präsentiert sich etwas griffiger als die Liquiditätstests des MBCA und des Companies Act 1993. Dass sich die Erklärung schon auf der ersten Stufe auf ein abstrakt bestimmtes Panorama erstreckt, dürfte unvermeidlich sein. Die Geschäftsleitung muss den weiteren Geschäftsverlauf einschätzen und auf dieser Grundlage den zu erwartenden Liquiditätsbedarf ermitteln. Als eine wichtige Konkretisierung erweist sich die Forderung, dass auch zukünftige Vermögenszuwächse berücksichtigt werden müssten. Lediglich die aus außergewöhnlichen Geschäftsführungsmaßnahmen, insbesondere Kapitalmaßnahmen zu erwartenden Vermögenszuwächse müssten außer Betracht gelassen werden.40 Die zweite Stufe erfasst mit dem nächsten Geschäftsjahr einen klar bestimmten Zeitraum, den die Geschäftsleitung unter Zugrundelegung ihrer Pläne auch ermessen kann. Damit wird deutlich, dass der Vorschlag der Rickford-Gruppe noch stärker als der MBCA und der neuseeländische Companies Act 1993 von der Geschäftsleitung verlangt, Wahrscheinlichkeitsurteile 41 zu fällen. Andere regelungssensitive Sachverhalte bleiben in den ausländischen Rechtsordnungen und wohl auch nach der Vorstellung der Rickford-Gruppe der Rechtsprechung vorbehalten. So könnte vor allem in Betracht zu ziehen sein, das Kriterium der zukünftigen Zahlungsfähigkeit gesetzlich zu konturieren.42 Weder der MBCA noch der Companies Act 1993 nehmen hierzu Stellung. Es verwundert daher nicht, dass dieser Aspekt Gegenstand der Diskussion über Ausschüttungssperren ist. Als klärungsbedürftig wird vor allem die Frage angesehen, ob die Zahlungsfähigkeit auch mit Blick darauf zu beurteilen ist, dass die Gesellschaft möglicherweise von dritter Seite, namentlich von ihrer Muttergesellschaft, Mittel zur Verfügung gestellt bekommt, um Verbindlichkeiten zu begleichen.43

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of the company’s expected prospects in the ordinary course of business, it can reasonably be expected to meet its liabilities.“ Rickford, EBLR 2004, 916, 980: “… having regard to the intentions and the resources in their view likely to be available, for the year immediately following the company will be able in the ordinary course of business to meet all its debts as they fall due as a going concern throughout that year.” Rickford, EBLR 2004, 916, 979. Vgl. Rickford, EBLR 2004, 916, 980: “This provides a firm assurance of liquidity…, based on a firm prediction of trading intentions and available resources.” Dazu aus der Perspektive des nationalen Rechts MünchKommAktG/Hefermehl/ Spindler, 2. Aufl. 2004, § 92 Rdn. 20; GroßkommAktG/Habersack, 4. Aufl. 2003, § 92 Rdn. 38. Verneinend für das neuseeländische Recht Haynes, The Solvency Test: A New Era in Directorial Responsibility, 8 Auckland U.L. Rev. 125, 130 (1996–1999); anders aber § 6.40 MBCA, Official Comment, 6–57 f.

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b) Simple Balance Sheet Test Als ein weiteres Element der Ausschüttungssperre kommt ein simple balance sheet test in Betracht. Sowohl der MBCA 44 als auch der neuseeländische Companies Act 1993 45 verlangen eine solche vergangenheitsorientierte Kontrolle. So ist eine Ausschüttung nach beiden Regimen nur in Höhe des Überschusses des Aktivvermögens über die gesamten Verbindlichkeiten der Gesellschaft erlaubt (the whole of any surplus of assets over liabilities). Auch ist sowohl im MBCA als auch im Companies Act 1993 festgelegt, nach welchen Grundsätzen der Vergleich zwischen Aktiva und Passiva vorzunehmen ist. Obwohl durchaus ein Bewusstsein für die Neigung der Geschäftsleitung festzustellen ist, das Aktivvermögen zu optimistisch zu bewerten,46 sind die in § 6.40 (d) MBCA getroffenen Vorgaben großherzig formuliert.47 Zum einen können die Bilanzen herangezogen werden (financial statements prepared on the basis of accounting practices and principles that are reasonable in the circumstances); dies können auch die US-GAAP sein.48 Denkbar ist aber auch eine fair valuation oder eine andere Methode, die nach den Umständen vernünftig erscheint.49 Die Rickford-Gruppe propagiert ebenfalls eine bilanzielle Kontrolle. Allerdings räumt sie einem solchen Test nur eine beschränkte Aussagekraft ein. Es sei einerseits nicht zwingend geboten, eine Auszahlung nur dann zuzulassen, wenn der Test zu einem positiven Ergebnis kommt. Andererseits dürfe ein bilanzieller Test nicht gänzlich außer Betracht bleiben. Ist die Gesellschaft nach Einschätzung ihrer Geschäftsleitung solvent und hat nach dem balance sheet net assets test einen Verlust erwirtschaftet, so sollen die Mitglieder der Geschäftsleitung im Falle einer Ausschüttung verpflichtet sein zu erklären, „why they take the favourable view“.50 Ein positives Ergebnis des bilanziellen Tests wäre demnach keine Voraussetzung für eine Ausschüttung. Diese wäre auch dann statthaft, wenn das Vermögen die Verbindlichkeiten nicht deckt. Allerdings würde eine Ausschüt44 § 6.40 (c) (2) MBCA: „No distribution may be made if, after giving it effect the corporation’s total assets would be less than the sum of its total liabilities plus (unless the articles of incorporation permit otherwise) the amount that would be needed, if the corporation were to be dissolved at the time of the distribution, to satisfy the preferential rights upon dissolution of shareholders whose preferential rights are superior to those receiving the distribution.“ 45 Sec. 4 (1) (b): „The value of the company’s assets is greater than the value of its liabilities, including contingent liabilities.“ 46 Vgl. Gevurtz (Fn. 23), § 2.3.2. 47 In Kalifornien ist allerdings festgelegt, dass die GAAP zugrunde zu legen sind (§ 114 Cal. Corp. Code). 48 § 6.40 MBCA, Official Comment, 6–60. 49 Vgl. hierzu § 6.40 MBCA, Official Comment, 6–61 (“quick-sale liquidation valuation method”). 50 Rickford, EBLR 2004, 919, 980.

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tung einer besonderen Begründung unterliegen. Der bilanzielle Test soll folglich in das Kapitalerhaltungssystem eingebaut werden, um auf die Geschäftsleitung disziplinierend einzuwirken. Damit würde Neuland betreten werden. Selbst in den USA haben nahezu alle Bundesstaaten, die dem MBCA folgen, einen balance sheet test als eine weitere Ausschüttungssperre etabliert. Lediglich Massachusetts, Minnesota und North Dakota kommen mit einem liquiditätsfokussierten Solvenztest aus.51

3. Absicherung der Ausschüttungssperre durch Publizität und Haftung Es ist unverzichtbar, die Solvenzbestätigung durch ein flankierendes haftungsrechtliches Schutzsystem abzusichern. Entsprechende Regelungen sind zwar in § 6.40 MBCA nicht explizit anzutreffen. Allerdings wird im Official Comment zu dieser Vorschrift ausgeführt, dass die Mitglieder der Geschäftsleitung bei ihren Prognosen ein business judgment träfen. Ihre haftungsrechtliche Verantwortlichkeit bestimme sich nach § 8.30 MBCA.52 Eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidung erfolgt daher in der Praxis nur in besonderen Ausnahmefällen, wie etwa bei Betrug, Arglist oder Ermessensmissbrauch.53 Zudem ist in einigen Bundesstaaten eine Erstattungspflicht der Gesellschafter vorgesehen, wenn sie bösgläubig Dividenden bezogen haben. Meist begnügen sich bundesstaatliche Rechtsordnungen aber damit, einen Regress der zum Schadensersatz verpflichteten directors gegenüber den – im Verhältnis zur Gesellschaft nicht haftenden – Gesellschaftern zuzulassen.54 Ausgereifter präsentiert sich das neuseeländische Recht, in dessen Zentrum eine von der Geschäftsleitung abzugebende Solvenzbestätigung steht. Die directors, die sich für eine Ausschüttung ausgesprochen haben, sind gemäß Sec. 52 (2) Companies Act 1993 verpflichtet, eine Bestätigung zu unterzeichnen, dass nach ihrer Auffassung die Gesellschaft unmittelbar nach der Ausschüttung den Anforderungen des Solvenztests genügt (Certificate).55 Dabei haben sie die für ihre Einschätzung maßgeblichen Erwägungen niederzulegen. Der notwendige Inhalt

51 Vgl. Cox/Hazen, Corporations, 2003, § 20.10. 52 § 6.40 MBCA, Official Comment, 6.40. § 8.30 MBCA bestimmt den von directors einzuhaltenden Sorgfaltsmaßstab. 53 Vgl. Guitard v. Gorham Savings Bank, 2002 WL 746106 (Me. Super. Ct. 2002); In re International Business Machines Corp. Securities Litigation, 954 F. Supp 81 (SD NY 1997); Gabelli & Co v. Liggett Group, Inc. 479 A. 2d 276 (Del Ch); Wilderman v. Wilderman, 315 A. 2d 610 (Del Ch). 54 Vgl. Gevurtz (Fn. 23), § 2.3.2. 55 Verstöße gegen die Pflicht zur Abgabe einer certificate können mit einer Strafe bis zu 5.000 $ geahndet werden (sec. 52 (5) Companies Act 1993).

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einer Solvenzbestätigung ist vom Gesetz zwar nicht vorgegeben. Doch kann er aus der zweistufigen Solvenzprüfung (Sec. 4 (2) Companies Act) abgeleitet werden.56 Die directors haben sowohl zur Annahme zukünftiger Liquidität als auch zur Deckung der Verbindlichkeiten durch Aktivvermögen Stellung zu nehmen. Dabei sind vor allem die in Betracht gezogenen Risiken zu spezifizieren. Auch ist anzugeben, ob externe Bewertungen zugrunde gelegt wurden. Insgesamt gesehen weist die Erklärung somit berichtsartige Züge auf. Schließlich ist im neuseeländischen Recht ein komplexes Sanktionensystem anzutreffen. Zum einen sind die Aktionäre zur Erstattung der zu Unrecht empfangenen Beträge verpflichtet,57 es sei denn, sie waren in gutem Glauben, sind entreichert oder es wäre treuwidrig, eine vollständige oder teilweise Rückzahlung zu verlangen.58 Auch die directors können unter bestimmten Voraussetzungen in Anspruch genommen werden. Allerdings handelt es sich dabei nur um eine Ausfallhaftung für die Beträge, welche die Gesellschaft von ihren Aktionären nicht erlangen kann (Sec. 56 (2) Companies Act 1993). Verpflichtet sind grundsätzlich nur solche directors, die der Ausschüttung zugestimmt und die Solvenzbestätigung unterzeichnet hatten.59 Ihre persönliche Verantwortlichkeit ist allerdings nicht grenzenlos. Wegen des prognostischen Charakters der zu treffenden Entscheidungen ist eine Haftung nur dann begründet, wenn es zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der „Certificate“ keine vertretbaren Gründe für die Annahme gab, dass die Gesellschaft den Solvenztest bestehen würde. Ergänzend kommt schließlich eine Haftung der directors in Betracht, wenn die vom Gesetz für eine Ausschüttung vorgesehenen Verfahrensschritte nicht eingehalten wurden.60 Inspiriert durch dieses System der Kapitalerhaltung hat sich die RickfordGruppe dafür ausgesprochen, die Ausschüttungssperre an eine Solvenzerklärung der Geschäftsleitung zu koppeln. Dieser Vorschlag erfährt durch zahlreiche, vornehmlich haftungsrechtliche Instrumente ein eigenständiges Design. So soll die Solvenzerklärung durch Einreichung zum Register Publizität genießen.61 Die Ge-

56 Vgl. hierzu Haynes, The Solvency Test: A New Era in Directorial Responsibility, 8 Auckland U.L. Rev. 125, 135 (1996–1999). 57 Aus der Gerichtspraxis vgl. Samarang Developments Ltd, Re: Walker [2004] BCL 940. 58 Auch hierzu vgl. Haynes, The Solvency Test: A New Era in Directorial Responsibility, 8 Auckland U.L. Rev. (1996–1999), 125, 139, mit der Einschätzung, dass die Ausnahmetatbestände schwierig zu beweisen sein dürften. 59 Abwesende directors können allerdings wegen Verletzung ihrer allgemeinen Sorgfaltspflichten zum Schadensersatz verpflichtet sein. Vgl. Haynes, The Solvency Test: A New Era in Directorial Responsibility, 8 Auckland U.L. Rev. (1996–1999), 125, 140. 60 Vgl. Sec. 56 (2), (3), (4) Companies Act 1993. Aus der Gerichtspraxis vgl. Re DML Resources Ltd (In Liquidation) [2004] 3 NZLR 490. 61 Rickford, EBLR 2004, 919, 972.

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schäftsleitung soll sich in einem dichten haftungsrechtlichen Gespinst bewegen. Im Mittelpunkt steht eine verschuldensabhängige zivilrechtliche Haftung. Die Beweislast soll aber selbst dann nicht (zu Lasten des board of directors bzw. des Vorstands) umgekehrt sein, wenn eine Ausschüttung wegen fehlender Deckung der Verbindlichkeiten nur aufgrund einer besonderen Begründung [s. o. unter III. 2. b)] erfolgen darf.62 In Erwägung gezogen wird ferner eine strafrechtliche Verantwortlichkeit.63 Auch sollen Verstöße im Rahmen der directors disqualifications Berücksichtigung finden.64 Ein weiterer Baustein des flankierenden Schutzsystems soll schließlich eine auf schuldhaftem Verhalten gründende Erstattungspflicht der Aktionäre sein.65 Eine sachverständige Prüfung wird dagegen als entbehrlich angesehen.66

IV. Bewertung des Systems situativer Ausschüttungssperren im Vergleich zum System der Kapitalrichtlinie 1. Vorbemerkungen Eine Bewertung der in ausländischen Rechtsordnungen anzutreffenden situativen Ausschüttungssperren ist nur möglich, wenn die ergänzenden Schutzregime in den Blick genommen werden. In den USA ist neben den gesellschaftsrechtlichen Regeln ein insolvenzrechtlicher 67 und vertragsrechtlicher 68 Schutz anzutreffen, zu dem sich eine breit gefächerte Durchgriffshaftung 69 gesellt. Die größte Bedeutung kommt dabei den Covenants zu. Die gesellschaftsrechtlichen Aus-

62 Rickford, EBLR 2004, 919, 977 [“This has some logical attractions, but in practice it might merely deter any distributions in such circumstances and it is too detailed, and too much a matter of practice and judgment for the Member States, to be included in EU law.”]. Anders noch die Entwurfsfassung; vgl. Micheler, ZGR 2004, 324, 339. 63 Rickford, EBLR 2004, 919, 974. 64 Rickford, EBLR 2004, 919, 980. 65 Rickford, EBLR 2004, 919, 973, 981. 66 Rickford, EBLR 2004, 919, 981. Allerdings sei es im Einzelfall denkbar, dass die Geschäftsleiter aufgrund ihrer Sorgfaltspflicht gehalten seien, einen sachverständigen Prüfer einzuschalten. 67 Ein insolvenzrechtlicher Schutz wird vor allem durch den Uniform Fraudulent Transfer Act (UFTA) verwirklicht, der bestimmte die Gläubiger benachteiligende Transaktionen zum Gegenstand hat und den Gläubigern ein Zugriffsrecht einräumt. Auf die Bedeutung des UFTA weist auch der Official Comment zu § 6.40 MBCA, 6–58 hin. Vgl. hierzu Krüger, Mindestkapital und Gläubigerschutz, 2005, S. 194ff; Böckmann (Fn. 24), S. 82 f. 68 Vgl. hierzu den Beitrag von Mankowski, S. 488 ff in diesem Buch. 69 Vgl. hierzu den Beitrag von Merkt/Spindler, S. 207 ff in diesem Buch.

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schüttungssperren (Balance Sheet Test und Solvency Test) ergänzen lediglich den durch vertragliche Vereinbarungen verwirklichten Gläubigerschutz.70 Auch das von der Rickford-Gruppe favorisierte Alternativmodell einer Kapitalerhaltung durch situative Ausschüttungssperren wird flankiert durch weitere Instrumente. Im Vordergrund steht eine Insolvenzverschleppungshaftung.71 Das Hauptaugenmerk gilt aber dem Solvency-Test. Anders als in den USA soll er im Mittelpunkt der gläubigerschützenden Maßnahmen stehen.72 Eine zuverlässige und abschließende vergleichende Bewertung der Kapitalerhaltungssysteme verlangt, alle anderen relevanten Regeln einzubeziehen. Dies kann hier nicht geleistet werden. Im Folgenden kann aber zu der These Stellung genommen werden, dass ein System situativer Ausschüttungssperren Vorteile gegenüber einem System der Vermögensbindung in Höhe einer festen Kapitalziffer verspricht. Auf dem Prüfstand steht namentlich die von der Rickford-Gruppe ins Feld geführte These, dass auf ein kostenintensives Normengeflecht verzichtet werden könne: „Because there will be no need for special capital reserves, subscribed capital as a mandatory requirement will disappear and therefore no special rules on publicity for capital will be needed, nor for minimum capital, nor, so far as creditors are concerned, about the quality of capital on raising.“ 73 Dazu werden zunächst die Vor- und Nachteile der beiden Kapitalerhaltungssysteme beleuchtet. Im Anschluss soll gesondert zum Design des Lösungsvorschlags der Rickford-Gruppe Stellung genommen werden.

2. Vor- und Nachteile des geltenden Kapitalerhaltungssystems Das auf Grund der Kapitalrichtlinie errichtete Regime der Kapitalerhaltung hat die Funktion, den Abzug der finanziellen Mittel zum Nachteil der Gläubiger zu verhindern.74 Es operiert mit klaren Begriffen, die von der Geschäftsleitung ohne nennenswerte Probleme angewandt werden können.75 Die Gefahr, dass sich ein opportunistisches Verhalten der Geschäftsleitung bzw. der Gesellschafter mit Blick auf eine möglichst hohe Ausschüttung durchsetzt, ist gering. Dieses System kommt allerdings ohne ein verlässliches bilanzrechtliches Fundament nicht aus. Damit ist bereits eine Schwäche angesprochen. Es ist zu erwarten, dass eine 70 Vgl. Booth, S. 717 ff in diesem Buch: „Although the legal capital rules once imposed significant requirements…, those rules have lost virtually all of their significance and force …Today, creditors are relegated to negotiated contractual protections …“ 71 Rickford, EBLR 2004, 919, 984. 72 Allerdings weist auch die Rickford-Gruppe auf die Bedeutung von Covenants hin; vgl. EBLR 2004, 919, 932. 73 Rickford, EBLR 2004, 919, 986. 74 Siehe oben II. 2. 75 Vgl. Schön, ZHR 166 (2002), 1, 5.

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primär kapitalmarktrechtlichen Zwecken verpflichtete Rechnungslegung Einzug in den Einzelabschluss halten wird. Die Regeln der Kapitalerhaltung müssen schon aus diesem Grund neu bedacht werden.76 Andere Defizite betreffen die Effektivität der Gläubigersicherung. So wird reklamiert, es sei unbefriedigend, dass die Grenzen einer Ausschüttung aus der Bilanz der Gesellschaft und damit grundsätzlich aus vergangenheitsbezogenen Werten ermittelt werden.77 Ob die Gesellschaft in Zukunft in der Lage sein wird, ihre Verbindlichkeiten zu begleichen, lässt sich hieraus nicht zuverlässig ableiten.78 Auch aus diesem Grund verlangt die Kapitalrichtlinie ein bestimmtes Mindestkapital und eine gesetzliche Rücklage.79 Ob diese Posten ausreichend sind, die Gläubiger in naher Zukunft zu befriedigen, ist aber, so ein weiterer nicht von der Hand zu weisender Einwand gegen ein festes Kapital und entsprechende Ausschüttungssperren, höchst ungewiss.80 Der von der Kapitalrichtlinie geforderte „Haftungsstock“ vermag den individuellen Verhältnissen der Gesellschaft nicht gerecht zu werden; 81 er soll es auch nicht. Schließlich kann ein System mit fest umrissenen eigenkapitalbezogenen Ausschüttungssperren eine „überschießende Energie“ entfalten. Eine Auszahlung an Aktionäre ist stets unzulässig, wenn das Aktivvermögen die Verbindlichkeiten und die Grundkapitalziffer sowie die gesetzlichen Rücklagen nicht deckt.82 Es kann aber, so eine verbreitete Sichtweise, Situationen geben, in denen eine Auszahlung dennoch wünschenswert ist und die Gläubigerinteressen nicht gefährdet sind.83

3. Vor- und Nachteile einer situativen Ausschüttungssperre Verlangt man für eine Ausschüttung eine Solvenzerklärung, so wird maßgeblich auf das für Gläubiger virulente Szenarium eines möglichen zukünftigen Forderungsausfalls abgestellt. Die von der Rickford-Gruppe konstruierte zweistufige Liquiditätsprüfung 84 erweist sich somit auf den ersten Blick als ein maßgeschnei76 Vgl. zu den in Betracht kommenden Lösungswegen Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2002, 2372, 2375 ff. 77 Vgl. High Level Group of Company Law Experts (Fn. 1), S. 85. 78 Allerdings bleiben prognostische Elemente nicht gänzlich unberücksichtigt. So sind beispielsweise für ungewisse Verbindlichkeiten und drohende Verluste aus schwebenden Geschäften gem. § 249 Abs. 1 HGB Rückstellungen zu bilden. 79 Siehe oben II. 2. 80 Vgl. Mülbert, Der Konzern 2005, 151, 154; a.A. Bezzenberger (Fn. 1), S. 192. 81 Vgl. Mülbert, Der Konzern 2005, 151, 160. 82 Siehe oben II. 2. und 3. 83 Vgl. hierzu das Beispiel bei Gevurtz, (Fn. 23), § 2.3.2; eindringlich in diesem Sinne Rickford, EBLR 2004, 919, 947. Vgl. auch Bezzenberger (Fn. 1), S. 192. 84 Siehe oben III. 2. a).

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dertes Lösungskonzept, das den beschriebenen Nachteilen einer festen grundkapitalbezogenen Ausschüttungssperre effektiv begegnet. Damit sind aber zugleich die Schwächen des Alternativkonzepts markiert. So ist vor allem im Auge zu behalten, dass die Geschäftsleitung die Solvenz der Gesellschaft nicht mit Gewissheit voraussagen kann.85 Selbst auf der Grundlage der von der RickfordGruppe präsentierten Formel wird die Geschäftsleitung nicht in der Lage sein, verlässliche Aussagen zu treffen. Komplexe Probleme verbinden sich mit der konkreten Ausgestaltung einer solvenzbezogenen Ausschüttungssperre. Dem System der Kapitalrichtlinie wird vor allem der Vorteil zugeschrieben, es stelle auch aus der Perspektive der Gesellschaftsgläubiger eine rechtssichere, weil ex-ante zu beurteilende und an klaren (gläubigerschützenden) Bilanzregeln ausgerichtete Lösung dar. Dagegen ist eine auf eine Solvenzerklärung gestützte Lösung durch eine ex-post stattfindende Kontrolle gekennzeichnet. Ihre Funktionsfähigkeit kann nur aufgrund einer umfassenden Analyse der Steuerungsfunktionen der flankierenden Haftungsregeln ermessen werden.86 Dabei sind vor allem zwei Problemfelder ins Visier zu nehmen: die Haftung der Aktionäre und der Geschäftsleitung.

a) Haftung der Gesellschafter Eine Haftung der Aktionäre ist unverzichtbar. Sowohl der MBCA (und ihm folgend einige Bundesstaaten der USA) als auch das neuseeländische Recht eröffnen eine Restitution der zu Unrecht empfangenen Beträge.87 Auch die RickfordGruppe anerkennt ein Regelungsbedürfnis.88 Eine Haftung muss mit Blick darauf konstruiert werden, einem opportunistischen Verhalten zu begegnen. Sie kann daher nur dann ausgeschlossen sein, wenn der betreffende Gesellschafter in gutem Glauben war. Zu überlegen ist außerdem, ergänzend eine Schadensersatzhaftung zu etablieren, um den möglicherweise existenzvernichtenden Wirkungen einer rechtswidrigen Ausschüttung zu begegnen.89 Sie müsste so formuliert sein, dass auch Kollateralschäden erfasst wären.

85 Kritisch daher Schön, ZHR 166 (2002), 1, 5; Arbeitskreis Bilanzrecht der Hochschullehrer Rechtswissenschaft, BB 2002, 2372, 2375. 86 Vgl. Merkt, ZGR 2004, 305, 315; Micheler, ZGR 2004, 324, 343. 87 Siehe oben III. 3. 88 Siehe oben III. 3. 89 Vgl. zur im nationalen Recht mittlerweile anerkannten Haftung der Gesellschafter wegen existenzvernichtenden Eingriffs BGHZ 149, 10; 150, 61; 151, 181; BGH ZIP 2004, 2138; ZIP 2005, 117; ZIP 2005, 250; NZG 2005, 886.

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b) Aussagegehalt einer Solvenzerklärung und Haftung der Geschäftsleitung Die Haftung der Mitglieder der Geschäftsleitung ist wesentlich schwieriger zu beurteilen. Ausgangspunkt muss der Inhalt der Solvenzerklärung sein, der gesetzlich festzulegen ist.90 Es sind zumindest die wesentlichen Parameter zu bestimmen.91 Dabei wird es zum einen wichtig sein, den in Betracht zu ziehenden Zeitraum möglichst klar zu bestimmen. Der von der Rickford-Gruppe unterbreitete Vorschlag nimmt zu Recht auf der zweiten Stufe das nach der Ausschüttung folgende Geschäftsjahr in den Blick.92 Andererseits bleiben alle noch später, möglicherweise erst in drei, fünf, zehn oder zwanzig Jahren fällig werdenden Verbindlichkeiten (aus Anleihen, etc.) außer Betracht. Auch sie sollten aber bei der Beurteilung der zukünftigen Solvenz der Gesellschaft Berücksichtigung finden.93 Zum anderen muss geklärt werden, ob auch außerordentliche Vermögenszuwächse zugrunde gelegt werden dürfen. Selbst wenn der zeitliche Horizont einer Solvenzbeurteilung präzise gesetzlich festgelegt werden kann, wird es Aufgabe der Rechtsprechung sein, die Pflichten der geschäftsleitenden Organe weiter zu konkretisieren. Der Gesetzgeber kann dies nicht leisten. Damit geht ein gewisses Maß an Rechtsunsicherheit einher. Es wird mehrere Jahre dauern, bis das neue Regime einigermaßen verlässlich beurteilt werden kann. Dieser Prozess wird notwendigerweise Kosten verursachen.94 Weiterhin erscheint es unumgänglich zu sein, eine sachverständige Prüfung vorzuschreiben.95 Dafür spricht, dass der Jahresabschluss, der ebenfalls Grundlage für eine Ausschüttung ist, auf jeden Fall geprüft werden muss. Auch wenn die von der Geschäftsleitung abzugebende Solvenzbescheinigung maßgeblich auf Prognosen beruht, erweist sich eine sachverständige Prüfung als ein angemessenes und gebotenes Schutzinstrument. Aus gutem Grund hat sie der europäische Gesetzgeber zur Kontrolle anderer Prognoseentscheidungen bereits vorgese90 Vgl. hierzu Pellens/Jödicke/Richard, BB 2005, 1393, 1400. 91 Ein weiterer Klärungsbedarf besteht in manchen Detailfragen. Die bereits in den USA und Neuseeland diskutierten Fragen – etwa zum Begriff der zukünftigen Zahlungsfähigkeit (siehe oben III. 2. a) – müssten auch für eine mögliche europäische Regelung entschieden werden. 92 Siehe oben III. 2. a). 93 Verlangt man für eine Ausschüttung – wie hier vertreten – in jedem Fall noch, dass das Aktivvermögen ausreicht, um die Passiva und die Grundkapitalziffer zu decken, so finden diese zukünftigen Verbindlichkeiten bereits Berücksichtigung. Der Solvenztest kann sich dann darauf beschränken, die Fälligkeit der Verbindlichkeiten besonders ins Auge zu fassen. 94 Zuzugeben ist allerdings, dass das Verlassen eines bekannten Pfads immer kostenträchtig ist. 95 Ebenso Pellens/Jödicke/Richard, DB 2005, 1393, 1401. A. A. Rickford, EBLR 2004, 919, 974, 981.

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hen.96 Wenn sich die sachverständige Prüfung jedenfalls auf die Plausibilität der getroffenen Schlüsse erstreckt, vermag sie eine gewisse Seriositätsgewähr zu vermitteln. Mangels Informationszugangs haben die Gläubiger ein berechtigtes Interesse an einer solchen Kontrolle. Komplexe Probleme verbinden sich mit der Schadensersatzhaftung der geschäftsleitenden Organe, die mit Rücksicht auf den prognostischen Charakter der Solvenzerklärung konstruiert werden muss. Es ist einerseits ausgeschlossen, der Verwaltung die Verantwortlichkeit für die Richtigkeit der gezogenen Schlüsse zuzuweisen. Andererseits dürfte es zu weit gehen, ihr einen leicht zu erreichenden, großzügig ausgestalteten safe harbour zu eröffnen.97 Die Suche nach dem vorzugswürdigen Weg wird dadurch erschwert, dass in der Diskussion über eine Prognosehaftung in den verschiedenen Bereichen des Gesellschaftsrechts noch keine allseits akzeptierten Ergebnisse erzielt werden konnten; die Diskussion befindet sich im Fluss.98 Die zum nationalen Recht gewonnene Erkenntnis, dem Geschäftsleiter sei im Rahmen seiner Pflichten hinsichtlich der Stellung des Insolvenzantrags 99 ein „gewisser Beurteilungsspielraum“ bei Prognosen einzuräumen,100 ist bislang jedenfalls konturenlos geblieben. Ein eindeutiges Bild zeigt sich, wenn man die US-amerikanischen Rechtsordnungen unter die Lupe nimmt. In bemerkenswerter Klarheit stellen die Kommentatoren des MBCA das Bedürfnis für einen Haftungsfreiraum heraus und begnügen sich mit einem Verweis auf den allgemeinen Sorgfaltsmaßstab und die business judgment rule.101 Entsprechend restriktiv verhält sich die Rechtsprechung in den Bundesstaaten. Sie gelangt lediglich in schwerwiegenden Fällen zu einer Haftung der Geschäftsleitung.102 Dieser Befund verwundert auf den ersten Blick. Bekanntlich legitimiert sich ein weites Geschäftsleiterermessen aus der andernfalls bestehenden Gefahr, dass sich der Vorstand risikoavers verhalten würde, was der Unternehmenswertmaxi-

96 So ist bei der Verschmelzung und Spaltung von Aktiengesellschaften eine sachverständige Prüfung erforderlich (vgl. Art. 10 Verschmelzungsrichtlinie und Art. 8 Spaltungsrichtlinie). Diese Prüfung hat vor allem mit Blick auf das vereinbarte Umtauschverhältnis zu erfolgen, welches seinerseits auf einer Bewertung der Unternehmen beruht. Die verschiedenen Methoden einer Unternehmensbewertung operieren mit Prognosen. 97 Vgl. auch Rickford, EBLR 2004, 916, 981. 98 Zur Haftung für fehlerhafte Prognosen im Kapitalmarktrecht vgl. Kümpel/Veil, Wertpapierhandelsgesetz, 2. Aufl., 2006, 3. Teil Rdn. 23 und 9. Teil Rdn. 7; eingehend Fleischer, AG 2006, 1. 99 Der Vorstand kann bezüglich der Feststellung der Überschuldung von einer Fortführungsprognose ausgehen, sofern dies aufgrund der Finanzplanung gerechtfertigt erscheint. Vgl. Hefermehl/Spindler, (Fn. 42), § 92 Rdn. 30. 100 Vgl. zur Konkursverschleppung BGHZ 126, 181, 199. 101 Siehe oben III. 3. Vgl. auch Cox/Hazen (Fn. 51), § 20.16. 102 Siehe oben Fn. 53.

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mierung abträglich wäre.103 In Ausschüttungsszenarien muss dagegen ein risikoreiches Entscheidungsverhalten nicht unbedingt gefördert werden. Trotzdem ist es notwendig und unabweisbar, einen Haftungsfreiraum zu eröffnen. Selbstverständlich handelt es sich bei der Entscheidung über eine Ausschüttung um eine unternehmerische Maßnahme. Die Geschäftsleitung verzichtet damit auf eine Selbstfinanzierung der ins Auge gefassten geschäftlichen Ziele. Es sollte vermieden werden, dass Gerichte über diese Form unternehmerischen Handelns entscheiden. Dazu sind sie nicht in der Lage.104 Zudem ist die Schutzbedürftigkeit des Managements evident. Eine nachträgliche gerichtliche Überprüfung der möglicherweise nur schwer rekonstruierbaren prognostischen Urteile muss verhindert werden.105 Dennoch verbleibt ein Unbehagen, den durch das UMAG anerkannten Ermessensspielraum der Geschäftsleitung bei unternehmerischen Entscheidungen gemäß § 93 Abs. 1 S. 2 AktG 106 1 : 1 nutzbar zu machen. Das Ergebnis wäre eine holzschnittartige Lösung, die dem betreffenden Vorstandsmitglied wohl regelmäßig 107 den Einwand gestattete, im Rahmen des Ermessensfreiraums gehandelt zu haben. Aus gutem Grund präsentiert das neuseeländische Recht eine ausdifferenziertere Lösung als das US-amerikanische Recht 108. Eine Schadensersatzpflicht kann zum einen begründet sein, wenn bestimmte Verfahrensschritte – Unterzeichnung der Solvenzerklärung, schriftliche Begründung der Solvenz – nicht 103 Vgl. Fleischer, Festschrift Wiedemann, 2002, 827, 830; Paefgen, AG 2004, 245, 247. 104 Zu dieser Begründung vgl. Reg.Begr. BT-Drucks. 15/5092, S. 11; GroßkommAktG/ Hopt, § 93 Rdn. 83; Abeltshauser, Leitungshaftung im Kapitalgesellschaftsrecht, 1998, S. 130; auch Lutter, ZIP 1995, 441, 441. 105 Eine nachträgliche Bewertung von Vorgängen, die zu einem erheblichen Schaden geführt haben, birgt die Gefahr von Rückschaufehlern in sich. Es besteht eine Tendenz, angesichts des Eintritts eines Schadens vorschnell auf eine Sorgfaltspflichtverletzung zu schließen (hindsight bias). Vgl. Rachlinski, A Positive Psycological Theory of Judging in Hindsight, 65 U. Chi. L. Rev. 571 (1998); Hefermeh/Spindler, (Fn. 42), § 76 Rdn. 25; Spindler/Klöhn, NZG 2005, 584, 585f. 106 Vgl. hierzu Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 4. Aufl., 2006, § 14 Rn. 74 ff. 107 Die Voraussetzungen für ein Geschäftsleiterermessen dürften in den meisten Fällen einer Ausschüttung erfüllt sein. Das Gesetz verlangt erstens, dass das Vorstandsmitglied vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information gehandelt zu haben. Dies kann zwar nur im Einzelfall beurteilt werden. Doch ist zu berücksichtigen, dass dem Vorstandsmitglied auch hierbei ein Ermessen zusteht. Voraussetzung ist weiterhin, dass das Vorstandsmitglied vernünftigerweise annehmen durfte, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Das Vorstandsmitglied muss schließlich unbeeinflusst von Interessenkonflikten, Fremdeinflüssen und ohne unmittelbaren Eigennutz gehandelt haben. Denkbar ist, dass dieses Erfordernis nicht erfüllt ist, wenn das Vorstandsmitglied selbst über einen (signifikanten) Aktienbesitz verfügt. 108 Der MBCA und die ihm folgenden Bundesstaaten. Siehe oben III. 3.

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eingehalten wurden; ein Haftungsfreiraum ist dann nicht eröffnet. Zum anderen droht eine inhaltlich zwar gleichfalls auf Ermessensfehler begrenzte Haftung. Aufgrund der Begründungspflicht der Geschäftsleiter ist die Ermessensentscheidung aber einer ex-post-Kontrolle zugänglich.

c) Zwischenbefund Resümierend kann festgehalten werden, dass die Wirksamkeit einer drohenden Haftung nur mit einem großen Unsicherheitsfaktor bestimmt werden kann. Am ehesten festes Terrain wird man hinsichtlich der Pflichten gewinnen können, die Grundlagen für eine Entscheidung über die Solvenz der Gesellschaft zu ermitteln. Was „the company’s expected prospects in the ordinary course of business“ sind, dürfte bestimmbar sein und gerichtlich kontrolliert werden können. Anders verhält es sich bezüglich der Veränderungen der Vermögens- und Ertragslage, die aus den Zukunftsprojektionen (bezüglich der gewöhnlichen und außergewöhnlichen Geschäfte) abgeleitet werden. Es wird unumgänglich sein, diese von der Geschäftsleitung besonders zu begründenden Annahmen haftungsfrei zu stellen und begleitend eine Verfahrensverstöße (Begründung der Solvenzerklärung) sanktionierende Schadensersatzpflicht zu etablieren. Unter dieser Prämisse verspricht eine Haftung eine gewisse verhaltenssteuernde Wirkung. Sie sollte im Übrigen nicht auf die zu Unrecht ausgeschütteten Beträge beschränkt sein,109 sondern auch die weiteren Folgen einer rechtswidrigen Ausschüttung umfassen.110 Es ist daher eine Schadensersatzpflicht der Geschäftsleitung zu etablieren. Der These, die Haftungssanktionen könnten ein risikoaverses Ausschüttungsverhalten der Geschäftsleitung zur Folge haben,111 kann dann grundsätzlich zugestimmt werden.

4. Nachteile einer ausschließlich solvenzbezogenen Ausschüttungssperre Die von der Rickford-Gruppe angemahnte Liberalisierung des Ausschüttungswesens muss vor dem Hintergrund gewürdigt werden, dass sich mit einer freizügigen Einlagenrückgewähr unerwünschte Anreizstrukturen verbinden. Räumt man den persönlich ohnehin nicht haftenden Kapitalgebern einen weit reichenden Zugriff auf ihr Investment ein,112 so können sie geneigt sein, nach Ab109 In diesem Sinne aber das neuseeländische Recht; siehe oben III. 3. 110 Vgl. zur Haftung der Gesellschafter wegen existenzvernichtenden Eingriffs die Nachweise in Fußn. 89. 111 So Kuhner, ZGR 2005, 753, 778 ff. 112 Nach der Vorstellung der Rickford-Gruppe soll eine Ausschüttung auch bei Unterbilanz statthaft sein. Siehe oben III. 2. 6.

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zug der finanziellen Mittel zu Lasten der Gläubiger eine unangemessen risikoreiche Geschäftsstrategie zu verfolgen. Davon wären jedenfalls die bisherigen Gläubiger betroffen.113 Signifikante Kostenvorteile verspricht das propagierte System einer solvenzbezogenen Ausschüttungssperre gegenüber dem tradierten Regime der Kapitalerhaltung nicht. Erstens wäre eine sachverständige Prüfung der Solvenzerklärung unvermeidlich.114 Bereits dies würde Kosten verursachen. Zweitens wäre das zu errichtende Haftungssystem kostenintensiv. Es müssten für die Mitglieder der Geschäftsleitung D &O-Versicherungen geschlossen werden,115 deren Kosten erfahrungsgemäß von der Gesellschaft getragen werden. Ferner ist es bei einer primär liquiditätsorientierten Ausschüttungssperre nicht ausgeschlossen, dass die Gesellschafter kurz vor der Insolvenz auf das Vermögen des Unternehmens zugreifen. Diese in last-period-Szenarien typischerweise anzutreffende Gefahr anerkennt auch die Rickford-Gruppe. Sie sucht ihr zu begegnen, indem sie sich für eine Pflicht der Geschäftsleitung ausspricht, einen balance sheet test durchzuführen und bei negativem Befund eine Ausschüttung nur auf der Grundlage einer publizitätspflichtigen Begründung zuzulassen.116 Anliegen ist es augenscheinlich, in den aus Gläubigersicht virulenten Situationen ein risikoaverses Ausschüttungsverhalten der Geschäftsleitung zu generieren. Die Gläubiger würden im Rahmen einer ex-post-Kontrolle Zugang zu den von der Geschäftsleitung zugrunde gelegten Informationen und den getroffenen Annahmen erhalten, sodass mit einer Realisierung der Haftungsgefahr zu rechnen wäre. Aufgrund der verstärkten Präventionswirkungen der flankierenden Haftungsregeln könnte die Geschäftsleitung geneigt sein, eine Ausschüttung zurückhaltend zu beurteilen. Ob sich diese Annahmen als zutreffend erweisen, muss aber ernsthaft bezweifelt werden. Es erscheint zu hoffnungsvoll zu sein, dass gerade in den insolvenznahen Szenarien eine mögliche zukünftige Haftung eine bedeutende verhaltenssteuernde Wirkung zu entfalten vermag.117 Selbst wenn die begründungspflichtige 113 Vgl. Gevurtz (Fn. 23), § 2.3.2. 114 Siehe oben IV. 3. 6. 115 Zum Gegenstand einer D& O-Versicherung vgl. Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 3. Aufl. 2003, Rdn. 419ff. 116 So offenbar Rickford, EBLR 2004, 919, 980 (“We therefore would propose that in making the certificate the directors should be required to take account of the company’s accounts and annual report as a whole and that where the result is to declare that the company is solvent while on an application of the narrow balance sheet net assets test the result would be a deficit, they should explain why they take the favourable view.”) und 986 („The supplementary balance sheet test … will be relaxed to ensure that a proper prudent appraisal of the commercial balance of assets and liabilities is relied upon and that it becomes a strong disclosure requirement rather than a substantive limit.“). Vgl. auch Micheler, ZGR 2004, 324, 339. 117 Vgl. hierzu Fleischer, ZGR 2004, 437, 446f.

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Ausschüttung – schon zu diesem Zeitpunkt? – mit Publizitätswirkung ausgestattet wäre, muss mit einem Missbrauch gerechnet werden. Schließlich sind ernsthafte Zweifel an der Tauglichkeit der vorgeschlagenen Publizität der begründeten Solvenzbestätigung anzumelden. Eine von der Rickford-Gruppe befürwortete Ausschüttung trotz Unterbilanz 118 dürfte sich in der Regel aus zukünftigen Geschäftsführungsmaßnahmen legitimieren, die entweder mangels Realisierungsgrades noch nicht ad-hoc-publizitätspflichtig sind (vgl. § 13 WpHG) oder wegen einer Selbstbefreiung (§ 15 Abs. 3 WpHG) dem Kapitalmarkt nicht offenbart zu werden brauchen. Eine mit Publizitätswirkung ausgestattete Vorstellung solcher Pläne kann aber schwerlich im Interesse der Gesellschaft liegen.

V. Schlussfolgerungen und Ergebnisse Als Quintessenz ist festzuhalten, dass ein System situativer Ausschüttungssperren gegenüber dem tradierten Regime der Kapitalerhaltung sowohl Vorteile als auch Nachteile aufweist. Eine eindeutige Aussage über die Vorzugswürdigkeit eines der beiden Modelle lässt sich nicht treffen. Der Grund hierfür liegt in den Sanktionsmechanismen, die eine solvenzorientierte Ausschüttungssperre flankieren. Ob die zivilrechtlichen Haftungsregeln und strafrechtlichen Sanktionen einem opportunistischen Verhalten der Geschäftsleitung bzw. der Gesellschafter begegnen, lässt sich nicht eindeutig beurteilen. Zweifel verbleiben vor allem für insolvenznahe Sachverhalte. Gerade in solchen Situationen präsentiert sich das tradierte System der Kapitalrichtlinie als eine rechtssichere Lösung. Angesichts der Entwicklungen im Bereich des Bilanzrechts 119 dürfte eine Reform der Kapitalerhaltung aber unausweichlich sein. So wird es vor allem erforderlich sein, darauf zu reagieren, dass die Passivierung ungewisser Verbindlichkeiten nach IFRS an höhere Voraussetzungen geknüpft ist und noch nicht realisierte Gewinne ausgewiesen werden.120 Es bietet sich an, zukünftig eine Ausschüttung auf der Grundlage einer IFRS-Bilanz zuzulassen und einer möglichen Gläubigergefährdung ergänzend durch einen Solvenztest zu begegnen. Im Einzelnen: 1. Es empfiehlt sich, am tradierten Weg einer bilanzorientierten Ausschüttung im Grundsatz festzuhalten. Auch die ausländischen Regelungsvorbilder verzichten nicht auf einen Balance Sheet Test. Eine Ausschüttung sollte nur aus freiem Vermögen zugelassen werden. Dabei können – entsprechend dem bislang geltenden System des festen Kapitals – festgelegte Ausschüttungssperren (Grund-

118 Zu dieser liberalen Konstruktion einer Ausschüttungssperre siehe oben III. 2. 6. 119 Siehe oben I. 120 Eingehend hierzu der Beitrag von Pellens/Sellhorn S. 451 ff in diesem Buch.

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kapital und gegebenenfalls gesetzliche Rücklage) zu beachten sein. Diese Sperre begegnet opportunistischem Verhalten der Gesellschafter. Angesichts der Schwächen einer rein liquiditätsorientierten Betrachtung sollte auf sie nicht verzichtet werden. Ein ausschließlich solvenzorientiertes System der Kapitalerhaltung – wie von der Rickford-Gruppe vorgeschlagen – verbietet sich dagegen. Es ist nicht in der Lage, einen angemessenen Gläubigerschutz zu verwirklichen und nicht geeignet, die Kosten zu reduzieren. 2. Eine ergänzende situative Ausschüttungssperre trägt den berechtigten Belangen der Gläubiger maßgeschneidert Rechnung. Sie weist allerdings manche Schwächen auf. Ein flankierendes Schutzsystem hat ihnen Rechnung zu tragen. Die Solvenzerklärung sollte grundsätzlich einer sachverständigen Prüfung unterliegen. Es ist zudem unverzichtbar, die Solvenzerklärung haftungsrechtlich zu sanktionieren. So ist eine effektive Schadensersatzhaftung der Geschäftsleitung zu etablieren, die zum einen an Verstößen gegen ein ordnungsgemäßes Verfahren anknüpfen kann und zum anderen hinsichtlich der zu treffenden Prognoseentscheidungen einen klar umrissenen Haftungsfreiraum präsentieren sollte. Weiterhin ist eine Erstattungspflicht der Gesellschafter vorzusehen (Restitution). In Betracht kommt zudem eine Schadensersatzhaftung der Gesellschafter. Ergänzend sind strafrechtliche Sanktionen zu schaffen.

Verdeckte Gewinnausschüttung und Kapitalschutz im Europäischen Gesellschaftsrecht

von Professor Dr. Holger Fleischer, Bonn

Inhaltsübersicht I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verdeckte Gewinnausschüttung als Grundfigur deutschen Rechtsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verdeckte Gewinnausschüttung im Koordinatensystem des Kapitalgesellschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anteilseigner versus Verwaltungsmitglieder . . . . . . . . . . . . b) Aktiengesellschaften versus Gesellschaften mit beschränkter Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unabhängige versus abhängige Aktiengesellschaften . . . . . . . II. Verdeckte Vermögenszuwendungen in der unabhängigen Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsvergleichender Rundblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtspolitische Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verdeckte Vermögenszuwendungen in der abhängigen Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtspolitische Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verdeckte Gewinnausschüttung und Kapitalschutz

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I. Einführung 1. Verdeckte Gewinnausschüttung als Grundfigur deutschen Rechtsdenkens Die verdeckte Gewinnausschüttung gehört zum hergebrachten Figurenschatz des deutschen Aktienrechts. Sie hat ihren Sitz in § 57 Abs. 1 und 3 AktG, der nicht nur offene, sondern auch verdeckte Vermögensverlagerungen an Aktionäre außerhalb einer förmlichen Gewinnausschüttung verbietet.1 Eine einheitliche Begriffsbildung steht allerdings noch aus: Gleichsinnig spricht man von verdeckter Vermögensverlagerung 2 oder verdeckter Vermögenszuwendung 3. Ausländische Aktienrechte kennen dasselbe Sachproblem, doch fehlt ihnen häufig die schlagwortartige Verdichtung und dogmatische Anbindung an den Kapitalschutz. Die verdeckte Gewinnausschüttung ist daher nach Herkunft und Zuschnitt ein Produkt deutschen Rechts- und Systemdenkens.4

2. Verdeckte Gewinnausschüttung im Koordinatensystem des Kapitalgesellschaftsrechts Verdeckte Gewinnausschüttungen an Aktionäre bilden nur einen Teilausschnitt aus dem größeren Kreis „suspekter“ Austauschbeziehungen im Kapitalgesellschaftsrecht, die man international als related party transactions zu bezeichnen pflegt.5 Ökonomen erfassen sie in der immer wichtiger werdenden „Law and 1 Vgl. RGZ 146, 84, 93f.; 149, 385, 400; BGH NJW 1992, 2821; BGHZ 141, 79, 84, 87f.; aus der Kommentarliteratur GroßKommAktG/Henze, 4. Aufl. 2001, § 57 Rdn. 35ff.; Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2004, § 57 Rdn. 8 ff.; KölnKommAktG/Lutter, 2. Aufl. 1988, § 57 Rdn. 8, 15 ff.; MünchKommAktG/Bayer, 2. Aufl. 2003, § 57 Rdn. 25ff.; aus der Lehrbuchliteratur Grunewald, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2005, 2 C Rdn. 151; Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 4. Aufl. 2006, § 19 Rdn. 3; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 29 II 2 a, S. 890. 2 Monographisch Bommert, Verdeckte Vermögensverlagerungen im Aktienrecht (1989); Fiedler, Verdeckte Vermögensverlagerungen bei Kapitalgesellschaften (1994); Ullrich, Verdeckte Vermögensverlagerungen in den Aktien- und GmbH-Rechten Frankreichs, Belgiens und Deutschlands (1994). 3 Monographisch Ebenroth, Die verdeckten Vermögenszuwendungen im transnationalen Unternehmen (1979); wieder anders jetzt die Terminologie bei Riedel, Unzulässige Vermögenszuwendungen und ihre Rechtsfolgen im Recht der Aktiengesellschaft (2004). 4 Ähnlicher Befund bei Bezzenberger, Das Kapital der Aktiengesellschaft (2005), S. 258, der seine rechtsvergleichende Betrachtung mit der Bemerkung eröffnet: „Diese Regeln sind in Deutschland so allgemein anerkannt, daß kaum noch jemand nach ihrer inneren Berechtigung und nach möglichen Alternativen fragt. Dabei sind solche Regeln außerhalb Deutschlands alles andere als selbstverständlich.“ 5 Vgl. Hertig/Kanda, in: Kraakman/Davies/Hansmann/Hertig/Hopt/Kanda/Rock, The Anatomy of Corporate Law (2004), Chapter 5, S. 101ff.: „Related party trans-

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Finance“-Literatur unter den Sammelbegriffen self-dealing oder tunneling 6 und haben jüngst für 72 (!) Staaten einen „anti-self-dealing“-Index berechnet, der auf den nationalen Rechtsregeln für solche Transaktionen beruht.7 Aus juristischer Sicht lässt sich eine ordnende Grundorientierung in dreierlei Richtung vornehmen. a) Anteilseigner versus Verwaltungsmitglieder Zunächst kann man nach der Person des Leistungsempfängers Vermögenszuwendungen an Anteilseigner und Verwaltungsmitglieder trennen. Im ersten Fall geht es typischerweise um Mehrheits-Minderheits-Konflikte, im zweiten um Prinzipal-Agenten-Probleme. Die gesellschaftsrechtlichen Lösungsmuster sind jeweils andere, doch stimmen sie in einer zentralen Grundwertung überein: Obwohl sich schuldrechtliche Austauschbeziehungen zwischen der Gesellschaft und ihren Anteilseignern oder Organmitgliedern immer wieder als missbrauchsanfällig erweisen, scheuen moderne Rechtsordnungen vor einem generellen Kontrahierungsverbot zurück und bewenden es bei weniger einschneidenden Schutzvorkehrungen. Dahinter steht die Einsicht, dass die wirtschaftlichen Vorteile derartiger Geschäfte die drohenden Nachteile für Minderheitsgesellschafter und Gesellschaftsgläubiger per saldo aufwiegen.8 Nur für besonders gefährliche Geactions“; McCahery/Vermeulen, „Corporate Governance Crises and Related Party Transactions: A Post-Parmalat Agenda“, in: Hopt/Wymeersch/Kanda/Baum (eds.), Corporate Governance in Context. Corporations, States, and Markets in Europe, Japan, and the US (2005), S. 215 ff. 6 Vgl. etwa Johnson/La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, Tunneling, 90 American Economic Review, Papers and Proceedings 22 (2000). 7 Vgl. Djankov/La Porta/Lopez-de-Silanes/Shleifer, The Law and Economics of Self-Dealing, December 1st 2005, ssrn.abstract_id=864645: „We present a new measure of legal protection of minority shareholders against expropriation by corporate insiders: the anti-self-dealing index. Assembled with the help of Lex Mundi law firms, the index is calculated for 72 countries based on legal rules prevailing in 2003, and focuses on private enforcement mechanisms, such as disclosure, approval, and litigation, governing a specific self-dealing transaction.“ 8 Dazu und zur Rechtsentwicklung vom absoluten Verbot zum Erlaubnisvorbehalt am Beispiel der Eigengeschäfte von Verwaltungsmitgliedern Fleischer, WM 2003, 1045, 1051f.; für Geschäfte zwischen Anteilseignern und Gesellschaft Hertig/Kanda (Fn. 5), S. 119: „As with conflicted managers, no jurisdiction bans transactions between companies and controlling shareholders. Their potential value is too great – as, for example, the frequency of corporate groups and parent-subsidiary structures suggests.”; aus ökonomischer Sicht zuletzt Djankov/La Porta/Lopez-de-Silanes/ Shleifer (Fn. 7), S. 2: “At the other extreme, a society can prohibit conflicted transactions altogether: all dealings between a corporation and its controllers – or any other entity these controllers also control – could be banned by law. Yet no society finds it practical to use this approach either, perhaps because in many instances related-party transactions actually make economic sense.”

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schäfte fällt die gesetzgeberische Wertung gelegentlich anders aus: Das Hauptbeispiel bilden Kredite an Verwaltungsmitglieder, die im Vereinigten Königreich und Frankreich seit jeher verboten und in den Vereinigten Staaten durch den Sarbanes-Oxley-Act unlängst wieder untersagt worden sind.9

b) Aktiengesellschaften versus Gesellschaften mit beschränkter Haftung Eine zweite Trennlinie verläuft zwischen Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Sie ist gemeinschaftsrechtlich durch den Anwendungsbereich der Zweiten gesellschaftsrechtlichen Richtlinie (KapRL) 10 vorgezeichnet und wird in Deutschland durch die unterschiedliche Reichweite der Vermögensbindung in § 57 AktG und § 30 GmbHG weiter vertieft.11 Rechtspolitische Reformvorschläge hatten vor einiger Zeit erwogen, den GmbH-rechtlichen Kapitalschutz an das aktienrechtliche Schutzniveau anzupassen 12, wie dies gegenwärtig § 82 öGmbHG und jedenfalls bislang sec. 263 CA 1985 vorsehen.13 Inzwischen hat sich die internationale Fließrichtung für die „kleine“ Kapitalgesellschaft allerdings geändert, doch kann dies für unser Thema – die Finanzverfassung der Aktiengesellschaft – auf sich beruhen.

c) Unabhängige versus abhängige Aktiengesellschaften Schließlich empfiehlt es sich, Vermögensverschiebungen bei unabhängigen und abhängigen Aktiengesellschaften gesondert zu untersuchen. Für letztere gilt in Deutschland zum einen ein gesondertes Regelungsregime; zum anderen müssen sich die Schutzvorkehrungen gegen verdeckte Gewinnausschüttungen im Rechtsalltag vor allem bei verbundenen Unternehmen bewähren, die in vielfältigem Leistungsaustausch miteinander stehen.14 Als Lehrmeister des Gesellschafts-

9 Kritisch dazu Romano, 114 Yale L.J. 1521, 1538–1540 (2005); empirischer Befund bei Shastei/Kahle, 39 J. Fin. & Quantitative Analysis 791 (2004); rechtsvergleichend Fleischer, WM 2004, 1057, 1059ff. mit umfassenden rechtsvergleichenden Nachweisen. 10 Richtlinie 77/91/EWG vom 13. 12. 1976, ABl. Nr. L 26/1 vom 31. 1. 1977. 11 Vgl. zuletzt den Eingangssatz bei Schön, in: Festschrift Röhricht (2005), S. 559: „Es gehört zu den Grundlehren des Kapitalgesellschaftsrechts, den Umfang der Vermögensbindung in der Aktiengesellschaft und in der GmbH unterschiedlich zu bestimmen.“ 12 Dazu Fleischer, in: Michalski (Hrsg.), GmbHG (2002), Syst. Darst. 6 Rdn. 90; Wiedemann, ZGR 2003, 283, 293f. 13 Näher unten II 2a und c. 14 Näher dazu und zu den Konzernverrechnungspreisen als Gegenstand interdiszipli-

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und Konzernrechts tritt hier das Internationale Steuerrecht auf den Plan; eine Musterregelung enthalten die OECD Transfer Pricing Guidelines for Multinational Enterprises.15 Demgegenüber harren die gesellschaftsrechtlichen Probleme der Konzernumlagen trotz einer einschlägigen BGH-Entscheidung 16 noch immer einer endgültigen Bewältigung.

II. Verdeckte Vermögenszuwendungen in der unabhängigen Aktiengesellschaft 1. Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben Art. 15 Abs. 1 der Kapitalrichtlinie errichtet einen doppelten Schutzkordon zugunsten des einmal aufgebrachten Kapitals: Nach lit. a) darf keine Ausschüttung an Aktionäre erfolgen, durch die das Nettoaktivvermögen, wie es der Jahresabschluss ausweist, den Betrag des gezeichneten Kapitals zuzüglich gesperrter Rücklagen unterschreiten würde. Nach lit. c) darf der Betrag einer Ausschüttung an Aktionäre zudem den Bilanzgewinn nicht überschreiten. Vor dem Hintergrund der deutschen Erfahrungen drängt sich die Frage auf, ob auch verdeckte Vermögenszuwendungen als unzulässige Ausschüttungen i.S.d. Art. 15 KapRL anzusehen sind. Sie hat in Deutschland zu einer lebhaften Diskussion geführt 17, während das Problembewusstsein anderwärts wenig ausgebildet ist 18 – ein Beleg für die dogmatische Graugansprägung jeder nationalen Juristenausbildung.

a) Meinungsstand Im deutschen Schrifttum stehen sich zwei gegenläufige Grundauffassungen gegenüber. Eine beachtliche Literaturmeinung lehnt die Erstreckung der Kapitalrichtlinie auf verdeckte Gewinnausschüttungen ab.19 Ihre Argumente lauten:

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närer Betrachtung Wiedemann/Fleischer, in: Lutter/Scheffler/Schneider (Hrsg.), Handbuch der Konzernfinanzierung (1998), § 29 Rdn. 1ff. Vgl. Organization for Economic Cooperation and Development (OECD), Transfer Pricing Guidelines for Multinational Enterprises and Tax Administrations (1995); außerdem BFH, BStBl. II 2004, S. 171; BMF-Schreiben vom 26. 2. 2004 – IV B 4 – S 1300 – 12/04, BStBl. I 2004, S. 270; ferner Kroppen (Hrsg.), Handbuch Internationale Verrechnungspreise (Loseblatt, Stand: 1997/2005); zuletzt Baumhoff, in: Festschrift Wassermeyer (2005), S. 347. Vgl. BGHZ 141, 79 – Steuerumlage in gewerbesteuerlicher Organschaft. Näher sogleich unter II 1 a. Ausführlich aber immerhin Werlauff, EC Company Law (1993), S. 175ff. unter der Überschrift „Disguised allocation“. Vgl. Bezzenberger (Fn. 4), S. 259 ff.; Koll-Möllenhoff, Das Prinzip des festen Grundkapitals im europäischen Gesellschaftsrecht (2005), S. 159f.; Reiner, Unter-

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(1.) Art. 15 Abs. 1 KapRL habe allein offene Gewinnausschüttungen vor Augen, weil er in lit. d) nur Dividenden und Zinsen als Ausschüttungsvarianten erwähne 20; (2.) ausländische Aktienrechte würdigten verdeckte Vermögenszuwendungen nicht unter dem Gesichtspunkt des festen Grundkapitals, sondern nur unter dem der Geschäftsleiterhaftung 21; (3.) eine teleologische Erweiterung des Art. 15 Abs. 1 KapRL über den Kernbereich offener Ausschüttungen hinaus laufe dem Erfordernis der Rechtsklarheit zuwider, das bei Richtlinien wegen ihres nationalen Umsetzungsauftrages besonderer Beachtung bedürfe 22; (4.) ebenso wie bei der Kapitalaufbringung (Stichwort: verdeckte Sacheinlage) sei es auch im spiegelbildlichen Fall der Kapitalerhaltung (Stichwort: verdeckte Gewinnausschüttung) unzulässig, einen typisierenden Umgehungsschutz in den Richtlinientext hineinzulesen.23 Die inzwischen überwiegende Gegenansicht 24 erwidert: (1.) Die Erläuterung des Ausschüttungsbegriffs in Art. 15 Abs. 1 lit. d) KapRL habe lediglich beispielhaften Charakter 25; (2.) das zentrale Anliegen der Richtlinie, im Gläubigerinteresse für eine Erhaltung des gebundenen Kapitals zu sorgen, gebiete zwingend eine Einbeziehung verdeckter Gewinnausschüttungen, die besonders gefährlich seien 26; (3.) der in Art. 42 KapRL verankerte Gleichbehandlungsgrundsatz verlange ebenfalls ein Verbot verdeckter Vermögenszuwendungen an einzelne Aktionäre.27

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nehmerisches Gesellschaftsinteresse und Fremdsteuerung (1995), S. 91f.; Ullrich (Fn. 2), S. 14ff.; wohl auch Schwarz, Europäisches Gesellschaftsrecht (2000), Rn. 596, der die deutschen Regeln aber für richtlinienkonform hält, weil Art. 15 Abs. 1 nur einen Mindeststandard vorgebe; ebenso Drinkuth, Die Kapitalrichtlinie – Mindest- oder Höchstnorm? (1998), S. 185 ff. Vgl. Koll-Möllenhoff (Fn. 19), S. 159; Reiner (Fn. 19), S. 92 und S. 121 mit Fn. 202. Vgl. Bezzenberger (Fn. 4), S. 259; Drinkuth (Fn. 19), S. 185; Koll-Möllenhoff (Fn. 19), S. 160. Vgl. Ullrich (Fn. 2), S. 15f. Vgl. Ullrich (Fn. 2), S. 14 f. unter Hinweis auf Generalanwalt Tesauro zu EuGH, Slg. 1992, I-4871, 4912 Tz. 21 – Meilicke. Vgl. Engert, in: Langenbucher (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts (2005), § 5 Rdn. 75; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2004), Rdn. 343; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2003, Rdn. 166; Mülbert, in: Festschrift Lutter (2000), S. 535, 545ff.; Mülbert/Birke, EBOR 3 (2002), 695, 705f.; Nienhaus, Kapitalschutz in der Aktiengesellschaft mit atypischer Zwecksetzung (2002), S. 118 ff.; Schön, in: Festschrift Kropff (1997), S. 285, 291ff.; Veil, WM 2003, 2169, 2171; Werlauff (Fn. 18), S. 175 ff. Vgl. Habersack (Fn. 24), Rdn. 166; Nienhaus (Fn. 24), S. 124f.; Schön (Fn. 24), S. 285, 292; Werlauff (Fn. 18), S. 176. Vgl. Engert (Fn. 24), § 5 Rdn. 75; Schön (Fn. 24), S. 285, 293; Veil, WM 2003, 2169, 2171. Vgl. Schön (Fn. 24), S. 285, 293; kritisch aber Mülbert (Fn. 24), S. 535, 546 unter Hinweis darauf, dass der Gleichheitssatz nicht die geschäftliche Zuwendung als

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b) Stellungnahme Die besseren Gründe sprechen für die zweite Auffassung. Zwar ist zuzugeben, dass Art. 15 Abs. 1 lit. d) KapRL nur Fälle offener Gewinnausschüttungen auflistet, doch zeigt das Wort „insbesondere“, dass diese Aufzählung nicht abschließend, sondern beispielhaft gemeint ist. Zudem wird die Wortlautgrenze nicht überschritten, wenn man auch verdeckte Vermögensabflüsse unter den Begriff der Ausschüttung fasst. Dass manche Mitgliedstaaten in ihren heimischen Aktienrechten einer restriktiveren Interpretation zuneigen, steht dem nicht entgegen, da im Rahmen des Art. 15 KapRL eine autonom-europäische Begriffsbildung anzustreben ist.28 Weil das hiesige Aktienrecht bei der Ausarbeitung der Kapitalrichtlinie Pate stand 29, könnte man sogar umgekehrt für einen Vorrang des weiter gehenden deutschen Begriffsverständnisses werben, wiewohl die Herkunft einer Rechtsfigur aus einem Mitgliedstaat nicht maßgebend für die Auslegung der Parallelfigur im Gemeinschaftsrecht ist.30 Als Zwischenergebnis lässt sich daher festhalten, dass Art. 15 Abs. 1 KapRL sehr wohl Auslegungsspielräume für die Erfassung verdeckter Gewinnausschüttungen eröffnet. Zum entscheidenden Auslegungskriterium für die tatbestandliche Reichweite der Kapitalrichtlinie wird damit ihr Sinn und Zweck, wie er in den vorangestellten Erwägungsgründen zum Ausdruck kommt.31 Ausweislich des vierten Erwägungsgrundes hat der Gemeinschaftsgesetzgeber die einschlägigen Vorschriften erlassen, „um das Kapital als Sicherheit für die Gläubiger zu erhalten“. Angesichts dieses grundkonzeptionellen Zusammenhangs zwischen Gläubigerschutz und Kapitalerhaltung, der schon im zweiten Erwägungsgrund anklingt, kann es schlechterdings nicht auf die Ausschüttungsform, sondern allein auf das missbilligte Ergebnis ankommen. Wer zusätzlich nach einer systematischen Stütze für diesen teleologisch zwingenden Befund sucht, mag auf Art. 19 KapRL verweisen, der mit dem entgeltlichen Erwerb eigener Aktien einen besonders wichtigen Fall der verdeckten Einlagenrückgewähr regelt und ihn ebenfalls kapitalschutzrechtlich umhegt.32

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solche, sondern nur ihre Ungleichmäßigkeit verbiete; ähnlich Bezzenberger (Fn. 4), S. 260 f. Allgemein dazu Grundmann (Fn. 24), Rdn. 103; Langenbucher, in: dies. (Fn. 24), § 1 Rdn. 5. Allgemein dazu Edwards, EC Company Law (1999), S. 51 f.; Grundmann (Fn. 24), Rdn. 314. Allgemein dazu Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 530; Lutter, JZ 1992, 593, 603. Zu den Erwägungsgründen das geflügelte Wort des ehemaligen EuGH-Richters Koopmanns: „There are only three things important for the Luxembourg Court while interpreting a Directive: the preambule, the preambule, the preambule.“, zitiert nach Schonewille, Intertax 1992, 13. Dazu auch Nienhaus (Fn. 24), S. 125 f.; Schön (Fn. 24), S. 285, 292f.

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2. Rechtsvergleichender Rundblick Die Behandlung verdeckter Vermögenszuwendungen an Aktionäre ist rechtsvergleichend gut erschlossen.33 Das mag es rechtfertigen, hier nur in gedrängter Form über den Rechtsstand in ausgewählten Nachbarrechtsordnungen zu berichten und vor allem neueste Entwicklungslinien hervorzuheben.

a) England Das englische Kapitalgesellschaftsrecht nimmt sich der Vermögensbindung in sec. 263 CA 1985 an, die nach Abs. 1 nur Gewinne zur Ausschüttung freigibt.34 Abs. 3 erläutert, dass damit allein realisierte Gewinne (realized profits) gemeint sind 35, und Abs. 2 ergänzt, dass der Begriff der Ausschüttung (distribution) jedwede Vermögensauskehrung an die Gesellschafter erfasst, sei es in bar oder in sonstiger Weise.36 Gesetzeswidrig erfolgte Ausschüttungen sind nach Maßgabe der sec. 277 (1) CA 1985 zurückzuzahlen.37 Ergänzt werden diese gesetzlichen Vorschriften durch die altehrwürdige common law-Regel in Flitcroft’s Case, wonach keine Dividende zu Lasten des Gesellschaftskapitals gezahlt werden darf.38 Sie besitzt gemäß sec. 281 CA 1985 nach wie vor Gültigkeit und wird von den Gerichten häufig zur Entscheidungsbegründung herangezogen.39 Unter distributions verstand man lange Zeit allein einseitige und unentgeltliche Vermögenszuwendungen an die Anteilseigner.40 Seit Beginn der achtziger Jahre haben die Gerichte aber verschiedentlich auch unausgewogene Austauschgeschäfte als unzulässige Ausschüttungen behandelt, wobei die Begründungen 33 Vgl. Bezzenberger (Fn. 4), S. 261ff.; Koll-Möllenhoff (Fn. 19), S. 162ff.; Nienhaus (Fn. 24), S. 23ff., 59 ff.; Ullrich (Fn. 2), S. 39 ff. 34 Vgl. Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 7th ed. (2003), S. 276. 35 Vgl. Gower/Davies (Fn. 34), S. 277. 36 Vgl. Mayson/French/Ryan, Company Law, 21st ed. (2004), S. 318f. 37 Vgl. Gower/Davies (Fn. 34), S. 286 ff.; Mayson/French/Ryan (Fn. 36), S. 322f. 38 Vgl. Re Exchange Banking Co., Flitcroft’s Case (1882) 21 Ch. D. 519, 533–534. 39 Eingehend Armour, in: Armour/Bennett (eds.), Vulnerable Transactions in Corporate Insolvency (2003), S. 281, 303ff. unter Rdn. 7.55ff.; knapper Gower/Davies (Fn. 34), S. 279. 40 Zusammenfassend Lord Hamilton in Clydebank Football Club Ltd. v. Steedman (2002) SLT 109, 124: “I now turn to the issue of whether there was a ‘distribution’ within the meaning of s 263; having regard to the composite nature of the transaction, the singular is, in my view, apt. ‘Distribution’ is not further defined than by s 263 (2) but it would appear that generally a distribution will be a transfer without consideration given by the recipient. The object of the statutory code is to prohibit the (gratuitous) return to shareholders, other than by specified means, of subscribed capital or assets representing the same.”; aus dem Schrifttum Armour (Fn. 39), S. 281, 296 unter Rdn. 7.38.

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variieren.41 Als Ausgangsentscheidung gilt Re Halt Garage aus dem Jahre 1982, die – wie die deutsche Parallelentscheidung BGHZ 111, 224 – überhöhte Dienstbezüge eines Gesellschafter-Geschäftsführers in einer geschlossenen Kapitalgesellschaft betraf: Die Beklagte hatte nach einer Erkrankung keine Arbeitsleistung mehr für die Gesellschaft erbracht, ihr Direktorengehalt aber weiter bezogen. Oliver J. urteilte, die erfolgten Zahlungen seien „so out of proportion to any possible value to her holding of office that the court is entitled to treat them as not being genuine payments of remuneration“ 42. In der Nachfolgeentscheidung Aveling Barford Ltd. v. Perion Ltd. ging es um einen Grundstücksverkauf zwischen der Gesellschaft und ihrem Mehrheitsgesellschafter, der für das Grundstück nur 25–50 % des Verkehrswertes bezahlt hatte. Hoffmann J. würdigte das Geschäft nicht als echten Kaufvertrag, sondern als „dressed-up distribution“, die gegen die Kapitalerhaltungsvorschriften verstieß.43 Ein drittes Urteil aus dem Jahre 2000, MacPherson v. European Strategic Bureau Ltd., nahm einen ähnlichen Rechtsstandpunkt ein: Diesmal ging es um nachträgliche Vergütungen für erbrachte Dienstleistungen der Direktoren, die ursprünglich unentgeltlich erfolgen sollten. Der Court of Appeal sah in den geflossenen Geldern eine unlawful distribution i.S.d. sec. 263 CA 1985.44 Im Zuge der anstehenden Gesellschaftsrechtsreform in England sollen die Kapitalerhaltungsvorschriften allerdings erheblich gelockert werden 45: Die im November 2005 in das parlamentarische Verfahren eingebrachte Company Law Reform Bill will in der neu gefassten sec. 135 Kapitalausschüttungen in einer private company allein auf der Grundlage einer Solvenzbestätigung der Geschäftsleiter zulassen.46 Eine weitere, für public und private companies gleichermaßen 41 Vgl. Doran, Transactions at an Undervalue and the Maintenance of Capital Principle, 12 Company Lawyer 169 (1991); ferner Armour (Fn. 39), S. 281, 296 unter Rdn. 7.38: “More difficult is the position where the company enters into a transaction with a shareholder that is not ex facie gratuitous – for example, a sale or a contract for services. Provided that the transaction is not a sham, then in most cases it will not be characterised as a ‘distribution’ because it is not with the member in his capacity as such. A solvent company is permitted to exercise its powers in any way the shareholders think fit, and this may include business transactions with persons who are amongst their number, even if the transaction is at an undervalue. Yet in cases of extreme undervalue, courts may recharacterise transactions between companies and their shareholders as unlawful distributions.” 42 Re Halt Garage (1964) Ltd. [1982] 3 All ER 1016, 1042. 43 Vgl. Aveling Barford Ltd. v. Perion Ltd. (1989) 5 BCC 677, 683. 44 Vgl. MacPherson v. European Strategic Bureau [2000] BCLC 683, 701–704. 45 Vorbereitend DTI, Modern Company Law for a Competitive Economy, Company Formation and Capital Maintenance (October 1999), Chapter 3; Capital Maintenance: Other Issues (June 2000), Rdn. 24 ff., 44 ff., 72ff. 46 Vgl. sec. 135 (Special resolution for reduction of share capital): “A private company limited by shares may reduce its share capital by special resolution if the resolution is supported by a solvency statement in accordance with section 135A.”; ergänzend

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geltende Neuerung sieht in sec. 275 A vor, dass ein Leistungsaustausch zwischen Gesellschaft und Gesellschafter nicht gegen die Kapitalerhaltungsvorschriften der sec. 263, 264 CA 1985 verstößt, wenn er zu Buchwerten erfolgt.47 Von Bedeutung ist dies vor allem bei konzerninternen Austauschbeziehungen (intra-group transactions), deren Beurteilung im Gefolge der Aveling Barford-Entscheidung für große Unruhe gesorgt hatte.48 Die allgemeinen Regeln über die Sorgfalts- und Treuepflichten der Direktoren sowie die wrongful trading-Vorschriften bleiben allerdings unberührt.49 b) Frankreich Im französischen Aktienrecht gilt der Grundsatz der Unverletzlichkeit des Kapitals (intangibilité du capital social) 50, der heute seinen Niederschlag in Art. L. 232-11 Abs. 3 C. com. gefunden hat. Danach darf außerhalb einer Kapitalherabsetzung keine Gewinnausschüttung an Aktionäre erfolgen, sofern dadurch das Nettoaktivvermögen unter den Betrag des Kapitals und der gesperrten Rücklagen herabsinken würde.51 Gesetzeswidrig erfolgte Ausschüttungen sind als sog. dividendes fictifs unwirksam und der Gesellschaft nach Maßgabe des Art. L. 232-17 C. com. zurückzuerstatten.52 Darüber hinaus stellt Art. L. 242-6 Nr. 1 C. com. die Ausschüttung fiktiver Dividenden durch Geschäftsleiter unter Strafe.53 Ungeachtet aller Gemeinsamkeiten in den Grundstellungen weicht das französische Recht allerdings in einem entscheidenden Einzelpunkt von deutschen Denkmustern ab: Rechtsprechung und Rechtslehre verstehen unter dem Schlüsselbegriff der distribution nur die offene Gewinnausschüttung an Ak-

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sec. 135A (Requirement for solvency statement), sec. 135 B (solvency statement), sec. 135C (registration of resolution and supporting documents). Vgl. sec. 275A (Distribution in kind arising on disposition of non-cash asset at an undervalue: determination of amount). Dazu Armour (Fn. 39), S. 281, 302 Rdn. 753 f.; Gower/Davies (Fn. 34), S. 280: „This decision caused considerable alarm in commercial circles about the legality of inter-group transfers of assets, which are, of course, a common occurrence as a result of the carrying on of business through groups of companies.“; ferner die Problembeschreibung bei DTI (Fn. 45), Capital Maintenance: Other Issues, Rdn. 32: “The result of Aveling Barford and the debate it has engendered have cast doubt on the validity of intra-group asset transfers conducted by reference to book value rather than by reference to market value. It is understood that such transactions are often carried out by reference to book value rather than to market value for a variety of business, administrative or tax reasons.” Vgl. Gower/Davies (Fn. 34), S. 280. Vgl. Cozian/Viandier/Deboissy, Droit des sociétés, 17° éd. (2004), n° 230. Vgl. Merle, Droit commercial: Sociétés commerciales, 9° éd. (2003), n° 546 und 550. Vgl. Merle (Fn. 51), n° 297; Ripert/Roblot/Germain, Droit Commercial, Tome 1 – Volume 2: Les sociétés commerciales, 18° éd. (2002), n° 1913. Vgl. Merle (Fn. 51), n° 297; Ripert/Robot/Germain (Fn. 52), n° 1911.

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tionäre, die durch Geldzahlung (dividende en numéraire) oder Leistung sonstiger Güter (dividende en nature) erfolgen kann.54 Vermögensverlagerungen unter dem Deckmantel unausgewogener Austauschgeschäfte werden nicht als Verstoß gegen die Kapitalerhaltungsvorschriften angesehen; die Figur der verdeckten Gewinnausschüttung hat im französischen Aktienrecht nie Fuß gefasst.55 Lediglich das Steuerrecht kennt im Code général des impôts den Begriff der distribution camouflée des dividendes und kann beispielsweise bei verdeckten Gewinnausschüttungen in Gestalt überhöhter Geschäftsführergehälter auf eine reichhaltige Spruchpraxis verweisen.56 An diesem aktienrechtlichen Negativbefund hat sich auch durch die Kapitalrichtlinie nichts geändert. Unmittelbar nach ihrem Inkrafttreten im Jahre 1976 hat sich ein Archivzeitschriftenbeitrag mit den Grundbegrifflichkeiten der Richtlinie auseinandergesetzt und die in Art. 15 KapRL verwendete Terminologie als Festschreibung französischer Traditionslinien interpretiert: „Ces dispositions, qui interdisent toute distribution de dividendes fictifs, présentent beaucoup de similitudes avec celles que connait notre droit des sociétés. Notamment, la notion de bénéfice distribuable est fondamentalement la même que celle qui est définie par l’article L. 346.“ 57 Die rechtsvergleichende Grunderfahrung lehrt indes, ein bestimmtes Sachproblem nicht nur durch die Brille der eigenen Rechtsordnung zu betrachten und eine entsprechende Regelung nicht allein an jenem systematischen Ort zu suchen, an dem man sie nach den Erfahrungen mit dem heimischen Recht erwartet. Wer diesen Ratschlag beherzigt, wird auch in Frankreich fündig: Dort versucht man, verdeckte Vermögensverlagerungen vor allem durch innergesellschaftliche Offenlegungs- und Verfahrensregeln zu verhindern. Sie gehen schon auf das Jahr 1867 zurück und bezogen sich lange Zeit allein auf Geschäfte zwischen der Gesellschaft und ihren Organmitgliedern.58 Seit einer Gesetzesreform von 2001 und einer weiteren Novelle von 2003 erstrecken sich die Offenlegungs- und Kontrollvorschriften aber auch auf Geschäfte mit Aktionären, die mehr als 10 % der Stimmanteile an der Gesellschaft besitzen.59 Gemäß Art. L. 225-38 C. com. muss 54 Vgl. Cozian/Viandier/Deboissy (Fn. 50), n° 670; Le Cannu, Droit des sociétés (2002), n° 1046. 55 Rechtsvergleichend Bezzenberger (Fn. 4), S. 269; Koll-Möllenhoff (Fn. 19), S. 163; Nienhaus (Fn. 24), S. 23; Reiner (Fn. 19), S. 91; Ullrich (Fn. 2), S. 27. 56 Rechtsprechungsüberblick bei Serlooten, JCP, éd. E, 2001, n° 3, p. 9; rechtsvergleichend Fleischer, DStR 2005, 1279, 1283. 57 Denecker, Rev. soc. 1977, 661, 669, n° 17. 58 Vgl. aus der Lehrbuchliteratur Cozian/Viandier/Deboissy (Fn. 50), n° 557ff., 562ff.; monographisch Balensi, Les conventions entre les sociétés commerciales et leurs dirigeants (1975); rechtsvergleichend Huffmann, Kontrolle schuldrechtlicher Austauschgeschäfte zwischen Gesellschaften und ihren Mitgliedern (1996), S. 5ff.; knapper Fleischer, WM 2003, 1045, 1053f. 59 Vgl. Cozian/Viandier/Deboissy (Fn. 50), n° 563; Merle (Fn. 51), n° 399; Viandier, Sociétés et Loi NRE (2001), n° 320 ff.

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der Verwaltungsrat derartigen Geschäften vorab zustimmen, sofern es sich nicht um laufende Geschäfte zu üblichen Bedingungen i. S. d. Art. L. 225-39 C. com. handelt. Sodann erstattet der Abschlussprüfer einen Bericht, auf dessen Grundlage die Hauptversammlung das Geschäft gemäß Art. L. 225-40 C. com. billigt. Die Rechtsfolgen eines Verstoßes hängen davon ab, auf welcher Stufe er erfolgt ist, und können hier nicht im Einzelnen erörtert werden.60 Zu diesem speziellen Kontrollverfahren treten in Frankreich seit jeher abschreckende Straf- und Haftungsvorschriften für Verwaltungsmitglieder. Das am meisten gefürchtete „Folterinstrument“ ist der Straftatbestand des abus de biens sociaux 61, der nach den großen Finanzskandalen der Dritten Republik im Jahre 1935 eingeführt worden war, um das Vermögen der Publikumsgesellschaften vor dem rechtswidrigen Zugriff ihrer Geschäftsleiter zu schützen. Er ist heute in Art. L. 242-6 C. com. geregelt und weiträumig genug angelegt, um Vermögensverschiebungen jedweder Form zu erfassen, verlangt aber einen Missbrauch des Gesellschaftsvermögens zu persönlichen Zwecken.62 Auch wenn man dieses Merkmal großzügig auszulegen pflegt 63, stellen verdeckte Gewinnausschüttungen an Aktionäre daher nicht den Hauptanwendungsfall des abus de biens sociaux dar. Allerdings trifft die strafrechtliche Verantwortlichkeit mitunter auch Mehrheitsgesellschafter, die sich zum faktischen Geschäftsleiter (dirigeant de fait) aufschwingen. Unabhängig von einer persönlichen Bereicherung erfüllen verdeckte Gewinnausschüttungen in aller Regel den Tatbestand der allgemeinen Geschäftsleiterhaftung nach Art. L. 225–251 C. com. Im Insolvenzfall kommt schließlich die berühmte action en comblement du passif zum Tragen 64, die jüngst in Art. L. 651-1 C. com. eine neue Heimstatt gefunden hat und durch die Loi de sauvegarde des entreprises vom 26. Juli 2005 65 um eine neue Klageart, die sog. obligation aux dettes sociales, ergänzt worden ist: Verdeckte Vermögenszuwendungen führen fast immer zu einer Verringerung der Haftungsmasse und verpflichten den verantwortlichen Geschäftsleiter bei einer Verurteilung zur „Auffüllung der Masse“.66

60 Näher Le Cannu (Fn. 54), n° 711–712. 61 Vgl. Merle (Fn. 51), n° 416: “L’abus de biens sociaux est aujourd’hui l’infraction la plus fréquemment poursuivie en droit des sociétés.” 62 Vgl. Cozian/Viandier/Deboissy (Fn. 50), n° 590; Ripert/Roblot/Germain (Fn. 52), n° 1757. 63 Vgl. Le Cannu (Fn. 54), n° 741: „La notion de ‘fins personnelles’ est elle aussi appréciée largement.“ 64 Vgl. Cozian/Viandier/Deboissy (Fn. 50), n° 274–275; Merle (Fn. 51), n° 413. 65 Für einen ausführlichen Überblick Corre, D. 2005, Supplement au n° 33: „Premiers regards sur la loi de sauvegarde des entreprises“; rechtsvergleichend Bauerreiss, ZGR 2006, Heft 3/4; Dammann, RIW 2006, Heft 1. 66 Für ein Beispiel Cass. com., Rev. soc. 1976, 499 m. Anm. Sortais: Erwerb eines Handelsgeschäfts durch die Gesellschaft zu einem überhöhten Preis.

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c) Österreich Das österreichische Aktienrecht folgt bei der Behandlung verdeckter Gewinnausschüttungen weithin den Spuren des deutschen Rechts: Nach § 52 S. 1 öAktG dürfen den Aktionären die Einlagen nicht zurückgewährt werden; die Aktionäre haben, solange die Gesellschaft besteht, nur Anspruch auf den Bilanzgewinn.67 Einer stehenden Formel des OGH zufolge fallen nicht nur offene Barzahlungen an die Gesellschafter unter das Verbot der Einlagenrückgewähr, sondern auch „im Gewand anderer Rechtsgeschäfte erfolgte verdeckte Leistungen“ 68. Zusammenfassend heißt es in einem höchstrichterlichen Richterspruch aus dem Jahre 2004: „Unzulässig ist jeder Vermögenstransfer von der Gesellschaft zum Gesellschafter in Vertragsform oder auf andere Weise, die den Gesellschafter auf Grund des Gesellschaftsverhältnisses zu Lasten des gemeinsamen Sondervermögens bevorteilt.“ 69 Eine jüngst erschienene Wiener Habilitationsschrift zu „Grundsatzfragen der Kapitalerhaltung“ aus der Feder von Johannes ReichRohrwig verfolgt die damit zusammenhängenden Einzelfragen bis in alle gesellschafts- und steuerrechtlichen Verästelungen.70 Eine eigene Färbung gewinnt das österreichische Aktienrecht allerdings bei der grundsätzlichen Frage nach der dogmatischen Ableitung der in Rede stehenden Rechtsfigur. Ernst Geßler hatte dazu in einem Festschriftenbeitrag für das deutsche Recht ausgeführt, dass bei der Schaffung der Vorgängervorschriften zu § 57 AktG 71 „sicher niemand“ an das Institut der verdeckten Gewinnausschüttung gedacht habe.72 Die österreichische Doktrin verweist demgegenüber auf einen versteckten gesetzlichen Anhaltspunkt: Nach § 55 öAktG, dem getreulichen Gegenstück zum deutschen § 61 AktG, darf für wiederkehrende Leistungen, zu denen Aktionäre nach der Satzung neben den Einlagen auf das Grundkapital verpflichtet sind, eine den Wert der Leistung nicht übersteigende Vergütung ohne Rücksicht darauf gezahlt werden, ob die Jahresbilanz einen Bilanzgewinn ergibt. In dieser Vorschrift erblickt die österreichische Lehre seit einem grundlegenden Beitrag von Arnold aus dem Jahre 1985 keine Sonder-

67 Dokumentation der Entwicklungsgeschichte dieser Vorschrift bei Kalss/Burger/ Eckert, Die Entwicklung des österreichischen Aktienrechts (2003), S. 584f. 68 OGH SZ 69/149 = JBl 1997, 108 m. Anm. Hügel; SZ 73/14; OGH GesRZ 2000, 89, 91 (GmbH); GesRZ 2004, 57, 58 (GmbH). 69 OGH GesRZ 2004, 57, 58 (GmbH). 70 Vgl. Reich-Rohrwig, Grundsatzfragen der Kapitalerhaltung bei AG, GmbH sowie GmbH & Co. KG (2004), S. 118 ff. 71 Für einen Überblick über die Entwicklungsgeschichte Riedel (Fn. 3), S. 64ff. 72 Vgl. Geßler, in: Festschrift Fischer (1979), S. 131, 134; s. aber schon den Hinweis bei Ballerstedt, Kapital, Gewinn und Ausschüttung bei Kapitalgesellschaften (1949), S. 132.

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bestimmung für Vergütungen von Nebenleistungen, sondern die deklaratorische Fixierung eines allgemein geltenden Grundsatzes.73

d) Schweiz Ein letzter Seitenblick gilt dem schweizerischen Aktienrecht, das zwar von der Kapitalrichtlinie nicht erfasst wird, aber mit einer ausdrücklichen Regelung der verdeckten Gewinnausschüttung aufwarten kann: Nach Art. 678 Abs. 1 OR sind Aktionäre und Mitglieder des Verwaltungsrates sowie diesen nahestehende Personen, die ungerechtfertigt und in bösem Glauben Dividenden, Tantiemen, andere Gewinnanteile oder Bauzinse bezogen haben, zur Rückerstattung verpflichtet. Art. 678 Abs. 2 OR erstreckt die Rückerstattungspflicht sodann auf andere Leistungen der Gesellschaft, soweit diese in einem offensichtlichen Missverhältnis zur Gegenleistung und zur wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft stehen.74 Bemerkenswert an dieser Regelung ist im Vergleich zum deutschen Recht viererlei: Erstens versteht sie das Verbot verdeckter Gewinnausschüttungen als ein einheitliches Rechtsinstitut, das sowohl für Anteilseigner als auch für Verwaltungsratsmitglieder gilt.75 § 57 Abs. 1 AktG richtet sich demgegenüber nur an 73 Vgl. Arnold, GesRZ 1985, 86, 90; Krejci, wbl 1993, 269, 271; zuletzt ReichRohrwig (Fn. 70), S. 119: „Der Wortlaut erfaßt zwar nur einen Teilbereich aller zwischen der KapGes und ihren Aktionären/Gesellschaftern denkbaren Austauschbeziehungen, nämlich nur statutarisch festgesetzte wiederkehrende Leistungen, nicht hingegen einmalige Leistungen, und außerdem nur solche auf gesellschaftsvertraglicher Grundlage. Allerdings wäre diese Vorschrift unverständlich und höchst inkonsequent, wenn die KapGes für andere Austauschbeziehungen überhöhte Vergütungen an ihre Aktionäre/Gesellschafter leisten dürfte. Man wird daher die erwähnten Vorschriften als verallgemeinerungsfähigen Ausdruck des Gesetzgebers ansehen müssen, den Gläubigern der KapGes das Gesellschaftsvermögen als Haftungsfonds zu erhalten.“ 74 Eingehend dazu Böckli, Schweizer Aktienrecht, 3. Aufl. (2004), § 12 Rdn. 553ff.; Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel, Schweizerisches Aktienrecht (1996), § 40 Rdn. 87 ff. und § 50 Rdn. 119ff.; Meier-Hayoz/Forstmoser, Schweizerisches Gesellschaftsrecht, 9. Aufl. (2004), § 16 Rdn. 59; in monographischer Breite T. Müller, Der Schutz der Aktiengesellschaft vor unzulässigen Kapitalentnahmen (1997), S. 87 ff. und passim; ferner Locher, in: Festschrift Bär (1998), S. 249, 250ff. auch zu steuerrechtlichen Fragen; zur Bilanzierung verdeckter Gewinnausschüttungen nach Art. 678 Abs. 2 OR Berger, AJP 2000, 1112. 75 Näher Spörri, Die aktienrechtliche Rückerstattungspflicht (1996), S. 24ff. Zwar sind die Mitglieder des Verwaltungsrates nach Art. 707 OR regelmäßig auch Aktionäre, doch soll ihre Erwähnung neben den Aktionären in Art. 678 Abs. 1 OR deutlich machen, dass die Rückerstattungspflicht auch Leistungen erfasst, die in der Eigenschaft als Verwaltungsratsmitglied und nicht als Aktionär erlangt wurden; dazu Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel (Fn. 74), § 50 Rdn. 115. Unabhängig davon sind

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Aktionäre; Organmitglieder haften nach Maßgabe der §§ 93, 116 AktG. Zweitens enthält die Regelung einen eingebauten Umgehungsschutz 76, indem sie die Rückerstattungspflicht auf die den Aktionären und Verwaltungsratsmitgliedern nahestehenden Personen erstreckt.77 Im Rahmen des § 57 AktG muss man hingegen auf eine Analogie zu § 89 Abs. 3 AktG und allgemeine Umgehungsgesichtspunkte zurückgreifen.78 Drittens berücksichtigt Art. 678 Abs. 2 OR die Bewertungsschwierigkeiten von Leistung und Gegenleistung bei Austauschgeschäften, indem er eine Rückerstattung nur bei einem „offensichtlichen“ Missverhältnis anordnet.79 Ausweislich der Gesetzesmaterialien soll diese Einschränkung eine „kleinliche Nachrechnerei“ vermeiden.80 Demgegenüber dürfte der Maßstab des § 57 AktG um einige Pegelstriche strenger ausfallen, auch wenn er ebenfalls gewisse Bandbreiten in der Bewertung billigt.81 Viertens verlangt Art. 678 Abs. 2 OR ein Missverhältnis nicht nur zur Gegenleistung, sondern auch zur wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft. Obwohl sich aus den Materialien ergibt, dass der Gesetzgeber beide Voraussetzungen bewusst kumulativ einfordern wollte 82, stellt die ganz herrschende Lehre heute ausschließlich auf die Gegenleistung ab und verwirft eine Beurteilung nach dem zusätzlichen Kriterium der wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft als sinnwidrig.83 Der Expertenbericht der Arbeitsgruppe

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die Tage der sog. Qualifikationsaktie für Verwaltungsratsmitglieder gezählt; der Bundesrat hat mit der Botschaft zur Revision des GmbH-Rechts die Abschaffung des obligatorischen Aktienbesitzes für Verwaltungsratsmitglieder beantragt; näher Böckli (Fn. 74), § 1 Rdn. 303. Dazu Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel (Fn. 74), § 50 Rdn. 115. Näher zur Kasuistik der „nahestehenden Person“ Forstmoser/Meier-Hayoz/ Nobel (Fn. 74), 115; Spörri (Fn. 75), S. 33ff. Vgl. Hüffer (Fn. 1), § 57 AktG Rdn. 14 f. Zu den Kriterien des „offensichtlichen Mißverhältnisses“ Spörri (Fn. 75), S. 171ff. Vgl. Botschaft 1983, 153, Ziff. 326: „Dieser doppelte und recht strenge Maßstab soll eine kleinliche Nachrechnerei verhindern und den Entscheid von Einzelfällen im weiten Grenzfeld erleichtern.“; dazu auch Locher (Fn. 74), S. 249, 254, der sich für eine „großzügige Toleranzmarge“ ausspricht, aber zugleich dem Vorschlag eine Absage erteilt, dass erst ab einer Differenz von 25 % zwischen Leistung und Gegenleistung ein Mißverhältnis offensichtlich sei; in diesem Sinne aber Neuhaus, Verdeckte Gewinnausschüttungen aus steuerlicher Sicht, in: Schriftenreihe der Treuhand-Kammer (1997), S. 13, 24; wieder anders Huguenin Jacobs, Das Gleichbehandlungsprinzip im Aktienrecht (1994), S. 276f., wonach die zivilrechtlichen Grundsätze zur Übervorteilung nach Art. 21 OR analog heranzuziehen seien. Vgl. BGHZ 111, 224, 227 (GmbH). Vgl. Botschaft 1983, 153, Ziff. 326. Vgl. etwa Böckli (Fn. 74), § 12 Rdn. 556: „Es ist nicht einzusehen, weshalb in einer Gesellschaft mit sehr gutem Verhältnis von Eigenkapital zu Schulden und rosiger Ertragslage die offensichtliche Begünstigung eines einzelnen Aktionärs oder einer kleinen Gruppe von Verwaltungsräten zu Lasten des Gesellschaftsvermögens rechtlich unbedenklich sein soll. So ausgelegt, wäre die Klausel der „wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft“ auch unvereinbar mit der im Gesetz verankerten Gleichbehand-

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„Corporate Governance“ zur Teilrevision des Aktienrechts hat dies neuerdings aufgegriffen 84 und eine Gesetzeskorrektur vorgeschlagen.85 Sieht man von dem letztgenannten Punkt ab, so erweist sich Art. 678 OR als ein gleichermaßen geräumiges und griffiges Regelungsvorbild für eine aktienrechtliche Kodifikation der verdeckten Gewinnausschüttung.

3. Rechtspolitische Empfehlungen Rechtspolitische Empfehlungen zielen gewöhnlich auf eine Veränderung der geltenden Vorschriften ab. Da verdeckte Gewinnausschüttungen nach der hier vertretenen Auffassung bereits vom Anwendungsbereich der Kapitalrichtlinie erfasst werden, erübrigen sich entsprechende Vorschläge. Erwägenswert ist allenfalls, den Gemeinschaftsgesetzgeber bei der anstehenden Reform der Kapitalrichtlinie zu einer ausdrücklichen Klarstellung in Art. 15 Abs. 1 lit. d) zu veranlassen. Sie ginge über die hierzulande in Mode gekommene „Merkzettelgesetzgebung“ hinaus, weil sie manche Mitgliedstaaten erstmals für die dort unter Kapitalschutzgesichtspunkten unbekannte oder unterbelichtete Problemstellung sensibilisieren würde. Gleichwohl erscheint mir gegenüber einem solchen Vorstoß aus verschiedenen Gründen Zurückhaltung angezeigt: Erstens muss man gewärtigen, dass punktuelle Ergänzungen der Richtlinie einen Rattenschwanz an Folgewünschen nach sich ziehen: Warum soll beispielsweise nur hinsichtlich der verdeckten Gewinnausschüttung, nicht aber hinsichtlich der verdeckten Sacheinlage 86 Rechtsklarheit geschaffen werden? Zweitens lädt die legislatorische Verstärkung des Umgehungsschutzes an einer Stelle andernorts zu unerwünschten Umkehrschlüssen ein: Wenn der Richtliniengeber verdeckte Gewinnausschüttungen mit einem ausformulierten Sondertatbestand bekämpft, desavouiert er dann nicht das sehr viel leistungsfähigere Konzept eines ungeschriebenen Umgehungsschutzes

lungsmaxime, der Pflicht des Verwaltungsrates, unter gleichen Voraussetzungen alle Aktionäre gleich zu behandeln.“; im Ergebnis ebenso Forstmoser/Meier-Hayoz/ Nobel (Fn. 74), § 50 Rdn. 121; Locher (Fn. 74), S. 249, 254f.; einschränkend auch Spörri (Fn. 75), S. 203 ff. 84 Vgl. Böckli/Huguenin/Dessemontet, Expertenbericht der Arbeitsgruppe „Corporate Governance“ zur Teilrevision des Aktienrechts (2004), S. 138f. 85 Vgl. Art. 678 Abs. 2 (neue Fassung): „Mitglieder des Verwaltungsrates oder der Geschäftsleitung sowie diesen nahe stehende Personen haben der Gesellschaft überdies alle Leistungen zurückzuerstatten, welche unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft in einem erheblichen Mißverhältnis zur Gegenleistung stehen.“ 86 Zum gemeinschaftsrechtlich weiterhin ungeklärten Schicksal der verdeckten Sacheinlage Generalanwalt Tesauro in EuGH, Slg. 1992, I/4897, 4912ff. – Meilicke.

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für sämtliche Vorschriften der Kapitalrichtlinie? 87 Drittens lassen sich bei einer Kodifizierung der verdeckten Gewinnausschüttung konzernrechtliche Grundsatzfragen kaum ausklammern: Sind unausgewogene Einzelgeschäfte in Unternehmensgruppen strikt untersagt oder dürfen sie im Rahmen einer kohärenten Gruppenpolitik durchgeführt werden, wenn ihre Nachteile in überschaubarer Zeit durch gruppenspezifische Vorteile ausgeglichen werden? 88

III. Verdeckte Vermögenszuwendungen in der abhängigen Aktiengesellschaft Wie verschiedentlich erwähnt, sind verdeckte Vermögenszuwendungen in der Rechtspraxis vor allem ein Problem verbundener Unternehmen. Die gemeinschaftsrechtliche Gretchenfrage lautet daher: Wie hältst du’s mit verdeckten Gewinnausschüttungen im Konzern?

1. Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben a) Meinungsstand Die konzernrechtliche Dimension der Kapitalrichtlinie ist bislang nur vereinzelt und nahezu ausschließlich von deutscher Seite angesprochen worden. Dabei zeichnen sich zwei diametral entgegengesetzte Grundpositionen ab. Eine in jüngerer Zeit entwickelte Literaturmeinung lehnt Bereichsausnahmen für verbundene Unternehmen rundheraus ab und stellt die aktienkonzernrechtlichen Regelungen des deutschen Rechts auf den Prüfstand der Kapitalrichtlinie.89 Sie gelangt dabei zu grundstürzenden Schlussfolgerungen: So sollen etwa die §§ 311ff. AktG in ihrer gängigen Auslegung gemeinschaftsrechtswidrig sein 90, und manche Stimmen verneinen zudem die Vereinbarkeit von § 291 Abs. 3 AktG mit Art. 15 KapRL.91 Es liegt auf der Linie dieses Begründungsansatzes, gesetzliche oder richterrechtliche Konzernprivilegien auch in anderen Mitgliedstaaten in Zweifel zu ziehen. So wäre etwa das berühmte Rozenblum-Konzept der fran87 Vgl. zum Gedanken, dass einer jeden Vorschrift der Kapitalrichtlinie schon aus Gründen des effet utile ein Umgehungsschutz immanent sei, Habersack (Fn. 24), Rdn. 163; allgemein zur Umgehungslehre im Gemeinschaftsrecht Fleischer, JZ 2003, 865, 870. 88 Für die zweite Lösung Forum Europaeum Konzernrecht, ZGR 1998, 672, 704ff. im Anschluss an das französische Rozenblum-Konzept. 89 Vgl. Schön (Fn. 24), S. 285, 289 ff.; Werlauff (Fn. 18), S. 178. 90 Vgl. Schön (Fn. 24), S. 285, 294 f., 300. 91 Vgl. Meilicke, DB 2001, 2385f.; abw. Schön (Fn. 24), S. 285, 298f. unter Berufung auf den Charakter des Unternehmensvertrages als Organisationsvertrag.

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zösischen Rechtsprechung 92, das unter bestimmten Voraussetzungen Maßnahmen zum vermögensmäßigen Nachteil einzelner Tochtergesellschaften zulässt, mit einem strikt verstandenen Ausschüttungsverbot des Art. 15 KapRL unvereinbar.93 Die herrschende Gegenansicht wappnet sich gegen diesen Generalangriff auf nationale Konzernrechtsbastionen mit verschiedenen Mitteln. Eine weit vorgeschobene Vorfeldverteidigung geht dahin, der Kapitalrichtlinie jeden konzernrechtlichen Regelungsgehalt abzusprechen: Art. 15 Abs. 1 KapRL, so heißt es, betreffe nur die konzernfreie Einzelgesellschaft und sei auf konzernrechtliche Tatbestände nicht zugeschnitten.94 Der innere Verteidigungsring schirmt die Besonderheiten des deutschen Konzernrechts ab: Die §§ 311ff. AktG kollidierten nicht mit dem gemeinschaftsrechtlich geforderten Kapitalschutz, weil an die Stelle des allgemeinen Rückgewähranspruchs aus § 62 AktG (gemeinschaftsrechtlich: Art. 16 KapRL) die Verpflichtung zum Nachteilsausgleich trete.95

b) Stellungnahme Eine eigene Stellungnahme darf sich – abseits aller Einzelfragen – auf die grundsätzliche Vereinbarkeit eines nationalen Konzernprivilegs mit der Kapitalrichtlinie konzentrieren. Zur Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Regelungsspielräume kommen zwei Ansatzpunkte in Betracht: Man kann sich entweder um den Nachweis bemühen, dass die Kapitalrichtlinie konzernrechtliche Fragen von vornherein ausgespart hat, oder aber ihre spätere Öffnung für nationale Konzernregeln reklamieren, nachdem alle Harmonisierungsanstrengungen der Gemeinschaft auf diesem Gebiet gescheitert sind. Der zweite Weg ist sachlich und methodisch schwieriger. Auch wenn es zum europarechtlichen Gemeingut gehört, dass die Verabschiedung einer 9. Richtlinie ad calendas Graecas vertagt ist 96 – Embid Irujo spricht anschaulich von „legis-

92 Vgl. Cass. crim., 4. 2. 1985, J.C.P., éd. E, 1985, II, 14614 m. Anm. Jeandidier; aus der Lehrbuchliteratur Cozian/Viandier/Deboissy (Fn. 50), n° 1339. 93 Vgl. Mülbert (Fn. 24), S. 535, 554f.; Schön, RabelsZ 64 (2000), 1, 23f. 94 Vgl. mit Unterschieden im einzelnen Engert (Fn. 24), § 5 Rdn. 79; Schwarz (Fn. 19), Rdn. 596 mit Fn. 653; Veil, WM 2003, 2169, 2171; tendenziell auch Grundmann (Fn. 24), Rdn. 343 und Habersack, ZGR 2003, 724, 733, die es beide als „fraglich“ bezeichnen, ob die Kapitalrichtlinie die konzernierte AG überhaupt erfasst. 95 Vgl. Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 4. Aufl. 2005, § 311 AktG Rdn. 82; KölnKommAktG/Koppensteiner, 3. Aufl. 2004, vor § 311 Rdn. 7; Nienhaus (Fn. 24), S. 28ff.; Veil, WM 2003, 2169, 2171; Wimmer-Leonhardt, Konzernhaftungsrecht (2003), S. 132 f. 96 Vgl. Grundmann (Fn. 24), Rdn. 978 f.; Habersack (Fn. 24), Rdn. 59.

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Holger Fleischer

lativen Dauerferien“ 97 –, so fehlt es doch an einer ausdrücklichen Verlautbarung, die den Einzugsbereich der Kapitalrichtlinie nachträglich zurückschneidet und einmal eingenommenes Gemeinschaftsterritorium für die Mitgliedstaaten wieder freigibt. Einen solchen Vorbehalt zugunsten nationaler Sonderregeln, wie ihn Art. 2 Abs. 2 der Einpersonen-Gesellschaft-Richtlinie 98 ausdrücklich vorsieht, stillschweigend in den Richtlinientext hineinzulesen, lässt sich mit den anerkannten Grundsätzen zum – partiellen – Außerkrafttreten von Rechtsnormen nur schwerlich vereinbaren. Auch die SE-Verordnung hilft hier nicht weiter: Nach ihrem 15. Erwägungsgrund fällt zwar das Konzernrecht nicht in den Regelungsbereich der Verordnung 99, doch gelten für das Kapital der SE und seine Erhaltung gemäß Art. 5 die hergebrachten Regeln zur Finanzverfassung der nationalen Aktiengesellschaft 100, die auf der Kapitalrichtlinie aufbauen. Tragfähiger erscheint der erste Begründungsansatz, dass die Kapitalrichtlinie von Anfang an eine ungeschriebene Bereichsausnahme zugunsten des nationalen Konzernrechts vorsah. Immerhin wurde die am 13. 12. 1976 verabschiedete Kapitalrichtlinie parallel zu dem Vorhaben einer Konzernrechtsrichtlinie vorbereitet 101: Den Vorentwürfen einer solchen Richtlinie lag das Modell einer organischen Konzernverfassung zugrunde, das konzerninterne Vermögensverlagerungen aufgrund einheitlicher Leitung in Kauf nahm.102 Das muss bei einer historischen und genetischen Auslegung der Kapitalrichtlinie Berücksichtigung finden und ist vom Europäischen Gerichtshof bei der Abgleichung zweier Richtlinien(entwürfe) in anderem Zusammenhang auch schon einmal akzeptiert worden.103 Folgt man dem, so bestehen nach wie vor mitgliedstaatliche Regelungsspielräume für nationale Konzernprivilegien.

2. Rechtspolitische Empfehlungen Es ist eine rechtspolitische Klugheitsregel, eine schwierige Hauptsache nicht ohne Not mit Zusatzfragen zu befrachten (es sei denn, man will die Angelegenheit zu Fall bringen). Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, über das unge97 Vgl. Irujo, in: Esteban/Velasco (Hrsg.), El gobierno de las sociedades cotizadas (1999), S. 595. 98 Vgl. Richtlinie 89/667/EWG vom 21. 12. 1989, ABl. Nr. L 395/40 vom 30. 12. 1989. 99 Näher Habersack, ZGR 2003, 724, 731ff.; Veil, WM 2003, 2169, 2171. 100 Dazu Fleischer, in: Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), Die Europäische Gesellschaft (2005), S. 169 ff. 101 Darauf verweisend auch Grundmann (Fn. 24), Rdn. 343; Habersack, ZGR 2003, 724, 733; Schwarz (Fn. 19), Rdn. 596 mit Fn. 653. 102 Abdruck des zweiteiligen Vorentwurfs bei Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, 2. Aufl. (1984), S. 187 ff. 103 Vgl. EuGH, Slg. 1997, I-7211 Tz. 24 – Rabobank, wo der Vorschlag einer Fünften Richtlinie zur Auslegung der Ersten Richtlinie herangezogen wurde.

Verdeckte Gewinnausschüttung und Kapitalschutz

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klärte Konkurrenzverhältnis von Kapitalschutz und Konzernrecht auf Gemeinschaftsebene vorläufig Stillschweigen zu bewahren, zumal alle anderen Mitgliedstaaten insoweit noch kein Problembewusstsein entwickelt haben. Auf Dauer lässt sich ein einmal aufgedecktes Problem freilich nicht dadurch lösen, dass man es wieder zudeckt.

Die Rechtspflichten der Geschäftsleiter in der Krise der Gesellschaft sowie damit verbundene Rechtsfolgen im Rechtsvergleich

von Professorin Susanne Kalss, Forschungsassistent Nikolaus Adensamer und Forschungsassistentin Janine Oelkers, Wien *

Inhaltsübersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Länderberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Europäische Vorgaben . . . . . . . . . . . . Erhebliche Verluste des Nennkapitals . . . Verantwortung für Verschleppungsschäden B. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebliche Verluste des Nennkapitals . . . Verantwortung für Verschleppungsschäden C. Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebliche Verluste des Nennkapitals . . . Verantwortung für Verschleppungsschäden D. Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebliche Verluste des Nennkapitals . . . Verantwortung für Verschleppungsschäden E. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebliche Verluste des Nennkapitals . . . Verantwortung für Verschleppungsschäden F. Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebliche Verluste des Nennkapitals . . . Verantwortung für Verschleppungsschäden G. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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* Susanne Kalss ist Univ.-Prof. an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie Leiterin des START-Projekts des Fonds für wissenschaftliche Forschung „Organisation und Vermögensordnung im Recht der Kapitalgesellschaften“. Nikolaus Adensamer und Janine Oelkers sind Forschungsassistenten und Mitarbeiter des START-Projekts. S. auch www.start-law.at.

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Die Rechtspflichten der Geschäftsleiter in der Krise

Erhebliche Verluste des Nennkapitals . . . Verantwortung für Verschleppungsschäden H. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebliche Verluste des Nennkapitals . . . Verantwortung für Verschleppungsschäden I. Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebliche Verluste des Nennkapitals . . . Verantwortung für Verschleppungsschäden J. Norwegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebliche Verluste des Nennkapitals . . . Verantwortung für Verschleppungsschäden K. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebliche Verluste des Nennkapitals . . . Verantwortung für Verschleppungsschäden L. Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebliche Verluste des Nennkapitals . . . Verantwortung für Verschleppungsschäden M. Slowenien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebliche Verluste des Nennkapitals . . . Verantwortung für Verschleppungsschäden N. Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebliche Verluste des Nennkapitals . . . Verantwortung für Verschleppungsschäden III. Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . A. Erhebliche Verluste . . . . . . . . . . . . . B. Insolvenzverschleppung . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Insolvenzbezogenes Gläubigerschutzrecht hat sicherzustellen, dass mit der Sanierung eines angeschlagenen Unternehmens, wie auch mit einer allenfalls erforderlich werdenden Liquidation, rechtzeitig, somit vor Eintritt der Überschuldung, begonnen wird.1 Um dieser Zielsetzung gerecht zu werden, unterwirft der Gesetzgeber die Geschäftsleiter krisenverfangener Gesellschaften einem breiten Spektrum einschlägiger Bestimmungen, die ein frühes Ergreifen der notwendigen Maßnahmen fördern sollen. Die beiden Regelungsinstitute, die im Zentrum dieses Beitrags stehen, tragen dieser allgemeinen Zielsetzung auf unterschiedliche 1 Zöllner, Konkurrenz für inländische Kapitalgesellschaften durch ausländische Rechtsträger, insbesondere durch die englische Private Limited Company, GmbHR 2006, 1; Zöllner, Vortrag 2. Deutscher Insolvenzrechtstag (11. 03. 2005).

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Weise Rechnung. Während die Regelung über die erheblichen Verluste den Fokus der Gesellschafter auf die Ergreifung sanierender Maßnahmen lenkt, hat die Insolvenzverschleppungshaftung direkt den möglichen Forderungsausfall der Gläubiger im Blick. Eine Verbindung beider Konzepte zeigen die romanischen und skandinavischen Rechtsordnungen sowie Slowenien.

II. Länderberichte Auf der Grundlage eines breit angelegten Ländervergleichs sollen die wesentlichen Grundlinien der Geschäftsleiterpflichten bei erheblichen Verlusten herausgearbeitet und dabei dargelegt werden, dass die einzelnen Länder bzw. Rechtskreise sehr unterschiedliche Konzepte verfolgen. Während zum Teil schlichte Informationspflichten ausreichen, verlangen andere Rechtsordnungen bereits in einem frühen Stadium prononciertes Vorstandshandeln, das mit teils scharfen Sanktionen bewehrt wird. In unterschiedlicher Weise wird auch der Umstand aufgegriffen, dass Gläubiger durch zu spätes Handeln der Geschäftsleiter im Fall der Insolvenz Schaden erleiden; die Insolvenzverschleppungshaftung wird verschiedenartig angeknüpft. Im Folgenden werden zunächst die beiden maßgeblichen Fragenkreise im europäischen Recht verortet, ehe ihre Grundzüge in dreizehn europäischen Rechtsordnungen, nämlich in Deutschland, Belgien, Dänemark, England, Frankreich, Finnland, Italien, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, Slowenien und Spanien, dargestellt werden und schließlich dieses Panorama als Grundlage für die Formulierung zusammenfassender Thesen genutzt wird.

A. Europäische Vorgaben Erhebliche Verluste des Nennkapitals Im Rahmen der Angleichung der mitgliedstaatlichen Vorschriften zur Erhaltung des Kapitals der Aktiengesellschaft stellt die zweite gesellschaftsrechtliche Richtlinie 2 auch Verhaltensvorgaben bei erheblichen Verlusten des Nennkapitals auf.3 Art. 17 der Kapital-RL verpflichtet die Mitgliedstaaten, im Aktienrecht eine 2 Zweite Richtlinie des Rates vom 13. Dezember 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (77/91/EWK), Abl. Nr. L 26/1 vom 31. 01. 1977. 3 Allgemein z. B. Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl., Rdn. 135.

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Einberufungs- und Informationspflicht des Verwaltungsorgans gegenüber der Hauptversammlung vorzusehen, die bei qualifizierten Verlusten des Nennkapitals greift. Die Norm zielt auf eine frühe Alarmierung der Anteilseigner, welche in einer sich abzeichnenden Krise Gelegenheit erhalten sollen, über das weitere Schicksal der Gesellschaft zu beschließen. Konkrete Maßnahmen gibt die Richtlinie nicht vor, insbesondere sind keine Sanktionen für den Fall der Untätigkeit des Vorstands vorgesehen.4 Die Mitgliedstaaten bestimmen die Höhe des als schwer zu erachtenden Verlusts wie auch die Frist, innerhalb der die Hauptversammlung einzuberufen ist. Die Harmonisierung beschränkt sich auf die Aktiengesellschaft, für die GmbH fehlt auf europäischer Ebene eine entsprechende Bestimmung.

Verantwortung für Verschleppungsschäden Auch die Insolvenzverschleppungshaftung hat seit Frühjahr 2003 ihren festen Platz auf der europäischen Agenda. In ihrem Aktionsplan vom 21. 05. 2003 5 hat die Kommission als allgemeine Maßnahme zur Stärkung der Verantwortlichkeit der Direktoren die Ausarbeitung einer europäischen Regelung zur Konkursverschleppungshaftung ausdrücklich empfohlen und unter die mittelfristig zu verwirklichenden Maßnahmen eingereiht.6 Sie folgt damit dem Vorschlag der Winter-Gruppe (High Level Group) 7, welche die Einführung einer europäischen Rahmenbestimmung zur Insolvenzverschleppungshaftung angeregt hatte.8 Die Winter-Gruppe konnte sich dabei auf Vorarbeiten stützen, die bereits 1998 – im Rahmen einer Untersuchung zum europäischen Konzernrecht – von einer Gruppe vornehmlich deutscher Rechtsexperten geleistet worden waren.9 Inhaltlich war beabsichtigt, die Rahmenbestimmung an die angelsächsischen Regeln zum wrongful trading anzulehnen. Sie sollte wie diese bereits im Vorfeld der Zahlungsunfähigkeit greifen, wenn absehbar ist, dass das Unternehmen nicht mehr in der Lage sein wird, seine Verbindlichkeiten zu begleichen.10 Die Ansiede-

4 Kritisch Lutter, Die Zukunft des Gesellschaftsrechts, EuR 1975, 44 (57f.). 5 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäische Union – Aktionsplan KOM(2003) 284 endg. 6 Aktionsplan 29. 7 „Bericht der Hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über moderne gesellschaftsrechtliche Rahmenbedingungen in Europa“ (Winterbericht II) 73f. 8 Winter-Bericht 73f. 9 Forum Europaeum Konzernrecht, Konzernrecht für Europa, ZGR 1998, 672 (752ff.). 10 Winter-Bericht 74.

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lung von Verhaltenspflichten bereits vor der Zahlungsunfähigkeit würde den Forderungsausfall der Gläubiger deutlich minimieren und zugleich die Chance auf eine frühe und erfolgreiche Sanierung wahren.11 Zusätzlich sollten neben den tatsächlich bestellten auch die faktischen Geschäftsleiter in den Kreis der verantwortlichen Personen mit einbezogen werden.12 In der Literatur wurde das Vorhaben positiv aufgenommen,13 das ins Auge gefasste Regelungsvorbild (wrongful trading) aber kritisch hinterfragt. Angesichts der restriktiven Spruchpraxis der englischen Gerichte – welche den haftungsrelevanten Zeitpunkt vielfach erst nach der Zahlungsunfähigkeit ansiedeln –, wäre eine Vorverlagerung des haftungsrelevanten Zeitpunktes in das Vorfeld der Insolvenz unwahrscheinlich.14 Die jüngsten Einschätzungen über den Fortgang dieser Regelungsvorhaben sind daher auch zurückhaltend.15

B. Deutschland Erhebliche Verluste des Nennkapitals § 92 Abs 1 AktG und § 49 Abs 3 GmbHG verpflichten den Vorstand bzw. die Geschäftsführer, bei Verlust des halben Nennkapitals unverzüglich die Hauptbzw. Gesellschafterversammlung einzuberufen.16 Die Einberufungspflicht dient der Information der Gesellschafter. Diese sollen über außergewöhnliche Verluste respektive eine allfällige Krise der Gesellschaft frühzeitig in Kenntnis gesetzt werden, um die Chance zu einem rechtzeitigen Gegensteuern zu erhalten.17 Ein darüber hinausgehendes Schutzinteresse namentlich zugunsten der Gesellschaftsgläubiger verfolgt die Regelung nicht; 18 sie ist daher nach vereinzelter Auffassung durch die Satzung gestaltbar.19 Der tatbestandliche Verlust ist unter Ansatz der 11 Forum Europaeum Konzernrecht, ZGR 1998, 672 (752f.). 12 Winter-Bericht 73 f.; so schon Forum Europaeum Konzernrecht, Konzernrecht für Europa, ZGR 1998, 672 (752ff.). 13 Vgl. Fleischer, Erweiterte Außenhaftung der Organmitglieder im Europäischen Gesellschaft- und Kapitalmarktrecht – Insolvenzverschleppung, fehlerhafte Kapitalmarktinformation, Tätigkeitsverbote, ZGR 2004, 437 (455f.). 14 S. nur Bachner, Wrongful Trading – A New European Model for Creditor Protection, EBOR 5 (2004), 293 (300 ff.); Habersack/Verse, Wrongful Trading – Grundlage einer europäischen Insolvenzverschleppungshaftung? ZHR 168 (2004), 174 (183ff.). 15 Fleischer, ZGR 2004, 437 (462); Maul, Verantwortlichkeit der Organmitglieder – Entwicklungen aus europäischer Sicht, WM 2004, 2146 (2149). 16 Vgl. ausführlich Adensamer/Oelkers/Zechner, Unternehmenssanierung zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht (2006, in Druck). 17 GroßKommAktG/Habersack, 4. Aufl., § 92 Rdn. 2. 18 Koppensteiner in Rowedder, GmbHG, 4. Aufl., § 49 Rdn. 15. 19 Koppensteiner in Rowedder, GmbHG § 49 Rdn. 15; anders aber Hüffer in Hachen-

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Buchwerte zu ermitteln; stille Reserven bleiben grundsätzlich unberücksichtigt.20 Bei der GmbH ergeben sich zusätzliche Einschränkungen aus dem Wortlaut des § 49 Abs. 3 GmbHG. Danach lassen sich nur jene Verluste unter den Tatbestand einordnen, die sich aus einer Jahres- oder Zwischenbilanz ergeben. Geschäftsführer, die den Verdacht hegen, dass die Hälfte des Stammkapitals verloren ist, müssen jedenfalls eine Zwischenbilanz aufstellen.21 Insgesamt ist jedoch kein sachlicher Unterschied zur aktienrechtlichen Regelung anzunehmen.22 Bei schuldhafter Verletzung der Einberufungs- und Anzeigepflicht greift die allgemeine Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft (§§ 43 GmbHG, 93 Abs. 2 AG).23 Die Mitglieder von Vorstand und Geschäftsführer haften dieser gegenüber, soweit der Gesellschaft ein (von ihr zu beweisender) Schaden entstanden ist. Gesellschaftsgläubiger sind hingegen nicht in den Schutzbereich miteinbezogen. Namentlich handelt es sich bei der Verpflichtung um kein Schutzgesetz iSv § 823 Abs. 2 BGB.24 Die Nichteinhaltung der genannten Informationspflicht ist aber strafrechtlich sanktioniert (§§ 84 GmbHG, 401 AktG); ihre schuldhafte Verletzung ist – abhängig vom Verschuldensgrad – mit Geld- oder Freiheitsstrafen zwischen einem und drei Jahren bedroht.25 Aus der Strafsanktion kann nach verbreiteter Auffassung zusätzlich eine zivilrechtliche Verantwortlichkeit (§ 823 Abs. 2 BGB) der Geschäftsleiter gegenüber Gesellschaft und Gesellschaftern abgeleitet werden.26

Verantwortung für Verschleppungsschäden Die Insolvenzverschleppungshaftung deutscher Prägung ist an die schuldhafte Verletzung der Insolvenzantragspflicht (§ 64 Abs. 1 GmbHG, § 92 Abs. 2 AktG) geknüpft und als deliktische Haftung wegen Schutzgesetzverletzung (§ 823 Abs. 2 BGB) konzipiert.

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burg, GmbHG, 8. Aufl., § 49 Rdn. 31; Römermann in Michalski, GmbHG § 49 Rdn. 143f. Hüffer in Hachenburg, GmbHG § 49 Rdn. 23, 26; K. Schmidt in Scholz, GmbHG, 9. Aufl., § 49 Rdn. 22; GroßKommAktG/Habersack § 92 Rdn. 18. Koppensteiner in Rowedder, GmbHG § 49 Rdn. 10. Hüffer in Hachenburg, GmbHG Rdn. 23; Koppensteiner in Rowedder, GmbHG, § 49 Rdn. 10. Koppensteiner in Rowedder, GmbHG § 49 Rdn. 15; GroßKommAktG/Habersack § 92 Rdn. 26. GroßKommAktG/Habersack § 92 Rdn. 26; Hüffer, AktG, 6. Aufl., § 92 Rdn. 15. Vgl. allg. Dannecker in Michalski, GmbHG § 84; Kohlmann in Hachenburg, GmbHG § 84. Kohlmann in Hachenburg, GmbHG § 84 Rdn. 4; Dannecker in Michalski, GmbHG § 84 Rdn. 11.

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§ 64 Abs. 1 GmbHG und § 92 Abs. 2 AktG verpflichten Geschäftsführung bzw. Vorstand, mit Eintritt materieller Insolvenz (Überschuldung, Zahlungsunfähigkeit) ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber innerhalb von drei Wochen, die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens bei Gericht zu beantragen.27 Die wortgleichen Bestimmungen sind direkt im Aktien- bzw. GmbH-Recht verortet und zielen damit – anders als ihre Parallelbestimmung in der österreichischen KO (§ 69 KO) – von vornherein ausschließlich auf Rechtsträger, die kraft Rechtsform nur mit einem beschränkten Vermögen haften.28 Normadressaten der Insolvenzantragspflicht sind Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder und zwar jeder bzw. jedes von ihnen persönlich.29 Dies entspricht ihrer korrespondierenden Berechtigung zur Stellung des Insolvenzantrags (§ 15 InsO). Die Behandlung der faktischen Geschäftsleiter 30, die ohne wirksam bestellt zu sein, die Geschäfte der Gesellschaft führen, ist umstritten: Jedenfalls unterliegen fehlerhaft bestellte Geschäftsleiter der Antragspflicht nach § 64 Abs. 1 GmbHG bzw. § 92 Abs. 2 AktG; 31 überwiegend wird dies auch für die rein faktischen Geschäftsleiter angenommen.32 Die Antragspflicht greift mit Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) bzw. Überschuldung (§ 19 InsO) der Gesellschaft; darüber hinaus steht es dem Gemeinschuldner frei, mit Eintritt drohender Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) einen Insolvenzantrag zu stellen.33 Nach der in § 17 InsO enthaltenen Legaldefinition gilt ein Schuldner als zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, seine fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen; 34 wobei die bloße Zahlungsunwilligkeit nicht vom Tatbestand des § 17 InsO erfasst ist.35 Bei Kapitalgesellschaften tritt die Überschuldung als alternativer Konkursgrund hinzu. Dahinter steht die Vorstellung, 27 Vgl. die einschlägigen Kommentierungen von Ulmer in Hachenburg, GmbHG § 64; Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 64; K. Schmidt in Scholz, GmbHG § 64; Roth/Altmeppen, GmbHG § 64; sowie für das Aktienrecht GroßKommAktG/Habersack § 92. 28 Eine Auflistung der betroffenen Rechtsträger bietet MünchKommInsO/Schmahl § 15 Rdn. 66. 29 Ulmer in Hachenburg, GmbHG § 64 Rdn. 7; Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG § 64 Rdn. 1. 30 Zur Antragsberechtigung s. K. Schmidt in Scholz, GmbHG § 64 Rdn. 7; Lutter/ Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG § 64 Rdn. 26. 31 Ulmer in Hachenburg, GmbHG § 64 Rdn. 12; K Schmidt in Scholz, GmbHG § 64 Rdn. 7; GroßKommAktG/Habersack § 92 Rdn. 32; ausführlich Stein, Die Normadressaten der §§ 64, 84 GmbHG und die Verantwortlichkeit von Nichtgeschäftsführern wegen Konkursverschleppung, ZHR 148 (1984) 207 (221ff.). 32 K. Schmidt in Scholz II § 64 Rdn. 7; kritisch GroßKommAktG/Habersack § 92 Rn. 33. 33 Lutter/Hommelhoff, GmbHG § 64 Rdn. 5. 34 Vgl. MünchKommInsO/Eilenberger § 17. 35 Zur Abgrenzung von Zahlungsstockung und Zahlungsunfähigkeit s. Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG § 64 Rdn. 7.

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dass Kapitalgesellschaften der durch persönlich haftende Gesellschafter vermittelte Haftungsrückhalt fehlt. Ihre Tätigkeit ist daher zu beenden, wenn das Vermögen die Schulden nicht mehr zu decken vermag; eine Fortführung des Unternehmens würde diesfalls auf Kosten der Gläubiger erfolgen.36 Der Gesetzgeber (§ 19 InsO) geht von einem zweistufigen Überschuldungsbegriff aus, der neben der Aufstellung eines Überschuldungsstatus auch eine Prognoseentscheidung über die zukünftige Lebensfähigkeit des Unternehmens umfasst (§ 19 Abs. 2 InsO). Die Fortführungsprognose bildet dabei kein eigenständiges Element, sondern entscheidet lediglich über die Bewertung zu Fortführungs- oder Liquidationswerten. Bei überwiegend wahrscheinlicher Fortführung der Gesellschaft sind dem Überschuldungsstatus going concern-Werte zugrunde zu legen.37 Andernfalls erfolgt die Gegenüberstellung von Vermögen und Schulden unter der Annahme der Liquidation.38 Die Antragspflicht ist haftungsrechtlich abgesichert. Neben die zivilrechtliche Schadenersatzpflicht (Insolvenzverschleppungshaftung) tritt im Fall ihrer Verletzung auch eine strafrechtliche Sanktion (§ 84 Abs. 1 GmbHG, § 401 Abs. 1 Z 2 AktG). Der zivilrechtliche Schutz umfasst grundsätzlich sämtliche durch die verspätete Antragstellung geschädigte Gläubiger, wobei das Ausmaß des verursachten Schadens vom Zeitpunkt des rechtsgeschäftlichen Kontakts mit der insolventen Gesellschaft abhängt. Der ersatzfähige Schaden jener Gläubigergruppe (Altgläubiger), die ihre Forderungen bereits vor Eintritt der Insolvenzreife erworben hat, ist auf jenen Betrag beschränkt, um den sich die Konkursquote, die sie bei rechtzeitiger Konkursanmeldung erhalten hätten, durch Verzögerung der Antragstellung verringert (Quotenschaden).39 Demgegenüber können Gläubiger, die erst nach Eintritt der Insolvenz mit der Gesellschaft kontrahiert haben, den Ersatz ihres Vertrauensschadens verlangen.40 Während des Insolvenzverfahrens obliegt die Geltendmachung der Quotenschäden ausschließlich dem Insolvenzverwalter (§ 92 InsO). Allein Neugläubiger können den erlittenen Schaden nach ständiger Rechtsprechung des BGH selbständig einfordern.41

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Lutter/Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG § 64 Rdn. 10. Vgl. MünchKommInsO/Drukarczyk/Schüler § 19 Rdn. 110ff. S. MünchKommInsO/Drukarczyk/Schüler § 19 Rdn. 91ff. BGHZ 126, 181 (190); BGHZ 29, 100 (102ff.). BGHZ 126, 181 (190ff.). BGHZ 138, 211; zustimmend MünchKommInsO/Brandes § 92 Rdn. 34.

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C. Belgien Erhebliche Verluste des Nennkapitals Die maßgeblichen Rechtsgrundlagen bilden die Art. 633f. des Gesellschaftsgesetzbuches (Code des Sociétés/Wetboek van vennootschappen 2001) für die Aktiengesellschaft (Société anonyme [SA]) und Art. 332f. Code des Sociétés/ Wetboek van vennootschappen für die GmbH (Société privée à responsabilité limitée [SPRL]): Die Geschäftsführung ist verpflichtet, binnen einer Frist von zwei Monaten ab Feststellung eines Verlusts von mehr als der Hälfte des Nennkapitals die Gesellschafterversammlung einzuberufen. Die gleiche Vorgangsweise ist einzuhalten, wenn das Reinvermögen infolge eines Verlusts unter ein Viertel des Nennkapitals sinkt. Schließlich sieht Art. 634 Code des Sociétés als weitere Grenze das Herabsinken des Reinvermögens unter das gesetzliche Mindestkapital in Höhe von 61.500 € vor.42 Der Gesellschafterversammlung ist seitens der Geschäftsleitung ein Bericht vorzulegen, welcher die Auflösung der Gesellschaft oder eine Maßnahme zur Sanierung der Finanzlage empfiehlt; 43 die Versammlung ist jedoch nicht gehalten, dem Vorschlag des Leitungsorgans zu folgen. Befürwortet sie die Auflösung der Gesellschaft, ist der entsprechende Beschluss im Falle des Hälfteverlusts mit qualifizierter Mehrheit zu fassen; reduziert sich das Gesellschaftsvermögen hingegen auf einen geringeren Betrag als ein Viertel des Nennkapitals, lässt der Gesetzgeber ein Quorum von 25 % der abgegeben Stimmen genügen.44 Sinkt das Reinvermögen gar unter das Mindestkapital iHv 61.500 €, setzt die Auflösung überhaupt keinen Hauptversammlungsbeschluss mehr voraus; vielmehr kann jeder Interessent diese gerichtlich beantragen. Das Gericht hat sodann noch immer die Möglichkeit, der Gesellschaft eine Frist einzuräumen, eine Sanierung durch entsprechende Kapitalerhöhung oder sonstige Eigenkapitalzufuhr zu versuchen. Unterlässt die Geschäftsführung die Einberufung der Hauptversammlung, haftet sie gegenüber Dritten.45 Die Gesellschaft selbst hat aufgrund allgemeiner Sorgfaltspflichten der Geschäftsführer einen Haftungsanspruch.

42 Art. 439 Code des sociétés. In der Satzung kann die Schwelle der als relevant zu erachtenden Verluste strenger definiert werden, sodass bereits bei einem Verlust von weniger als der Hälfte des Nennkapitals die genannten Rechtsfolgen einzuhalten sind. 43 Jeder Aktionär hat das Recht auf eine kostenlose Kopie der Tagesordnung und des Berichts; bei Vorliegen der Voraussetzungen kann er zudem die Übermittlung des Berichts verlangen. Liegt kein Bericht vor, zieht dies die Nichtigkeit eines dennoch getroffenen Hauptversammlungsbeschlusses nach sich. 44 Art. 633 Abs. 4 Code des sociétés. 45 Dabei wird widerlegbar vermutet, dass der von Dritten erlittene Schaden eine Folge der Nichteinberufung ist.

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Auf die GmbH findet generell die gleiche Regelung Anwendung. Allein die dritte maßgebliche Schwelle liegt – da das gesetzliche Mindestkapital der GmbH deutlich niedriger ist – nicht bei einem Nominalbetrag von 61.500 €, sondern bei lediglich 6.200 €.

Verantwortung für Verschleppungsschäden Belgien leitet die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Geschäftsleiter für Verschleppungsschäden analog zu Frankreich aus der action en comblement du passif ab.46 Die Bestimmung findet auf Aktiengesellschaften und große GmbHs Anwendung; die Jahresumsatzschwelle liegt bei 620.000 €.47 Die Verschleppungshaftung belgischer Prägung weicht in Details jedoch vom französischen Vorbild ab: 48 So führen nur qualifizierte, schwerwiegende Fehler (faute grave et characterisée) zur Haftung (Art. 530 Code de sociétés). Zudem wurde die Monopolstellung des Masseverwalters aufgehoben, nunmehr können auch einzelne Gläubiger mit der action en comblement gegen die Geschäftsleiter vorgehen.

D. Dänemark Erhebliche Verluste des Nennkapitals Das dänische Recht differenziert hinsichtlich des Ausmaßes des Verlusts zwischen dem Aktien- und dem GmbH-Recht. Während § 52 des GmbH-Gesetzes (Anpartsselskabsloven) eine Handlungspflicht des Verwaltungsrats (bestyrelse) 49 bereits bei einem 40-prozentigen Verlust des Grundkapitals normiert, lässt § 69a des Aktiengesetzes (Aktieselskabsloven) entsprechende Pflichten erst bei einem 50-prozentigen Verlust greifen.50 Der Verwaltungsrat hat innerhalb von sechs Monaten die Abhaltung einer Hauptversammlung (anpartshaverne) zu veran-

46 Die maßgebliche Bestimmung ist der Art. 530 Code de sociétés; s. Habersack, ZHR 168 (2004), 174 (202). 47 Art. 265 Code des sociétés. 48 Art. 530 wurde mit Gesetz vom 8. September 2002 novelliert und am 1. Oktober 2002 in Kraft gesetzt. 49 Bzw. falls ein solcher bei der GmbH nicht eingerichtet ist, die Geschäftsführung (direktion). 50 S. dazu Werlauff, Rekonstruktion – Selskabers kapitaltab og genopretning i retlig belysning (1992) 10ff. Zudem besteht die laufende Pflicht des Verwaltungsrats, zu bewerten, ob das Gesellschaftskapital im Hinblick auf die Größe des Geschäftsbetriebes angemessen ist, vgl. § 54 Abs. 3 Aktieselskabsloven.

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lassen.51 Die weiteren Reaktionsschritte variieren je nach der Rechtsform der Gesellschaft. Bei der GmbH haben die Gesellschafter nach einer Stellungnahme des Verwaltungsrats zu geeigneten Sanierungsmaßnahmen die Liquidation der Gesellschaft oder die Berichtigung des Gesellschaftskapitals zu beschließen. Die Berichtigung kann in Form einer (i) Kapitalherabsetzung bis zum gesetzlichen Mindestkapital; 52 einer (ii) Kapitalerhöhung oder in Form eines (iii) reinen Gesellschafterzuschusses ohne Einfluss auf das Nennkapital erfolgen. Anders als in Schweden und in Finnland gibt das dänische GmbH-Gesetz keine absolute Sanierungsfrist vor. Allerdings kann das Gewerbe- und Gesellschaftsamt (Erhvervs- og selskabsstyrelsen) eine solche setzen.53 Zudem kann der Verwaltungsrat 54 bei Untätigkeit einen Antrag auf Zwangsliquidation stellen. In der dänischen Aktiengesellschaft kommt der Hauptversammlung nach einer Beratung durch den Verwaltungsrat 55 hingegen keine Beschlusspflicht zu. Auch ist der Verwaltungsrat weder zur Beantragung der Zwangsliquidation noch des Konkurses verpflichtet.56

Verantwortung für Verschleppungsschäden Auch nach dänischem Recht werden Verschleppungsschäden durch die Regeln über die Kapitalerhaltung aufgefangen, deren Verletzung eine schadenersatzrechtliche Verantwortlichkeit der Geschäftsleiter nach sich zieht.57 Daneben sieht

51 § 52 Anpartsselskabsloven sowie § 69 a Aktieselskabsloven. Die vorgeschaltete Erstellung einer Kontrollbilanz zur Bestätigung des Verdachts über den Kapitalverlust nach finnischem und schwedischem Muster sieht das dänische ebenso wenig wie das norwegische Gesetz vor; um die erlittenen Verluste feststellen zu können, wird die Erstellung einer Bilanz jedoch wohl zwangsläufig erfolgen. 52 Das Mindestkapital der anpartsselskab beträgt gemäß § 1 Abs. 3 Anpartsselskabsloven 125.000 DKK (ca 17.000 €), das einer aktieselskab 500.000 DKK, (ca 55.000 €), s. § 1 Abs. 3 Aktieselskabsloven. Wird dieses durch den Verlust unterschritten, hat der Verwaltungsrat eine Kapitalerhöhung bis zu diesem Betrag sicherzustellen. 53 § 52 Abs. 2 Anpartsselskabsloven. 54 Bzw. subsidiär das Gewerbe- und Gesellschaftsamt. 55 § 69 a Aktieselskabsloven. 56 E contrario § 17 Abs. 1 Konkursloven (dänisches Konkursgesetz). Konkursantragsberechtigt sind neben dem Schuldner seine Gläubiger, s. § 17 Abs. 1 Konkursloven. Der Konkurs kann beantragt werden, sobald der Schuldner insolvent ist, also wenn er seine Verpflichtungen bei Fälligkeit nicht erfüllen kann und diese Zahlungsunfähigkeit nicht nur vorübergehend ist, s. § 17 Abs. 2 Konkursloven sowie Jørgensen, Dänemark, in Jahn/Sahm, Insolvenzen in Europa, 4. Aufl. 2004, 50. 57 Es kommen die allgemeinen schadenersatzrechtlichen Bestimmungen des Aktiengesetzes (§§ 140–145 Aktieselskabsloven) bzw. des Schadenersatzgesetzes [Erstatningsansvarsloven (EAL); das GmbH-Gesetz enthält seit der Gesetzesnovelle 1996 keine Bestimmungen über die Haftung, das EAL führt aber zu gleichen Ergebnissen] zur

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die dänische Lehre 58 breite Aufklärungspflichten der Geschäftsleitung vor; 59 wonach diese verpflichtet ist, potentielle Vertragspartner über ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aufzuklären. Bei Verletzung dieser Aufklärungspflichten haften die Organmitglieder nach den Regeln über die culpa in contrahendo. Die dänische Judikatur ist dem gefolgt und hat die allgemeinen Regeln der culpa in contrahendo für die Haftung der Geschäftsleiter aufgegriffen.60

E. England Erhebliche Verluste des Nennkapitals In Umsetzung der sekundärrechtlichen Vorgaben (Art. 17 Kapital-RL) normiert auch das englische Recht Verhaltenspflichten bei erheblichen Verlusten des Nennkapitals.61 Die dafür maßgebliche Rechtsgrundlage enthält Section 142 Companies Act 1985.62 Die Regelung umfasst ausschließlich die offene Gesellschaft, für die private limited company fehlt eine entsprechende Bestimmung. Section 142 verpflichtet die Direktoren einer public limited company eine außerordentliche Gesellschafterversammlung einzuberufen, soweit die Aktiven

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Anwendung. Demnach haftet ein Leitungsmitglied gegenüber der Gesellschaft für bei der Ausübung seiner Tätigkeit fahrlässig oder vorsätzlich zugefügte Schäden. Die Haftung gegenüber Dritten setzt voraus, dass eine zumindest fahrlässige Verletzung des Aktien- bzw. GmbH-Gesetzes oder der Satzung vorliegt (Handelt es sich dabei um einen bloßen Reflexschaden, so ist grundsätzlich nur die Gesellschaft zur Geltendmachung berechtigt.). So kann etwa die Geschäftsleitung einer dänischem GmbH bei Unterlassung der Hauptversammlungseinberufung oder der Beantragung der Gesellschaftsauflösung schadenersatzpflichtig gemacht werden. Obwohl der Verwaltungsrat einer Aktiengesellschaft keiner Liquidationspflicht unterliegt, kann das Weiterführen einer insolventen Gesellschaft dennoch Schadenersatzansprüche und zwar wegen Verletzung der allgemeinen Sorgfaltspflicht auslösen (Hansen, Nordic Company Law (2003) 175f.; Gomard, Aktieselskaber & anpartsselskaber, 4. Aufl. 2000, 372). So auch die Rechtsprechung, siehe UfR 1940 s. 563, UfR 1961 s. 515 sowie UfR 1985 s. 1029. Dotevall, Skadeståndsanavar för styrelseledamot och verkställande direktör (1989) 517, 520. Siehe UfR 1940 s. 563, UfR 1961 s. 515 sowie UfR 1985 s. 1029. Dine, Company Law, 2001 Rdn. 6-034. “(1) Where the net assets of a public company are half or less of its called-up share capital, the directors shall, not later than 28 days from the earliest day on which the fact is known to a director of the company, duly convene an extraordinary general meeting of the company for a date not later than 56 days from that day for the purpose of considering whether any, and if so what, steps should be taken to deal with the situation”.

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der Gesellschaft unter die Hälfte des eingezahlten Gesellschaftskapitals fallen.63 Die Verlusthöhe ist unter Beachtung der Buchwerte zu ermitteln. Section 142 (1) kennt zwei Einberufungsfristen: 64 Zunächst eine Frist von 28 Tagen ab Kenntnis der Verluste, binnen derer die Gesellschafterversammlung einzuberufen ist; zusätzlich eine Frist für das tatsächliche Zusammentreten der Versammlung, welches binnen 56 Tagen gerechnet ab dem Tag der Kenntnis des Kapitalverlusts zu erfolgen hat. Außerhalb der Einberufung der Versammlung normiert das Gesetz keine weiteren Vorgaben des Vorstands oder der Gesellschafterversammlung.65 Dieser soll allein die Möglichkeit gegeben werden, über die finanzielle Situation der Gesellschaft zu beraten.

Verantwortung für Verschleppungsschäden Das funktionale Gegenstück zur Insolvenzverschleppungshaftung bildet in England das Regelungsinstitut des wrongful trading (Section 214 Insolvency Act), das in vergleichbarer Weise an eine schuldhafte Fortführung krisenverfangener Gesellschaft anknüpft.66 Die Bestimmung lautet wörtlich wie folgt: (2) This subsection applies in relation to a person if – (a) the company has gone into insolvent liquidation, (b) at some time before the commencement of the winding up of the company, that person knew or ought to have concluded that there was no reasonable prospect that the company would avoid going into insolvent liquidation, and (c) that person was a director of the company at that time; […]. Das englische Recht kennt damit kein zur deutschen oder österreichischen Regelung dogmatisch vergleichbares Regelungsinstitut, das die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Geschäftsleiter aus einer schuldhaften Verletzung der Insolvenzantragspflicht ableitet. Die Haftung der Direktoren nach den Grundsätzen des wrongful trading folgt vielmehr aus dem Umstand, dass der Geschäftsleiter bereits zu einem Zeitpunkt vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens (winding up) erkannt hat, zumindest aber erkennen hätte müssen, dass keine vernünftige Aussicht auf Abwendung der insolvenzbedingten Liquidation mehr bestand.67 Das Gesetz selbst enthält keine Anhaltspunkte wann der sog moment of truth – an dem „no reasonable prospect of avoiding insolvency“ iSv Section 214

63 Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 7. Aufl., 230; Pennington, Company Law, 8. Aufl., 751 f. 64 Pennington, Company Law 751 f. 65 Gower/Davies, Principles of Modern Company Law 230. 66 S. Lembeck in Kalss, Vorstandshaftung 399, 444 ff. 67 Vgl. Habersack/Verse, ZHR 169 (2004), 183f.; Bachner, EBOR 5 (2004), 293 (300f.).

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Insolvency Act mehr besteht – eintreten soll, seine Eingrenzung im Einzelfall bereitet daher beträchtliche Schwierigkeiten. Die subjektiven Anforderungen, die von der englischen Spruchpraxis an das Verhalten der Geschäftsleiter gelegt werden, sind wenig restriktiv. So wird der haftungsrelevante Zeitpunkt vergleichsweise spät und in einigen Entscheidungen überhaupt erst nach Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens 68 angesetzt.69 Der Adressatenkreis für die Verantwortlichkeit nach den Regeln des wrongful trading umfasst neben den tatsächlich bestellten Geschäftsleitern auch Personen, die nach außen für die Gesellschaft auftreten (de facto directors) sowie jene, die sich ausschließlich auf interne Einflussnahme beschränken (shadow directors). Nach dem Gesetzeswortlaut steht der Umfang der Haftung im Ermessen des Gerichts (sec 214 [1] IA 1986); wobei die Praxis in der Regel von jenem Betrag ausgeht, um den sich das Gesellschaftsvermögen dadurch verringert hat, dass die Geschäftsleiter nicht schon im moment of truth Insolvenz angemeldet haben.70 Die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Geschäftsleiter wird ausschließlich vom liquidator – das entspricht etwa dem Insolvenz- oder Masseverwalter – geltend gemacht.71 Die Gläubiger selbst können keine Ansprüche erheben, unabhängig davon, wann ihre Forderungen begründet wurden (ob vor oder nach dem moment of truth). F. Finnland Erhebliche Verluste des Nennkapitals Wie Schweden besitzt Finnland nur eine einzige Kapitalgesellschaftsform – die Aktiengesellschaft (osakeyhtiö [OY]). Seit September 1997 untergliedert sich diese in zwei Typen, in die private (yksityinen osakeyhtiö) 72 sowie in die öffentliche AG (julkinen osakeyhtiö) 73. 68 Habersack/Verse, ZHR 168 (2004), 174 (184 ff.); Bachner, EBOR 5 (2004), 293 (303ff.). 69 Die Zahlungsunfähigkeit bildet in Spruchpraxis englischer Gerichte einen wichtigen Anhaltspunkt für das Erreichen des maßgeblichen Zeitpunktes; dem Eintritt der Überschuldung wird hingegen kaum Bedeutung beigemessen; s. Bachner, EBOR 5 (2004), 293 (303); Habersack/Verse, ZHR 168 (2004), 174 (185). 70 Was in etwa dem Quotenschaden entspricht; s. Habersack/Verse, ZHR 168 (2004), 174 (197). 71 Habersack/Verse, ZHR 168 (2004), 174 (195f.). 72 Das Grundkapital einer Privat-OY muss mindestens 8.000 € betragen; vgl. 1. Kapitel § 1 3. Absatz OYL; vgl. Miettinen, Anteilsübertragung und Geschlossenheit der finnischen privaten Aktiengesellschaft in Kalss, Die Übertragung von GmbH-Geschäftsanteilen (2003) 205 f. 73 Die Zweite Gesellschaftsrechtliche Richtlinie des Rates vom 13. 12. 1976 (77/91/ EWG) findet nur auf die Publikums-OY Anwendung. Das Grundkapital einer

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Die maßgeblichen Rechtsgrundlagen des finnischen Aktiengesetzes (Osakeyhtiölaki [OYL]), welches grundsätzlich auf beide Formen der Aktiengesellschaft Anwendung findet, sind die §§ 2 sowie 2a des 13. Kapitels OYL: Wird dem Verwaltungsrat (hallitus) im Rahmen der Errichtung des Jahresabschlusses ersichtlich, dass das Eigenkapital weniger als die Hälfte des registrierten Grundkapitals beträgt,74 oder hat er sonst Grund zur Annahme, dass der maßgebliche Verlust eingetreten ist, hat er ohne Verzug eine Zwischenbilanz zu erstellen.75 Maßgeblich sind grundsätzlich die Buchwerte. Ließe sich jedoch bei einer Veräußerung ein höherer Erlös erzielen, ist die Differenz dem Eigenkapital als zusätzlicher Posten hinzuzuzählen.76 Bestätigt die Bilanz den Verdacht des Kapitalverlusts, hat der Verwaltungsrat eine Prüfung durch die Revisoren zu veranlassen und die Hauptversammlung (yhtiökokous) einzuberufen, die über die Gesellschaftsauflösung beschließt.77 Die Gesellschaft ist aufzulösen,78 wenn das Eigenkapital nicht innerhalb eines Jahres nach Abhaltung der Hauptversammlung auf die Hälfte des Grundkapitals aufgestockt wird. Beschließt die Hauptversammlung dennoch nicht die Liquidation der Gesellschaft, ist diese gerichtlich zu beantragen.79 Derzeit wird das finnische Aktienrecht einer Überarbeitung unterzogen, welche auch den Pflichtenkatalog bei erheblichem Verlust des Gesellschaftskapitals einbezieht.80 Die Pflicht des Verwaltungsrats, die Auflösung der Gesellschaft zu

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Publikums-OY muss mindestens 80.000 € betragen; vgl. 1 Kapitel § 1 3. Absatz OYL. Den Verwaltungsrat trifft die Verpflichtung, die Entwicklung des Eigenkapitals ständig zu verfolgen. Hat er aufgrund dieser Pflicht Grund zur Annahme, dass ein entsprechender Verlust eintrat, hat er ebenso die oben beschriebene Vorgangsweise einzuhalten. 13. Kapitel § 2 erster Absatz OYL. Vgl. Airaksinen, Förslag till en ny aktiebolagslag i Finland, Nordisk Tidskrift før Selskabsret 01/2004, 62ff.; ausf. zudem Adensamer/Oelkers/Zechner, Unternehmenssanierung zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht (2006, in Druck). 13. Kapitel § 2 Absatz 3 OYL. Im Entwurf zum neuen finnischen Aktiengesetz wurde diese Bewertungsmöglichkeit gestrichen. Die Einberufung hat in jedem Fall innerhalb von zwei Monaten zu erfolgen; vgl. 13. Kapitel § 2 Abs. 3 OYL. Es kommt nur dann zu keiner Auflösung, wenn die Gesellschaft einer Sanierung unterzogen wird, beziehungsweise wenn diese bereits beantragt wurde und die Einleitung des Sanierungsverfahrens in der Folge auch gerichtlich beschlossen wird. Vom Verwaltungsrat als Gesamtheit, von den Prüfern oder von einer Aktionärsminderheit von zehn Prozent. Im Kontrast zu Schweden ist nicht das einzelne Verwaltungsratsmitglied oder der geschäftsführende Direktor antragsberechtigt, vgl. 13. Kapitel § 2 Abs. 2 zweiter bzw. letzter Satz OYL sowie Toiviainen, About the duties of the directors of an insolvent company, Nordisk Tidskrift før Selskabsret 03/2001, 274. 20. Kapitel § 25 des Entwurfs zum neuen finnischen Aktiengesetz. Für eine

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beantragen, soll entfallen. Nimmt der Verwaltungsrat künftig ein Kapitaldefizit wahr, ist er nur mehr verpflichtet, die oben beschriebenen Schritte zu setzen.81 Bei völligem Kapitalverlust hat der Verwaltungsrat die Registerbehörde umgehend in Kenntnis zu setzen.82 Der Rückbau des Maßnahmenkatalogs zum Kapitalverlust wird mit dessen mangelnder Praktikabilität begründet: Die derzeitige Rechtslage verpflichte so gut wie jede neu gegründete Gesellschaft unabhängig von einem Liquiditätsengpass zur Aufstockung ihres Eigenkapitals bzw. zur Auflösung. Zudem soll die Reform der überschießenden Praxis des Obersten Gerichtshofs, die Geschäftsleiter für Gesellschaftsverbindlichkeiten persönlich zur Haftung heranzuziehen, entgegentreten.83 Die Gesetzesänderung wird voraussichtlich noch 2006 in Kraft treten. Verantwortung für Verschleppungsschäden Anders als das schwedische Recht normiert das finnische Aktiengesetz keine speziellen haftungsrechtlichen Folgen eines Kapitalverlusts.84 Stattdessen kommen die allgemeinen aktienrechtlichen Schadenersatzbestimmungen zur Anwendung.85 Bei Verletzung des Aktiengesetzes oder der Satzung haften die Mitglieder des Verwaltungsrats sowie der geschäftsführende Direktor persönlich gegenüber Dritten, sofern es sich nicht um bloße Reflexschäden handelt.86 Somit können die Organmitglieder verantwortlich gemacht werden, wenn (i) die Zwischenbilanz nicht errichtet und geprüft, (ii) die Hauptversammlung nicht einberufen oder (iii) die Zwangsliquidation nicht beantragt wird.

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Zusammenfassung der geplanten Änderungen in englischer Sprache s. www.om.fi /uploads/fi3usm2zbtbik.pdf. Es steht der Hauptversammlung frei, Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation zu beschließen. 20. Kapitel § 25 Abs. 1 des Entwurfs zum neuen finnischen Aktiengesetz. Airaksinen, Förslag till en ny aktiebolagslag i Finland, NTS 2004:1, 62 (69). Dennoch legt der finnische OGH den Leitungsmitgliedern oft eine persönliche Haftung für alle Gesellschaftsverbindlichkeiten, die seit Unterlassung der gebotenen Handlung entstanden sind, auf, vgl. KKO:1986-II-130, KKO:1990:177, KKO:1991:55. Eine solche Sanktion sieht das finnische Recht jedoch im Gegensatz zum schwedischen Recht nicht vor, es sind vielmehr die aktienrechtlichen Haftungsregeln anwendbar. Die Praxis des OGH ist daher zu hinterfragen. Geregelt in Kapitel 15. OYL; vgl. SOU 1999:36, 71. Handelt es sich jedoch um einen Reflexschaden, haften die Leitungsmitglieder nur nach innen gegenüber der Gesellschaft. Nach § 7 des 22. Kapitels des Entwurfs zum neuen finnischen Aktiengesetz ist der einzelne Gesellschafter berechtigt, auch einen solchen Schaden geltend zu machen, wenn die Gesellschaft ihren Anspruch aller Voraussicht nach nicht verfolgen wird. Es käme also in diesem Fall ebenfalls zu einer Außenhaftung der Geschäftsleiter.

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Der Entwurf zum neuen finnischen Aktiengesetz schafft die Pflicht zur Beantragung der Zwangsliquidation ab. Der Verwaltungsrat kann jedoch nach wie vor wegen Nichterrichtung der Zwischenbilanz oder wegen unterlassener Abhaltung der Hauptversammlung verantwortlich gemacht werden. Das finnische Konkursgesetz normiert zwar keine ausdrückliche Konkursantragspflicht des Schuldners, die Verpflichtung der Geschäftsleiter, bei Vorliegen der Insolvenz einen Antrag auf Eröffnung des Konkurses zu stellen, wird jedoch nach hA von der allgemeinen Sorgfaltspflicht umfasst. Das Weiterführen einer insolventen Gesellschaft löst damit regelmäßig Schadenersatzansprüche aus.87 Zudem sanktioniert das finnische Strafgesetzbuch verschiedene Missbräuche eines Schuldners, etwa die Herbeiführung der Insolvenz sowie ihre Ausweitung durch grundloses Vermehren der Verbindlichkeiten.88 Dies ist relevant, da die Verwirklichung eines strafrechtlichen Tatbestandes zugleich zu einer zivilrechtlichen Haftung – auch bei reinen Vermögensschäden – führt.89

G. Frankreich Erhebliche Verluste des Nennkapitals Die maßgeblichen Rechtsgrundlagen sind Art. L 223-42 des Handelsgesetzbuches (Code de commerce [C com]) für die GmbH (SARL) und Art. L 225-248 C com für die Aktiengesellschaft (SA). Haben Verluste der Gesellschaft das Nennkapital zu mehr als 50 % aufgezehrt,90 ist der Verwaltungsrat verpflichtet, eine außerordentliche Gesellschafterversammlung einzuberufen, die über die Auflösung der Gesellschaft beschließen soll.91 Hierzu räumt ihm der französische Gesetzgeber eine – im Vergleich zu Italien und Spanien großzügig bemessene – viermonatige Frist ein, deren Lauf mit

87 Nach 15. Kapitel § 1 OYL; Gustafsson (Hrsg), Business Laws in the Nordic Countries – Legal and Tax Aspects (1998) 588. 88 39. Kapitel § 1 Abs. 4 Rikoslaki 19. 12. 1889/39 (finnisches Strafgesetz). 89 5. Kapitel § 1 Vahingonkorvauslaki 31. 05. 1974/412 (finnisches Schadenersatzgesetz). 90 Ursprünglich lag die Grenze bei 75 % des Nennkapitals; im Rahmen der Umsetzung der 2. Richtlinie erfolgte die Herabsetzung auf die 50 % Schwelle – obgleich die Richtlinie diese nicht vorgibt. S. Koll-Möllenhoff, Das Prinzip des festen Grundkapitals im europäischen Gesellschaftsrecht (2005) 208; umfassend zudem Adensamer/Oelkers/Zechner, Unternehmenssanierung zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht (2006, in Druck). 91 S. nur Guyon, Droit des affaires, 12. Aufl., Rdn. 468; Basdevant/Charvériat/ Mondod, Le guide de l’administrateur de societe anonyme, 2. Aufl., Rdn. 195; Le Cannu, Droit des sociétés, 2. Aufl., Rdn. 896 f.

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der Genehmigung der den Verlust feststellenden Bilanz einsetzt.92 Entscheidet sich die Versammlung nicht für die sofortige Auflösung der Gesellschaft, muss die Gesellschaft spätestens bis zum Abschluss des zweiten auf den Beschluss folgenden Geschäftsjahres das Kapital um einen dem Verlust entsprechenden Betrag herabsetzen,93 es sei denn, der eingetretene Verlust konnte zwischenzeitlich in dem Ausmaß beseitigt werden, dass die Eigenmittel zumindest der Hälfte des Nennkapitals wieder entsprechen. Wurde die Versammlung nicht binnen der vier Monate einberufen oder ist sie aufgrund des Fehlens der entsprechenden Quoren nicht in gültiger Weise zusammengetreten, kann jeder Beteiligte (interessé) gerichtlich die Auflösung der Gesellschaft beantragen.94 Diesfalls steht es dem Gericht noch immer frei, der Gesellschaft innerhalb einer Frist von sechs Monaten die Möglichkeit der Bereinigung der Situation zu geben. Außerdem ist die Nichteinberufung der Hauptversammlung trotz tatbestandsmäßiger Verluste als Verstoß gegen gesetzliche Bestimmungen unter Art. L 225-251 al 1 C com zu subsumieren und löst eine Ersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft aus, welche mit der action sociale geltend gemacht wird. Im Unterschied zu Spanien ist der Ersatz auf den kausalen Schaden begrenzt.95

Verantwortung für Verschleppungsschäden Das französische Recht kennt keinen eigenen Haftungstatbestand der Insolvenzverschleppung.96 Vielmehr verweist Art. L 225-255 C com auf die Bestimmungen des Kapitels über das einheitliche Insolvenz- und Sanierungsverfahren (redressement ou liquidation judiciaire) 97, welches bei Zahlungsunfähigkeit greift

92 Art. L 225-248 C. 93 Das gesetzliche Mindestkapital ist jedenfalls zu wahren. Für die AG beträgt dieses gemäß Art. L 224-2 37.000 €; für eine Aktiengesellschaft, die öffentlich zur Zeichnung auffordert (appel publique à l’épargne) sind zumindest 225.000 € aufzubringen. Die französische GmbH kennt seit 2004 kein gesetzliches Mindestkapital mehr, gemäß Art. L 223-2 C com kann das Stammkapital frei bestimmt werden. Die Zweijahresfrist läuft ab dem Zeitpunkt der Genehmigung des Jahresabschlusses, der die Verluste der Gesellschaft ausweist. 94 Das Gericht kann die Gesellschaft sodann entweder auflösen oder aber innerhalb einer Frist von sechs Monaten der Gesellschaft die régularisation gestatten. 95 Art. L 224-29 C com. 96 S. dazu Fleischer, RIW 1999, 578; vgl. auch Pernice, Die Insolvenzverschleppung durch das Geschäftsführungsorgan der kleinen Kapitalgesellschaft im deutschen, französischen und englischen Recht (2002) 143; Forum Europaeum Konzernrecht, ZGR 1998, 757. 97 Die Einleitung erfolgt auf Antrag der Gesellschaft, der Gläubiger oder auch von Amts wegen. Sie löst eine Exekutionssperre aus. Der Weg der Sanierung wird be-

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und je nach Zukunftsperspektive der Gesellschaft sowohl zu deren Fortführung aber auch zur Beendigung führen kann. Unter anderem normiert das redressement ou liquidation judiciaire mit Art. L 651-2 C com eine insolvenzrechtliche Ausfallshaftung, welche mit der action en comblement du passif (action en comblement de l’insuffisance d’actif) geltend zu machen ist. Geschäftsführungsfehler, die die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft hervorgerufen bzw. verstärkt haben, werden mit der persönlichen Haftung der Geschäftsführer sanktioniert.98 Die action en comblement du passif erlaubt, die Geschäftsleiter einer Aktiengesellschaft oder GmbH, über die das Reorganisationsverfahren oder das gerichtliche Liquidationsverfahren eröffnet wurde, zur Leistung des durch eine faute de gestion 99 verursachten Schadens heranzuziehen.100 Eben dieses Fehlverhalten kann in einer unterlassenen Konkursanzeige bzw. Insolvenzverfahrenseröffnung bestehen.101 Zudem muss die faute kausal für einen (höheren) Befriedigungsausfall sein (insuffisance d’actif). Der mit Hilfe der action en comblement du passif geltend gemachte Schaden entspricht den aufgrund der fehlenden Aktiva nicht befriedigten Forderungen der Gläubiger.102

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schritten, sofern eine reelle Chance der Erholung des Unternehmens besteht. Andernfalls ist die Gesellschaft aufzulösen. Das Prozedere des redressement judiciaire lässt sich in verschiedene Phasen gliedern: (i) Binnen einer sechsmonatigen Beobachtungsfrist (phase d’observation) legt der Geschäftsführer der Gesellschaft (gérant) gemeinsam mit einem vom Gericht ernannten administrateur eine Bilanz des Unternehmens sowie einen Sanierungsplan (projet de plan de redressement) vor; der bisherige Geschäftsführer bleibt damit – wenn auch unter Aufsicht – vorerst weiterhin im Amt. Lediglich Zahlungen auf Altverträge und die Bestellung von Sicherheiten sind ihm untersagt; über die Aufrechterhaltung gegenseitig verpflichtender, noch nicht erfüllter Verträge entscheidet der administrateur. (ii) Nach Ablauf der sechs Monate beschließt das Gericht auf Grundlage des Berichts des Geschäftsführers sowie des Sanierungsplans entweder über die Fortführung (continuation) der Gesellschaft oder den Verkauf (cession) des Unternehmens oder eines Teils desselben. Kann kein Reorganisationsplan festgelegt werden, ist die Liquidation der Gesellschaft einzuleiten. In der Praxis sind 90 % der beantragenden Gesellschaften in einer derart schlechten Kondition, dass die Beendigung der Gesellschaft unausweichlich ist. Vgl. hierzu Mercadal/Janin, Droit commercial Rdn. 28610ff. S. nur Guyon, Droit des affaires II Rdn. 1372ff.; Habersack/Verse, ZHR 168 (2004), 203. Beispiel für eine faute ist ua der Abschluss von schädigenden Handelsabkommen (accords commerciaux ruineux); Guyon, Droit des affaires II Rdn. 1374 mwN. Basdevant/Charvériat/Monod, Guide de l’administrateur Rdn. 399; Mercadal/Janin, Sociétés commerciales Rdn. 28765 ff.; Guyon, Droit des affaires II Rdn. 1374. Guyon, Droit des affaires II Rdn. 1374. «Le dommage est l’insuffisance d’actif, c’est-à-dire la fraction des créances qui n’a pas pu être remboursée grâce à des fonds provenant du patrimoine de la société»; Guyon, Droit des affaires II Rdn. 1373.

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Das Gericht kann die Ersatzpflicht des Geschäftsleiters nach freiem Ermessen festlegen, wobei das Gesamtdefizit eine Obergrenze einzieht. Neuschulden können damit nicht – wie etwa im spanischen Recht – geltend gemacht werden.103 In der Praxis bleibt die Haftung der Geschäftsleitung regelmäßig hinter dem tatsächlichen Forderungsausfall zurück.104 Der Schadenersatzanspruch verjährt innerhalb von drei Jahren ab Eröffnung der Liquidation oder Festsetzung des Reorganisationsplans (plan d’entreprise/ plan de redressement).105 Nach Beendigung des redressement judiciaire ist eine action en comblement du passif ausgeschlossen, nicht jedoch eine allgemein zivilrechtliche Haftungsklage nach Art. L 225-251 C com.106 Bei dieser handelt es sich freilich nicht um eine Außenhaftung gegenüber Gläubigern der Gesellschaft; vielmehr fließt der Schadenersatz in das Gesellschaftsvermögen.107 Zur Klagserhebung sind nicht die einzelnen Gläubiger,108 sondern ausschließlich deren Vertreter aktivlegitimiert. Dies sind der Gläubigervertreter représentant des créanciers bzw. der für das Verfahren eingesetzte administrateur 109 und commissaire à l’exécution du plan, der liquidateur sowie der Staatsanwalt (procureur de la Républic).110

103 Vgl. Art. L 651-2 C com; Pernice, Insolvenzverschleppung 162. Haben mehrere Personen an der unterlassenen Konkursanzeige mitgewirkt, greift eine solidarische Haftung – das Gericht kann die vom Einzelnen zu tragenden Anteile hier wiederum nach freiem Ermessen festsetzen. 104 Pernice, Insolvenzverschleppung 163; für die Abwägung des Gerichts spielen Fragen wie die Rolle des gerant in der Geschäftsleitung, die Schwere des Fehlers, Höhe des Schadens, persönliche finanzielle Situierung des Geschäftsleiters eine Rolle. 105 Art. L 651-2 C com. 106 Guyon, Droit des affaires II Rdn. 1383. 107 Art. L 624-3 al 3 C com; Habersack, ZHR 168 (2004), 205. 108 Einen persönlichen Schaden kann jedoch jeder Gläubiger persönlich nach allgemeinem Zivilrecht geltend machen; Guyon, Droit des affaires II Rdn. 1374. 109 Ein administrateur judiciaire (Masseverwalter) wird vom Gericht ernannt (Art. L 621-8 C com). Er übernimmt – bei Einleitung des redressement judiciaire (Reorganisationsverfahren) – die Funktionen der Geschäftsführung. Vgl. nur Guyon, Droit des affaires II Rdn. 1160ff. 110 S nur Guyon, Droit des affaires II Rdn. 1378 ff.

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H. Italien Erhebliche Verluste des Nennkapitals Die maßgeblichen Rechtsgrundlagen bilden die Art. 2446f. des Bürgerlichen Gesetzbuches (Codice Civile [c.c.]) für die Aktiengesellschaft (Società per azioni [Spa]) und Art. 2482bis f. des Codice Civile für die GmbH (Società a responsabilità limitata [Srl]). Nach diesen Bestimmungen ist zu differenzieren, ob sich das Stammkapital infolge von Verlusten (i) um mehr als ein Drittel verringert hat, ohne jedoch das gesetzliche Mindestkapital zu unterschreiten (Art. 2446cc bzw. Art. 2482bis cc) oder ob es sich hingegen (ii) um mehr als ein Drittel verringert hat und dadurch unter das gesetzliche Mindestkapital fällt (Art. 2447cc bzw. Art. 2482bis cc).111 Je nachdem, ob das Mindestkapital durch die Verluste unterschritten wird oder nicht, ist das weitere Verfahren unterschiedlich ausgestaltet: (i) Wenn die Verluste ein Drittel des Stammkapitals übersteigen, aber das Nennkapital nicht unter den gesetzlichen Mindestbetrag fallen lassen, müssen die Geschäftsleiter (amministratori) unverzüglich eine Gesellschafterversammlung (assemblea) einberufen, um geeignete Maßnahmen zu beschließen.112 Der Gesellschafterversammlung ist ein Bericht der Geschäftsleitung über die Vermögenslage der Gesellschaft und eine Stellungnahme des Kontrollrats collegio sindacale 113 beziehungsweise – sofern bestellt – des Wirtschaftsprüfers vorzulegen.114 Der Ver-

111 Vgl. ausführlich Adensamer/Oelkers/Zechner, Unternehmenssanierung zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht (2006, in Druck); Oelkers, Die Haftung des Leitungsorgans der italienischen società per azioni, in Kalss, Vorstandshaftung in 15 europäischen Rechtsordnungen, 567 ff.; Magelli/Masotto, Reform des italienischen Gesellschaftsrechts: Kapitalmaßnahmen in italienischen Gesellschaften mit beschränkter Haftung, RIW 8/2003, 575. 112 In diesem Zusammenhang sieht Art. 2631 cc vor, dass diejenigen Verwaltungsratsmitglieder, die es verabsäumen, eine Gesellschafterversammlung in den gesetzlich oder statutarisch vorgesehenen Fällen und Fristen einzuberufen, mit einer Verwaltungsstrafe von 1.032 € bis 6.197 € bestraft werden. Bei Einberufung aufgrund von Verlusten erhöht sich die Verwaltungsstrafe um ein Drittel (Art. 2631 cc letzter Satz). In den Fällen, in denen weder das Gesetz noch die Satzung eine Frist für die Einberufung vorsehen, gilt diese nach Ablauf von 30 Tagen ab dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme vom Einberufungsgrund als versäumt. Vgl. Magelli/Masotto, RIW 08/2003, 579f. 113 Die Bestellung des Revisorenrats collegio sindacale ist für die Spa sowie gemäß Art. 2477 cc für jene Srl obligatorisch, die ein Stammkapital von 120.000 € aufweisen oder zwei der folgenden Grenzen in zwei aufeinander folgenden Geschäftsjahren überschreiten: (i) Gesamtbetrag der Aktivseite der Bilanz: 3.125.000 €; (ii) Umsatzerlöse: 6.250.000 €; (iii) Anzahl der durchschnittlichen Arbeitnehmer: 50. 114 Um den Gesellschaftern die Einsichtnahme in den Bericht zu ermöglichen, muss dieser – sofern der Gesellschaftsvertrag nichts anderes vorsieht – zumindest acht

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mögensaufstellung sind going concern-Werte zugrunde zu legen. Etwaige stille Reserven können ausschließlich in der Erläuterung der amministratori berücksichtigt werden. Diese haben der Gesellschafterversammlung zudem eine ausführliche Einschätzung der Verlustursachen sowie der Schwere der Krise zu geben. Als geeignete Gegenmaßnahme anerkennt das Gesetz mehrere Möglichkeiten: (1) Verlustvortrag: Nach Art. 2446 Abs. 2c.c. bzw. Art. 2482bis Abs. 4c.c. kann die Gesellschafterversammlung beschließen, die Entscheidung über eine etwaige Kapitalherabsetzung auf das Ende des folgenden Geschäftsjahres zu vertagen. Hat sich der Verlust bis zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht auf weniger als ein Drittel verringert, muss die über den Jahresabschluss beschließende Gesellschafterversammlung das Stammkapital im Ausmaß der Verluste herabsetzen. Sollte die Gesellschafterversammlung keinen entsprechenden Beschluss fassen, ist die Kapitalherabsetzung von den Geschäftsleitern oder vom collegio sindacale beim Landgericht zu beantragen. Dieses nimmt die Kapitalherabsetzung mittels Verfügung vor, welche im Handelsregister eingetragen wird. (2) Kapitalherabsetzung: Die Gesellschafterversammlung bzw. die Geschäftsleitung kann auch sogleich eine Kapitalherabsetzung in Höhe der Verluste beschließen. (3) Kapitalmaßnahmen ohne Auswirkungen auf das Stammkapital: Maßnahmen zur Verlustabdeckung, die sich nicht auf das Stammkapital, sondern nur auf das Gesellschaftsvermögen auswirken, sind als rechtmäßig anerkannt. In der Praxis wird sowohl eine freiwillig von den Gesellschaftern geleistete Eigenkapitalzahlung als auch der Verzicht auf eine Forderung gegenüber der Gesellschaft zur Verlustabdeckung verwendet. In diesen Fällen nimmt die Gesellschafterversammlung nur noch zur Kenntnis, dass diese Maßnahmen vorgenommen wurden und unterläßt weitere Schritte.115 (ii) Fällt das Stammkapital durch den Verlust von mehr als einem Drittel unter den gesetzlichen Mindestbetrag, müssen die Geschäftsleiter unverzüglich eine Gesellschafterversammlung einberufen. Diese hat die Wahl, (1) entweder einen Beschluss über die Kapitalherabsetzung und eine gleichzeitige Erhöhung auf einen über dem Mindeststammkapital liegenden Betrag zu fassen oder (2) die Umwandlung der Gesellschaft zu beschließen. Als Rechtsform kommt etwa eine OHG (società in nome collettivo) in Frage.116

Tage vor der Versammlung am Gesellschaftssitz hinterlegt werden (Art. 2446cc bzw. Art. 2482bis Abs. 2cc). Sofern noch nach seiner Erstellung relevante Tatsachen bekannt werden, sind auch diese Diskussionsgegenstand in der Versammlung (Art. 2446cc bzw. Art. 2482bis Abs. 3cc). 115 S. Salafia, Remissione dei debiti sociali e perdita dei capitale, Le Società 1999, 32. 116 Da es sich hierbei auch in Italien um eine Personengesellschaft handelt, ist ein Mindestkapital nicht vorgesehen.

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(3) Zudem stellt die Verminderung des Stammkapitals einen Auflösungsgrund für die Gesellschaft dar.117

Verantwortung für Verschleppungsschäden Trotz fehlender gesetzlicher Normierung sieht das italienische Schrifttum den Schuldner unter Rückgriff auf die Strafnorm des Art. 217 Nr. 4 des Konkursgesetzes (legge fallimentare [l. fall.]) überwiegend 118 als verpflichtet an, die Eröffnung des Konkursverfahrens bei Eintritt der Zahlungsunfähigkeit zu veranlassen.119 Welches Organ als antragsbefugt anzusehen ist, klären die Vorschriften über den Konkurs von Gesellschaften 120 nicht; die überwiegende Meinung sieht allein die Geschäftsleiter als berechtigt an.121 Reagiert die Geschäftsleitung nicht auf die tatbestandsmäßigen Verluste; d. h. beruft sie insbesondere keine Gesellschafterversammlung ein, greifen die allgemeinen Haftungsregeln der Art. 2392 bzw. 2393 c.c., die auf eine Solidarhaftung der organschaftlichen Vertreter gerichtet sind. Die Geltendmachung ist von der Gesellschafterversammlung zu beschließen; dies gilt gemäß Art. 2393 Abs. 1 c.c. auch im Abwicklungsverfahren. Ergänzt wird die Innenhaftung gemäß Art. 2394 c.c.122 durch eine Verantwort117 Art. 2484 Abs. 1 Nr. 4cc. S. Oelkers, Mindestkapital und Nennkapital – Leistungskraft für den Gläubigerschutz, GesRZ 06/2004, 360ff. und 01/2005, 27. 118 So etwa Pajardi, Codice del fallimento, 5. Aufl. 2004, 61; Ragusa Maggiore, Istituzioni di diritto fallimentare, 2. Aufl. 1994, 70 f.; aA offenbar Kindler, Italienisches Handels- und Wirtschaftsrecht 354. 119 Art. 217 Nr. 4 l fall (bancarotta semplice) normiert als einfaches Kridadelikt zwar ebenfalls keine unmittelbare Antragspflicht, bedroht jedoch einen Schuldner, der durch sein Zögern die Konkursmasse schmälert, mit Freiheitsentzug von sechs Monaten bis zu zwei Jahren. Jene Stimmen, die sich gegen eine Antragspflicht des Schuldners aussprechen, stützen sich insbesondere auf eine historische Interpretation: Art. 685 des Codice di Commercio von 1882 verpflichtete den Schuldner noch ausdrücklich, bei Eintritt der Insolvenz einen Konkursantrag zu stellen; diese Bestimmung wurde 1942 in den Codice Civile nicht übernommen. Die herrschende Lehre argumentiert hingegen, dass der geringen Aussagekraft einer rein historischen- bzw. reinen Wortinterpretation die Tatsache gegenübersteht, dass die rechtzeitige Verfahrenseröffnung nach wie vor eines der zentralen Ziele (scopi essenziali) des italienischen Insolvenzrechts bildet, und spricht sich für eine Antragspflicht mittels Rechtsfortbildung aus. Vgl. Bonelli G, Rivista di diritto commerciale 1922, 190ff.; Navarrini, Trattato di diritto fallimentare secondo la nuove legislazione3 (1939) 109. 120 Art. 146–154 l. fall. 121 Campobasso Bd III, XXIV 23. 122 Im Gegensatz zu Art. 2393cc handelt es sich nicht um eine vertragliche Haftung, sondern um einen Spezialfall der allgemeinen Schadenersatzregel des Art. 2043cc, d. h. um eine Haftung aus unerlaubter Handlung.

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lichkeit gegenüber Gesellschaftsgläubigern, denen die Geschäftsleiter zur Erhaltung der Integrität des Gesellschaftsvermögens verpflichtet sind. Entspricht das Leitungsorgan zwar der Einberufungspflicht, verstößt es aber gegen den dieser nachgeordneten Pflichtenkatalog (etwa in der Form, dass es die Einleitung des Feststellungsverfahrens beim Handelsregister unterlässt, keine außerordentliche Gesellschafterversammlung zwecks Bestimmung der Abwickler und ihrer Befugnisse bzw. Regelung des Liquidationsverfahrens einberuft), kommt Art. 2485c.c. zur Anwendung. Dieser sieht eine persönliche, solidarische Haftung gegenüber der Gesellschaft, Gesellschaftern sowie Dritten vor. Korrespondierend zu der fehlenden Kodifizierung der Pflicht, bei Zahlungsunfähigkeit einen Konkursantrag zu stellen, gibt das italienische Recht keine zivilrechtliche, sanktionierende Anspruchsgrundlage der unterlassenen Antragstellung vor. Jener (überwiegende) Teil der Lehre, der die Pflicht zur Konkurseinleitung aus der strafrechtlichen Norm der fahrlässigen Schmälerung der Masse gemäß Art. 217 Nr. 4 l. fall. erschließt, hat jene zu konstruieren: Hierbei bereiten die Neugläubiger, welche erst nach dem Zeitpunkt der Insolvenzreife mit der zahlungsunfähigen Gesellschaft kontrahieren, wenig Schwierigkeiten. Sie können den erlittenen Schaden auf Grundlage des Art. 2395c.c. (azione individuale del socio e del terzo) geltend machen, welcher einzelnen Gesellschaftern und Dritten, die durch fahrlässige oder vorsätzliche Handlungen der Geschäftsleiter direkt geschädigt worden sind,123 eine Anspruchsgrundlage bietet. Dogmatisch bildet Art. 2395 c.c. eine Unterkategorie der deliktischen Haftung,124 er kann parallel zu Art. 2393 c.c., welcher eine vertragliche Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft 123 Eine zu der französischen Rechtsprechung analoge Restriktion auf Schädigungen des Verwaltungsratsmitglieds, die es außerhalb seiner Organfunktion setzt (faute détachable de ses fonctions), ist dem italienischen Recht fremd. Zwar war die Interpretation des Tatbestandselements direttamente durchaus Gegenstand einiger Entscheidungen und wurde in frühen Jahren auch als Aufruf zur Beschränkung des Art. 2395 cc auf Schädigungen rein persönlichen Ursprungs, d. h. auf Schäden, die keinen Konnex zur Position des Geschäftsleiters aufweisen, verstanden; diese Ansicht konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Mit einer richtungsweisenden Entscheidung stellte der Kassationsgerichtshof im Jahr 1956 vielmehr klar, dass die Gesellschaft im italienischen Recht keine Schutzschildfunktion einnimmt und ein Geschädigter nicht auf ein alternatives Vorgehen gegen Gesellschaft oder direkten Schädiger beschränkt werden darf, sondern parallel bzw. in willkürlicher Reihenfolge Klagen gegen beide anstrengen kann. Damit sprach der Gerichtshof einem diesbezüglichen Bemühen um eine trennscharfe Differenzierung zwischen Schädigungen mit oder ohne Bezugnahme auf die Organfunktion die praktische Relevanz ab; in der jüngeren Judikatur (wie auch Literatur) nimmt die Diskussion um eine sachgerechte Abgrenzung kaum mehr Platz ein – Art. 2395 cc kommt gleichermaßen bei Qualifikation als Schädigung rein persönlichen Ursprungs wie auch bei Einstufung als Schädigung in Organfunktion zur Anwendung. 124 S. Cass 16 marzo 2001, n 3843 in Massimario 2001; Cass 28 febbraio 1998, n 2251 in Foro Italiano 1998 I, 3246; Cass 1° aprile 1994, n 3216 in Giustizia Civile 1994, 95.

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konstituiert, sowie Art. 2394c.c., welcher ebenfalls auf eine Vertragsverletzung abstellend eine Außenhaftung vorsieht, zur Anwendung kommen.125 Die Anspruchsgrundlage für die Geltendmachung des Quotenschadens der Altgläubiger ist eine andere. Da die Frage, ob den Altgläubigern unmittelbar aus der verzögerten bzw. unterlassenen Antragstellung ein Schaden entstanden ist, den sie ebenso wie die Neugläubiger auf Grundlage des Art. 2395c.c. geltend machen können, wohl zu verneinen ist, sind die Altgläubiger vielmehr auf Art. 2394 c.c. zu verweisen: Nach Art. 2394 cc. haften die Geschäftsleiter, sofern sie ihrer Verantwortung, das Gesellschaftsvermögen als Haftungsfonds zugunsten der Gläubiger zu erhalten, nicht nachkommen und diese dadurch einen (mittelbaren) Schaden erleiden. Haftungsvoraussetzung ist somit neben der schuldhaften Pflichtverletzung des Leitungsorgans 126 die Unzulänglichkeit des Gesellschaftsvermögens zur Befriedigung der Gläubiger. I. Niederlande Erhebliche Verluste des Nennkapitals Die maßgebliche Rechtsgrundlage bildet Art. 2:108a des Bürgerlichen Gesetzbuches (Burgerlijk Wetboek [BW]). Das niederländische Recht normiert nur für die Aktiengesellschaft (naamloze vennootschap [NV]) die Pflicht des Vorstands, binnen drei Monaten ab Erkennbarkeit des Verlusts von mehr als der Hälfte des eingezahlten und eingeforderten Grundkapitals eine Hauptversammlung einzuberufen. Neben dem Vorstand ist der Aufsichtsrat befugt, die Einberufung vorzunehmen (Art. 2:109 BW).127 Die Unterlassung der Einberufung kann einen Haftungsanspruch der Gesellschaft wegen allgemeiner Sorgfaltsverletzung und schlechter Geschäftsführung iSv Art. 2:138 BW (Haftung bei Insolvenz) begründen.128 125 Adiutori, Funzione amministrativa e azione individuale di responsabilità (2000) 108; Borgioli, Giurisprudenza Commerciale 1981, 708; Franzoni, La responsabilità civili degli amministratori di società di capitali in Galgano, Trattato di diritto commerciale e di diritto pubblico dell’economia (1994) 94f. Ebenso: Cass 20 novembre 1956, n 4303, Diritto fallimentare 1957, 23: „Coesistono due titoli di responsabilità, l’uno per violazione del contratto da parte del contraente, l’altro per violazione del dovere giuridico del neminem laedere da parte del terzo estraneo al contratto […]“. 126 Vgl. etwa die Entscheidungen Trib Pavia 2 gennaio 2003 sowie Trib Pavia 6 novembre 2002, kommentiert von Succi/Vittone, Le Società 2004, 219 (225). 127 Werden Vorstand und Aufsichtsrat nicht tätig, kann jeder Aktionär vom Präsidenten der Rechtbank ermächtigt werden, selbst eine Hauptversammlung einzuberufen, s. Art. 2:112 iVm Art. 2: 108 a BW. 128 Rechtbank Maastricht 22. 08. 1996, Jurisprudentie ondernemingsrecht (1997), 128.

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Verantwortung für Verschleppungsschäden Das niederländische Recht kennt keinen eigenen Tatbestand der Konkursverschleppungshaftung.129 Gesellschaftsgläubiger werden auf die allgemeinen Normen des Schadenersatzrechts, konkret auf die individuellen Aufklärungspflichten, verwiesen. Vor diesem Hintergrund entwickelte der oberste Gerichtshof Hoge Raad eine Rechtsprechung, welche mit der Entscheidung Beklamel 130 ihren Ausgang nahm und Vorstandsmitglieder 131 persönlich haften lässt, wenn sie namens der Gesellschaft zu einem Zeitpunkt neue Verbindlichkeiten eingehen, zu dem ihnen bereits hätte bewusst sein müssen, dass die Gesellschaft nicht in der Lage sein wird, diese zu erfüllen. Das vorwerfbare Verhalten, das die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit auslöst, besteht in der Verletzung von Aufklärungspflichten über die eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Das Vorstandsmitglied haftet direkt gegenüber den Gläubigern für den entstandenen Schaden. Altgläubiger 132 werden vom Schutzbereich der Haftung nicht erfasst: Zum Zeitpunkt ihres Vertragsabschlusses befand sich die Gesellschaft noch nicht in einer Krisensituation, über die das Leitungsorgan hätte aufklären müssen. Aufgrund dieser unbefriedigenden Rechtslage, nach der eine Gläubigergruppe gänzlich aus dem Schutzbereich ausscheidet, wurde in dem – im März 2004 vorgelegten – Bericht zur Flexibilisierung des Kapitalschutzes bei der GmbH die Einführung einer Konkursverschleppungshaftung befürwortet, für die einmal mehr die Regeln des wrongful trading Pate stehen sollen.133

129 Bervoets, Die Haftung von Vorstandsmitgliedern niederländischer Kapitalgesellschaften, in Kalss, Vorstandshaftung in 15 europäischen Ländern (2005) 632. 130 S HR 06. 10. 1989, Nederlandse Jurisprudentie 1990/286 (Beklamel). 131 Auch das nicht aktiv handelnde Vorstandsmitglied, das eng mit dem betreffenden Geschäft verbunden war, wird in die Haftung mit einbezogen; s. ausführlich Boschma, De persoonlijke aansprakelijkheid van de bestuurder wegens het voortzetten van verliesgevende activiteiten van de vennootschap, LT, Verzamelde „Groninger“ opstellen aangeboden aan Vino Timmerman (2003) 1–13. 132 Die Grenze zwischen Alt- und Neugläubigern bildet der Zeitpunkt, in welchem dem Vorstandsmitglied bewusst wurde oder hätte werden sollen, dass die Gesellschaft ihre eingegangene Verpflichtung nicht halten könne; HR 06.10.1989, Nederlandse Jurisprudentie 1990, 286 (Beklamel). 133 Lennarts/Schutte-Veenstra, Versoepeling van het BV-Kapitaalbeschermingsrecht (2004) 89ff.

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J. Norwegen Erhebliche Verluste des Nennkapitals Norwegen schreibt sowohl für die Aktiengesellschaft als auch für die GmbH vor, dass das Eigenkapital der Gesellschaft zu jeder Zeit dem unternehmerischen Wagnis und der Größe des Geschäftsbetriebs angemessen (forsvarlig) sein muss.134 Auf der Ebene der Aktiengesellschaft normiert dies das 3. Kapitel § 3–4 des Aktiengesetzes (Allmennaksjeloven), für die GmbH das 3. Kapitel § 3–4 des GmbH-Gesetzes (Aksjeloven). Unangemessen sind die Eigenmittel jedenfalls dann, wenn sie das halbe Nennkapital 135 unterschreiten. Wenn angenommen werden kann, dass das Angemessenheitskriterium nicht (mehr) erfüllt wird, trifft den Verwaltungsrat (styret) als Leitungsorgan die sofortige Pflicht, die Gesellschafterversammlung (generalforsamling) einzuberufen,136 sie über die wirtschaftliche Situation der Gesellschaft in Kenntnis zu setzen und sanierende Maßnahmen zu empfehlen.137 Ist der Verwaltungsrat der Ansicht, dass eine Reorganisation keinen Erfolg verspricht, hat er die Liquidation vorzuschlagen.138 Zur Beantragung der Zwangsliquidation ist der Verwaltungsrat im Unterschied zum schwedischen, finnischen und dänischen Recht jedoch weder verpflichtet noch berechtigt 139 – dies fällt allein in die Zuständigkeit der Aktionäre.140

134 Vgl. ausführlich Adensamer/Oelkers/Zechner, Unternehmenssanierung zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht (2006, in Druck). 135 Dieses beträgt bei der GmbH (aksjeselskap) 100.000 NKR, etwa 12.000 € (3. Kapitel § 3-1 Abs. 1 Aksjeloven) sowie 1.000.000 NKR, etwa 120.000 € (3. Kapitel § 3-1 Abs. 1 Allmenaksjeloven) bei der AG (allmennaksjeselskap). 136 Bei der Aktiengesellschaft ist das Zeitlimit mit sechs Monaten begrenzt, vgl. 3. Kapitel § 3-5 Abs. 1 letzter Satz Allmennaksjeloven. Im GmbH-Recht fehlt eine Parallelbestimmung. 137 3. Kapitel § 3-5 Abs. 1 Allmennaksjeloven; 3. Kapitel § 3-5 Abs. 1 Aksjeloven. 138 3. Kapitel § 3-5 Abs. 2 Allmennaksjeloven; 3. Kapitel § 3-5 Abs. 2 Aksjeloven. 139 Die Eröffnung des Konkursverfahrens fällt in die Kompetenz des Verwaltungsrats, er ist hierzu bei sonstiger strafrechtlicher Haftung (§ 284 Abs. 1 lit b Straffeloven [norwegisches Strafgesetz]) verpflichtet. Das norwegische Recht definiert Insolvenz in § 61 des Konkursgesetzes (Konkursloven) als dauerhaftes Unvermögen des Schuldners, fällige Verbindlichkeiten zu erfüllen. Zudem müssen die Passiva die Aktiva übersteigen. Somit kombiniert das norwegische Konkursrecht Elemente der Zahlungsunfähigkeit mit jenen der Überschuldung. 140 Bleiben die Aktionäre (zumindest fahrlässig) untätig, riskieren sie nach 17. Kapitel § 17-1 Allmennaksjeloven bzw. 17. Kapitel § 17-1 Aksjeloven eine persönliche Haftung gegenüber der Gesellschaft.

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Verantwortung für Verschleppungsschäden Ein zivilrechtlicher Haftungstatbestand für Verschleppungsschäden fehlt im norwegischen Recht. Die rechtzeitige Stellung eines Insolvenzantrags 141 ist allein strafrechtlich abgesichert. Unter Rückgriff auf die Schadenersatzbestimmungen des 17. Kapitels des norwegischen GmbH-, bzw. Aktiengesetzes (Allmennaksjeloven bzw. Aksjeloven) leitet die Judikatur aus der strafrechtlichen Verantwortlichkeit jedoch regelmäßig auch eine zivilrechtliche Haftung ab.142 Zusätzlich sieht die hA eine direkte schadenersatzrechtliche Verantwortlichkeit der organschaftlichen Vertreter nach den Regeln der culpa in contrahendo vor. Entsprechend der norwegischen Literatur sind der Vorstand bzw. der geschäftsführende Direktor verpflichtet, potentielle Vertragspartner über die finanzielle Lage der Gesellschaft aufzuklären; 143 dieser Ansicht ist auch die Rechtsprechung gefolgt.144 Verletzen die Geschäftsleiter 145 ihre Aufklärungspflichten, haften sie direkt gegenüber den Gläubigern auf den Vertrauensschaden.146

141 § 61 Konkursloven. Antragsberechtigt sind der Schuldner sowie die Gläubiger, vgl. § 60 Konkursloven. 142 Vgl. Klaveness/Exner, Norwegen, in Jahn/Sahm, Insolvenzen in Europa, 4. Aufl. 2004, 343. Die 17. Kapitel Allmennaksjeloven und Aksjeloven statuieren eine Haftung des Vorstands und des geschäftsführenden Direktors gegenüber der Gesellschaft für Schäden, die sie ihr in Ausübung ihrer Tätigkeit fahrlässig oder vorsätzlich zufügen. Die Haftung gegenüber Dritten ist seit der Gesetzesnovelle 1999 nicht mehr in den Kapitalgesellschaftsgesetzen geregelt, sondern leitet sich aus allgemeinen schadenersatzrechtlichen Prinzipien (sog culpa-Prüfung) her. Im Ergebnis können die Leitungsorgane auch nach geltendem Recht gegenüber Dritten persönlich schadenersatzpflichtig werden, soweit ein unmittelbarer Schaden vorliegt. Handelt es sich hingegen um einen bloßen Reflexschaden, ist der Dritte erst dann berechtigt, direkt gegen die Geschäftsleiter vorzugehen, wenn feststeht, dass weder die Gesellschaft noch eine 10 %ige Aktionärsminderheit Schadenersatzansprüche erheben werden, der Anspruch ist also gegenüber demjenigen der Gesellschaft subsidiär, vgl. 17. Kapitel § 17-6 Allmennaksjeloven sowie 17. Kapitel § 17-6 Aksjeloven. 143 Dotevall, Skadeståndsanavar för styrelseledamot och verkställande direktör (1989) 514; Normann Aarum, Styrelsemedlemmers erstatningsansvar i aksjeselskaper (1994) 558ff. 144 NRt 1939 s. 679; NRt 1975 s. 198. 145 Der Adressatenkreis ist gemäß § 287 Abs. 2 Straffeloven nicht auf die wirksam bestellten Geschäftsleiter beschränkt; vielmehr haften auch diejenigen, die an der Unterlassung der Konkursbeantragung mitgewirkt haben (in Betracht kommen etwa die geschäftsführenden Direktoren, aber auch de facto Geschäftsführer). 146 Normann Aarum, Styrelsemedlemmers erstatningssnvar i aksjeselskaper (1994) 561.

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K. Österreich Erhebliche Verluste des Nennkapitals Bei Verlust des halben Grund- bzw. Stammkapitals verpflichtet das österreichische Kapitalgesellschaftsrecht die vertretungsbefugten Organe (Vorstand, Geschäftsführung, Verwaltungsrat 147) zur unverzüglichen Einberufung der Gesellschafterversammlung (§ 83 AktG bzw. § 36 Abs. 2 GmbHG).148 Die Bestimmung soll den Gesellschaftern Gelegenheit geben, die wirtschaftliche Situation der Gesellschaft zu diskutieren und durch entsprechende Maßnahmen kontrollierend in die Geschäftsführung einzugreifen.149 Die Einberufungspflicht dient damit primär dem Schutz der Gesellschafter, die von der drohenden Insolvenzgefahr unterrichtet werden sollen,150 der Gläubigerschutz wird allenfalls reflexartig berücksichtigt.151 Über die Einberufung der Haupt- bzw. Generalversammlung hinaus enthält das Gesetz keine besonderen Verhaltensvorgaben. Die Geschäftsleitung ist zwar gehalten, eine ihrer Ansicht nach zweckmäßige Vorgangsweise vorzuschlagen und gegebenenfalls entsprechende Tagesordnungspunkte anzukündigen.152 Bis zum Eintritt materieller Insolvenz (Zahlungsunfähigkeit, Überschuldung) kann sie die Geschäfte jedoch weiterführen. Die Gesellschafterversammlung hat die In-

147 § 83 AktG iVm § 38 Abs. 3 SEG. 148 Das Gesetz gibt keine besondere Frist vor, vielmehr ist die Gesellschafterversammlung unverzüglich einzuberufen, sobald die Geschäftsführung oder der Aufsichtsrat vom Hälfteverlust Kenntnis erlangt haben; d. h. die Geschäftsleitung hat sofort zu reagieren. S. Koppensteiner, GmbHG, 2. Aufl., § 36 Rdn. 12; Feil in Gellis, GmbHG, 5. Aufl., § 36 Rdn. 8; Reich-Rohrwig, Verlust des halben Stammkapitals und drohende Insolvenz, ecolex 1990, 354. 149 Nowotny, Verlust des halben Nennkapitals – Ein „kleiner“ Unterschied zwischen deutschem und österreichischem GmbH-Recht, in FS Semler (1993) 231 (238); ders in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG § 83 Rdn. 2; Strasser in Jabornegg/Strasser, AktG, 4. Aufl., §§ 77–84 Rdn. 21; Harrer, Haftungsprobleme bei der GmbH (1990) 173; Koppensteiner, GmbHG § 36 Rdn. 11; s. a. Reich-Rohrwig, GmbHRecht (1983) 333; zur abweichenden historischen Zielsetzung des Art. 240 AHGB vgl. Kalss/Burger/Eckert, Die Entwicklung des österreichischen Aktienrechts (2003) 98f. 150 Nowotny in FS Semler (1993) 236; Schummer, Das Eigenkapitalersatzrecht – Notwendiges Rechtsinstitut oder Irrweg? (1998) 269; Koppensteiner, GmbHG § 36 Rdn. 11; Reich-Rohrwig, GmbH-Recht 333. 151 Nowotny in FS Semler (1993) 231 (237); Koppensteiner, GmbHG § 36 Rdn. 11; anders Reich-Rohrwig, GmbH-Recht 333, Holeschofsky, Zur Haftung für den fehlgeschlagenen Sanierungsversuch, GesRZ 1987, 34 (36 f). 152 Koppensteiner, GmbHG § 36 Rdn. 12; Dellinger, Zur geplanten Haftung der Organmitglieder gemäß § 24 Unternehmensreorganisationsgesetz, ZIK 1997, 8 (9); Nowotny in FS Semler 231 (238).

Die Rechtspflichten der Geschäftsleiter in der Krise

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formation der geschäftsführenden Organe bloß zur Kenntnis zu nehmen, besondere Pflichten – etwa zur Beschlussfassung – bestehen auch für sie nicht.153 Anders als die aktienrechtliche Regelung verpflichtet § 36 Abs. 2 S 2 GmbHG die Geschäftsführer, gefasste Beschlüsse der Generalversammlung dem Handelsgericht mitzuteilen.154 Dies soll nach verbreiteter Auffassung dem Schutz der Gesellschaftsgläubiger dienen.155 Folgerichtig wären die Geschäftsführer auch dann zur Mitteilung verpflichtet, wenn die Generalversammlung gar nicht stattfindet bzw. keinen Beschluss fasst.156 Die Verletzung der dargestellten Pflichten ist im Gesetz nicht besonders sanktioniert; es ist aber davon auszugehen, dass jedenfalls die allgemeinen Haftungsregelungen gegenüber der Gesellschaft greifen.157 Ob die §§ 36 Abs. 2 GmbHG, 83 AktG darüber hinaus als Schutzgesetze (§ 1311 ABGB) zugunsten der Gesellschaftsgläubiger zu qualifizieren sind, ist umstritten.158 Zum Teil wird dies aus der Mitteilungspflicht gegenüber dem Handelsgericht abgeleitet.159 Danach sollen zumindest jenen Gläubigern, die tatsächlich den Registerakt eingesehen haben, Haftungsansprüche gegen die Geschäftsführung zustehen.160

153 S. Nowotny in FS Semler 231 (242); Harrer, Haftungsprobleme bei der GmbH 172f.; Koppensteiner, GmbHG § 36 Rdn. 12; ders., Zur Haftung des GmbHGesellschafters, wbl. 1988, 1 (4f.); anders Karollus, Banken-, Gesellschafter- und Konzernleitungshaftung nach den „Eumig“-Erkenntnissen, ÖBA 1990, 337 (355); Holeschofsky, GesRZ 1987, 34 (36); wohl auch OGH JBl 1986, 713. 154 Die Mitteilung ist in die Urkundensammlung aufzunehmen (§ 12 FBG); Koppensteiner, GmbHG § 36 Rdn. 13; Nowotny in FS Semler 231 (240). 155 Nowotny in FS Semler 231 (242); Reich-Rohrwig, GmbH-Recht 333; ders., ecolex 1990, 354; a. A. Koppensteiner, GmbHG § 36 Rdn. 11; Schumacher, Konkursverschleppung und Gesellschafterhaftung, RdW 1987, 394 (396). 156 Reich-Rohrwig, GmbH-Recht 333; ders., ecolex 1990, 354; Nowotny in FS Semler 231 (240f.); anders unter Hinweis auf Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Bestimmung, Koppensteiner, GmbHG § 36 Rdn. 13; Feil in Gellis, GmbHG, 5. Aufl., § 36 Rdn. 9. 157 Koppensteiner, GmbHG § 37 Rdn. 14; Hüffer in Hachenburg, GmbHG § 49 Rdn. 29; s. dazu unter II. 158 Dafür etwa Reich-Rohrwig, GmbH-Recht 333; ders., ecolex 1990, 354; Strasser in Jabornegg/Strasser, AktG, 4. Aufl., §§ 74–88 Rdn. 24; Nowotny in FS Semler 231 (247); Holeschofsky, GesRZ 1987, 34 (36); vgl. a. Karollus, ÖBA 1990, 337 (353ff.); anders Kastner/Doralt/Nowotny, Grundriss des österreichischen Gesellschaftsrechts (1990) 409 (Fn. 5); Nowotny in Doralt/Nowotny/Kalss, AktG § 83 Rdn. 7; Koppensteiner, GmbHG § 36 Rdn. 14; ders., wbl. 1988, 1 (4f.); Hüffer in Hachenburg, GmbHG § 49 Rdn. 29. 159 Nowotny in FS Semler 231 (247). 160 Nowotny in FS Semler 231 (247); Reich-Rohrwig, GmbH-Recht 333; ders., ecolex 1990, 354; skeptisch Adensamer/Eckert, Vorstandshaftung nach österreichischem Recht, in Kalss, Vorstandshaftung in 15 europäischen Ländern 165, 246.

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Verantwortung für Verschleppungsschäden Die österreichische Konkursverschleppungshaftung ist als deliktische Haftung aufgrund Schutzgesetzverletzung ausgestaltet (§ 1311 ABGB). Als zentraler dogmatischer Ausgangspunkt dient seit der Novellierung von § 159 StGB 161 die Konkursantragspflicht gemäß § 69 KO.162 § 69 Abs. 2 u. 3 KO verpflichtet die organschaftlichen Vertreter juristischer Personen mit Eintritt der gesetzlichen Voraussetzungen (Zahlungsunfähigkeit, Überschuldung) ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber binnen sechzig Tagen die Eröffnung des Konkursverfahrens bei Gericht zu beantragen.163 Die Antragspflicht ist auf die wirksam bestellten Vertreter beschränkt,164 faktische Geschäftsführer sind zur Antragstellung weder legitimiert noch verpflichtet.165 Eine Ausweitung der Verpflichtung auf weitere Organe (Gesellschafterversammlung, Aufsichtsrat) ist vom Wortlaut der Bestimmung (§ 69 Abs. 3 KO) nicht gedeckt und kann auch aus anderen Vorschriften – namentlich der Einberufungspflicht nach den §§ 36 Abs. 2 GmbHG, 83 AktG 166 – nicht abgeleitet werden.167 Die Verpflichtung zur Konkurs- bzw. Insolvenzantragstellung bezieht sich nicht nur auf allein vertretungsbefugte Geschäftsleiter,168 sondern trifft zugleich die bloß gesamtvertretungsberechtigten Mitglieder der Geschäftsleitung.169 Sie greift trotz entgegenstehender Weisung der Gesellschafterversammlung und besteht auch bei 161 Dazu etwa Kalss/Eckert, Zentrale Fragen des GmbH-Rechts (2005) 272ff. 162 Vgl. ausführlich Adensamer/Oelkers/Zechner, Unternehmenssanierung zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht (2006, in Druck). 163 Vgl. Schumacher in Bartsch/Pollak/Buchegger, KO § 69 Rdn. 36ff.; Koppensteiner, GmbHG § 25 Rdn. 35ff.; Reich-Rohrwig, Das österreichische GmbH-Recht I, 2. Aufl. 1997, Rdn. 2/446. 164 Zu den fehlerhaft bestellten Geschäftsführern s. Dellinger, Vorstands- und Geschäftsführerhaftung im Insolvenzfall (1991) 50. 165 OGH JBl 1990, 322; OGH 13. 9. 1995, 7Ob 562/94 = ecolex 1996, 94; Schumacher in Bartsch/Pollak/Buchegger, KO § 69 Rdn. 43; Luschin, Zur Konkursantragspflicht bei Kapitalgesellschaften, ZIK 1997, 215 (216f.); Koppensteiner, GmbHG § 25 Rdn. 35; Reich-Rohrwig, GmbH-Recht I Rdn. 2/446 (Fn 384); anders Dellinger, Geschäftsführerhaftung 50, der eine direkte Haftung faktischer Geschäftsführer aus ihrer Einwirkungsmöglichkeit auf die bestellten Organe ableitet; s. a. K. Schmidt in Scholz, GmbHG § 64 Rdn. 7. 166 S. Dellinger, Zur Kridahaftung der GmbH-Gesellschafter sowie zur Ersatzfähigkeit und Berechnung des Vertrauensschadens der Neugläubiger, wbl. 1993, 201 (203); Kastner/Doralt/Nowotny, Gesellschaftsrecht 427. 167 Dellinger, wbl. 1993, 201 (203 f.); s. a. ders., Geschäftsführerhaftung 46; so a. OGH ecolex 1996, 94; anders noch OGH SZ 65/155. 168 So noch OGH SZ 60/179 = ÖBA 1988, 165 [Karollus] = RdW 1988, 14 = wbl. 1988, 58. 169 OGH ZIK 1998, 36 = wbl. 1997, 210 = ÖBA 1997, 738; OGH SZ 62/61 = ÖBA 1989, 1120 [Dellinger] = wbl. 1989, 250; s. a. Dellinger, Geschäftsführerhaftung 45; Reich-Rohrwig, GmbH-Recht I Rdn. 2/400.

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Genehmigung konkursverschleppender Maßnahmen durch den Aufsichtsrat fort.170 Die Konkursantragspflicht soll entsprechend ihrer gesetzlichen Konzeption allgemein bei Zahlungsunfähigkeit (§ 66 KO) sowie – bei bestimmten Schuldnern – zusätzlich bei Überschuldung (§ 67 KO) greifen. Der Gesetzgeber hat zu beiden Konkurseröffnungsgründen auf eine Legaldefinition verzichtet. Generell ist von der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners auszugehen, wenn dieser mangels bereiter Mittel nicht in der Lage ist, (alle) fälligen Schulden zu begleichen, und sich die dafür erforderliche Liquidität auch nicht alsbald beschaffen kann.171 Bei juristischen Personen, eigens genannten Verlassenschaften und konkursfähigen Personengesellschaften (GmbH & Co KG) tritt als alternativer Konkursgrund die Überschuldung (§ 67 KO) hinzu. Eine insolvenzrechtlich relevante Überschuldung (§ 67 KO) tritt erst bei negativer Fortbestehensprognose ein, die (kumulativ) neben einer Überschuldung zu Liquidationswerten vorliegen muss.172 Entscheidend ist, dass die zukünftige Zahlungs- bzw. Lebensfähigkeit des Unternehmen nicht mehr überwiegend (> 50 %) wahrscheinlich ist; 173 wobei die Feststellung im Einzelfall Schwierigkeiten bereitet.174 Die Konkursantragspflicht gemäß § 69 KO ist nach allgemeiner Ansicht und Rechtsprechung ein Schutzgesetz (§ 1311 ABGB) zugunsten der Gläubiger der Gesellschaft.175 Ihre schuldhafte Verletzung mündet in eine direkte schadener-

170 Schumacher in Bartsch/Pollak/Buchegger, KO § 69 Rdn. 52; Doralt, Unbeschränkte Haftung bei Insolvenz der GmbH, GesRZ 1982, 88 (96); Reich-Rohrwig, GmbH-Recht I Rdn. 2/411. 171 Dellinger in Konecny/Schubert § 66 Rdn. 5, 8 ff.; Honsell, GesRZ 1984, 140; OGH EvBl. 1982/164; OGH SZ 60/207 = RdW 1988, 13; OGH SZ 63/124 = ecolex 1990, 675 = wbl. 1990, 348 [Dellinger]. 172 Anders die Ausgestaltung in Deutschland (§ 19 InsO); s. dazu unter S. 5. 173 OGH SZ 59/216 = wbl 1987, 74 [ Wilhelm] = RdW 1987, 126 = EvBl. 1987/104 = ÖBA 1987, 322 [Hoyer]; OGH SZ 60/244; OGH SZ 61/26 = ÖBA 1988, 828 [Apathy] = wbl. 1988, 129 [Wilhelm]; OGH 61/122 = JBl. 1989, 53 [Schumacher] = ÖBA 1989, 159; OGH SZ 67/128; OGH 19. 11. 1998, 2Ob 268/98w; OGH 26. 02. 2002, 1Ob 144/01 k. 174 Überblick bei Adensamer/Eckert in Kalss, Vorstandshaftung in 15 europäischen Ländern 165, 252. 175 EBRV 124 BlgNR XXII. GP, S 16; OGH SZ 51/88; OGH SZ 53/53; OGH GesRZ 1981, 183; OGH RdW 1984, 42 (alle noch in Bezug auf § 85 GmbHG aF); OGH SZ 60/179 = ÖBA 1988, 165 [Karollus] = RdW 1988, 14 = wbl. 1988, 58; OGH wbl. 1989, 155 = EvBl 1989/122; OGH SZ 62/160 = JBl. 1990, 322 [P Bydlinski] = ÖBA 1990, 554 [Apathy] = RdW 1990, 251; OGH wbl 1990, 147; OGH wbl. 1990, 345; OGH 15. 01. 1992, 7Ob 598/92; OGH SZ 65/155 = ecolex 1993 = ÖZW 1994 = wbl. 1993; OGH wbl. 1997, 210 = ZIK 1998, 36; OGH ecolex 1998, 327 = ÖBA 1998, 488; OGH 13. 02. 2003, 8Ob 4/03a; Koppensteiner, GmbHG § 25 Rdn. 35; ReichRohrwig, GmbH-Recht I Rdn. 2/451; MünchKommAktG/Kalss § 92 Rdn. 58; Kastner/Doralt/Nowotny, Gesellschaftsrecht 397f.; Dellinger, Geschäfts-

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satzrechtliche Verantwortlichkeit der organschaftlichen Vertreter gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft (Konkursverschleppungshaftung).176 Grundsätzlich werden sämtliche durch die verspätete Konkurseröffnung geschädigten Gläubiger in den Schutzbereich des § 69 KO miteinbezogen.177 Der genaue Umfang des ersatzfähigen Schadens ist jedoch umstritten und hängt nach derzeit geltender Judikatur wesentlich vom Zeitpunkt ab, in dem der Gläubiger seine Forderung gegenüber der Gesellschaft erworben hat: Der ersatzfähige Schaden der Altgläubiger ist auf die Quotenverschlechterung – als Differenz zwischen fiktiver Quote bei rechtzeitiger Konkursanmeldung und tatsächlich erzielter Quote – beschränkt. Ein darüber hinausgehender Ersatz des negativen Interesses ist schon aus Kausalitätserwägungen auszuschließen. Während aufrechten Konkursverfahrens besteht keine direkte Handhabe gegen die organschaftlichen Vertreter (§ 69 Abs 5 KO); Altgläubiger können ihren Quotenschaden erst nach Beendigung des Insolvenzverfahrens und nur soweit geltend machen können, als der entsprechende Schaden der Gesellschaft nicht bereits durch den Masseverwalter liquidiert wurde.178 Neugläubigern wird nach derzeitiger Rechtsprechung der Ersatz ihres negativen Interesses (Vertrauensschaden) eingeräumt.179 Dies wird aus der Zielsetzung der Konkursantragspflicht abgeleitet, welche allgemein darauf ausgerichtet sei, insolvente Gesellschaften aus dem Rechtsgeschäftsverkehr zu ziehen um potentielle Geschäftspartner vor einer Kreditgewährung an eine bereits insolvente Gesellschaft zu bewahren.180

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führerhaftung 52; Karollus, ÖBA 1995, 7 (12); abweichend soweit ersichtlich nur Harrer, Haftungsprobleme 57 ff. Die Geschäftsleitung ist damit einer Doppelhaftung ausgesetzt; einerseits kann die Gesellschaft, andererseits jeder einzelne Gläubiger Ansprüche geltend machen; Schummer, Haftung des GmbH-Geschäftsführers wegen Konkursverschleppung – ebenfalls ein Irrweg? in FS Koppensteiner 211 (212). Zur Haftung wegen Schutzverletzung vgl. allgemein Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992). Vom Schutzbereich des § 69 KO sind allerdings Personen ausgenommen, die trotz Kenntnis von der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens Gläubigerstellung erlangt haben; OGH wbl. 1990, 147. EBRV 124 BlgNR XXII. GP, S. 24. OGH ecolex 1998, 327 = ÖBA 1998, 488; bestätigend OGH ecolex 1999, 634 = EvBl 1999/149; OGH ZIK 1999, 178. OGH ecolex 1998, 329 = ÖBA 1998, 488; bestätigend OGH ecolex 1999, 634 = EvBl 1999/149; OGH ZIK 1999, 178; kritisch Koppensteiner, GmbHG § 25 Rdn. 38.

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L. Schweden Erhebliche Verluste des Nennkapitals Das schwedische Kapitalgesellschaftsrecht kennt nur eine einzige Gesellschaftsform mit beschränkter Haftung: Die Aktiengesellschaft (aktiebolag), die sich seit 1995 in eine private 181 (privat aktiebolag) und eine öffentliche 182 (publikt aktiebolag) Form untergliedern lässt.183 Die für die Kapitalbindung 184 maßgeblichen Bestimmungen sind die §§ 13–20 des 25. Kapitels des Aktiengesetzes (Aktiebolagslag [ABL]).185 § 13 ABL normiert eine Handlungspflicht des Verwaltungsrats (bolagsstyrelsen), sobald dieser Grund zur Annahme hat, dass die Eigenmittel der Gesellschaft auf weniger als die Hälfte des eingetragenen Grundkapitals gesunken sind.186 In diesem Fall hat der Verwaltungsrat unverzüglich 187 eine sogenannte Kontrollbilanz (kontrollbalansräkning) zu erstellen 188 und diese einer Prüfung durch die Revisoren zu unterziehen. Die Kontrollbilanz ist unter Annahme der Unternehmensfortführung (going concern) 189 und grundsätzlich gemäß den Bestimmungen des Gesetzes über den

181 Die geschlossene AG hat ein Mindestgrundkapital von 100.000 SEK (ca 11.000 €); vgl. 1 Kapitel § 3 Abs. 2 ABL. S. Dejmek, Die Übertragung der Gesellschaftsanteile an der schwedischen privaten aktiebolag, in Kalss, Die Übertragung von GmbHGeschäftsanteilen in 14 Rechtsordnungen Europas (2003) 190ff. 182 Die Zweite Gesellschaftsrechtliche Richtlinie des Rates vom 13. 12. 1976 (77/91/ EWG) findet nur auf die Publikums-AG Anwendung. Die Publikums-AG muss ein Mindestgrundkapital in Höhe von 500.000 SEK, dies entspricht ca 55.000 €, aufbringen; vgl. 1 Kapitel § 14 Abs. 1 ABL. 183 Sofern nichts Abweichendes normiert ist, gelten die Gesetzesbestimmungen für beide Gesellschaftsformen; vgl. 1 Kapitel § 2 Abs. 2 ABL. 184 Vgl. Oelkers, Mindestkapital und Nennkapital – Leistungskraft für den Gläubigerschutz, GesRZ 06/2004, 360 ff. (Teil 1) und 01/2005, 27ff. (Teil 2). 185 Dieses ist während der letzten 10 Jahre einer Modernisierung unterzogen worden. Das neue Aktiengesetz ist als Ergebnis dieser Reformarbeiten am 1. Januar 2006 als ABL 2006 in Kraft getreten. Die nach dem bis 31. 12. 2005 geltenden Aktiengesetz ABL 1975 maßgeblichen Bestimmungen waren die §§ 12–19 des 13. Kapitels ABL 1975. 186 Die Beurteilung einer Situation als pflichtauslösend ist objektiviert. Eine Handlungspflicht muss als vorliegend betrachtet werden, wenn dem Verwaltungsrat hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft das Risiko eines Kapitalmangels hätte bewusst sein müssen; vgl. Andersson, Kapitalskyddet i aktiebolag (2002) 148, s. zudem Adensamer/Oelkers/Zechner, Unternehmenssanierung zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht (2006, in Druck). 187 Welche Zeitspanne der Begriff unverzüglich umfasst, ist im Einzelfall zu beurteilen; vgl. Andersson, Kapitalskyddet 2002 sowie Prop 200/01:150 s. 91. 188 Für eine beispielhafte Darstellung einer Kontrollbilanz s. Heinestamm, Fusioner & Fissioner5 (2004) 99. 189 Vgl. nur Svensson/Danelius, Aktiebolagslagen-Kommentar och lagtexter 279ff.

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Jahresabschluss 190 zu erstellen.191 Jedoch erlaubt § 14 des 25. Kapitels ABL gewisse Abweichungen. Führt ein anderer als der beim Jahresabschluss maßgebliche Bewertungsgrundsatz zu einem höheren Eigenkapital, darf dieser zugrunde gelegt werden.192 § 14 Z 1 des 25. Kapitels ABL sieht die Möglichkeit vor, Aktiva höher – nämlich zu ihrem tatsächlichen Wert (nettoförsäljningsvärdet) – sowie Passiva niedriger zu bewerten,193 sofern die dabei angewandten Maßstäbe mit den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung (god redovisningssed) vereinbar sind.194 Wird von den in § 14 des 25. Kapitels ABL normierten Abweichungen Gebrauch gemacht, ist dies gesondert auszuweisen. Bestätigt die Bilanz den Verdacht über den Verlust des halben Grundkapitals, so hat der Verwaltungsrat schnellstmöglich 195 eine Hauptversammlung (bolagsstämma) – die sogenannte erste Kontrollhauptversammlung (första kontrollstämma) – einzuberufen und dieser die Frage vorzulegen, ob die Gesellschaft zu liquidieren ist.196 Beschließt die erste Kontrollhauptversammlung, dass die Gesellschaft noch nicht in das Stadium der Liquidation treten soll, so ist nach Ablauf von acht Monaten, die gewissermaßen einen Aufschub zur Sanierung der Gesellschaft bzw. zur Aufstockung des Kapitals darstellen, erneut eine Hauptversammlung, die zweite Kontrollhauptversammlung, abzuhalten (andra kontrollstämma).197 Die schwedische Lehre 198 beschreibt drei Methoden der Sanierung: (i) Durch eine Kapitalherabsetzung; hierbei bildet das Mindeststammkapital in Höhe von 100.000 SEK die Untergrenze (oäkta sanering).

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Årsredovisningslagen 1995:1554 (ÅRL). 25. Kapitel § 14 ABL. S. Andersson, Kapitalskyddet (2002) 146. In Einzelfällen ist auch die Möglichkeit vorgesehen, Passiva gar nicht auszuweisen: So ist eine Verbindlichkeit, die durch die Aufnahme eines staatlichen Kredits entstand und deren Rückzahlungspflicht von der wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft abhängt, nicht in die Kontrollbilanz aufzunehmen, sofern die Schuld im Konkurs- oder Liquidationsfall erst nach Begleichung der anderen Verbindlichkeiten zurückzuzahlen ist (25. Kapitel § 14 Z 3 ABL). Auch immaterielle Wirtschaftsgüter nehmen in der Kontrollbilanz eine Sonderstellung ein: Während sie im Jahresabschluss nicht aktivierbar sind, dürfen sie im Rahmen dieser zum gemeinen Wert ausgewiesen werden. Dieser Ausdruck impliziert, dass die Einberufung unverzüglich zu veranlassen ist, jedoch steht dem Verwaltungsrat nach hA die volle Einberufungsfrist, welche Gesetz oder Satzung vorsehen, zu (dies sind maximal sechs Wochen, vgl. 7. Kapitel § 18 Abs. 1 ABL); Andersson, Kapitalskyddet i aktiebolag (2002) 150. 25. § 15 ABL. 25. Kapitel § 16 ABL. Vgl. Svensson/Danelius, Aktiebolagslagen-Kommentar och lagtexter (2002) 279ff.; Andersson, Kapitalskyddet i aktiebolag (2002) 151; Rodhe, Aktiebolagsrätt (2002) 79 f.; Johansson; Nials svensk associationsrätt i huvuddrag (2001) 329; Hemström, Bolagens rättsliga ställning (2002) 149.

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(ii) Durch eine Neuemission zu über-pari Werten, wobei das Agio zur Verlustdeckung verwendet wird (äkta sanering). (iii) Durch den Zuschuss frischen Eigenkapitals durch Aktionäre oder Dritte an die Gesellschaft bzw. durch die Gewährung eines Darlehens – der Darlehensvertrag hat die Klausel zu enthalten, dass der geschuldete Betrag erst dann zurückzuzahlen ist, wenn die Gesellschaft wieder über ausreichendes Eigenkapital verfügt (aktieägartillskott).199 Während der zweiten Kontrollhauptversammlung ist erneut auf Grundlage einer Kontrollbilanz (ny kontrollbalans) über eine Liquidation zu beschließen. Ergibt auch diese Bilanz, dass die Gesellschaftsmittel das Grundkapital weiterhin unterschreiten und beschließt die zweite Kontrollhauptversammlung dennoch nicht freiwillig die Liquidation, so wird die Gesellschaft zwangsliquidiert.200 Erstellt der Verwaltungsrat die Kontrollbilanz nicht, lässt er diese nicht prüfen oder ruft er die Hauptversammlung nicht ein bzw. beantragt er nicht nach acht Monaten gegebenenfalls die gerichtliche Zwangsliquidation, haften die Verwaltungsratsmitglieder unabhängig vom Vorliegen eines Schadens persönlich und solidarisch für die Verbindlichkeiten, die seit Unterlassung der gebotenen Handlung entstanden sind. Dasselbe gilt für Personen, die in Kenntnis der Säumnis des Verwaltungsrats im Namen der Gesellschaft gehandelt haben, etwa der geschäftsführende Direktor.201 Diejenigen Aktionäre, die während der zweiten Kontrollhauptversammlung in Kenntnis der Liquidationspflicht gegen diese gestimmt haben, werden solidarisch mit den oben erwähnten Personen verantwortlich.202

199 Zugleich steht es der Gesellschaft frei, keine dieser Maßnahmen zu ergreifen – in der Hoffnung, dass sich die Geschäftslage automatisch bessert. 200 In diesen Fällen hat der Verwaltungsrat die gerichtliche Liquidation binnen zwei Wochen zu beantragen. Antragsberechtigt sind jedes einzelne Verwaltungsratsmitglied, der geschäftsführende Direktor, ein Prüfer sowie der einzelne Aktionär – nicht jedoch die Gläubiger. Die Gesellschaft ist auch dann zu liquidieren, wenn eine zweite Kontrollhauptversammlung nicht innerhalb von acht Monaten abgehalten wird sowie, wenn die zweite Kontrollbilanz keiner Prüfung durch die Revisoren unterzogen wird. Das Gericht hat die Liquidation jedoch zu versagen, wenn die Hauptversammlung in der Zwischenzeit, d. h. nach dem Antrag auf Zwangsliquidation, eine Kontrollbilanz aufstellt, aus welcher hervorgeht, dass das Eigenkapital dem Grundkapital zumindest entspricht. 201 25. Kapitel § 18 3. Teil ABL normiert eine Beweislastumkehr. Das Verwaltungsratsmitglied sowie der im Namen der Gesellschaft Handelnde kann sich von der Haftung befreien, indem er vorbringt, dass er dem Beschluss des Kollegiums, keine Kontrollbilanz zu errichten, nicht zugestimmt hat und diesen Vorbehalt im Verwaltungsratsprotokoll dokumentieren ließ. 202 Die Haftung wegen Nichterrichtung der ersten Kontrollbilanz bzw. ihrer unterlassenen Prüfung greift nur dann, wenn das Eigenkapital zu dem Zeitpunkt, zu dem die Verpflichtung zur Errichtung der ersten Kontrollbilanz bestand, tatsächlich weniger als die Hälfte des registrierten Grundkapitals betrug. Es kommt ferner zu keiner Haftung, wenn das Eigenkapital nach diesem Zeitpunkt, aber vor dem spätmög-

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Verantwortung für Verschleppungsschäden Das schwedische Recht kennt keinen eigenständigen Haftungstatbestand der Konkursverschleppung.203 Verschleppungsschäden werden über die Kapitalerhaltungsregeln aufgefangen, die bei Verlust des halben Nennkapitals greifen. Nach insoweit einhelliger Literatur umfasst die Haftung neben den wirksam bestellten auch die fehlerhaft bestellten Geschäftsleiter; 204 ob auch die faktischen Geschäftsleiter der Haftung unterliegen, ist umstritten.205 Anspruchsberechtigt ist jeder, der eine Forderung gegen die Gesellschaft hat, soweit die Verwaltungsratsmitglieder bei Entstehen der Forderung pflichtwidrig gehandelt haben.206 Das Vorliegen eines Schadens ist keine Haftungsvoraussetzung. Die Rechtsprechung betrachtet diese Regeln im Verhältnis zum allgemeinen Schadenersatzrecht als lex specialis, was eine darüber hinaus gehende Haftung der Geschäftsleitung nach allgemeinen Prinzipien ausschließt. Demgegenüber wird

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lichsten Errichtungszeitpunkt doch noch die kritische Grenze überschreitet. Es genügt somit für eine Haftung nicht, dass bloß Grund zur Annahme mangelnden Kapitals besteht. Wen in dem oben beschriebenen Fall die Beweislast trifft, ist nicht gesetzlich normiert, der Gesetzgeber überlässt diese Frage der Judikatur. In der Rechtsprechung wurde bisher angenommen, dass den Gläubiger die Last trifft, zu beweisen, dass tatsächlich ein Kapitalmangel vorlag; vgl. Andersson, Kapitalskyddet i aktiebolag (2002) 155 sowie Svensson/Danelius, Aktiebolagslagen-Kommentar och lagtexter (2002) 289. Zudem greift die Haftung nicht für jene Verbindlichkeiten, die nach Beantragung der Liquidation entstehen. Eine Konkursantragspflicht des Schuldners besteht nach hL nicht. Antragsberechtigt sind neben dem Schuldner seine Gläubiger; s. 1. Kapitel § 2 Abs. 1 Konkurslagen (schwedisches Konkursgesetz). Ein Schuldner gilt nach schwedischem Recht als insolvent, wenn er nicht in der Lage ist, seine Schulden bei Fälligkeit zu bezahlen und dieses Unvermögen nicht nur vorübergehend ist. Konkursgrund ist einzig die Zahlungsunfähigkeit, die Überschuldung allein führt noch nicht zur Insolvenz; s. 1. Kapitel § 2 Abs. 2 Konkurslagen sowie Herrmann, Schweden, in Jahn/Sahm, Insolvenzen in Europa, 4. Aufl. 2004, 434. Dotevall, Skadeståndsansvar för styrelseledemot och verkställande direktör (1989) 82ff.; Stattin, Företagsstyrning (2005) 227 ff. Dafür Andersson, Kapitalskyddet i aktiebolag (2002) 154; Löfgren/Kornfeld, Personligt ansvar, 3. Aufl. 2002, 71; Stattin, Företagsstyrning (2005) 223ff., dagegen Dotevall, Skadeståndsansvar för styrelseledemot och verkställande direktör (1989) 84f. Das staatliche Komitee zur Überarbeitung des schwedischen Gesellschaftsrechts hält in seinem Bericht Statens offentliga utredningar / SOU 1999:36 S. 100f. fest, dass die gesetzlichen Bestimmungen eine Haftung auch der de facto Geschäftsführer nicht ausschließen. Die Beantwortung der Frage, inwieweit diese Möglichkeit besteht, überlässt das Komitee jedoch der Rechtsprechung und Lehre. 25. Kapitel § 18 Abs. 1 ABL. Die Anspruchsberechtigung kommt zwar hier nicht dem Konkursverwalter zu, jedoch haben die Gläubiger die Möglichkeit, diesen zur Prozessführung zu ermächtigen, vgl. Löfgren/Kornfeld, Personligt ansvar, 3. Aufl. 2002, 73.

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von Teilen der Lehre – im Anschluss an die dänische und norwegische Praxis – zusätzlich zu den Kapitalerhaltungsregeln eine Geschäftsleiterhaftung aus culpa in contrahendo befürwortet.207 Danach besteht eine Pflicht des Vorstands bzw. des geschäftsführenden Direktors, potentielle Vertragspartner über die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft aufzuklären.208 Ihre schuldhafte Verletzung 209 begründet die persönliche und direkte Haftung der Leitungsorgane gegenüber den Gläubigern.210 Diese Auffassung hat in der schwedischen Rechtsprechung bisher allerdings noch keinen Niederschlag gefunden. Die haftungsrechtliche Spezialregelung des 25. Kapitels § 18 ABL umfasst nur Neugläubiger, deren Forderungen nach Außerachtlassung einer der den Verwaltungsrat treffenden Verhaltenspflichten aufgekommen sind. Altgläubiger, die ihre Ansprüche nicht auf die Haftungssanktion gemäß 25. Kapitels ABL stützen können, müssen nach den allgemeinen aktienrechtlichen Haftungsbestimmungen des 29. Kapitels schwedisches Aktiengesetz vorgehen. Demgemäß haften die Verwaltungsratsmitglieder und der geschäftsführende Direktor persönlich und solidarisch gegenüber Dritten (externt skadeståndsansvar), soweit der Schaden durch einen Verstoß gegen das Aktiengesetz, die Satzung oder das Jahresabschlussgesetz zugefügt wurde und es sich dabei nicht um einen bloßen Reflexschaden handelt.211 Das Vorliegen eines Schadens ist in diesem Fall – und im Gegensatz zur Haftung nach 25. Kapitel § 18 ABL – Tatbestandsmerkmal. Gläubiger, die aufgrund des pflichtwidrigen Verhaltens der Leitungsmitglieder einen Schaden erlitten haben, können daneben gegen die Gesellschaft vorgehen. Diese kann ihrerseits an den Verwaltern Regress nehmen.

207 Dotevall, Skadeståndsanavar för styrelseledamot och verkställande direktör (1989) 523, 527f. 208 Soweit die Geschäftsleitung zu diesem Zeitpunkt bereits hätte erkennen müssen, dass die Gesellschaft ihren Teil des Vertrags nicht würde erfüllen können; Dotevall, Skadeståndsanavar för styrelseledamot och verkställande direktör (1989) 517, 520. 209 Zusätzliche Voraussetzungen, wie die Inanspruchnahme persönlichen Vertrauens oder wirtschaftliches Eigeninteresse am Vertragsabschluss, schreibt das schwedische Recht nicht vor. 210 Und zwar im Gegensatz zum deutschen Recht auf das positive Interesse (Erfüllungsinteresse); s. Hellner, Speciell avtalsrätt II 2. häftet, 2. Aufl. 1993, 210f.; Dotevall, Skadeståndsanavar för styrelseledamot och verkställande direktör (1989) 523, 527f. 211 29. Kapitel § 1 2. Satz ABL 2006. Andersson befürwortet – entgegen der hM – eine externe Haftung auch bei bloßen Reflexschäden, vgl. Andersson, Medelbar skada och aktieägares skadeståndsanspråk in Nordisk Tidsskrift for Selskabsret 1999:3 81 ff.

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M. Slowenien Erhebliche Verluste des Nennkapitals Am 23. 07. 1999 ist in Slowenien das Gesetz über das Finanzverhalten der Unternehmen (ZFPPod) 212 in Kraft getreten. Dieses Gesetz gilt für beide Kapitalgesellschaftsformen nach dem ZGD und enthält in seinem 2. Kapitel Vorschriften über die angemessene Kapitalausstattung von Kapitalgesellschaften (Art. 6 ZFPPod), sowie entsprechende Verhaltenspflichten, die bei Unterkapitalisierung, Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft greifen (Art. 10–18 ZFPPod). Das Gesetz verpflichtet die Kapitalgesellschaften von vornherein zu einer – nach Art und Umfang der vorgenommenen Geschäfte – angemessenen Kapitalausstattung (Art. 6 ZFPPod). Ergibt die Erstellung einer Jahres- oder Zwischenbilanz den Verlust der Hälfte des Grundkapitals, wird ein Verstoß gegen Art. 6 ZFPPod jedenfalls angenommen (Art. 10 Abs. 1, 2 ZFPPod). In diesem Fall haben Vorstand bzw. Geschäftsführung die Gründe für den Eintritt der Unterkapitalisierung zu analysieren und innerhalb einer zweimonatigen Frist entsprechende Sanierungsmaßnahmen auszuarbeiten (Z 1); Maßnahmen, die in die Zuständigkeit des Leitungsorgans fallen, sind sofort umzusetzen (Z 2); schließlich ist die Gesellschafterversammlung einzuberufen und ihr die Umsetzung jener Maßnahmen vorzuschlagen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen (Art. 10 Abs. 1 Z 3 ZFPPod). Bei Verletzung dieses Pflichtenkatalogs sieht das Gesetz die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Geschäftsleitung gegenüber den Gläubigern vor (Art. 19 Abs. 1 Z 1 ZFPPod). Die Sanktion ist als insolvenzbezogene Ausfallshaftung gestaltet, wobei Art. 21 Abs. 1 ZFPPod eine Deckelung der Ersatzpflicht 213 vorsieht.

Verantwortung für Verschleppungsschäden In Slowenien werden Schäden, die durch das einfache Weiterführen der Geschäfte in der Unternehmenskrise entstehen, teilweise über die Regeln aufgefangen, die bei Unterkapitalisierung der Gesellschaft respektive schweren Verlusten des Nennkapitals greifen (Art. 10 ZFPPod). Zusätzlich kennt das slowenische Recht eine haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Geschäftsleiter, die – wie das deutsche Recht – an die schuldhafte Verletzung der Insolvenzantragspflicht anknüpft (vgl. Art. 12 f. ZFPPod): 212 Zakon o finančnem poslovanju podjetij, Uradni list RS, 8. 07. 1999 Nr. 54, S. 6753–6759. Deutsche Übersetzung abgedruckt in WiRO 2000, 219. 213 Zur Höhe der Deckelung s. sogleich.

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Ist das Unternehmen nicht mehr in der Lage seine fälligen Verbindlichkeiten zu erfüllen (Zahlungsunfähigkeit – Art. 12 ZFPPod), oder reicht das Unternehmensvermögen nicht mehr zur Tilgung der Verbindlichkeiten aus (Überschuldung – Art. 13 ZFPPod),214 ist die Geschäftsleitung sofort, spätestens aber innerhalb zweier Monate 215 zur Eröffnung des Konkurs- oder Zwangsausgleichsverfahrens verpflichtet (Art. 12, 13 ZFPPod). Die schuldhafte Verletzung der genannten Verpflichtung führt im Konkursfall zur Haftung gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft (Art. 19f. ZFPPod). Der Adressatenkreis umfasst neben der Geschäftsleitung (Art. 19 ZFPPod) auch den Aufsichtsrat (Art. 20 Abs 1 ZFPPod) und die Gesellschafter (Art. 20 Abs. 2 ZFPPod) der Kapitalgesellschaft. Der Haftungsumfang bestimmt sich nach dem Forderungsausfall der Gläubiger im Konkurs; für Mitglieder des Vorstands bzw. des Aufsichtsrats sieht das Gesetz (Art. 21 Abs. 1 ZFPPod) – je nach Größe der Gesellschaft – eine Deckelung (von 5 bis maximal 15 Mio Tolar; dies entspricht etwa 23.500 bis 70.500 €) 216 vor. Die Schadenersatzansprüche können nur auf Rechnung aller Konkursgläubiger, entweder durch den Konkursverwalter (Art. 22 Abs 1 ZFPPod) oder den einzelnen Gläubiger (Art. 22 Abs. 2 ZFPPod) geltend gemacht werden. Gibt das Gericht dem Klagebegehren statt, hat der Beklagte den Schadenersatz in die Konkursmasse zu leisten (Art. 22 Abs. 3 ZFPPod).

N. Spanien Erhebliche Verluste des Nennkapitals Wie im französischen Recht stellt ein erheblicher Verlust des Gesellschaftsvermögens auch in Spanien einen Auflösungsgrund für die Gesellschaft dar. 217 Entsprechend Art. 260 Aktiengesetz (Ley de Sociedades Anónimas [LSA]) sowie 214 S. Struc, Slowenisches Insolvenzrecht, ZIK 2005, 159 (160). 215 Die Bestimmungen über die Zahlungsunfähigkeit (Art. 12) und die Überschuldung (Art. 13) sind bezogen auf den Verfahrensablauf nicht einheitlich gestaltet (vgl. Art. 12 Abs. 2 sowie Art. 13 Abs. 2 u. 3). 216 Die Deckelung greift allerdings nicht, wenn der Schaden absichtlich oder aus grober Fahrlässigkeit herbeigeführt wurde (Art. 21 Abs. 2). Darüber hinaus gilt sie nicht für jene Gesellschafter, die gegen die Einleitung von Maßnahmen gemäß Art. 10 gestimmt haben, wenn sie der Vorstand in den letzten zwei Jahren vor Konkurseröffnung vorgeschlagen hat und dieser daraufhin zurückgewiesen wurde. 217 Art. 260 Abs. 4 Ley de Sociedades Anónimas schreibt diese Rechtsfolge für die Aktiengesellschaft vor, sofern nicht zugleich Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist, die ein Konkursverfahren entsprechend der Konkursordnung nach sich zieht. Der gesetzliche Auflösungsgrund soll primär das Vertrauen der Gläubiger auf das Nennkapital der Gesellschaft schützen. S. Adolfo Sequeira Martin in Arroyo/ Embid, Comentarios a la Ley de Sociedades Anónimas III 2481. Zur GmbH José

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Art. 104.1 lit e GmbHG (Ley de Sociedades de Responsabilidad Limitada [LSRL]) hat die Gesellschafterversammlung binnen zwei Monaten ab Kenntnis bzw. fahrlässiger Unkenntnis 218 vom tatbestandsmäßigen Verlust über die Liquidation der Gesellschaft zu beschließen, wenn deren Vermögen unter die Hälfte des Nennkapitals fällt und kein Konkursverfahren eingeleitet wird.219 Bei der Berechnung des Verlusts stellt Spanien auf die Buchwerte ab.220 Die Gesellschafterversammlung kann die Liquidation abwenden, indem sie beschließt, das Nennkapital mittels einer nominellen Kapitalherabsetzung dem real vorhandenen Gesellschaftsvermögen anzupassen.221 Die Anpassung muss – in Übereinstimmung zu Frankreich – lediglich auf die maßgebliche 50 %-Verlustgrenze vorgenommen werden,222 eine vollständige Angleichung des Gesellschaftsvermögens mit dem Nennkapital wird nicht gefordert. Wird die Versammlung nicht binnen der vorgeschriebenen zwei Monate einberufen bzw. fasst diese weder einen Beschluss zugunsten einer Kapitalanpassung noch zugunsten einer Auflösung, hat jeder Beteiligte das Recht, gerichtlich die Liquidation der Gesellschaft zu beantragen.223 Die Geschäftsleiter sind zu diesem Schritt nach Ablauf weiterer zwei Monate verpflichtet, so dass sich für Spanien in Summe eine Zeitspanne von maximal vier Monaten ergibt, innerhalb derer die Geschäftsleitung auf eine automatische Erholung der finanziellen Situation bzw. Beseitigung der Auflösungsvoraussetzungen hoffen darf.224

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221

222 223 224

Ramón Salelles in Arroyo/Embid, Comentarios a la Ley de Sociedades de Responsabilidad Limitada 1029. So Adolfo Sequeira Martin in Arroyo/Embid, Comentarios a la Ley de Sociedades Anónimas III 2496 mwN. Art. 262.2 Abs. 1 LSA schreibt nicht ausdrücklich vor, ab welchem Zeitpunkt die zweimonatige Frist zu berechnen ist. Vgl. ausführlich Adensamer/Oelkers/Zechner, Unternehmenssanierung zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht (2006, in Druck). Dies ergibt sich für die GmbH eindeutig aus Art. 104.1 lit e Ley de Sociedades de Responsabilidad, wird aber auch für die AG vertreten: José Ramón Salelles in Arroyo/Embid, Comentarios a la Ley de Sociedades de Responsabilidad Limitada (2001) 1029. Art. 260.1.4 LSA. Zwar kennt der spanische Gesetzgeber keine dem italienischen Modell entsprechende Zweiteilung des Verfahrens mit Verschärfung der Rechtsfolge bei Verlusten, welche das Mindestkapital unterschreiten; im Zuge der Kapitalherabsetzung ist dessen Schwelle aber jedenfalls zu wahren. Diese beträgt für die SL 3.006 €; für die SA 60.1010 €. So implizit Adolfo Sequeira Martin in Arroyo/Embid, Comentarios a la Ley de Sociedades Anónimas III 2482. Zur GmbH José Ramón Salelles in Arroyo/Embid, Comentarios a la Ley de Sociedades de Responsabilidad Limitada 1030. Art. 262.3 LSA. Vgl. Art. 262.2 LSA iVm Art. 262.4 LSA.

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Verantwortung für Verschleppungsschäden Das spanische Gesellschaftsrecht kennt sowohl Haftungstatbestände, die auf ein Fehlverhalten im Zuge schwerer Verluste des Gesellschaftsvermögens abstellen als auch eine Insolvenzverschleppungshaftung, welche den nicht zeitgerechten Konkursantrag sanktioniert. Vorrangig werden typische Verschleppungsschäden über die Sanktionsmechanismen bei schwerem Kapitalverlust der Gesellschaft aufgefangen. Wurde die Gesellschafterversammlung entgegen der gesetzlichen Vorgabe nicht (rechtzeitig) einberufen, greift eine Primär- sowie Solidarhaftung 225 für die gesamten Gesellschaftsverbindlichkeiten, d.h. für Altund Neuschulden.226 Dabei knüpft der Haftungstatbestand allein an die Unterlassung an; 227 auf eine Verursachung des Schadens wird nicht abgestellt.228 Angesichts der bewährten und frühzeitigen Haftung bei Hälfteverlust sahen sich weder Literatur noch Rechtsprechung veranlasst, eine zusätzliche Konkursantragspflicht zu fordern.229 Dennoch wurde diese 2003 im Zuge der Novelle des spanischen Insolvenzrechts (Ley 22/2003 de 9 julio, Concursal) 230 eingeführt: Anknüpfungspunkt für die Haftung bildet Art. 5.1 Ley Concursal, wonach die Schuldner verpflichtet sind, innerhalb von zwei Monaten ab Kenntnis bzw. fahrlässiger Unkenntnis von der Insolvenz – die nach spanischem Recht mit Zahlungsunfähigkeit eintritt – den Konkursantrag zu stellen. Als Adressaten kommen neben den wirksam bestellten auch faktische Geschäftsleiter in Betracht (133.2 LSA, Art. 69 LSRL [mit Generalverweis auf das AktG]). Verletzen die Geschäftsleiter die Konkursantragspflicht schuldhaft, haften sie solidarisch für die gesamten Gesellschaftsverbindlichkeiten.231 Der Haftungstatbestand knüpft allein 225 Sequeira Martin in Arroyo/Embid, Comentarios S.A. III 2506f. Die Haftung ist nicht subsidiär zur Haftung der Gesellschaft. 226 Pérez Carillo, La Administración de la Sociedad Anónima (1999) 156ff., 158; Sequeira Martin in Arroyo/Embid, Comentarios S.A. III 2507. Art. 262.5 LSA: „Die Verwalter haften solidarisch für die Gesellschaftsverbindlichkeiten“. Noch ausdrücklicher das GmbHG in Art. 105.5 LSRL: „für die gesamten Gesellschaftsverbindlichkeiten“. S. auch Ramón Salelles in Arroyo/Embid, Comentarios S.L. 1042f. mit Nachweisen zur Judikatur. 227 Sequeira Martin in Arroyo/Embid, Comentarios S.A. III 2506 mit Nachweisen zur Rechtsprechung. S auch Pérez Carillo, La Administración de la Sociedad Anónima (1999) 156 zur hM. Sie selbst folgt jedoch der Ansicht, dass die Kausalität eine Haftungsvoraussetzung bildet. 228 So wurde in einer Entscheidung des spanischen Höchstgerichts (STS) vom 07. 05. 2004 der Einwand zurückgewiesen, dass zwischen der unterlassenen Einberufung der Hauptversammlung und dem Schaden des Gläubigers kein Kausalzusammenhang bestehe. S. Entscheidung v. 07. 05. 2004 (328/2004). 229 Arroyo/Boet in Arroyo/Embid, Comentarios S.A. III (2001) 1440; Sanchez Calero, Administradores 329. 230 Nun idF ley 36/2003, de 11 noviembre. 231 Art. 105.5 LSRL.

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an die Unterlassung an; auf eine Verursachung des Schadens wird nicht abgestellt.232 III. Zusammenfassende Thesen A. Erhebliche Verluste 1. Europäische Vorgaben: Auf europäischer Ebene wird nur die Aktiengesellschaft von den Handlungspflichten bei erheblichen Verlusten des Nennkapitals erfasst, für die GmbH besteht keine korrespondierende Norm. Die europäische Regelung ist in ihren Handlungsvorgaben sehr großzügig: Sie schreibt lediglich eine Einberufungs- und Informationspflicht des Verwaltungsorgans vor, sieht darüber hinaus aber weder konkrete Maßnahmen vor, noch verpflichtet sie die Hauptversammlung überhaupt zu einem Tätigwerden. Schließlich steht es den Mitgliedstaaten frei, die Höhe des als schwer einzustufenden Verlusts ebenso wie die Frist für die Einberufung der Hauptversammlung festzulegen. 2. Erfasste Rechtsformen: Trotz der fehlenden europäischen Vorgaben schreibt eine Vielzahl der Mitgliedstaaten Handlungspflichten bei Verlust eines bestimmten Bruchteils des Nennkapitals auch für die GmbH vor. Deutschland, Österreich, Italien und Spanien sehen für beide Gesellschaftsformen Parallelnormen vor; Dänemark differenziert bei generellem Gleichklang der Regelungen die Schwellenwerte und setzt den die Handlungspflicht auslösenden Grenzwert für die GmbH um 10 Prozentpunkte herab. Finnland und Schweden schließlich verfügen nur über die AG, wobei die Handlungspflichten sowohl bei der offenen als auch der geschlossenen Aktiengesellschaft greifen. 3. „Schwerer Verlust“: Mangels einer europäischen Vorgabe differiert die Definition eines schweren Verlusts: Während Deutschland, Finnland, Österreich, Schweden und Spanien den Verlust der Hälfte des Nennkapitals als schwer und damit pflichtauslösend normieren, sieht Italien mehrere Schwellenwerte vor, deren Erreichen unterschiedlich strikte Verhaltenspflichten begründet: der prozentual bestimmte Verlust in Höhe von 33 % wird um das Unterschreiten der absoluten Ziffer des Mindestkapitals ergänzt. Dänemark normiert zwei verschiedene Grenzwerte: Während für die GmbH bereits ein Verlust von 40 % des Nennkapitals relevant ist, stellt das Aktienrecht auf ein Unterschreiten der 50 % Grenze ab. 232 So wurde in einer Entscheidung des spanischen Höchstgerichts (STS) vom 07. 05. 2004 der Einwand zurückgewiesen, dass zwischen der unterlassenen Einberufung der Hauptversammlung und dem Schaden des Gläubigers kein Kausalzusammenhang bestehe. S Entscheidung v. 07. 05. 2004 (328/2004).

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Norwegen schließlich ergänzt die 50 % Verlust-Grenze um ein dynamisches Kriterium, indem es festlegt, dass das Eigenkapital zu jeder Zeit dem unternehmerischen Wagnis und der Größe des Geschäftsbetriebes zu entsprechen hat. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, werden dem Verwaltungsrat – wie bei Unterschreitung des 50 %-Wertes – Einberufungs- und Informationspflichten auferlegt. Schließlich verfügt Österreich mit dem Unternehmensreorganisationsgesetz auch über ein „dynamisches Element“, das zur Definition des vermuteten Reorganisationsbedarfs auf sog empirische Kennzahlensysteme zurückgreift. Nach dem Gesetz wird das Vorliegen von Reorganisationsbedarf vermutet, wenn die Eigenmittelquote weniger als 8 % und die fiktive Schuldentilgungsdauer (Quotient aus Fremdkapital abzüglich liquider Mittel und dem Mittelüberschuss aus der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit) mehr als 15 Jahre beträgt. 4. Berücksichtigung der stillen Reserven: Für die Ermittlung eines schweren Verlusts sind in aller Regel die Buchwerte maßgebend. Die Einbeziehung stiller Reserven wird nur von wenigen Mitgliedstaaten und dort wiederum nur mit geringer Gewichtung gestattet: Österreich lässt die Berücksichtigung stiller Reserven zu, sofern diese zur Verminderung des Verlusts nach den gesetzlichen Bewertungsvorschriften aufgelöst werden können, Italien hingegen ermöglicht deren Einbeziehung nur in der Erläuterung des Leitungsorgans. Allein Finnland und Schweden lassen die Berücksichtigung stiller Reserven in größerem Ausmaß zu: Zwar gilt generell das Prinzip der Bilanzkontinuität, doch darf bei der Kontrollbilanzerstellung ein großzügigerer Bewertungsgrundsatz herangezogen werden, sofern dieser ein höheres Eigenkapital ausweist. Somit können Aktiva höher – nämlich zu ihrem tatsächlichen Wert – sowie Passiva niedriger bewertet werden, solange die dabei angewandten Maßstäbe mit den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung vereinbar sind. Schweden erlaubt zudem die Aktivierung immaterieller Wirtschaftsgüter in der Kontrollbilanz, diese dürfen zum gemeinen Wert ausgewiesen werden, im Jahresabschluss dagegen sind diese nicht aktivierbar. 5. Verhaltenspflichten der geschäftsführenden Organe bei schwerem Verlust des Nennkapitals: Alle untersuchten Rechtsordnungen begründen die Pflicht, spätestens bei Verlust des halben Nennkapitals eine Gesellschafterversammlung einzuberufen. Weitergehende Verhaltensanforderungen können nachfolgend durch die Beschlussfassung der Gesellschafterversammlung begründet werden, deren Umsetzung der Geschäftsführung obliegt. 6. Handlungsvarianten der General- bzw. Hauptversammlung: Die Handlungsvarianten der General- bzw. Hauptversammlung bei Verwirklichung des handlungsauslösenden Tatbestands sind unterschiedlich ausgestaltet, es lassen sich nach zunehmender Strenge der Regelungen die folgenden Gruppen bilden: Deutschland, Norwegen und Österreich normieren außerhalb der Einberufung und der Erörterung keine weitergehenden Verhaltenspflichten. Dänemark,

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Finnland, Italien Schweden und Spanien geben der Hauptversammlung grundsätzlich zwei Beschlussvarianten vor: Diese hat zu entscheiden, die Gesellschaft aufzulösen oder eine Kapitalberichtigung vorzunehmen. Vielfach wird ihr zudem ein kurzzeitiger Aufschub zum Zwecke der Sanierung der Gesellschaft gewährt: Finnland und Italien räumen hierfür eine Frist von einem Jahr ein, innerhalb derer die Gesellschaft mit dem Ziel weitergeführt werden darf, den erlittenen Verlust auszugleichen. Gelingt dies nicht, ist die Kapitalherabsetzung bis zur Schwelle des Mindestkapitals vorzunehmen. Schweden gewährt der Gesellschaft einen Aufschub von acht Monaten. Unterschiedlich verfahren die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Höhe des während der Sanierungszeit aufzustockenden Kapitals: Während Finnland, Italien und Spanien die Wiederherstellung von 50 % des Eigenkapitals genügen lassen, verlangt Schweden eine 100 %-ige Auffüllung. Sinkt das Gesellschaftsvermögen durch Verluste unter die Schwelle des gesetzlichen Mindestkapitals, sieht Italien strikte Gegenmaßnahmen vor: Die Hauptversammlung hat entweder eine Kapitalberichtigung oder die Umwandlung der Gesellschaft in eine Personengesellschaft zu beschließen. Fasst sie keinen der beiden Beschlüsse, ist die Gesellschaft aufzulösen. Neben den Einberufungspflichten bei Verlust des halben Nennkapitals stellt Österreich sanierungsbedürftigen Unternehmen im Vorfeld der Insolvenz ein eigenes gerichtliches Reorganisationsverfahren zur Verfügung. Dieses Verfahren greift bei Reorganisationsbedarf, den das Gesetz an verschiedenen Kennzahlen festzumachen versucht, und sieht neben der Ausarbeitung eines Reorganisationsplans und dessen Prüfung durch externe Sachverständige auch Haftungsbestimmungen für Geschäftsleitung, Aufsichtsrat und Gesellschafter vor. 7. Sanktionen einer Pflichtverletzung: Die auf eine Pflichtverletzung folgenden Sanktionen variieren von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat sowohl materiell in ihrer Strenge als auch formell nach ihrem Regelungsort und -gehalt. Einige Länder sehen für Pflichtverletzungen im Zuge des schweren Verlusts des Nennkapitals eigene Bestimmungen vor, andere greifen auf die allgemeinen Haftungsnormen zurück. Eine weitere Differenzierung lässt sich nach der systematischen Verortung der Sanktionsnorm treffen: Sie kann sowohl im Strafrecht als auch im Zivilrecht liegen, manche Staaten kombinieren beide Ansätze. Österreich etwa kennt keine spezielle Sanktion bei Nichteinhaltung der Pflichten nach Verlust des halben Nennkapitals, stattdessen greifen die allgemein gesellschaftsrechtlichen Haftungsregelungen. Daneben kommen besondere Haftungsbestimmungen für Geschäftsführer (§ 22 URG), Aufsichtsratsmitglieder und Gesellschafter (§ 25 URG) zur Anwendung, die an die unterlassene Einleitung eines Reorganisationsverfahrens anknüpfen. Auch Dänemark, Finnland und Norwegen verfügen über keine eigene Haftungsnorm, Ansprüche können auf allgemeine Sorgfaltsverletzung bzw. mangelhafte Geschäftsführung gestützt werden.

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Der spanische Gesetzgeber normiert eine eigene strenge solidarische Außenhaftung der pflichtwidrig handelnden Verwalter, die auf sämtliche Gesellschaftsverbindlichkeiten, d. h. Alt- und Neuschulden gerichtet ist. Die Haftung der Verwalter tritt neben die Haftung der Gesellschaft, sie ist dieser nicht nachgeordnet. Der italienische Gesetzgeber sanktioniert nicht unmittelbar die unterlassene Einberufung bei schwerem Verlust des Nennkapitals, sondern greift auf die Haftung bei verzögerter Liquidation der Gesellschaft zurück. Ein Absinken des Gesellschaftsvermögens unter die Schwelle des Mindestkapitals stellt einen Auflösungsgrund dar, der für die Verwalter vielfältige Verhaltenspflichten begründet, deren Nichteinhaltung sanktioniert wird. Schweden kennt ebenfalls eine spezielle zivilrechtliche Haftung gegenüber den Neugläubigern, sie erfasst neben den Verwaltungsräten alle im Namen der Gesellschaft tätigen Personen sowie jene Gesellschafter, die sich trotz Kenntnis der Liquidationspflicht gegen diese aussprachen. Gegenüber den Altgläubigern greift hingegen die allgemeine aktienrechtliche Verantwortlichkeit wegen mangelhafter Geschäftsführung. Auch in Deutschland greift bei Verletzung der Einberufungspflichten gemäß den §§ 49 Abs. 3 GmbHG, 92 Abs. 1 AktG die allgemeine Verantwortlichkeit der Geschäftsleiter. Zusätzlich kennt das deutsche Recht strafrechtliche Sanktionen, die bei Verletzung der genannten Verhaltenspflichten zur Anwendung kommen (§§ 84 GmbHG, 401 AktG). Diese sind auch als Schutznorm zugunsten von Gesellschaft und Gesellschafter zu qualifizieren; 233 Haftungsansprüche können daher auch auf Grundlage von § 823 Abs. 2 BGB geltend gemacht werden. 8. Schnittstelle Eigenkapitalersatzrecht: Die Mehrzahl der untersuchten Rechtsordnungen kennt neben dem vorgelagerten Gläubigerschutz-Mechanismus bei schwerem Verlust das Ex-post-Instrument des Eigenkapitalersatzrechts. Italien, Slowenien und Spanien haben die Nachrangigkeit von Gesellschafterforderungen erst jüngst verfügt. Während Italien und Slowenien die Problematik im Gesellschaftsrecht ansiedelten, nahm der spanische Gesetzgeber eine Verortung im Insolvenzrecht vor: Das neue Ley Concursal (LC) weist den Gesellschafterforderungen den Rang hinter gewöhnlichen Insolvenzgläubigern zu. Italien: Im Zuge der am 01. 01. 2004 in Kraft getretenen Reform des Gesellschaftsrechts hat der italienische Gesetzgeber für die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (Srl) erstmals eine Vorschrift über „eigenkapitalersetzende Finanzierungen“ eingeführt. Gemäß Art. 2467 c.c. erfolgt die Rückzahlung von Gesellschafterfinanzierungen in der Insolvenz nachrangig gegenüber der Befriedigung von Gesellschaftsgläubigern. Wurden Forderungen aus Gesellschafterdarlehen oder vergleichbare Leistungen innerhalb eines Jahres vor Insolvenzeröffnung

233 Dannecker in Michalski, GmbHG § 84 Rdn. 11; Kohlmann in Hachenburg, GmbH. § 84 Rdn. 4.

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zurückgezahlt, sind sie der Gesellschaft zu erstatten.234 Die erzwungene Subordination setzt den Tatbestand der Unterbilanz voraus (das Gesetz spricht von einem übermäßigen Missverhältnis der Verschuldung in bezug auf deren Reinvermögen 235) bzw. stellt darauf ab, ob die Gesellschafterleistung zu einem Zeitpunkt erfolgte, in dem nach der finanziellen Lage und der Geschäftstätigkeit der Gesellschaft die Zufuhr von Eigenkapital angebracht 236 gewesen wäre. Die Parallelen zu § 32a, b dGmbHG, die sich auch auf den sachlichen und zeitlichen Anwendungsbereich erstrecken, sind augenfällig; der italienische Gesetzgeber nimmt in den Erläuternden Materialien ausdrücklich auf die deutschen Kapitalersatzbestimmungen Bezug.237 Zwar kennt das italienische Recht keine auf der analogen Anwendung der Kapitalerhaltungsregeln basierenden Grundsätze über kapitalersetzende Gesellschafterleistungen, doch wird die im Insolvenzrecht verortete erzwungene Nachrangigkeit seit jeher durch weit verbreitete Abreden, die eine freiwillige Subordination zum Gegenstand haben, ergänzt.238 Spanien: Der spanische Gesetzgeber hat mit dem am 01. 09. 2004 in Kraft getretenen Konkursgesetz (Ley Concursal) 239 die Nachrangigkeit 240 gewisser 234 Vgl. Giannelli, Le operazioni sul capitale nella società a responsabilità limitata in Santoro, La nuova disciplina della società a responsabilità limitata (2003) 273. 235 „[…] Eccessivo squilibrio dell’indebitamento rispetto al patrimonio netto“ […]. 236 Art. 2467 Abs. 2 cc: […] „in considerazione del tipo di attività esercitata dalla società“ [...]. Der Regierungsbericht verweist auf das „Kriterium der Angemessenheit“, demzufolge zu prüfen ist, ob die Gesellschaft ohne Zufuhr von Eigenkapital und zu Bedingungen, wie sie unter Dritten gelten, noch als kreditwürdig angesehen werden kann. Einige Autoren ziehen als Maßstab Art. 98 DPR 22 dicembre 1986, n 917 (Einkommenssteuergesetz) heran, der auf steuerrechtlicher Ebene versucht, der thin capitalization entgegen zu wirken, indem er für das Gesellschafterdarlehen zu entrichtende Zinsen als nicht-abzugsfähig erklärt, sobald zwischen der Gesellschaft und ihrem Gesellschafter ein Verhältnis der Verschuldung entstanden ist, dass gegenüber seiner Beteiligungsquote den Satz 4 : 1 überschreitet. Dieses Limit könnte, auch wenn es sich wohl kaum exakt auf die gesellschaftsrechtliche Norm des Art. 2467 cc übertragen lässt, einen Anhaltspunkt für die Auslegung bieten. Vgl. Deboni, Eigenkapitalersatz im italienischen Recht, in Kalss/Rüffler, Eigenkapitalersatzrecht (2004) 53ff. 237 Vgl. Irrera, La nuova disciplina dei „prestiti“ dei soci alla società in Ambrosiani, La riforma della società/Profili della nuova disciplina (2003) 144 (mwN). 238 Carestia/Di Amato/Iannello/Lo Cascio/Manzo/Pietraforte, Società à responsabilità limitata (2003), 69–80. S. zudem Trib Monza 13 novembre 2003 mit einer Anmerkung von Colavolpe, Le Società 06/2004, 746–753. 239 Mit dem Inkrafttreten des Ley Concursal (im Folgenden LC, veröffentlicht in der Boletín Oficial des Estado [BOE] Nr. 164 v. 10. 07. 2003, 26901ff.) erfolgte eine Vereinheitlichung des spanischen Insolvenzrechts, welches bislang – auf die Kaufmannseigenschaft abstellend – vier unterschiedlich ausgestaltete Verfahren kannte und in zahlreichen Gesetzen verortet war, erstmals in einem einheitlichen Verfahren und einem Gesetzestext. Vgl. Schröder, Das neue spanische Konkursgesetz im Überblick, RIW 08/2004, 610 ff. 240 Das Ley Concursal differenziert vier Forderungskategorien: Besonders privilegierte

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Gesellschafterforderungen angeordnet: 241 Art. 92 Abs. 5 LC unterliegen Finanzierungen jener Gläubiger, die in einem „besonderen Verhältnis“ zum Schuldner stehen; davon erfasst sind gemäß Art. 93 Abs. 2.1 LC Gesellschafter, deren Beteiligung an einer kapitalmarktfernen Gesellschaft wenigstens 10 % beträgt. Für börsennotierte Gesellschaften gilt die herabgesetzte Schwelle von 5 %.242 Skandinavien: Das skandinavische Recht kennt kein dem deutschen Recht vergleichbares Institut des Eigenkapitalersatzrechts. Befindet sich eine Gesellschaft in finanzieller Schieflage, so steht es den Gesellschaftern frei, dieser Mittel zuzuschießen und zwar entweder in der Form eines gewöhnlichen Darlehens 243 (D, N, S: lån, FL: laina) oder als (eigen)kapitalersetzendes Darlehen (FL: pääomalaina 244, S: aktieägartillskott, N: aksjonærtilskudd, aksjonærbidrag).245 Ein solches Kapitaldarlehen kann mit (S: villkorad) oder ohne Bedingung (S: ovillkorad) gewährt werden.246 In letzterem Fall besteht kein Rückzahlungsanspruch, die Finanzspritze wird dem Eigenkapital zugeführt (D, N, S: fritt egenkapital, F: vapaata omaa pääomaa) und wird auch buchhalterisch als solches ausgewiesen.247 Erfolgt der Zuschuss hingegen bedingt,248 beschreibt die Literatur zwei Varianten der Vergabe: 249 (i) Das Kapital samt Zinsen wird bei Auflösung oder Konkurs der

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Forderungen sind gemäß Art. 90 LC Forderungen, die mit einer vertraglichen oder gesetzlichen Hypothek besichert sind; zu den einfach privilegierten Forderungen zählen gemäß Art. 91 LC Lohnforderungen, Forderungen der Sozialversicherung sowie Steuerforderungen; untergeordnete Forderungen umfassen nach Art. 92 LC neben gewissen Gesellschafterfinanzierungen verspätet mitgeteilte Ansprüche sowie Bußgelder. Alle nicht als privilegiert oder untergeordnet klassifizierten Forderungen sind gemäß Art. 89 LC gewöhnliche Forderungen und damit den bevorzugten Ansprüchen nach den untergeordneten Forderungen jedoch vorgereiht. Vgl. Arias Varona, El tratamiento concursal de los préstamos sustitutivos del capital (Arbeitspapier im Rahmen des Second Harvard-Complutense Seminars on Business Law/Corporate Governance Conflicts and Corporate Insolvency) abrufbar unter www.ucm.es/info/mercantil/documentos/comunicacion_javier_arias.pdf. Im Gegensatz zum italienischen Recht sieht die Bestimmung die Erstattung bereits zurückgezahlter Gesellschafterdarlehen nicht vor; hier greift Art. 71 LC, der generell die Gläubigeranfechtung behandelt. Welches die Höhe des Eigenkapitals nicht verändert, sondern eine weitere Gesellschaftsverbindlichkeit begründet. 5. Kapitel § 1 ABL/OYL. Rodhe, Aktiebolagsrätt, 20 Aufl. 2002, 72 f. Für Schweden s. Prytz/Tamm, Tillskott utan aktieteckning (1995) 51f. Für Norwegen s. Andenæs, Aksjeselskapsrett, 2. Aufl. 1992, 96. Die Vergabe wird in der Praxis zumeist mit einer Rückzahlungsklausel verknüpft. Diese muss jedoch so ausgestaltet sein, dass das Kapitaldarlehen nicht als reines Darlehen zu qualifizieren ist und in der Folge als Verbindlichkeit ausgewiesen wird. Zweck der Vergabe ist ja gerade die Anhebung des Eigenkapitals; vgl. Svensson/ Danelius, Aktiebolagslagen – Kommentar och lagtexter, 15. Aufl. 2002, 280. Die Bedingung muss sich gegen den Geber richten, widrigenfalls der Kapitalzuschuss als Verbindlichkeit zu behandeln ist. Svensson/Danelius, Aktiebolagslagen – Kommentar och lagtexter (2002) 281;

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Gesellschaft nachrangig behandelt und wird erst nach Begleichung aller anderen Gesellschaftsverbindlichkeiten zurückgezahlt, oder (ii) das Darlehen darf nur dann zurückgezahlt werden, wenn das Grundkapital und gesetzliche Rücklagen im Gesellschaftsvermögen Deckung finden, wenn die Gesellschaft also wieder über ausschüttungsfähige Mittel verfügt.250 Das Kapitaldarlehen ist in der Bilanz als Teil der ausschüttungsfähigen Eigenmittel auszuweisen. Der Gesellschafter entscheidet selbst, ob die Vergabe als reines Darlehen oder zur Stärkung des Eigenkapitals erfolgt: dass dem Zuschuss eigenkapitalersetzender Charakter zukommt, beruht also – wie in Italien vor der gesetzlichen Einführung der Subordination – auf freiwilliger Basis.

B. Insolvenzverschleppung 9. Große dogmatische Vielfalt: Die einzelnen Ausprägungen der Insolvenzverschleppungshaftung sind – dogmatisch, in ihrer Systematik und ihrer Regelungstechnik – stark unterschiedlich ausgestaltet und daher nur bedingt vergleichbar. Ein roter Faden lässt sich schon innerhalb der Mitgliedstaaten kaum ausmachen; vereinfacht lassen sich aber folgende Strömungen und Gemeinsamkeiten festhalten: 10. Rechtsformneutralität: Die Konkursverschleppungshaftung ist in der überwiegenden Zahl der Länder rechtsformneutral gestaltet. So umfassen die dänischen, deutschen, italienischen, österreichischen, slowenischen und spanischen Bestimmungen jeweils die offene (AG) und die geschlossene Kapitalgesellschaftsform (GmbH). Finnland und Schweden beziehen sich naturgemäß nur auf die (offene und geschlossene) Aktiengesellschaft, besteht doch nur diese Rechtsform. 11. Ausgangspunkt: Als Ausgangspunkt für die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Geschäftsleitung für Verschleppungsschäden lassen sich im Wesentlichen drei verschiedene Aspekte festmachen: (a) Die Insolvenzantragspflicht; (b) die Regeln über die Kapitalwiederauffüllung; und (c) die Pflicht zur Aufklärung über die eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. (a) Die wohl überwiegende Zahl der Länder – wie Deutschland, Italien, Norwegen, Österreich, Slowenien und Spanien – knüpft die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Geschäftsleiter an die Verletzung der Insolvenz- oder Konkursantragspflicht; wobei sich folgende systematische und inhaltliche Unterschiede zeigen: Rodhe, Något om aktieägartillskott in Balans 2/1981 19, (19). Für Finnland s. 5. Kapitel § 1 ABL/OYL. 250 Da die Rückzahlung in beiden Fällen als Gewinnausschüttung zu werten ist, sind die diesbezüglichen Vorschriften zu beachten, s. für Schweden Rodhe, Aktiebolagsrätt, 20. Aufl. 2002, 73, für Norwegen Andenæs Aksjeselskaper og allmennaksjeselskaper, 2. Aufl. 1998, 332.

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Systematisch wird die Antragspflicht teilweise dem Insolvenzrecht zugeordnet – wie in Österreich (§ 69 KO) oder Spanien (Art. 5.1. Ley Concursal) – teilweise ist sie aber auch in gesellschaftsrechtlichen Sondergesetzen (Deutschland – § 64 Abs. 1 GmbHG, § 92 Abs. 2 AktG) angesiedelt. In Slowenien ist die Insolvenzantragspflicht in einem eigenen Gesetz normiert (Art. 12f. Zakon o finančnem poslovanju podjetij), das systematisch dem Bereich zwischen Insolvenz- und Gesellschaftsrecht zuzuordnen ist. Italien schließt von einer gesellschaftsrechtlichen Strafnorm, die der Codice Civile als disziplinenübergreifendes Zivilgesetzbuch enthält, auf eine allgemeine Pflicht, bei Vorliegen der Voraussetzungen einen Insolvenzantrag zu stellen. Inhaltlich knüpft die Antragspflicht zum Teil nur an die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft an (Spanien), in manchen Ländern tritt die – regelmäßig früher eintretende – Überschuldung als alternativer Konkursgrund hinzu (Deutschland, Österreich, Slowenien) und vereinzelt werden die beiden Antragsvoraussetzungen auch kombiniert (Norwegen). (b) Eine nennenswerte Gruppe von Ländern – namentlich Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Schweden, Slowenien und Spanien – fängt „typische Verschleppungsschäden“ über eine haftungsrechtliche Verantwortlichkeit des Vorstands auf, die an einer Verletzung von Verhaltenspflichten anknüpft, die bei qualifizierten Verlusten des Nennkapitals greifen. (c) Ein Teil der Schäden, die durch das Weiterführen der Geschäfte in der Krise entstehen, lassen sich auch durch die Haftung aus culpa in contrahendo auffangen. Die Haftung wegen Verletzung von Aufklärungspflichten über die eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hat vor allem in einigen skandinavischen Ländern (Dänemark und Norwegen) praktische Bedeutung erlangt. 12. Dogmatische Grundlagen: Den jeweils unterschiedlichen Ausgangspunkten folgend divergieren auch die dogmatischen Grundlagen. Eine Haftung, die an der Konkursantragspflicht anknüpft, ist zumeist als deliktische Haftung ausgestaltet, die im allgemeinen Zivilrecht angesiedelt ist (Deutschland, Österreich); teils ist sie aber auch im Handels- oder Gesellschaftsrecht normiert (Spanien) oder in Sondergesetzen geregelt (Slowenien). Die Haftung, die eine Verletzung der Kapitalwiederauffüllungsregeln aufgreift, ist jeweils im Gesellschaftsrecht verortet (Dänemark, Finnland, Italien, Schweden und Spanien). Die Haftung wegen Verletzung von Aufklärungspflichten über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hat ihre dogmatischen Grundlagen im Institut der culpa in contrahendo. 13. Schutzbereich: In den Schutzbereich der Insolvenzverschleppungshaftung fallen ganz allgemein die Gläubiger der Gesellschaft. Die ganz überwiegende Zahl der Länder bezieht grundsätzlich Alt- und Neugläubiger in diesen Bereich mit ein. Einschränkungen ergeben sich jedoch für jene Staaten – wie Dänemark, die Niederlande oder Norwegen – welche die Haftung an die Verletzung von Aufklärungspflichten knüpfen; die Verantwortlichkeit der Geschäftsleiter aus

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culpa in contrahendo kann schon aus Kausalitätserwägungen nur den Neugläubigern zugute kommen. In diesen Rechtsordnungen haben Altgläubiger auf andere Schutzinstrumente zurückzugreifen. 14. Haftungsumfang: Auch der Haftungsumfang ist unterschiedlich gestaltet. Am weitesten geht Spanien, das die Geschäftsleiter – unabhängig von der Kausalität – für die gesamten Gesellschaftsverbindlichkeiten einstehen lässt, während die Haftung in Schweden nur auf jene Gesellschaftsverbindlichkeiten gerichtet ist, die seit der Unterlassung des gebotenen Handelns entstanden sind. Ein wenig restriktiver ist Slowenien, welches zwar im Grundsatz von der gesamten Unterdeckung ausgeht, aber – für die Geschäftsleitung und den Aufsichtsrat – eine Deckelung vorsieht. Einen anderen Wege gehen Österreich und Deutschland, welche die Gesellschaftsgläubiger in eine Gruppe der Alt- und eine der Neugläubiger aufspalten; wobei den Neugläubigern das negative Interesse, den Altgläubiger nur die Quotenverschlechterung gewährt wird. In Italien haben die Geschäftsleiter für den gesamten kausalen Schaden einzustehen, was auch hinsichtlich der unmittelbaren Schäden von Altgläubigern in Schweden der Fall ist. 15. Anspruchsberechtigte und Begünstigte: Die Ansprüche aus Insolvenzverschleppungshaftung stehen in Österreich ausschließlich den Gläubiger selbst zu; in anderen Staaten – wie in Deutschland – ist die Anspruchsberechtigung zwischen Gläubigern und Insolvenzverwalter geteilt. In Slowenien können die Gläubiger ihre Ansprüche neben dem Insolvenzverwalter geltend machen. 16. Adressaten: Allgemein ist die Haftung auf die wirksam bestellten Geschäftsleiter der Gesellschaft gerichtet; daneben sehen einige Staaten (Deutschland, Österreich, Schweden) eine – mehr oder weniger weitreichende – Haftung von de facto- oder Schattendirektoren vor. Ausdrücklich auch auf andere Gesellschaftsorgane richtet sich die Haftung in Slowenien, wo neben der Geschäftsleitung auch der Aufsichtsrat und die Gesellschafter in die Haftung miteinbezogen sind. 17. Zusammenhang von Verlust des Nennkapitals und Insolvenzverschleppungshaftung: (a) Mit Näherrücken der Insolvenz wird auch der Pflichtenkatalog der Geschäftsleitung sukzessive erweitert und präzisiert, um ein einfaches Weiterführen der Geschäfte auf Kosten der Gläubiger hintanzuhalten. Auf einer gedachten Zeitleiste liegt die Akzentuierung zunächst auf Sanierung des Unternehmens, mit Fortschreiten der Krise rückt jedoch zunehmend die Liquidation – und damit die Erhaltung verwertbaren Vermögens – in den Vordergrund. Die Ausgestaltung in den einzelnen Staaten ist unterschiedlich; wobei schwere Verluste des Nennkapitals in der überwiegenden Zahl der Staaten als Ausgangspunkt für die Normierung von Verhaltenspflichten dienen (These Nr. 3). Das Spektrum reicht von reinen Einberufungspflichten (Deutschland, Norwegen und Österreich – These Nr. 5) über die Möglichkeit der Eröffnung eines gerichtliche Verfahrens – wie es in Österreich das URG etabliert – bis hin zu konkreten Ver-

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haltensvorgaben (Dänemark, Finnland, Italien, Schweden und Spanien), die überwiegend haftungsrechtlich abgesichert sind (These Nr. 6) und teilweise direkt in die Liquidation der Gesellschaft münden (Finnland, Italien, Schweden und Spanien). Mit Eintritt der Zahlungsunfähigkeit wird der Geschäftsleitung die Handlungsfreiheit in weiten Bereichen entzogen. Dies ergibt sich teilweise aus der – haftungsrechtlich abgesicherten – Insolvenzantragspflicht; teilweise wird das Weiterführen der Geschäfte auch durch ergänzende Informationspflichten eingeschränkt (Dänemark und Norwegen). (b) Die ganz überwiegende Zahl der Länder stellt die Geschäftsleitung in der Krise des Unternehmens vor die – auch haftungsrechtlich abgesicherte – Alternative, entweder Schritte zur Sanierung des Unternehmens zu setzen, oder zu liquidieren. Wird die Entscheidung den Geschäftsleitern erst mit der Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens abverlangt, ist die Gesellschaft regelmäßig so hoch überschuldet, dass die Liquidation der Gesellschaft den Gläubigern keine nennenswerte Befriedigung mehr verschafft. Es besteht daher das allgemeine Interesse, Schuldner, mit deren wirtschaftlichen Zusammenbruch in Zukunft zu rechnen ist, bereits vor dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit vor die Wahl zu stellen. Einige Staaten – wie etwa Deutschland oder Österreich – versuchen dies zu verwirklichen, indem sie die Antragspflicht auch auf Fälle der Überschuldung ausdehnen. Andere Staaten versuchen diese Frage über die Kapitalwiederaufbringungsregeln zu lösen, was den Überschuldungsbegriff als alternativen Konkursgrund entbehrlich macht. Dieser Umstand hat sich in diesen Staaten auch insoweit niedergeschlagen, als sie die Überschuldung als alternativen Konkursgrund nicht kennen (Ausnahme Slowenien). 18. Rechtspolitischer Ausblick: Zusammenfassend fällt die breite Vielfalt sowohl der Auslösungstatbestände als auch der Rechtsfolgen auf, welche die untersuchten Länder mit dem einfachen Weiterführen der Geschäfte in der Unternehmenskrise verbinden. Als allgemeine Tendenz lässt sich die Vorverlagerung der Handlungspflichten festhalten, die im Grundsatz – auch aus europäischer Perspektive – rechtspolitisch erwünscht ist. Zugleich sind aber entsprechende Vorkehrungen zu treffen um nicht durch zu scharfe Handlungspflichten samt haftungsrechtlicher Absicherung unternehmerisches Potential zum Schaden der Gläubiger insgesamt zu zerstören.

IV. Fazit Betrachtet man die verschiedenen Regelungsmodelle, fällt auf, dass sämtliche Varianten bei aller dogmatischen Vielfalt zwei wesentliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Dem einfachen Weiterführen der Geschäfte in der Unternehmenskrise

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(wait and pray) 251 wird überwiegend durch negative Anreize entgegengetreten,252 die – und das ist die zweite Gemeinsamkeit – bereits vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit greifen. Abhängig von der dogmatischen Konstruktion lassen sich zwei Strömungen unterscheiden, die vereinzelt – so etwa in Spanien und abgeschwächt in Italien und Slowenien – auch nebeneinander zur Anwendung kommen: (a) Die mit schweren Verlusten des Nennkapitals verbundene sukzessive Einschränkung der Handlungsfreiheit des Vorstands – wie sie die Rechtsordnungen Italiens, Spaniens, Sloweniens und der skandinavischen Länder kennen. (b) Die an den Überschuldungstatbestand anknüpfende Konkursantragspflicht, die in Österreich, Deutschland und Slowenien aber auch in Spanien und Italien den Ausgangspunkt einer haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit für Verschleppungsschäden bildet. Beide Strömungen bieten Angriffsfläche für rechtspolitische Kritik: So ist zwar die österreichische bzw. deutsche Regelung mit ihrer Differenzierung in Alt- und Neugläubiger aus Kausalitätsgesichtspunkten konsequent; der Überschuldungsbegriff ist jedoch wegen seiner Bemühung um Einzelfallgerechtigkeit zu schwer fassbar, um eine Verlegung der materiellen Insolvenz ins Vorfeld der Zahlungsunfähigkeit zu leisten. Auf der anderen Seite normiert das Modell der schweren Verluste des Nennkapitals einen leicht erkennbaren – direkt aus der Bilanz ablesbaren – aber doch auch etwas beliebigen bzw. schablonenhaften Zeitpunkt, um die Handlungsfreiheit der Geschäftsleiter in dieser Intensität zu beschränken bzw. Gesellschaften in die Liquidation zu treiben. Zudem zeichnet sich der Lösungsansatz durch einen ausgeprägt pönalen bzw. präventiven Charakter aus (Haftung nicht nur für den kausalen Schaden, sondern für sämtliche, entstandene Verbindlichkeiten), während das deutsche bzw. österreichische sowie im Ergebnis auch das englische Modell den Ausgleichsgedanken in den Vordergrund rückt. Schließlich ist die Androhung der Auflösung der Gesellschaft (vgl. zusammenfassende These 6) überschießend und sollte nicht übernommen werden, solange die Liquidation insolvenzrechtlich nicht geboten erscheint. Vor diesem Hintergrund ist den Harmonisierungsbestrebungen auf europäischer Ebene kritisch zu begegnen. Zwar ist das Problem des Weiterführens der Geschäfte auf Kosten der Gesellschaftsgläubiger eine generelle, von allen Staaten aufzufangende Problemstellung, was ein Bedürfnis nach einer entsprechenden Regelung bedingt. Überdies würde eine europaweit einheitliche Regelung kolli-

251 Powell, Optimal “soft” or “tough” Bankruptcy Procedures, in 15 Journal of Law Economics and Organization 1999, 659 (660). 252 In der jüngeren Vergangenheit wird zudem verstärkt die Leistungskraft positiver Anreize – etwa in Gestalt eines Sanierungsverfahrens – gewürdigt, s. ausf. Adensamer/Oelkers/Zechner, Unternehmenssanierung zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht (2006, in Druck).

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sionsrechtliche Probleme entschärfen, die derzeit mit im Inland domizilierenden Auslandsgesellschaften verbunden sind.253 Eine einheitliche europäische Regelung könnte jedoch kaum den – oben dargestellten – verschiedenen nationalen Lösungsansätzen gleichermaßen gerecht werden und müsste daher Gefahr laufen, das Schutzniveau der derzeitigen Lösungen nicht zu erreichen, oder die Zeitspanne der Unternehmenskrise überzuregulieren.

253 Dazu an dieser Stelle nur Lutter (Hrsg.), Europäische Auslandsgesellschaften in Deutschland (2005); Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht (2004); Hirte/Bücker (Hrsg.), Grenzüberschreitende Gesellschaften (2005).

Insolvenzgründe und Haftung für Insolvenzverschleppung Notwendige Ergänzung des Kapitalschutzes von Professor Dr. Dres. h. c. Karsten Schmidt, Hamburg Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begrenzung der Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Spezifische Schwierigkeiten der Rechtsvergleichung . . . . . . . . 3. Recht und Realität der deutschen Regeln als Beispiel . . . . . . . II. Insolvenzeröffnungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der Insolvenzeröffnungsgründe . . . . . . . . . . . . . 2. Zahlungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Überschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Insolvenzantragspflichten und Verschleppungshaftung . . . . . . . . 1. Der Normzweck: präventiver Gläubigerschutz . . . . . . . . . . 2. Unterschiedliche gesetzliche Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Überschuldungstatbestand und präventiver Gläubigerschutz . . . IV. Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schadenersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wrongful Trading . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Umfassende Erstattungshaftung oder Haftungsdurchgriff auf die Geschäftsführer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Schluss: Versuch einer Würdigung und Zusammenfassung in Thesen 1. Insolvenzeröffnungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Insolvenzverschleppungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Empfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Vorbemerkung 1. Begrenzung der Aufgabe a) Diese kurze Studie ergänzt die von Kalss/Adensamer/Oelkers im vorliegenden Band vorgelegte rechtsvergleichende Arbeit 1, die auch bereits auf die Verantwortung der Gesellschaftsorgane für Verschleppungsschäden eingeht. Sie soll auch die in Teil III der Arbeit von Kalss/Adensamer/Oelkers enthaltenen rechts1 In diesem Band, S. 134 ff.

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politischen Thesen sowie das in Teil IV dieser Studie enthaltene Fazit ergänzen. Wiederholungen werden vermieden, so dass das Gewicht unter Verzicht auf ausführliche Dokumentation auf die rechtspolitischen Schwerpunkte gelegt wird. Die Frage einer Zwangsliquidation im Fall gravierenden Kapitalverlusts wird gleichfalls bei Kalss/Adensamer/Oelkers angesprochen. b) Die Zugehörigkeit des Problemkreises zu dem Thema „Kapital in Europa“ ist keine Selbstverständlichkeit. Ebenso wenig ist es aber ein Zufall, dass die Kommission in ihrem Aktionsplan zur Modernisierung des Gesellschaftsrechts mittelfristig auch einen Richtlinienvorschlag zur Insolvenzverschleppungshaftung angekündigt hat 2. Die vorliegende Untersuchung vermeidet es, in Details auf den möglichen Inhalt einer solchen Richtlinie einzugehen. Sie beschränkt sich auf den auch neben einem gesetzlich geregelten Kapitalschutz erforderlichen Schutz der Gesellschaftsgläubiger gegen Schädigungen durch eine Geschäftsfortführung insolventer bzw. insolvenzbedrohter Gesellschaften. Wie Lutter 3 in diesem Band mit Recht unterstreicht, kann der vom Arbeitskreis als unerlässlich angesehene Kapitalschutz die Gläubiger nicht vor einer Insolvenz der Gesellschaft schützen. Das beruht auf der einfachen Tatsache, dass Kapitalschutz nur die Bereitstellung haftenden Kapitals und die Nicht-Entnahme haftungsnotwendigen Kapitals durch die Gesellschafter sicherstellt, aber selbstverständlich die Gesellschaft nicht vor operativen Verlusten schützen kann. Dem Kapitalschutz muss also ein Schutz der Gläubiger gegen eine Fortführung des verlustbringenden Geschäfts auf ihre Kosten zur Seite gestellt werden. Eckpunkte eines europäischen Programms zur Bekämpfung und Sanktionierung von Insolvenzverschleppungen im Unternehmensrecht sind schon verschiedentlich formuliert worden 4. c) Nicht ganz einfach ist das Verhältnis der Insolvenzverschleppungshaftung zu der in Belgien (Art. 633 Code des sociétés), Frankreich (Artt. L 225–248 Code de Commerce), Italien (Artt. 2484 Abs. 1 Nr. 4 und 2485 Abs. 1 Codice Civile) und Spanien (Art. 260 Ley de Sociedades Anónimas bzw. Art. 104 Ley de Sociedades de Responsibilidad Limitada) angeordneten gesellschaftsrechtlichen Pflicht, die Gesellschaft im Fall des Verlusts der Hälfte des Nominalwerts zu liquidieren, falls der Verlust nicht rechtzeitig durch nominelle Kapitalherabsetzung oder effektive Kapitalzufuhr oder durch Gewinne ausgeglichen wird. Diese Pflichten sind eine besondere Ausprägung der Information der Gesellschafter bei Kapitalverlust und demgemäß im Beitrag von Kalss/Adensamer/Oelkers dargestellt 5. Der Arbeitskreis hat sich nicht für dieses Modell ausgesprochen und bevorzugt 2 Aktionsplan der EG-Kommission Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der EU, KOM 2003, 284, Nr. 3.1.3; dazu auch Fleischer, ZGR 2004, 437, 455. 3 In diesem Band, S. 1 ff. 4 Vgl. nur Pernice, Die Insolvenzverschleppung durch das Geschäftsführungsorgan der kleinen Kapitalgesellschaft im deutschen, französischen und englischen Recht, 2002, S. 257ff.; Kalss/Adensamer/Oelkers, in diesem Band, S. 134 ff. 5 In diesem Band, S. 134 ff.

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im Fall des Kapitalverlusts außerhalb der Insolvenz eine dem freien Ermessen der Gesellschafter überlassene Reaktion. Die Regelungen sind gleichwohl lehrreich. Sie basieren auf nationalen Rechten, die eine zur konkursmäßigen Abwicklung führende Insolvenz erst bei Zahlungsunfähigkeit annehmen. Sie verstehen sich aus dem rechtspolitischen Bedürfnis, bereits vor der Zahlungsunfähigkeit einer Aktiengesellschaft oder GmbH Weichen für die Reorganisation oder Liquidation der Gesellschaft zu stellen. Die vorliegende Arbeit wird diesem Bedürfnis auf der Ebene von Insolvenzantragspflichten nachkommen, die gleichfalls auf einen Zwang hinauslaufen, die Gesellschaft zur Zwangsabwicklung zu bringen (Insolvenzantrag), falls nicht beizeiten eine Sanierung gelingt. 2. Spezifische Schwierigkeiten der Rechtsvergleichung Die Vergleichung von Insolvenzeröffnungsgründen und Insolvenzverschleppungstatbeständen ist aus einer Reihe von Gründen besonders schwierig: – Erstens ist nicht nur die systematische Einordnung der Insolvenzverschleppungshaftung (Insolvenzrecht? Gesellschaftsrecht? Zivilrecht?) im Grundsätzlichen umstritten 6. Vor allem im Lichte von Art. 4 EuInsVO besteht ein Trend, die Haftungstatbestände rein insolvenzrechtlich und nicht gesellschaftsrechtlich zu qualifizieren 7. Aber unabhängig von dieser allgemeinen Qualifikationsfrage ist es kaum möglich, nur aus insolvenzrechtlicher und gesellschaftsrechtlicher Sicht ohne Detailanalyse auch des zivilen Haftungsrechts ein realitätsnahes Bild von der Praxis zu gewinnen. – Zweitens fehlen über mehrere der anzusprechenden Regeln verallgemeinerungsfähige Erkenntnisse über deren praktische Relevanz und Funktionsweise (insbesondere gilt dies für den in Frankreich und Spanien möglichen Haftungsdurchgriff auf Geschäftsführer), während es in anderen Ländern eine lebhafte Gerichtspraxis gibt. – Drittens lässt sich aus der bloßen Einheitlichkeit oder Verschiedenheit der Begriffe nur wenig für die Einheitlichkeit oder Verschiedenheit der Rechtsregeln erschließen. – Viertens zeigt schon das eigene Heimatrecht, dass die Realität der Insolvenzeröffnungsgründe und der Insolvenzverschleppungshaftung aus den Gesetzestexten und Kommentaren nur begrenzt ablesbar ist, weil dieser schwierige Bereich weitgehend von Case Law dominiert und mit anderen Haftungstatbeständen (Durchgriff, Vertragsverletzung, unerlaubte Handlung) verknüpft ist. – Fünftens schließlich gibt es Länder, deren Insolvenzrecht streng zwischen Liquidations- und Reorganisationsverfahren unterscheidet (z. B. England) und 6 Überblick bei Trunk, Internationales Insolvenzrecht, 1998, S. 103f.; Schanze, AG 2003, 661, 670; Ulmer, KTS 2004, 291, 301. 7 Kritisch Karsten Schmidt, ZHR 168 (2004), 493, 498.

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andere, deren Insolvenzrecht beides umfasst (z. B. Deutschland). Im Zusammenhang mit dem hier untersuchten Thema sind gesetzliche Angebote eines staatlich regulierten Sanierungsverfahrens aber weniger interessant als die Verschleppungsverbote. In diesem Licht werden die Eröffnungstatbestände beleuchtet. Für England beschränkt sich die Studie deshalb auf die „Compulsory Liquidation“. Für Frankreich wird das „règlement amiable“ (seit 2005: die „procédure de conciliation“) und die im Jahr 2005 reformierte „procédure de sauvegarde“ ausgeblendet, ebenso für die Niederlande die „surséance van betaling“, für Italien der „coucordato preventivo“ und der „accordo di ristutturazione“ sowie für Belgien das „concordat judiciaire“. Nicht zum Thema gehören auch die – rechtspolitisch unzweifelhaft unterstützungswürdigen – Anreize, den Eintritt von Gesellschaften in ein staatlich geordnetes Reorganisationsverfahren vorzuverlagern. Es sind dies rechtspolitische Ansätze zur Unternehmenserhaltung, die außerhalb des zwingenden Gläubigerschutzes liegen. Das gilt auch für den Tatbestand der drohenden Zahlungsunfähigkeit nach § 18 InsO, der, wie sogleich zu zeigen sein wird, sein rechtspolitisches Ziel bisher auch verfehlt hat. 3. Recht und Realität der deutschen Regeln als Beispiel Die soeben angedeutete Feststellung soll kurz am Beispiel des deutschen Rechts exemplifiziert werden. a) Das deutsche Insolvenzrecht kennt drei Insolvenzeröffnungsgründe: – Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO), – drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO), – Überschuldung (§ 19 InsO). Die drohende Zahlungsunfähigkeit ist Eröffnungstatbestand nur im Fall eines freiwilligen Schuldnerantrags, im Fall der Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit kann dagegen auch ein Gläubiger das Insolvenzverfahren beantragen. Aber der Blick in das Gesetz trügt. Im Eröffnungsverfahren, für das sie bestimmt sind, spielen diese Tatbestände praktisch keine nennenswerte Rolle, weil es Insolvenzanträge ohne materielle Insolvenz praktisch nicht gibt. Und die Eröffnungspraxis trügt noch mehr. Bei den für den Arbeitskreis Kapital in Europa entscheidenden Eigenanträgen von Gesellschaften auf Verfahrenseröffnung steht in der Praxis § 18 InsO statistisch im Vordergrund. Gesellschaftsinsolvenzverfahren werden zum großen Teil von den Geschäftsführern beantragt, und der Antrag wird auf drohende Zahlungsunfähigkeit gestützt. Folgerungen rechtspolitischer Art sind daraus aber nicht abzuleiten, denn die nach § 18 InsO gestellten Insolvenzanträge betreffen überwiegend Gesellschaften, die in Wahrheit längst überschuldet (§ 19 InsO), eventuell sogar schon zahlungsunfähig sind (§ 17 InsO). Der Charme des § 18 InsO liegt aus Geschäftsführersicht darin, dass der wegen drohender Zahlungsunfähigkeit gestellte Antrag nach dem Gesetz fakultativ ist, während die Tatbestände der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung Insolvenzantrags-

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pflichten mit harten Sanktionen auslösen (dazu unter III 2 und 3). Die Stellung eines Insolvenzantrags durch einen Geschäftsführer wegen drohender Zahlungsunfähigkeit hat deshalb in der Mehrzahl der Fälle reinen Verschleierungscharakter: Er soll eine längst vorliegende – strafbare! – Insolvenzverschleppung ex nunc beenden und zugleich rückwirkend verdecken. Der Gedanke des Gesetzgebers, dass Schuldner, ohne schon zahlungsunfähig oder überschuldet zu sein, nach § 18 InsO früh einen freiwilligen Insolvenzantrag stellen, ist damit weitgehend ad absurdum geführt. § 18 InsO funktioniert in der Praxis nicht als gesetzlicher Anreiz zu frühen Insolvenzeröffnungsanträgen, sondern als ein gesetzliches Angebot, die Verspätung des obligatorischen Antrags zu verdecken. Der Tatbestand des § 18 InsO kann deshalb für diese Studie vernachlässigt werden. Aber auch die Tatbestände der Zahlungsunfähigkeit und der Überschuldung sind, obwohl im Gesetz definiert (§ 17 Abs. 2, § 19 Abs. 2 InsO), keineswegs so eindeutig, wie dies auf den ersten Blick scheint (dazu unter II 2 und 3). Die bloße Lektüre des Gesetzes führt deshalb leicht in die Irre. Dies lässt Rückschlüsse und Erkenntnisse zu den Nachbarrechten umso fragwürdiger erscheinen, weil wir den praktischen Hintergrund dieser Rechte erst recht nur begrenzt durchschauen. b) Auch die Insolvenzverschleppungshaftung der Geschäftsführer ist selbst schon im Heimatrecht schwer einzuschätzen. Das beginnt schon damit, dass man die hochkomplizierte Handhabung des § 823 Abs. 2 BGB (Schadensersatz wegen Schutzgesetzverletzung) und des § 92 InsO (Gesamtschadensabwicklung durch den Insolvenzverwalter) mit den Insolvenzantragspflichten (§§ 92 Abs. 2 AktG, 64 Abs. 1 GmbHG, 130a Abs. 1 HGB) in Einklang bringen und dazu eine umfangreiche Rechtsprechung durchforsten muss 8. Erschwerend kommt hinzu, dass diese komplizierte Haftungsbegründung und Haftungsabwicklung fast nur noch für Einzelgläubigerschäden von Interesse ist 9, während die rechtspolitisch interessante Haftung für Gesamtgläubigerschäden nach §§ 823 Abs. 2 BGB, 64 Abs. 1 GmbHG, 92 InsO durch das Urteil BGHZ 138, 211 = NJW 1998, 2667 praktisch unmöglich gemacht worden ist 10. Die in den meisten Vergleichsrechten zentrale Auffüllung der Insolvenzmasse durch Geschäftsführerhaftung (dazu unter IV) ist damit durch vermeintlich rechtsdogmatisch gebotene Überlegungen vereitelt, ohne dass dies aus dem Gesetz abzulesen wäre. Auch die Studie von Kalss/Adensamer/Oelkers 11 gibt von der Deliktshaftung von Geschäftsführern und ihrer Abwicklung durch den Insolvenzverwalter ein der Gerichtspraxis nicht entsprechendes Bild. Die Geltendmachung der Geschäftsführerhaftung durch Insol8 Überblick bei Haas, DStR 2003, 423 ff. 9 Charakteristisch jüngst BGH, ZIP 2005, 1734 = NJW 2005, 3137; dazu Gehrlein, DB 2005, 2395. 10 Dazu Karsten Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 3. Aufl. 2003, Rdn. 1877ff. 11 In diesem Band, S. 134 ff.

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venzverwalter geschieht in der gegenwärtigen Rechtsprechung ausschließlich und mit bedenklichen Folgen über § 64 Abs. 2 GmbHG (dazu kritisch unten, IV 3a) 12. Diese Feststellung dürfte eine Vorstellung von der Schwierigkeit des Arbeitsfeldes und eine unerquickliche Ahnung von den Hindernissen rechtsvergleichender Einschätzung vermitteln. Gleichwohl wird die vorliegende Studie mit – notwendig skizzenhaften – rechtspolitischen Empfehlungen enden. II. Insolvenzeröffnungsgründe 1. Bedeutung der Insolvenzeröffnungsgründe Die Insolvenzeröffnungsgründe sind zwar aus rechtsstaatlichen Gründen eine notwendige Voraussetzung der Verfahrenseröffnung, aber rechtspraktisch und rechtspolitisch liegt ihre Bedeutung nicht hier (dazu schon unter I 3a). Die Gerichtsentscheidung, dass ein Eröffnungstatbestand vorliegt, ist im Antragszeitpunkt meist einfach. Von weit größerer, für das Gesellschaftsrecht sogar von ausschließlicher praktischer Bedeutung sind die sich aus den Insolvenzeröffnungsgründen ergebenden Geschäftsleiterpflichten 13. Die Insolvenzverfahrenseröffnung kommt in der Mehrzahl der kritischen Fälle zu spät. Die Prüfung des Insolvenztatbestands ist dann Aufgabe der Haftungsrechtsprechung. Das bedeutet wiederum, dass die Eröffnungsgründe in den rechtlich und rechtspolitisch interessanten Fällen zwar von den Geschäftsführern ex ante, dagegen von den Gerichten in Haftungsfällen ex post beurteilt werden müssen. Nahezu jede Gerichtsentscheidung über die Insolvenzreife einer Gesellschaft kann deshalb nur unter den Auspizien dieser ex-post-Betrachtung verstanden werden. Jeder Insolvenzeröffnungsgrund sollte im Licht dieser rechtspolitischen Aufgabe formuliert werden, und jeder Insolvenzeröffnungstatbestand muss an diesem Kriterium gemessen werden. 2. Zahlungsunfähigkeit a) Die Zahlungsunfähigkeit ist in allen hier untersuchten Vergleichsrechtsordnungen als allgemeiner Insolvenzeröffnungstatbestand anerkannt (Belgien Art. 2 der Loi du 08-08-97 sur les faillites; Dänemark § 17 Abs. 2 Konkursloven; Deutschland § 17 InsO; England s. 122 Abs. 1 Buchstabe f Insolvency Act; Frankreich Art. L 631-1 (bis 2005 Art. L 621-1) Code de Commerce; Italien Art. 5 Legge fallimentare; Niederlande Art. 1 Nr. 1 Fallisementswet; Norwegen § 61 Konkursloven; Österreich § 66 KO; Schweden § 2 Konkurslag 1987: 672; Spanien Art. 2.2 Ley 22/2003). 12 Dazu etwa Goette, ZInsO 2001, 529ff.; krit. Karsten Schmidt, ZHR 168 (2004), 637 ff. 13 Eingehend Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht der Unternehmen, 1990, S. 37 ff.

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b) Über eine Umschreibung der Wortbedeutung hinausgehende Definitionen der Zahlungsunfähigkeit enthalten die meisten Gesetze nicht 14. Das italienische Recht betont, dass auch noch nicht fällige Forderungen einbezogen werden 15. Dagegen kommt die Zahlungsunfähigkeit nach französischem Recht terminologisch der Zahlungseinstellung nahe (cessation de paiement), geht jedoch davon aus, dass das liquide Gesellschaftsvermögen (actif disponible) die fälligen und durchsetzbaren Verbindlichkeiten (passif exigible) nicht decken. Die entscheidende Vorschrift lautet bis 2005: Art. L. 621-1 Code de Commerce (Fassung 1985): „La procédure de redressement judiciaire est ouverte à toute entreprise, mentionée à l’article L. 620-2, qui est dans l’impossibilité de faire face au passif exigible avec son actif disponible.“

Nunmehr gilt aufgrund des Reformgesetzes vom 26. Juli 2005 der folgende Art. L 631-1 Code de Commerce (Fassung 2005): „Il est institué une procédure de redressement judiciaire ouverte à tout débiteur mentionné aux articles L. 631-2 ou L. 631-3 qui, dans l’impossibilité de faire face au passif exigible avec son actif disponible, est en cessation des paiments.“

Nach ständiger Rechtsprechung ist die „cessation des paiements … l’impossibilité pour le debiteur, à partir de se réserves actuelles de trésorerie ou de crédit, de faire face à son passif exigible 16.“ Erfasst ist der ganze Zahlungsunfähigkeitstatbestand, nicht bloß die Zahlungsunfähigkeit 17. Die Neufassung aus dem Jahr 2005 scheint zwar in andere Richtung zu weisen, weil sie die „cessation des paiements“ nunmehr in den Gesetzeswortlaut mit aufgenommen hat. Eine Änderung gegenüber dem durch die Rechtsprechung geprägten Verständnis des Tatbestands ist damit aber nicht gemeint 17a. Wer genau hinblickt, kann in dem Gesetzeswortlaut sogar schon ein prognostisches Element entdecken („impossibilité de faire face …“). Die meisten Rechte betonen, dass die Zahlungsunfähigkeit mehr als eine bloße Zahlungsstockung sein muss 18. Die Zahlungsunfähigkeit muss „de manière 14 Charakteristisch § 66 öKO sowie der § 102 der deutschen Konkursordnung. 15 Art. 5 Abs. 2 Legge fallimentare: „… non è piu in grado di soddisfare regolarmente (!) le proprie obbligazioni.“ 16 Cass. Com. 17. juin 1977, Bull. civ. IV. n° 193; Cass. Com. 12. nov. 1997, Bull. vi. IV, n.° 290. 17 Vgl. Pernice, Die Insolvenzverschleppung durch das Geschäftsführungsorgan der kleinen Kapitalgesellschaft im deutschen, französischen und englischen Recht, 2002, S. 153. 17a Vgl. de Roux, Rapport fait au nom de la Commission des Lois constitutionelles, de la Législation et de l’Administration générale de la République sur le projet de loi (No. 1596) de sauvegarde des entreprises, in: Assemblée Nationale, Dokument No. 2095 vom 24. 2. 2005, S. 73; Sitzungsniederschrift der Assemblée Nationale vom 8. 3. 2005, Journal officiel de la République Française, session ordinaire de 2004–2005, 168e séance, S. 1756. 18 Dänemark: § 17 Abs. 2 Konkursloven; Norwegen: § 61 Satz 1 Konkursloven; Schweden: § 2 Abs. 2 Konkurslag.

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persistante“ sein 19. Auch das spanische Recht will bloße Zahlungsstockungen offenbar ausschließen (Art. 2.2 Ley 22/2003): „Se encuentra en estado de insolvencia es deudor que no puede cumplir regularmente sus obligaciones exigibles.“

Überaus unklar und uneinheitlich ist die Bedeutung, die der Zahlungseinstellung („stop of payments“) beigemessen wird 20. Festgehalten werden darf, dass insbesondere der französische Zahlungsunfähigkeitstatbestand trotz seiner geläufigen, nunmehr sogar in den Gesetzeswortlaut aufgenommenen Bezeichnung als „cessation de paiement“ nicht mit dem der Zahlungseinstellung gleichzustellen ist 21. Auch steckt in dem Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit (s. 122 Abs. 1 Buchst. f Insolvency Act) stillschweigend ein Prognosemerkmal. Der italienische Tatbestand macht das prognostische Element der Zahlungsunfähigkeit deutlich erkennbar (Art. 5 Abs. 2 Legge fallimentare): „Lo stato d’insolvenza si manifesta con inadempimenti od altri fatti esteriori, i quali dimostrino che il debitore non è più in grado di soddisfare regolarmente le proprie obbligazioni.“

c) Der Gesetzgeber der deutschen Insolvenzordnung hatte sich um eine klärende Definition bemüht, die vor allem unter der Konkursordnung aufgetretene Zweifelsfragen beheben sollte (§ 17 Abs. 2 InsO) 22: „Der Schuldner ist zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Zahlungsunfähigkeit ist in der Regel anzunehmen, wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat.“

Die sich an die Verabschiedung der Insolvenzordnung anschließende Diskussion sollte aber sogleich zeigen, dass die entscheidende Frage des Zahlungsunfähigkeitstatbestands ungeklärt blieb: Wie verhält sich die Zahlungsunfähigkeit zur bloßen Zahlungsstockung? Enthält der Begriff der Zahlungsunfähigkeit ein prognostisches Element? Durch Urteil vom 24.5.2005 hat sodann der Bundesgerichtshof auf ziemlich arbiträre Weise entschieden 23: „1. Eine bloße Zahlungsstockung ist anzunehmen, wenn der Zeitraum nicht überschritten wird, den eine kreditwürdige Person benötigt, um sich die benötigten Mittel zu leihen. Dafür erscheinen drei Wochen erforderlich, aber auch ausreichend. 2. Beträgt eine innerhalb von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke des Schuldners weniger als 10 % seiner fälligen Gesamtverbindlichkeiten, ist regelmäßig von Zahlungsunfähigkeit auszugehen, es sei denn, es ist bereits absehbar, dass die Lücke demnächst mehr als 10 % erreichen wird. 19 Belgien: Art. 2 Abs. 1 Loi du 08-08-97. 20 Vgl. McBryde/Flessner/Kortmann, Principles of European Insolvency Law, 2003, S. 21. 21 Nachweise bei Pernice, Die Insolvenzverschleppung durch das Geschäftsführungsorgan der kleinen Kapitalgesellschaft im deutschen, französischen und englischen Recht, 2002, S. 153 22 BegrRegE InsO BT-Dr. 12/2433, S. 114. 23 BGHZ 163, 134 = NJW 2005, 3062.

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3. Beträgt die Liquidationslücke des Schuldners 10 % oder mehr, ist regelmäßig von Zahlungsunfähigkeit auszugehen, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquidationslücke demnächst vollständig oder fast vollständig beseitigt werden wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist.“

d) Es ist mit Händen zu greifen, dass mit solchen Faustregeln nicht viel gewonnen ist. Vor allem verspricht der Tatbestand keinen wirksamen ex-ante-Schutz der Gesellschaftsgläubiger, weil er dafür zu spät ansetzt. Der Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit, wie immer er im Detail ausformuliert sei, ist zwar als allgemeiner Eröffnungstatbestand unentbehrlich. Als Grundlage präventiven Gläubigerschutzes taugt er jedoch wenig. Vor allem gilt dies auch für die Insolvenzantragspflichten der Leitungsorgane. Das zitierte BGH-Urteil ist ein Insolvenzverschleppungsfall, in dem dem Geschäftsführer vor allem fehlende Finanzplanung vorgeworfen wurde. Warum das Urteil nicht auf Überschuldung gestützt wurde, ist nicht erkennbar. Der Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit ist m.a.W. ein Tatbestand, bei dem das Insolvenzverfahren spätestens und unweigerlich eröffnet werden muss. Aber er schreit nach einer Ergänzung durch präventiven Gläubigerschutz. 3. Überschuldung a) Die Überschuldung ist bei Kapitalgesellschaften, bei sonstigen Körperschaften und bei Personengesellschaften ohne unbeschränkt haftenden natürlichen Komplementär Eröffnungsgrund in Deutschland (§ 19 Abs. 1 und 3 InsO), Österreich (§ 67 Abs. 1 KO) und außerhalb der Vergleichsstaaten in der Schweiz (Artt. 725, 725a OR und Verweisungsvorschriften). In England kann eine Zwangsliquidation außer im Überschuldungsfall auch dann angeordnet werden, wenn die Gesellschaft entweder zahlungsunfähig ist (s. 122 Abs. 1 Buchst. f Insolvency Act), oder „if the court is of the opinion that it is just and equitable that the company should be wound up“ (s. 122 Abs. 1 Buchst. g Insolvency Act). Dass sich hieraus eine überschuldungsorientierte Gerichtspraxis entwickelt hätte, ist dem Verfasser nicht bekannt. Wenig ergiebig scheint auch das norwegische Recht, das Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit verlangt (§ 61 Satz 2 in Ergänzung von Satz 1 Konkursloven), demnach also wohl eine auf Überschuldung beruhende Zahlungsunfähigkeit. Die Frage ist deshalb, ob der Überschuldungstatbestand den präventiven Gläubigerschutz gewährleistet, den wir beim Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit vermisst haben. b) Was Überschuldung ist, ist im österreichischen Recht nicht definiert (§ 67 Abs. 3 KO regelt nur die Nicht-Passivierung subordinierter Verbindlichkeiten). Für das schweizerische Recht ergibt sich aus Art. 725 Abs. 2 Satz 2 OR, dass Überschuldung vorliegt, wenn die Forderungen der Gesellschaftsgläubiger weder zu Fortführungs- noch zu Veräußerungswerten gedeckt sind. Auch die deutsche Praxis unterschied unter der Geltung der Konkursordnung zwischen „rechneri-

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scher Überschuldung“ und „rechtlicher Überschuldung“24. Nach BGHZ 119, 201 = NJW 1992, 2891 liegt Überschuldung nur vor, wenn das Vermögen der Gesellschaft bei Ansatz von Liquidationswerten die bestehenden Verbindlichkeiten nicht decken würde (rechnerische Überschuldung) und die Finanzkraft der Gesellschaft mittelfristig nicht zur Fortführung des Unternehmens ausreicht („Überlebens- und Fortführungsprognose“). Dieses bis 1998 vorherrschende Verständnis des Überschuldungstatbestands 25 diente der Trennung von Überschuldungsbilanz und Prognose 26. Es wurde ausdrücklich aufgegeben durch die Neudefinition des Überschuldungstatbestands in § 19 Abs. 2 InsO: „Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt. Bei der Bewertung des Vermögens des Schuldners ist jedoch die Fortführung des Unternehmens zugrunde zu legen, wenn diese nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist.“

Mit dieser Norm will der InsO-Gesetzgeber die Prognose wieder zu einer reinen Bewertungsprämisse im Insolvenzstatus herabstufen 27. Er folgt damit dem „alten“ (nun wieder neuen) zweistufigen Überschuldungsbegriff, zu dessen Überwindung die bei BGHZ 119, 201 = NJW 1992, 2891 anerkannte „neue“ (jetzt offenbar wieder alte) Zweistufigkeit angetreten war 28. Der BGH hat jüngst angedeutet, dass er nur für die Rechtslage vor 1999 an der Trennung von „rechnerischer Überschuldung“ und Prognose festhalten dürfte 29. Auf’s Neue zeigen diese Schwierigkeiten in nationalem Recht, wie schwierig die Herausarbeitung rechtspolitischer Empfehlungen auf europäischer Ebene ist. c) Deshalb sollte nicht so sehr auf streitige Details, sondern mehr auf Grundsätzliches geblickt werden. Wir hatten festgestellt, dass eine Insolvenzeröffnung bei Zahlungsunfähigkeit aus der Perspektive des Gläubigerschutzes zu spät kommt. In rechtspolitischer Hinsicht ist das in traditionellen Überschuldungsdefinitionen unterschätzte dynamisch-prognostische Element des Überschuldungstatbestands von herausragender Bedeutung. Der Überschuldungstatbestand ist in direktem Zusammenhang mit den Insolvenzantragspflichten zu sehen. Er ist einerseits Tatbestand für die Verfahrenseröffnung und markiert auf der anderen Seite zugleich den Beginn des „fraudulent“ oder „wrongful trading“ 30. Deshalb interessiert er 24 BGHZ 126, 181, 199; 129, 136, 154; Nachweise bei Häsemeyer, Insolvenzrecht, 3. Aufl. 2003, Rdn. 7.21 ff.; Karsten Schmidt/Uhlenbruck, Rdn. 857ff. 25 Näher Karsten Schmidt/Uhlenbruck, Rdn. 877; diese Methode ging zurück auf den Aufsatz des Verf. in AG 1978, 334ff. („Konkursgründe und präventiver Gläubigerschutz“). 26 Vgl. ebd.; vgl. auch Karsten Schmidt, JZ 1982, 165, 170. 27 Vgl. die Gesetzesbegründung in BT-Dr. 12/2443, S. 115 und BT-Dr. 12/7302, S. 157. 28 Vgl. Karsten Schmidt, AG 1978, 334ff.; ders., Wege zum Insolvenzrecht der Unternehmen, S. 50ff. 29 BGH, NJW 2005, 3137, 3139: „Fortführungsprognose …, auf die es nach damaliger Rechtslage ankam.“ 30 Vgl. zu dieser Parallelität Karsten Schmidt, in: VGR-Sonderband „GmbH-Reform

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– unter dem Gesichtspunkt des präventiven Gläubigerschutzes und damit – unter prognostischem Gesichtspunkt. Er ist damit gleichsam das Abbild unternehmerischer Selbstprüfungspflichten. Dies ist der Grund, aus dem, wie immer der Gesetzgeber sich ausdrücken mag, die Prognosezeiträume und die Prognosemethode unvermeidlich das A und O eines dem präventiven Gläubigerschutz dienenden Insolvenztatbestands sein werden. Zugleich liegt hier der Grund, weshalb die Selbstprüfungspflichten auf betriebswirtschaftliche Kriterien hinauslaufen werden. III. Insolvenzantragspflichten und Verschleppungshaftung 1. Der Normzweck: präventiver Gläubigerschutz Die Tatbestände der Insolvenzverschleppungshaftung, wie immer sie im einzelnen ausgestaltet sein mögen, haben in rechtspolitischer Hinsicht in erster Linie nicht den Zweck, eingetretene Gläubigerschäden zu kompensieren (dazu reicht das Vermögen der haftenden Personen im Regelfall auch nicht aus). Ihre Hauptfunktion liegt im präventiven Gläubigerschutz, also in der Verhaltenssteuerung. Das wiederum bedeutet, dass Insolvenzantragspflichten im Gesellschaftsrecht in erster Linie nicht auf Insolvenzantragstellung gerichtet sein sollten (auch wenn die Tatbestände in diesem Sinne formuliert werden), sondern auf ständige Solvenzprüfung seitens der Unternehmensleitung 31. 2. Unterschiedliche gesetzliche Ansätze a) Die französischen und die spanischen Gesetze enthalten Insolvenzantragspflichten, die nicht auf Gesellschaften beschränkt sind und – in Anbetracht des Fehlens eines Überschuldungstatbestands konsequent – an den Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit bzw. Zahlungseinstellung anknüpfen. Der Antrag ist binnen 45 Tagen (Frankreich) bzw. binnen zwei Monaten (Spanien) zu stellen. Art. L 631-4 Abs. 1 Code de Commerce: „L’ouverture de cette procédure doit être demandée par le débiteur au plus tard dans les quarante-cinq jours qui suivent la cessation des paiements s’il n’a pas, dans ce délai, demandé l’ouverture d’une procédure de conciliation.“ Art. 5.1 Ley 22/2003: „El deudor deberá solicitar la declaración de concurso dentro de los dos meses siguientes a la fecha en que hubiera conocido o debido conocer su estado de insolvencia.“

Dass diese Pflicht im Fall einer Handelsgesellschaft die Leitungsorgane trifft, wird im spanischen Recht besonders herausgestellt durch die Zuständigkeitsregel des Art. 3.1 Satz 2: in der Diskussion“, 2006 (im Druck); s. auch Habersack/Verse, ZHR 168 (2004), 174, 177ff. 31 Karsten Schmidt/Uhlenbruck, Rdn. 1862 f.

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„Si el deudor fuere persona jurídica, será competente para decidor sobre la solicitud el órgano de administración o de liquidación.“

Im Übrigen zeigen schon diese Vorschriften gravierende Unterschiede im Ansatz. Die französische knüpft ihrem Wortlaut nach an den objektiven Tatbestand der Zahlungseinstellung (cessation des paiements) an, meint aber damit nichts anderes als die objektive Zahlungsunfähigkeit (oben unter II 2b). Die spanische Regelung, wenngleich belastet durch die Zweimonatsfrist, knüpft dagegen an die Kenntnis oder das Kennenmüssen der Zahlungsunfähigkeit an. Das ist rechtspolitisch der bessere, dem Gedanken des wrongful trading nähere Ansatz. Aber auch er bringt nach dem, was hier über den Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit gesagt worden ist (oben, II 2) rechtspolitisch noch zu wenig ein. b) In Italien wird die Insolvenzantragspflicht aus der Strafnorm des Art. 217 Nr. 4 Legge fallimentare herausgelesen, wonach die Schmälerung der Masse durch Verzögerung des Konkursantrags strafbar ist 32. Die Regelungen sind vor dem Hintergrund einer strengen Haftung für Vermögensschäden außerhalb der Insolvenz zu verstehen. Rechtspolitisch können sie nicht stärker sein als der zugrundeliegende Insolvenzeröffnungsgrund der Zahlungsunfähigkeit. c) Speziell gesellschaftsbezogene Insolvenzantragspflichten der Leitungsorgane kennen Deutschland (§ 92 Abs. 2 AktG, § 64 Abs. 1 GmbHG, § 130a HGB) und Österreich (§ 69 Abs. 2, 3 KO). Sie knüpfen an die Tatbestände der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung an. In der Haftungspraxis dominiert der Überschuldungstatbestand, weil ein betriebswirtschaftliches Verständnis der Überschuldung diese früher eintreten lässt als die Zahlungsunfähigkeit (dazu unter III 3). Die Überschuldung ist der von der Geschäftsleitung im Blick zu behaltende Punkt. Wer das Unternehmen trotz Überschuldung fortführt, ohne Insolvenzantrag zu stellen, haftet auf Ersatz der Gläubigerschäden. d) Als vollkommen andersartig wird üblicherweise das Konzept des wrongful trading nach sec. 214 Insolvency Act eingeschätzt (dazu unter IV 2). Hier soll dagegen der Versuch unternommen werden, Insolvenzverschleppungshaftung und Haftung wegen wrongful trading miteinander rechtspolitisch zu versöhnen. 3. Überschuldungstatbestand und präventiver Gläubigerschutz a) Der Überschuldungstatbestand birgt in sich die Chance, präventiven Gläubigerschutz, Insolvenzrechtspolitik und betriebswirtschaftliche Selbstprüfung miteinander zu versöhnen. In seinem traditionellen statischen Verständnis (stichtagsbezogene Gegenüberstellung von Aktiva und Passiva) ist dieser Tatbestand veraltet und deshalb mit Recht international wenig akzeptiert. Aber das kann sich ändern, wenn der Überschuldungstatbestand nicht in erster Linie als Insolvenzeröffnungs32 Kalss/Adensamer/Oelkers, in diesem Band, S. 134, 154 ff; Adensamer/Oelkers/Zechner, Verhaltenspflichten der Geschäftsleiter in der Unternehmenskrise, Manuskript S. 25 m.w.N.

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tatbestand, sondern als Gegenstand einer unternehmerischen Finanzplanung begriffen wird 33. Überschuldung als unternehmensrechtlicher Tatbestand ist nicht rein exekutorisch zu denken (als Unzulänglichkeit des aktuell vorhandenen pfändbaren Vermögens für allseitige Gläubigerbefriedigung), sondern betriebswirtschaftlich auszufüllen (als Tatbestand unzureichender finanzieller Absicherung gläubigersichernder Unternehmensfortführung) 34. Ob der auf einen statisch-bilanziellen Tatbestand hindeutende Begriff „Überschuldung“ durch einen das Finanzplanungselement besser beschreibenden Begriff ausgewechselt werden sollte, ist eine terminologische Frage, die von dem Sachproblem nicht ablenken sollte. b) Der Überschuldungstatbestand des deutschen und österreichischen Insolvenzrechts ist umstritten und schwierig 35. Ein wesentliches Element des Überschuldungstatbestands ist – so sehr über seine Einordnung im Detail gestritten wird (oben unter II 3) – die Fortbestehensprognose 36. Sie wird von § 19 Abs. 2 InsO dahin definiert, dass die Fortführung des Unternehmens „nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist“. Diese Prognose, in Anbetracht ihrer Unsicherheit bei Juristen in Misskredit geraten, ist nach betriebswirtschaftlicher Einsicht das A und O jeder Selbstprüfung und Fortführungsentscheidung im Unternehmen. Sie muss auch das juristische A und O der Selbstprüfung im Lichte des präventiven Gläubigerschutzes sein. Die vielen gegen die Unsicherheit des Überschuldungstatbestands ins Feld geführten Einwände können nichts daran ändern, dass – jede Unternehmensentscheidung, die diesen Namen verdient, prognostischen Charakter hat, dass – die Fortführungswürdigkeit oder -unwürdigkeit eines Unternehmens kein statischer, sondern ein dynamischer Tatbestand ist, dass – eine dem präventiven Gläubigerschutz dienende Selbstprüfung stets auf Dauerhaftigkeit der Liquidität und Zahlungsfähigkeit zielen muss und dass – der Überschuldungstatbestand im Unternehmensrecht im Vergleich mit dem Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit einer Vorverlegung der Kontrolle dient. Überschuldung ist ein Tatbestand, der ein Abwarten des Zeitpunkts der Zahlungsunfähigkeit als verboten erscheinen lässt. Das Konzept der Insolvenzantragspflicht bei Überschuldung kombiniert das Gebot einer ex-ante-Kontrolle seitens der hierfür zuständigen Geschäftsleiter mit ex-post-Sanktionen im Fall unterlassener oder schuldhaft fehlsamer Selbstprüfung.

33 34 35 36

Vgl. Fn. 24, 25, 26, 29. Dies wurde vom Verfasser näher entwickelt in JZ 1982, 165ff. Vgl. Fn. 24–29. Vgl. Fn. 24, 26.

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IV. Sanktionen 1. Schadenersatz In den meisten Verfahrensrechtsordnungen bekannt, wenn auch sehr unterschiedlich begründet, ist die Schadensersatzhaftung wegen Insolvenzverschleppung. Aber nicht alle haben sie zu einem gesellschaftsrechtlichen Spezifikum ausgebaut. In Deutschland und Österreich hat sich eine unterschiedliche Haftung gegenüber den Altgläubigern und gegenüber den Neugläubigern durchgesetzt 37. a) Die Haftung wird in einer Reihe von Staaten rein zivilrechtlich begründet, nämlich nach allgemeinem Deliktsrecht 38 oder nach den Grundsätzen vorvertraglichen Verschuldens 39. Beide Ansätze sind für einen effektiven Individualschutz geschädigter Einzelgläubiger schwer zu entbehren 40. Aber sie ersetzen einen unternehmensspezifischen Gesamtgläubigerschutz nicht. b) Deutschland und Österreich gehen, basierend auf einem gesetzlichen Insolvenzverschleppungsverbot (s. o. III 3 b), von einer Schadensersatzhaftung aus, die im Fall einer Insolvenzverfahrenseröffnung durch Leistung in das Gesellschaftsvermögen zu begleichen ist und den gesamten Verschleppungsschaden der Gläubiger umfasst 41. Daneben kommen Individualklagen geschädigter Neugläubiger in Betracht 42. 2. Wrongful Trading a) Die Haftung aus sec. 214 Insolvency Act ist im Manuskript Kalss/Adensamer/Oelkers 43 skizziert sowie ausführlich in Beiträgen von Bachner 44 und Habersack/Verse 45 geschildert worden. Sie versteht sich nicht als reine Insolvenzverschleppungshaftung, und kann sich in einem auf Zahlungsunfähigkeit basierenden Insolvenzrecht auch nicht so verstehen. Wrongful trading kann selbstverständlich vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit zum Zuge kommen. Der Unterschied zur Insolvenzverschleppungshaftung in Überschuldungsfällen sollte dennoch nicht überzeichnet werden 46. Erkennt man nämlich, dass der Rechtsfigur des „wrongful trading“ die Prämisse „keine Insolvenz vor Zahlungsunfähigkeit“ zugrunde liegt, so erweist sich die Phase des „wrongful trading“ typischer37 Vgl. mit Unterschieden BGHZ 138, 211; OGH, ecolex 1998, 327. 38 Vgl. Kalss/Adensamer/Oelkers, in diesem Band, S. 134, 176 ff. 39 Vgl. Kalss/Adensamer/Oelkers, in diesem Band, S. 143 ff (Dänemark), S. 158 f (Niederlande). 40 Vgl. Scholz/Karsten Schmidt, GmbHG, 9. Aufl. 2003, § 64 Rdn. 40. 41 Vgl. Kalss/Adensamer/Oelkers, in diesem Band, S. 139ff, 164ff. 42 Vgl. BGHZ 126, 181; 138, 211; Einzelheiten umstritten. 43 S. 8 f. 44 Bachner, EBOR 5 (2004), 293, 300ff. 45 Habersack/Verse, ZHR 168 (2004), 174. 46 Die diesbezüglichen Feststellungen von Bachner, EBOR 5 (2004), 293, 303 und Habersack/Verse, ZHR 168 (2004), 174, 185 dürften auf der Ausblendung des Prognosemoments beruhen.

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weise als deckungsgleich mit einer prognostisch begriffenen Überschuldung oder drohenden Zahlungsunfähigkeit. Bedenkt man umgekehrt aus der Sicht des deutschen Rechts das prognostische Moment des die Fortführung ohne Insolvenzantrag verbietenden Überschuldungstatbestands (oben unter II 3, III 3b), versteht man also den Tatbestand der Überschuldung im Sinne des Gläubigerschutzes als prognostizierte Zahlungsunfähigkeit, so ähnelt ihm der Fall eines Unternehmensleiters, der „knew or ought to have concluded that there was no reasonable prospect that the company would avoid going into insolvent liquidation“. Beide Rechtsinstitute – die Insolvenzverschleppungshaftung bei Überschuldung und die Haftung wegen „wrongful trading“ – beabsichtigen insofern dasselbe: eine gläubigerschützende Verantwortlichkeit des Geschäftsleiters für die erlaubte oder unerlaubte Unternehmensfortführung schon vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit. Und was den in das Ermessen des Gerichts gestellten Haftungsumfang anlangt, so stellen Kalss/Adensamer/Oelkers im Anschluss an Habersack/Verse 47 fest, dass die englische Praxis im Ergebnis auf Erstattung des durch Masseverringerung eingetretenen Gesamtgläubigerschadens hinausläuft 48. Trotz theoretisch vollständig abweichender Haftungstatbestände (Überschuldung versus wrongful trading), Rechtskonstruktionen (Deliktsrecht versus spezielles Insolvenzrecht) und Rechtsfolgen (Schadensersatz versus Ermessensentscheidung) scheinen sich die rechtspolitischen Grundgedanken und die praktischen Lösungen doch mehr zu ähneln, als es bei bloßer Gesetzeslektüre zu vermuten wäre 49. b) Die Aufgabe eines europäischen Rechts der Insolvenzverschleppungshaftung dürfte deshalb darin bestehen, das rechtspolitisch einheitliche Konzept der Insolvenzverschleppungshaftung transparent zu machen. Die Geschäftsführer schulden Ersatz des durch unerlaubte Fortführung des Geschäfts angerichteten Gesamtgläubigerschadens. Mit Fleischer ist die „magna questio“ in einer Fixierung des Pflichten auslösenden Zeitpunkts zu erblicken 50. Die englischen Gerichte gestehen dem Geschäftsführer durchaus einen Einschätzungsspielraum zu 51. Der haftungsauslösende „moment of truth“ – gleichzeitig Gegenstand der ständigen unternehmerischen Selbstprüfung in der Krise – sollte mit Hilfe der betriebswirtschaftlichen und juristischen Erkenntnisse zum Überschuldungsbegriff, soweit dies geht, präzisiert werden. Die mit der Überschuldung einsetzende Geschäftsführerhaftung ist auf schuldhaft verursachte Insolvenzausfälle (Auffüllung der Insolvenzmasse) begrenzt und als Verschuldenshaftung auch in Anbetracht der Unsicherheit jeder Prognose trotz ihrer Härte beherrschbar und für die Geschäftsführer zumutbar. 47 ZHR 168 (2004), 174, 197. 48 Vgl. zur Praxis auch Morse, Charlesworth’s Company Law, 17. ed. 2005, S. 318; Pernice, S. 215f. 49 Bemerkenswert Bachner, EBOR 5 (2004), 293, 302: „the case goes no further than would any German case under § 92 (2) AktG or § 64 (1) GmbHG“. 50 Fleischer, ZGR 2004, 437, 457. 51 Vgl. ebd.

Insolvenzgründe und Haftung für Insolvenzverschleppung

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3. Umfassende Erstattungshaftung oder Haftungsdurchgriff auf die Geschäftsführer? a) Eine eigenartige Haftung, deren Einordnung Schwierigkeiten bereitet 52, ist in § 64 Abs. 2 GmbHG angeordnet (weniger deutlich in § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG und ganz anders in § 130 a Abs. 3 HGB). Danach müssen Geschäftsführer alle nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder (nach Feststellung) der Überschuldung aus dem Gesellschaftsvermögen geleisteten Zahlungen durch Einzahlung in die Masse erstatten, sofern sie sich nicht exkulpieren. Diese die jüngere Praxis des BGH beherrschende Haftung 53 ist von dramatischer, in der Literatur nicht unbestritten gebliebener 54 Härte. Der Verfasser hält sie für unverhältnismäßig und verfehlt 55. Unstreitig ist zwar die Effektivität dieser Sanktion 56, aber sie steht im Ergebnis außer Verhältnis zum Handlungsunrecht der Geschäftsführer in Verschleppungsfällen, weil sie über die vom Geschäftsführer schuldhaft verursachten Insolvenzverschleppungsschäden um ein Mehrfaches hinausgehen kann 57. Ein weiterführendes Vorbild ist darin nicht zu erkennen. b) Die auf Art. L 651-2 Code de Commerce gestützte action en comblement de l’insuffisance d’actif ist eine summenmäßig nicht beschränkte Haftung des gérant (gérant de droit oder gérant de fait) wegen Masseunzulänglichkeit 58. Die Bestimmung lautet: „Lorsque la résolution d’un plan de sauvegarde ou de redressement judiciaire ou la liquidation judiciaire d’une personne morale fait apparaître une insuffisance d’actif, le tribunal peut, en cas de faute de gestion ayant contribué à cette insuffisance d’actif, décider que les dettes de la personne morale seront supportées, en tout ou en partie, par tous les dirigeants de droit ou de fait ou par certains d’entre eux, ayant contribué à la faute de gestion. En cas de pluralité de dirigeants, le tribunal peut, par décision motivée, les déclarer solidairement responsables. L’action se prescrit par trois ans à compter du jugement qui prononce la liquidation judiciaire ou la résolution du plan. 52 So bereits Fleck, GmbHR 1974, 224, 230. 53 BGHZ 143, 184 = NJW 2000, 668 = ZIP 2000, 184; BGH, NJW 2001, 304 = ZIP 2000, 1896; BGHZ 146, 264 = NJW 2001, 1280 = ZIP 2001, 235; BGH NJW 2003, 2316 = ZIP 2003, 1005; vgl. auch schon BGHZ 131, 325 = NJW 1996, 850 = ZIP 1996, 420. 54 Vgl. Altmeppen, ZIP 2001, 1201; Bitter, WM 2001, 666; Karsten Schmidt, ZHR 168 (2004), 637; ders., ZIP 2005, 2177. 55 Vgl. ebd. 56 Dazu Goette, FS Kreft, 2004, S. 53, 58. 57 Vgl. Fn. 54. 58 Dazu eingehend Pernice, S. 158ff.; Kalss/Adensamer/Oelkers, in diesem Band, S. 151 ff; zum konzernrechtlichen Anwendungsbereich vgl. Domain und Chaput, La responsabilité non-contractuelle dans la gestion de sociétés dans la jurisprudence française, in: Ebenroth/Ronger (Hrsg.), Die außervertraglichen unternehmerischen Handlungspflichten zum Schutze fremden Vermögens = La responsibilité non-contractuelle en matiére commerciale, 1995, Rdn. 87 ff., 116 ff.

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Les sommes versées par les dirigeants en application de l’alinéa 1er entrent dans le patrimoine du débiteur. Ces sommes sont réparties entre tous les créanciers au marc le franc.“

Dem Wortlaut nach liegt eine in das Ermessen des Gerichts gestellte Nachschusspflicht der Unternehmensleiter vor, die bis zu einem unbeschränkten Innendurchgriff gehen könnte (Erstattung der gesamten Unterdeckung). Berichten zufolge soll es dazu aber nur in einer geringen Zahl von Fällen kommen, während die Entscheidung in der Mehrzahl der Fälle auf Erstattung der schuldhaft verursachten Ausfälle lautet 59. c) Eine komplizierte, im Ergebnis nicht unähnliche Regelung enthält seit 2003 das spanische Insolvenzrecht 60. Nach Artt. 167, 174 der Ley 22/03 wird vom Richter eine „sección de calificación“ eingesetzt. Es wird darüber entschieden, ob der Konkurs als „fortuito“ oder als „culpable“ einzuschätzen ist (Art. 163.2). Ein „Concurso culpable“ liegt zwingend in bestimmten Fällen des strafbaren Bankrotts vor (Art. 164 Abs. 2), vorbehaltlich eines von Schuldnerseite zu erbringenden Gegenbeweises („salvo prueba en contrario“) wird „dolo e culpa grave“ u. a. vermutet, wenn die Insolvenzanmeldung verzögert worden ist (Art. 165.1 No. 1): „Hubieran incumplido el deber de solicitar la declaración del concurso.“ Bemerkenswert ist nun die in das Ermessen des Gerichts gestellte Durchgriffsfolge des „Concurso culpable“ nach Art. 172.3 Ley 22/03: „Si la Sección de calificación hubiera sido formada o reabierta como consecuencia de la apertura de la fase de liquidación, la sentencia podrá, además, condenar a los administradores o liquidadores, de derecho o de hecho, de la persona jurídica cuyo concurso se califique como culpable, y a quienes hubieren tenido esta condición dentro de los dos años anteriores a la fecha de la declaración de concurso, a pagar a los acreedores concursales, total o parcialmente, el importe que de sus créditos no perciban en la liquidación de la masa activa.“

Praktische Erfahrungen liegen anscheinend noch nicht vor. d) Insgesamt erscheint die Erstattungshaftung, wie sie in Anwendung des § 64 Abs. 2 GmbHG vom BGH praktiziert wird, einfach und klar berechenbar, aber in den Ergebnissen unverhältnismäßig. Die sich aus der action en comblement de l’insuffisance d’actif (Art. L 651-2 Code de Commerce) bzw. aus dem Durchgriff wegen „Concurso culpable“ ergebende Erstattungshaftung (Art. 172.3 Ley 22/03) vertraut auf eine Handsteuerung durch die Gerichte. Sie wird auf der

59 Vgl. Pernice, S. 162. 60 Dazu eingehend Alonso Ureba, La responsibilidad concursal de los administradores de una de capital en situación concursal, in: Garcia Villaverde/Alonso Ureba/Pulgar Ezquerra, Derecho Concursal, 2003, S. 505 ff.; Pulgar Ezquerra, La prevención de las crisis económicas de las sociedades de capital en la reforma del derecho concursal español, in: El Concurso de Sociedades en el Derecho Europeo, 2004, S. 223, 248ff.

Insolvenzgründe und Haftung für Insolvenzverschleppung

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Rechtsfolgenseite dem Anschein nach maßvoll gehandhabt, ist aber in bedenklicher Weise unbestimmt und lädt zu einer arbiträren Gerichtspraxis ein. Das ist nicht nachahmenswert.

V. Schluss: Versuch einer Würdigung und Zusammenfassung in Thesen 1. Insolvenzeröffnungsgründe Ein Insolvenzrecht, das nur auf den Eröffnungstatbestand als solchen blickt, wird mit dem Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit zufrieden sein. Sollen die Insolvenzeröffnungsgründe systematisch mit der Haftung für Insolvenzverfahrensverschleppung verbunden werden, so empfiehlt sich daneben für Gesellschaften ohne persönlich haftende natürliche Personen die Einführung eines betriebswirtschaftlich formulierten (d. h. von finanzplangestützten Fortführungsprognosen abhängigen) Überschuldungstatbestands. Ein so verstandener Überschuldungstatbestand hat in erster Linie nicht (nicht nur) die Funktion eines Tatbestands für die Verfahrenseröffnung, sondern er bestimmt den „moment of truth“ und ist Gegenstand der Selbstprüfung des Unternehmens. Ob hierfür noch der Begriff „Überschuldung“ verwendet werden soll oder ob er gegen einen weniger missverständlichen Begriff auszutauschen wäre, ist, wie schon angemerkt, eine rein redaktionelle Frage. 2. Insolvenzverschleppungshaftung Eine in das Ermessen des Gerichts gestellte Verschleppungshaftung (wrongful trading; action en comblement de l’insuffisance d’actif; responsibilidad concursal) verspricht rechtspolitische Effektivität, droht aber zu einer schwer kontrollierbaren Durchgriffshaftung zu werden. Die Begrenzung auf Insolvenzantragspflichten und auf Ersatz des durch deren Verletzung herbeigeführten Schadens vermeidet bei aller ihr verbleibenden Schärfe unverhältnismäßige Sanktionen. Die Geschäftsleiter sind verpflichtet, die Masse bis zu dem Betrag aufzufüllen, der die bei rechtmäßigem Geschäftsführerverhalten erzielbare Insolvenzquote ermöglicht (Ersatz des der Gesamtgläubigerschaft entstehenden Insolvenzverschleppungsschadens). 3. Thesen a) Die Insolvenzeröffnungsgründe stehen nur scheinbar außerhalb des Themas „Kapital in Europa“. Ihre rechtspolitische Bedeutung liegt für das Unternehmensrecht weniger darin, dass in ihnen die Voraussetzungen eines Insolvenzverfahrens definiert werden. Ihre Hauptbedeutung liegt im präventiven Gläubigerschutz. Sie definieren Grenzen der Finanzierungsfreiheit der Gesellschafter wie auch Grenzen der Fortführungsbefugnis ihrer Geschäftsleitung.

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b) Die rechtspolitische Frage lautet nicht: „Kapitalschutz oder Insolvenzverschleppungshaftung?“ Der Kapitalschutz betrifft die Verantwortung der Gesellschafter für die Aufbringung und Nichtentnahme eines die Gläubiger sichernden Kapitalschutzes. Das Insolvenzverschleppungsverbot richtet sich an die Geschäftsführer und schützt die Gläubiger gegen die Fortsetzung eines durch operative Verluste in eine Krise geratenen Unternehmens über einen im Lichte des Gläubigerschutzes zu bestimmenden Zeitpunkt hinaus. c) Der Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit vermag diese Aufgabe nicht zu erfüllen. Im Interesse des präventiven Gläubigerschutzes empfiehlt es sich, die Fortführung einer Kapitalgesellschaft über den Zeitpunkt eines prognostisch-betriebswirtschaftlich zu bestimmenden Tatbestands der Überschuldung hinaus zu untersagen. Der Überschuldungstatbestand (oder wie immer man ihn in Zukunft nennen will) hält die Geschäftsführer zu einer prognostischen Finanzplanung und Solvenzprüfung an. Er bestimmt den „moment of truth“, von dem an die Fortführung des Unternehmens ohne Sanierung oder Insolvenzantrag verboten ist. d) Das alles bedeutet: Eine recht verstandene Insolvenzverschleppungshaftung, verbunden mit einem prognostischen Auslösungstatbestand, versöhnt die Schadensersatzhaftung kontinentalen Rechts mit dem Konzept des wrongful trading. Gegenüber diesem Tatbestand erlaubt sie eine Präzisierung des haftungsbegründenden Tatbestands (Geschäftsfortführung trotz Überschuldung) und der Rechtsfolgen (Schadensersatz). Eine Haftung für alle Zahlungen nach Insolvenz (§ 64 Abs. 2 GmbHG) oder eine Pflicht zu unbegrenzten Nachschüssen in die unzureichende Insolvenzmasse (so theoretisch die action en complement de l’insufficance d’actif bzw. die Verurteilung wegen „concurso culpable“) ist durch den Tatbestand der Insolvenzverschleppung nicht gerechtfertigt. 4. Empfehlung Der Verfasser empfiehlt, in notwendiger Ergänzung des kapitalgesellschaftsrechtlichen Kapitalschutzes ein Insolvenzverschleppungsverbot einzuführen. Diese Empfehlung steht im Einklang mit den Aktionsplan der Kommission von 2003 zur Modernisierung des Gesellschaftsrechts61. Auch eine Ersetzung des Kapitalschutzes durch ausschüttungsbegrenzende „solvency tests“ würde diesen Gläubigerschutz nicht entbehrlich machen. Als „moment of truth“ ist der Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit ungeeignet, weil zu spät. Abhilfe verspricht ein betriebswirtschaftlich fundierter prognostischer Tatbestand der Überschuldung, der die Geschäftsführer zu kontinuierlicher Finanzplanung und Selbstprüfung des Unternehmens, im Verletzungsfall zum Schadensersatz verpflichtet. Ob der Rechtsbegriff „Überschuldung“ noch angemessen ist, ist eine redaktionelle, folglich sekundäre Frage. 61 KOM (2003) 284 S. 19.

Fallgruppen der Durchgriffshaftung und verwandte Rechtsfiguren

von Professor Dr. Hanno Merkt, LL.M. (Univ. of Chicago), Freiburg und Professor Dr. Gerald Spindler, Göttingen

Inhaltsübersicht I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundlagen der Durchgriffshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vermögensvermischung/Sphärenvermischung . . . . . . . . . . b) Unterkapitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsformmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Hybrid: Der existenzvernichtende Eingriff . . . . . . . . . . . 4. Durchgriffshaftung versus gesellschaftsrechtliche Haftungsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Action en comblement de passif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Reichweite der action en comblement de passif: Dirigeant de fait . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Faute de gestion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Société fictive und confusion de patrimoine . . . . . . . . . . . . . 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundlegung der Durchgriffsdogmatik in der Rechtsprechung . . 3. Fallgruppen des Tribunal Supremo . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verwendung der juristischen Person zum Zwecke der Umgehung zwingender Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verwendung der juristischen Person zum Zwecke der Umgehung vertraglicher Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verwendung der juristischen Person zur Umgehung außervertraglicher Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Unzulässigkeit des Durchgriffs nach der Rechtsprechung des TS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fehlender Nachweis der Schädigungsabsicht . . . . . . b) Anwendung nur zugunsten schutzbedürftiger Dritter . c) Anwendung nur als „letztes Mittel“ . . . . . . . . . . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Vergleich zum deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . V. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Haftungsdurchgriff im englischen case law . . . . . . . 2. Fallgruppen des lifting of the veil . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirtschaftliche Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vermögensverschiebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Institutsmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vermögensvermischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Unterkapitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Regelungen der Durchgriffshaftung im statute law . . . . . a) Section 24 Companies Act 1985 als Fall der gesetzlichen Durchgriffshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normen des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fraudulent und wrongful trading . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeine Kriterien des piercing of the corporate veil . . 3. Vertragliche und deliktische Haftung . . . . . . . . . . . . 4. Sanktionierung von Verfahrensfehlern . . . . . . . . . . . . 5. Gesetzesumgehung und Alter Ego-Rechtsprechung . . . . 6. Mutter-, Tochter- und Schwestergesellschaften . . . . . . . 7. Steuer-, Insolvenz- und Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . a) Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Insolvenzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Rechtspolitische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Vergleichende Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Was hat der Haftungsdurchgriff, also die Heranziehung der Gesellschafter und Geschäftsführer mit ihrem Privatvermögen für die Verbindlichkeiten der insolventen Gesellschaft, mit dem Konzept des festen Grundkapitals der Aktiengesellschaft zu tun? Eine indirekte Verknüpfung zwischen beiden besteht insoweit,

Durchgriffshaftung und verwandte Rechtsfiguren

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als der Haftungsdurchgriff in seiner praktischen Bedeutung mit dem fortschreitenden Verzehr des Gesellschaftskapitals wächst. Ist die Gesellschaft liquide, stellt sich die Frage nach einem Durchgriff nicht. Zum Haftungsdurchgriff kommt es vielmehr erst dann, wenn die Insolvenz beginnt, wenn also die Gesellschaft selbst ihre Verbindlichkeiten mit ihrem eigenen Kapital nicht mehr bedienen kann. Darüber hinaus besteht aber auch eine direkte Verknüpfung zwischen Haftungsdurchgriff und Insolvenz: Weil nämlich im Fall der Insolvenz die persönliche Inanspruchnahme droht, werden Gesellschafter und Geschäftsführung angehalten, durch hinreichende Kapitalausstattung den Insolvenzeintritt zu verhindern bzw. abzuwenden. Dieser prophylaktische, verhaltenssteuernde Effekt der bloßen Haftungsandrohung gewinnt in der modernen Diskussion um die Funktion von Haftungsregeln an Gewicht.1 Das Problem dieser Vorbeugewirkung liegt darin, dass sie sich kaum zuverlässig belegen lässt. Dass Gläubiger einer beschränkt haftenden Gesellschaft in bestimmten Ausnahmefällen auf die „hinter der Gesellschaft“ stehenden Akteure, also namentlich auf die Gesellschafter und die Geschäftsführer, zugreifen dürfen, um sich Haftungsmasse zu holen, die der Gesellschaft selbst fehlt, entspringt offensichtlich elementarem Gerechtigkeitsempfinden. Anders wäre es kaum zu erklären, dass der Haftungsdurchgriff 2 in praktisch allen namhaften Gesellschaftsrechtsordnungen in dieser oder jener Form zugelassen wird. Die folgenden Länderberichte, die mit dem deutschen, dem französischen und dem spanischen Recht drei bedeutsame kontinentale Rechtsordnungen und mit dem englischen und dem US-amerikanischen 3 Recht die zwei wichtigsten common law-Rechtsordnungen berücksichtigen, wollen der Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Begründung und Ausgestaltung der Durchgriffshaftung nachgehen. Wann wird eine Durchgriffshaftung zugelassen, wann wird sie abgelehnt? Welches sind die rechtspolitischen Argumente für eine Durchgriffshaftung? Gibt es abstrakte Grundsätze und Leitmaximen oder arbeitet man mit Fallgruppen? Handelt es sich um Richterrecht oder um Gesetzesrecht? Wer ist Anspruchsgegner des Haftungsdurchgriffs, nur der Gesellschafter oder auch der Geschäftsführer (auch der rein faktische?) oder möglicherweise sogar ein Dritter, der durch eine Vermögensübertragung begünstigt wurde? Welches sind die Tatbestandsvoraussetzungen des Haftungsdurchgriffs auf der objektiven und der subjektiven Seite?

1 Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 10. Aufl. 2006, 59ff.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 4. Aufl. 2005, 99 m.w.N. 2 Die Begriffe „Haftungsdurchgriff“ und „Durchgriffshaftung“ werden in der Rechtsterminologie ohne Bedeutungsunterschied verwendet, vgl. nur K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, 220. 3 Genauer: dem Recht der US-Gliedstaaten, denn das Gesellschaftsrecht ist nach der US-Verfassung einzelstaatliches Recht, Merkt/Göthel, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2006, Rdn. 147 ff.

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Welche Verteidigungsmöglichkeiten hat der Anspruchsgegner? Wie ist der Anspruch konstruiert, d. h. muss der Anspruchsgegner direkt an den Gesellschaftsgläubiger zahlen oder nur an die Gesellschaft, um ihr auf diesem Wege Liquidität zu verschaffen? Nicht alle diese Fragen können jedoch für alle behandelten Rechtsordnungen in gleichem Umfang und mit gleicher Genauigkeit beantwortet werden, was vor allem auf den unterschiedlichen Stellenwert zurückzuführen ist, den die Durchgriffshaftung in diesen Rechtsordnungen besitzt.

II. Deutschland 1. Vorbemerkung Die Durchgriffshaftung als Durchbrechung des „Schleiers“ der juristischen Person hat wie in fast allen Rechtsordnungen auch in Deutschland eine lange Tradition. Daher verwundert es nicht, dass dieses Rechtsinstitut sich seit jeher besonderer Aufmerksamkeit und liebevoller Behandlung im Schrifttum erfreut.4 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich jedoch weniger auf die nach wie vor umstrittenen dogmatischen Grundlagen als auf eine kurze Darstellung der Ausprägung der Durchgriffshaftung. Sie erheben nicht den Anspruch einer tiefgehenden dogmatischen Auseinandersetzung, sondern wollen Grundelemente und ihr Verhältnis zu anderen Haftungstatbeständen beleuchten.

2. Grundlagen der Durchgriffshaftung Die Aufhebung des Trennungsprinzips bei der juristischen Person im Wege des sog. „Durchgriffs“ haben Rechtsprechung und Lehre in Deutschland schon seit fast einem Jahrhundert beschäftigt.5 Unterschieden wird oft zwischen einem

4 Schrifttum (Auswahl): Banerjea, ZIP 1999, 1153; Boujong, in: FS Odersky, 1996, S. 739; Drax, Durchgriffs- und Konzernhaftung der GmbH-Gesellschafter, 1992; Drobnig, Haftungsdurchgriff bei Kapitalgesellschaften, 1959; Ehricke, AcP 199 (1999), 257; Kübler, in: FS Heinsius, 1991, 397; Müller-Freienfels, AcP 156 (1957), 522; E. Rehbinder, in: FS Fischer, 1979, S. 579; E. Rehbinder, in: FG Kübler 1997, 493ff.; Schanze, Einmanngesellschaft und Durchgriffshaftung als Konzeptionalisierungsprobleme gesellschaftsrechtlicher Zurechnung, 1975; ders., AG 1982, 42; K. Schmidt, ZIP 1994, 837; Serick, Rechtsform und Realität juristischer Personen, 1955; Stimpel, in: FS Goerdeler, 1987, S. 601; H. P. Westermann, NZG 2002, 1129; Wilhelm, Rechtsform und Haftung bei der juristischen Person, 1981; rechtsvergleichend zum US-amerikanischen Recht: Haar, RabelsZ 64 (2000), 537ff. m.w.N. 5 Statt vieler s. die Nachweise bei Raiser/Veil, Kapitalgesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2004, § 29 Rdn. 1 ff.; MünchKommAktG/Heider, 2. Aufl. 2000, § 1 Rdn. 44ff.;

Durchgriffshaftung und verwandte Rechtsfiguren

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„unechten Durchgriff“, der die Fragen der Zurechnung und der Normanwendung betrifft (auch Zurechnungsdurchgriff genannt), und dem „echten Durchgriff“, der die Haftung der Gesellschafter betrifft.6 Unter dem echten Durchgriff wird vor allem der Haftungsdurchgriff verstanden.7 Der dogmatische Hintergrund sei hier nur kurz in Erinnerung gerufen, insbesondere der Meinungsstreit zwischen den Missbrauchs- und den Normzwecklehren: 8 – Die Missbrauchslehre – entscheidend von Sericks Arbeit aus dem Jahre 1955 geprägt 9 – hält eine Durchbrechung für zulässig, wenn die Rechtsform der juristischen Person bewusst missbraucht wird, um Gesetze zu umgehen, um vertragliche Verpflichtungen zu verletzen oder um Dritte zu schädigen.10 Entscheidend ist neben objektiven Missbrauchselementen dieses subjektive Element.11 – Einen dogmatisch anderen Ansatz als die Missbrauchslehre verfolgt die Normzwecklehre – begründet vor allem durch Müller-Freienfels 12 –, die die Durchgriffsproblematik als ein Normanwendungsproblem begreift. Teilweise wird überhaupt ein Durchgriff abgelehnt und auf ausreichende anderweitige Haftungsgrundlagen verwiesen.13 Die Rechtsprechung hat sich nicht explizit für eine dieser Lehren ausgesprochen, sondern stützt ihre Ergebnisse je nach den Einzelfallumständen auf Aspekte treuwidrigen Verhaltens, des Rechtsmissbrauchs oder auf einen Verstoß

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MünchKommBGB/Reuter, 4. Aufl. 2001, Einl. § 21 Rdn. 19ff.; Bamberger/Roth/ Schwarz, 2003, BGB § 21 Rdn. 13ff.; s. auch Siebert, Die Durchgriffshaftung im englischen und deutschen Recht, 2004. K. Schmidt, (o. Fn. 2), § 9 III m.w.N. MünchKommAktG/Heider (o. Fn. 5), § 1 Rdn. 44; Raiser/Veil (o. Fn. 5), § 29 Rdn. 1. Ausführlicher zu den verschiedenen dogmatischen Konzeptionen Ehricke, AcP 199 (1999), 257, 267ff. m.w.N. Siehe dazu Serick (o. Fn. 4), S. 38, 203 ff. Serick (o. Fn. 4), S. 38, 203ff. Die Rechtsprechung erkannte schon früh, dass die subjektive Missbrauchstheorie zu eng ist und hat daher einen Durchgriff angenommen, wenn die Trennung zwischen Verband und Mitglied der Rechtsordnung widerspricht, siehe dazu BGHZ 20, 4, 13. Müller-Freienfels, AcP 156 (1957), 522ff.; E. Rehbinder (o. Fn. 4), S. 579, 581ff.; Ulmer, in: Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1992, Anh. § 30 Rdn. 50ff.; Schanze (o. Fn. 4), S. 102 ff.; ders. AG 1982, 42; Bitter, Konzernrechtliche Durchgriffshaftung bei Personengesellschaften, 2000, 90ff., 100ff.; ders. WM 2001, 2133, 2139 f.; wiederum anders Wilhelm (o. Fn. 4), S. 334 ff.: Organhaftung der Gesellschafter; w.N. bei K. Schmidt (o. Fn. 2), § 9 II 1. b) m.w.N. Ehricke, AcP 199 (1999), 257, 203f.

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gegen Treu und Glauben.14 Von einem auf einer einheitlichen dogmatischen Grundlage beruhenden Rechtsinstitut der Durchgriffshaftung kann daher kaum gesprochen werden.15 Auch das Verhältnis zu § 826 BGB bleibt oftmals unklar, zumal die hierfür erforderliche Schädigungsabsicht 16 meist an Hand objektiver Indizien rekonstruiert wird, so dass die Nähe zu einer auf subjektive Kriterien verzichtenden, eigenständigen gesellschaftsrechtlich konzipierten Durchgriffshaftung deutlich wird. Die für § 826 BGB an sich erforderlichen Voraussetzungen seien an dieser Stelle kurz ins Gedächtnis gerufen: Der Sittenverstoß setzt objektiv ein gegen die guten Sitten verstoßendes Verhalten voraus.17 Weiterhin ist subjektiv die Kenntnis der den Sittenverstoß begründenden Tatsachen erforderlich.18 Nicht erforderlich ist aber das Bewusstsein der Sittenwidrigkeit. Der Vorsatz muss die Schadenszufügung umfassen und nicht bloß das schädigende Verhalten. Es genügt, wenn der Schädiger die Möglichkeit des Schadenseintritts erkennt und dennoch handelt.19 Dabei muss er aber den Kausalverlauf im Wesentlichen vorhersehen. Nicht erforderlich ist Absicht.20

14 BGHZ 20, 4, 13; BGHZ 22, 226, 230; BGHZ 54, 222, 224; BGHZ 68, 312, 315; BGHZ 78, 318, 333. 15 MünchKommAktG/Heider (o. Fn. 5), § 1 Rdn. 47; Scholz/Emmerich, GmbHG, 1987, § 13 Rdn. 88 ff.; aus Sicht des BGH s. Boujong (o. Fn. 4), S. 739ff.; Stimpel (o. Fn. 4), S. 601 ff. 16 S. dazu Bamberger/Roth/Spindler (o. Fn. 5), § 826 Rdn. 55, 57 m.w.N.; Roth, ZGR 1993, 170, 173. 17 BGH, NJW 1970, 657. 18 BGHZ 74, 281 1. Leitsatz: „Sind einem Kaufmann die Umstände bekannt, die sein Verhalten aus der Sicht des redlichen Verkehrs als sittenwidrig erscheinen lassen, dann entschuldigt ihn nicht die unrichtige Auskunft eines Rechtsanwaltes, dass dieses Verhalten erlaubt sei.“ 19 BGH, NJW 2000, 2896, 2897: „Für das Vorliegen des Schädigungsvorsatzes i.S. des § 826 BGB ist das Bewusstsein erforderlich, dass das Handeln den schädigenden Erfolg haben wird. Der Vorsatz braucht sich zwar nicht auf den genauen Kausalverlauf und den Umfang des Schadens zu erstrecken, muss jedoch die gesamten Schadensfolgen sowie Richtung und Art des Schadens umfassen. Für die Bejahung des Schädigungsvorsatzes reicht es aus, dass der Ersatzpflichtige den dem Ersatzberechtigten entstandenen Schaden zumindest in der Form des bedingten Vorsatzes zugefügt hat (BGH, NJW 1987, 3205 = LM § 398 ZPO Nr. 22 [unter III]; NJW 1991, 634 = LM § 826 [C] BGB Nr. 5 [unter B II 4b]); die Feststellung der Schädigungsabsicht ist nicht erforderlich (BGHZ 8, 387 [393] = NJW 1953, 900 = LM § 16 UWG Nr. 4; s. auch Steffen, in: RGRK-BGB, § 826 Rdn. 33 m.w.N.). 20 Siehe BGH, NJW 2000, 2896, 2897.

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3. Fallgruppen Die Rechtsprechung hat einige Fallgruppen der Durchgriffshaftung geformt,21 bei denen die Vermögens- und Sphärenvermischung herausragen, zu denen teilweise ein subjektives Zurechnungselement hinzutreten muss.22 Hinzu treten die allerdings stärker umstrittenen Figuren der materiellen Unterkapitalisierung 23 und des individuellen Rechtsmissbrauchs.24 a) Vermögensvermischung/Sphärenvermischung Eine Vermögensvermischung wird in der Regel angenommen, wenn sich das Gesellschaftsvermögen und das Privatvermögen der Gesellschafter nicht mehr unterscheiden lassen, da das Vermögen in den Büchern unzureichend ausgewiesen ist und damit eine Vermögensabgrenzung erheblich erschwert ist. „Es muss hinzukommen, dass die Vermögensabgrenzung zwischen Gesellschaftsund Privatvermögen durch eine undurchsichtige Buchführung oder auf andere Weise allgemein verschleiert wird, so dass insbesondere die Beachtung der Kapitalerhaltungsvorschriften, deretwegen die Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen allein vertretbar ist, unkontrollierbar wird.“ 25

Ähnlich formuliert der BGH später: „Nach der Rechtsprechung des Senats kommt eine persönliche Haftung von GmbHGesellschaftern in Betracht, wenn die Abgrenzung zwischen Gesellschafts- und Privatvermögen durch eine undurchsichtige Buchführung oder auf andere Weise verschleiert worden ist; denn dann können die Kapitalerhaltungsvorschriften, deren Einhaltung ein unverzichtbarer Ausgleich für die Beschränkung der Haftung auf das Gesellschaftsvermögen (§ 13 Abs. 2 GmbHG) ist, nicht funktionieren.“ 26

21 S. auch die ähnliche schweizerische Rechtsprechung BGE 85 II 111; 120 II 155; 125 II 257; 128 III 346; w.N. bei Groner, SJZ 2005, 1, 4ff. 22 BGHZ 125, 366, 368f.; Die Unterscheidung dieser beiden Fallgruppen ist nicht eindeutig, vgl. K. Schmidt (o. Fn. 2), S. 234ff., der von gegenständlicher und haftungsbegründender Sphärenvermischung spricht. 23 Zum Teil wird diese Fallgruppe in der Rechtsprechung über § 826 BGB gelöst, ohne der subjektiven Komponente besondere Bedeutung zuzumessen; vgl. Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 13 Rdn. 11 m.w.N.; krit. zu dieser Fallgruppe K. Schmidt (o. Fn. 2), S. 240 ff. 24 Überblick bei Lutter/Hommelhoff (o. Fn. 23), § 13 Rdn. 6ff.; Kiethe NZG 2005, 333 ff. 25 So BGHZ 95, 330, 334. 26 BGHZ 125, 366, 368; OLG Rostock, DB 1996, 1818; OLG Thüringen, GmbHR 2002, 112: völliges Fehlen von Geschäftsbüchern; zum Ganzen Boujong (o. Fn. 4), S. 739, 742ff.; Stimpel (o. Fn. 4), S. 601, 608 ff.; Drygala, GmbHR 1993, 320; abl. Ehricke, AcP 199 (1999) 257, 291 ff., der sich nur auf die Verletzung von Buch-

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Erforderlich ist ferner die Zurechnung der Vermögensvermischung, die bei geringer kapitalmäßiger Beteiligung oder fehlender interner Mitsprache fehlt: „Die persönliche Haftung kann unter dem genannten Gesichtspunkt nur diejenigen Gesellschafter treffen, die aufgrund des ihnen in dieser Stellung gegebenen Einflusses in der Gesellschaft für den Vermögensvermischungstatbestand verantwortlich sind; wer wegen geringer Beteiligung und fehlender interner Mitspracherechte einen solchen Einfluss nicht ausüben kann, kann für den Tatbestand, der die Voraussetzungen für die Beschränkung der Haftung auf das Gesellschaftsvermögen entfallen lässt, nicht verantwortlich gemacht werden“ 27

b) Unterkapitalisierung Gängig ist die Definition von Ulmer, der von einer materiellen Unterkapitalisierung ausgeht, wenn das Eigenkapital nicht ausreicht, um den für die angestrebte oder betriebene Geschäftstätigkeit erforderlichen mittel- oder langfristigen Kapitalbedarf zu decken.28 Diese Lehre ist teilweise durch Vorstellungen von einer Finanzierungs- 29 oder Finanzierungsfolgenverantwortung 30 weiterentwickelt worden.31 Diese Lehre ist indes mit wenigen Ausnahmen von der Rechtsprechung nicht übernommen worden; 32 auch ein in diesem Zusammenhang teilweise angeführtes Urteil des BAG zum Betriebsübergang kann hierfür nicht herangezogen werden, da das BAG die „offensichtliche Unterkapitalisierung“ gerade ausklammert.33 Vor dem Hintergrund alternativer spezifischer gesellschaftsrechtlicher Haftungstatbestände und erheblicher Schwierigkeiten, den Kapitalbedarf ex ante zu bestimmen,34 ist es jedenfalls nachvollziehbar, dass zunächst präziser konturierte Anknüpfungen für eine Haftung der Gesellschafter herangezogen werden, bevor auf das – heftig umstrittene – Konstrukt der materi-

27 28 29 30 31 32 33 34

führungspflichten als Verkehrssicherungspflichten stützen will; s. auch K. Schmidt, ZIP 1994, 837, 842. BGHZ 125, 366, 368 f.; aus der instanzgerichtlichen Rechtsprechung: LG Hildesheim, ZInsO 2001, 474. Ulmer, in: Hachenburg (o. Fn. 12), Anh. § 30 Rdn. 16. S. etwa U. H. Schneider, ZGR 1984, 497. Roth/Altmeppen, GmbHG, 5. Aufl. 2005, § 32a Rdn. 9. Umfassend dazu jüngst C. Möller, Die materiell unterkapitalisierte GmbH, 2005, 43ff., mit Kritik 82 ff. m.w.N. Deutlich nur BGHZ 54, 222, 224ff.; s. auch C. Möller, Die materiell unterkapitalisierte GmbH, 2005, 99ff. m.w.N. BAG, BAGE 57, 198, 204 = AP BGB § 613a Nr. 70 = ZIP 1988, 666. Vgl. Raiser, ZGR 1995, 156, 165 ff.; Wüst, JZ 1995, 990, 991ff.; s. zudem Ehricke, AcP 199 (1999), 257, 282 f., der auf die fehlende Pflicht zum Nachschuss von Kapital verweist, je m.w.N.

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ellen Unterkapitalisierung zurückgegriffen wird.35 Grundsätzlich geht die Rechtsprechung denn auch davon aus, dass keine Pflicht der Gesellschafter besteht, in der Krise dem Unternehmen fehlendes Kapital nachzuschießen; 36 nur bei sehr schwerwiegenden Gründen wird unter dem Gesichtspunkten von Treu und Glauben eine Durchbrechung dieser Regel erwogen.37 c) Rechtsformmissbrauch Schillernd und eher als allgemeiner Tatbestand ist der von der Rechtsprechung (in Fortführung der Judikatur des Reichsgerichts 38) verwandte Rechtsformmissbrauch einzuordnen, der ebenfalls für einen Haftungsdurchgriff herangezogen wird, aber oftmals auch nur der Zurechnung von Tatbestandselementen auf den Gesellschafter dient 39. So findet sich der generalklauselartige Satz: „Wenn jedoch § 242 BGB grundsätzlich anwendbar ist, so muß, wie in den Fällen gesellschaftsrechtlicher Durchgriffshaftung, das Identitätserfordernis nach Treu und Glauben jedenfalls dann zurücktreten, wenn »die Wirklichkeit des Lebens und die Macht der Tatsachen« es dem Richter gebieten (BGHZ 54, 222, 224; 78, 318, 333), die personen- und vermögensrechtliche Selbständigkeit von Besteller und Eigentümer hintanzusetzen.“ 40

Auch wenn die Gesellschaft von vornherein nur zu dem Zweck gegründet wurde, die Gläubiger zu benachteiligen, kann eine Durchgriffshaftung begründet sein.41 Einer Systematisierung ist dieser Missbrauchstatbestand kaum zugänglich, da hierunter eine Vielzahl von unterschiedlichen Zurechnungs- und Haftungsfällen rubriziert wird. d) Hybrid: Der existenzvernichtende Eingriff In der Nähe zur Durchgriffshaftung kann die Haftung für den existenzvernichtenden Eingriff eingeordnet werden: Nach Aufgabe der Rechtsprechung zum qualifiziert faktischen Konzern verlangt die Judikatur bekanntlich im Rahmen der neuen Figur des existenzvernichtenden Eingriffs von den Gesellschaf-

35 K. Schmidt, NJW 2001, 3577, 3580; Wiedemann, ZGR 2003, 283, 295f.; zur Diskussion m.w.N. Spindler (o. Fn. 5), § 826 Rdn. 57. 36 BGHZ 90, 381, 388ff. 37 BGHZ 68, 312, 314 f.; BGHZ 22, 226, 230. 38 RGZ 169, 248; RGZ 156, 277; RGZ 129, 53, 54; ähnlich RGZ 103, 66. 39 BGHZ 20, 4, 10 ff.; 22, 226; 26, 31, 37; 31, 258, 270f.; 78, 318, 333ff.; 102, 95, 101ff. 40 BGHZ 102, 95, 102f. 41 BGH, NJW-RR 1988, 1181, 1182; LAG Hessen, NZA 2002, 695 (Ls.): StrohmannGmbH zur Vermeidung von Arbeitsverhältnissen mit dem eigentlichen Arbeitgeber.

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tern eine „angemessene Rücksichtnahme auf die Eigenbelange der GmbH“.42 Die Respektierung der Zweckbindung des Gesellschaftsvermögens zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger während der Lebensdauer der GmbH ist demnach unabdingbare Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Haftungsprivilegs des § 13 Abs. 2 GmbHG,43 ohne dass die einzelnen tatbestandlichen Voraussetzungen angesichts der ausführlichen Diskussion hier vertieft werden können.44 Festzuhalten ist jedenfalls, dass auch dieser Anspruch insofern subsidiär ist, wie Ersatz über §§ 30 f. GmbHG erreicht werden kann 45 oder ein Insolvenzverfahren anhängig ist.46 Diese Haftung soll offenkundig neben einer solchen aus § 826 BGB stehen, ohne dass die Abgrenzung hierzu oder zur traditionellen Durchgriffshaftung deutlich würde. Denn die Rechtsprechung tendiert offenbar wieder zu früheren Formulierungen der Durchgriffshaftung, etwa in einer der jüngeren Entscheidungen: 47 „Der Gesellschafter ist seinen Gläubigern gegenüber grundsätzlich nicht verpflichtet, das Gesellschaftsunternehmen fortzuführen. Es steht ihm frei, den Geschäftsbetrieb einzustellen oder eine sich ihm bietende Geschäftschance nicht zu ergreifen. Erst recht ist er nicht verpflichtet, die Ertragskraft des Gesellschaftsunternehmens durch Investitionen zu erhalten oder wiederherzustellen. Will er die Unternehmenstätigkeit einstellen, muss er sich dabei aber des dafür im Gesetz vorgesehenen Verfahrens bedienen. Er hat das Vermögen der Gesellschaft ordnungsgemäß zu verwerten und aus dem Erlös die Gläubiger zu befriedigen bzw. deren Befriedigung gemäß § 73 Abs. 1 GmbHG sicherzustellen. Überträgt er dagegen Vermögenswerte der Gesellschaft auf sich selbst oder auf eine andere Gesellschaft, an der er beteiligt ist, ohne dafür eine marktgerechte Gegenleistung zu erbringen, verhält er sich unredlich. Er beendet dann nicht nur die Gesellschaft, sondern entzieht ihr das vorhandene Vermögen und beraubt sie dadurch der Möglichkeit, wenigstens in diesem Umfang ihre Verbindlichkeiten zu erfüllen. Erst unter dieser Voraussetzung kommt eine der Höhe nach unbeschränkte Haftung wegen existenzvernichtenden Eingriffs in Betracht, sofern nicht die zugefügten Nachteile bereits nach den Regeln der §§ 30 f. GmbHG ausgeglichen werden können oder der Gesellschafter nachweist, daß der Gesellschaft im Vergleich zu der Vermögenslage bei einem redlichen Verhalten nur ein begrenzter – und dann in diesem Umfang auszugleichender – Nachteil entstan-

42 BGHZ 149, 10 1. Leitsatz – Bremer Vulkan. 43 BGHZ 151, 181 1. Leitsatz – KBV-Urteil. 44 Neben den in den folgenden Fn. Genannten ausführlich dazu jüngst C. Möller, Die materiell unterkapitalisierte GmbH, 2005, 109ff. (abl. zur Existenzvernichtungshaftung, 169 f.); Rubner, „Solvat socius“ statt „caveat creditor“?, 2005, passim (ebenfalls abl.), ders. DStR 2005, 1694ff.; Wahl, Die Haftung der GmbH-Gesellschafter wegen Existenzvernichtung, 2005, passim, der hier Parallelen zur Durchgriffshaftung zieht (80ff.) 45 Vgl. Heidinger, DNotZ 2005, 97, 115. 46 S. jüngst BAG, NJW 2005, 2172 m. Anm. Schröder GmbHR 2005, 990; BGHZ 151, 181; Altmeppen, ZIP 2002, 1553, 1560; Nasall, ZIP 2003, 969, 972. 47 BGH, ZIP 2005, 117, 119 = DStR 2005, 162, 163.

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den ist. Der bloße Umstand, dass die Gesellschaft in eine masselose Insolvenz geraten ist, schließt einen solchen Nachweis nicht aus. Daneben kommt eine Haftung nach § 826 BGB wegen vorsätzlicher und sittenwidriger Schädigung in Betracht.“

Deutlich wird das Ineinanderfließen von traditioneller Durchgriffshaftung, aber auch von § 826 BGB und Existenzvernichtungshaftung, wenn der BGH formuliert: 48 „Offen bleiben kann auch, ob eine Ersatzpflicht aus den vom Senat aufgestellten Grundsätzen zur Haftung des Gesellschafters wegen existenzvernichtenden Eingriffs (BGHZ 149, 10; 150, 61; 151, 181) folgt, was hinsichtlich der Beklagten zu 2 als Schwestergesellschaft der Schuldnerin zweifelhaft erscheint. Denn jedenfalls sind die Beklagten nach § 826 BGB zum Schadensersatz verpflichtet. (…) b) Wie der Senat bereits in der Entscheidung BGHZ 151, 181, 183 ff. (KBV) ausgeführt hat, haften der Gesellschafter einer GmbH und eine von ihm beherrschte Schwestergesellschaft den Gläubigern der GmbH nach § 826 BGB auf Schadensersatz, wenn sie der GmbH planmäßig deren Vermögen entziehen und es auf die Schwestergesellschaft verlagern, um den Zugriff der Gesellschaftsgläubiger zu verhindern und auf diese Weise das von der Gesellschaft betriebene Unternehmen ohne Rücksicht auf die entstandenen Schulden fortführen zu können. (…) Zwar sind die Gesellschafter einer GmbH nicht verpflichtet, deren Geschäftsbetrieb im Interesse von Gesellschaftsgläubigern fortzuführen. Sie können den Geschäftsbetrieb sogar mit dem Ziel der Weiterführung durch eine neu gegründete Gesellschaft einstellen. Dabei müssen sie aber die für die Abwicklung der GmbH geltenden Regeln beachten. Insbesondere dürfen sie nicht außerhalb eines Liquidationsverfahrens planmäßig das Vermögen einschließlich der Geschäftschancen von der alten Gesellschaft auf die neue Gesellschaft verlagern und so den Gläubigern der alten Gesellschaft den Haftungsfonds entziehen. Ein solches Verhalten widerspricht dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden und ist damit sittenwidrig.“

Darauf deuten auch andere Tendenzen hin,49 etwa dass eine Begünstigung eines (mittelbaren) Gesellschafters erforderlich ist, um die Haftung zu begründen.50 Allerdings ist die weitere Entwicklung, insbesondere von weiteren Fallgruppen, noch nicht hinreichend klar erkennbar: So wurde etwa früher die Aufspaltung unternehmerischer Aktivitäten in mehrere juristische Personen nicht als Verstoß gegen die guten Sitten gewertet, zumal das Konzernrecht entsprechende Gestaltungen grundsätzlich zulässt und hierfür Ausgleichsmechanismen bereitstellt,51 wie die Einstellung eines Geschäftsbetriebs, da die Gesellschafter nicht

48 BGH, ZIP 2004, 2138 = NZG 2004, 1107; s. dazu auch die Anmerkung von Wackerbarth, ZIP 2005, 877 ff.; ähnlich jetzt auch BAG, NJW 2005, 2172. 49 S. auch die Äußerungen von Goette, DStR 2005, 197, 200: Einordnung des existenzvernichtenden Eingriffs in § 826 BGB; Röhricht, ZIP 2005, 505, 514. 50 Vgl. Wackerbarth, ZIP 2005, 877, 879 m.w.N.; ferner Keßler, GmbHR 2005, 257, 264 f. 51 S. auch Ehricke, AcP 199 (1999), 257, 302; zusammenfassend Oechsler, ZGR 1997, 464, 487ff.; Staudinger/Oechsler, BGB, Neubearb. 2003, § 826 Rdn. 322.

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verpflichtet sind, diesen im Interesse der Gläubiger fortzuführen, selbst bei sog. GmbH-Staffetten.52 Letzteres ist allerdings durch die neue Klinik-Entscheidung des II. Zivilsenats gerade für eine derartige GmbH-Staffette (Liquidation der früheren GmbH, Fortsetzung mit neuer GmbH) relativiert worden, wenn planmäßig Vermögen verschoben wurde.53 Ebenso offen ist, ob bereits die Förderung äußerst riskanter Geschäfte in der Krise der GmbH schon für die Existenzvernichtungshaftung genügt.

4. Durchgriffshaftung versus gesellschaftsrechtliche Haftungsgrundlagen Die Entwicklung (und Notwendigkeit) der Durchgriffshaftung kann nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss im Zusammenhang mit anderen gesellschaftsrechtlichen, von der Rechtsprechung herausgebildeten Anspruchsgrundlagen gewürdigt werden. In eine solche Gesamtbetrachtung sind unter anderem einzubeziehen: – die bestehenden Ansprüche des GmbH-Konzernrechts gegen beherrschende, unternehmerisch tätige Gesellschafter, seien sie mittelbar in Form der Ansprüche der abhängigen Gesellschaft oder unmittelbar (etwa analog § 317 AktG) – sofern sie noch anerkannt werden; 54 – die Ansprüche aus Verletzung der Kapitalerhaltungsvorschriften einschließlich der Umqualifizierung von eigenkapitalersetzenden Darlehen; – die Ansprüche bei verspätet gestelltem Insolvenzantrag im Zusammenhang mit anderen Zurechnungstatbeständen, die eine Haftung der Gesellschafter begründen können (Anstiftung, Beihilfe, Mittäterschaft, faktischer Geschäftsführer). Dabei ist vor allem zu bedenken, dass eine Durchgriffshaftung einen unmittelbaren Anspruch gegen die Gesellschafter verleiht, während die meisten ande-

52 Deutlich BGH, NJW 1996, 1283; OLG Düsseldorf, n.rkr. Rev. BGH II ZR 367/00, NZG 2001, 368, 371. 53 S. oben Fn. 48. 54 Z. B. für den Vertragskonzern §§ 291ff. AktG. Zum qualifiziert faktischen Konzern, s. die Entwicklung in BGHZ 95, 330, 334 ff. = NJW 1986, 188; BGHZ 107, 7, 15ff. = NJW 1989, 1800; BGHZ 115, 187, 189ff. = NJW 1991, 3142; BGHZ 122, 123, 126 ff. = NJW 1993, 1200; diese Rspr. ist allerdings praktisch mit BGHZ 149, 10, 16 = NJW 2001, 3622, 3623 – Bremer Vulkan –; BGHZ 151, 181 – KBV – aufgegeben worden, s. dazu Wiedemann, ZGR 2003, 283ff.; Lutter/Banerjea, ZGR 2003, 402ff.; Hölzle, ZIP 2003, 1376ff.; Vetter, ZIP 2003, 601ff.; Haas, WM 2003, 1929 ff.; Wellenkamp, DStR 2003, 210 f.; Westermann, NZG 2002, 1129ff.; K. Schmidt, NJW 2001, 3577 ff.; Ulmer, ZIP 2001, 2021 ff.; Altmeppen, NJW 2002, 321ff.; Mülbert, DStR 2001, 1937 ff.; Bitter, WM 2001, 2133ff.

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ren gesellschaftsrechtlichen Ansprüche der juristischen Person bzw. Insolvenzmasse die Ansprüche zuweisen und so für eine Gleichbehandlung der Gläubiger im Rahmen der von der InsO vorgesehenen Rangfolge sorgen.55 Vor allem für die Fälle der materiellen Unterkapitalisierung erscheint es daher fraglich, ob noch ein Bedürfnis für eine von den gesellschaftsrechtlichen Haftungstatbeständen losgelöste Durchgriffshaftung besteht. Daher ist es zu begrüßen, wenn bei laufendem Insolvenzverfahren etwa Ansprüche aus existenzvernichtendem Eingriff nicht geltend gemacht werden können.56 Aber auch bei Ablehnung der Durchführung des Insolvenzverfahrens mangels Masse sollte ein Verfahren gewählt werden, das die Konzentration der Ansprüche in einem Fonds erlaubt, um einen Wettlauf der Gläubiger zu vermeiden. Deutlich wird ferner die Subsidiarität der Durchgriffshaftung gegenüber den Kapitalerhaltungsregeln. Dementsprechend hat der BGH schon zuvor zu Recht davon gesprochen, dass erst bei einem Versagen der Kapitalerhaltungsvorschriften (und auch anderer gesellschaftsrechtlicher Ansprüche) überhaupt eine Durchgriffshaftung in Betracht kommt.57 Daraus folgt aber umgekehrt auch, dass bei einer Reduzierung oder einem Wegfall der Kapitalerhaltungsvorschriften die Grundsätze der Durchgriffshaftung wieder stärkeres Gewicht erhalten können, möglicherweise aber auch beschränkt auf Gläubigergruppen, die ihr Risiko nicht selbst anpassen können.58 In engem Zusammenhang damit steht die Frage des Verhältnisses von Insolvenzverschleppungshaftung (oder einer wie auch immer gearteten Haftung für wrongful trading) der Gesellschafter als Teilnehmer (§ 830 BGB) bzw. als faktischer Geschäftsführer oder als „shadow director“. Wie der Blick auf das französische Recht zeigt,59 können zahlreiche Fälle der deutschen Durchgriffshaftung auch als insolvenzrechtliche Ansprüche begriffen werden. Eine Ausdehnung der Ansprüche gegen beherrschende Gesellschafter im Vorfeld einer Insolvenz – sei es durch wrongful trading oder durch die action en comblement de passif – bedingt daher auch ein Zurückdrängen der Durchgriffshaftung, allerdings unter dem Vorbehalt, dass die verfahrensrechtlichen Rahmenbedingungen gleich bleiben, insbesondere hinsichtlich der Möglichkeit für die Gläubiger, sich die nötigen Informationen zu verschaffen, um die Ansprüche durchzusetzen.

55 Vorbehaltlich allerdings der in der Praxis vor allem für die GmbH relevanten Probleme der masselosen Insolvenz und der damit verbundenen schwierigen Verfolgung der Ansprüche der GmbH gegen ihre Gesellschafter und/oder Geschäftsführer. 56 BAG, NJW 2005, 2172 m. Anm. Schröder, GmbHR 2005, 990; BGHZ 151, 181. 57 BGH, NJW 2001, 3702, 3703. 58 Vgl. zur ökonomischen Analyse Lombardo/Wunderlich, German Working Papers in Law and Economics, 2004, Paper 29, abrufbar http://www.bepress.com/gwp. 59 S. unter III. zur französischen Durchgriffshaftung.

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Vergleicht man etwa einzelne Voraussetzungen des existenzvernichtenden Eingriffs,60 so erscheint fraglich, ob nicht schon Elemente einer solchen im Vorfeld der Insolvenz eingreifenden Haftung bzw. des angelsächsischen Gläubigerschutzsystems auch im deutschen Recht angelegt sind: So sprechen BGH und BAG 61 davon, dass „die Gesellschafter (…) damit beim Abzug vom Vermögen der Gesellschaft darauf zu achten (haben), dass diese die Fähigkeit zur Bedienung ihrer Verbindlichkeiten behält“.62

Stellt man unbefangen den „solvency test“ angelsächsischer Prägung daneben, könnten durchaus Parallelen gezogen werden; denn die nötige Solvenz zur Bedienung der Verbindlichkeiten und das Belassen von Kapital in der Gesellschaft entspricht der Fähigkeit zur Bedienung der Verbindlichkeiten. Allerdings bleiben die dogmatischen Grundlagen, insbesondere die Gründung etwa auf Treuepflichten gegenüber Dritten (Gläubigern) weiterhin im Dunkeln, so dass die auf die traditionelle Dogmatik gestützte Kritik wohlfeil ist.63 Auch der Vergleich mit dem französischen Recht (action en comblement de passif) zeigt deutliche Parallelen, indem sich die Verantwortlichkeit im Wesentlichen für die Tatbestände – –

der Missachtung des Gesellschaftsinteresses der GmbH bzw. ein „rücksichtsloses“ Ausplündern der GmbH (abus des biens sociaux) und des Rechtsformmissbrauchs zur Verfolgung eigener persönlicher Interessen 64

ergibt. Hinzu kommt die subjektive Komponente, die allerdings aus objektiven Geschäftsführungsfehlern (faute de gestion) abgeleitet wird. Schließlich wird der Kreis der Verantwortlichen wie im deutschen Recht bestimmt. Auch spricht einiges dafür, eine wie auch immer geartete Haftung der Gesellschafter nicht allein bzw. allenfalls subsidiär auf § 826 BGB zu stützen, wenn man nicht die subjektiven Anforderungen (Vorsatz) über Gebühr verwässern und strapazieren will.65 Dies äußert sich auch in der entsprechenden Entwicklung des existenvernichtenden Eingriffs, für den gerätselt wird, ob nun subjektive Elemente erforderlich sind.66 Eine gesellschaftsrechtlich begründete Haftungsnorm,

60 61 62 63 64 65

Das BAG, NJW 2005, 2172 spricht bereits vom existenzgefährdenden Eingriff. BAG, NJW 2005, 2172. BGHZ 150, 61. Statt vieler Rubner, „Solvat socius“ statt „caveat creditor“?, 2005, 154f. S. unter III. zum französischen Recht. Ebenso Roth, ZGR 1993, 170, 173; s. auch Wüst, JZ 1995, 990, 994; dagegen Banerjea, ZIP 1999, 1153, 1156 f. 66 S. dazu Wackerbarth, ZIP 2005, 877, 883; zuvor Lutter/Banerjea, ZGR 2003, 402, 46; Röhricht, in: FS 50 Jahre BGH, 2000, 83, 97 zeigt deutlich die Probleme hinsichtlich der subjektiven Tatbestandsmerkmale des § 826 BGB auf.

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die auf bestimmte Tatbestände zugeschnitten ist, wie dies im französischen Recht der Fall ist, erscheint vorzugswürdig.

5. Fazit Die Durchgriffshaftung ist ein notwendiges Korrektiv der vom Gesellschaftsrecht entwickelten Haftungsbegrenzungsmöglichkeiten, das aber umso mehr an Bedeutung verliert, je ausdifferenzierter andere Instrumente des gesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutzes werden. Zum einen ist die Konzentration der Ansprüche gegen einen Gesellschafter in einer Hand (Insolvenzmasse) auf jeden Fall vorzugswürdig, zum anderen der weitgehende Verzicht auf subjektive Momente sowie die Subsidiarität allgemeiner Behelfe wie der Durchgriffshaftung (aber auch des existenzvernichtenden Eingriffs). Die Voraussetzungen für die persönliche Inanspruchnahme eines Gesellschafters nähern sich cum grano salis trotz unterschiedlicher Ansatzpunkte in den Rechtsordnungen einander an, sowohl hinsichtlich der erfassten Fallgruppen (z. B. Vermögensvermischung), als auch hinsichtlich des Haftungsadressatenkreises (beherrschende, veranlassende Gesellschafter).

III. Frankreich 1. Vorbemerkung Dem französischen Recht ist eine ausgeprägte Rechtsprechung zur Durchgriffshaftung oder etwa zu einem existenzvernichtenden Eingriff durch die Gesellschafter weitgehend unbekannt. Der wesentliche Grund hierfür liegt in der besonderen insolvenzrechtlich ausgestalteten Ausfallhaftung, der l’action en comblement de passif (Verlustdeckungshaftung für Passiva), die ähnliche Fallgruppen wie die deutsche Durchgriffsproblematik behandelt und zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. Daneben darf die deliktsrechtliche Generalklausel des Code Civil (Art. 1383) nicht vergessen werden, die als Auffangtatbestand fungieren kann. Zwar ähnelt die action en comblement de passif im Ausgangspunkt mehr der deutschen Haftung für Insolvenzverschleppung, doch geht sie wesentlich darüber hinaus und weitet über die Figur des „faktischen Geschäftsführers“ (dirigeant de fait) den Anwendungsbereich auf den Gesellschafterkreis aus. Im Folgenden werden daher die neuere Rechtsprechung zur action en comblement de passif (2) und vor allem zum faktischen Geschäftsführer (3) aufgearbeitet:

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2. Action en comblement de passif 67 Seit der Reform des Code de Commerce sind nunmehr alle für action en comblement de passif relevanten Normen in Art. L 223-24; L 225-256 und L 624-3ff, nunmehr L 651-2 ff.68 zusammengefasst.69 Die ersten beiden zitierten Vorschriften verweisen aus der allgemeinen Geschäftsleiterhaftung bei der SARL (Art. L 22322 C. com.) und der SA (Art. L 225-251 C. com.) auf das Insolvenzrecht. Während das frühere Recht noch eine Verschuldensvermutung zu Lasten der Geschäftsführer enthielt, ist diese durch die Neukonzeption des Insolvenzrechts von 1985 beseitigt worden. Wesentliche Änderungen durch die Aufnahme in den Code de Commerce hat es nicht gegeben. Voraussetzungen für die insolvenzrechtliche Ausfallhaftung sind demnach: 1. Überschuldung (insuffisance d’actif); 2. Anspruchsgegner ist rechtlicher oder tatsächlicher Geschäftsführer (dirigeant de droit ou de fait); 3. Beweis eines Geschäftsführungsfehlers (faute de gestion) – Verschuldensnachweis. Der Geschäftsführungsfehler (Art. L 651-2 C. com.) muss zudem nur eine Ursache unter mehreren für die Überschuldung sein; auch wenn der Fehler des Geschäftsführers nur einen Teil der Schulden hervorgerufen hat, kann er dazu verurteilt werden, die Gesellschaftsschulden ganz oder teilweise auszugleichen.70 Neben der gesetzlichen Regelung und zwei richterrechtlich geprägten Fallgruppen gibt es keine anderweitigen Möglichkeiten, auf Gesellschaftervermögen zurückzugreifen. Die Gesellschafter, die nicht an der Geschäftsführung beteiligt sind und keinerlei Einfluss auf die Geschäftsführung nehmen, können nicht zur Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten herangezogen werden. Die dirigeants de droit ou de fait haften nur persönlich nach der action en comblement de passif. Diese ist lex specialis gegenüber allgemein deliktischen Ansprüchen.

67 Zur älteren Rechtsprechung und Schrifttum s. Balz, Zur Reform des französischen Insolvenzrechts, ZIP 1983, 1153, 1172 ff. 68 Durch Art. 128 des Gesetzes No. 2005-845 vom 26. Juli 2005 de sauvegarde des entreprises J.O n° 173 du 27 juillet 2005 page 12187) geändert: “Lorsque la résolution d’un plan de sauvegarde ou de redressement judiciaire ou la liquidation judiciaire d’une personne morale fait apparaître une insuffisance d’actif, le tribunal peut, en cas de faute de gestion ayant contribué à cette insuffisance d’actif, décider que les dettes de la personne morale seront supportées, en tout ou partie, par tous les dirigeants de droit ou de fait ou par certains d’entre eux, ayant contribué à la faute de gestion. En cas de pluralité de dirigeants, le tribunal peut, par décision motivée, les déclarer solidairement responsables”. 69 S. unten Anhang. 70 Cass.com. 28. 3. 2000, Bull. Joly 2000, 604; Cass.com., 17 février 1998, Rev. Sociétés 1998, 580.

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Augenfällig werden die im Grunde vorhandenen Gemeinsamkeiten mit den Tatbeständen der deutschen Durchgriffshaftung bei der Möglichkeit, das Insolvenzverfahren auf das Vermögen des bestellten oder faktischen Geschäftsführers auszudehnen, wenn die Voraussetzungen des Art. L 652-1 (zuvor Art. L 624-5 C. com.) erfüllt sind: Nr. 1: Benutzung des Gesellschaftsvermögens wie eigenes („Missbrauch von Gesellschaftsmitteln/Sphärenvermischung“); Nr. 2: Verfolgung von persönlichen Interessen unter dem Deckmantel der juristischen Person („Rechtsformmissbrauch/Sphärenvermischung“); Nr. 3: Gebrauchmachen von Gütern oder dem Kredit der Gesellschaft zu ihren Lasten, zu persönlichen Zwecken oder im Interesse von einer anderen juristischen Person oder eines Unternehmens, bei denen ein direktes oder indirektes persönliches Interesse besteht (abus des biens et du credit de la société/Konzernsachverhalte); Nr. 4: Fortführen eines defizitären Geschäftsbetriebs im persönlichen Interesse, der nur zur Einstellung der Zahlungen der juristischen Person führen konnte; Nr. 5: Unterschlagen von Teilen des Aktivvermögens oder Verschleierung der wahren Vermögenslage oder betrügerische Steigerung der Passiva der juristischen Person. Die Fallgruppen des Art. L 652-1 C. com. werden dabei nebeneinander angewendet. Das spezielle Insolvenzverfahren der action en comblement de passif kann nur von den in Art. L 651-3 C. com. genannten Personen in Gang gesetzt werden. Die Haftungssumme fließt dann in die Insolvenzmasse und wird unter den Gläubigern quotal verteilt. Erfasst werden aber nur solche Personen, die in irgendeiner Weise Einfluss auf das Geschäftsgebaren der in die Insolvenz gefallenen Gesellschaft hatten: Gesellschaftsschulden der juristischen Person, die den Geschäftsleitern durch Verurteilung nach der comblement de passif zur Last fallen, umfassen nicht die Schulden anderer juristischer Personen, auf die das Insolvenzverfahren wegen Vermögensvermischung erstreckt worden ist, in denen sie aber nicht Geschäftsleiter sind.71 Mit dem Gesetz über die Rettung von Unternehmen (Loi de sauvegarde des entreprises) aus 2005 hat der Gesetzgeber eine weitere Unterscheidung bzw. Verschärfung eingeführt: Demnach kann bei einer Liquidierung der juristischen Person (liquidation judiciare) ein Geschäftsführer nicht nur für die Unterdeckung haften, wie dies in der klassischen action en comblement de passif der Fall war, sondern insgesamt für die Schulden der Gesellschaft (action en obligation aux dettes sociales). Allerdings muss eine der in Art. L 652-1 genannten Handlungen

71 Cass.com. 23. 5. 2000, Bull. Joly 2000, 789.

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bzw. Tatbestände die Einstellung der Zahlungen mit verursacht haben. Die für die action en comblement de passif geltenden Beschränkungen sind nach Art. L 652-1 ausdrücklich nicht für die action en obligation aux dettes sociales anwendbar, was offenbar insbesondere für die Verteilung über die Insolvenzmasse zutrifft. Eine Kausalität zwischen Managementfehler und Überschuldung wie bei der action en comblement de passif ist dagegen nicht erforderlich. Die Konsequenzen dieser neuen Regelung, insbesondere ihre Nähe zur deutschen Durchgriffshaftung, sind allerdings noch nicht vollständig absehbar. Als Ergebnis lässt sich an dieser Stelle bereits festhalten, dass in Frankreich der „Durchgriff“ über das insolvenzrechtliche Instrument der Ausfallhaftung gehandhabt wird, wobei die action en comblement de passif nicht mit der action en responsabilité des dirigeants pour faute de gestion kumulierbar ist.72 Mit den in Deutschland herausgearbeiteten Fallgruppen besteht insoweit Übereinstimmung darin, wann eine (Durchgriffs-)Haftung erfolgt. Bemerkenswert ist bei der französischen Regelung, dass dem Insolvenzrichter ein großes Ermessen bei der Bestimmung der haftenden Personen und ihrer Beteiligung an der Haftungssumme eingeräumt wird,73 insbesondere ob die Gesellschaftsverbindlichkeiten ganz oder teilweise, gesamtschuldnerisch oder nicht, von einigen Geschäftsführern oder allen gemeinsam getragen werden.74 Dabei können nicht nur die Schwere des Geschäftsführungsfehlers und das Gewicht der Überschuldung eine Rolle spielen, sondern auch die persönliche Situation des Geschäftsführers.75 Auch die Festlegung auf eine ganz bestimmte Fallgruppe erfolgt zumeist nicht in den einschlägigen Urteilen. Es überwiegt insgesamt eine einzelfallbezogene Gesamtschau verschiedener Kriterien, um eine Haftung zu begründen. Zudem besteht die Tendenz, sich auf die solventen Schuldner zu fokussieren, bei denen eine Insolvenzerstreckung zur Auffüllung des Gesellschaftsvermögens als hinreichend aussichtsreich erscheint.

72 Cass.com. 3. 10. 2000, Bull. Joly 2001, 24; CA Versailles 22. 6. 2000, Bull. Joly 2000, 1051. 73 Jüngst zum Verhältnis des Einzelvollstreckungsverfahren zur Erstreckung durch die action en comblement de passif: Cass.com., 28 septembre 2004, Bull. Joly 2005, 34. Wird demnach das Insolvenzverfahren über eine natürliche oder juristische Person wegen Vermögensvermischung (auf das Privatvermögen) ausgedehnt, resultiert daraus ein einziges gemeinsames Verfahren (procédure unique), dieses (Erstreckungs-) Urteil wirkt nicht auf das das Verfahren eröffnende Urteil (le jugement initial d’ouverture) zurück. Die Erlöse aus einem vor dem Erstreckungsurteil durchgeführten Pfändungsverkauf müssen nicht wegen dinglichen Arrests des Privatvermögens (der bei der Insolvenzerstreckung eintritt) an den Insolvenzverwalter herausgegeben werden. 74 Cass.com., 5 mai 2004, Rev. Sociétés 2004, 715. 75 CA Versailles 27. 9. 2001, Bull. Joly 2001, 48.

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3. Reichweite der action en comblement de passif: Dirigeant de fait 76 Für das Thema der Durchgriffshaftung bzw. der Haftung der Gesellschafter entscheidend ist aber die Reichweite des Begriffs „Dirigeant de fait“: Die Rechtsprechung hat sich in vielen Entscheidungen mit den Fragen befasst, wann eine faktische Geschäftsführung vorliegt und was unter Geschäftsführungsfehlern zu verstehen ist. Als faktischen Geschäftsführer sieht die Literatur und Rspr. in Frankreich denjenigen an, der neben oder anstelle der rechtmäßigen Organe durch positives Tun unabhängig und souverän Geschäftsführungsaufgaben wahrnimmt: 77 „la direction de fait désigne les personnes tant physiques que morales qui, depourvues de mandat social, se sont immiscées dans le fonctionnement d’une societé pour y exercer, en toute souveraineté et indépendance, une activité positive de gestion et de direction.“ 78

Die Rechtsprechung hat im Laufe der Zeit vor allem die Kriterien der Ausführung einer unabhängigen, aktiven Geschäftsführungstätigkeit herausgearbeitet. Die vom Cour d’appel de Paris in einem Urteil von 1987 79 benutzte Formulierung scheint die notwendigen Elemente der faktischen Geschäftsführung zu resümieren; das Gericht stellte auf die Einmischung in die wesentlichen Leitungsfunktionen der Gesellschaft unter Einbeziehung einer kontinuierlichen Teilnahme an der Geschäftsführung und einer effektiven und konstanten Kontrolle über den Gang der fraglichen Gesellschaft ab („l’immixtion dans les fonctions déterminantes pour la direction générale de l’entreprise, impliquant une participation continue à cette direction et un côntrole effectif et constant de la marche de la société en cause.“), damit auf die Bedeutung der ausgeübten Tätigkeiten für das ökonomische und finanzielle Fortkommen des Unternehmens, aber auch auf den dauerhaften und regelmäßigen Charakter der Einmischung. Der faktische Geschäftsführer muss demnach über eine wirkliche Entscheidungsbefugnis verfügen, das Ausüben einer einfachen Überwachungstätigkeit reicht ohne Eingriffsbefugnis nicht aus, um eine faktische Geschäftsführung zu begründen.80 In 76 Eingehend Dedessus-Le-Moustier, La Responsabilité du Dirigeant De Fait, Rev. Sociétés 1997, 498ff.; zur älteren Rechtsprechung s. Juncker, Die faktische Geschäftsführung („gérance de fait“) in Frankreich und ihre Gefahren für deutsche Unternehmen; RIW 1986, 337 ff. m.w.N. 77 Rives-Lange, La notion de dirigeant de fait, Dalloz 1975, chr. 41 (42). 78 Cass.com. 4. 3. 2003 RJDA 2003, p. 645, no. 724; s. ferner Notté, Les dirigeants de fait des personnes morales de droit privé, Th.Paris 1978; Dedessus/Le Moustier, Rev.sociétés 1997, 499 ff. 79 Bull. Joly 1987, 719. 80 Ähnliche Formulierungen in: -qui a pris une part active dans la gestion (Cass.crim. 11 avril 1983, Rev. Sociétés 1983, 817), -est intervenue directement dans la gestion

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Betracht kommt natürlich vor allem der Mehrheitsgesellschafter; hält dieser sich aber im rechtlichen Rahmen (bloß) an sein Überwachungsrecht und seine gesetzlich eingeräumten Einflussmöglichkeiten, wird er nicht als faktischer Geschäftsführer angesehen.81 Auch die Personalunion etwa als Angestellter einer Bank, der gleichzeitig Geschäftsführer einer S.A. ist und die Geschicke im Interesse der Bank (mit-) bestimmt, genügt, um die Bank als dirigéant de fait zu qualifizieren.82 Eine spezielle Regelung für Konzernsachverhalte (groupes des sociétés) gibt es nicht.83 Wegen des das französische Gesellschaftsrecht prägenden Prinzips der Autonomie einer jeden Gesellschaft, gibt es keine Haftung wegen wirtschaftlicher Einheit oder Leitungsmacht einer Muttergesellschaft.84 Auch die Haftung der Konzernmutter kann daher im Wege der action en comblement de passif begründet sein und wird in Frankreich über dieses allgemeine Instrument abgewickelt.84a Dabei kann dann auch auf ausländische Konzernmütter und ihre Geschäftsführer zugegriffen werden. Die Zugehörigkeit zu einer Unternehmensgruppe (Konzern) ist dabei ohne Einfluss auf die Haftung des Geschäftsführers der [abhängigen] SARL; dieser kann nicht seine Verantwortung auf die Muttergesellschaft schieben, wenn die verschiedenen Gesellschaften [noch] autonom handeln [d. h. keine société fictive oder confusion de patrimoines vorliegt].85 Ebenso wenig kann sich der bestellte Geschäftsführer auf den Umstand berufen, dass er dem faktischen Geschäftsführer untergeordnet sei, insbesondere wenn er Kenntnis von einer mangelhaften/falschen Buchführung hatte.86 Nicht notwendig sind Überlegungen, ob der im Ausland ansässige Geschäftsführer, einen Interessenschwerpunkt in Frankreich hat; vielmehr bleibt französisches Insolvenzrecht anwendbar, solange der Geschäftsführer für eine französische Gesellschaft über-

(Cass.com. 18 mai 1981, Bull. civ. IV, n° 240, p. 180), -une participation à la conduite générale de l’entreprise active, régulière et comportant prise de décision (Cons. Const. 18 octobre 1977, Rev. Sociétés 1978, 107), -a été le veritable animateur de la société (Cass.com. 15 novembre 1978, Bull. civ. IV, n° 265, p. 219) -qui participe étroitement à la direction de l’entreprise et exerce un contrôle effectif et constant sur sa marche (CE 7 février 1958, req. n° 35-819, Rec. Lebon p. 81). 81 Paris 7 mai 1975, D. 1975, somm. 121; Desdessus-Le-Moustier, aaO., S. 507. 82 Cour d’appel Versailles 29. 4. 2004 Bull. Joly Soc. S. 1201ff. m. krit. Anm. Constantin/Levy. 83 Zum Ganzen s. Marquardt, Alexander/Hau, Wolfgang, Risiken für Muttergesellschaften nach französischem Insolvenz- und Haftungsrecht, RIW 1998, 441 ff. 84 Cass.com. 28. 5. 1991, Rev.Soc. 1991, 764; CA Paris 15. 1. 1991, Rev.Soc. 1991, 386; Ehricke, Das abhängige Konzernunternehmen in der Insolvenz, 1998, S. 582. 84a Cass.com., 2 novembre 2005, Bull. Joly Soc. 2006, 469 m. Anm. Lucas. 85 CA Paris 19. 11. 1999, Bull. Joly 2000, 263. 86 CA Paris 19. 11. 1999, Bull. Joly 2000, 263.

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haupt tätig bzw. bestellt ist.87 Möglicher faktischer Geschäftsführer ist daher auch die tätige (nicht: untätige!) ausländische Konzernmuttergesellschaft.88 Ein weiteres, für die Praxis wichtiges Beispiel aus dem Bereich der Vertragsnetzwerke mag dies weiter verdeutlichen: In einem Urteil aus dem Jahr 1994 bestätigte der Cour de Cassation die Entscheidung eines Berufungsgerichts, das einen Franchisegeber als dirigeant de fait qualifizierte, der sämtliche für die Geschäftsführung notwendigen Konto-, Gesellschafts- und Bankunterlagen der Franchisenehmerin besaß, alle Verwaltungsunterlagen selbst herstellte sowie die Rechnungen, die dann anschließend von der Franchisenehmerin unterschrieben wurden, die Ausfertigung aller Steuer- und Gesellschaftserklärungen, Kontrolle der Personaleinstellungen und Teilnahme an der Verfolgung einer defizitären Tätigkeit trotz Kenntnis des unzureichenden Gesellschaftsvermögens selbst durchführte. Das Gericht sah hierin – kaum überraschend – eine (unzulässige) Einmischung des Franchisegebers in die Geschäftsführung des Franchisenehmers, die über die vertraglichen Verpflichtungen hinausging. Da die Kommissionsgeschäfte durch den Franchisegeber ferner einen Geschäftsführungsfehler darstellten, der zur Überschuldung beigetragen hat, kam es zur action en comblement de passif gegenüber dem Franchisegeber.89

4. Faute de gestion Der Begriff der faute de gestion ist gesetzlich nicht definiert und nach hM sehr weit auszulegen. Als Verschuldensmaßstab reicht leichte Fahrlässigkeit aus. Die Frage, ob eine faute de gestion vorliegt beantwortet die Rspr immer nur einzelfallbezogen.90 Der Entzug von Gesellschaftsvermögen, der aus einem Missbrauch von Gesellschaftsmitteln durch den Geschäftsführer resultiert,91 stellt einen Geschäftsführungsfehler dar, insbesondere wenn die Gesellschaft gezwungen war, neue Kredite aufzunehmen und so die Finanzierungskosten zu erhöhen.92 Ebenso wenig reicht etwa die Ausstellung von Lohnabrechnungen aus,

87 88 89 90

Cass.com. 14. 3. 2000, Bull. Joly 2000, 600. Cass.com., 5 mai 2004, Rev. Sociétés 2004, 715. Cass.com., 9 novembre 1993, Rev. Sociétés 1994, 321. Beispiele bei Cass.com. 7. 7. 1992, Bull. Joly 1992, 1192; Cass.com. 11. 6. 1991, R.J.D.A. 1991, Nr. 852. 91 S. auch Cass.com. 20. 6. 2000, Bull. Joly 2000, 906: Durch die Feststellung, dass die Gesellschaft (eine S.A.) seit ihrer Gründung unverhältnismäßige Investitutionen (des investissements démesurés) tätigte, darunter der Kauf einer Liegenschaft zur Unterbringung der Familie der Geschäftsführer und nicht zur kommerziellen Nutzung, konnte der cour d’appel die Haftung des Geschäftsführers/Vorstandmitglieds wegen eines Überwachungsfehlers/mangelhafter Aufsicht feststellen. 92 Cass.com. 29. 2. 2000, Bull. Joly 2000, 597.

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um zu beweisen, dass eine Lohnempfängerin/Arbeitnehmerin eine wirkliche Tätigkeit entsprechend ihrer Vergütung ausübt. Ohne einen Beweis durch den der Ausfallhaftung unterliegenden Geschäftsführer muss die Auszahlung der Vergütung als Geschäftsführungsfehler angesehen werden, der zur Überschuldung beigetragen hat.93 Typischer Geschäftsführungsfehler ist ferner die fehlende Kontrolle und Sicherstellung einer Buchführung gegenüber einem anderen (alten) Geschäftsführer, der dadurch seine zerstörerische Tätigkeit während mehrerer Monate entfalten konnte.94 Auch die Überschreitung von Kompetenzen, etwa die Anschaffung eines Betriebsgrundstücks als eine außergewöhnliche Geschäftsmaßnahme, die der Geschäftsführer nicht ohne vorherige Zustimmung der Gesellschafter durchführen konnte, wird als Geschäftsführungsfehler qualifiziert.95 Ferner führt die bewusste Nichtteilnahme an Aufsichtsratssitzungen und Nichtdurchführung irgendeiner Kontrolle während eines Zeitraums von 10 Monaten durch die aufsichtsführende Gesellschaft zum Vorwurf des Geschäftsführungsfehlers, da deswegen keine rechtzeitigen Maßnahmen ergriffen werden konnten, um die Überschuldung zu verhindern.96 Die fehlende Verurteilung der anderen Geschäftsführer ist jedenfalls ohne Einfluss auf die Haftung des verurteilten Geschäftsführers. Allerdings scheint in der Praxis eine enge Verbindung zu der Frist zur Stellung eines Insolvenzantrages zu bestehen, die nach früherem Recht 15 Tage, nach neuerem Recht (2005) jetzt aber 45 Tage beträgt, so dass fraglich erscheint, ob die Zahl der actions en comblement de passif zurückgehen wird.

5. Société fictive und confusion de patrimoine Neben den eben geschilderten Fallgruppen existieren noch zwei nicht normierte, aber durch Richterrecht herausgearbeitete: société fictive 97 und confusion de patrimoine 98. Die erste greift ein, wenn eine Gesellschaft wegen fehlender konstitutiver Merkmale nicht besteht. Dann wird auf die dahinter stehenden Personen zugegriffen. Diese haften für die entstandenen Verbindlichkeiten. Die zweite Fallgruppe der Vermögensvermischung zeichnet sich dagegen durch eine Ähn93 94 95 96 97

Cass.com. 23. 11. 1999, Bull. Joly 2000, 379. Cass.com. 28. 3. 2000, Bull. Joly 2000, 604. CA Paris 4. 2. 2000, Bull. Joly 2000, 817. Cass.com. 30. 10. 2000, Bull. Joly 2001, 27. Cass.com. 18. 11. 1986, D. 1987, som. 73; Cass.com. 15. 1. 1991, Rev. Soc. 1991, 386; CA Paris 12. 7. 1990, Bull. Joly 1990, 960; CA Paris 12. 2. 1991, Bull. Joly 1991, 140. 98 Cass.com. 26. 3. 1974, Bull. Civ. III, S. 89 Nr. 112; Cass.com. 28. 11. 1989, Rev. Soc. 1990, 240; Cass.com. 24. 10. 1995, BRDA 1995-21, 5; CA Paris 17. 11. 1987, Bull. Joly 1987, 997; CA Versailles 6. 10. 1988, Bull. Joly 1989,88; CA Paris 25. 10. 1990, Bull. Joly 1990, 963; CA Versailles 3. 2. 1994, Bull. Joly 1994, 535.

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lichkeit zu Art. L 652-1 C.Com. aus: Kann die notwendige Trennung verschiedener Vermögensmassen nicht erfolgen, haften alle Beteiligten, deren Vermögen als eine Vermögensmasse eines Rechtssubjekts erscheint. Dabei muss eine fast vollständige Vermögensvermischung bestehen, um eine Haftung auszulösen.99 Leichte Überschneidungen reichen dabei nicht aus. Rechtsfolge der Vermögensvermischung ist die Erstreckung des Insolvenzverfahrens auf die an der Vermischung Beteiligten. Dabei reicht aus, dass bei einem Vermögensteil festgestellt wird, dass eine Zahlungseinstellung besteht; dies impliziert denselben Zustand des Gesamtvermögens.100 Den Fällen der société fictive und der confusion de patrimoine kommt als sog. principes généraux Auffangfunktion gegenüber der action en comblement de passif in den Fällen zu, bei denen die Einflussnahme des (faktischen) Geschäftsführers so erheblich ist und die Vermögensvermischungen einen Grad erreichen, dass keine Anknüpfungspunkte mehr für eigenständige Insolvenzverfahren der einzelnen juristischen Personen gefunden werden können.101 So nahm die Rechtsprechung einen Fall der Vermögensvermischung mit der Folge der Ausdehnung des Insolvenzverfahrens auf den gesamten Konzern an, wenn die Gesellschaften dieselben Aktionäre und identische Gesellschaftszwecke hatten, miteinander durch Verträge mit überlanger/anormaler Dauer ohne Lösungsmöglichkeit/Widerrufsmöglichkeit verbunden waren und es zu ungewöhnlichen Vermögensverschiebungen (des transfers des biens anormaux) gekommen war.102 Eine für die französische Praxis wichtige Konstruktion wird aber durchweg anerkannt: Die Betriebsaufspaltung in eine Besitz- und Betriebsgesellschaft. So entschied der Cour de Cassation 1998 103, dass eine bloße Scheingesellschaft mit der Folge der Insolvenzerstreckung nicht angenommen werden könne, auch wenn die Société civile immobilière durch die Vermietung eines Teils ihrer Geschäftsräume an die SARL faktisch dieser ihr gesamten Aktivvermögens überlassen hat und keine weiteren Mittel außer den Mieteinnahmen besaß, sowie sich die Kosten des Erwerbs der Räume durch die SARL finanzieren ließ. Dies rechtfertige nicht die Feststellung, dass die SCI allein aus dem Grund gegründet wurde, um diese Immobilien vor dem Zugriff der Gläubiger der SARL zu bewahren.

99 CA Versailles 23. 3. 1990, Bull. Joly 1990, 561. 100 Streitig, aber hA in der Rspr: Cass.com. 26. 3. 1985, DS 1988, som., 37; Cass.com. 18. 11. 1986, DS 1987, som., 73; Cass.com. 16. 6. 1987, DS 1988, som., 37; Cass.com. 15. 10. 1991, Rev.proc.coll 1991, 235. 101 Gisserot, Rev.trim.dr.com. 1979, Nr. 74; Ullrich, Verdeckte Vermögensverlagerungen in den Aktien- und GmbH-Rechten Frankreichs, Belgiens und Deutschlands, 1994, S. 110f. („Durchgriff wegen confusion de patrimoine“). 102 Cass.com. 26. 4. 2000, Bull. Joly 2000, 694; zu den verfahrensrechtlichen Voraussetzungen und der Feststellung des relevanten Zeitpunkts der Zahlungseinstellung Cass.com. 7. 1. 2003, Bull. Joly 2003, 403. 103 Cass.com., 25 novembre 1997, Rev. Sociétés 1998, 586.

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Kommt es zu „anormalen Finanzierungsströmen“ (flux anormaux), erkennt auch der Cour hier eine Vermögensvermischung an.104

6. Fazit Wie gezeigt, verfügt das französische Recht über einige Instrumente, die weitgehend eine Verantwortlichkeit der Gesellschafter, aber auch Geschäftsführer für den Ausfall der Forderungen in einer Insolvenz begründen können, und die teilweise im Tatbestand (nicht der Rechtsfolge) den deutschen Fallgruppen der Durchgriffshaftung ähneln. Allerdings erfordert das französische Recht eine Beurteilung von Geschäftsführungsmaßnahmen (faute de gestion), deren judizielle Grenzen und deren Verhältnis zu einer Business Judgement Rule noch einer näheren Betrachtung bedürften. Eine vertiefte Analyse müsste indes weiter ausgreifen, wie ein kurzer Blick auf die aktuelle französische Diskussion zur Funktion des Mindestkapitals zeigt, die interessante Parallelen zur deutschen Diskussion aufweist: So wird darauf hingewiesen, dass die Konzeption des Mindestkapitals keineswegs der französischen Tradition entspreche, sondern vielmehr erst mit dem Gesetz von 1966 eingeführt worden sei. Vielmehr habe man sich schon seit der Aufhebung des Octroi-Zwangs und der Liberalisierung des Gesellschaftsrechts auf deliktsrechtliche Sanktionen für „négligence“ verlassen, die annähernd dem heutigen Begriff des „wrongful trading“ entsprächen. Dementsprechend skeptisch sei das französische Recht gegenüber der deutschen Tradition des Mindestkapitals eingestellt.105

IV. Spanien 1. Vorbemerkung Der Durchgriff im Sinne einer Durchbrechung des Trennungsprinzips bei den juristischen Personen des Privatrechts ist im spanischen Recht unter dem, an die englischsprachige Terminologie „piercing the corporate veil“ angelehnten metaphorischen Begriff des „levantamiento del velo juridico“ bekannt (zum Teil

104 Cass.com. 24. 11. 1998, Bull. Joly 1999, 367; s. ferner Cass.com. 10. 5. 2000, Bull. Joly 2000, 1049: Die SCI hatte ein compte courant débiteur in den Büchern der SARL (ohne Abschluss irgendeines Unterordnungsvertrages mit der SARL). Der Geschäftsführer der SARL (19 jähriger Schüler) war der Sohn der Geschäftsführerin der SCI. Es gab eine Einmischung der Geschäftsführerin der SCI in die Geschäftsführung der SARL. 105 Cannu/Parleani Rev.d.Soc. 2005, 13ff., no. 20ff., 23.

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wird auch der Begriff des „penetración en el substratum jurídico de la sociedad“ verwandt).106 Vom Tribunal Supremo wurde die Möglichkeit eines solchen Durchgriffs mit Entscheidung vom 8. Januar 1980 erstmalig explizit angesprochen. Damals stellte das Gericht in einer Art obiter dictum fest, dass es sinnvoll sein könne, „auf die hinter der Gesellschaft stehenden realen Personen zu schauen, ohne sich auf die juristische Form zu beschränken“.107 Doch erst einige Jahre später, d. h. mit Urteil vom 28. März 1984 108 wandte das höchste spanische Gericht diese Idee in der Praxis tatsächlich an. Seit diesem „leading case“ 109 ist das Institut des Durchgriffs in ständiger Rechtsprechung anerkannt und wird auch von den unteren Gerichten regelmäßig angewendet, selbst wenn die zunehmende Durchbrechung des Trennungsprinzips in der Literatur kritisiert wird.110 Vor dem Hintergrund einer weiterhin fehlenden positiv-rechtlichen Grundlage und einer bisher nicht eindeutigen dogmatischen Grundlegung der Rechtsprechung sind bis heute eine Reihe von Fragen offen geblieben.111

2. Grundlegung der Durchgriffsdogmatik in der Rechtsprechung Der Sachverhalt der angesprochenen Grundsatzentscheidung vom 28. März 1984 betraf die Frage, ob die Geltendmachung eines Anspruchs gegenüber einer Verwaltungskörperschaft die Verjährung auch gegenüber einer davon zu unterscheidenden Gesellschaft unterbrechen kann, wenn deren einziger Gesellschafter die betroffene Körperschaft ist. Der Tribunal Supremo lehnte die Annahme einer strikten Trennung von Gesellschaft und Gesellschafter in diesem Fall ab und stützte sich dabei auf die „doctrina del levantamiento del velo juridíco“ mit einer

106 Vgl. Pablo Girgado Perandones, La Responsabilidad de la Matriz de una Empresa de Grupo por las Deudas de sus Filiales en Derecho Español. Situación Legislativa y Actuación de los Tribunales, Revista de Derecho Mercantil 2003, p. 75, 117. 107 STS 8 de enero de 1980: „investigar el fondo real de la persona jurídica sin detenerse en la forma“. 108 Ar. 2800, 1984. 109 So José Miguel Embid Irujo, Protección de Actreedores, Grupo de Sociedades y Levantamiento del Velo de la Personalidad Jurídica“, Revista de Derecho de Sociedades 1999, p. 363, 364. 110 Carmen Boldó Roda, Veinte Años de Aplicatión de la Doctrina del Levantamiento del Velo Juridico por la Sala 1.ª del Tribunal Supremo, en Libro Homenaje al Profesor Fernando Sánchez Calero, Vol. I, Madrid 2003, p. 25, 26; s. auch RuizRico Ruiz, Catalina. El levantamiento del velo en las sociedades mercantiles: Argumentaciones jurídicas, tendentes a reducir su aplicabilidad, Anuario de Derecho civil 2000 (LIII), III p. 923 ff. 111 S. dazu José Miguel Embid Irujo, Protección de Actreedores, Grupo de Sociedades y Levantamiento del Velo de la Personalidad Jurídica“, Revista de Derecho de Sociedades 1999, p. 363, 365.

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Argumentation, die er in der Folge in den verschiedensten Entscheidungen wiederholte. Im Falle eines Konfliktes zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit (artículos 1.1. y 9. 3. de la Constitución) sei nach den Umständen des Einzelfalls angemessen und unter Berücksichtigung von Treu und Glauben (art. 7.1. del Código civil [C. c.]) billig und gerecht abzuwägen, wobei im Einzelfall auch ein Durchgriff auf das personelle Substrat der Gesellschaften möglich sei, denen das Gesetz eigentlich eine eigene juristische Persönlichkeit zugestehe. Damit solle verhindert werden, dass im Schutze dieser Fiktion bzw. dieser juristischen Form private oder öffentliche Interessen verletzt oder diese als Mittel zum Betrug benutzt werden (Art. 7 Abs. 2 Código Civil). Folglich sei den Richtern die Möglichkeit gegeben, auf „das Innere“ dieser juristischen Personen durchzugreifen („den juristischen Mantel zu heben“), soweit dies notwendig ist, den Missbrauch dieser Unabhängigkeit zur Schädigung Fremder, der „derechos des los demás“ (der Allgemeinheit, Art. 10 Constitución) oder der Interessen der übrigen Gesellschafter zu verhindern, mit anderen Worten, um den Missbrauch der Rechtspersönlichkeit oder eine rechtsmissbräuchliche Ausübung eigener Rechte (art. 7.2. C. C.) abzuwenden. a) b) c) d)

Zusammenfassend spricht der TS also von: conflicto entre seguridad jurídica y justicia; aplicación por vía de equidad y con acogimiento al principio de buena fe; fraude de ley (art. 6.4. C.c.) y perjuicio de intereses de terceros; abuso de derecho y ejercicio antisocial del mismo (art. 7.2. C.c.).

Diese genannten Aspekte werden vom TS im Rahmen des Durchgriffs immer wieder wiederholt,112 ohne aber die verwendete Argumentation näher zu erläutern oder weiter zu entwickeln. In Einzelfällen nennt der TS weitere, mit den genannten Aspekten zusammenhängende Kriterien, welche jedoch hinsichtlich der dogmatischen Konstruktion des Gerichtes ebenfalls keine neuen Erkenntnisse liefern. Einzig die Erwähnung der Figur des Missbrauchs der juristischen Person,113 des Rechtsmissbrauchs in Form des „venire contra factum proprium“ 114 und der „Personenvermischung“,115 die in späteren Entscheidungen Erwähnung finden, können zumindest ansatzweise als Konkretisierung der oben genannten Aspekte gesehen werden. Der TS geht also zunächst vom im Einzelfall unzweifelhaft bestehenden Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit aus, zwei Werten, die beide ausdrückliche Erwähnung in der spanischen Verfassung finden und denen damit

112 Nachw. bei Carmen Boldó Roda, op.cit., p. 25, 28. 113 STS 16 de julio de 1987. 114 STS 16 de julio de 1987: „doctrina de los actos propios“; STS Sala 6.ª Social 12 de julio de 1988. 115 STS 18 de septiembre 1987: „confusion des personalidades“.

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als Auslegungshilfen direkt juristische Bedeutung zukommt.116 Dieser im konkreten Einzelfall bestehende Konflikt – so der TS – sei unter dem Aspekt der Billigkeit („equidad“) zu lösen, einem Rechtsprinzip, das sich heute in den Vorschriften über Treu und Glauben (art. 7.1. C.c.), Rechtsmissbrauch (art. 7.2. C.c.) oder „Rechtsbetrug“ („fraude de ley“, art. 6.4. CC) wieder findet, ohne aber selbst gesetzlich positiviert worden zu sein. Der spanische Durchgriff nach der Idee des TS stützt sich damit einerseits auf die Rechtsfigur von Treu und Glauben in der Ausprägung des venire contra factum proprium („prohibición de ir contra los propios actos“). Dieser Rückgriff auf die Figur des venire contra factum proprium findet jedenfalls in den Fällen statt, in denen der agierende Gesellschafter nach außen den Eindruck einer Einheit von Gesellschaftern und Gesellschaft und einem einheitlichen Haftungsverbund vermittelt. Andererseits stützt sich der TS in vielen anderen Fällen in erster Linie ausdrücklich auf die Figur des Rechtsmissbrauchs („abuso del derecho“), ohne deren Anwendung näher zu begründen oder deren Voraussetzungen zu prüfen. Hinzu kommt, dass in vielen Fällen die vom TS angenommenen Rechtsfolgen nicht denen entsprechen,117 die üblicherweise beim Rechtsmissbrauch angenommen werden.118 Diese Diskrepanz lässt sich jedoch nach Ansicht einiger Autoren wie folgt erklären: Die Figur des Durchgriffs hat durch die spanische Übersetzung des Werkes Rechtsform und Realität juristischer Personen des deutschen Juristen Serick 119 Eingang in das spanische Recht gefunden, der die Figur des Durchgriffs insbesondere mit dem Rechtsmissbrauch der Rechtsinstitution „juristische Person“ begründet. Man mag daher die Verwendung des Begriffes Rechtsmissbrauch als Relikt dieser Übersetzung ins Spanische ansehen, die sich in der Rechtsprechung des TS halten konnte, obwohl der von Serick angesprochene „institutionelle Rechtsmissbrauch“, d. h. der Missbrauch von Rechtsinstitutionen im spanischen Recht unter dem spezielleren Begriff des „fraude de ley“ und nicht als „abuso del derecho“ bekannt ist.120 Größere inhaltliche Bedeutung ist diesem Streit aber offenbar nicht beizumessen. 116 Carmen Boldó Roda, op.cit., p. 25, 29. 117 „(…) las instituciones de abuso de derecho y fraude de ley, si bien doctrinalmente y desde el punto de vista de la teoría general del ius civile son distintas, en la práctica no siempre resulta clara su exacta separación, dado que, en general, su finalidad es idéntica: impedir que los textos de la ley, estimados literalmente, puedan servir para amparar actos o situaciones contrarias a la realización de la Justicia“, Sentencias del Tribunal Supremo de 12 de mayo de 1972, de 5 de enero de 1977 o de 2 de mayo de 1984, entre otras. 118 So zumindest Carmen Boldó Roda, op.cit., p. 25, 32. 119 Serick, Apariencia y realidad en las sociedades mercantiles. El abuso de derecho por medio de la persona jurídica, Barcelona 1958, Übersetzung durch Puig Brutau; dt. Original von 1955. 120 Carmen Boldó Roda, op.cit., p. 25, 32 s.

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Damit stellt die Rechtsfigur des „fraude de ley“, in Art. 6.4. des spanischen Código civil festgeschrieben, zumindest in den Fällen das dogmatische Fundament des Durchgriffs auf die hinter der juristischen Person stehenden Personen dar, in denen eine Anwendung von Treu und Glauben in Form des venire contra factum proprium nicht in Frage kommt. Dabei ist aber stets darauf zu achten, dass das Ergebnis des Durchgriffs im Wege der Normenreduktion noch von der Konzeption der juristischen Person im spanischen Recht umfasst wird. Um festzustellen, ob die in Anspruch genommene Norm im konkreten Fall das in Frage stehende Handeln deckt, ist stets zu fragen, ob die auszulegende Norm als Ziel gerade den Schutz dieses Verhaltens bezweckt. Dieses Vorgehen bei der Anwendung der spanischen Durchgriffsdoktrin macht deutlich, warum die vom TS angenommenen Rechtsfolgen zum Teil so unterschiedlich sind, da sie von der konkret rechtsmissbräuchlich verwendeten Norm abhängen. Oftmals handelt es sich daher weniger um eine Durchgriffshaftung im engeren Sinne (der persönlichen Haftung der Gesellschafter für Verbindlichkeiten der Gesellschaft), sondern um die Frage der Zurechnung von Rechtsfolgen.

3. Fallgruppen des Tribunal Supremo Folgenden Fallgruppen lassen sich unterscheiden – die oftmals der deutschen Rechtsprechung ähneln:

a) Verwendung der juristischen Person zum Zwecke der Umgehung zwingender Vorschriften In den Fällen, in denen die juristische Person dazu verwendet wird, zwingende Vorschriften zu umgehen, kann es sich zunächst um Verbotsvorschriften handeln, vor allem aber solche Normen, die besondere Verpflichtungen in einem konkreten Fall aufstellen, die durch das Vorgehen mittels der Gesellschaft umgangen werden sollen. In den allermeisten Fällen geht es dabei wie bereits erwähnt um die Vermeidung der allgemeinen Vermögenshaftung nach Art. 1911 C.c. Die Fälle ähneln sich: Eine natürliche Person unterschlägt bestimmte, von einer Beschlagnahme betroffene Güter und überträgt diese an eine von ihr gegründete und kontrollierte Gesellschaft, damit diese dann an den Gütern Eigentumsrechte geltend macht. Dieses Vorgehen bleibt aber erfolglos, wenn das erkennende Gericht „den Mantel der Gesellschaft lüftet“ und feststellt, dass der Gesellschafter weiterhin über die Güter in der Art verfügen kann, wie wenn die Übertragung nicht stattgefunden hat. In diesem Fall soll nach Ansicht des TS die Gesellschaft nicht als „Dritter“ im Sinne der genannten Vorschriften angesehen werden, so dass die

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Voraussetzungen der Geltendmachung von Eigentumsrechten Dritter im Ergebnis nicht gegeben sind.121 In anderen Fällen hat der TS den Durchgriff gestattet, wenn die Unterscheidung von juristischer Person und Gesellschaftern dazu verwendet wurde, um die Pflicht zur Information oder die Notwendigkeit von bestimmten Ersuchen zu umgehen oder den Zugang von rechtsgeschäftlichen Mitteilungen zu vereiteln. In diesen Fällen ist also nach dem TS ein Durchgriff geboten, wenn die Partei sich Korrespondenzfirmen, Agenturen oder Niederlassungen bedient,122 um Vertragspartner zu verwirren und von den Verwechslungen zu profitieren.123 Ähnlich gelagert sind auch die Fälle, in denen mit Hilfe der juristischen Person versucht wird, die Wirkungen der Art. 1157 ff. C.c. zu umgehen, die das Erlöschen des Schuldverhältnisses durch Erfüllung regeln, um so eine zweifache Leistung des Schuldners zu erreichen.124

b) Verwendung der juristischen Person zum Zwecke der Umgehung vertraglicher Pflichten Weiterhin kann auf die juristische Person abgestellt werden, um unter dem Schutzmantel ihrer Eigenständigkeit vertragliche Pflichten zu vernachlässigen oder zu verletzen. Auch derartige Fälle wird man im weitesten Sinne als Gesetzesmissbrauch ansehen können, wenn man betrachtet, dass die Erfüllung vertraglicher Pflichten mittels zwingender gesetzlicher Regelungen gesichert wird.125 So erfüllt etwa in den zugrunde liegenden Fällen die Gesellschaft als Partei eines Kaufvertrages ihre Verpflichtung zur Zahlung des Kaufpreises nicht. Wendet sich dann der Verkäufer fälschlicherweise an den Allein- oder Mehrheitsgesellschafter

121 So oder ähnlich: SSTS 28 de abril de 1988 (RJ 1988, 3298); 2 de abril de 1990 (RJ 1990, 2687); 20 de julio de 1996 (RJ 1996, 5678); 10 de febrero de 1997 (RJ 1997, 936); 24 de marzo de 1997 (RJ 1997, 1991); 23 de enero de 1998 (1998, 547). 122 Anders als das deutsche Recht kennt das spanische ein Konzernrecht nicht (Pablo Girgado Perandones, La Responsabilidad de la Matriz de una Empresa de Grupo por las Deudas de sus Filiales en Derecho Español. Situación Legislativa y Actuación de los Tribunales, Revista de Derecho Mercantil 2003, p. 75, 79 s.), so dass der Versuch, bestimmte konzernrechtliche Fallgestaltungen über den Durchgriff zu regeln, nahe liegt; vgl. José Miguel Embid Irujo, Revista de Derecho de Sociedades 1999, p. 363, 366 ss.; krit. dazu Pablo Girgado Perandones, cit., p. 116 ss., 137 ss. 123 So der STS 19 de febrero de 1988 (RJ 1988, 1070); ähnlich STS 7 de febrero de 1989 (RJ 1989, 753) zu Art. 1566 C.c. 124 SSTS 20 de junio de 1991 (RJ 1991, 4526); 7 de junio de 1995 (RJ 1995, 4629); 8 de febrero de 1996 (RJ 1996, 862). 125 Carmen Boldó Roda, op.cit., p. 25, 39 unter Hinweis auf Art. 1091 C.c., der bestimmt, dass „las obligaciones que nacen de los contratos tienen fuerza de ley entre las partes contratantes […].“

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o. ä., so wendet dieser ein, er sei nicht Vertragspartei.126 Auch in diesen Fällen werden zwei wesentliche Aspekte der spanischen Doktrin deutlich: Erstens der Missbrauch der juristischen Person, hier speziell der getrennten Vermögensmassen 127 und zweitens die bewusst herbeigeführte Verwechslung zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern.128 Anders als das deutsche Recht, geht der TS damit eindeutig von der Notwendigkeit subjektiver Momente zur Anwendung des Durchgriffs aus.129 Ähnliche Konstellationen sind etwa beim Auftrag möglich, auch hierzu existieren eine Reihe von Entscheidungen des TS; 130 ebenso zu Miete und Pacht 131 und anderen Vertragstypen.132 c) Verwendung der juristischen Person zur Umgehung außervertraglicher Haftung Schließlich existieren Fallgestaltungen, in denen versucht wird, die außervertragliche (deliktische) Haftung nach Art. 1902 C.c. mit Hilfe der juristischen Person zu umgehen, indem die Gesellschaft für deliktische Handlungen oder Unterlassungen verantwortlich gemacht wird.133 4. Unzulässigkeit des Durchgriffs nach der Rechtsprechung des TS Aus den einen Durchgriff ablehnenden Entscheidungen des TS können ferner Rückschlüsse auf die vom höchsten spanischen Gericht für notwendig erachteten Voraussetzungen gezogen werden: a) Fehlender Nachweis der Schädigungsabsicht In verschiedenen Fällen lehnte der TS einen Durchgriff ab, weil die missbräuchliche Absicht nicht bewiesen worden war, der Gesellschafter die Gesellschaft also nicht benutzte, um einem anderen zu schaden, oder zumindest, weil 126 So etwa in den Fällen SSTS 5 de julio de 1991 (RJ 1991, 3550); 12 de noviembre de 1991 (RJ 1991, 8234); 21 de julio de 1995 (RJ 1995, 5729); 15 de octubre de 1997 (RJ 1997, 7267); 30 de mayo de 1998 (RJ 1998, 4075). 127 Insbesondere STS 30 de mayo de 1998 (RJ 1998, 4075). 128 Insbesondere STS 25 de febrero de 1997 (RJ 1995, 1329). 129 STS 25 de febrero de 1997 (RJ 1995, 1329). 130 SSTS 13 de julio de 1987 (RJ 1987, 5487); 18 de septiembre de 1987 (RJ 1987, 6067); 4 de marzo de 1988 (RJ 1550). 131 SSTS 6 de julio de 1992 (RJ 1992, 5165); 30 de julio de 1994 (RJ 1994, 6308); 31 de enero de 1998 (RJ 1998, 355). 132 Weitere Beispiele bei Carmen Boldó Roda, op.cit, p. 25, 42. 133 SSTS 28 de mayo de 1984; 29 de abril de 1988.

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dies nicht zu beweisen war.134 Diese vom TS verlangte Schädigungs- und Missbrauchsabsicht („ánimo defraudatorio“) muss von der den Durchgriff anstrebenden Partei konkret dargelegt und nachgewiesen werden.135 Dabei ist nicht notwendig, dass die Gesellschaft schon mit der Missbrauchsabsicht gegründet wurde, es ist ausreichend, wenn diese später dazu verwendet wird.136

b) Anwendung nur zugunsten schutzbedürftiger Dritter Da also der Durchgriff die Absicht erfordert, einen Dritten zu schädigen, kann der Durchgriff auch nur zugunsten des Dritten erfolgen, nicht aber zugunsten der Gesellschafter.137 Ebenso wenig kommt eine Anwendung in Betracht, wenn auch auf Seiten des Dritten ein Gesetzesmissbrauch festgestellt werden kann 138 und dieser daher seine Schutzwürdigkeit verliert.

c) Verwendung nur als „letztes Mittel“ Schließlich hat der TS verschiedentlich betont, dass ein Durchgriff nur ausnahmsweise in Frage komme.139

5. Fazit Nach alledem lässt sich feststellen, dass im spanischen Recht die Missbrauchsabsicht das für die Anwendung des Durchgriffs maßgebliche Kriterium ist,140 was sich sicherlich auch damit erklären lässt, dass die Rezeption der Durchgriffsdogmatik in Spanien mit der Übersetzung des Werkes von Serick begann, der auch für das deutsche Recht die Anwendung eines subjektiv zu bestimmenden Missbrauchsurteils als Voraussetzung des Durchgriffs befürwortete. Andere Kriterien mögen die Feststellung, dass eine Missbrauchsabsicht vorliegt, stützen,

134 SSTS 6 de noviembre de 1993 (RJ 1993, 9100); 23 de noviembre 1993 (RJ 1993, 9100). 135 STS 12 de junio de 1995 (RJ 1995, 4739); vgl. auch STS 5 de febrero de 1996 (RJ 1996, 1341) und STS 12 de febrero de 1999 (RJ 1999, 654); entsprechend Pablo Girgado Perandones, Revista de Derecho Mercantil 2003, p. 75, 137 ss. 136 Carmen Boldó Roda, op.cit., p. 25, 50. 137 Ausdrücklich STS 30 de enero de 1997 (RJ 1997, 151); ähnlich STS 3 de marzo de 1981 (RJ 1981, 1550). 138 STS 6 de noviembre de 1995. 139 Pablo Girgado Perandones, Revista de Derecho Mercantil 2003, p. 75, 116, 118. 140 Carmen Boldó Roda, op.cit., p. 25, 51.

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sind aber für sich weder notwendig noch hinreichend, um einen Durchgriff zu ermöglichen. Kritischer Punkt dieser Ansicht ist – wie auch der TS anerkannt hat – die Beweisproblematik.141 Die Missbrauchsabsicht kann selten eindeutig festgestellt werden, vielmehr muss auf deren Vorliegen anhand objektiver Hinweise bzw. Indizien geschlossen werden. So können eine völlige Inaktivität der Gesellschaft, die vollständige Kontrolle durch einen oder mehrere Gesellschafter, die unterschiedslose Verwendung von Firma und eigenem Namen durch einen Gesellschafter, eine fehlerhafte Buchführung oder deren vollständiges Fehlen, unbegründete Transaktionen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter, etc. einzeln oder insbesondere in Kombination die Vermutung nahe legen, dass eine subjektive Missbrauchsabsicht vorgelegen haben muss und damit einen Durchgriff rechtfertigen. Zwar hat sich anhand der Rechtssprechung des TS eine umfangreiche Kasuistik entwickelt, doch bleibt die Feststellung der Missbrauchsabsicht stets Aufgabe des Richters im konkreten Fall. Für die Durchgriffshaftung in Konzernen (grupos de sociedades) hat sich eine gewisse Linie in der Rechtsprechung herausgebildet. Demnach ist es nicht ausreichend, dass zwei oder mehr Unternehmen einer Gruppe angehören, um eine gesamtschuldnerische Haftung oder die Haftung der Obergesellschaft zu begründen, wenn nicht eines der folgenden Merkmale vorliegt: 142 – die gemeinsame Erbringung einer Leistung, auch sukzessiv, wobei die Gruppe einheitlich nach außen auftritt und den Anschein einer einheitlichen Leitung und Weisung hervorruft, – die Vermischung von Vermögen, wobei nicht notwendigerweise nur „eine Kasse“ vorhanden sein muss; vielmehr genügt jede Vermischung von Vermögensbestandteilen oder die Inanspruchnahme von Arbeitnehmern. – das gemeinsame einheitliche Auftreten nach außen. – die Gründung von Scheingesellschaften ohne reelles Substrat (sin sustrato real), z. B. bei der Arbeitnehmerüberlassung, bei Fehlen von eigentlichen Unternehmensleitungen bzw. -verwaltungen etc. Allein die Tatsache, dass die verschiedenen Gesellschaften die gleichen Gesellschafter aufweisen oder dass dieselben Geschäftsführer verschiedene Gesellschaften leiten, genügt dagegen nicht, um die Durchgriffshaftung zu begründen. Algún ejemplo: Sentencia del Tribunal Supremo de 12 de junio de 1995; declara el levan-

141 Carmen Boldó Roda, op.cit., p. 25, 51. 142 Sempere Navarro, A.V., Areta Martínez, M., El Derecho de trabajo y los grupos de empresas: inventario, en Revista del Ministerio de trabajo y asuntos sociales, núm. 48, 2004; Sentencias del TS de 29 de octubre de 1997, de 26 de enero de 1998, de 26 de septiembre de 2001, de 4 de abril de 2002, de 4 de marzo de 1985, 11 de diciembre de 1985 etc.

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tamiento del velo cuando no existe una „disociación típica entre propiedad y control directivo de la gestión social“, utilizando aquéllos en su actuación las ventajas que les confiere la ley para perjudicar legítimos derechos de terceros, los que confiados en una aparente solvencia, les hacen entrega de los productos que fabrican y cuando consideran oportuno, después de obtener créditos muy superiores a la solvencia de la compañía, disuelven ésta, con el claro designio de defraudar a sus acreedores. 6. Vergleich zum deutschen Recht Anders als der spanische TS geht die deutsche Rechtsprechung wie auch die herrschende Lehre von einem objektiven System aus, bei welchem die Trennung von juristischer Person und dahinter stehenden natürlichen Personen im Wege der teleologischen Reduktion dann aufgehoben werden, wenn das Verhalten der Gesellschafter mit dem Zweck des Trennungsprinzips, unternehmerisches Handeln durch das Haftungsprivileg zu fördern, nicht mehr im Einklang steht (Normzwecktheorie). Die Durchgriffsdogmatik des spanischen TS unterscheidet sich damit in ihren vor allem subjektiven Voraussetzungen deutlich, in den Rechtsfolgen jedoch kaum, da auch im spanischen Recht eine teleologische Reduktion der im konkreten Fall einschlägigen Vorschriften erfolgt.143 Doch auch auf Tatbestandsseite ist die Diskrepanz zwischen der spanischen subjektiven Missbrauchslehre und deutscher Normzwecklehre geringer, als es zunächst den Anschein hat. Denn die Feststellung der Missbrauchsabsicht erfolgt mittels objektiver Kriterien. Entsprechend wird man beim Vorliegen der bekannten Fallgruppen – die auch in der spanischen Literatur immer wieder zitiert werden 144 – in vielen Fällen auf die nach dem TS notwendige Missbrauchsabsicht schließen können. Die spanische Dogmatik kommt damit im Ergebnis der auch in Deutschland einst vertretenen objektiven Missbrauchslehre recht nahe.

V. England 1. Der Haftungsdurchgriff im englischen case law Der im englischen Gesellschaftsrecht verwendete Begriff lifting of the veil wurde aus den USA übernommen.145 Beim lifting of the veil wird der Grundsatz der Haftungstrennung, wonach die eigene und gesonderte rechtliche Persönlich143 Carmen Boldó Roda, op.cit., p. 25, 33 s. 144 José Miguel Embid Irujo, Revista de Derecho de Sociedades 1999, p. 363, 365; Carmen Boldó Roda, op.cit., p. 25, 35. 145 Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 7. Aufl. 2003, 176f.

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keit der Gesellschaft einem Durchgriff auf die Gesellschafter entgegensteht, durchbrochen. In den Fällen des lifting of the veil wird – bildlich gesprochen – der zwischen den Außenstehenden und den Gesellschaftern bestehende Schleier der juristischen Person der Gesellschaft gehoben, der die Rechts- und Haftungsverantwortung beider Personen trennt. Die Entwicklung dieses Rechtsinstituts zeigt besonders anschaulich die Veränderungen in der wirtschafts- und rechtspolitischen Betrachtungsweise von Gesellschaften und Unternehmen: Im manchester-liberalen Frühkapitalismus wurde die Gesellschaft als ein wirtschaftliches Instrument des Unternehmers angesehen, um sich in Fragen der Haftung und der Verantwortlichkeit zu privilegieren.146 Diese Betrachtungsweise spricht aus der cause celèbre des englischen Gesellschaftsrecht, der „Jahrhundertentscheidung“ des House of Lords in der Sache Salomon v. A. Salomon & Co. Ltd.147 aus dem Jahre 1897. Obwohl bereits mehr als zwei Jahrhunderte zuvor in der Entscheidung Edmunds v. Brown and Tillard 148 entschieden worden war, dass es dem Kläger verwehrt sei, die Gesellschafter wegen Schulden der Gesellschaft in Anspruch zu nehmen, weil Schulden der Gesellschaft nicht solche der Gesellschafter seien, stellt die Entscheidung Salomon v. A. Salomon & Co. Ltd. den Ausgangspunkt aller gesellschaftsrechtlichen Diskussionen um eine Durchgriffshaftung im englischen Recht dar. In dem Fall ging es um einen Schuhfabrikanten, der sein einzelkaufmännisches Unternehmen in eine von ihm und sechs weiteren Familienmitgliedern gegründete Kapitalgesellschaft eingebracht hatte. Bei Gründung der Kapitalgesellschaft hatte jedoch jeder der Gründer nur einen Anteil von einem Pfund übernommen, während das von Salomon eingebrachte Schuhmachergeschäft einen Wert von 39.000 Pfund hatte. Als die neu gegründete Gesellschaft binnen Jahresfrist Konkurs anmelden musste, klagten die ungesicherten Gesellschaftsgläubiger gegen Salomon auf Schadensersatz. Das House of Lords lehnte in diesem Fall jedoch eine persönliche Haftung des herrschenden Gesellschafters ab und betonte die Selbstständigkeit der juristischen Person.149 In der Folge dieser Entscheidung wurde unter haftungsrechtlichem Blickwinkel jeder Gesellschafter, auch derjenige, der die Gesellschaft kontrolliert, getrennt von der juristischen Person der Gesellschaft betrachtet. Dieser formaljuristische Ansatz wurde und wird seit jeher verstanden als Ausdruck einer ausgeprägt wirtschaftsliberalen Denkweise.150 146 Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 177. 147 [1897] AC 22; eine ausführliche Würdigung anlässlich des hundertjährigen Geburtstages der Entscheidung findet sich bei Sealy, Company and Securities L.J. 16 (1998) 176. 148 [1668] 1 Lev. 237. 149 [1897] AC 22, 31: „Either the limited company was a legal entity or it was not. If it was the business belonged to it and not to Mr. Salomon“. 150 Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 179.

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Später wurde die unternehmenstragende Gesellschaft dann jedoch zunehmend als Instrument wirtschaftlicher Tätigkeit verstanden, wobei diese Tätigkeit wegen ihrer Einbindung in die Sozialordnung rechts- und sozialpolitischen Beschränkungen unterworfen wurde. Dementsprechend wird ein Durchgriff ausnahmsweise dann für zulässig erachtet, wenn keinerlei Tatsachen zu erkennen sind, die den Schutz der eigenen Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft rechtfertigen.151 Aufgrund des höchstrichterlich festgeschriebenen Trennungsprinzips blieb jedoch für eine Durchgriffshaftung von vorneherein wenig Entwicklungsspielraum. Im Laufe der Zeit fehlte es indessen nicht an Versuchen, das vom House of Lords in der Entscheidung Salomon v. A. Salomon & Co. Ltd. statuierte Durchgriffsverbot wenigstens in Teilbereichen zu durchbrechen. Letztlich wird man die gesamte Rechtsprechung zur Problematik der Durchgriffshaftung als eine – bis heute mit unverminderter Intensität geführte – Auseinandersetzung mit Salomon zu deuten haben. Bei der Durchgriffshaftung handelt es sich daher um eine immer noch aktuelle Problematik.152 In der englischen Rechtsprechung und Literatur werden überwiegend die im Folgenden dargestellten Durchgriffstatbestände unterschieden.153 Dabei wird allerdings eine Zuordnung der Durchgriffskonstellationen zu den genannten Oberbegriffen nur selten vollzogen: Eine systematische Klassifikation der möglichen Tatbestände hat sich im englischen Recht noch nicht etabliert.154

2. Fallgruppen des lifting of the veil a) Wirtschaftliche Einheit Unter dem Tatbestand der wirtschaftlichen Einheit, die man im Anschluss an die Begriffsbildung in der Entscheidung Adams v. Cape Industries Plc.155 als single economic unit oder auch enterprise entity bezeichnet, werden vor allem Konzernstrukturen erfasst, d. h. Konstellationen, in denen eine Muttergesellschaft alle oder die Mehrheit der Anteile der Tochtergesellschaft oder -gesellschaften hält und diese mithin beherrscht. Es geht hierbei um die Frage, ob mehrere zu einem Unternehmen gehörende Gesellschaften als jeweils eigene Gesellschaften mit der Folge der Unzulässigkeit des Durchgriffs auf weitere Gesell-

151 Schmitthoff, Salomon in the Shadow, Journal Business Law 1976, 88, 94. 152 Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 178. 153 Die folgende Darstellung folgt der von Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 181ff. 154 Näher Bourne, Principles of Company Law, 13 f. 155 [1990] Ch. 433.

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schaften anzusehen sind, oder ob sie als eine wirtschaftliche Einheit mit der Folge der Zulässigkeit des Durchgriffs anzusehen sind. Die Gerichte hatten zunächst Fälle zu entscheiden, in denen es um die Auslegung von gesetzlichen Vorschriften, Verträgen oder anderen Dokumenten ging und in denen die Richter auf die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse in Konzernen abstellen konnten.156 Maßgeblich geprägt wurde die Entwicklung in dieser Fallgruppe durch zwei Urteile des Court of Appeal aus der Feder von Lord Denning. So bejahte der Court of Appeal im Fall Littlewoods Mail Order Stores Ltd. v. Inland Revenue Commissioners 157 einen Zurechnungsdurchgriff allein wegen der vorhandenen Konzernstruktur. Lord Denning begründete dies damit, dass die Gesetzgebung insbesondere im Bereich Buchführung und Bilanzen von dem Bestreben geprägt sei, die rechtliche Selbständigkeit einer einzelnen unternehmenstragenden Gesellschaft zur Seite zu schieben und die Rechts- und Tatsachenverhältnisse aller Gesellschaften als Einheit zu beurteilen. Dieser sehr weitgehende Ansatz fand 1976 Bestätigung in der Entscheidung D.H.N. Food Distributors Ltd. v. Tower Hamlets London Borough Council.158 Maßgeblich aufgrund des Merkmals der unternehmerischen Einheit wurde auch hier die rechtliche Selbständigkeit von Konzernunternehmen verneint. Die Zulassung eines Durchgriffs stieß in beiden Fällen auf heftige Kritik: Bereits im Jahre 1975 trat in der Literatur Roskill dem Außerachtlassen der rechtlichen Selbstständigkeit von Konzernunternehmen mit Nachdruck entgegen: „[E]ach company in a group of companies […] is a separate legal entity possessed of separate legal rights and liabilities.“ 159 So konnten sich dann auch die Vorschläge von Lord Dennings in der Rechtsprechung nicht durchsetzen. Die Annahme einer Durchgriffshaftung unter dem Aspekt der single economic unit wurde auch in weiteren Entscheidungen abgelehnt. Besonders eindrücklich fiel die Ablehnung des Tatbestandes durch Lordrichter Golff in der Entscheidung Bank of Tokyo Ltd. v. Karoon aus. Dort heißt es: „But we are concerned not with economics but with law.“ 160 Auch in der viel beachteten Entscheidung Ord v. Belhaven Pubs 161 aus dem Jahre 1998 gelangte der Court of Appeal zu einer grundlegenden Ablehnung der Fallgruppe der single economic unit. Die Bejahung einer Durchgriffshaftung nur aufgrund des Vorliegens einer wirtschaftlichen Einheit sei mit dem Grundsatz der selbständigen Rechtsfähigkeit juristischer Personen nicht zu vereinbaren. Das Gericht bestätigte hierbei ausdrücklich die Leitgedanken der Salomon-Entscheidung. Nach

156 157 158 159 160 161

Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 181ff. [1969] 1 W.L.R. 1241. [1976] 1 W.L.R. 852. The Albazero (1975) 3 W.L.R. 491 at 521. [1987] 1 A.C. 45 at 64. [1998] 2 BCLC 447 ff.

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anfänglichen anders lautenden Ansätzen – insbesondere von Schmitthoff 162 – lehnt heute auch die überwiegende Meinung in der Literatur einen Durchgriffstatbestand der single economic unit ab.163

b) Vermögensverschiebung Besonders in den letzten Jahrzehnten rückte der Fall der Vermögensverschiebung (asset stripping) in den Mittelpunkt der englischen Rechtsprechung zum lifting of the veil.164 Unter den Begriff des asset stripping fasst man Fälle, in denen es zwischen (Allein-)Gesellschafter und Gesellschaft zu Transaktionen kommt, bei denen wesentliche Teile des Vermögens von der einen auf die andere Seite übertragen werden, regelmäßig vom Gesellschafter auf die oft eigens zu diesem Zweck gegründete Gesellschaft. Neben dem objektiven Kriterium der Vermögensverschiebung setzt der Tatbestand des asset stripping weiter voraus, dass mit dieser Transaktion bezweckt wird, der Erfüllung von Verbindlichkeiten (evasion) zu entgehen. Es geht also um Gläubigerbenachteiligung. Deshalb spricht man verbreitet von der Fallgruppe der Vertragsumgehung. Anerkannt wurde die Vermögensverschiebung als Durchgriffstatbestand in der englischen Rechtsprechung erstmalig im Jahre 1962 mit der Entscheidung Jones v. Lipman 165. In diesem Fall hatte der Beklagte, nachdem er an den Kläger ein Grundstück verkauft hatte, dieses Grundstück in eine eigens dafür gegründete rechtsfähige Gesellschaft eingebracht, deren Mehrheitsgesellschafter er war. Der Kläger forderte daraufhin von der neu gegründeten Gesellschaft und von dem Beklagten persönlich die Übereignung des Grundstücks. Der High Court gab beiden Klagen statt und stützte sich dabei insbesondere auf den Umstand, dass die Gesellschaft erst nach Abschluss des Vertrages mit Jones gegründet worden war und die Übereignung einzig zu dem Zweck vorgenommen worden sei, Jones zu schädigen. Auch wies das Gericht auf den Umstand hin, dass der Beklagte als Mehrheitsgesellschafter Einfluss auf die Gesellschaft nehmen konnte. Ausdrücklich bestätigt wurde diese Entscheidung im Jahre 1993 in der Sache Creasy v. Breachwood Motors Ltd.166. Hier kam es jedoch – anders als im JonesFall – zur Übertragung des gesamten Vermögens der zunächst beklagten Gesell-

162 163 164 165 166

Schmitthoff, Salomon in the Shadow, J. Bus.L. (1976) 305. Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 184f. Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 188. [1962] 1 W.L.R. 832. [1993] BCLC 480.

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schaft auf eine andere Gesellschaft. Die Gesellschafter beider Gesellschaften waren personenidentisch. Da die Vermögensverschiebung zwischen den beiden Gesellschaften zum Nachteil von Creasy initiiert worden war, wurde der Klage unter Bezugnahme auf die Entscheidung Jones v. Lipman stattgegeben. In der Entscheidung des High Court in Yukong Line Ltd. of Korea v. Rendsburg Investments Corporation of Liberia (No. 2) 167 von 1998 wurde diese Fallgruppe konkretisiert und dahingehend erweitert, dass jede Übertragung von substantiellen Vermögensbestandteilen („general transfer of rights and liabilities“) den Tatbestand des asset stripping erfülle. Diese Rechtsprechung zum Durchgriffstatbestand der Vermögensverschiebung wurde vom Court of Appeal in der Entscheidung Ord v. Belhaven Pubs 168 bestätigt. Dabei machten die Richter deutlich, dass neben die objektive Vermögensverschiebung ein – in casu fehlendes – subjektives Element der „evidence of improper motive“ treten müsse. Eine genauere Bestimmung dieser zusätzlichen Voraussetzung erfolgte nicht, jedoch kann diese nur in der absichtlichen Gläubigerbenachteiligung durch die Vermögensverschiebung gesehen werden. Der Entscheidung ist auch zu entnehmen, dass der Gründungszeitpunkt der Gesellschaft, auf welche die Vermögenswerte übertragen wurden, nicht von Bedeutung ist. In der Literatur ist die Verschiebung von wesentlichen Vermögensbestandteilen zwischen Gesellschafter und Gesellschaft bzw. zwischen zwei von einer Gesellschaft beherrschten Gesellschaften als notwendige Voraussetzung des asset stripping anerkannt. Diskutiert wird insoweit aktuell noch die Frage, ob die mit der Durchgriffshaftung geltend gemachten Ansprüche schon vor dem Zeitpunkt der Vermögensverschiebung entstanden sein müssen oder ob ein lifting of the veil auch dann stattzufinden hat, wenn die Ansprüche erst nach dem Transfer begründet wurden.169 Hinsichtlich dieser Frage herrscht mittlerweile die Überzeugung vor, dass nur bei einem asset stripping nach Begründung der relevanten Ansprüche der Tatbestand der Vermögensverschiebung bejaht werden kann.

c) Institutsmissbrauch Der Tatbestand des Institutsmissbrauchs zeichnet sich in stärkerem Maße als die bisher betrachteten Konstellationen durch Unbestimmtheit und Weite aus. In der englischen Rechtsprechung und -lehre wird zur inhaltlichen Konkretisierung dieses Durchgriffstatbestandes einzig auf das Kriterium des fraud verwiesen. Damit wird der Durchgriffstatbestand des Institutsmissbrauchs jedenfalls praktisch zum Auffangtatbestand. 167 [1998] 1 W.L.R. 294. 168 [1998] 2 BCLC 447. 169 Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 188f.

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Der Begriff des „fraud“, üblicherweise mit Betrug, Täuschung oder absichtliche Irreführung übersetzt, beschreibt das Wesen des Tatbestandsmerkmals jedoch nur unvollständig. Im Kern geht es in dieser Fallgruppe um den Missbrauch der legal person. Die notwendige Täuschung und Irreführung bezieht sich somit auf den Gebrauch der juristischen Person selbst. Nachdem sich der in der Entscheidung Adams v. Cape Industries Plc.170 gebrauchte Begriff façade (Fassade) bzw. sham durchgesetzt hatte,171 wurde ein lifting of the veil auf solche Konstellationen beschränkt, in denen die selbständige Rechtsfähigkeit der juristischen Person eine bloße Fassade darstellt, durch welche die Gesellschafter die tatsächlichen Begebenheiten zu verschleiern suchen. Zentraler Aspekt des derart formulierten Durchgriffstatbestandes ist mithin die Täuschung unter Verwendung der juristischen Person. Das Gericht betonte in der genannten Entscheidung jedoch ausdrücklich, dass daneben auch das Motiv des Täuschenden, der hinter der juristischen Person steht, von großer Bedeutung ist.172 Allerdings wurde in der Entscheidung weder das Ziel der Täuschung und ihre Adressaten näher bestimmt noch deren erforderlicher Inhalt und Umfang genauer konkretisiert. Zu einer wesentlichen Präzisierung des Tatbestandes kam es jedoch später durch die Gleichsetzung des Tatbestandselements der façade mit dem fraud-Erfordernis. Unter fraud ist nach der Rechtsprechung ein Betrug im strafrechtlichen Sinne zu verstehen. Da der Tatbestand des Betruges im englischen Strafrecht durch eine umfangreiche und weit zurückreichende Rechtsprechung bestimmt ist, führte dieser Verweis zu einem ebenso konkretisierten Durchgriffstatbestand. Besonders in Konstellationen der Steuerhinterziehung (tax evasion) wurde daher in der Rechtsprechung wiederholt ein Durchgriff auf den Gesellschafter der hinterziehenden Gesellschaft angenommen.173 Nach dieser Phase der Konkretisierung durch die Bezugnahme auf das Merkmal des fraud wurde der Durchgriffstatbestand in den letzten Jahren allerdings erneut ausgeweitet. In jüngerer Zeit stellte man wiederholt darauf ab, ob die juristische Person allgemein als „vehicle for fraud“ benutzt wurde.174 Diese Rechtsprechung nahm von der klaren Bezugnahme auf das Strafrecht Abstand, legt aber möglicherweise eine begriffliche Nähe zu der gesetzlichen Regelung des fraudulent trading nahe.175 Diese Vermutung wurde in der Rechtsprechung indes bislang noch nicht bestätigt. 170 [1990] Ch. 433. 171 Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 185; andere Ausdrücke sind „device“, „creature“, „stratagem“, „mask“, „puppet“ und „a little hut“, siehe Re Bugle Press [1961] Ch. 270 at 288, CA. 172 [1990] Ch. 433 at 542. 173 Regina v. Allen (1999) T.L.R., 13. 10. 1999; Re H and others [1996] 2 All E.R. 401. 174 Trustor AB v. Smallbone (No. 2) [2001] All E.R. (D) 206. 175 S. 213 Insolvency Act 1986.

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Damit gewinnt der Tatbestand der Durchgriffshaftung in der Variante des Institutsmissbrauchs wieder seine ursprüngliche Funktion als Auffangtatbestand zurück. Als gesichert gelten kann daher lediglich, dass eine im Sinne des Strafrechts relevante betrügerische Instrumentalisierung der legal person die Voraussetzung dieses Durchgriffstatbestandes auf jeden Fall erfüllt. Ungeachtet der tatbestandlichen Weite des Durchgriffstatbestandes des Institutsmissbrauchs hält auch die überwiegende Rechtslehre an der Notwendigkeit einer solchen Fallgruppe fest.176

d) Vermögensvermischung Die Suche in der Rechtsprechung nach Merkmalen eines Tatbestandes der Vermögensverschiebung ist wenig ergiebig. Von Bedeutung ist hier allein das Votum Lord Dennings in der Entscheidung Wallersteiner v. Moir 177 aus dem Jahre 1974. In dieser Entscheidung warf Lord Denning im Rahmen einer Verleumdungsklage die Frage auf, ob der Gesellschafter und Geschäftsführer Wallersteiner neben der Gesellschaft für deren Verbindlichkeiten haften könne. Hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen einer Durchgriffshaftung stellte er vor allem auf die mangelnde Abgrenzung zwischen dem Vermögen der Gesellschaft und dem Vermögen Wallersteiners ab: „He used their money as if they were his own“ 178. In diesem Zusammenhang kritisiert er auch die nur ungenügende Buchführung.179 Allerdings folgten die anderen Richter des Court of Appeal seiner Argumentation nicht, und eine Haftung des Gesellschafters Wallersteiner für Verbindlichkeiten der Gesellschaft wurde abgelehnt. Das abweichende Votum Lord Dennings fand in der weiteren Rechtsprechung kaum Resonanz, und erst im Fall Atlas Maritime Co. SA v. Avalon Maritime Ltd., the Coral Rose (No. 3) aus dem Jahre 1991 kam es erneut zu einer Auseinandersetzung mit dem Durchgriffstatbestand der Vermögensvermischung. Auch hier wurde eine Durchgriffshaftung jedoch abgelehnt. Über allgemeine Aussagen zum Fehlen einer Vermögenstrennung hinaus wurden in dieser Entscheidung aber keine konkreteren Tatbestandsmerkmale der Vermögensvermischung genannt. Auch im Fall Re Bank of Credit and Commerce International SA (No 3) 180 wurde lediglich beiläufig erörtert, ob eine unzureichende Trennung von Vermögensmassen eine gemeinschaftliche Haftung begründen könne.

176 Farrar/Hannigan/Fuery/Wylie, Company Law, 4. Aufl. 1998, 72; Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 185 f. 177 [1974] 1 W.L.R. 991. 178 [1974] 1 W.L.R. 991 at 1013. 179 [1974] 1 W.L.R. 991 at 1013. 180 [1993] BCLC 1490.

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In der Entscheidung Gencor ACP Ltd. v. Dalby 181 aus dem Jahre 2000 wurde dann jedoch eine Durchgriffshaftung unter Bezugnahme auf die Fallgestaltung der Vermögensvermischung bejaht. Dies wurde damit begründet, dass das Vermögen der Gesellschaft nur schwer von dem des geschäftsführenden Gesellschafters zu trennen sei. Der Schwerpunkt der Argumentation lag hierbei allerdings nicht auf einer Vermischung der Vermögensmassen, sondern auf der nur mangelhaften Differenzierung der Sphären von Gesellschafter und Gesellschaft. Im Gegensatz zur Rechtsprechung hat sich die Literatur nicht mit einem möglichen Durchgriffstatbestand der Vermögensvermischung auseinandergesetzt. Mit Ausnahme der Wallersteiner-Entscheidung werden auch die oben dargestellten Fälle in der Literatur nicht erwähnt. Die Besprechungen des Falles Wallersteiner v. Moir gehen auf die Besonderheiten der Vermögensvermischung nicht ein.

e) Unterkapitalisierung Eine persönliche Haftung der Gesellschafter wird sodann für den Fall der materiellen Unterkapitalisierung lediglich in der englischen Rechtslehre in Erwägung gezogen. Vor allem im Hinblick auf hundertprozentige Tochtergesellschaften wurde – Vorbildern in der US-amerikanischen Rechtsprechung folgend – wiederholt ein lifting of the veil befürwortet,182 freilich ohne nähere inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Tatbestand der Unterkapitalisierung. Allgemein wird ohne weitere Erläuterung auf das Merkmal der undercapitalisation abgestellt.183 Die Haltung der Spruchpraxis gegenüber einem haftungsrechtlichen Durchgriff bei unterkapitalisierten Gesellschaften muss als sehr zurückhaltend bezeichnet werden. Der Umstand, dass eine Gesellschaft die von ihr verfolgten Zwecke mit dem ihr zur Verfügung gestellten Kapital nur sehr schwer erreichen kann, führte nicht zu einer Haftung wegen materieller Unterkapitalisierung.184 So haben die Gerichte eine persönliche Haftung der Gesellschafter selbst bei hoffnungslos unterkapitalisierten Gesellschaften abgelehnt. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung in der Sache Atlas Maritime Co. SA v. Avalon Maritime Ltd., The Coral Rose (No. 3) 185: Obwohl die Gesellschaft von ihrem

181 [2000] BCLC 734. 182 Bereits Kahn-Freund, Mod. Law Rev. 7 (1944) 56. 183 Forde, Company Law, 3. Aufl. 1999, 78; Prentice, A Survey of the Law Relating to Corporate Groups in the United Kingdom, in: Wymeersch (Hrsg.), Groups of Companies in the EEC, 1993, 279, 309. 184 Exemplarisch Re F.G. (Films) Ltd. [1953] 1 All E.R. 615ff. 185 [1991] 4 All E.R. 783 ff.

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Alleingesellschafter völlig unzureichend mit Eigenkapital ausgestattet worden war, wurde eine Durchgriffshaftung wegen Unterkapitalisierung abgelehnt.

3. Regelungen der Durchgriffshaftung im statute law Obgleich die wesentliche Auseinandersetzung mit der Problematik der Durchgriffshaftung in England im case law stattfindet, sind – gerade auch in der letzten Zeit – immer wieder Anläufe unternommen worden, eine Durchgriffshaftung gesetzlich zu kodifizieren.

a) Section 24 Companies Act 1985 als Fall der gesetzlichen Durchgriffshaftung Nach Section 24 Companies Act 1985 haftet ein Alleingesellschafter einer public oder unlimited company für deren Verbindlichkeiten „jointly and severally“ (gesamtschuldnerisch), falls die Gesellschaft seit mehr als sechs Monaten mit weniger als zwei Mitgliedern geführt wird. Die Haftung gilt jedoch lediglich für Verbindlichkeiten, die nach der sechsmonatigen Frist begründet wurden. Vertragliche Schadensersatzansprüche oder deliktische Ansprüche werden von der Norm nicht erfasst. Section 24 Companies Act 1985 dient allein dem Schutz der gesetzlichen Mindestmitgliederzahl der Gesellschaften. Da sie leicht durch Einschaltung eines Treuhänders umgangen werden kann, ist die Norm praktisch kaum von Bedeutung. Nach Einführung der Ein-Personen-Kapitalgesellschaft in das Gesellschaftsrecht im Zuge der EG-Rechtsvereinheitlichung ist der Vorschrift zudem ein ganz erheblicher Anwendungsbereich entzogen worden.186

b) Normen des Steuerrechts Als Beispiel für eine gesetzliche Kodifikation des lifting of the veil wird häufig auf Normen des tax law (Steuerrechts) verwiesen. So müssen über eine Mehrheitsbeteiligung verbundene parent und subsidary companies gem. Section 277 Companies Act 1985 ein gemeinsames group account aufstellen, welches aus konsolidierten Bilanzen und konsolidierten Gewinn- und Verlustrechnungen beider Gesellschaften besteht. Steuerrechtlich werden somit eigenständige Gesellschaften zusammengefasst und als Einheit behandelt. Weiter gewährt das englische Steuerrecht im Rahmen von qualifizierten Beteiligungsverhältnissen einen sog. group relief. Dadurch kann der zu versteuernde Gewinn einer Gesellschaft durch

186 Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 191.

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Anrechnung der Verluste einer anderen Gesellschaft verringert und die Steuerlast entsprechend gemindert werden (Section 402 Income and Corporation Taxes Act 1988). Bei den hier genannten Fällen handelt es sich jedoch um solche des Zurechnungs- und nicht des Haftungsdurchgriffs.

c) Fraudulent und wrongful trading Außerdem sind auch die Regelungen betreffend fraudulent und wrongful trading (Section 213, 214 Insolvency Act 1986) als Musterfälle des gesetzlichen lifting of the veil anzusehen.187 Obwohl eine Insolvenzantragspflicht nach kontinentaleuropäischem Muster dem englischen Recht fremd ist, enthält das englische Gesellschaftsrecht seit dem Companies Act 1929 zivil- und strafrechtliche Bestimmungen, die sich der betrügerischen und rechtswidrigen Geschäftsfortführung in der Unternehmenskrise annehmen. Führen die Geschäftsleiter (directors) die Geschäfte fort und nehmen sie weitere Schulden auf, obwohl sie wissen, dass die Gesellschaft zur Zahlung der Schulden nicht in der Lage sein wird, stellt dies nach englischer Auffassung eine unerlaubte Handlung dar. Es handelt sich um einen Betrug (fraud) und damit um einen tort of deceit. Dieser tort hat mit dem Haftungstatbestand des fraudulent trading eine spezielle gesetzliche Regelung erfahren, die seit 1928 im Companies Act verankert war und inzwischen in Section 213 Insolvency Act 1986 zu finden ist. Sie greift jedoch nur ein, wenn die Geschäfte der Gesellschaft mit der Absicht, Gläubiger der Gesellschaft oder Gläubiger einer anderen Person zu täuschen, oder zu einem anderen betrügerischen Zweck fortgeführt werden.188 Große praktische Bedeutung hat der Tatbestand deshalb nicht erlangt: Die Schwachstelle der Rechtsfigur des fraudulent trading liegt seit jeher in den strengen subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen, die den Nachweis einer Betrugsabsicht gegenüber Gesellschaftsgläubigern oder sonstigen Dritten verlangen.189 Vor einem solchen Unwerturteil scheuen die Gerichte häufig zurück. Vielmehr stellen sie hohe Anforderungen an den entsprechenden Nachweis und billigen den Geschäftsführungsorganen in aller Regel die Hoffnung auf einen günstigen Ausgang zu, wofür sich in der Spruchpraxis die anschauliche Bezeichnung sunshine-doctrine eingebürgert hat: Eine Betrugsabsicht scheidet danach aus, wenn die Direktoren ungeachtet aller finanziellen Schwierigkeiten glaubten, „die Wolken verschwänden und die Sonne komme wieder zum Vorschein“.190 187 Pennington, Company Law, 7. Aufl. 1995, 51f.; Forde, Company Law, 3. Aufl. 1999, 77; Farrar/Hannigan/Fuery/Wylie, Company Law, 4. Aufl. 1998, 76; Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 193. 188 Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 194ff. 189 Re Patrick Lyon Ltd. [1933] Ch. 786, 790. 190 R. v. Grantham [1984] 2 All E.R. 166, 170.

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Diese eng begrenzte Haftung wurde zunehmend als unzulänglich empfunden. Schon das Jenkins Committee empfahl 1962 die Einführung einer neuen Vorschrift, die eine Haftung der Leitungsorgane bereits bei grober Fahrlässigkeit (recklessness) vorsehen sollte.191 Das mit der Überarbeitung des englischen Insolvenzrechts beauftragte Cork Committee schlug dann im Jahre 1982 vor, die bestehende Haftung auszuweiten und einen von ihm erarbeiteten neuen Haftungstatbestand des wrongful trading einzuführen. Dabei sprach es sich gegenüber den Empfehlungen des Jenkins Committee für eine noch weiterreichende Absenkung der subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen aus.192 Der vom Gesetzgeber übernommene Tatbestand des wrongful trading findet sich seitdem in Section 214 Insolvency Act 1986. Danach kann das Gericht die persönliche Haftung des directors und des shadow directors für die Verbindlichkeiten einer Gesellschaft anordnen, falls von diesen Personen Geschäfte der Gesellschaft zu einem Zeitpunkt weitergeführt wurden, in dem sie wussten oder hätten wissen müssen, dass die später eingetretene Insolvenz der Gesellschaft nicht zu vermeiden sein würde. Das Gericht kann von einer Haftung jedoch dann absehen, wenn nachgewiesen wird, dass alle möglichen Maßnahmen ergriffen wurden, um die Nachteile der Gläubiger zu minimieren, siehe Sec. 214 (3) Insolvency Act 1986. Hervorzuheben sind in Bezug auf den neuen Tatbestand insbesondere zwei Merkmale: Zum einen die Erweiterung des Kreises der Normadressaten, zum anderen die im Vergleich zum Tatbestand des fraudulent trading erheblich geringeren Anforderungen an den subjektiven Tatbestand. Gemäß Section 214 (7) Insolvency Act 986 haftet nicht nur der director, also der Geschäftsleiter, im Falle des wrongful trading, sondern auch der shadow director. Ein shadow director ist nach der Legaldefinition in Section 251 Insolvency Act 1986 jede Person, „in accordance with whose directions or instructions the directors of the company are accustomed to act“. Gleichlautende Definitionen finden sich in Section 714 (2) Companies Act 1985 sowie in Sec. 22 (5) des Companies Directors Disqualification Act 1986. Hierdurch wird es möglich, die Haftungsinstrumente hinsichtlich der Geschäftsführung auch auf Hintermänner zu erstrecken, die zwar nicht wie ein faktischer Geschäftsleiter (de facto director) nach außen in Erscheinung treten, jedoch intern Einfluss nehmen. Nach Ansicht des Court of Appeal reichen hierfür auch subtilere Formen der Einflussnahme, einer ausdrücklichen oder auch nur konkludenten Weisung bedarf es nicht. Selbst bloße Beratung (ausgenommen sind aber professionelle Beratungen), der üblicherweise Folge geleistet wird, genügt, wie sich aus der Entscheidung in der Sache Secretary of State for Trade and Industry v. Deverell 193 ergibt: Entschei191 Report of the Company law Committee, 1962, Cmnd 1749, § 503 (b). 192 Insolvency Law Review Committee, Insolvency Law and Practice, 1982, Cmnd 8558, §§ 1776ff. 193 [2001] Ch.D. 340, 354 f.

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dend ist, dass jemand wirklichen Einfluss (real influence) auf die Geschäftsführung ausübt. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang insbesondere, dass nach allgemeiner Auffassung auch eine Muttergesellschaft als „Schattendirektorin“ angesehen werden kann, weshalb sich die Haftung im Ergebnis als allgemeiner Konzernhaftungstatbestand erweist. Die Voraussetzungen hierzu sind bislang allerdings nicht genau geklärt. Systematisch lassen sich jedoch drei verschiedene Gruppen von „Schattendirektoren“ unterscheiden, nämlich Banken, professionelle Berater und Mutterunternehmen.194 Auf der subjektiven Tatbestandsebene setzt Section 214 Insolvency Act 1986 voraus, dass director oder shadow director die Unvermeidbarkeit der Insolvenz vorhergesehen haben oder hätten vorhersehen können. Die nähere inhaltliche Ausgestaltung dieses Tatbestandsmerkmals bleibt den Gerichten überlassen. Geregelt ist in Section 214 (4) Insolvency Act 1986 lediglich, dass insoweit die allgemeinen Fähigkeiten eines umsichtigen Geschäftsleiters mit der Funktion eines directors maßgeblich ist, wobei ein eventuell vorhandenes Sonderwissen zusätzlich, also haftungsverschärfend, Berücksichtigung findet. Hinsichtlich des Maßstabes der allgemeinen Fähigkeiten des Geschäftsleiters unterscheidet die Rechtsprechung nach Art und Größe der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Geschäftstätigkeit.195 Allerdings gelten auch für kleinere Unternehmen gewisse Minimalanforderungen: Kein director oder shadow director kann sich darauf berufen, dass er wegen zu spät erstellter Bilanzen nichts von der bedrohlichen Lage der Gesellschaft gewusst habe.196 Obwohl der neue Haftungstatbestand im englischen Schrifttum zunächst große Erwartungen geweckt hat und teilweise als geradezu epochale Neuerung gefeiert wurde, hat die Haftung für wrongful trading in der Praxis bisher nur eine vergleichsweise bescheidene Rolle gespielt. In den fast zwei Jahrzehnten seit Inkrafttreten des Gesetzes sind – soweit ersichtlich – nur sechs veröffentlichte Entscheidungen ergangen, in denen Haftungsklagen aus Section 214 Insolvency Act 1986 Erfolg hatten. Niedrig ist aber nicht nur die Zahl der erfolgreichen Klagen, sondern insgesamt die Zahl der anhängigen Verfahren. Diese magere Bilanz hat der Vorschrift teilweise heftige Kritik eingetragen. Dass dem Haftungstatbestand des wrongful trading bislang nur relativ geringer Erfolg beschieden war, wird in der englischen Literatur hauptsächlich auf folgende Gründe zurückgeführt 197: Zunächst wird darauf hingewiesen, dass gerade bei kleineren Unternehmen die Situation der (Gesellschafter-)Geschäftsleiter oft eng mit derjenigen der Gesellschaft verbunden sei. Die Geschäftsleiter seien des-

194 Goode, Principles of Corporate Insolvency Law, 2. Aufl. 1997, 466f. 195 Re Produce Marketing Consortium Ltd. (No. 2), [1989] BCLC 520. 196 Re Produce Marketing Consortium Ltd. (No. 2), [1989] BCLC 520; Re D.K.C. Contractors Ltd. [1990] BCC 903. 197 Gower/Davies, Principles of Modern Company Law, 195f.

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halb oft selbst insolvent, weshalb eine Klage aus Section 214 Insolvency Act 1986 häufig wirtschaftlich sinnlos sei. Für die Zurückhaltung der Insolvenzverwalter, denen die Geltendmachung von Ansprüchen aus wrongful trading obliegt, wird ferner eine gewisse Unschärfe der Vorschrift verantwortlich gemacht, die den Ausgang der Verfahren nur schwer prognostizierbar erscheinen lasse: Schwierigkeiten bereite zum einen der Nachweis des Zeitpunkts, in dem das wrongful trading einsetze (sog. moment of truth), zum anderen auch der Umfang der Haftung, welcher gänzlich in das Ermessen des Gerichts gestellt sei. Den Hauptkritikpunkt am Haftungstatbestand des wrongful trading hat der englische Gesetzgeber jedoch bereits beseitigt: In der Literatur war darauf hingewiesen worden, dass das Haupthindernis für die Anstrengung von Prozessen wegen wrongful trading in den Eigenheiten des britischen Verfahrens- und Kostenrechts begründet liegt, wonach der Insolvenzverwalter im Falle einer Klageabweisung auch dann die Kosten nicht mit Vorrang aus der Masse ersetzt verlangen kann, wenn zunächst gute Erfolgsaussichten bestanden, die Klageerhebung also in keiner Weise vorwerfbar war.198 Um dieses erhebliche persönliche Kostenrisiko des Insolvenzverwalters zu beseitigen, ist seit 2003 ein vorrangiger Anspruch gegen die Masse auf Ersatz der Prozesskosten auch dann vorgesehen, wenn der Insolvenzverwalter einen mit Erfolgsaussicht begonnenen Prozess verloren hat. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus möglich, dass Verfahren wegen wrongful trading künftig eine größere Rollen spielen werden als bisher. Unabhängig davon werden in der Literatur aber bereits jetzt trotz aller Kritik auch spürbare positive Auswirkungen der Haftung konstatiert: So wird als präventive Auswirkung der Haftung hervorgehoben, dass Banken dazu übergegangen sind, von (sei es auch nur entfernt) insolvenzbedrohten Gesellschaften eine Bescheinigung der Abschlussprüfer zu fordern, aus der hervorgeht, dass in der Fortführung des Geschäftsbetriebs kein wrongful trading liegt. Generell sei der präventive Effekt der Haftung durch den Einfluss von Rechtsberatern und Wirtschaftsprüfern nicht zu unterschätzen. Zur Abrundung sei hier noch Section 239 Insolvency Act 1986 erwähnt, wonach eine Durchgriffshaftung der Gesellschafter in Betracht kommt, soweit Vermögensgegenstände der später insolventen Gesellschaft unterhalb ihres Verkehrswertes veräußert oder übertragen werden.

4. Fazit Insgesamt lässt sich im englischen Recht ein nur sehr schwach ausgeprägtes Institut des lifting of the corporate veil feststellen. Zwar war spätestens mit den Anregungen des Cork Committee gerade gegenüber kleineren Gesellschaften, bei 198 Hierzu und zum folgenden Habersack/Verse, ZHR 168 (2004) 174, 181 m.w.N.

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denen Personenidentität zwischen den beschränkt haftenden Gesellschaftern und den Geschäftsführern herrscht, die Bereitschaft zur Durchbrechung der Haftungstrennung zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern gestiegen. Dabei sind die Bestimmungen zum wrongful trading als spezifische Antwort auf Schwierigkeiten im Bereich der kleineren Unternehmen zu verstehen. Zusammen mit den Regelungen über die Disqualifizierung von directors, die sich ebenfalls primär auf kleine Gesellschaften richten, stellen die Grundsätze über das wrongful trading die vom Gesetzgeber gegenüber dem Institut des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestkapitals bevorzugte Lösung dar, um den Missbrauch der Haftungstrennung zu bekämpfen. Und dennoch sind diese Institute jedenfalls formell nicht auf kleine Unternehmen beschränkt. Insbesondere das Institut des wrongful trading kann durchaus im Kontext mittlerer oder großer Gesellschaften und Gruppen von Gesellschaften zur Anwendung gelangen. Allerdings hat das Problem des Missbrauchs der Haftungstrennung in Unternehmensgruppen jedenfalls bislang keine vergleichbare gesetzgeberische Aufmerksamkeit erlangt. Noch herrscht hier die Überzeugung vor, dass gläubigerschützende Durchgriffstatbestände im Recht der Unternehmensgruppen nicht notwendig sind.

VI. USA 1. Überblick Die Problematik des Haftungsdurchgriffs nimmt im US-amerikanischen Gesellschaftsrecht vergleichsweise breiten Raum ein.199 Mehr noch: Sie ist die wohl am meisten verhandelte Frage des Gesellschaftsrechts überhaupt.200 Geregelt ist sie fast nur durch Fallrecht. Als einziger Staat hat bislang Texas das Durchgriffsrecht kodifiziert.201 Im Kern geht es immer um das Problem des Missbrauchs der 199 Umfassend Presser, Piercing the Corporate Veil (1991); Fletcher, Cyc.Corp. § 41; Rands, Domination of a Subsidiary by Parent, Ind.L.Rev. 32 (1999) 421–456; Gevurtz, Corporation Law (2000) 69–111. 200 Siehe Thompson, Piercing the Corporate Veil: An Empirical Study, Cornell L.Rev. 76 (1991) 1036–1074. 201 Art. 2.21 Tex.Bus.Corp.Act (1997); siehe dazu Lee, Veil Piercing and Actual Fraud under Article 2.21 of the Texas Business Corporation Act, Baylor L.Rev. 54 (2002) 427–448. Aufgrund wachsender Unterschiede zwischen den Staaten im materiellen Recht gewinnt die kollisionsrechtliche Frage, welchem Recht der Haftungsdurchgriff unterliegt, wieder mehr an Bedeutung; siehe Hamilton, The Law of Corporations (2000) 152ff. Welches Recht anwendbar ist, ist wohl umstritten. Für das Gründungsrecht der juristischen Person Restatement of the Law, Second, Conflict of Laws (1971) § 307; Realmark Inv. Co. v. American Financial Corp., 171 B.R. 692 (N.D.Ga.1994); Amberjack, Ltd. v. Thompson, 1997 WL 613676 (Tenn. Ct.App.1997). Bei Vorliegen von Mutter- und Tochtergesellschaft beruft dagegen

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juristischen Person durch die hinter ihr stehenden Akteure. Der Durchgriff soll Betrug (fraud),202 Unrecht (injustice),203 das Sichentziehen gegenüber rechtlicher Verantwortlichkeit (evasion of just responsibility),204 das Verdrehen oder Verheimlichen der Wahrheit (distortion or hiding of the truth) 205 oder das ungerechtfertigte Erheben einer Einwendung (unjust raising of a defense) 206 verhindern. Ermöglicht werden soll auf der anderen Seite das Erheben eines gerechtfertigten Einwands (to let in a just defense), der wegen der Trennung von Gesellschaft und Gesellschaftern eigentlich unzulässig ist.207 Über die Gründe für den besonderen Stellenwert der Problematik kann nur spekuliert werden. Gewiss spielen Erfahrungen der Vergangenheit eine Rolle – genannt seien die Konsequenzen, die man in rechtlicher Sicht aus der South Sea Bubble-Krise gezogen hat.208 Das beinahe historische Misstrauen gegenüber der „Personalität“ der juristischen Person rüttelt an dem Axiom, auf dem sie gründet. Missbräuche ließen denn auch immer wieder vermuten, die corporation sei eher eine Methode als ein Subjekt, und die Rechtsgemeinschaft „… in dealing with a corporation has no need of defining it as a person or an entity, or even as an embodiment of functions, rights and duties, but may treat it as a name for a useful and usual collection of jural relations.“ 209

Das Konzept der Trennung wird als eine bloße Theorie, die Trennung selbst als reine Fiktion bezeichnet.210 Am weitesten geht wohl die durchaus verbreitete

202 203 204 205 206 207 208

209 210

das Kollisionsrecht von Delaware nicht das Gründungsrecht der Tochter, sondern das Gründungsrecht der Mutter – jedenfalls wenn die Mutter eine corporation aus Delaware ist, siehe Mobil Oil Corp. v. Linear Films, Inc., 718 F.Supp. 260 (D.Del.1989). Andere Urteile lassen das Vertrags- oder Deliktsstatut anstelle des Gründungsrechts entscheiden, siehe Richmark Corp. v. Timber Falling Consultants, 730 F.Supp. 1525 (D.Or.1989) (Vertragsstatut); Craig v. Johns-Manvill Corp., 1987 WL 10191 (1987), reversed on other grounds, 843 F. 2d 145 (3d Cir.1988) (Vertrags- und Deliktsstatut). Robertson v. Roy L. Morgan Production Co., 411 F. 2d 1041 (1969). Anderson v. Abbott, 321 U.S. 349 (1944). Bevelheimer v. Gierach, 339 N.E.2d 299 (Ill.App.Ct. 1975). Brock v. Poor , 111 N.E. 229, 239 (N.Y.1915). Sargent v. Highlite Broadcasting Co., 466 S.W.2d 866 (Tex.Civ.App.1971). Oklahoma Retail Grocers Ass’n v. Wal-Mart Stores, Inc., 605 F. 2d 1155 (10th Cir.1979). Zur Geschichte der begrenzten Gesellschafterhaftung im US-amerikanischen Gesellschaftsrecht vgl. Blumberg, The Law of Corporate Groups: Tort, Contract and other Common Law Problems in the Substantive Law of Parent and Subsidiary Corporations (1987) Kapitel 1. Bijur, J., in Farmers’ Loan & Trust Co. v. Pierson , 222 N.Y.S. 532, 543–544 (1927). Sanders v. Roselawn Memorial Gardens, Inc., 159 S.E. 2d 784 (W.Va.1968); ebenso Hamilton, The Law of Corporations (2000) 36: „The traditional view is that a corporation is an artificial person or artificial entity …“ (Hervorhebungen im Original); dagegen Ballantine, Parent and Subsidiary Corporations, Cal.L.Rev. 14 (1921) 1–21, 20: „The corporate capacity is a legal fact, not a fiction.“

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Ansicht, die Rechtsfigur der corporation sei lediglich eine Vermutung, die unter bestimmten Umständen widerlegbar sei, wie etwa in den Fallgruppen des Haftungsdurchgriffs.211 Je weniger real die Erscheinung „corporation“ gesehen wird, umso einfacher fällt es aber, sie in gewissen Fällen zu ignorieren. Insoweit mag die Bedeutung der Durchgriffshaftung im US-amerikanischen Recht auch mit dem Grundverständnis vom Wesen der Gesellschaft zusammenhängen. Dies sollte andererseits nicht zu dem Fehlschluss leiten, US-amerikanische Richter seien besonders schnell mit dem Dolch bei der Hand, um den „Schleier“ zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern zu zerschneiden. Die Möglichkeit des piercing the corporate veil sollte, auch diese Maxime zählt zum festen Repertoire der richterrechtlichen Durchgriffsregeln, nur zögernd und vorsichtig gebraucht werden.212 Sinnfälliger Ausdruck des Engagements, mit dem man sich dem Problem des Haftungsdurchgriffs widmet, ist die unerschöpfliche Kreativität der Rechtsprechung bei der Bildung immer neuer Metaphern für den Tatbestand des Missbrauchs der juristischen Person: Die corporation wurde in solchen Fällen bezeichnet als mere adjunct, agent, alias, alter ego, alter idem, arm, blind, branch, buffer, cloak, coat, corporate double, cover, creature, curious reminiscence, delusion, department, dry shell, dummy, false coin, fiction, form, formality, fraud on the law, instrumentality, mouthpice, name, nominal identity, phrase, puppet, screen, sham, simulacrum, snare, stooge, subterfuge oder tool, um nur eine Auswahl zu präsentieren.213 Häufig werden mehrere Bezeichnungen kunstvoll miteinander verbunden. Jedoch betrachten Rechtsprechung 214 und Literatur 215 diese farbige Sprache bisweilen eher als Hindernis denn als Hilfe, um die Missbrauchsproblematik zu lösen. Benjamin N. Cardozo, eine der herausragenden US-amerikanischen Richtergestalten des zwanzigsten Jahrhunderts, sprach davon, das Konzept des piercing the corporate veil sei in den Nebel der Metaphern eingehüllt.216

211 Peterson v. Harville, 445 F.Supp. 16 (D.Or.1977); Southern Electrical Supply Co. v. Raleigh County National Bank, 320 S.E.2d 515 (W.Va.1984). 212 Country Maid, Inc. v. Haseotes, 299 F.Supp. 633 (E.D.Pa.1969); Ramsey v. Adams, 603 P.2d 1025 (Kan.1979); Bass v. Citizens & Southern Nat. Bank, 309 S.E.2d 850 (Ga.1984); Extra Energy Coal Co. v. Diamond Energy & Resources, Inc., 467 N.E.2d 439 (Ind.Ct.App.1984); Coury v. Coury Moss, Inc., 510 So.2d 1316 (La.Ct.App.1987); vgl. auch Barber, Piercing the Corporate Veil, Willamette L.Rev. 17 (1981) 371–404, 373. 213 Zitiert nach Latty/Frampton, Basic Business Associations: Cases Texts and Problems (1963) 721. 214 Cardozo, J., in Berkey v. Third Avenue Railway, 155 N.E. 58, 61 (N.Y.1926); Stone, J., in In re Clarke’s Will, 284 N.W. 876, 878 (Minn.1939). 215 Lattin, The Law of Corporations (1971) 72f.; Blumberg, The Law of Corporate Groups. Procedural Law (1983) 8; Hamilton, The Corporate Entity, Tex.L.Rev. 49 (1977) 979–1009, 983 ff. 216 Berkey v. Third Avenue Railway, 155 N.E. 58, 61 (N.Y.1926): „… this concept is still

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Die klassische und unverändert gültige Beschreibung des Durchgriffstatbestands stammt aus der Feder von District Judge Sanborn, der in der Entscheidung United States v. Milwaukee Refrigerator Transit Company zu dem Schluss gelangte: „If any general rule can be laid down, in the present state of authority, it is that the corporation will be looked upon as a legal entity as a general rule, and until sufficient reason to the contrary appears; but when the notion of legal entity is used to defeat public convenience, justify wrong, protect fraud or defend crime, the law will regard the corporation as an association of persons.“ 217

Natürlich lässt sich mit dieser Tatbestandsbeschreibung allein in der Praxis wenig anfangen, weil sie zu unbestimmt ist. In die von der Rechtsprechung eingeschlagene Richtung einer an Fallgruppen orientierten Tatbestandsbeschreibung weist Fullers Begriffsbestimmung: „The corporate veil will be pierced [where] the corporate device has been used to defraud creditors, to evade existing obligations, to circumvent a statute, to achieve a monopoly, or to knavery or crime.“ 218

Im Mittelpunkt der folgenden Darstellung stehen die Haftungsfallgruppen, welche die Rechtsprechung im Laufe der Zeit herausgearbeitet hat. Die Einteilung nach Gruppen erfolgt auf unterschiedlichen Ebenen und unter unterschiedlichen Aspekten. Ein umfassendes und in sich konsistentes System fehlt bislang und wäre für eine streng fallrechtlich ausgerichtete Rechtsmaterie, in der per defi-

enveloped in the mists of metaphor. Metaphors in law are to be narrowly watched, for starting as devices to liberate thought, they end often by enslaving it“. 217 142 F. 247, 255 (C.C.D.Wis.1905); vgl. ebenso „… [T]he entity will be disregarded when it is necessary to promote justice or to obviate inequitable results.“, Fuller, The Incorporated Individual: A Study of the One-Man Company, Harv.L.Rev. 51 (1938) 1373–1406, 1402; ebenfalls den Aspekt der equity betont Jaloy Mfg. Co., Inc. v. United States Fidelity & Guaranty Co., 736 F.2d 1131 (6th Cir.1984). Die equitable nature des Haftungsdurchgriffs wurde schließlich auch angeführt, um den sogenannten reverse disregard, also den Durchgriff auf einen Gesellschaftsgläubiger oder auf das Gesellschaftsvermögen zugunsten eines Gesellschafters zu rechtfertigen, vgl. Roepke v. Western Nat. Mut. Ins. Co., 302 N.W.2d 350 (Minn.1981); In re Estate of Greenfield , 321 A. 922 (Pa.1974). In jüngerer Zeit wurde sogar der corporation selbst gestattet, ihr corporate veil zu durchstechen, um diejenigen für die Gesellschaftsschulden heranzuziehen, die sich die Trennung von Gesellschaft und Gesellschaftern missbräuchlich zunutze gemacht haben, vgl. In re S.I. Acquisitions, Inc., 817 F.2d 1142 (5th Cir.1987); zum Problem des so genannten reverse piercing vgl. Fletcher, Piercing the Corporate Veil: It can work in Reverse, Merc.L.Rev. 33 (1982) 633–646; Gaertner, Reverse Piercing the Corporate Veil: Should corporation owners have it both Ways?, Wm.Mary L.Rev. 30 (1989) 667– 704. 218 Fuller, The Incorporated Individual: A Study of the One-Man Company, Harv.L.Rev. 51 (1938) 1373–1406, 1402.

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nitionem induktiv vorgegangen wird, weder möglich noch wünschenswert.219 Wenn daher die Gliederung der Darstellung in mancher Hinsicht inkonsistent erscheint, so liegt dies – bis zu einem gewissen Grade zumindest – in der Natur der Sache.

2. Allgemeine Kriterien des piercing of the corporate veil Justice McHugh hat in Laya v. Erin Homes, Inc. eine Liste von Kriterien zusammengestellt, die nach der Rechtsprechung in Betracht zu ziehen sind, wenn es um die Frage geht, ob ein Haftungsdurchgriff gerechtfertigt ist: 220 (1) Wurden die Vermögen von Gesellschaft und Gesellschaftern vermischt (commingling of funds and assets)? 221 (2) Wurde das Vermögen der Gesellschaft für private Zwecke der Gesellschafter verwendet? (3) Wurden bei der Ausgabe von Anteilen die Form- und Verfahrensvorschriften beachtet? (4) Hat ein Gesellschafter gegenüber Dritten den Eindruck hervorgerufen, er hafte für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft persönlich? (5) Wurde die Buchführung ordnungsgemäß erledigt und wurden die boardund Gesellschafterversammlungen vorschriftsgemäß protokolliert? (6) Lag das wirtschaftliche Eigentum (equitable ownership) an zwei formal getrennten Unternehmungen in einer Hand? (7) Waren dieselben directors und executive officers in zwei verschiedenen Unternehmungen (etwa eine partnership oder eine sole proprietorship (Einzelfirma) und eine corporation) mit der Geschäftsführung betraut? (8) War die Gesellschaft unter Berücksichtigung des tatsächlichen Geschäftsrisikos unterkapitalisiert? (9) Fehlte ein vom Vermögen der Gesellschafter getrenntes Gesellschaftsvermögen? (10) Wurde die Gesellschaft lediglich als Hülse (shell, conduit) für das Geschäft oder einen Teil des Geschäfts einer (natürlichen oder juristischen) Einzelperson betrieben? 222

219 Brunswick Corp. v. Waxman, 459 F.Supp. 1222 (N.Y.1978); Brown Bros. Equipment Co. v. State Highway Commission, 215 N.W.2d 591 (C.A.Mich.1974); Mobridge Community Industries, Inc. v. Toure, Ltd., 273 N.W.2d 128 (S.D.1978); vgl. aber auch Sinclair, Systematizing Piercing the Corporate Veil, J.Miss.Bar 44 (1988) 423–428. 220 352 S.E.2d 93, 98 (W.Va.1986). 221 Zum commingling of assets ausführlich Fletcher, Cyc.Corp. § 41.50. 222 Dazu auch Kinney Shoe Corp. v. Polan, 939 F.2d 209 (4th Cir.1991).

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(11) Befanden sich sämtliche Anteile in der Hand einer Person oder einer Familie? (12) Benutzten Gesellschaft und Gesellschafter für ihre Geschäfte die gleichen Geschäftsniederlassungen? (13) Hatten Gesellschaft und Gesellschafter dieselben Angestellten oder denselben Hausanwalt? (14) Wurden unvollständige oder unrichtige Angaben über die Identität von Eigentums-, Geschäftsführungs- oder finanziellen Interessen an der Gesellschaft gemacht? Wurden Geschäfte zwischen Gesellschaft und Gesellschafter, etwa die Gewährung ungesicherter Darlehen, verdeckt? (15) Wurden die rechtlichen Grundsätze über die wirtschaftliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit verbundener Unternehmen (related entities) missachtet? (16) Wurde die Gesellschaft ausschließlich dazu verwendet, einer anderen (natürlichen oder juristischen) Person Arbeit, Dienstleistungen oder Waren zu verschaffen? (17) Wurde das Gesellschaftsvermögen zum Schaden der Gesellschaftsgläubiger durch oder an die Gesellschafter oder Dritte verteilt? (18) Wurden Aktiva und Passiva zwischen mehreren Unternehmen so verteilt, dass sich alle Aktiva auf der einen und alle Passiva auf der anderen Seite konzentrierten? Wurde die Gesellschaft für die Vornahme unzulässiger Geschäfte missbraucht, oder wurde sie verwendet, um dem Risiko der Nichterfüllung von Verträgen zu entgehen? (19) Wurde die Gesellschaft gegründet, um die Verbindlichkeiten einer anderen (natürlichen oder juristischen) Person zu übernehmen? 223 Die genannten und weitere Kriterien sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung des einzelnen Sachverhalts (totality of the circumstances-Test) zu berücksichtigen. Abzuwägen sind danach das hinter der Zulassung der Haftungsbegrenzung stehende rechtspolitische Interesse an der Förderung privater Investitionen und das hinter dem Haftungsdurchgriff stehende Interesse an der Verhinderung unbilliger Ergebnisse (inequitable consequences). Spricht diese Abwägung im konkreten Fall für den Durchgriff, so ist ferner zu klären, ob die hinter der Gesellschaft stehenden Akteure die Gesellschaft dazu verwenden wollten, um gegenüber einer dritten unbeteiligten Partei in betrügerischer oder anderweitig rechtswidriger Weise vorzugehen.224

223 Eine vergleichbare Liste mit neun Kriterien findet sich in Ramsey v. Adams, 603 P.2d 1025 (Kan.1979); vier Kriterien nennt Sea-Land Services, Inc. v. Pepper Source, 941 F.2d 519 (1991), after remand, 993 F.2d 1309 (7th Cir.1993). 224 Southern Electrical Supply Co. v. Raleigh County National Bank, 320 S.E.2d 515, 523 (W.Va.1984).

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Ein Haftungsdurchgriff auf einen Gesellschafter, der aktiv an der Geschäftsführung teilgenommen hat, ist nach alledem an zwei Voraussetzungen geknüpft: Erstens müssen geschäftliches Interesse und Eigentum von Gesellschaft und Gesellschafter in einem Maße identisch sein, dass die Trennung von juristischer Person und Person des Gesellschafters sich nicht ernsthaft aufrecht erhalten lässt. Zweitens muss es zu einem unbilligen (inequitable) Ergebnis führen, wenn das fragliche Verhalten als das der Gesellschaft und nicht des Gesellschafters betrachtet wird.225 Obgleich die richterrechtlichen Grundsätze zum Haftungsdurchgriff de jure gleichermaßen für public und close corporations gelten, kommen Untersuchungen aus den Jahren 1981 und 1991 zu dem Ergebnis, dass noch kein Gericht den Durchgriff auf die Aktionäre einer Publikumsgesellschaft zugelassen hat.226 Die Erklärung dafür ergibt sich aus der dargelegten Tatbestandsbeschreibung: Voraussetzung für den Durchgriff ist, dass der betreffende Gesellschafter aktiv an der Geschäftsführung teilgenommen hat. Dies wird häufig bei close corporations und Familienunternehmen, praktisch immer bei Einmanngesellschaften der Fall sein,227 aber so gut wie nie bei Publikumsgesellschaften, bei denen die persönliche Haftung der Geschäftsführer üblicherweise im Zusammenhang mit den Treueund Sorgfaltspflichten der Mitglieder des Managements erörtert wird.228 Bei den close corporations wiederum gilt nach der Rechtsprechung, dass die Trennung von Gesellschaft und Gesellschaftern dann zu beachten ist, wenn das Unternehmen nicht auf einer personal basis sondern einer corporate basis betrieben wurde und ausreichende Kapitalausstattung vorhanden war.229

3. Vertragliche und deliktische Haftung Der Gläubiger eines vertraglichen Anspruchs kann sich seinen Schuldner vorher aussuchen und damit sein Risiko selbst bestimmen. Dies kann ein Deliktsgläubiger nicht. Daher liegt es nahe zu vermuten, die Gerichte würden einen Haf-

225 Automotriz Del Golfo De California v. Resnick, 306 P.2d 1, 3 (Cal.1957). 226 Barber, Piercing the Corporate Veil, Willamette L.Rev. 17 (1981) 371–404, 372; zu demselben Ergebnis kommt die Studie von Thompson, Piercing the Corporate Veil: An Empirical Study, Cornell L.Rev. 76 (1991) 1036–1074. 227 Näher hierzu Fletcher, Cyc.Corp. § 41.35. 228 Vgl. Wagner, Expansion of Shareholder Corporate Officer Liability in a Closely Held Corporation, Pace Env.L.Rev. (1986) 253–275; Henn/Alexander, Laws of Corporations (1983) 352 ff. 229 Ramsey v. Adams, 603 P.2d 1025 (Kan.1979); United States v. Pisani, 646 F.2d 83 (3d Cir.1981); zur Unterkapitalisierung vgl. auch Gelb, Piercing the Corporate Veil – the Undercapitalization Faktor, Chi.-Kent L.Rev. 59 (1982) 1–22 sowie Fletcher, Cyc.Corp. § 41.72.

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tungsdurchgriff bei deliktischen Ansprüchen häufiger zulassen als im Vertragsrecht. Doch zeigt eine empirische Untersuchung von Thompson ein anderes Bild. Danach bejahten die Richter einen Durchgriff bei 42 % der vertraglichen, aber nur 31 % der deliktischen Ansprüche; zugrunde lagen 779 Urteile zum Vertragsrecht und 226 Urteile zum Deliktsrecht.230 Dieses Ergebnis mag daher rühren, dass bei deliktischen Fällen häufig eine Haftpflichtversicherung greift, die einen gerichtlichen Vergleich zwischen den Parteien erleichtert und damit den Durchgriff aufgrund eines Gerichtsurteils überflüssig macht.231 Die höhere Zahl von Durchgriffen bei vertraglichen Ansprüchen widerspricht allerdings einem eben angesprochenen und weithin anerkannten Gesichtspunkt: Der Gläubiger des vertraglichen Anspruchs hat sich den Schuldner frei gewählt und soll das mit der Wahl verbundene Risiko grundsätzlich nicht abwälzen können.232 Daher wird von diesem Grundsatz zugunsten des Gläubigers auch nur dann abgewichen, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen.233 Solche Umstände sind etwa dann gegeben, wenn das Management einer Muttergesellschaft beim Gläubiger unzutreffende Vorstellungen über die Tochtergesellschaft (Beteiligungsverhältnisse, Kontrolle, Kapitalausstattung, Bereitschaft der Mutter zum Einstehen für Verbindlichkeiten der Tochter und so weiter) erweckt hat und der Gläubiger im Vertrauen darauf Vermögensdispositionen getroffen hat.234 Als außergewöhnlich gilt es ebenso, wenn die Gesellschaft in einer ungewöhnlichen Weise betrieben wird, das heißt in einer Weise, mit welcher der Gläubiger nicht zu rechnen brauchte. Dazu zählt, dass die Gesellschaft niemals Gewinne erwirtschaften kann, dass sämtliche Gewinne an der Gesellschaft vorbei in die Taschen der Gesellschafter fließen oder dass die Gesellschaft fortwährend

230 Thompson, Piercing the Corporate Veil: An Empirical Study, Cornell L.Rev. 76 (1991) 1036–1074, 1058 ff. In einer neueren Untersuchung, die Entscheidungen bis zum Jahre 1996 einbezieht, bekräftigt Thompson sein Ergebnis, wonach ein Haftungsdurchgriff eher in vertrags- als deliktsrechtlichen Fällen erfolgt; siehe Thompson, Piercing the Veil Within Corporate Groups: Corporate Shareholders as Mere Investors, Conn.J. Int’l L. 13 (1999) 379–395; für einen Vergleich der amerikanischen und deutschen Rechtsprechung zum Haftungsdurchgriff für Vertragsgläubiger siehe Alting, Piercing the Corporate Veil in American and German Law – Liability of Individuals and Entities, A Comparative View, Tulsa J.Comp.Int.L. 2 (1995) 190–251. 231 So Hamilton, The Law of Corporations (2000) 142. 232 Perpetual Real Estate Services, Inc. v. Michaelson Properties, Inc., 974 F.2d 545 (4th Cir.1992); Brunswick Corp. v. Waxman, 599 F.2d 34 (2d Cir.1979); Texas Industries, Inc. v. Dupuy & Dupuy Developers, Inc., 227 So.2d 265 (La.Ct.App.1969); Pinto/ Branson, Understanding Corporate Law (1999) 49f. 233 Fletcher, Cyc.Corp. § 41.85; siehe dazu auch Gevurtz, Corporation Law (2000) 73 ff. 234 Hanson Southwest Corp. v. Dal-Mac Const. Co., 554 S.W.2d 712 (Tex.Civ.App. 1977).

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zahlungsunfähig ist.235 In den meisten dieser Fälle kann allerdings der Gläubiger unmittelbar gegen die betreffenden Personen auch auf der Grundlage zivilrechtlicher Grundsätze zum Schutz vor Betrug (fraudulent conveyance, fraud on the creditor) und damit unabhängig vom Haftungsdurchgriff vorgehen.236 Ein Durchgriff ist schließlich dann zulässig, wenn ein Gesellschafter gegenüber dem Gläubiger erklärt hat, er werde für die Verbindlichkeit der Gesellschaft einstehen, falls diese sie nicht erfülle. Dies gilt auch dann, wenn die Erklärung des Gesellschafters wegen Nichtbeachtung von Formerfordernissen (Verstoß gegen das statute of frauds) an sich unvollstreckbar wäre.237 Anders sieht es bei deliktischen Ansprüchen aus. Da der Gläubiger in diesen Fällen seinen Schuldner nicht frei gewählt hat, soll er grundsätzlich nicht das Risiko der beschränkten oder fehlenden Zahlungsfähigkeit tragen. Hierher gehören die berühmten Taxiunternehmer-Fälle: 238 Ein Unternehmer betreibt mehrere Taxis, wobei jedes Taxi zum Zwecke der Haftungsbegrenzung de jure von einer eigenen Gesellschaft betrieben wird, die mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestkapital ausgestattet ist.239 Zu unterscheiden ist allerdings zunächst die Haftung der Gesellschaft von der Haftung des Deliktstäters. War der Täter Angestellter der Gesellschaft oder handelte er als deren Vertreter, dann muss zuerst festgestellt werden, ob die Gesellschaft – auf der Grundlage des Prinzips respondeat superior – für den Täter haftet. In den typischen Durchgriffsfällen sind zwar beide haftbar, aber zahlungsunfähig (judgment proof). Ein Durchgriff auf die Gesellschafter kommt bei deliktischen – im Gegensatz zu vertraglichen – 240 Ansprüchen vor allem dann in Betracht, wenn die Gesellschaft unterkapitalisiert ist (shell corporation).241 Entscheidend ist, ob die Kapitalisierung bei der Gründung in angemessenem Verhältnis zu dem bei der Grün-

235 Iron City Sand & Gravel Div. v. West Fork Towing Corp., 298 F.Supp. 1091 (N.D.W.Va.1969); DeWitt Truck Brokers, Inc. v. W. Ray Flemming Fruit Co., 540 F.2d 681 (4th Cir.1976). 236 Yacker v. Weiner, 263 A.2d 188 (N.J.Ch.Div.1970)(Corporation veräußert Häuser systematisch unter Preis und wird insolvent; Gläubiger, die davon keine Kenntnis besaßen, können durchgreifen); vgl. aber auch Bartle v. Home Owners Cooperative, Inc., 127 N.E.2d 832 (N.Y.1955). 237 DeWitt Truck Brokers, Inc. v. W.Ray Flemming Fruit Co., 540 F.2d 681 (4th Cir.1976). 238 Zu den Gründen für die besondere Häufigkeit dieser Fälle vgl. Hamilton, The Law of Corporations (2000) 144 f. 239 Etwa Mangan v. Terminal Trans. Systems, Inc., 284 N.Y.S. 183 (1935); Robinson v. Chase Maintenance Corp., 190 N.Y.S.2d 773 (1959); Mull v. Colt Co., 31 F.R.D. 154 (S.D.N.Y.1962); Walkovszky v. Carlton, 223 N.E.2d 6 (N.Y.1966); Turner v. Andrea Service Corp., 157 N.Y.L.J. No. 92, 17 (1967). 240 J.-R. Grain Co. v. F.A.C., Inc., 627 F.2d 129 (8th Cir.1980). 241 Hierzu Lattin, The Law of Corporations (1971) 73–79 und Hackney/Benson, Shareholder Liability for Inadequate Capital, U.Pitt.L.Rev. 43 (1982) 837–901.

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dung zu erwartenden Geschäftsrisiko stand.242 Hierbei können Gerichte eine Haftpflichtversicherung zum Kapital rechnen und damit eine Unterkapitalisierung verneinen. Denn eine solche Versicherung dient ja gerade dazu, Deliktsopfer zu entschädigen.243 Ein Durchgriff wurde hingegen verneint, wenn Unterkapitalisierung erst später als Folge unerwarteter Entwicklungen eintritt.244 In aller Regel muss neben der Unterkapitalisierung ein weiterer Umstand hinzutreten, damit der Durchgriff gerechtfertigt ist.245 Ebenso ist der Durchgriff bei deliktischen Ansprüchen zugelassen worden, wenn die Gründungsformalitäten missachtet wurden.246 Schließlich werden auch solche Überlegungen angestellt, die bereits im Zusammenhang mit den vertragsrechtlichen Ansprüchen erwähnt wurden, etwa, ob die Gewinne an der Gesellschaft vorbei und direkt in die Taschen der Gesellschafter fließen sollen oder Gesellschafts- und Gesellschaftervermögen vermischt wurden. Das letztgenannte Kriterium ziehen manche Gerichte namentlich in den Taxiunternehmer-Fällen heran.247 Andere Gerichte bejahen den Durchgriff in diesen Fällen bereits dann, wenn das Taxi von einer eigenen Gesellschaft betrieben wird, die lediglich mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestkapital ausgestattet ist.248 Wiederum andere Gerichte verlangen, dass der betreffende Gesellschafter persönlich in der Geschäftsführung der Gesellschaft aktiv geworden ist, so dass in Wirklichkeit er und nicht die Gesellschaft das Taxi betreibt. In diesen Fällen spricht man von einer dummy corporation.249 Abgelehnt wurde in einem dieser Fälle der doppelte Durchgriff durch Tochter- und Muttergesellschaft auf den Alleingesellschafter der Muttergesellschaft.250

242 J.-R. Grain Co. v. F.A.C., Inc., 627 F.2d 129 (8th Cir.1980); Minton v. Cavaney, 364 P.2d 473 (Cal.1961) (In diesem Fall kam allerdings zur Unterkapitalisierung die Nichtbeachtung von Gründungsformalitäten hinzu). 243 So die Leitentscheidung hierzu Radaszewski v. Telecom Corp., 981 F.2d 305 (8th Cir.1992), certiorari denied 508 U.S. 908 (1993). 244 Truckweld Equipment Co., Inc. v. Olson, 618 P.2d 1017, 1022 (Wash.Ct.App.1981); Fletcher, Cyc.Corp. § 41.72. 245 Arnold v. Browne, 103 Cal.Rep. 775, 783 (Cal.Ct.App.1972). 246 Minton v. Cavaney, 364 P.2d 473 (Cal.1961) (Gesellschaft wurde gegründet zum Betreiben und Vermieten von Schwimmbecken; Gesellschafter haben ihre Kapitalanteile niemals einbezahlt; durch Fahrlässigkeit eines Angestellten verunglückt ein Kind tödlich; Gesellschafter persönlich haftbar). 247 Turner v. Andrea Service Corp., 157 N.Y.L.J. No. 92, 17 (1967). 248 Mangan v. Terminal Trans. System, Inc., 284 N.Y.S. 183 (1935), affirmed, 286 N.Y.S. 666 (3d Dept.1936). 249 Walkovszky v. Carlton, 223 N.E.2d 6 (N.Y.1966), affirmed, 244 N.E.2d 55 (1968). 250 Mull v. Colt Co., 31 F.R.D. 144 (S.D.N.Y.1962).

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4. Sanktionierung von Verfahrensfehlern Von ausschlaggebender, wenn nicht sogar allein entscheidender Bedeutung für die Bejahung des Haftungsdurchgriffs kann die Nichtbeachtung von Verfahrens- und Formvorschriften sein. Hier geht es etwa darum, dass die Gründung nicht vollständig abgeschlossen wurde, dass die Kapitalbeteiligungen nicht oder nur teilweise eingezahlt wurden, dass keine Anteile ausgegeben wurden,251 dass die Gründungsversammlung oder die Wahl des board of directors unterblieben ist, dass die Gesellschafter der corporation die Geschäfte wie die Gesellschafter einer general partnership führen oder dass private Geschäfte mit solchen der Gesellschaft vermischt werden (formlose Gewährung von Darlehen, Verwendung von Gesellschaftskapital für persönliche Zwecke und Ähnliches).252 Die Gründe für die besondere Bedeutung der Verletzung von Verfahrensund Formvorschriften für den Haftungsdurchgriff sind unklar. In den meisten Fällen steht der Formfehler nicht in Zusammenhang mit den gegen die Gesellschaft oder die Gesellschafter geltend gemachten Ansprüchen. Üblicherweise liegt sogar eine größere Zeitspanne zwischen dem Fehler und dem Vorgang, der dem Anspruch zugrunde liegt. Wird der Durchgriff dennoch gewährt, so erlangt der Gläubiger einen oftmals zufälligen Vorteil (windfall profit). Aus diesem Grund haben Gerichte bisweilen den Durchgriff trotz eklatanter Missachtung von Formvorschriften abgelehnt.253 Auch nach dem Model Statutory Close Corporation Supplement des R.M.B.C.A. zieht die Nichtbeachtung von Form- oder Verfahrensvorschriften allein noch keine persönliche Haftung der Gesellschafter nach sich.254 Wird der Durchgriff hingegen zugelassen, so stützt man sich auf den Gedanken, es könne nicht angehen, dass die Gesellschafter die Vorteile des Gesellschaftsrechts beanspruchen, ohne den damit verbundenen Verpflichtungen zu genügen. Dies ist freilich dort wenig überzeugend, wo die Missachtung selbst nicht in einem greifbaren Schaden resultiert.255

251 Hierzu Fletcher, Cyc.Corp. § 41.60. 252 Vgl. Zaist v. Olson, 227 A.2d 552 (Conn.1967); Hamilton, The Corporate Entity, Tex.L.Rev. 49 (1971) 979–1009, 990; Choper/Coffee/Gilson, Corporations (2004) 257, Fn. 61. 253 Scott Graphics, Inc. v. Mahaney, 549 P.2d 623 (N.M.Ct.App.1976). 254 Die einschlägige Bestimmung findet sich in § 25 M.S.C.C.S. und lautet: „Limited Liability. The failure of a statutory close corporation to observe the usual corporate formalities or requirements relating to the exercise of its corporate powers or management of its business and affairs is not a ground for imposing personal liability on the shareholders for liabilities of the corporation“. 255 Auf das Problem der fehlenden Kausalität wird hingewiesen in Preston Farm & Ranch Supply, Inc. v. Bio-Zyme Enterprises, 615 S.W.2d 258 (Tex.Civ.App.1981).

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5. Gesetzesumgehung und Alter Ego-Rechtsprechung In einer Reihe von Entscheidungen wurde der Durchgriff damit begründet, dass die corporation lediglich dazu dienen sollte, etwas zu ermöglichen, was den Gesellschaftern selbst gesetzlich verboten war.256 Das stark regulierte Bankrecht bietet Anschauungsmaterial: Zahlreiche Gliedstaaten verbieten das so genannte branch banking (Betrieb von Bank-Zweigstellen). Eine Bankgesellschaft kann innerhalb des betreffenden Gliedstaats eine Bank nur an einem Platz betreiben. Hier stellt sich die Frage, ob eine Bankgesellschaft an einer anderen Bankgesellschaft beteiligt sein kann oder ob eine Holdinggesellschaft Mehrheitsgesellschafterin verschiedener Bankgesellschaften sein kann. In anderen Gliedstaaten ist es den Mitgliedern des board of directors einer Bankgesellschaft verboten, von der Bankgesellschaft Darlehen zu empfangen. Wie steht es aber mit Darlehen an eine Gesellschaft, deren einziger Gesellschafter ein Mitglied des board of directors ist? Nach der Rechtsprechung findet ein Durchgriff statt, wenn die Gesellschaft benutzt wurde, um eine public policy oder statutory policy zu umgehen, und sie in Wirklichkeit keine eigenständige Rechtsperson ist, sondern lediglich das alter ego der Gesellschafter, häufig des Alleingesellschafters. Dabei kommt es entscheidend darauf an, wie bedeutsam die entsprechende policy ist. Anders ausgedrückt: Nicht jede Gesetzesumgehung führt per se zum Durchgriff. Anzumerken ist freilich, dass es sich hierbei nicht um Fälle des Haftungsdurchgriffs handelt. Vielmehr geht es um die Frage, ob das Verhalten der Gesellschaft den Gesellschaftern zuzurechnen ist, ob also Gesellschaft und Gesellschafter im Sinne der alter egoFormel gleichzusetzen sind. Die nicht unwesentlichen Unterschiede zwischen diesem Zurechnungsdurchgriff und dem Haftungsdurchgriff hindern die Rechtsprechung und auch die Literatur gleichwohl nicht daran, das Erstere dem Zweiten zuzuordnen und im Ergebnis beides gleich zu behandeln.257 In die beschriebene Fallgruppe werden auch die Fälle eingeordnet, in denen eine Einzelfirma allein deshalb als corporation betrieben wird, weil der Alleingesellschafter, der gleichzeitig Angestellter der Gesellschaft ist, in den Genuss gewisser Arbeitnehmervergünstigungen (employment benefits) gelangen will. Unbedenklich ist dies, soweit es ihm nur darum geht, seine Altersversorgung zu verbessern.258 Will sich der Alleingesellschafter hingegen Arbeitslosenunterstüt-

256 United States v. Lehigh Valley R. Co., 220 U.S. 257 (1911); Casanova Guns, Inc. v. Connally, 454 F.2d 1320 (1972); Bruhn’s Freezer Meats of Chicago, Inc. v. United States Dept. of Agriculture, 438 F.2d 1332 (1971); Kavanaugh v. Ford Motor Co., 353 F.2d 710 (1965). 257 Hamilton, The Law of Corporations (2000) 157f.; Fletcher, Cyc.Corp. § 41.10, dort auch umfassende Nachweise aus der Rechtsprechung. 258 Sark v. Flemming, 283 F.2d 410 (9th Cir.1960); näher Fletcher, Cyc.Corp. § 43.80.

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zung sichern, so wird er trotz des Anstellungsverhältnisses als Arbeitgeber oder Unternehmer behandelt.259 Zu erwähnen sind schließlich Fälle, in denen sich die Frage stellt, ob eine Muttergesellschaft an die tarifvertraglichen Vereinbarungen ihrer Tochtergesellschaft gebunden ist.260 Auch hier geht es allerdings um den Zurechnungs- und nicht den Haftungsdurchgriff.

6. Mutter-, Tochter- und Schwestergesellschaften Erfahrungsgemäß ist die Rechtsprechung eher bereit, einen Haftungsdurchgriff zuzulassen, wenn das Ziel des Durchgriffs keine natürliche, sondern eine juristische Person ist.261 Man mag dies mit der verbreiteten – wenngleich kaum belegbaren – Ansicht erklären, der Durchgriff auf eine juristische Person sei regelmäßig weniger folgenreich.262 Für den Durchgriff durch eine Gesellschaft auf eine andere muss zunächst ein Dominanzverhältnis bestehen (domination of finances, policies and practices), so dass die Gesellschaft, durch die hindurchgegriffen werden soll, als bloßes Instrument der dahinter stehenden Gesellschaft fungiert (instrumentality rule).263 Ein solches Dominanzverhältnis ergibt sich allerdings nicht bereits daraus, dass eine

259 Rccograndi v. Unemployment Compensation Board of Review, 178 A.2d 786 (Pa.1962); vgl. auch Fletcher, Cyc.Corp. § 43.75. 260 United Paperworkers International Union v. Penntech Papers, Inc., 439 F.Supp. 610 (D.Me.1977), affirmed, 583 F.2d 33 (1st Cir.1978). 261 Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Kontext unverändert die enterprise entity theory von Berle, vgl. dessen Beitrag The Theory of Enterprise Entity, Colum.L.Rev. 47 (1947) 343–358; danach bezieht eine Gesellschaft ihre „Identität“ von dem ihr zugrundeliegenden Unternehmen (enterprise); handelt es sich um eine fehlerhafte oder vorgeschobene Gesellschaftsgründung, dann ist das Unternehmen das eigentliche Bezugsobjekt; vgl. zum Nachfolgenden ebenfalls Blumberg, Limited Liability and Corporate Groups, J.Corp.L. 11 (1986) 573–631, 577ff. sowie Hackney/Benson, Shareholder Liability for Inadequate Capital, U.Pitt.L.Rev. 43 (1982) 837–901, 845ff.; siehe aber die empirische Untersuchung von Thompson, Piercing the Corporate Veil: An Empirical Study, Cornell L.Rev. 76 (1991) 1036–1074, 1056 f., wonach der Durchgriff auf juristische Personen in nur 28 % der Fälle und auf natürliche Personen in 40 % der Fälle bejaht wurde. 262 Hamilton, The Law of Corporations (2000) 147f. und Posner, Economic Analysis of Law (2003) 425. 263 Brunswick Corp. v. Waxman, 459 F.Supp. 1222 (E.D.N.Y.1978), affirmed, 599 F.2d 34 (2d Cir.1979). Vgl. auch die sogenannte identity rule und die agency rule; alle drei Formeln besagen im Kern das gleiche und sind praktisch austauschbar, vgl. Weisser v. Mursam Shoe Corp., 127 F.2d 344 (1942); House of Koscot Development Corp. v. American Line Cosmetics, Inc., 468 F.2d 64, 67 (1972); ebenso Fletcher, Cyc.Corp. § 43.

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Gesellschaft 100 % der Anteile der anderen Gesellschaft hält oder dasselbe Management beide Gesellschaften leitet.264 Und selbst zusammengenommen reichen diese beiden Umstände nicht aus, um den Durchgriff zu rechtfertigen.265 Hinzutreten muss vielmehr ein Element des Missbrauchs der dominierten durch die dominierende Gesellschaft oder, wie es in Delaware heißt, die Gesellschaften müssen eine „single economic entity“ bilden.266 Hier lassen sich fünf Fallgruppen bilden: 267 (i) Die Geschäftsführungen beider Gesellschaften sind nicht hinreichend klar voneinander getrennt: Vermögen, Anstellungsverhältnisse, Konten, Buchhaltung oder Vertretungsverhältnisse werden vermischt.268 (ii) Hinsichtlich der inneren Verfassung beider Gesellschaften (Gesellschafterversammlungen, Versammlungen der Mitglieder des board of directors und so weiter) wird nicht deutlich getrennt. (iii) Die dominierte Gesellschaft ist mit Blick auf Art und Umfang des von ihr betriebenen Geschäfts unterkapitalisiert; die Gewinne fließen zur dominierenden Gesellschaft, während die Verluste bei der dominierten Gesellschaft verbleiben. (iv) Beide Gesellschaften vermitteln nach außen den Eindruck einer einheitlichen Gesellschaft, etwa indem die dominierte Gesellschaft als department, local office oder division der dominierenden Gesellschaft bezeichnet wird.269 (v) Die dominierte Gesellschaft verfolgt keine eigenen Geschäftsinteressen, sondern allein die Interessen der dominierenden Gesellschaft. Manche Gerichte sind noch einen Schritt weiter gegangen und haben den Durchgriff nur dann zugelassen, wenn darüber hinaus ein Fall von fraud or injustice (Betrug oder Ungerechtigkeit) erwiesen ist.270 Andere Gerichte haben 264 Freeman v. Complex Computing Co., Inc., 119 F.3d 1044 (2d Cir.1997); American Trading & Production Corp. v. Fischback & Moore, Inc., 311 F.Supp. 412 (N.D.Ill. 1970). 265 United States v. Jon-T Chemical, Inc., 786 F.2d 686 (5th Cir.1985). 266 Fletcher v. Atex, Inc., 68 F.3d 1451 (2d Cir.1995). 267 Vgl. Henn/Alexander, Laws of Corporations (1983) 355f.; eine detaillierte Liste unterschiedlicher Faktoren findet sich in Steven v. Roscoe Turner Aeronautical Corp., 324 F.2d 157 (7th Cir.1973) und in Milgo Electronic Corp. v. United Business Communications, 623 F.2d 645, 660 (10th Cir.1980); vgl. ebenso Allegheny Airlines, Inc. v. United States, 504 F.2d 104 (7th Cir.1974); Bernardin, Inc. v. Midland Oil Corp., 520 F.2d 771 (5th Cir.1975). 268 Bernardin, Inc. v. Midland Oil Corp., 520 F.2d 771 (7th Cir.1975); siehe auch die Leitentscheidung Fletcher v. Atex, Inc., 68 F.3d 1451 (2d Cir.1995); dort geht es um die Haftung von Tochterunternehmen für ihre Schwestern, wenn die Töchter aufgrund einer Vereinbarung (cash management plan) mit der Mutter verpflichtet sind, dieser regelmäßig die Gewinne zu überweisen. 269 Walsh v. Hotel Corp. of America, 231 A.2d 458 (Del.1967); N.L.R.B. v. Deena Artware, Inc. , 359 U.S. 983 (1960). 270 Edwards Co. v. Monogram Industries, Inc., 453 F.2d 991 (5th Cir.1984), reversing

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zwar die Trennung zwischen den beiden Gesellschaften respektiert, doch haben sie die Tochter als Vertreterin der Mutter behandelt, was wirtschaftlich zum gleichen Ergebnis führt wie die Durchgriffshaftung.271 Am Rande sei auf eine weitere Fallgruppe hingewiesen, die ebenfalls dem Problembereich der Durchgriffshaftung zugeordnet wird. Es geht um das prozessrechtliche Problem, ob die Zustellung der Ladung (service of process) an die im Gliedstaat des Forums ansässige Tochtergesellschaft gegenüber der auswärtigen Muttergesellschaft wirksam ist. Manche Gerichte erklären sich in dieser Situation für örtlich unzuständig, da auch eine enge faktische Verflechtung von Mutter und Tochter eine Gleichsetzung auf der Grundlage etwa der alter ego-Theorie nicht rechtfertige, solange es zu keiner vollständigen Dominierung der Tochtergesellschaft in sämtlichen Angelegenheiten der täglichen Geschäftsführung komme.272 Dieser Grundsatz ist nach Auffassung anderer Gerichte dann unanwendbar, wenn die Tochter de facto als bloße Unterabteilung (subdivision) der Mutter zu behandeln ist.273 Bisweilen wird diese Problematik auch einfach übersehen.274 Von Fällen der Durchgriffshaftung zu unterscheiden sind solche Fälle, in denen ein Mutterunternehmen direkt haftbar gemacht wird (direct liability). In der Leitentscheidung United States v. Bestfoods des US Supreme Court ging es um die Klage gegen eine Muttergesellschaft wegen Umweltverschmutzungen auf dem Fabrikgelände ihrer Tochtergesellschaft.275 Nach einer bundesrechtlichen Vorschrift ist eine Klage möglich gegen jeden, der eine solche umweltverschmutzende Anlage betreibt (operate).276 Der Supreme Court entschied, dass für das Tatbestandsmerkmal „operate“ weder maßgeblich noch ausreichend sei, wenn das Mutterunternehmen die Tochter kontrolliere und damit die Voraussetzungen für eine Durchgriffshaftung gegeben seien. Vielmehr ginge es hier um eine direkte Haftung der Muttergesellschaft, und für das Merkmal „operate“ sei erforderlich, dass die Mutter selbst als Betreiberin der konkreten Anlage anzusehen sei. Dies sei gegeben, wenn ein Repräsentant der Muttergesellschaft den Betrieb der Anlage konkret gestaltet und kontrolliert habe, und zwar hinausgehend über das,

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713 F.2d 139 (5th Cir.1983); Bernardin, Inc. v. Midland Oil Corp., 520 F.2d 771 (5th Cir.1975). Wyoming Construction Co. v. Western Casualty & Surety Co., 275 F.2d 97 (10th Cir.1960), certiorari denied, 362 U.S. 976 (1960); Van Pelt v. Paull, 150 N.W.2d 185 (Mich.Ct.App.1967). Quarles v. Fuqua Industries, Inc., 504 F.2d 1358 (10th Cir.1974). Grimandi v. Beech Aircraft Corp., 512 F.Supp. 764 (D.Kan.1981). So offensichtlich von der beklagten Volkswagenwerk AG in Schlunk v. Volkswagenwerk AG, 495 N.E.2d 1114 (Ill.App.Ct.1986), affirmed, 108 S.Ct. 2104 (1988). 524 U.S. 51, 118 S.Ct. 1876 (1998). Siehe § 107 des Comprehensive Environmental Response, Compensation, and Liability Act (CERCLA), 42 U.S.C. §§ 9601 ff.

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was man als übliche Aufsicht eines Mutterunternehmens über die Anlage eines Tochterunternehmens ansehe.

7. Steuer-, Insolvenz- und Kartellrecht Auch in steuer-, insolvenz- und kartellrechtlichem Kontext geht es beim piercing the corporate veil in erster Linie um Fälle von Gesetzesumgehung. Wegen der besonderen Bedeutung dieser Materien haben sich allerdings zum Teil spezielle Regeln entwickelt. a) Steuerrecht Aus steuerrechtlicher Sicht steht bei der Durchgriffsproblematik die Frage im Mittelpunkt, ob die Gesellschaft im Verhältnis zu den Gesellschaftern als eigenes Steuersubjekt zu betrachten ist. Auf bundessteuerrechtlicher Ebene gilt der so genannte business activity test.277 Danach ist zu prüfen, ob die corporation für einen eigenständigen Geschäftszweck (proper business purpose) oder lediglich aus steuerlichen Gründen errichtet oder betrieben wurde. Letztlich ist festzustellen, ob die Gesellschafter bona fides gehandelt haben.278 Zu beachten ist, dass dieser Test durchaus zu anderen Ergebnissen führen kann als etwa die soeben im Zusammenhang mit dem Durchgriff bei zusammengeschlossenen Unternehmen angesprochene instrumentality rule.279 Der US Supreme Court billigte den business activity test implizit in Higgins v. Smith.280 Danach braucht eine Gesellschaft, die allein aus dem Streben nach Steuerersparnis und ohne business purpose errichtet wurde (sham corporation), dann steuerrechtlich nicht anerkannt zu werden, wenn hierdurch dem gesetzgeberischen Ziel einer steuerrechtlichen Bestimmung am besten gedient ist.281 Andererseits kann sich ein Steuerzahler, der beschlossen hat, sein Gewerbe in Form einer corporation auszuüben, den daraus erwachsenden steuerlichen Verpflichtungen und Nachteilen nicht durch Berufung auf den business activity test entziehen.282 Aus dieser Rechtsprechung ergeben sich erhebliche Einschränkungen für die Zulässigkeit von Abschreibungsgesellschaften. 277 Moline Properties, Inc. v. Commissioner, 319 U.S. 436 (1943); Nelson v. Commissioner, 281 F.2d 1 (5th Cir.1960). 278 Henn/Alexander, Laws of Corporations (1983) 372. 279 Vgl. aber Valley Finance, Inc. v. United States, 629 F.2d 162 (D.C.Cir.1980); Roccaforte v. Commissioner, 77 T.C. 263 (1981). 280 308 U.S. 473 (1940). 281 Hierzu auch Moline Properties, Inc. v. Commissioner, 319 U.S. 436 (1943); Britt v. United States, 431 F.2d 227 (5th Cir.1970). 282 Taylor v. Commissioner, 445 F.2d 455 (1st Cir.1971); Coca-Cola Bottling Co. v. United States, 443 F.2d 1253 (10th Cir.1971).

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Der Internal Revenue Code (Bundessteuergesetzbuch) erlaubt, innerhalb mehrerer verbundener Gesellschaften Steuern und Freibeträge so zuzuordnen, dass Steuerhinterziehung (tax evasion) vermieden wird und die Besteuerung dem tatsächlichen Gewinn entspricht.283 Darüber hinaus enthält der Internal Revenue Code zahlreiche Ausnahmen vom Grundsatz der getrennten Besteuerung von Gesellschaft und Gesellschaftern, auf die hier allerdings schon aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden soll.284

b) Insolvenzrecht Im Insolvenzrecht (bankruptcy law) sind im Wesentlichen drei DurchgriffsFallgruppen zu unterscheiden: Zum einen geht es um die Frage, ob die Insolvenzgläubiger durch die insolvente Gesellschaft hindurch auf die solventen Gesellschafter zugreifen können. Da hier nach der Rechtsprechung die allgemeinen Grundsätze des Haftungsdurchgriffs gelten, kann insoweit auf die Ausführungen in den vorangehenden Unterabschnitten verwiesen werden. Zum zweiten geht es um die Fälle, in denen die Gesellschafter im Insolvenzverfahren Ansprüche gegen die Gesellschaft geltend machen. Hier ist zunächst fraglich, ob Ansprüche der Gesellschafter überhaupt Anerkennung verdienen. Werden sie anerkannt, dann ist ferner zu bestimmen, ob sie im Verhältnis zu den Ansprüchen Dritter gleichen oder nachgeordneten Rang erhalten sollen. Ob die Trennung zwischen Gesellschaftern und Gesellschaft und damit auch die Ansprüche ersterer gegen zweite Bestand haben sollen, entschied die Rechtsprechung bis in die dreißiger Jahre hinein anhand der bereits angesprochenen instrumentality rule.285 Dies war eine relativ unflexible Lösung. Denn die Ansprüche der Gesellschafter blieben entweder gänzlich unberücksichtigt, oder die Gesellschafter kamen in den vollen Genuss der Rechte von Außenstehenden. Der US Supreme Court bevorzugte in Taylor v. Standard Gas & Electric Company eine flexiblere Lösung.286 Der Entscheidung, die in Anlehnung an den Namen einer beteiligten Partei auch Deep Rock-Entscheidung genannt wird, lag folgender Fall zugrunde: Die Muttergesellschaft hielt sämtliche Stammaktien (common shares) der Tochter, während sich Vorzugsaktien (preferred shares) in Streubesitz befanden. Nachdem die Tochtergesellschaft zahlungsunfähig geworden war, machte die Muttergesellschaft Ansprüche aus Geschäften mit der Toch-

283 § 482 I.R.C.; Commissioner v. First Security Bank of Utah, N.A., 405 U.S. 394 (1972); Brittingham v. Commissioner, 598 F.2d 1375 (5th Cir.1979). 284 Vgl. dazu im Einzelnen Bittker/Eustice, Federal Income Taxation of Corporations and Shareholders (1996) § 1.05. 285 Henn/Alexander, Laws of Corporations (1983) 370. 286 306 U.S. 307 (1939).

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tergesellschaft in Höhe von mehreren Millionen Dollar klageweise geltend. Der Supreme Court gestattete der Muttergesellschaft, mit ihren Ansprüchen gegen die Tochtergesellschaft am Reorganisationsverfahren teilzunehmen. Allerdings wurden ihre vertraglichen Ansprüche den Ansprüchen der Vorzugsaktionäre im Rang nachgeordnet (equitable subordination). Der Supreme Court wendete dabei einen fairness test an, demzufolge eine Gleichbehandlung aller Ansprüche deshalb ausscheiden musste, weil die Muttergesellschaft die Tochtergesellschaft von Beginn an mit einer unzureichenden Kapitaldecke ausgestattet hatte und überdies die Tochter ausschließlich den Geschäftsinteressen der Mutter dienen sollte. Der Supreme Court ließ sich von der Überlegung leiten, dass derjenige, der im Zusammenhang mit der Geschäftsführung der zahlungsunfähigen Gesellschaft die Gebote geschäftlicher Fairness missachtet hat, hinter alle anderen Gläubiger zurücktreten müsse. Der Grundsatz bevorzugter Befriedigung gilt nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung im Verhältnis der Ansprüche Dritter zu sämtlichen Gesellschafteransprüchen, die in irgendeiner Weise als ungerechtfertigt (inequitable) eingestuft werden.287 In den meisten Fällen führt dieses Prinzip der equitable subordination freilich dazu, dass die betreffende Person leer ausgeht. Ansprüche, die in dieser Weise nachgeordnet sind, bezeichnet man seither auch als deep-rocked. In einer späteren Entscheidung dehnte der Supreme Court den Anwendungsbereich der deep rock doctrine auf Insolvenzen von Einpersonengesellschaften aus.288 In ungünstigen Fällen kann diese Lehre allerdings gerade dazu führen, dass die ungesicherten Gläubiger benachteiligt werden, so etwa in einem Fall, in dem die Pfandgläubiger der Aktionäre einer zahlungsunfähigen Tochtergesellschaft befriedigt werden konnten, während die ungesicherten Warengläubiger der Muttergesellschaft leer ausgingen.289 Neben der subordination steht dem Insolvenzgericht ein weiteres Mittel zu Gebote, um den Anspruch eines Gesellschafters gegen die zahlungsunfähige Gesellschaft im Insolvenzverfahren zu eliminieren. Es kann die zuvor vom Gesellschafter erbrachte Gegenleistung im Wege der reclassification kurzerhand zu einer Erhöhung der Einlage erklären. Dies bietet sich besonders dort an, wo die Gesellschaft von Anfang an unterkapitalisiert war.290 Abgelehnt wird die reclassification hingegen, wenn weder Unterkapitalisierung noch missbräuchliche Absicht der Gesellschafter im Spiel ist.291

287 In re Fett Roofing & Sheet Metal Co., Inc., 438 F.Supp. 726 (E.D.Va.1977), affirmed, 605 F.2d 1201 (4th Cir.1979). 288 Pepper v. Litton, 308 U.S. 295 (1939); ebenso Costello v. Fazio, 256 F.2d 903 (9th Cir.1958). 289 In re Commonwealth Light and Power Co., 141 F.2d 734 (7th Cir.1941). 290 Costello v. Fazio, 256 F.2d 903 (9th Cir.1958). 291 In re Mader’s Store for Men, Inc., 254 N.W.2d 171 (Wis.1977).

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Die ganze Fülle der Entscheidungsfreiheit des Insolvenzrichters hinsichtlich der Behandlung der Ansprüche von Gesellschaftern wird in § 510 (c) (1) des Bankruptcy Act von 1978 deutlich, wonach „… after notice and hearing the court may … under principles of equitable subordination, subordinate for purposes of distribution all or part of an allowed claim, to all or part of another allowed claim or all or part of an allowed interest to all or part of another allowed interest …“ 292.

In den Gesetzgebungsmaterialien wird klargestellt, dass mit dieser Regelung lediglich das geltende Fallrecht kodifiziert werden soll.293 In der dritten insolvenzrechtlichen Durchgriffs-Fallgruppe geht es um den Durchgriff bei der Insolvenz der Muttergesellschaft. Hier kann zwar das Vermögen der Tochtergesellschaft im Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren der Muttergesellschaft der Insolvenzverwaltung unterstellt werden, doch dürfen die Rechte der Gläubiger der Tochter nicht beeinträchtigt werden. Üblicherweise wird zugunsten der Gläubiger der Tochtergesellschaft ein Fonds eingerichtet, aus dem die Ansprüche befriedigt werden.294 Fallen hingegen sowohl Mutter- als auch Tochtergesellschaft gleichzeitig in Insolvenz, so wird zwar in aller Regel die formelle Trennung zwischen beiden Gesellschaften aufrecht erhalten, doch kommt es bisweilen zur Bildung eines gemeinsamen Fonds aus dem Vermögen beider Gesellschaften; aus diesem Fonds werden dann die Ansprüche aller Gläubiger befriedigt, wobei die Reihenfolge nach equity-Gesichtspunkten bestimmt wird.295

c) Kartellrecht Auch im Kartellrecht (antitrust law) gelten zum Teil besondere Regeln für den Zurechnungsdurchgriff im Fall der Gesetzesumgehung. So werden verbundene Unternehmen als Einheit behandelt, wenn sie als getrennte Gesellschaften nur betrieben werden, um kartellrechtliche Bestimmungen zu umgehen. Entscheidend ist vor allem, ob die Gesellschaften einer einheitlichen Kontrolle unterstehen und echter oder bloß scheinbarer Wettbewerb unter ihnen besteht.296

292 11 U.S.C. § 510 (c) (1). 293 H.R.Rep. 595 (95th Cong.1st Sess.) 359. 294 Commerce Trust Co. v. Woodbury, 77 F.2d 478 (8th Cir.1935), certiorari denied, 296 U.S. 614 (1935); Matter of Gibraltar Amusements, Ltd., 291 F.2d 22 (2d Cir.1961), certiorari denied, 368 U.S. 925 (1961). 295 Stone v. Eacho, 127 F.2d 284 (4th Cir.1942), certiorari denied, 317 U.S. 635 (1942). 296 Hunt-Wesson Foods, Inc. v. Ragu Foods, Inc., 627 F.2d 919 (9th Cir.1980); Timken Roller Bearing Co. v. United States, 341 U.S. 593 (1951); Little v. United States, 331 F.2d 287 (1964); Tugboat Co. v. Shipowners & Merchants Towboat Co., Ltd., 467 F.Supp. 841 (N.D.Cal.1979).

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8. Rechtspolitische Diskussion Der Haftungsdurchgriff und die grundsätzlichere Frage nach der ökonomischen Funktion der begrenzten Gesellschafterhaftung waren in jüngerer Vergangenheit Gegenstand einer lebhaften rechtspolitischen Debatte. Vertreter der neoklassischen Lehre sehen im Durchgriff auf die Gesellschafter vor allem einen Störfaktor. Das Risiko der persönlichen Haftung wirke nur bei oberflächlicher Betrachtung positiv, das heißt effizienzsteigernd. Bei genauerem Hinsehen werde erkennbar, dass sich das erhöhte Risiko aus der Sicht der Investoren in Gestalt zusätzlicher Kosten niederschlage und kontraproduktiv wirke. Grundsätzlich ist danach die Errichtung haftungsrechtlich getrennter Einheiten, etwa im Rahmen eines Systems verbundener Unternehmen, das Ergebnis einer ökonomisch sinnvollen Externalisierung eines Teils der Kosten, die sich aus dem Betrieb des jeweiligen Unternehmens ergeben. Jede Internalisierung dieser Kosten sei demgegenüber mit deutlichen – wenn auch je Fall unterschiedlichen – Nachteilen verbunden. Daraus wird gefolgert, die bloße Bildung haftungsrechtlich getrennter Einheiten rechtfertige auch bei enger organisatorischer Verflechtung der Einheiten keinen Durchgriff. So sei es insbesondere widersinnig, ein zulieferndes und ein beliefertes Unternehmen mit dem Risiko des Durchgriffs zu belasten, wenn sie sich verbunden haben, um Transaktionskosten zu senken. Denn die Verringerung der Kosten sei ökonomisch wünschenswert und müsse vernünftigerweise prämiert, nicht bestraft werden. Gerechtfertigt sei der Durchgriff hingegen dann, wenn gegenüber einem Dritten in unredlicher Weise vorgetäuscht werde, das Haftungssubjekt umfasse mehrere Einheiten, obgleich tatsächlich nur eine Einheit haftbar sei (Fall der misrepresentation). Dies sei nach entsprechenden Beobachtungen sehr viel häufiger der Fall, wenn die verbundenen Gesellschaften im gleichen Bereich tätig seien (related businesses).297

297 Posner, The Rights of Creditors of Affiliated Corporations, U.Chi.L.Rev. 43 (1976) 499–526 und dazu Landers, Another Word on Parents, Subsidiaries, and Affiliates in Bankruptcy, U.Chi.L.Rev. 43 (1976) 527–540; Posner, Economic Analysis of Law (2003) 423–426; vgl. auch Easterbrook/Fischel, Limited Liability and the Corporation, U.Chi.L.Rev. 52 (1985) 89–117; dies., The Economic Structure of Corporate Law (1991) 41–44, die sechs Kriterien nennen, die aus ökonomischer Sicht für eine begrenzte Haftung streiten; kritisch zu diesen Kriterien Presser, Thwarting the Killing of the Corporation: Limited Liability, Democracy, and Economics, Nw.U.L.Rev. 87 (1992) 148–179, 155f.; ebenfalls für die Abschaffung des Durchgriffs Bainbridge, Abolishing Veil Piercing, J.Corp.L. 26 (2001) 479–535; zumindest für den Bereich des Deliktsrechts Hansmann/Kraakman, Towards Unlimited Shareholder Liability for Corporate Torts, Yale L.J. 100 (1991) 1879–1934, die stattdessen eine pro rata-Haftung der Gesellschafter vorschlagen; kritisch dagegen Grundfest, The Limited Future of Unlimited Liability: A Capital Markets Perspective, Yale L.J. 102 (1992) 387–424, der argumentiert, Investoren würden Wege schaffen, um eine mögliche pro rata-Haftung auszuweiten; ebenso kritisch

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Dieser neoklassischen Analyse wird von anderer Seite entgegengesetzt, die Untergliederung einer wirtschaftlichen Gesamteinheit in verschiedene Gesellschaften werde in der Praxis allein deswegen vorgenommen, um Gewinne zu maximieren. Die untergliederte Struktur erhöhe den Gesamtertrag des Unternehmens. Für die Gesellschafter spiele es freilich keine Rolle, welche der unterschiedlichen Gesellschaften den Ertrag erwirtschafte und welche Gesellschaften mit hohen Passiva belastet seien. Denn das Vermischen und Verschieben von Aktiva und Passiva mache für sie im Ergebnis keinen Unterschied. Daher müsse den Gläubigern der einzelnen Gesellschaften die Möglichkeit eröffnet werden, auf das Gesamtvermögen und den Gesamtgewinn des Zusammenschlusses zuzugreifen. Die neoklassische Lehre, die orientiert sei am Gedanken der Zustimmung des Gläubigers zur Beschränkung der Haftung auf die jeweilige Einzelgesellschaft, führe insbesondere bei deliktischen Ansprüchen zu untragbaren Ergebnissen.298 Als weiterer Aspekt des Haftungsdurchgriffs wird die Frage diskutiert, inwieweit die Beachtung gesetzlicher Ge- und Verbote von der konkreten Ausgestaltung der Durchgriffstatbestände berührt wird. Grundsätzlich kollidiert die beschränkte Gesellschafterhaftung mit dem Schadensersatzrecht und sämtlichen Vorschriften, deren Einhaltung mit Geldstrafe bewehrt ist. Denn jenseits des Haftungskapitals bleibt das inkriminierte Verhalten für Gesellschaft und Gesellschafter de facto sanktionslos. Dieses Problem stellt sich mit zunehmender Schärfe im Bereich der Produktion und Bearbeitung gefährlicher Güter. Hier ist die Neigung zur Externalisierung der Haftungsrisiken aus nahe liegenden Gründen besonders groß. Man überlässt das dirty business einer eigens errichteten und mit knapper Kapitaldecke versehenen Gesellschaft oder aber so genannten independent suppliers, die mit dem Hauptunternehmen nicht durch eine Kapitalbeteiligung, sondern allein durch einen Darlehens- und einen Generalabnahmevertrag (output contract) verbunden sind. Hierdurch vermeidet man die haftungsrechtliche Verantwortung, die herkömmlicherweise das Verhältnis von Mutter- und Tochtergesellschaft kennzeichnet. Zur Lösung dieses Dilemmas wird vorgeschlagen, die Gesellschafter sollten entsprechende Ansprüche immer

Alexander, Unlimited Shareholder Liability Through a Procedural Lens, Harv. L.Rev. 106 (1992) 387–445, der ein prozessuales Problem darin erblickt, wie ein einzelstaatliches Gericht personal jurisdiction für shareholders erhalten soll, die geographisch weit verstreut sind. 298 Landers, A Unified Approach to Parent, Subsidiary, and Affiliate Questions in Bankruptcy, U.Chi.L.Rev. 42 (1975) 589–652, 620 ff.; ders., Another Word on Parents, Subsidiaries and Affiliates in Bankruptcy, U.Chi.L.Rev. 43 (1976) 527–540; siehe auch Presser, Thwarting the Killing of the Corporation: Limited Liability, Democracy, and Economics, Nw.U.L.Rev. 87 (1992) 148–179, 160f.; zum Deliktsrecht siehe Hansmann/Kraakman, Towards Unlimited Shareholder Liability for Corporate Torts, Yale L.J. 100 (1991) 1879–1934, dagegen Leebron, Limited Liability, Tort Victims, and Creditors, Col.L.Rev. 91 (1991) 1565–1650.

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dann persönlich begleichen, wenn die Gesellschaft selbst ihre Verpflichtungen nicht erfüllen kann. Allerdings sollen die Gesellschafter anders als beim klassischen Haftungsdurchgriff nicht wie die partner einer general partnership, das heißt gesamtschuldnerisch, haften. Sie sollen vielmehr als Bürgen haften, das heißt jeder Gesellschafter haftet für den nicht gedeckten Betrag nur in Höhe seiner prozentualen Beteiligung an der Gesellschaft.299 Diskutiert wird schließlich, ob es Alternativen zum überkommenen System der vermittels der Durchgriffshaftung „aufgelockerten“ beschränkten Gesellschafterhaftung gibt. Im Mittelpunkt steht der Vorschlag einer Kombination von unbeschränkter Haftung und Versicherung. Der wesentliche Unterschied zwischen diesem Modell und dem traditionellen System der beschränkten Gesellschafterhaftung besteht in den Kosten des Schutzes vor dem Haftungsrisiko. Traditionellerweise ist dieser Schutz kostenlos, wenn man von den Kosten der Inkorporation absieht. Beim Versicherungsmodell hat dieser Schutz einen Marktpreis. Dieser Preis würde sich vor allem danach richten, wie gut es den Gesellschaftern oder dem Management gelingt, durch entsprechende Vorkehrungen den Eintritt des Versicherungsfalls zu verhindern. Anders formuliert: Je häufiger die Versicherung zu zahlen hätte, umso höher läge die Versicherungsprämie. Mithin würde das Versicherungsmodell einen Anreiz schaffen, das Haftungsrisiko zu verringern, während ein solcher Anreiz beim herkömmlichen System der beschränkten Haftung fehlt.300 Freilich wird von anderer Seite auf verschiedene technische Probleme hingewiesen, die mit dem Versicherungsmodell zwangsläufig verbunden sind.301 Und es fragt sich natürlich auch, ob beim gegenwärtigen System nicht bereits vom (Fremd-)Kapitalmarkt der gleiche Anreiz ausgeht, den der Markt für Versicherungspolicen beim Versicherungsmodell ausüben soll. Zweifel am Versicherungsmodell ergeben sich auch daraus, dass der Markt zwar zu einer Reaktion, nicht jedoch zu Prävention fähig ist. Ebenso wenig sollte übersehen werden, dass das Versicherungsmodell dort versagt, wo überdurchschnittliches Verhalten prämiert und unterdurchschnittliches Verhalten unterbunden werden soll. Erforderlich wäre also zumindest eine Flexibilisierung oder Individualisierung, etwa durch gestaffelte Versicherungsklassen. Ob das Versicherungsmodell dem überkommenen System beschränkter Haftung (mit den bekannten Korrekturen durch den Haftungsdurchgriff) tatsächlich vorzuziehen ist, bleibt gegenwärtig ungewiss.

299 Stone, The Place of Enterprise Liability in the Control of Corporate Conduct, Yale L.J. 90 (1980) 1–77, 68ff. 300 Halpern/Trebilcock/Turnbull, An Economic Analysis of Limited Liability in Corporation Law, U.Toronto L.J. 30 (1980) 117–150, 145f. 301 Posner, Economic Analysis of Law (2003) 424.

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VII. Vergleichende Schlussbetrachtung 1. Festzuhalten ist zunächst, dass der Haftungsdurchgriff als Reaktion auf bestimmte „kranke“ Fälle, in denen die Gesellschaft illiquide ist, in allen hier behandelten Gesellschaftsrechtsordnungen als Rechtsfigur bekannt und etabliert ist, und zwar unabhängig davon, ob ein festes Grundkapital vorgeschrieben ist. Allerdings variierte die theoretische wie praktische Bedeutung des Haftungsdurchgriffs von Land zu Land deutlich. Gering ist die Bedeutung des Haftungsdurchgriffs zunächst in Deutschland, das traditionell über ein ausdifferenziertes Arsenal sonstiger Instrumente des gesellschafts-, konzern-, insolvenz- und deliktsrechtlichen Gläubigerschutzes verfügt. Auch dem französischen Recht ist eine ausgeprägte Rechtsprechung zur Durchgriffshaftung oder etwa zu einem existenzvernichtenden Eingriff durch die Gesellschafter eher fremd, weil die Gläubiger in Frankreich bereits relativ wirkungsvoll durch eine besondere insolvenzrechtlich ausgestaltete Ausfallhaftung in Gestalt der action en comblement de passif (Verlustdeckungshaftung für Passiva) geschützt werden, die ähnliche Fallgruppen wie die deutsche Durchgriffsproblematik behandelt und zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. Im spanischen Recht wiederum ist der Durchgriff seit etwa zwei Jahrzehnten anerkannt und von der Rechtsprechung durchaus praktiziert. Während der Durchgriff im englischen Recht nur sehr schwach ausgeprägt ist, spielt er im US-amerikanischen Gesellschaftsrecht eine sehr bedeutende Rolle, die sich in einer überaus regen Judikatur mit alljährlich vielen hundert Entscheidungen niederschlägt. In der Zusammenschau lässt sich allerdings eine negative Korrelation zwischen festem Grundkapital und Durchgriffshaftung nicht recht belegen. 2. Das rechtspolitische Motiv hinter der Durchgriffshaftung in den hier untersuchten Rechtsordnungen ist – bei allen Unterschieden im Detail – der Gedanke der Verhinderung bzw. Sanktionierung des Missbrauchs der Verwendung einer haftungsprivilegierten Gesellschaftsform. Umgekehrt scheidet ein Haftungsdurchgriff dann, wenn keinerlei Indizien für einen entsprechenden Missbrauch zu erkennen sind, in der weit überwiegenden Zahl der Fälle aus. Noch weiter geht die spanische Rechtsprechung, die positiv den schwierigen Nachweis der Missbrauchsabsicht verlangt. Für Deutschland, Spanien und England gemeinsam gilt ferner, dass die Durchgriffshaftung prinzipiell nur subsidiär und sozusagen als „letztes Mittel“ zur Anwendung gelangt. Dies ergibt sich bereits aus dem Ausnahmecharakter der Durchgriffshaftung. 3. Typischerweise handelt es sich bei der Durchgriffshaftung um ein richterrechtliches Instrument. Daran ändert nichts, dass man etwa in der deutschen Diskussion für die positivrechtliche Begründung verschiedentlich auf die Nähe zur deliktsrechtlichen Bestimmung des § 826 BGB verweist oder dass etwa der englische Gesetzgeber einzelne Fälle der Durchgriffshaftung im Steuerrecht und im Insolvenzrecht gesetzlich geregelt hat.

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4. Aus der richterrechtlichen Herkunft der Durchgriffshaftung folgt sodann, dass die hier behandelten Rechtsordnungen durchgängig bestimmte Fallgruppen herausgearbeitet haben, in denen es typischerweise zur Durchgriffshaftung kommen kann. Hingegen gibt es kaum allgemein bzw. abstrakt formulierte Tatbestände der Durchgriffshaftung. Andererseits bietet die reichhaltige US-amerikanische Rechtsprechung zur Durchgriffshaftung der Kautelarpraxis deutlich mehr Orientierung als etwa die deutsche oder französische Judikatur. 5. Gewisse Übereinstimmungen lassen sich sodann bei den Fallgruppen feststellen: In allen hier behandelten Rechtsordnungen bildet zunächst der Rechtsformenmissbrauch eine größere Fallgruppe. Dabei lassen sich zwei Spielarten unterscheiden, nämlich einerseits die Fälle der Scheingesellschaft, der wirtschaftlichen Einheit oder des „Alter Ego“, und andererseits die Fälle der Gesetzes-, Vertrags- oder Haftungsumgehung. Sodann spielen die Fallgruppen der Vermögensvermischung, der Vermögensverschiebung und der Unterkapitalisierung eine gewisse Rolle. Während in Frankreich die Fallgruppe der Geschäftsführungsfehler hinzutritt, kommt in den USA die Fallgruppe der Verfahrensfehler hinzu, vor allem in Gestalt der Verletzung von Gründungsvorschriften. 6. Anspruchsgegner des Haftungsdurchgriffs ist mehrheitlich der Gesellschafter, sofern er Einfluss auf die Geschäftsführung hat. Hingegen richtet sich die französische action en comblement de passif gegen den (faktischen) Geschäftsführer. 7. In subjektiver Hinsicht verlangt der Haftungsdurchgriff regelmäßig schuldhaftes Verhalten. Das spanische Recht verlangt darüber hinaus Schädigungsabsicht, während hingegen für die Haftung aus faute de gestion bereits leichte Fahrlässigkeit genügt. 8. Konstruiert ist der Anspruch aus dem Haftungsdurchgriff durchgängig als Anspruch direkt gegen den Gesellschafter, nicht hingegen als Anspruch nur gegen die Gesellschaft, um ihr auf diesem Wege Liquidität zu verschaffen.

Haftung der Geschäftsleiter in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union

von Professor Dr. Tim Drygala, Leipzig

Inhaltsübersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Allgemeine Sorgfaltspflicht und Gläubigerschutz . . . . . . . . . . . 1. Wen schützt die Sorgfaltspflicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sorgfaltshaftung als Element des Gläubigerschutzes . . . . . . . 3. Auswirkungen der Sorgfaltshaftung auf den Binnenmarkt . . . . III. Bedeutung der Geschäftsleiterhaftung für den Gläubigerschutz . . . 1. Inhaltliche Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Person des Anspruchsberechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausschluss von Verzicht, Vergleich und Haftungsbefreiung durch Entlastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Länderberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Französisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beitrag der Organhaftung zum Gläubigerschutz . . . . . . . . . 2. Organhaftung als Kompensation bei Abbau des Kapitalschutzes? VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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284 285 285 287 289 290 291 292 294 294 296 298 298 299 . 300

I. Einleitung Es verwundert auf den ersten Blick, dass das Thema einer Haftung der Geschäftsleiter auf der Tagesordnung einer Arbeitsgruppe steht, die sich mit der Aufbringung und Erhaltung des Stammkapitals sowie einer Liberalisierung der

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dazu bestehenden Vorschriften beschäftigt. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den beiden Themen ist dabei sicherlich dort gegeben, wo eine Haftung des Geschäftsleiters daraus resultiert, dass er gegen Vorschriften verstößt, die gerade der Aufbringung und Erhaltung des Kapitals dienen; Beispiele wären im deutschen Recht Verstöße gegen §§ 9 f.; 57 f., 71ff. AktG. Auch die Haftung der Geschäftsleiter wegen Insolvenzverschleppung lässt sich in diesem Zusammenhang einordnen 1, jedenfalls wenn man in dem Verbot der Insolvenzverschleppung ein Instrument sieht, das verhindern soll, dass insbesondere eine überschuldete Gesellschaft weiterhin am Markt tätig sein kann 2. In Fällen dieser Art ist der Zusammenhang zwischen dem Kapitalschutz und der Geschäftsleiterhaftung sicherlich gegeben. Schwieriger ist es, wenn man sich den allgemeinen Sorgfaltspflichten der Geschäftsleiter zuwendet, wie sie etwa im deutschen Recht in den §§ 43 GmbHG, 93 I AktG niedergelegt sind. Ein unmittelbarer Zusammenhang mit der Frage des Kapitals besteht insofern nur, als die genannten Vorschriften es dem Geschäftsleiter sicherlich verbieten, an gesetzwidrigen Handlungen mitzuwirken, und gesetzwidrig sind sicherlich auch alle Handlungen, die gegen den Grundsatz der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung verstoßen, auch soweit diese nicht bereits durch besondere Haftungsnormen sanktioniert sind. Es besteht aber auch ein mittelbarer, darüber hinaus gehender Zusammenhang, der sich verdeutlicht, wenn man überlegt, dass die Grundsätze der Kapitalaufbringung und der Kapitalerhaltung gerade und vor allem dem Schutz der Gläubiger dienen. Stellt man die Problematik in den größeren Zusammenhang des Gläubigerschutzes, wird auch die Frage nach der Bedeutung der Geschäftsleiterhaftung für die hier erörterte Kapitalproblematik deutlich. Diesem Gedanken soll hier weiter nachgegangen werden.

II. Allgemeine Sorgfaltspflicht und Gläubigerschutz 1. Wen schützt die Sorgfaltspflicht? Bevor man dem genannten Zusammenhang näher nachgehen kann, muss man sich allerdings fragen, ob die allgemeine Sorgfaltspflicht der Geschäftsleiter und eine darauf bezogene Haftung überhaupt einen Bezug zum Gläubigerschutz aufweist. Dieser Zusammenhang ist rechtlich eher undeutlich ausgeprägt. Denn Grund für die Existenz der Vorschriften, die den Geschäftsleiter auf die Einhaltung von Sorgfaltsmaßstäben bei der Leitung der Gesellschaft verpflichten, ist be-

1 So jedenfalls § 93 III Nr. 6 AktG, der diesen Fall ausdrücklich nennt. 2 BGHZ 126, 181, 192ff., str. abl. etwa Hüffer, AktG, 5. Aufl., § 92, Rdn. 19.

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kanntlich das so genannte Principal-Agent-Problem 3: Danach besteht bei der Delegation der Leitungsaufgaben auf angestellte Manager anstelle der wirtschaftlichen Eigentümer des Unternehmens die Gefahr, dass die angestellten Leitungsorgane aus verschiedenen, hier nicht näher zu erörternden Gründen nicht durchgängig die Interessen der Eigentümer wahren, sondern stattdessen eigene, davon divergierende Interessen verfolgen 4. Daraus können sich Gefährdungen für das von den Eigentümern eingebrachte und dem geschäftlichen Zweck gewidmete Vermögen ergeben. Bei der Sorgfaltshaftung handelt es sich folglich um einen Steuerungsmechanismus, der derartige Gefahren von den wirtschaftlichen Inhabern der Unternehmung abwehren soll. Dann aber stellt sich die Frage, ob nicht sie, die Eigentümer, bzw. die anstellende Gesellschaft als ein zentraler Punkt, in dem die Eigentümerinteressen zusammenlaufen, als der Schutzadressat der Sorgfaltshaftung anzusehen sind. Für eine solche Betrachtung könnte auch sprechen, dass, wie noch näher auszuführen sein wird, der Inhaber der Ansprüche aus einer Verletzung der allgemeinen Sorgfaltshaftung in den meisten Mitgliedsstaaten der EG die Gesellschaft selber ist 5. Direktansprüche der Gläubiger, die auf eine Verletzung der allgemeinen Sorgfaltshaftung gestützt werden, sind hingegen eher die Ausnahme und sind dort, wo sie zugelassen sind, häufig an einschränkende Voraussetzungen geknüpft. Auch das spricht sicherlich dafür, Gesellschaft und Aktionäre, nicht aber die Gläubiger als von der allgemeinen Sorgfaltshaftung geschützt anzusehen. Wendet man sich an Stelle der rein rechtlichen Betrachtungsweise jedoch einer mehr wirtschaftlichen Betrachtung zu, ändert sich das Bild deutlich. Denn die Risiken, die die Gläubiger bei einem Vertragsschluss mit einer beschränkt haftenden Gesellschaft eingehen, werden sicherlich von der Höhe des eingebrachten Kapitals und von dessen Sicherung gegen einen Rückfluss an die Gesellschafter bestimmt. Auf längere Sicht mindestens ebenso entscheidend ist aber für den Gläubiger, ob die Gesellschaft mit dem eingebrachten Kapital rentabel wirtschaftet oder nicht. Denn alle Kapitalschutzvorschriften sichern den Gläubigern nur gegen einen Rückfluss des Kapitals an die Gesellschafter, nicht aber eine Auszehrung des Kapitals durch geschäftliche Verluste 6. Daher kann die Zusage eines bestimmten Haftkapitals, wie in der Literatur auch inzwischen deutlich hervor gehoben wird, nur einen punktuellen und zeitlich begrenzten Schutz des Gläubi-

3 Grossman/Hart, An Analysis of the Principal Agent Problem, Ecometria 51, 1983, 17 ff.; Arrow in Pratt/Zeckhauser (ed.), Principals and Agents: The Structure of Business, 1995, 37 ff. 4 Näher Clark, Corporate Law, 1986, 276 ff.; Eckert/Grechenig/Stremitzer in Kalss (Hrsg.), Vorstandshaftung in 15 europäischen Ländern, 2005, 111ff. 5 Siehe unten IV. 6 Davies, AG 1998, 346, 349; Kübler, Aktie, Unternehmensfinanzierung und Kapitalmarkt, 1989, 31; Enriques/Macey, 86 Cornell Law Review (2000/2001), 1165, 1174.

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gers bewirken, nämlich dahin, dass das aufzubringende Kapital im Moment der Aufbringung und noch eine gewisse, aber relativ kurze Zeit danach unverbraucht zur Verfügung steht und nicht an die Gesellschafter zurückgewährt wird 7. Nach Ende dieses verhältnismäßig überschaubaren Zeitraums können jedoch geschäftliche Verluste eintreten, gegen die den Gläubiger niemand schützt. Von daher ist es für den Gläubiger von allerhöchster Bedeutung, ob die Geschäftsleitung von den eingebrachten Mitteln einen wirtschaftlich sinnvollen Gebrauch macht und bei den anstehenden Investitionsentscheidungen mit der gebotenen beruflichen Sorgfalt vorgeht und schließlich illoyale und das Gesellschaftsinteresse schädigende Handlungen unterlässt. Deshalb kommt der allgemeinen Sorgfaltshaftung, die ein eben solches Verhalten von den Geschäftsleitern verlangt, in wirtschaftlicher Hinsicht durchaus gläubigerschützende Wirkung zu. Hinzuweisen ist ferner in diesem Zusammenhang auch darauf, dass nach statistischen Erhebungen Gesellschaften mit beschränkter Haftung ebenso häufig wie am Kapitalmangel an Managementfehlern scheitern 8. Dies trifft auch und insbesondere in Sanierungssituationen zu. Eine Gesellschaft, die dauerhaft mit Verlust arbeitet, kann nur bedingt bzw. für eine bestimmte Zeit dadurch saniert werden, dass die Gesellschafter ihr neues Kapital zuführen. Wenn nicht gleichzeitig von Seiten der Geschäftsführung Maßnahmen zur Beendigung der geschäftlichen Verluste getroffen werden, ist abzusehen, wann die neu aufgebrachten Mittel erneut verbraucht sein werden. Insofern ist nichts gefährlicher für die Gläubiger als eine Gesellschaft ohne dauerhaft funktionierendes Geschäftsmodell. Dies haben die Zusammenbrüche der Unternehmen am neuen Markt deutlich gezeigt. Selbst Emissionserlöse in dreistelliger Millionenhöhe waren hier innerhalb relativ kurzer Zeit verwirtschaftet, weil sich das zugrunde liegende Geschäftsmodell nicht als tragfähig erwies.

2. Sorgfaltshaftung als Element des Gläubigerschutzes Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist es durchaus möglich, die Verpflichtung der Geschäftsleiter auf eine sorgfältige und loyale Ausübung ihrer Amtspflichten nicht nur als eine Schutzmaßnahme zugunsten der Gesellschaft und der Gesellschafter als Eigentümer des Unternehmens, sondern auch als einen Teil des Gläubigerschutzes zu verstehen 9, der sich dann als ein Gesamtsystem aus mehreren Elementen zusammensetzt. In einer solchen Gesamtbetrachtung wird

7 Eidenmüller in FS Heldrich, 2005, 581, 595; Grunewald/Noack, GmbHR 2005, 189f.; Westermann, GmbHR 2005, 1849, 1851. 8 Vgl. etwa Justus Meyer, GmbHR 2002, 242 ff. und GmbHR 2004, 1417, 1426. 9 So auch Wiedemann, GesR I, 1980, S. 540f.

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der Gläubigerschutz als das Regelungsziel von mehreren Säulen getragen 10, die sich zum einen aus dem gesetzlichen Kapitalschutz, zum anderen aus der Haftung des Geschäftsführers und zum Dritten aus einer ausnahmsweisen Haftung der Gesellschafter, z. B. im Wege des Haftungsdurchgriffs, zusammensetzen. Ergänzen muss man dieses Modell jedoch noch um eine vierte Säule, nämlich den vertraglichen Selbstschutz, nachdem sich im Anschluss an rechtsökonomische Überlegungen die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass vertragliche Gläubiger zumindest zum Teil in der Lage sind, ihre Interessen durch vertragliche Absprachen zu schützen 11. Derartige Sicherungsabreden bilden folglich die vierte Säule, die das Gesamtsystem Gläubigerschutz ausmachen. Rechtsvergleichend ist festzustellen, dass diese vier Säulen in allen Rechtsordnungen der EU anzutreffen sind. Eine Regelung über das Kapital und seinen Schutz ergibt sich in allen Mitgliedsstaaten aufgrund der zweiten Richtlinie; auch die Haftung des Geschäftsführers für eine sorgfältige und loyale Ausübung seiner Amtspflichten ist in allen Mitgliedsstaaten anerkannt 12. Alle Mitgliedsstaaten behalten sich ferner das Recht vor, in bestimmten Einzelfällen den Grundsatz der beschränkten Haftung zu durchbrechen und eine Inanspruchnahme der Gesellschafter zuzulassen. Und schließlich ist auch in allen Mitgliedsstaaten die Möglichkeit vertraglicher Gläubiger anerkannt, durch Absprachen mit der Gesellschaft und/oder die Einräumung von Sicherheiten im Vermögen der Gesellschaft zu einer besonderen Sicherung ihrer Ansprüche zu kommen; dies ergibt sich ohne weiteres aus dem Grundsatz der Privatautonomie.

3. Auswirkungen der Sorgfaltshaftung auf den Binnenmarkt Die Ausgestaltung der Sorgfaltshaftung der Organe ist aus europäischer Sicht von Interesse, weil sie den Markt für Führungskräfte in Europa beeinflusst und Auswirkungen auf die Corporate Governance hat. So kann eine übermäßig strenge Regelung in einem Mitgliedstaat dazu führen, dass der betreffende Staat für Manager aus einem anderen Mitgliedsstaat als Ort der Tätigkeit unattraktiv wird, weil ihnen das persönliche Haftungsrisiko übermächtig erscheint und im Falle seiner Verwirklichung die wirtschaftliche Existenz des Managers bedroht 13.

10 Im Ansatz wie hier Altmeppen, ZiP 2002, 1578, der aber den vertraglichen Selbstschutz der Gläubiger zu Unrecht aus der Betrachtung ausblendet. 11 Kübler, aaO. (Fn. 6), 32; Enriques/Macey, aaO. (Fn. 6), 1188ff.; Merkt, AG 2003, 126, 129. 12 Siehe unten IV. 13 Djehane in Zeitschrift für schweizerisches Recht (ZSR) 124 (2005), 523, 527; Dupichot in Kreuzer (Hrsg.), Die Haftung der Leitungsorgane von Kapitalgesellschaften, S. 173.

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Damit wird der Markt für Führungskräfte in dem betreffenden Land verengt. Zugleich wird durch eine übermäßig strenge Regelung die Corporate Governance negativ beeinflusst, weil die von der Haftung bedrohten Manager zu einem defensiven Leitungsverhalten neigen und deswegen sich bietende Geschäftschancen möglicherweise nicht voll ausschöpfen werden 14. Und schließlich verteuert eine übermäßig strenge Haftung die Führung der Gesellschaften, weil die betroffenen Manager auf den Abschluss einer D& O-Versicherung drängen werden 15. Angesichts der Tatsache, dass der angestellte Manager mit den möglichen Haftungssummen meist wirtschaftlich überfordert ist, kann die Gesellschaft ein solches Ansinnen kaum ablehnen. Im Zweifel wird sie auch die Kosten einer solchen Versicherung tragen, und diese Kosten werden umso höher steigen, je leichter es für Gläubiger ist, ein Organ erfolgreich in Anspruch zu nehmen. Damit besteht in einem übermäßig strengen Haftungsregime die Gefahr, dass die Gesellschaft den Schutz der Gläubiger finanzieren muss, während diese von der Notwendigkeit zu eigener Vorsorge entlastet werden. Auf der anderen Seite ist ein schwach ausgeprägtes System persönlicher Haftung des Managements zwar für die Manager selbst attraktiv und kann im Wettbewerb der Rechtsordnungen einen Standortvorteil für die Rechtsordnung darstellen, die ein solches liberales System anbietet 16. Jedoch verliert dann die Haftung einen erheblichen Teil ihrer Präventionswirkung, die sie unter normalen Umständen auf das Management dahingehend ausübt, die abstrakt formulierten Pflichten zu sorgfältiger und loyaler Amtsführung auch wirklich ernst zu nehmen. Es erscheint als fraglich, ob die Gefahr der Abberufung und des damit verbundenen Verlustes an geschäftlicher Reputation allein genügt, um einer Verletzung der Organpflichten mit den entsprechenden negativen Auswirkungen auf die Corporate Governance vorzubeugen.17 Ein Mindestmaß an gesetzlich zwingend ausgestalteter Organhaftung dürfte daher für eine funktionierende Gesellschaft nützlich sein und auch ökonomisch zum Funktionieren des Binnenmarktes beitragen. III. Bedeutung der Geschäftsleiterhaftung für den Gläubigerschutz Diese Gemeinsamkeiten der Mitgliedsstaaten im Ausgangspunkt dürfen freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich erhebliche Unterschiede in Bezug auf die Frage ergeben, welche Rolle die Geschäftsleiterhaftung im Gesamtsystem des Gläubigerschutzes spielt, mit anderen Worten also, wie stark die Säule der 14 Eckert/Grechenig/Stremitzer aaO. (Fn. 4), 112. 15 Ronano, Corporate Governance in the Aftermath of the Insurance Crisis, 39 Emory L.J. (1990), 1155 ff.; Eckert/Grechenig/Stremitzer aaO. (Fn. 4), 153. 16 Daenicker in FS Forstmoser, S. 523. 17 Näher dazu auch Kalss in Zeitschrift für schweizerisches Recht (ZSR) 124 (2005), 643, 648 ff.

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Geschäftsleiterhaftung innerhalb des Gesamtsystems des Gläubigerschutzes ausgeprägt ist. Diese Frage hängt wiederum davon ab, wie weit die einzelnen Mitgliedsstaaten der oben angestellten Überlegung, dass der Geschäftsleiter nicht nur der Agent der wirtschaftlichen Eigentümer, sondern zugleich auch Sachwalter dritter Interessen ist, Folge leisten oder nicht. Die Auffassungsunterschiede der Mitgliedsstaaten in dieser Frage beeinflussen zahlreiche Punkte, die mit der Ausgestaltung der Haftung der Leitungsorgane im Zusammenhang stehen. Dies betrifft im Einzelnen folgende Themen: 1. Inhaltliche Kriterien Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der Frage, wie die Voraussetzungen für eine Haftung der Geschäftsleiter im Einzelnen ausgestaltet sind. Dies betrifft vor allem die Frage, welcher Haftungsmaßstab von den betreffenden Normen vorausgesetzt wird und ob die Geschäftsleiter für jedes Verschulden haftbar gemacht werden können oder ob in bestimmten Bereichen Haftungserleichterungen zur Anwendung kommen. Die letztere Frage betrifft vor allem die Anerkennung eines generell haftungsfreien Ermessensbereichs, etwa nach Art der amerikanischen business judgement rule 18. Ein wichtiger Punkt ist aber auch die Frage, inwieweit sich die Arbeitsteilung in einem kollegial verfassten Leitungsorgan auf die Haftung auswirkt. Mehrere Mitgliedsstaaten kennen den Grundsatz, dass dort, wo in einem kollegial verfassten Leitungsorgan einem einzelnen Organmitglied bestimmte Aufgabenbereiche durch eine Geschäftsverteilung zugewiesen sind, sich die Verantwortung der anderen Organmitglieder für diesen Aufgabenbereich reduziert, etwa dahin gehend, dass sie nur noch eine allgemeine Überwachung in Richtung auf dieses Aufgabenfeld vornehmen sowie bei besonders wichtigen Geschäften mitwirken müssen, ansonsten den fraglichen Tätigkeitsbereich dem damit betrauten Organmitglied in eigener Verantwortung überlassen können19. 2. Person des Anspruchsberechtigten Unterschiede ergeben sich auch in der Frage, wem ein etwaiger Ersatzanspruch wegen einer unsorgfältigen und/oder illoyalen Geschäftsführung zusteht. Ein nicht unerheblicher Teil der Mitgliedsstaaten kennt nur eine Innenhaftung, 18 Näher dazu Block/Barton/Radin, The Business Judgment Rule, 5th ed. 1998, S. 9ff.; Knepper/Bailey, Liability of Corporate Officers, 6th ed. 1998, § 2.01, S. 47ff.; Merkt, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 1991; Rdn. 682ff. Aus der Rspr. vgl. Cheff v. Mathes, 199 A.2d, 548 (Del. Chan. 1964). Vgl. auch Unocal Corp. v. Mesa Petroleum Co., 493 A.2d 946, 954 (Del. 1985); Moran v. Household International Inc., 500 A.2d., 1346, 1350 (Del. 1985). 19 Näher dazu Lutter in Zeitschrift für schweizerisches Recht (ZSR) 124 (2005), 415, 422 f. m. w. N.

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weist also den Anspruch der Gesellschaft zu, die durch das fragliche Verhalten geschädigt wurde oder der geschäftliche Chancen entgangen sind. Gläubigerschützende Wirkung hat eine solche Innenhaftung nur mittelbar, nämlich insoweit, als eine Geltendmachung des Ersatzanspruchs die finanzielle Lage der Gesellschaft verbessert, was mittelbar den Gläubigern auch zugute kommt. In der Insolvenz der Gesellschaft kann ferner der Anspruch gegen die fraglichen Organmitglieder vom zuständigen Insolvenzverwalter geltend gemacht werden und führt dann zu einer Anreicherung der verfügbaren Haftungsmasse. Dieser Ansatz zieht die Konsequenz aus der Tatsache, dass der Haftungsgrund vor allem in einer Verletzung der Pflichten gegenüber der Gesellschaft liegt, weshalb es auch konsequent ist, dieser einen daraus resultierenden Ersatzanspruch zuzuweisen. Andere Mitgliedsstaaten betonen jedoch stärker die Verantwortung des Geschäftsleiters gegenüber den Gläubigern und der Allgemeinheit, indem sie entweder generell eine Haftungsklage von Gläubigern gegen den betreffenden Geschäftsleiter zulassen oder eine solche Klagemöglichkeit zumindest subsidiär gewähren, d. h. wenn Befriedigung von der Gesellschaft nicht zu erlangen ist.

3. Ausschluss von Verzicht, Vergleich und Haftungsbefreiung durch Entlastung Von erheblicher Bedeutung für den Beitrag, den die Organhaftung zum Gläubigerschutz leisten kann, ist auch, inwieweit es der Gesellschaft möglich ist, auf einen bereits entstandenen Schadensersatzanspruch gegenüber dem betreffenden Organmitglied zu verzichten, sich mit dem Organmitglied über die Höhe des Ersatzes zu vergleichen oder die Haftungsmaßstäbe bereits im Vorfeld einer möglichen Schadensentstehung, also z. B. im Anstellungsvertrag mit dem betreffenden Organ, zu dessen Gunsten zu modifizieren oder im Extremfall ganz auszuschließen 20. Lässt das Recht eine solche Möglichkeit zu, so ist die Wirkung der Organhaftung vor allem dann begrenzt, wenn das betreffende Organmitglied mit der Rückendeckung der Aktionärsmehrheit gehandelt hat und diese Aktionäre bereit sind, das Organ von Ersatzansprüchen, die aus der betreffenden gemeinsam beschlossenen Handlungsweise resultieren, freizustellen 21. Die Gläubiger gehen in diesem Fall leer aus und können, wenn ihnen die Rechtsordnung keine Möglichkeit zur eigenständigen Anspruchsdurchsetzung eröffnet, eine Verschlechterung ihrer Befriedigungsaussichten durch ein einverständliches Handeln des Organs und des Mehrheitsgesellschafters nicht verhindern. Auch in dieser Frage verwirklicht sich der Auffassungsunterschied in der Betrachtungsweise des 20 Vgl. dazu Bastuck, Enthaftung des Managements, 1986, passim; Daenicker in FS Forstmoser, 2003, 523; Fleischer in GS Heinze, 2004, 177, 191; Lutter in Zeitschrift für schweizerisches Recht (ZSR) 124 (2005), 415, 434 ff. 21 Dieser Position folgt das deutsche Recht für die GmbH, vgl. BGH NJW-RR 2003, 895; Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, § 43 Rdn. 39ff.

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Organs als Agent der Gesellschafter oder als Sachwalter von Allgemeininteressen: Folgt man der ersten Auffassung, dass das Organ vor allem Beauftragter der Aktionäre und der Gesellschaft ist, so ist es naheliegend, auch allein die Gesellschaft und die Gesellschafter als geschädigt anzusehen und ihnen folglich nicht nur den Anspruch als solchen zuzuweisen, sondern ihnen auch die Dispositionsbefugnis über etwaige Ansprüche zuzugestehen. Dann spricht auch nichts dagegen, selbst eine präventive Disposition vor Schadenseintritt zuzulassen, also etwa die Möglichkeit einer vertraglichen Haftungsminderung im Anstellungsvertrag, die sich etwa in der Vereinbarung einer Haftungshöchstgrenze oder einer Begrenzung der Haftung auf grobe Fahrlässigkeit und Vorsatz ausdrücken kann. Sieht man hingegen in der Organhaftung ein Mittel, die Allgemeinheit zu schützen, indem man Mindeststandards ordnungsgemäßer Geschäftsleitung auch gegenüber den Gläubigern und weiteren Interessengruppen durchsetzt, so kann eine Disposition der Gesellschaft über den Ersatzanspruch konsequenter Weise nicht zugelassen werden, da dies auf eine Vereinbarung zu Lasten dritter Parteien zielt und dem Normzweck widersprechen würde.

IV. Länderberichte Wendet man die genannten Kriterien auf einzelne Rechtsordnungen der Europäischen Union an, so ergibt sich, dass die wenigsten untersuchten Rechtsordnungen das eine oder das andere Modell in Reinkultur verwirklichen. Es finden sich überwiegend gemischte Systeme, die den Geschäftsleiter sowohl als Organ der Eigentümer als auch als Sachwalter von Allgemeininteressen ansehen.

1. Deutsches Recht Im deutschen Recht ist die allgemeine Sorgfaltshaftung des Vorstands in § 93 AktG dahin geregelt, dass für jede Fahrlässigkeit bei der Unternehmensleitung gehaftet wird. Der Vorstand ist ferner strikt zur Befolgung von Gesetz und Satzung verpflichtet. Wirtschaftliche Interessen können von dieser Pflicht nicht dispensieren. Dieselben Maßstäbe gelten sinngemäß für die Mitglieder des Aufsichtsorgans nach § 116 AktG. Im Rahmen dieser gesetzlichen Vorgaben gewährt das deutsche Recht jedoch dem Vorstand und dem Aufsichtsrat bei seiner Leitungs- bzw. Überwachungstätigkeit einen relativ weiten Ermessensspielraum. Dieser resultiert daraus, dass der Vorstand nach überwiegendem Verständnis nicht allein auf die Interessen der Aktionäre, sondern auf das Unternehmensinteresse als ganzes verpflichtet ist 22. Dies eröffnet ihm die Möglichkeit, auch 22 Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 4. Aufl. 2006, 143; MünchKomm-

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Interessen von Gläubigern, Arbeitnehmern und der Allgemeinheit in seine Leitungsentscheidung mit einfließen zu lassen. Bereits das führt dazu, dass sich häufig mehr als eine Entscheidung als rechtmäßig darstellt. Der Bezug auf das Unternehmensinteresse ermöglicht es dem Vorstand auch, in rechtmäßiger Weise Entscheidungen zu treffen, die nicht in einem strengen Sinne renditeorientiert sind, sondern etwa das Ansehen der Gesellschaft in der Öffentlichkeit heben sollen 23. Das deutsche Recht erkennt ferner an, dass eine sorgfältige und loyale Geschäftsführung nicht zwangsläufig auch eine erfolgreiche Geschäftsführung sein muss. Aus diesem Grunde hat der Bundesgerichtshof bereits seit längerem einen haftungsfreien Ermessensbereich bei unternehmerischen Entscheidungen anerkannt 24. Diese Rechtssprechung lehnt sich an die amerikanische business judgement rule an. Ferner hat der Gesetzgeber jüngst die vom Bundesgerichtshof entwickelten Regeln ausdrücklich in das Aktiengesetz übernommen. Anerkannt ist ferner, dass in einem mehrgliedrigen Organ die Arbeitsteilung haftungsbegrenzend wirken kann 25. Hinsichtlich der Anspruchsberechtigung ist der Anspruch für den Regelfall der Gesellschaft zugewiesen. Eine allgemeine Außenhaftung der Organe kennt das deutsche Recht im Bereich der allgemeinen Sorgfaltshaftung nicht; sie kommt vielmehr nur dort in Betracht, wo besondere, qualifizierte Tatbestände verwirklicht sind. Dies betrifft vor allem die Frage der Insolvenzverschleppung oder die Mitwirkung an unzulässigen Auszahlungen aus dem Grundkapital. In der Insolvenz der Gesellschaft obliegt es dem Insolvenzverwalter, einen möglichen Ersatzanspruch gegen die Organe geltend zu machen. Die Erlöse kommen der Insolvenzmasse zugute und erhöhen mittelbar die Befriedigungschancen der Gläubiger. Allerdings besteht von dem Grundsatz der Innenhaftung eine Ausnahme insoweit, als der Ersatzanspruch ausnahmsweise auch von Gläubigern der Gesellschaft geltend gemacht werden kann, wenn diese keine Befriedigung von der Gesellschaft erlangen können. Dies gilt allerdings nur, wenn die Ersatzpflicht auf eine in dem Katalog nach § 93 Abs. 3 enthaltene gesetzwidrige Handlung zurückgeht oder ein Fall grob sorgfaltswidrigen Handelns vorliegt (§ 93 Abs. 5). Ferner kann das Verfolgungsrecht nicht durch einen individuellen Gläubiger geltend gemacht werden, wenn über das Vermögen der Gesellschaft ein Insolvenzverfahren eröffnet ist. In diesem Fall steht die Anspruchsverfolgung allein dem Insolvenzverwalter zu 26. Die praktische Bedeutung des § 93 Abs. 5 im deutschen Recht ist daher verhältnismäßig gering.

23 24 25 26

AktG/Mertens, 2. Aufl., § 76, Rdn. 12ff.; Hüffer, AktG, § 76, Rdn. 12, von Werder, ZGR 1998, 69 ff.; Mülbert, ZGR 1997, 129ff. Brinkmann, AG 1982, 122, Raiser, ZHR 144 (1980), 206. BGHZ 135, 244, 253 – ARAG –. BGH NJW 1986, 54, 55; Hüffer, AktG, § 93, Rdn. 13b mwN. RGZ 74, 428, 429; GroßkommAktG/Hopt, § 93, Rdn. 422.

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Verhältnismäßig streng ist das deutsche Recht in der Frage der Verzichtbarkeit der Ansprüche. Generell ist ein Verzicht nur nach der Entstehung des Anspruchs, erst nach Ablauf von 3 Jahren und nur mit Zustimmung der Hauptversammlung möglich. Verzicht, Vergleich oder Billigung durch die Hauptversammlung haben ferner keine Wirkung, wenn die Voraussetzungen des § 93 Abs. 5 vorliegen, es sich also um eine der in § 93 Abs. 3 bezeichneten gesetzwidrigen Handlungen oder um einen groben Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten des Organs gehandelt hat. Ferner hat die jährliche Billigung der Geschäftsführung durch die Hauptversammlung (Entlastung) nicht die Wirkung, dass die Gesellschaft dadurch zugleich auf Ersatzansprüche gegen das entlastete Organmitglied verzichtet.

2. Französisches Recht Hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung der Haftung ist im französischen Recht zwischen der allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Haftung und der besonderen Haftung im Insolvenzfall (action en comblement du passiv) zu unterscheiden. Die allgemeine gesellschaftsrechtliche Haftung beruht auf Art. 244 des Gesellschaftsrechtsgesetzes vom 12. 7. 1967, der eine Verantwortung der Vorstände für den Fall des Verstoßes gegen Gesetz und Satzung sowie für Geschäftsführungsfehler (Faute de Gestion) vorsieht. Die Haftung kann, je nach den Umständen des Einzelfalls, eine individuelle oder eine gesamtschuldnerische Haftung sein, wobei es für die Abgrenzung darauf ankommt, ob der Fehler einem Organmitglied individuell zugeordnet werden kann oder ob auch die anderen, und sei es in Form ungenügender Überwachung, daran mitgewirkt haben 27. Insofern kann sich die Ressortverteilung entlastend auswirken. Die Haftung besteht bei einem Verstoß gegen Art. 244 sowohl gegenüber der Gesellschaft als auch gegenüber Dritten (Aktionären und Gläubigern). Diese Haftung setzt jedoch voraus, dass der Dritte durch die Handlung unmittelbar geschädigt wurde 28. Beispielsfall ist die Unterschlagung von Mitteln, die bereits zur Zahlung an den Gläubiger bestimmt sind 29. Infolge dieser Einschränkung ist die unmittelbare Dritthaftung des Geschäftsführers praktisch selten 30. Die action en comblement du passiv (Art. 180 des Gesetzes vom 25. 1. 1985) greift demgegenüber nur im Insolvenzverfahren ein. Es handelt sich um ein von Amts wegen betriebenes Verfahren. Voraussetzung für eine Haftung ist ebenfalls

27 Merle, Droit Commercial, 5. Aufl., Rdn. 407. 28 Vgl. Merle, aaO., Rdn. 409; Dupichot in Kreuzer (Hrsg.), Die Haftung der Leitungsorgane von Kapitalgesellschaften, S. 177. 29 Rappr. Com. 15. 3. 1971, Bull. Cic. IV, Nr. 81, S. 73. 30 Delga, Droit des Sociétés, S. 298 f.; Dupichot, aaO., S. 177.

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ein Geschäftsführungsfehler (Faute des Gestion) 31, wobei unklar ist, ob der Begriff mit Art. 244 des Gesetzes vom 12. 7. 1967 identisch ist oder nicht 32. Erforderlich ist weiterhin, dass der Geschäftsführungsfehler mitursächlich für die Insolvenz (Mangel an Aktiva) der Gesellschaft war. Rechtsfolge ist eine nach Ermessen des Gerichts festzusetzende Zuzahlung aus dem Vermögen des Gesellschafters in die Insolvenzmasse 33. Schwierigkeiten macht bei beiden Tatbeständen der Begriff des Geschäftsführungsfehlers. Eindeutig ist, dass ein objektiver Haftungsmaßstab zur Anwendung kommt, der als das Verhalten eines sorgfältigen, zugleich aktiven und vorsichtigen Verwalters umschrieben wird 34. Gleichzeitig ist festzustellen, dass eine Beschränkung auf grobe Geschäftsführungsfehler oder auf eine insgesamt fehlerhafte Geschäftsführung vom Gesetz nicht gewollt ist; solche Lösungen wurden in der Gesetzesberatung diskutiert und verworfen 35. Dementsprechend erkennt die Rechtsprechung als Fehler an 36: – – – – – – – – – – –

übermäßige Belastung der Gesellschaft mit Personalkosten und Sozialabgaben, Fehlen einer ordnungsgemäßen Buchführung; mangelnde Voraussicht hinsichtlich der Einführung neuer Technologien; mangelnde Befassung mit den finanziellen Angelegenheiten der Gesellschaft; mangelnder zeitlicher Einsatz bei der Leitung einer neu gegründeten Gesellschaft (ein Arbeitstag in der Woche ist zu wenig); verspätete Mitteilung der Zahlungseinstellung; Herbeiführung eines Defizits von 13 Millionen Francs innerhalb von drei Jahren; Markteinführung eines Produkts vor Einholung der erforderlichen Genehmigungen; schwere Fehleinschätzungen hinsichtlich der Finanzierung eines Investitionsvorhabens und Unterschätzung der damit verbundenen Risiken; schwerwiegende Fehleinschätzung hinsichtlich der wirtschaftlichen Realisierbarkeit eines Investitionsprojekts; übermäßige Vergütung des Geschäftsführers.

31 Die frühere Vermutung eines Geschäftsführungsfehlers mit Entlastungsbeweis des Geschäftsführers (zu dieser Zahn, Geschäftsleiterhaftung und Gläubigerschutz bei Kapitalgesellschaften in Frankreich, 1986, passim), wurde durch die Reform von 1985 aufgehoben. 32 Bejahend Cozian/Viandier, Droit des Sociétés, Rdn. 330 unter Berufung auf Cass.Com. 19. 3. 1996, Rev. Sociétés 1996, 840, verneinend Djehane aaO. (Fn. 13), 523, 527 f. 33 Näher zu den Abwägungskriterien Kuckertz, Der Haftungsdurchgriff auf ausländische Unternehmen und Geschäftsleiter nach französischem Recht, S. 58 f. 34 Merle, aaO., Rdn. 406 mwN. 35 Zur Gesetzesgeschichte Zahn, aaO., S. 199. 36 Übersicht von Cozian/Viandier, Droit des Sociétés, S. 167 f.; weitere Fälle auch bei Marquardt/Hau, RIW 1998, 441, 442.

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Die Zahl der gegen Geschäftsleiter durchgeführten Verfahren (Zivil- und Strafrecht) beläuft sich auf ca. 3000 pro Jahr 37. Entscheidungen, die einen Ermessensspielraum bei der unternehmerischen Entscheidungsfindung betonen, finden sich fast ausschließlich zum alten, bis 1985 geltenden Recht, das eine Verschuldensvermutung zu Lasten des Geschäftsleiters vorsah 38. In dem seit 1985 geltenden Recht bemühen sich die Gerichte jedoch nur um die positive Feststellung eines oder mehrerer, potentiell insolvenzauslösender Geschäftsführungsfehler. Diese können, was im hier diskutierten Zusammenhang besonders relevant ist, auch und gerade darin bestehen, die Gesellschaft mit zu geringem Eigenkapital ausgestattet zu haben 39. Verzicht, Vergleich, Enthaftung durch Entlastung oder durch vorherige vertragliche Haftungsmilderung durch die Gesellschaft sind im französischen Recht generell ausgeschlossen 40. Der Gesellschaft steht nicht das Recht zu, auf den Schadensersatz zu verzichten; das gilt sowohl vor als auch nach Begehung der Handlung.

3. Niederlande Auch das holländische Recht kennt eine allgemeine Sorgfaltshaftung nach Artikel 8 BW. Inhaltlich wird diese Pflicht als eine Pflicht zur Bemühung, nicht aber zur Herbeiführung des Erfolgs verstanden 41. In der niederländischen Rechtsprechung ist die Tendenz erkennbar, den Haftungsmaßstab auf grobe Geschäftsleitungsfehler zu begrenzen. Es gilt auch hier der Grundsatz zur Gesamtverantwortung, die jedoch durch die Ressortverteilung innerhalb des Kollegialorgans eingeschränkt wird 42. Anspruchsinhaber bei reiner Verletzung der Sorgfaltspflicht ist grundsätzlich die Gesellschaft. Es besteht daneben eine Außenhaftung für irreführende Rechnungslegung (Artikel 249 BW) und eine besondere Haftung gegenüber der Masse im Insolvenzverfahren (Artikel 248 BW), die vom Insolvenzverwalter zu erheben ist. Insofern besteht die Möglichkeit, dass das Insolvenzgericht bei einer offensichtlich unzureichenden Aufgabenerfüllung durch das Organmitglied, eine Haftung gegenüber der Insolvenzmasse anordnet. Eine offensichtlich unzureichende 37 Djehane aaO. (Fn. 13), 523, 526. 38 Etwa Paris vom 24. 9. 1981, Banque 1981, 1316 ff.; Nancy vom 3. 12. 1959, RTDCom. 1960, 638. 39 Vgl. Manuskript Parleani, S. 11 mit Fn. 13. 40 Behrens in Behrens (Hrsg.), Die GmbH im internationalen und europäischen Recht, Anm. F 20. 41 van Mourik in Kreuzer (Hrsg.), Die Haftung der Leitungsorgane von Kapitalgesellschaften, 1991, S. 191, 194. 42 van Mourik, aaO., S. 193.

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Aufgabenerfüllung wird vor allem dort angenommen, wo die Handlungsweise des Geschäftsleiters unbesonnen, leichtsinnig oder unverantwortlich erscheint 43. Eine Verletzung der Buchführungspflicht oder der Pflicht zur Veröffentlichung des Geschäftsberichts begründet von Gesetzes wegen die Vermutung für eine (auch im Übrigen) offensichtlich unzureichende Aufgabenerfüllung (Art. 248 II BW); der betreffende Geschäftsleiter muss nachweisen, dass er ansonsten ordnungsgemäß gehandelt hat 44. Erforderlich ist ferner, dass die fragliche Handlung die für die Insolvenz zumindest mitursächlich war und in den letzten drei Jahren vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens stattgefunden hat. Die Mitursächlichkeit wird in den Fällen des Art. 48 II BW vermutet, ansonsten muss sie dem Gericht zumindest als wahrscheinlich dargelegt werden. Sie ist nicht gegeben, wenn externe Ursachen (Wirtschaftskrise, unvorhersehbarer Zahlungsausfall) die Insolvenz überwiegend verursacht haben. Die Haftung richtet sich im Grundsatz auf die gesamten Verbindlichkeiten der Gesellschaft, das Gericht hat jedoch die Möglichkeit, das Organ nicht in voller Höhe, sondern nur mit einem nach seinem Ermessen herabgesetzten Betrag haften zu lassen, wenn eine volle Haftung nach den Gesamtumständen unverhältnismäßig wäre (Art. 248 IV). Ferner besteht im holländischen Recht eine Außenhaftung der Organe nach Deliktsrecht; diese Haftung wird vor allem auf den Gedanken der Aufklärungspflicht gegenüber den Gläubigern bei Vertragsschluss gestützt und greift in Situationen ein, in denen das Organmitglied namens der Gesellschaft mit einem Gläubiger zu einem Zeitpunkt kontrahiert, in dem es weiß oder wissen musste, dass die Gesellschaft die Verbindlichkeiten aus dem Vertrag voraussichtlich wird nicht erfüllen können. Hinsichtlich der Frage von Verzicht, Vergleich und Enthaftung muss zwischen dem Anspruch der Gesellschaft und dem Verfahren nach Artikel 248 BW unterschieden werden. Generell ist im holländischen Recht ein Verzicht der Gesellschaft auf Schadensersatzansprüche möglich. Dies gilt aber nicht im Verfahren nach Artikel 248, wo nach Abs. 6 Satz 1 eine solche Möglichkeit ausdrücklich ausgeschlossen wird. Die Außenhaftung aus Delikt ist naturgemäß nicht disponibel. 4. Belgien Der Belgische Code des Sociétés von 1999 regelt die allgemeine Sorgfaltshaftung der Organe in Art. 527. Dieser stellt neben der Verletzung von Gesetz und Satzung auf das Vorliegen eines Geschäftsführungsfehlers (Faute de Gestion) ab. 43 van Mourik, aaO., S. 201. 44 van Mourik, aaO., S. 200.

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Darunter wird ein Handeln verstanden, das nicht im besten Interesse der Gesellschaft liegt; jeder Fehler kann im Grundsatz ausreichend sein 45. Allerdings lehnen die Gerichte eine rückwirkende Betrachtung ab; die Handlung muss sich schon zur Zeit ihrer Begehung als fehlerhaft darstellen 46. Ein Ermessensspielraum bei der Entscheidungsfindung wird anerkannt 47. Als fehlerhaft anerkannt sind insbesondere mangelnde Überwachung nachgeordneter Mitarbeiter sowie des Rechnungswesens sowie generell Inaktivität bei der Wahrnehmung der Aufgaben. Als haftungsträchtig anerkannt sind auch ganz schwerwiegende Fehlentscheidungen in finanziellen Bereich, etwa die Anerkennung von Forderungen ohne Rechtsgrund 48 Stellt sich eine Handlung als fehlerhaft heraus, genügt ihre Mitursächlichkeit hinsichtlich der negativen Geschäftsentwicklung; sie muss nicht die einzige Ursache dafür sein 49. Der Anspruch aus der Verletzung dieser Pflichten steht der Gesellschaft zu; ihre Hauptversammlung kann über den Anspruch disponieren 50. Ein besonderes Verfahren ist in der Insolvenz der Gesellschaft vorgesehen (Art. 530). Hier kann bei einem schwerwiegenden Geschäftsführungsfehler eine persönliche Haftung der Organmitglieder durch das Gericht angeordnet werden, wenn der Fehler mitursächlich für die Insolvenz war. Es muss sich um gesetzwidrige oder grob unvernünftige Handlungen gehandelt haben 51. Die Klage wird vom Insolvenzverwalter betrieben; Verzicht und Vergleich durch die Gesellschaft sind nicht möglich 52.

5. Italien Das im Jahre 2004 revidierte italienische Aktienrecht geht zunächst von einer Innenhaftung der Organe aus, die in Art. 2392 c.c. geregelt ist. Die Norm verlangt die Einhaltung einer berufsmäßigen Sorgfalt, was in der Literatur überwiegend im Sinne einer Anerkennung der Business Jugdment Rule gedeutet wird 53. Eine Verlagerung der Ressortverantwortung auf bestimmte Mitglieder des Vorstands

45 Malherbe/Lambrecht/Malherbe, Droit des Sociétés, 2004, Rdn. 982, S. 585. 46 Mons, 6. 2. 1979, RPS 1979, 75. 47 Mons, 20. 5. 1985, RPS 1985, 268; ebenso Corbisier, RPS 1994, 67; Ronse, TPR 1977, 207. 48 weitere Beispiele bei Malherbe/Lambrecht/Malherbe, Droit des Sociétés, 2004, Rdn. 985, S. 588. 49 Anvers, 29. 9. 1981, RPS 1982, 89. 50 van Ryn/van Ommeslaghe, RCJB 1981, 388. 51 Gand, 21. 12. 2000, RDC 2001, 739. 52 Malherbe/Lambrecht/Malherbe, Droit des Sociétés, 2004, Rdn. 1014, S. 608. 53 Cecchi, Commentario al codice civile, Art. 2392 1.1.; Tribunale Milano, Urteil v. 2. 3. 1995, Societá 1996, 57.

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oder nachgeordnete Führungspersonen kann von der persönlichen Verantwortung entlasten, befreit aber nicht von der Pflicht, das Handeln des mit der Aufgabe besonders beauftragten Kollegen zu überwachen 54. Die Möglichkeit zu Verzicht und Vergleich ist auf Abreden beschränkt, die nach der Entstehung des Anspruchs getroffen werden. Eine Indemnification im Anstellungsvertrag scheidet also aus. Ferner ist zu einem Verzicht oder Vergleich eine ausdrückliche Entscheidung der Hauptversammlung erforderlich (Art. 2393 VI c.c.), die im Gegensatz zum deutschen Recht nicht an eine Wartefrist gebunden ist 55. Eine Aktionärsminderheit von 20 % (bei börsennotierten Gesellschaften: 5 % 56) kann das Zustandekommen des Beschlusses verhindern. Die Verjährungsfrist beträgt 5 Jahre, gerechnet ab dem Ausscheiden der Organperson aus dem Amt. Eine Außenhaftung ist nur bei Verstoß gegen Pflichten zur Erhaltung des Gesellschaftsvermögens (Art. 2394 I cc) gegeben, wobei der Pflichtverstoß zudem außerhalb des unternehmerischen Ermessens gelegen haben muss 57. Die Haftungsklage nach Art. 2394 ist zudem im Grundsatz subsidiär gegenüber einer Inanspruchnahme der Gesellschaft, da sie nur eingreift, wenn der Gläubiger von der Gesellschaft keine Zahlung erhalten kann 58 (Art. 2394 II cc). Sie dürfte daher vor allem im Insolvenzfall praktisch werden, wo sie neben der Klage der Gesellschaft (d. h. des Insolvenzverwalters) aus Art. 2393 zulässig ist 59. Eine Außenhaftung kann sich ferner auf deliktsrechtlicher Grundlage aus einer unmittelbaren individuellen Schädigung des Gläubigers (oder eines Gesellschafters) ergeben (Art. 2395 I c.c.) 60.

6. Spanien Im spanischen Recht besteht seit der Reform durch das Transparenzgesetz von 2003 61 ein ausformulierter Tatbestand zur Sorgfalt und Verantwortlichkeit der Geschäftsleiter einer S.A. (Art. 127 LSA). Die Vorschrift verpflichtet den Geschäftsleiter auf die Sorgfalt eines ordentlichen Unternehmers und loyalen Vertreters, mithin also auf einen berufsbezogenen objektiven Maßstab. Die Organmitglieder sind verpflichtet, sich über die Angelegenheiten der Gesellschaft unterrichtet zu halten, Gesetz und Satzung zu beachten und sich bei ihrem Han54 Casper/Reiß, RIW 2004, 428, 429 f. mwN. 55 Casper/Reiß, RIW 2004, 428, 433. 56 Näher zu den Besonderheiten bei börsennotierten Gesellschaften Sangiovanni, RIW 2003, 248ff. 57 Casper/Reiß, RIW 2004, 428, 431. 58 Magelli/Masotto, RIW 2004, 903, 909. 59 Di Sabato, Manuale delle societá, 1995, 505. 60 Magelli/Masotto, RIW 2004, 909. 61 Ley 27/2003 de 17 de julio, B.O.E. Nr. 171 vom 18. 7. 2003, S. 28046ff.

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deln am Interesse der Gesellschaft (verstanden als ein eigenes, vom Interesse der Gesellschafter zu unterscheidendes Interesse 62) zu orientieren. Art. 127ter enthält ferner besondere Vorschriften über die Loyalitätspflichten und verbietet bestimmte Handlungsweisen (z. B. Ausnutzung von Geschäftschancen der Gesellschaft) ausdrücklich. Inhaltlich wurde der Haftungsmaßstab bereits durch die Reform von 1989 63 bewusst von grober Fahrlässigkeit und Vorsatz auf einfache Fahrlässigkeit abgesenkt, um einer aus Sicht des Gesetzgebers zu großzügigen Haltung der Gerichte gegenüber den Unternehmensleitungen entgegenzuwirken 64. Diese Fassung ist noch einmal verschärft worden, der jetzt geltende Wortlaut des Art. 133 LSA deutet auf eine rein objektive Sorgfaltshaftung, die ein Verschulden überhaupt nicht mehr voraussetzt 65. Mehrere Organpersonen haften gesamtschuldnerisch (Art. 133 LSA), sofern sie nicht nachweisen können, dass sie (ohne ihr Verschulden) den schadensursächlichen Beschluss nicht gekannt oder sich in Kenntnis der Umstände der Beschlussfassung aktiv widersetzt haben (Art. 133 II LSA) 66. In Bezug auf die Anspruchsdurchsetzung kennt das spanische Recht sowohl eine Haftungsklage der Gesellschaft (Art. 134 I LSA) als auch Dritter (Art. 134 V LSA), mit der die Verletzung der von Art. 127 LSA bestimmten Pflichten geltend gemacht werden kann. Die Klageerhebung durch Gläubiger ist zulässig, wenn die Gesellschaft keine Klage erhebt und das Gesellschaftsvermögen zur Befriedigung der Gläubiger nicht ausreicht, d. h. vor allem in der Insolvenz. Die Klagemöglichkeit der Gläubiger ist mithin subsidiär, setzt aber keinen negativen Beschluss der Gesellschaft über die Klageerhebung voraus; bloße Untätigkeit der Gesellschaft genügt 67. Eine Haftungsbefreiung der Organe durch Gesellschafterbeschluss ist möglich, lässt jedoch die Klagemöglichkeit der Gläubiger unberührt (Art. 133 III LSA). Die Billigung des Jahresabschlusses hat keine Verzichtswirkung im Hinblick auf eine spätere Haftungsklage (Art. 133 III LSA). Ferner besteht die Möglichkeit des Gläubigers zu einer individuellen Haftungsklage nach Art. 135 LSA: Während es bei Art. 134 V LSA um eine Hilfszuständigkeit der Gläubiger im Hinblick auf den Anspruch der Gesellschaft geht, betrifft Art. 135 LSA die individuelle Verletzung von Aktionärs- und Gläubigerrechten. Hierunter fallen im Bezug auf Gläubiger vor allem Aufklärungspflichten bezüglich der finanziellen Lage der Gesellschaft und aktive Täuschung durch Lieferung falscher Informationen, z. B. durch Verwendung unrichtiger Jahresab-

Wagner, RIW 2004, 258, 262. Ley 19/1989 v. 25. 7. 1989. Beneto, EuZW 1997, 683, 684. Calero, RdS 2003-1, 27, 47; Wagner, RIW 2004, 263. Broseta, Manual de Derecho mercantil, 1991, 287; Chulia, Compendio de Derecho Mercantil, 1990, 649. 67 Beneyto, RIW 2004, 685.

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schlüsse im Geschäftsverkehr. Zuständig für die Durchführung der Klage ist allein der Geschädigte, nicht die Gesellschaft. Die Klage ist nicht auf Wiederherstellung des Gesellschaftsvermögens, sondern auf Ausgleich des individuell erlittenen Schadens gerichtet 68.

7. Portugal Das portugiesische Gesetz der Handelsgesellschaften (Código des Sociedades Comeriais, CSC) kennt eine allgemeine Sorgfaltshaftung der Geschäftsleiter von Kapitalgesellschaften in Art. 71. Danach haften die Geschäftsleiter der Gesellschaft gegenüber für die schuldhafte Verletzung von gesetzlichen und vertraglichen Pflichten. Bei einem Kollegialbeschluss haften diejenigen nicht, die an dem Beschluss nicht teilgenommen oder innerhalb von fünf Tagen Widerspruch erheben. Der Anspruch verjährt innerhalb von sechs Monaten seit Vornahme der Handlung. Eine Erschwerung der Haftungsklage durch Vertrag oder Satzung ist unzulässig 69. Bei unzulänglichem Gesellschaftsvermögen und wenn weder die Gesellschaft noch ein Gesellschafter die Klage erhebt, besteht ein subsidiäres Verfolgungsrecht der Gesellschaftsgläubiger. Insofern, als dessen Voraussetzungen vorliegen, besteht auch nicht die Möglichkeit, das Organ seitens der Gesellschaft von der Haftung zu befreien. Im Übrigen haften die Organe gegenüber den Gläubigern nur dann, wenn sie diese individuell geschädigt haben (Art. 79 CSC).

8. England Das englische Gesellschaftsrecht kennt keine gesetzliche Regelung, aber eine ausdifferenzierte Rechtsprechung zu den Pflichten der Geschäftsleiter 70. Insbesondere die Unterscheidung zwischen der Pflicht zur beruflichen Sorgfalt (Duty of Care) und den Loyalitätspflichten (Duty of Loyalty) hat in der englischen Rechtsprechung ihren Ursprung. Eine Haftungsentlastung durch Aufgabendelegation ist dabei seit langem anerkannt 71. Die Anerkennung eines haftungsfreien Ermessensbereichs nach Art der Business Jugdment Rule war im englischen Recht lange Zeit entbehrlich, da der Haftungsmaßstab ein subjektiver ist: Maßgeblich für die Frage, ob ein Sorgfaltsverstoß vorlag, waren und sind die persön-

68 TS, RAJ 1984, 3806; RAJ 1985, 2406; RAJ 1989, 3007. 69 Rau in Behrens, Die GmbH im internationalen und europäischen Recht, Anm. P 23. 70 Die gegenwärtigen Reformbestrebungen im englischen Gesellschaftsrecht sehen eine Kodifizierung der Problematik vor, vgl. Bedkowski, RIW 2003, 105ff. 71 Weir v. Bell, 1878, 3 ExD 238, CA; Dovey v. Cory, 1901, AC 477, 485f.; Earl of Halsbury v. Elliot, 1970, 1 All ER 189.

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lichen Kenntnisse und Fähigkeiten des betroffenen Direktors 72. Im Anschluss an die Einführung eines objektiven Haftungsmaßstabs in der Vorschrift über das wrongfull trading nach Art. 214 Insolvency Act sind jedoch auch Tendenzen festzustellen, diesen objektiven Haftungsmaßstab in die allgemeine Sorgfaltshaftung zu übernehmen 73. Ob dies zu einer Anerkennung der Business Jugdment Rule auch im englischen Recht führen sollte oder ob einer eigenständigen Lösung der Vorzug zu geben ist, ist gegenwärtig in der englischen Literatur umstritten 74. Als alternativer Ansatz käme Sec. 727 CA in Betracht, wonach es dem Gericht möglich ist, die Anwendung rechtlicher Sanktionen nach eigenem Ermessen ganz oder teilweise auszusetzen, wenn der Direktor redlich und vernünftig gehandelt hat und die Pflichtverletzung nach den Umständen zu entschuldigen war 75. Hinsichtlich der Anspruchsdurchsetzung zeigt sich das englische Recht wenig gläubigerfreundlich. Es verfolgt vielmehr konsequent den Ausgangspunkt, dass die fraglichen Pflichten der Gesellschaft und nur dieser geschuldet sind, weshalb auch die Ansprüche aus einer Verletzung der Gesellschaft zustehen (sog. Foss v. Harbottle Rule) 76. Ausnahmen davon bestehen zugunsten der Gesellschafterminderheit, aber nicht zugunsten der Gläubiger 77. Überlegungen, in der Insolvenz oder bereits in Insolvenznähe eine Verpflichtung der Direktoren auch gegenüber den Gläubigern anzunehmen, sind in Literatur und Rechtsprechung anzutreffen 78. Sie haben aber nicht dazu geführt, den Gläubigern deswegen eine Klagemöglichkeit gegen die Direktoren einzuräumen. Verpflichtet sind die Direktoren nach diesen Überlegungen weiterhin gegenüber der anstellenden Gesellschaft, lediglich ihr Pflichtenprogramm erweitert sich entsprechend. Eine Haftung gegenüber den Gläubigern kommt danach allein unter den Voraussetzungen des wrongfull trading in Betracht, die in Art. 214 Insolvency Act speziell geregelt

72 In Re City Equitable Fire Insurance Co Ltd., 1925, Ch 407, 428; in Re Barings Plc., 2000, BCLC 523, 535 f. 73 Norman v. Theodore Goddard, 1991, BCLC 1028, 1030f.; in Re D’Jan of London Ltd., 1994, 1 BCLC 651, 563. 74 Vgl. Grover/Davies, Principles of modern Company Law, 1997, S. 644; Worthington, 2001, 64 MLR 439, 450. 75 Vgl. zu dieser Norm Guinness Plc. V. Saunders, 1990, 2 AC 663 HL; Neptune Ltd. v. Fitzgerald, 1996, Ch 274; Dorchester Finance Co Ltd. v. Stebbing, 1989, BCLC 498; in Re D’Jan of London Ltd., 1994, 1 BCLC 561. 76 (1843) 2 Hare 461. 77 Drury in Kreuzer (Hrsg.), Die Haftung der Leitungsorgane von Kapitalgesellschaften, S. 103, 107f. 78 Winkworth v. Edward Baron Developement Co Ltd., 1987, 1 All ER 114; Brady v. Brady, 1988, 2 WLR 1308; West Mercia Safety Wear Ltd. v. Dodds, 1988, BCLC 250, 252. Das White Paper zur Reform des englischen Gesellschaftsrechts (www. dti.gov.uk/companiesbill/index.htm) verwirft diesen Ansatz und stellt die alleinige Orientierung des Direktorenermessens am Interesse der Gesellschaft (verstanden als Gesamtheit der Aktionäre) wieder her.

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sind, nicht aber unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Duty of Care oder Duty of Loyalty. Auch der Reformentwurf des DTI hält am Grundsatz der alleinigen Anspruchsberechtigung der Gesellschaft fest 79. Eine Freistellung der Direktoren von Haftungsansprüchen ist nach Begehung der fraglichen Handlung durch Gesellschafterbeschluss mit einfacher Mehrheit möglich 80, nicht aber im Voraus, das verbieten Sec. 310 (1) und (2) CA 1985. Insofern geht das englische Gesellschaftsrecht andere Wege als z. B. dasjenige zahlreicher amerikanischer Einzelstaaten, die eine Indemnification zulassen 81.

9. Polen Die Organhaftung der Vorstandsmitglieder der AG gegenüber für Schäden, die aus pflichtwidrigem Verhalten entstanden sind, ist im polnischen Recht in Art. 483 §§ 1 und 2 des Handelsgesellschaftengesetzbuches vom 15. September 2000 geregelt 82. Danach haften die Organe der Gesellschaft für Schäden, die aus Verstößen gegen Gesetz und Satzung entstehen, sofern sie sich nicht auf fehlendes Verschulden berufen können. Die Norm verlangt weiter ein Handeln der Organmitglieder mit der Sorgfalt, die sich aus dem beruflichen Charakter der Tätigkeit ergibt. Gesetzlich geregelt ist ferner die Loyalitätspflicht der Vorstandsmitglieder in Art. 377 HGGB. Danach muss sich das Vorstandsmitglied bei Interessenkollisionen zwischen den Interessen der Gesellschaft und seinem persönlichen Interesse sowie dem Interesse bestimmter, im Gesetz näher bezeichneter Verwandter und sonstiger nahe stehender Personen einer Teilnahme an der Entscheidungsfindung an der fraglichen Angelegenheit enthalten. Art. 380 HGGB normiert ferner ein Wettbewerbsverbot im Hinblick auf persönliche Tätigkeiten des Vorstands und im Hinblick auf die Beteiligung an konkurrierenden Personen- und Kapitalgesellschaften. Bei einer Verletzung der Loyalitätspflicht haften die Vorstandsmitglieder der AG auf Schadensersatz gem. Art. 483 HGGB, da es sich hier um die Verletzung einer gesetzlichen Pflicht handelt 83. Eine besondere Form der Haftungserleichterung im Bereich unternehmerischer Entscheidungen ist gesetzlich nicht geregelt. Sie wurde auch in der Rechtsprechung nicht entwickelt. Soweit ersichtlich, hat sich auch die Literatur damit nicht befasst. 79 Clause 19, Abs. 2, näher dazu Bedkowski, RIW 2003, 106. 80 Näher Drury in Kreuzer, aaO., 103, 107 ff., auch zu Ausnahmen unter dem hier nicht interessierenden Gesichtspunkt des Minderheitenschutzes. 81 Näher Fleischer, GS Heinze, 2004, 177, 191. 82 GBl. 2000 Nr. 94, Pos. 1037. 83 Siehe A. Szuman´ski (in:) W. Pyzioł, A. Szuman´ski, I. Weiss, Prawo spółek, Bydgoszcz-Kraków 2004, S. 766.

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Der Schadensersatzanspruch bei einer Verletzung der Sorgfalts- bzw. Loyalitätspflicht steht der AG zu. Es gibt aber gesetzliche Regelungen, die eine Außenhaftung gegenüber den Gläubigern hilfsweise statuieren: Diese betreffen zum einen den Fall der verspäteten Insolvenzanmeldung 84 (Art. 21 § 3 des Gesetzes vom 28. Februar 2003 – Konkurs- und Sanierungsordnung –) 85 und zum anderen eine subsidiäre Haftung für von der Gesellschaft nicht erfüllte Steuerverbindlichkeiten 86. Ansonsten steht die Geltendmachung der Ansprüche wegen Verletzung von Gesetz und Satzung sowie einer allgemein unsorgfältigen Handlungsweise der Gesellschaft selbst zu. Zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen einer AG ist im Grundsatz der Aufsichtsrat bzw. ein durch die Hauptversammlung bestellter Bevollmächtigter befugt. Die Entscheidungen über Schadensersatzansprüche wegen eines Schadens, der bei der Errichtung der Gesellschaft, bei der Geschäftsführung oder der Aufsicht entstanden ist, sind jedoch gemäß Art. 393 Nr. 1 HGGB der Hauptversammlung vorbehalten. Sollte die Gesellschaft innerhalb von einem Jahr seit dem Bekanntwerden der schädigenden Handlung keine Schadensersatzklage erheben, so darf jeder Aktionär oder Inhaber von Genussscheinen auf Zahlung an die Gesellschaft klagen (Art. 486 § 1 HGGB). Diese Klagebefugnis darf auf keine Art und Weise ausgeschlossen, bedingt oder beschränkt werden. Der Entlastungsbeschluss entfaltet nach herrschender Meinung 87 eine Befreiungswirkung, die jedoch nicht eintritt, wenn der Hauptversammlung im Zeitpunkt der Beschlussfassung die Informationen über die haftungsbegründenden Tatsachen nicht vorlagen oder wenn der Hauptversammlungsbeschluss aufgrund unvollständiger oder falscher Informationen gefällt wurde. Ferner wird in Art. 487 HGGB ausdrücklich angeordnet, dass eine Entlastung des Organmitglieds keine befreiende Wirkung hat, wenn ein Aktionär nach einjähriger Untätigkeit der Gesellschaft Klage erhebt oder wenn sich die Gesellschaft in der Insolvenz befindet. Diese Regeln sind zwingendes Recht 88. Aufgrund der genannten Vor-

84 Dazu A. Jakubecki (in:) A. Jakubecki, F. Zedler, Prawo upadl˜os´ciowe i naprawcze, Kraków 2003, Art. 21 Anm. 1 ff. 85 GBl. 2003 Nr. 60, Pos. 535. 86 Art. 116 der Steuerabgabenordnung, GBl. 1997 Nr. 137, Pos. 926 mit Änd. Die Norm findet auf ausstehende Beiträge zur Sozialversicherung entsprechende Anwendung. 87 Siehe A. Szajkowski (in:) Sołtysiński, Szajkowski, Szumański, Szwaja, Kodeks spółek handlowych. Komentarz, Bd. 3, Art. 395 Rdn. 48ff. und Bd. 4, Art. 483 Rdn. 37 ff. 88 J. Fra˛ckowiak (w:) J. Fra˛ckowiak, A. Kidyba, K. Kruczalak, W. Opalski, W. Popiołek, W. Pyziol˜, Kodeks spółek handlowych. Komentarz, Warszawa 2001, Art. 483 Anm. 8.

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schriften wird auch ein vorab erklärter Verzicht der Gesellschaft auf Ersatzansprüche für unzulässig gehalten 89.

V. Zusammenfassende Betrachtung 1. Beitrag der Organhaftung zum Gläubigerschutz Die rechtsvergleichende Betrachtung hat gezeigt, dass in allen untersuchten Mitgliedstaaten eine zwingende Organhaftung existiert. Insbesondere ist eine Haftungsfreistellung des Managements bereits vor Begehung der Handlung, also z. B. in der Satzung oder im Anstellungsvertrag, in keiner untersuchten Rechtsordnung zulässig. Damit ist ein Untermaß an Haftung, das einer verantwortungslosen Vorgehensweise der Organmitglieder Vorschub leisten könnte, nicht zu befürchten. Die Einführung eines Mindeststandards auf europäischer Ebene erscheint daher entbehrlich. Hinsichtlich der Haftungsmaßstäbe befindet sich der Gedanke, dass die Direktoren zu einer erfolgreichen wirtschaftlichen Tätigkeit einen haftungsfreien Ermessensspielraum benötigen, in Europa deutlich auf dem Vormarsch, hat sich aber noch nicht in allen untersuchten Rechtsordnungen eindeutig durchgesetzt. Uneinheitlich ist zudem der Weg, in dem dieser Gedanke in dem betreffenden nationalen Recht verankert wird. Hier ist neben einer Adaptation der Business Jugdment Rule auch die Beschränkung auf grobe Fahrlässigkeit oder einen subjektiven Haftungsmaßstab anzutreffen. Verbreitet ist ferner der Gedanke, dass eine Aufgabenteilung im Leitungsorgan die Pflichten des einzelnen Mitglieds reduzieren kann. Unterschiedlich sind die inhaltlichen Haftungsmaßstäbe, die vom subjektiven Standard der englischen Rechtsprechung bis zur Haftung für jeden Geschäftsführungsfehler im französischen und spanischen Recht reichen. Aus den unterschiedlichen inhaltlichen Maßstäben und den daraus resultierenden Verhaltensanforderungen können sich Hindernisse für die Bewegungsfreiheit der Unternehmen und ihrer Leiter im Binnenmarkt ergeben, da die betreffenden Personen sich vor Aufnahme der Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat über die dort geltenden Regeln informieren müssen. Ferner kann eine zu strenge Organhaftung wegen des hohen persönlichen Risikos abschreckend wirken und geeignete Führungskräfte von der Übernahme der Tätigkeit abhalten. Solche Effekte werden auch in der Literatur gelegentlich berichtet 90. Dies könnte es nahe legen,

89 Siehe M. Rodzynkiewicz, Kodeks spółek handlowych, Komentarz, Warszawa 2005, Art. 296 Anm. 2. 90 Djehane aaO. (Fn. 13) 523, 527; Dupichot in Kreuzer (Hrsg.), Die Haftung der Leitungsorgane von Kapitalgesellschaften, S. 173.

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auf europäischer Ebene über eine Safe-Harbour-Regelung im Bereich unternehmerischer Entscheidungen nachzudenken. Hinsichtlich der Anspruchsdurchsetzung erkennen alle untersuchten Rechtsordnungen mit Ausnahme der englischen eine Möglichkeit an, das Organ entweder unmittelbar gegenüber den Gläubigern haftbar zu machen oder im Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft zu einer Zahlung in die Insolvenzmasse zu verpflichten. Die überwiegende Mehrzahl der Mitgliedstaaten erkennt damit an, dass die Organhaftung nicht nur dem Schutz der Gesellschaft, sondern auch der Gläubiger dient und einen Pfeiler des Gesamtsystems „Gläubigerschutz“ darstellt. Aus diesem Grunde schränkt die überwiegende Mehrheit der untersuchten Staaten auch die Möglichkeit der Gesellschaft ein, auf den Ersatzanspruch gegen das Organmitglied nach dessen Entstehen zu verzichten. Zum Teil ist die Möglichkeit zu einer direkten Inanspruchnahme des Organs auf Fälle groben Fehlverhaltens beschränkt. Fast in allen Staaten, die eine solche Möglichkeit kennen, ist die Direkthaftung subsidiär gegenüber einer Inanspruchnahme der Gesellschaft oder von vornherein nur in deren Insolvenz zulässig. Diese Subsidiarität der Haftung ist aus Sicht der Gesellschaften von großer Bedeutung, denn sie verhindert in sinnvoller Weise eine Inanspruchnahme der Organe durch Gläubiger in solventen Gesellschaften. Damit kann deren Geschäftstätigkeit nicht durch unnötige Haftungsklagen gegen das Management behindert werden.

2. Organhaftung als Kompensation bei Abbau des Kapitalschutzes? Skeptisch sind die Möglichkeiten zu beurteilen, mit einer Verstärkung der Organhaftung einen Abbau im Bereich des Kapitalschutzes zu kompensieren. Dagegen spricht schon die unterschiedliche personelle und sachliche Zielrichtung. Die Aufbringung und Erhaltung des Grundkapitals ist vornehmlich Sache der Gesellschafter, die einen bestimmten persönlichen Risikobeitrag als Preis für die beschränkte Haftung leisten müssen. Der Geschäftsleiter hat hier überwachende Aufgaben, indem er etwa den Empfang der Mittel bestätigen muss und Auszahlungen zu Lasten des Kapitals nicht leisten darf. Es wäre aber eine Überspannung seiner Aufgaben, wenn man ihn für die angemessene Kapitalisierung der Gesellschaft verantwortlich machen wollte, und zwar schon deshalb, weil nach der zweiten Richtlinie die Höhe des Kapitals allein in die Entscheidung der Gesellschafter gestellt ist. Selbst wenn man die Kapitalrichtlinie abschaffen wollte, wäre es widersprüchlich, zwar einerseits die Höhe des Kapitals in das Belieben der Gesellschafter zu stellen, andererseits aber eine Haftung des Geschäftsführers für eine zu niedrige Kapitalziffer zu bejahen91. 91 Vgl. dazu Urbain-Parleani (in diesem Band), S. 575, 580 bei Fn. 14.

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In sachlicher Hinsicht spricht gegen einen solchen Ansatz, dass Kapitalaufbringung und -erhaltung einerseits und Organhaftung andererseits unterschiedlichen Zwecken dienen. Der erste Ansatz sichert einen persönlichen Risikobeitrag der Unternehmensgründer und verhindert die Ausschüttung von Mitteln an Gesellschafter, wenn diese Mittel zur Befriedigung der Gläubiger erforderlich sind. Die Organhaftung hingegen schützt primär die Gesellschaft, mittelbar aber auch die Gläubiger vor einem Verlust an Mitteln durch schlechte Geschäftsführung und leistet zugleich einen Beitrag zur Durchsetzung der Regeln guter Corporate Governance92. Damit handelt es sich um ein Element, das den Gläubigerschutz in wirtschaftlicher Hinsicht ergänzen, aber den Gläubigerschutz durch Kapital nicht ersetzen kann. Es spricht vielmehr dafür, dass in einem ausgewogenen System beide Elemente unabhängig voneinander ihren Platz haben.

VI. Ergebnis 1. Die Haftung der Organe dient ebenso wie die Figur des festen Kapitals auch dem Ziel des Gläubigerschutzes. Dies zeigt sich an den in zahlreichen Mitgliedsstaaten anzutreffenden Regeln, die eine Durchsetzung der Organhaftung unabhängig vom Willen der Gesellschafter ermöglichen. 2. Hinsichtlich der inhaltlichen Haftungsmaßstäbe ist im Grundsatz eine Pflicht zur sorgfältigen und loyalen Amtführung europaweit anerkannt. Große Unterschiede bestehen jedoch hinsichtlich der konkreten Verhaltensanforderungen sowie einer Freistellung von Haftung im Bereich unternehmerischer Entscheidungen. 3. Zielrichtung der Organhaftung ist weniger die Kapitalausstattung der Gesellschaft, als vielmehr der Schutz vor einer unsorgfältigen Führung der Gesellschaft und den dadurch verursachten wirtschaftlichen Verlusten. 4. Eine Verschärfung der Organhaftung als Gegengewicht zu einer Liberalisierung der Regelungen über das Kapital ist aus diesem Grunde nicht zu empfehlen.

92 So auch die Bewertung von Lutter, aaO. (Fn. 18), 415, 457.

Tätigkeitsverbote für Organmitglieder als Gläubigerschutzinstrument

von Professor Dr. HERIBERT HIRTE, LL.M. (Berkeley), Rechtsreferendar Dr. TIM LANZIUS, LL.M. (Bristol, U.W.E.) und Wiss. Mit. SEBASTIAN MOCK, LL.M. (NYU), Hamburg*

Inhaltsübersicht A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Funktion von Tätigkeitsverboten . . . . . I. Schutzdimensionen . . . . . . . . . . . II. Tätigkeitsverbote als Regelungsmodell C. Tätigkeitsverbote . . . . . . . . . . . . . . I. Insolvenzstraftat . . . . . . . . . . . . II. Berufs- oder Gewerbeverbot . . . . . III. Zivilrechtliches Tätigkeitsverbot . . . IV. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . V. Forderungssicherungsgesetz (FoSiG) . VI. Kritische Betrachtung . . . . . . . . . D. Rechtsvergleichende Betrachtung . . . . . I. England . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . III. Vereinigte Staaten von Amerika . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Reformempfehlung . . . . . . . . . . . . . I. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . II. Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . .

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* Prof. Dr. Heribert Hirte, LL.M. (Berkeley), Geschäftsführender Direktor des Seminars für Handels-, Schifffahrts- und Wirtschaftsrecht der Universität Hamburg; Dr. Tim Lanzius, LL.M. (Bristol, U.W.E.) ist Rechtsreferendar in Hamburg; Sebastian Mock, LL.M. (NYU), Attorney-at-Law (New York), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Handels-, Wirtschafts- und Schifffahrtsrecht der Universität Hamburg.

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IV. Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . V. Europäische Koordinierung . . . . . VI. Verfassungsrechtliche Bedenken . . Anhang I – England . . . . . . . . . . . . . Anhang II – Frankreich . . . . . . . . . . . Anhang III – Vereinigte Staaten von Amerika

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A. Einleitung Rechtswidriges Handeln wird durch zivilrechtliche und strafrechtliche Sanktionen geahndet. Im Zivilrecht steht dabei meist nur die Leistung von Schadenersatz im Vordergrund. Die Durchsetzung der Unterlassung künftigen rechtswidrigen Handelns durch andere ist nur in Einzelfällen möglich. Tätigkeitsverbote erlauben in diesem Zusammenhang die dauerhafte Durchsetzung der Unterlassung rechtswidrigen oder potentiell rechtswidrigen Handelns durch einen Ausschluss bestimmter Personen von Teilen des Rechtsverkehrs. Die folgende Darstellung untersucht zunächst die Möglichkeiten für eine Verwendung von Tätigkeitsverboten (B.). Im Anschluss daran erfolgt eine Untersuchung der Tätigkeitsverbote im deutschen Recht de lege lata (C.) und eine rechtsvergleichende Untersuchung von Tätigkeitsverboten im englischen, französischen und im U.S.-amerikanischen Recht (D.). Den Abschluss bildet ein Reformvorschlag (E.).

B. Funktion von Tätigkeitsverboten Der Ausschluss bestimmter Personen von der Geschäftsleitung einer Kapitalgesellschaft dient dem Schutz des Rechtsverkehrs als prophylaktische Maßnahme. I. Schutzdimensionen Geschäftsleiter von Kapitalgesellschaften können in ihrer Funktion gegen eine Reihe von Pflichten verstoßen, die dem Schutz unterschiedlicher Interessen dienen. Hier kommen zuvörderst die Gläubiger und die Anleger bzw. die Gesellschafter in Betracht. 1. Gläubigerschutz Für die Verbindlichkeiten einer Kapitalgesellschaft haftet grundsätzlich nur deren Gesellschaftsvermögen (§ 13 Abs. 2 GmbHG; § 1 Abs. 1 Satz 2 AktG; § 2 GenG). Ausnahmsweise können aber auch Geschäftsleiter der Kapitalgesellschaft

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den Gläubigern der Gesellschaft gegenüber (mittelbar oder unmittelbar) haftbar sein 1; das betrifft in erster Linie Fälle, in denen die Geschäftsleiter gegen ihre im Gläubigerinteresse bestehenden organschaftlichen Pflichten zur Aufbringung und Erhaltung des Gesellschaftsvermögens verstoßen haben. Tätigkeitsverbote für Geschäftsleiter von Kapitalgesellschaften stellen sich daher als ein Problem des Gläubigerschutzes dar und könnten in Zukunft auch eine neue Dimension in der Debatte über die Reform der Kapitalschutzrichtlinie 2 gewinnen.3 2. Schutz des Kapitalmarktes Auch im Kapitalmarktrecht können Tätigkeitsverbote eine wichtige Rolle spielen, da hier die Sanktionierung rechtswidrigen Verhaltens mit einer zivilrechtlichen Haftung kaum ausreichend ist. Die durch die Verletzung bestimmter kapitalmarktrechtlicher Pflichten entstehenden Schäden können oft selbst bei Vorliegen eines vermögenden Geschäftsleiters nicht einmal annäherungsweise abgedeckt werden; mit Blick auf die präventive Funktion des Haftungsrechts ist ein (vollständiger) Ausgleich entstandener Schäden zudem nicht einmal immer vom Gesetz gewollt. Hinzu kommt, dass Schäden in vielen Fällen – gerade bei Verstößen gegen Publikationspflichten – nur schwer feststellbar und ihre kausale Verursachung durch eine Pflichtverletzung nur schwer nachweisbar ist.4 Auch kann eine bloße zivilrechtliche Haftung aufgrund eines Verstoßes gegen kapitalmarktrechtliche Pflichten ganz rational gegen die damit verbundenen Gewinnmöglichkeiten abgewogen werden. II. Tätigkeitsverbote als Regelungsmodell Tätigkeitsverbote können daher eine attraktive Ergänzung zu strafrechtlichen Sanktionen und zu einer zivilrechtlichen Verantwortlichkeit in Form von Schadenersatz bieten. 1 Für eine Übersicht siehe Hirte, Kapitalgesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2006, Rdn. 3.108ff. 2 Zweite Gesellschaftsrechtliche Richtlinie 77/91/EWG des Rates vom 13. 12. 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (77/91/EWG), ABl. EG Nr. L 26 v. 31. 1. 1977, S. 1 ff. 3 Vgl. Mitteilung der EG-Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union – Aktionsplan, KOM (2003) 284 endg., Ziffer 3.1.3.; ebenso Stellungnahme der High Level Group of Company Law Experts on a Modern Regulatory Framework for Company Law in Europe vom 4. 11. 2002, Chapter III, 4.5. 4 Fleischer, ZGR 2004, 437, 473.

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1. Vorteile Die Vorteile einer Sanktion durch ein Tätigkeitsverbot für Organmitglieder liegen in der präventiven Wirkung, in einer raschen Gefahrenabwehr durch behördliches Einschreiten und in einem erhöhten Abschreckungspotential.5 Neben einer nur eingeschränkt möglichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit bleibt nur eine zivilrechtliche Haftung; insbesondere die zivilrechtliche Verantwortlichkeit beschränkt sich in ihrer Effektivität auf das dem betroffenen Geschäftsleiter zur Verfügung stehende Vermögen.6 Personen mit einem geringen oder keinem Vermögen können daher durch die Androhung einer weitreichenden zivilrechtlichen Haftung nicht hinreichend von einer Rechtsverletzung abgeschreckt werden. Unter ökonomischen Gesichtspunkten sind Tätigkeitsverbote für Geschäftsleiter von Kapitalgesellschaften eine sinnvolle Ergänzung zur persönlichen Verantwortlichkeit der Geschäftsleiter für Pflichtverletzungen. Aber auch gegenüber Personen mit einem umfangreichen Vermögen können die bisherigen zivilrechtlichen oder strafrechtlichen Sanktionen oft nur eine unzureichende Abschreckungswirkung entfalten. Während die zivilrechtlichen Sanktionen oft an mangelhafter Durchsetzung(smöglichkeit) seitens der Betroffenen leiden, werden die strafrechtlichen Sanktionen meist seitens der staatlichen Stellen nur zurückhaltend eingesetzt. Ein Tätigkeitsverbot kann hier in seiner Wirkung eine größere Abschreckungswirkung erzielen, da mit ihm die weitere berufliche Existenz bedroht ist.7

2. Nachteile Ein Nachteil der Tätigkeitsverbote ist der zwangsläufig damit verbundene erhöhte institutionelle Überwachungsaufwand. Dieser kann zwar durch die Registergerichte bei der Gründung der Kapitalgesellschaft bzw. bei Eintragung eines neuen Geschäftsleiters übernommen werden; doch kann damit nur die Übertragung von Geschäftsführungsbefugnissen auf formell bestellte Geschäftsleiter überprüft werden. So kann einer Person auch umfangreiche rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht erteilt werden, obwohl diese etwa nicht zum Geschäftsführer bestellt werden dürfte. Die Überprüfung auch solcher „Geschäftsführungstätigkeiten“ bedarf einer weiteren institutionellen Überwachung. 5 Vgl. Fleischer, ZGR 2004, 437, 472. 6 Vgl. dazu Casper, BKR 2005, 83, 87 ff.; zur Verwendung nonmonetärer Sanktionsmechanismen vgl. Shavell, Foundation of Economic Analysis of Law, 2004, S. 509f.; ausführlich ders., 85 Columbia Law Review 1232 (1985). 7 Berg, 56 Vanderbilt Law Review 1871, 1896 (2003) zur Abschreckungswirkung von zivilrechtlichen und strafrechtlichen Sanktionen bei Verstößen gegen kapitalmarktrechtliche Vorschriften in den USA.

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In einem engen Zusammenhang damit steht die tatbestandliche Ausgestaltung der Tätigkeitsverbote. Bei einer Beschränkung auf Straftaten kann hier sicherlich eine effektive Durchsetzung der Tätigkeitsverbote bei einer entsprechenden Koordinierung der zuständigen Gerichte und der Registergerichte sichergestellt werden. Bei einer Ausweitung der Tatbestände auf Sachverhalte unterhalb der Strafbarkeit stellt sich hier aber das Problem der Geltendmachung von Rechtsverletzungen und der Einleitung von Verfahren zur Verhängung von Tätigkeitsverboten. Diese müssten dann wohl in einem gesonderten Verfahren, ausgestattet mit einem Antragsrecht der betroffenen Gläubiger oder anderer Interessierter, verhängt werden.

C. Tätigkeitsverbote Tätigkeitsverbote für bestimmte Personen sind schon jetzt in verschiedenen Rechtsgebieten geregelt. Das Kapitalgesellschaftsrecht stellt an die Person des Geschäftsführers bzw. Vorstandsmitgliedes neben der Geschäftsfähigkeit weitere Anforderungen auf. Nach § 6 Abs. 2 Satz 3, 4 GmbHG und § 76 Abs. 3 Satz 3, 4 AktG darf ein Geschäftsleiter nicht wegen einer Insolvenzstraftat verurteilt, keinem Berufs- oder Gewerbeverbot oder einem sonstigen zivilrechtlichen Tätigkeitsverbot unterliegen.

I. Insolvenzstraftat Die Insolvenzstraftaten sind in § 6 Abs. 2 Satz 3 GmbHG und § 76 Abs. 3 Satz 3 AktG abschließend aufgezählt und beziehen sich nur auf den 24. Abschnitt des Strafgesetzbuches. Daher sind hier nur der Bankrott (§ 283 StGB), der besonders schwere Fall des Bankrotts (§ 283 a StGB), die Verletzung der Buchführungspflicht (§ 283b StGB), die Gläubigerbegünstigung (§ 283c StGB) sowie die Schuldnerbegünstigung (283 d StGB) erfasst. Allerdings können auch Straftaten im Ausland zu beachten sein, wobei es sich dabei um in gleichem Umfang strafbewehrte Taten handeln muss.8 Die begangenen Straftaten müssen dabei in keiner Verbindung mit dem Unternehmensgegenstand oder Gewerbe der derzeitigen Kapitalgesellschaft stehen.9 8 OLG Naumburg, ZIP 2000, 622 = FGPrax 2000, 121; Schneider in Scholz, GmbHG, 9. Aufl. 2000, § 6 Rdn. 20; a.A. LG Köln, NJW-RR 1995, 553f.; Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 6 Rdn. 10; GroßKommAktG/Kort, 4. Aufl. 1992ff., § 76 Rdn. 213; KölnKommAktG/Mertens, 2. Aufl. 1996, § 76 Rdn. 103. 9 Lutter/Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, § 6 Rdn. 17; Heyder in Michalski, GmbHG, § 6 Rdn. 20.

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Andere Straftaten werden von § 6 Abs. 2 Satz 3 GmbHG und § 76 Abs. 3 Satz 3 AktG nicht erfasst.10 Dies gilt auch für typischerweise im Zusammenhang mit Insolvenzen von Kapitalgesellschaften begangenen Straftaten wie Betrug (§ 263 StGB), Untreue (§ 266 StGB) oder Urkundenfälschung (§ 267 StGB). Ebenfalls nicht erfasst sind die Straftaten wegen einer verspäteten Insolvenzantragstellung (§ 84 GmbHG, § 401 AktG).11 Auch die Nicht- oder nicht rechtzeitige Einreichung des Jahresabschlusses ist schon deshalb nicht erfasst, weil sie keine Straftat darstellt. II. Berufs- oder Gewerbeverbot Weiterhin darf gegen den Geschäftsleiter kein Berufsverbot nach § 70 StGB oder ein Gewerbeverbot ausgesprochen worden sein. 1. Berufsverbot (§ 70 StGB) Ein Berufsverbot nach § 70 StGB setzt die Begehung einer rechtswidrigen Tat unter Missbrauch des Berufes oder Gewerbes des Täters voraus. Die Tätigkeit als gesetzlicher Vertreter einer Kapitalgesellschaft ist dabei als solche grundsätzlich nicht erfasst. Anknüpfungspunkt ist vielmehr die Art des Gewerbes, nicht die Rechtsform, in der es getätigt wird. Die Tätigkeit als gesetzlicher Vertreter kann daher nur dann erfasst sein, wenn der Unternehmensgegenstand der Kapitalgesellschaft vollständig oder teilweise mit dem Gegenstand des verbotenen Berufes übereinstimmt.12 Die Verhängung eines vorläufigen Berufsverbots (§ 132a StPO) reicht nicht aus.13 2. Gewerbeverbot Weiterhin darf der zu bestellende Geschäftsleiter keinem Gewerbeverbot unterliegen. Dabei kommt im Wesentlichen aber nur die Gewerbeuntersagung nach § 35 GewO in Betracht. Nicht ausreichend ist die Untersagung der Fortsetzung eines zulassungspflichtigen Handwerkes nach § 16 Abs. 3 HandwO.14 10 BayObLG, GmbHR 1992, 304, 305; LG Köln, NJW-RR 1995, 553f.; so ausdrücklich auch Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 8/3908, S. 70. 11 Kritisch dazu Stein, AG 1987, 165. 12 Tröndle/Fischer, Kommentar zum StGB, 51. Aufl. 2003, § 70 Rdn. 11. 13 Hueck/Fastrich (Fn. 8), § 6 Rdn. 11; Heinrich in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts – GmbH, 2. Aufl. 2003, § 6 Rdn. 12. 14 BayObLG, DB 1986, 1768; Hueck/Fastrich (Fn. 8), § 6 Rdn. 11.

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Die Gewerbeuntersagung nach § 35 GewO setzt die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden voraus. Als unzuverlässig gilt, wer keine Gewähr dafür bietet, dass er in Zukunft sein Gewerbe ordnungsgemäß ausüben wird.15 Hier kommen neben den ohnehin bereits erfassten Insolvenzstraftaten auch allgemeine Eigentums- und Vermögensdelikte in Betracht.16 Wichtige weitere Fallgruppen bilden die mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit,17 Steuerrückstände in nicht unerheblichem Umfang 18 und die Nichtabführung von Beiträgen an die gesetzlichen Sozialversicherungsträger 19. Diese Fallgruppen treffen in der Praxis häufig zusammen. In vielen Fällen sind es die Finanzämter, die fruchtlose Vollstreckungsversuche unternehmen oder Insolvenzverfahren beantragen, bei denen dann die mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ans Licht kommt. Fehlende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit liegt nach der Rechtsprechung des BVerwG u. a. bei Überschuldung, Leistungsunfähigkeit, Fehlen der für die ordnungsgemäße Berufsausübung erforderlichen Geldmittel und fehlender Kreditwürdigkeit vor.20 Die Fallgruppe ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse abgelehnt und der Schuldner in das Verzeichnis nach § 26 Abs. 2 InsO eingetragen wurde. Dasselbe gilt bei einer Eintragung infolge erfolgloser Zwangsvollstreckung in das Verzeichnis nach § 915 ZPO nach Aufstellung des Vermögensverzeichnisses und Abgabe des eidesstattlichen Versicherung gem. § 807 ZPO bzw. Anordnung der Haft zur Erzwingung der eidesstattlichen Versicherung gem. § 901 ZPO.21 Da § 12 GewO eine Gewerbeuntersagung während des Insolvenzverfahrens und gegebenenfalls während des Insolvenzeröffnungsverfahrens ausschließt 22, soweit sie sich auf ungeordnete Vermögensverhältnisse stützt, kann aus der Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch nicht auf die Unzuverlässigkeit geschlossen werden. Stattdessen muss auf dessen Ausgang abgestellt werden. Kommt es zur Durchführung eins Insolvenzplanes (§ 217 InsO) bzw. zur Restschuldbefreiung (§ 286 InsO) entfällt dieser Untersagungsgrund.23 Wird die In15 16 17 18 19 20 21 22

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BVerwGE 65, 1f.; Laubinger, VerwArch 89 (1998), 145, 148 m.w.Nachw. Tettinger in Tettinger/Wank, GewO, 7. Aufl. 2004, § 35 Rdn. 37. Tettinger (Fn. 16), § 35 Rdn. 61. BVerwG, GewArch 1992, 232; BVerwGE 65, 1, 2; VGH Baden-Württemberg, GewArch 1991, 112; Hessischer VGH, GewArch 1994, 238; dazu ausführlich Tettinger (Fn. 16), § 35 Rdn. 50 ff. BVerwGE 65, 1, 2; OVG Schleswig-Holstein, NVwZ-RR 1994, 22. Vgl. Marcks in Landmann/Rohmer, Gewerbeordnung (Stand 10/2004), § 35 Rdn. 46 m.w.Nachw. Tettinger (Fn. 16), § 35 Rdn. 68. Es besteht jedoch keine Ausschlusswirkung gegenüber dem Geschäftsführer, VG Gießen, BB 2003, 1248 (Fortsetzung eines Gewerbeuntersagungsverfahrens gegen die Komplementär-GmbH einer GmbH & Co. KG trotz insolvenzrechtlicher Sicherungsmaßnahmen gegen die KG). Dies schließt eine Untersagung aufgrund der Verletzung steuerrechtlicher oder sozialversicherungsrechtlicher Verpflichtungen jedoch nichts aus.

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solvenzmasse verwertet und das Unternehmen zerschlagen, liegt mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit vor.24 Eine bloße Verletzung zivilrechtlicher Pflichten kann eine Unzuverlässigkeit grundsätzlich nicht begründen, da § 35 GewO nur die Allgemeinheit und nicht einzelne Gläubiger schützen soll.25 Eine Gewerbeuntersagung aufgrund der Verletzung zivilrechtlicher Pflichten ist nur im Einzelfall möglich, wenn aus dem Gesamtverhalten des Gewerbetreibenden eine Unzuverlässigkeit abgeleitet werden kann.26

3. Bezug zum Unternehmensgegenstand Im Gegensatz zu den Insolvenzstraftaten muss damit sowohl beim Berufsverbot als auch bei der Gewerbeuntersagung ein Bezug zu dem tatsächlichen Unternehmensgegenstand der Kapitalgesellschaft bestehen.27 Dabei reicht es aus, wenn der Verbotstatbestand auch nur zum Teil mit dem Unternehmensgegenstand übereinstimmt.28 Insofern kann durch die entsprechende Einschränkung eines neu zu wählenden Unternehmensgegenstandes eine Anwendbarkeit des Ausschlussgrundes unter Umständen abgewendet werden.

III. Zivilrechtliches Tätigkeitsverbot Schließlich kann ein Ausschlussgrund bestehen, wenn der Geschäftsleiter einem zivilrechtlichen Tätigkeitsverbot etwa aufgrund eines Wettbewerbsverbotes unterliegt.29 Dies bedarf hier keiner Vertiefung.

IV. Rechtsfolgen Eine Bestellung trotz entgegenstehenden Bestellungshindernisses führt zur Nichtigkeit der Bestellung (§ 134 BGB).30 Dabei kommt es nicht auf die Kenntnis 24 Vgl. Marcks (Fn. 20), § 35 Rdn. 46. 25 Tettinger (Fn. 16), § 35 Rdn. 72; ausführlich dazu Marcks, Die Untersagungsvorschrift des § 35 GewO, 1986, Rdn. 62. 26 Marcks (Fn. 20), § 35 Rdn. 62. 27 Roth/Altmeppen, GmbHG, 4. Aufl. 2003, § 6 Rdn. 6; Hueck/Fastrich (Fn. 8), § 6 Rdn. 11. 28 Heyder in Michalski, GmbHG, § 6 Rdn. 22. 29 BayObLG, BB 1989, 1009; BayObLG NJW-RR 1999, 934; Hueck/Fastrich (Fn. 8), § 6 Rdn. 10. 30 OLG Naumburg, ZIP 2000, 622 = FGPrax 2000, 121; Kort (Fn. 8), § 76 Rdn. 221.

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des bestehenden Bestellungshindernisses an.31 Das Handelsregister wird dadurch unrichtig, da es die betroffene Person noch als Geschäftsführer ausweist. Eine automatische Mitteilung des jeweiligen das Bestellungshindernis aussprechenden Gerichtes an das Handelsregister findet aber nicht statt.32 Der Anstellungsvertrag des betroffenen Organmitgliedes ist demgegenüber nicht nichtig, da der Abschluss eines Anstellungsvertrages nicht gegen das Verbot der Bestellung verstößt.33 Der Anstellungsvertrag ist aber aus wichtigem Grund kündbar.34 Schließlich ist ein Verstoß gegen ein Berufsverbot auch strafbar (§ 145c StGB).

V. Forderungssicherungsgesetz (FoSiG) Der Entwurf eines Forderungssicherungsgesetzes 35 sieht eine erhebliche Ausweitung der Tätigkeitsverbote für Geschäftsleiter vor. Danach werden auch die gesellschaftsrechtlichen Straftatbestände der §§ 399–401 Abs. 1 AktG und der §§ 82, 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG in den Katalog des § 6 Abs. 2 Satz 3 GmbHG und des § 76 Abs. 3 Satz 3 AktG einbezogen. Die Verurteilung bezüglich dieser Straftaten soll auch für die jeweils andere Gesellschaftsform als Ausschlussgrund Anwendung finden. Weiterhin sollen die allgemeinen Betrugstatbestände einbezogen werden, soweit der Betroffene nach diesen zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wurde. Für die GmbH soll hier zusätzlich eine solidarische Verantwortlichkeit der übrigen Gesellschafter für die Bestellung bzw. unterlassene Abberufung einer Person zum Geschäftsführer geschaffen werden, die nicht Geschäftsführer sein kann (§ 6 Abs. 2 Satz 4 GmbHG-E). Damit soll einer Umgehung von Tätigkeitsverboten durch Strohmänner vorgebeugt werden.36

VI. Kritische Betrachtung Die bisherigen Regelungen über Tätigkeitsverbote für Geschäftsleiter von Kapitalgesellschaften sind unzureichend.

Hueck/Fastrich (Fn. 8), § 6 Rdn. 12. Kritisch dazu Voerste, AG 1987, 376, 377. Kort (Fn. 8), § 76 Rdn. 221. KölnKommAktG/Mertens (Fn. 8), § 76 Rdn. 115. Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung von Werkunternehmeransprüchen und zur verbesserten Durchsetzung von Forderungen (Forderungssicherungsgesetz) BTDrucks. 15/3594; ausführlich dazu Drygala, ZIP 2005, 423ff. 36 Begründung zum Entwurf des Forderungssicherungsgesetzes, BT-Drucks. 15/3594, S. 25. 31 32 33 34 35

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1. Weitgehende tatbestandliche Einschränkungen Tätigkeitsverbote für Organmitglieder sind nach bisheriger Rechtslage nur äußerst eingeschränkt möglich. Es werden lediglich bestimmte insolvenzrechtliche Straftatbestände (§§ 283–283 d StGB) als Grundlage für ein umfassendes Tätigkeitsverbot genutzt. Die klassischen Insolvenzstraftaten der verspäteten Insolvenzantragstellung (§ 84 GmbHG, § 401 AktG) werden bisher nicht erfasst.37 Hinzu kommt bislang, dass sich die betroffenen Geschäftsführer oft mit der Staatsanwaltschaft auf einen „Handel“ einlassen, wonach die nur schwer nachweisbare Insolvenzverschleppung zugegeben und im Gegenzug das Verfahren bezüglich der Insolvenzstraftaten (§§ 283–283d StGB) eingestellt wird (§ 154 StPO).38 Schließlich führt eine Verurteilung zu einer Insolvenzstraftat nach §§ 283–283d StGB zu einem generellen Ausschluss von Organfunktionen für die Dauer von fünf Jahren. Eine Differenzierung nach der Schwere der Tat findet nicht statt.39 Das unmittelbar auszusprechende Berufsverbot des § 70 StGB wird in der Praxis aufgrund seiner strengen Anforderungen nur zurückhaltend angewendet.40 Die Gewerbeverbote sind in ihrem Anwendungsbereich eingeschränkt und können nur unzureichend eine Bestellung verhindern. Schließlich leiden die an ein konkretes Gewerbe anknüpfenden Berufs- bzw. Gewerbeverbote unter einem mangelnden Bezug zu der Position eines Geschäftsleiters einer Kapitalgesellschaft. Durch die vorgeschlagenen Änderungen durch das Forderungssicherungsgesetz können zwar im Vergleich zur bestehenden Rechtslage einige Verbesserungen durch eine Ausweitung der erfassten Tatbestände vorgenommen werden, jedoch bleibt es bei einer weitgehenden Anknüpfung der Tätigkeitsverbote an eine vorherige strafrechtliche Verurteilung.41

2. Fehlender genereller Gläubigerschutz Bei den Gewerbeuntersagungen kommt hinzu, dass diese nur einem einseitigen Schutz des Staates als Gläubiger dienen. Eine fehlende Abführung von Steuern und Sozialabgaben mag zwar Indizwirkung für die Beurteilung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Gewerbetreibenden und damit für seine

37 Daher die Verfassungsmäßigkeit vor dem Hintergrund von Art. 3 Abs. 1 GG anzweifelnd Stein, AG 1987, 165, 168ff. 38 Vgl. Stein, AG 1987, 165. 39 Kritisch Stein, AG 1987, 165, 174. 40 Hanack in Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 1996, § 70 Rdn. 4. 41 Kritisch daher zu den Änderungsvorschlägen Drygala, ZIP 2005, 423, 425ff.

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„Unzuverlässigkeit“ haben und somit eine Gewerbeuntersagung rechtfertigen. Das ist aber weder zwingend, noch und vor allem wird die Zuverlässigkeit gegenüber sonstigen Gläubigern überhaupt in die ordnungsrechtlichen Erwägungen einbezogen. Die Verletzung von Rechten anderer Gläubiger hat daher keine vergleichbare Wirkung. 3. Fehlende Durchsetzung Neben den tatbestandlichen Schranken der möglichen Tätigkeitsverbote hängen diese zudem von der effektiven Durchsetzung der Straftatbestände durch die jeweiligen Behörden bzw. Gerichte ab. Diese wird im Wesentlichen dadurch beeinträchtigt, dass für die unterschiedlichen Verbote unterschiedliche Gerichte bzw. Behörden zuständig sind. Ein Berufsverbot können nur die mit Insolvenzstraftaten befassten Gerichte aussprechen, während die Gewerbeverbote von den Ordnungsbehörden ausgesprochen werden.42 Durch das weitgehende Abstellen auf Straftatbestände hängt die Effektivität der Tätigkeitsmodelle schließlich weitgehend von einer vorherigen strafrechtlichen Verfolgung ab. D. Rechtsvergleichende Betrachtung Vor der Formulierung von Reformempfehlungen soll nunmehr ein Blick in das ausländische Recht geworfen werden. Die Darstellung soll sich dabei auf England, Frankreich und die Vereinigten Staaten von Amerika beschränken. I. England Das englische Gesellschaftsrecht kennt mit dem Companies Directors Disqualification Act 1986 (CDDA) ein sehr weitreichendes Tätigkeitsverbot für Geschäftsführer bei rechtswidrigem Handeln. Eine disqualification order verbietet es gemäß Sec. 1(1) CDDA ihrem Adressaten für eine festgelegte Zeitspanne, ohne Erlaubnis des Gerichts als director der Gesellschaft oder als receiver 43 des Eigentums der Gesellschaft tätig zu werden, in irgendeiner Weise an der Gründung oder Leitung einer Gesellschaft mitzuwirken, sei es durch unmittelbare oder indirekte Handlungen, oder als insolvency practitioner 44 zu agieren.

42 Kritisch zur fehlenden Zusammenarbeit der Gerichte und der Handelsregister Voerste, AG 1987, 376, 377. 43 Dabei handelt es sich um den Zwangsverwalter nach Sec. 29 (2) Insolvency Act 1986. 44 Abwickler von Insolvenzen bei Privatpersonen und Kapitalgesellschaften (Sec. 388 ff. Insolvency Act 1986).

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Die disqualification order ergeht auf Antrag durch das Gericht. Antragsberechtigt sind gemäß Sec. 16(2) CDDA grundsätzlich unter anderem der Secretary of State als Leiter des Department of Trade and Industry, der liquidator 45 sowie ehemalige und gegenwärtige Gläubiger und Gesellschafter der von dem Fehlverhalten des Adressaten betroffenen Gesellschaft.46 Im Rahmen eines Verfahrens nach Sec. 6, 8, 9A CDDA besteht schließlich auch die Möglichkeit, sich durch ein disqualification undertaking sozusagen selbst zu disqualifizieren.47 Adressat einer disqualification order können sowohl natürliche Personen als auch Gesellschaften und sonstige Körperschaften sein.48

1. Tatbestand Der Companies Directors Disqualification Act 1986 ist in seinem Regelungsbereich sehr weit angelegt und ermöglicht eine disqualification order aus sehr unterschiedlichen Gründen.

a) Straftaten und Verletzung von Publizitätsvorschriften Sec. 2–5 CDDA ermöglichen eine Disqualifikation wegen Verletzung gesellschaftsrechtlicher Vorschriften und der Begehung von Straftaten bei der „… promotion, formation, management, liquidation or striking off of a company, or with the receivership or management of a company’s property“ (Sec. 2(1) CDDA). Grundlage für eine disqualification order wegen Verletzung gesellschaftsrechtlicher Vorschriften kann dabei auch der Verstoß gegen Publizitätsvorschriften und dabei insbesondere Rechnungslegungspublizitätsvorschriften sein (Sec. 3 CDDA).

45 Dabei handelt es sich um die für das winding up einer Gesellschaft zuständige Person (Artt. 163ff. Insolvency Act 1986). 46 Für Sec. 6, 8, 9A CDDA gilt hierbei allerdings eine Sonderregelung (siehe D.I.2). 47 Ein disqualification undertaking ist eine Erklärung, mit der der Erklärende versichert, dass er für eine bestimmte Zeitspanne ohne Erlaubnis des Gerichts keine der in Sec. 1(1) CDDA benannten Ämter bekleiden oder in irgendeiner Weise an der Gründung oder Leitung einer Gesellschaft mitzuwirken wird (Sec. 1A, Sec. 9B(3) CDDA). Siehe dazu ausführlich Palmers Company Law, Rdn. 8.105.1 (Stand 12/2004). 48 Sec. 14 CDDA; vgl. dazu Sealy, Disqualification and personal liability of directors, 2000, S. 9.

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b) Aufsichtsverfahren Sec. 8 CDDA ermöglicht überdies eine Disqualifikation eines directors oder shadow directors 49 aufgrund der Ergebnisse eines vom Department of Trade and Industry durchgeführten Aufsichtsverfahrens.50 Im Rahmen dieses Verfahrens können die Geschäfte und Verhältnisse einer Gesellschaft durch Inspektoren, welche vom Secretary of State eingesetzt werden, untersucht werden. Alternativ kann der Secretary of State die Vorlage von Dokumenten verlangen. Wenn aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse nach Ansicht des Secretary of State ein überwiegendes öffentliches Interesse für ein Tätigkeitsverbot besteht, kann er ein solches beantragen (Sec. 8(1) CDDA). Das Gericht kann es auf diesen Antrag hin anordnen, wenn es von der unfitness (Sec. 6 CDDA) des directors oder shadow directors überzeugt ist (Sec. 8(2) CDDA).

c) Kartellrecht Eine Disqualifikation wegen Verstoßes gegen kartellrechtliche Vorschriften (Disqualification for competition infringements) sieht Sec. 9A CDDA vor. Verstößt eine Gesellschaft gegen kartellrechtliche Vorschriften und hält das Gericht den director für „unfit to be concerned in the management of a company“, muss es eine disqualification order verhängen. Kartellrechtliche Vorschriften sind dabei nicht nur bestimmte Vorschriften des Competition Acts 1998, sondern auch die Artt. 81, 82 EG (Sec. 9A(4) CDDA). Der Begriff der unfitness richtet sich in diesem Zusammenhang nicht nach der allgemeinen Definition in Sec. 6, 9 CDDA. Vielmehr muss das Gericht gemäß Sec. 9A(5)(a), (6) CDDA prüfen, ob das Verhalten des directors zum Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht beigetragen hat bzw. – wenn dies nicht der Fall sein sollte – ob er den Verstoß pflichtwidrig nicht verhindert hat. Wesentlich ist auch, ob er von dem Verstoß hätte Kenntnis haben müssen.51

49 Ein shadow director ist gemäß Sec. 22(5) CDDA jede Person, „in accordance with whose directions or instructions the directors of the company are accustomed to act“. Hierdurch ist es möglich, eine disqualification order auch gegen Hintermänner auszusprechen. Als shadow directors kommen vor allem auch Gesellschafter und Banken in Betracht (vgl. zu den Einzelheiten Hammerson, New Law Journal 2001, 1703ff.). Im Folgenden ist mit director auch der shadow director gemeint. 50 Artt. 431ff. Companies Act 1985. 51 Der Schedule I CDDA ist dagegen nicht anzuwenden, Sec. 9A(5)(c) CDDA.

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d) Wrongful und fraudulent trading Weiterhin ermöglicht Sec. 10 CDDA eine disqualification order in einem Verfahren wegen fraudulent oder wrongful trading. Verurteilt ein Gericht eine Person aufgrund von Sec. 213 oder Sec. 214 Insolvency Act 1986 (IA 1986) zu einer Zahlung in das Vermögen der Gesellschaft, kann es gleichzeitig eine disqualification order erlassen (Sec. 10(1) CDDA).

e) Kapitalmarktrecht Eine Disqualifikation ist auch wegen Insiderhandels möglich: Wer am geregelten Markt Wertpapiere kauft oder verkauft und dabei Insiderinformationen zu seinem Vorteil ausnutzt, macht sich gemäß Sec. 52 Criminal Justice Act 1993 wegen insider dealing strafbar. Wer wegen eines solchen Delikts verurteilt worden ist, kann nach Sec. 2 CDDA disqualifiziert werden, wenn die Begehung des Deliktes in einer tatsächlichen Verbindung mit dem Management der Gesellschaft stand. Eine solche Verbindung ist beispielsweise gegeben, wenn ein director einer Gesellschaft seine Kenntnisse um deren finanzielle Situation zu einem Insidergeschäft ausnutzt.52

f) Unfitness In der Praxis erfolgen die meisten Disqualifikationen allerdings aufgrund von Sec. 6 CDDA 53. Hiernach muss das Gericht gemäß Sec. 6 (1) CDDA eine disqualification order gegen eine (natürliche oder juristische) Person erlassen, wenn diese director oder shadow director einer Gesellschaft ist oder war, die insolvent geworden ist (Sec. 6 (1)(a) CDDA) und das Gericht überzeugt ist, dass das Verhalten dieser Person als director „makes him unfit to be concerned in the management of a company“ (Sec. 6 (1)(b) CDDA). Kriterien zur Bestimmung von unfitness sind in Sec. 9 i.V.m. Schedule 1 CDDA aufgezählt. Diese Kriterien sind jedoch nicht abschließend 54, so dass das Gericht auch andere Umstände, die nicht in Schedule 1 erwähnt sind, berücksichtigen darf. Nach diesem Schedule 1 muss das Gericht unter anderem das Vergehen bzw. die Pflichtverletzungen des directors und den Umfang seiner Verantwortlichkeit

52 R. v. Goodman [1993] 2 All E.R. 789. 53 In den Jahren 1997–2002 wurden ca. 80–90 % der disqualifications auf Basis von Sec. 6 CDDA verhängt (Disqualification statistics, abrufbar unter www.insolvency. gov.uk). 54 Dies ergibt sich aus Sec. 9(1) CDDA: „…have regard in particular…“.

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für Verstöße gegen Buchführungs- und Publizitätsvorschriften sowie unter dem Insolvency Act 1986 (IA 1986) anfechtbare Rechtshandlungen berücksichtigen. Weiterhin muss das Gericht auch den Umfang der Verantwortlichkeit des directors für die Insolvenz der Gesellschaft, die Nichtlieferung von Waren bzw. die Nichterbringung von Dienstleistungen, für die bereits das Entgelt entrichtet wurde, für unter dem IA 1986 anfechtbare Rechtshandlungen und für Verstöße gegen bestimmte vom IA 1986 aufgestellte Pflichten berücksichtigen. Aus Schedule 1 lässt sich aber nicht entnehmen, welche Schwere das Fehlverhalten des directors haben muss. Die Rechtsprechung hat dies wie folgt bestimmt: Unfitness liegt zum einen bei der Verletzung der kaufmännischen Redlichkeit (commercial probity) durch unredliches Verhalten (dishonest conduct) vor.55 Eine solche ist gegeben im Fall der cynical exploitation of the privilege of trading through limited liability.56 Weiterhin wird unfitness bei incompetence or negligence in a very marked degree angenommen 57. Der Begriff der unfitness ist damit offen. Sowohl in der englischen Rechtsprechung als auch in der englischen Literatur wird betont, dass die Frage, ob unfitness vorliegt, von den Umständen des Einzelfalls abhängt. Die Festlegung eines Mindestmaßes an Fehlverhalten kann hierbei nicht vorgenommen werden 58. Dillon LJ bezeichnete die Frage nach der unfitness als eine jury question.59 Aus dem case law lassen sich deshalb lediglich für bestimmte Fälle auch nur Leitlinien gewinnen.60

55 Re Lo-Line Electric Motors Ltd [1988] 2 All E.R. 692. 56 Re Douglas Construction Services Ltd [1988] B.C.L.C. 397; Farrar/Hannigan, Farrar’s Company Law, 4. Aufl. 1998, S. 352. 57 Re Sevenoaks Stationers (Retail) Ltd [1991] 3 All E.R. 578. Ähnlich schon Re Bath Glass [1988] B.C.L.C. 329, 333. 58 Re Bath Glass [1988] B.C.L.C. 329, 333; Griffin, Personal liability and disqualification of company directors, 1999, S. 165 f.; Mayson/French/Ryan, Company Law, 21. Aufl. 2004, S. 723. 59 Re Sevenoaks Stationers (Retail) Ltd [1991] 3 All E.R. 578. 60 Unfitness ist daher anzunehmen bei fehlender oder nicht ordnungsgemäßer Buchführung (Secretary of State for Trade and Industry v. Ettinger [1993] B.C.L.C. 896, 899–900; Farrar/Hannigan [Fn. 56] S. 354 f.; Griffin [Fn. 58] S. 167); bei Insolvenzverschleppung (Re Living Imagess Ltd. [1996] B.C.C. 112; Re Richborough Furniture Ltd. [1996] 1 B.C.L.C. 507, 517; Re Sanford Services Ltd. [1987] B.C.L.C. 607; Farrar/Hannigan [Fn. 56], S. 355 m.w.Nachw.); bei Übertragung des Geschäftsbetriebes einer Gesellschaft auf eine andere ohne Übernahme der Verbindlichkeiten (Secretary of State for Trade and Industry v. McTighe [No 2, 1996] 2 B.C.L.C. 477, 479; Birds/Ferran/Villiers, Boyle & Birds’ Company Law, 4. Aufl. 2000, S. 435; Morse, Charlesworth & Morse Company Law, 16. Aufl. 1999, S. 293) bei unzureichender Kapitalaufbringung (Re Chartmore [1990] B.C.L.C. 673; Re Park House Properties Ltd. [1997] 2 B.C.L.C. 530; Farrar/Hannigan [Fn. 56] S. 356f.). Für eine Übersicht siehe Sealy (Fn. 48) S. 32 f.; Höfling, Das englische internationale Gesellschaftsrecht, 2002, S. 193 f.

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2. Rechtsfolgen Die Dauer der Disqualifikation beträgt mindestens zwei und höchstens 15 Jahre (Sec. 6 (4) CDDA). Bei der Festsetzung der Dauer des Tätigkeitsverbotes müssen vorherige disqualification orders gegen die betreffende Person, der Verschuldensgrad und das Maß an Inkompetenz berücksichtigt werden.61 Im Fall des Erlasses einer disqualification order bzw. bei der Annahme eines disqualification undertakings durch den Secretary of State darf die disqualifizierte Person während der festgelegten Zeitspanne nicht als director einer Gesellschaft bzw. als receiver des Eigentums einer Gesellschaft tätig werden, nicht in irgendeiner Weise direkt oder indirekt an der Gründung oder Leitung einer Gesellschaft mitwirken und nicht als insolvency practitioner agieren (Sec. 1 (1) CDDA). Die Beteiligung am Management der Gesellschaft bzw. am Entscheidungsfindungsprozess der Gesellschaft umfasst auch die Tätigkeit als Management Consultant.62 Zuwiderhandlungen gegen eine disqualification order werden mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe geahndet (Sec. 13 CDDA). Hinzu kommt eine Haftung im Fall der Zuwiderhandlung für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft neben der Gesellschaft als Gesamtschuldner (Sec. 15 (1)(a), (2) CDDA). Hierbei sind allerdings nur die Verbindlichkeiten zu berücksichtigen, die in der Zeit nach der disqualification order entstanden sind (Sec. 15 (3)(a) CDDA). Die Haftung erstreckt sich auch auf diejenigen, die für disqualifizierte Personen am Management der Gesellschaft teilnehmen (Sec. 15 (1)(b), (2) CDDA). Das Gericht muss jede disqualification order dem Secretary of State zur Eintragung in ein Register melden (Sec. 18 (2) CDDA). Das Register ist für Dritte einsehbar (Sec. 18 (4) CDDA) und auch im Internet verfügbar.63 Eine generelle Aufhebung sieht der CDDA nicht vor. Die disqualifizierte Person kann jedoch bei Gericht eine Erlaubnis beantragen, die ihr untersagten Tätigkeiten wieder aufnehmen zu dürfen.

61 Re Sevenoaks Stationers (Retail) Ltd., [1991] 3 All E.R. 578, 581f.; Eine Disqualifikation für über zehn Jahre erfolgt nur in besonders schweren Fällen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Betroffene bereits einmal disqualifiziert worden war. Eine Disqualifikation für einen Zeitraum von 6–10 Jahren erfolgt insbesondere bei vorsätzlichem Handeln. Schließlich erfolgt eine Disqualifikation für 2–5 Jahre nur in Fällen grober Nachlässigkeit bzw. grober Inkompetenz (für einen Überblick dazu vgl. auch Morse (Fn. 60) S. 295). 62 R. v. Campbell [1984] B.C.L.C. 83; zu weiteren Fallgruppen siehe Mayson/ French/Ryan (Fn. 58), S. 717 f.; vgl. auch Sealy (Fn. 48), S. 8f. 63 Das Register ist zugänglich über die Homepage des Companies House (www. companieshouse.gov.uk).

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3. Durchsetzung und Sanktionierung Die disqualification order wird von dem für das Insolvenzverfahren der jeweiligen Gesellschaft zuständigen Gericht ausgesprochen (Sec. 16 (1) CDDA). Das Antragsrecht kommt neben dem Secretary of State auch dem Insolvenzverwalter, den Gläubigern und jeder anderen Person zu, der gegenüber der director eine für eine disqualification order relevante Handlung begangen hat (Sec. 16 (2) CDDA). Bei einem Verstoß gegen eine disqualification order haftet der betroffene director für alle Verbindlichkeiten der Gesellschaft persönlich. Darüber hinaus können ihm auch strafrechtliche Sanktionen drohen (Sec. 15 CDDA). Die Überwachung des Verbots obliegt der Insolvency Agency.64

4. Fazit Mit dem CDDA steht im englischen Recht ein Instrument zur Verfügung, mit dem sich unseriöse bzw. inkompetente Geschäftsleiter effektiv aus dem Wirtschaftsleben ausschließen lassen. Trotz der eher zurückhaltenden Handhabung durch die Gerichte ist die Zahl der disqualification orders seit Einführung des CDDA signifikant angestiegen.65 Diese Tendenz wird jedoch zunehmend auch kritisch betrachtet.66

II. Frankreich Das französische Recht kennt als Tätigkeitsverbot für Organmitglieder die Institute der faillite personnelle und der interdiction de gérer, die allerdings nicht nur auf Organmitglieder juristischer Personen beschränkt sind, sondern darüber hinaus auch gegen Kaufleute und Freiberufler verhängt werden können.67

64 www.insolvency.gov.uk. 65 National Audit Office, Company director disqualification – a follow-up report, 1999, S. 5. 66 Hicks, JBL 2001, 433; ders., Tolley’s Insolvency Law and Practice 1999, S. 73. 67 Im Überblick dazu Guyon, Droit des affaires – Band 2, 7. Aufl. 1999, Rdn. 1414f.; vgl. auch Pernice, Die Insolvenzverschleppungshaftung durch das Geschäftsführungsorgan der kleinen Kapitalgesellschaft im deutschen, französischen und englischen Recht, 2002, S. 180 ff.

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1. Faillite personnelle Durch die faillite personnelle (Art. L 653-2 Code de Commerce) kann ein gérant oder ein gérant de fait 68 mit einem dauerhaften Tätigkeitsverbot belegt werden. Darüber hinaus können auch Kaufleute und Freiberufler mit einem Tätigkeitsverbot belegt werden (Artt. L 653-1 Abs. 1 Nr. 1, L 653-3 Code de Commerce).

a) Tatbestand Der Tatbestand für die faillite personnelle für Organmitglieder juristischer Personen ergibt sich aus Art. L 653-4, 653-5 und 653-6 Code de Commerce. Art. L 653-4 Code de Commerce umfasst die Tatbestände der Vermögensvermischung, der Verwendung von Gesellschaftsvermögen zu eigenen Zwecken und die eigennützige und missbräuchliche Ausbeutung der Gesellschaft. Art. L 635-5 Code de Commerce regelt hingegen die Tatbestände des Verstoßes gegen gesellschaftsrechtliche Vorschriften, des ruinösen Verkaufs von Vermögensgegenständen, der einseitigen Begünstigung von Gläubigern, der Verzögerung der Insolvenzeröffnung, der Verweigerung der Zusammenarbeit mit den Justizorganen und schwerer Fehler in der Buchführung. Nach Art. L 654-6 Code de Commerce kann eine faillite personnelle hinsichtlich eines Geschäftsleiters schließlich auch darauf gestützt werden, dass die Gesellschaft die von ihrem Geschäftsleiter in ihrem Namen eingegangenen Verbindlichkeiten nicht beglichen hat. Seit der Unternehmensrechtsreform von 2005 (Loi de sauvegarde des entreprises) 69 ist die Verletzung der Insolvenzantragspflicht kein Grund für die faillite personnelle mehr, sondern nur noch für eine interdiction de gérer. Die Aufzählungen des Art. L 653-4 Code de Commerce und des Art. L 653-5 Code de Commerce sind abschließend und können nicht durch die Gerichte ausgeweitet werden.70 Bei allen Tatbestandsalternativen ist die Absicht des gérant unbeachtlich.71

68 Ein gérant de fait ist „toute personne ayant une activité positive de direction générale accomplie habituellement et en toute indépendance“, dazu ausführlich Lamy-Droit Commercial, Stand 2003, Rdn. 3668 m.w.Nachw. 69 Loi nº 2005-845 du 26 juillet 2005, J.O. n° 173 du 27 juillet 2005, p. 12187ff. 70 Cass. com., 27 avril 1993, 1993 Bull. Civ. IV, No. 149, S. 103; Cass. com., 14 octobre 1997, D. affaires 1997, 1362. 71 Cass. com., 10 octobre 1995, 1995 Bull. Civ. IV, No. 227, S. 212.

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b) Rechtsfolgen Die faillite personnelle führt zu einem umfassenden Tätigkeitsverbot, das seit der Unternehmensrechtsreform von 2005 auf einen Zeitraum von höchstenz fünfzehn Jahren begrenzt werden muss (Art. L 653-11 Code de Commerce).72 In ihrer Wirkung geht die faillite personnelle allerdings weiter als ein bloßes Tätigkeitsverbot bezüglich der Organstellung in einer Kapitalgesellschaft. Dem gérant ist es nämlich auch untersagt, eine sonstige selbständige kaufmännische, handwerkliche oder landwirtschaftliche Unternehmertätigkeit in irgendeiner Form auszuüben (Art. L 653-2 Code de Commerce). Davon umfasst ist eine Tätigkeit als Makler, Rechtsanwalt 73, Handelsvertreter, Händler oder Geschäftsführer bei Versicherungen, Kapitalanlagegesellschaften und Presseunternehmen.74 Schließlich kann dem gérant auch die Ausübung seiner Stimmrechte in der Gesellschafterversammlung der betroffenen Gesellschaft untersagt werden (Art. L 653-9 Code de Commerce). Diese werden dann von einem durch das Gericht bestimmten mandataire ausgeübt. Im Einzelfall kann das Gericht auch die übrigen Mitgliedschaftsrechte beschränken und sogar die Zwangsabtretung der Gesellschaftsanteile anordnen (Art. L 653-9 Abs. 2 Code de Commerce). Das Gericht kann jedoch von einer faillite personnelle absehen, wenn der gérant die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, um eine Gesundung der Gesellschaft herbeizuführen und die Gefährdung der Gesellschaftsgläubiger damit zu minimieren.75 Die faillite personnelle wird in das registre du commerce et des sociétés 76 und in das Bulletin officiel des annonces civiles et commerciales (BODACC) eingetragen. Der Umfang des Tätigkeitsverbotes ist auf die nicht spezifisch auf Kapitalgesellschaften ausgerichtete Ausgestaltung des französischen Rechts zurückzuführen. Während insbesondere die Problematik der Insolvenzverschleppung in den meisten Rechtsordnungen als ein Problem der Kapitalgesellschaften angesehen wird, erfasst das französische Recht dies als rechtsformunabhängige Tatbestände (Art. L 631-2 Code de Commerce).77 72 Bis zur Reform von 2005 betrug die Mindestdauer der faillite personnelle fünf Jahre und konnte dabei aber nicht lebenslang verhängt werden (Cass. com., 3 novembre 1992, 1992 Bull. civ. IV, No. 343, S. 244; Cass.com., 24 octobre 1995 (No. de pourvoi 93-14849); vgl. auch Vallansan, Redressement et liquidation judiciaires, 2. Aufl. 2000, S. 288f. m.w.Nachw. 73 Art. 54 al. 2 Loi portant réforme de certaines professions judiciaires et juridiques (Loi n°71-1130 du 31 décembre 1971). 74 Für einen Überblick zu den einzelnen Verbotstatbeständen siehe Lamy-Droit (Fn. 68), Rdn. 3684; siehe auch Vallansan (Fn. 72) S. 284f. 75 CA Paris, 3e ch, 7 mai 1991, Rev. Proc. Coll. 1992, 221 m. Anm. Chaput. 76 Einsehbar unter www.euridile.inpi.fr. 77 Pernice (Fn. 67), S. 143; zur Einordnung im deutschen Recht jetzt Hirte/Mock, ZIP 2005, 474.

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Die Wirkungen der faillite personnelle stehen in einem engen Zusammenhang mit den nicht erfüllten Gesellschaftsverbindlichkeiten. Der gérant kann die Aufhebung einer faillite personnelle erreichen, indem er die nicht erfüllten Gesellschaftsverbindlichkeiten begleicht oder hierzu eine nach Auffassung des Gerichts ausreichende Summe beisteuert (Art. L 653-11 Abs. 3 Code de Commerce).78

2. Interdiction de gérer Ein ähnliches – weitaus flexibleres und milderes – Instrument stellt die interdiction de gérer (Art. L 653-8 Code de Commerce) dar.

a) Tatbestand Die interdiction de gérer knüpft an die gleichen Tatbestandsmerkmale wie die faillite personnelle an und kann auch für den gleichen Zeitraum verhängt werden. Seit der Reform von 2005 kann allerdings bei Verletzung der Insolvenzantragspflicht nur noch eine interdiction de gérer angeordnet werden. Weiterer entscheidender Unterschied zwischen beiden Instrumenten ist der Umfang des Tätigkeitsverbotes.79

b) Rechtsfolgen Während die faillite personnelle ein umfassendes Tätigkeitsverbot darstellt, beschränkt sich die interdiction de gérer auf bestimmte Tätigkeiten oder Geschäftszweige. Das Gericht kann daher im Einzelfall den Umfang des Tätigkeitsverbotes selbst bestimmen. Die interdiction de gérer stellt daher gegenüber der faillite personnelle ein milderes Mittel dar und ermöglicht es den Gerichten, eine Abstufung bezüglich der Tätigkeitsverbote vorzuehmen. Die interdiction de gérer kann sowohl gegen einen gérant als auch gegen den gérant de fait ausgesprochen werden.80 Ebenso wie bei der faillite personnelle kann die interdiction de gérer bei einem ausreichenden Beitrag des Geschäftsführers aufgehoben werden (Art. L 653-11

78 Cass. com., 3. 11. 1992, Revue de Jurisprudence de Droit des Affaires 1992, 941; Cass. com., 3 novembre 1992, 1992 Bull. civ. IV, No. 344, S. 245. 79 Ausführlich zu den Unterschieden zwischen beiden Rechtsinstituten siehe LamyDroit Commercial (Fn. 68), Rdn. 3688. 80 Cass. com., 13 octobre 1986, Gaz. Pal. 1987, 2, pan. jurispr., 552 mit Anm. Marchi.

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Abs. 3 Code de Commerce).81 Zusätzlich kann das Gericht seit der Unternehmensrechtsreform von 2005 eine interdiction de gérer – nicht aber eine faillite personnelle – aufheben, wenn der Geschäftsleiter Gewähr dafür bietet („présente toutes garanties“), dass er zur Führung einer Gesellschaft in der Lage ist (Art. L 653-11 Abs. 4 Code de Commerce).

3. Durchsetzung und Sanktionierung Sowohl die faillite personnelle als auch die interdiction de gérer werden von dem für das Insolvenzverfahren zuständigen Gericht ausgesprochen (Art. L 653-4, L 653-5 und L 653-6 Code de Commerce). Ein Verstoß gegen die faillite personnelle oder die interdiction de gérer ist mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren und einer Geldstrafe von bis zu € 375.000 bewehrt (Art. L 654-15 Code de Commerce). 4. Fazit Mit der faillite personnelle und der interdiction de gérer kennt das französische Recht vor allem in den Rechtsfolgen sehr weitgehende Tätigkeitsverbote für Organmitglieder. Im Gegensatz zur englischen verzichtet die französische Regelung auf eine Generalklausel der unfitness. Auffällig ist weiterhin die Möglichkeit des jeweiligen gérant, das Tätigkeitsverbot durch Zahlung aller offenen Gesellschaftsverbindlichkeiten zu beenden. Dennoch wird beiden Rechtsinstituten damit kein ausschließlich kompensatorischer Zweck zuerkannt. Der Schutz des Rechtsverkehrs vor unzuverlässigen und unfähigen Personen steht auch hier im Vordergrund.82

III. Vereinigte Staaten von Amerika Die Rechtslage in den Vereinigten Staaten von Amerika wird vor allem durch das Nebeneinander von state law und federal law geprägt. Die gesellschaftsrechtlichen Sanktionsinstrumente ergeben sich aus dem einzelstaatlichen Recht. Der Schutz der Kapitalmärkte wird hingegen weitestgehend durch Bundesrecht wahrgenommen. Ein Tätigkeitsverbot für den Geschäftsleiter einer Kapitalgesellschaft ist in den Vereinigten Staaten von Amerika kaum geregelt. Zwar kennen die einzelnen

81 Hier gelten die gleichen Voraussetzungen wie bei der faillite personnelle (LamyDroit Commercial [Fn. 68], Rdn. 3691). 82 Vallansan (Fn. 72) S. 283ff.

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Gesellschaftsrechte der Bundesstaaten Instrumente, Geschäftsleiter bei rechtswidrigem Verhalten abzuberufen, daraus ergibt sich aber noch nicht, dass diese abberufenen Geschäftsleiter in anderen Gesellschaften nicht bestellt werden können. Lediglich das Kapitalmarktrecht kennt ein dauerhaftes Tätigkeitsverbot für Geschäftsleiter. Diese Bestimmungen sind allerdings nur auf börsennotierte Gesellschaften anwendbar, so dass vor allem die geschlossene Kapitalgesellschaft (closed corporation bzw. LLC) davon nicht erfasst wird. 1. Gesellschaftsrecht (removal remedy) In den Gesellschaftsrechten der Einzelstaaten der USA war eine gerichtliche Amtsenthebung (removal remedy) von directors ursprünglich nicht vorgesehen. Direktoren konnten nur durch einen Mehrheitsentscheid der Anteilseigner ihres Amtes enthoben werden. Vereinzelt haben einige Gerichte angenommen, die Kompetenz zur Amtsenthebung eines directors zu besitzen 83. Eine gesetzliche Regelung für eine gerichtliche Amtsenthebung wurde erstmals im Revised Model Business Corporation Act (RMBCA) 84 eingeführt, die von einer Vielzahl der Bundesstaaten übernommen wurde.85 a) Revised Model Business Corporation Act Die gerichtliche Amtsenthebung von Direktoren ist in Sec. 8.09 RMBCA (removal remedy) geregelt. Eine gerichtliche Amtsenthebung ist danach nur möglich, wenn der Direktor sich gegenüber der Gesellschaft betrügerisch oder treuwidrig verhält bzw. seine Befugnisse gröblich missbraucht und wenn seine Amtsenthebung im besten Interesse der Gesellschaft liegt. Dies wird insbesondere dann angenommen, wenn dem director einer geschlossenen Gesellschaft ein Fehlverhalten vorgeworfen werden kann und er über genügend Stimmanteile verfügt, 83 So zu Beispiel Brown v. North Ventura Road Development Co., 30 Cal.Rptr 568, 571 (Cal. Ct. App. 1963); De Garmo v. Goldman, 123 P.2d 1, 4 (Cal. 1942). Die Gerichte stützten sich hierbei auf eine Vergleichbarkeit von directors und trustees, die gerichtlich enthoben werden können. Eine solche Analogie und damit auch die Kompetenz zur Amtsenthebung wurde in den meisten Fällen jedoch abgelehnt: Webber v. Webber Oil Co., 495 A.2d 1215, 1221 (Me. 1985); Feldman v. Pennroad Corp., 60 F. Supp 716, 719 (D. Del. 1945), aff’d 155 F.2d 773 (3d Cir. 1946), cert. denied, 329 U.S. 808 (1947); Harkey v. Mobley, 552 S.W.2d 79, 81 (Mo. Ct. App. 1977). 84 Es handelt sich bei dem RMBCA aber nicht um zwingendes Recht, das von den Bundesstaaten umzusetzen ist. Eine Umsetzung erfolgt auf rein fakultativer Basis. Dazu im Überblick Merkt, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 1991, Rdn. 132. Das im Folgenden dargestellte case law bezieht sich auf die in den jeweiligen Bundesstaaten umgesetzte Norm der model laws. 85 Vgl. den Überblick bei Sirodoeva-Paxson, 50 Hastings Law Journal 97, 104 (1998–1999).

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um seine Abwahl durch die anderen Gesellschafter zu verhindern.86 Aber auch in Publikumsgesellschaften kann eine gerichtliche Abberufung in Betracht kommen, wenn eine Gesellschafterversammlung zur Abberufung nur unter erheblichen finanziellen Aufwendungen und zeitlichen Verzögerungen zustande kommen kann.87 Die removal remedy soll jedoch die verbandsinternen Kontrollmechanismen nicht ersetzen, so dass diese einer removal remedy stets vorgehen.88 Neben dem board kann die removal remedy auch von den Aktionären der betroffenen Gesellschaft im Wege der derivative suit geltend gemacht werden.89 Dabei muss der Aktionär zunächst die Gesellschaft schriftlich auffordern (demand), selbst ein Verfahren einzuleiten, bevor er selbst die derivative suit erheben darf (Sec. 7.42 RMBCA). Diese Aufforderung (demand) kann gemäß Sec. 7.44 RMBCA durch das board mit der Begründung zurückgewiesen werden, dass die Durchführung des Verfahrens nicht im besten Interesse der Gesellschaft sei. Das board muss allerdings aus einer Mehrheit von independent und disinterested directors bestehen (Sec. 7.44(b) RMBCA). Kommt ein solcher ablehnender Mehrheitsbeschluss zustande, muss das Gericht eine gleichwohl erhobene derivative suit abweisen. Da die Wahl und die Entlassung eines director grundlegende Kompetenzen der Anteilseigner darstellen, soll die removal remedy in diese Kompetenzen auch nur so wenig wie möglich eingreifen. Deshalb soll das Gericht grundsätzlich keine Amtsenthebung anordnen, wenn die Anteilseigner in voller Kenntnis des Fehlverhaltens des Direktors diesen wieder wählen oder ihn nicht abwählen. Ebenso muss das Gericht die Geeignetheit anderer Maßnahmen berücksichtigen, bevor es die removal remedy anwendet. Die Beschränkungen hinsichtlich des der removal remedy zugrunde liegenden Fehlverhaltens auf ein Fehlverhalten gerade gegenüber der Gesellschaft machen deutlich, dass Sec. 8.09 RMBCA nicht dem Schutz der Allgemeinheit oder des Rechtsverkehrs, sondern lediglich dem Interesse der Gesellschaft dient. Dies 86 Official Comment zu Sec. 8.09 (56 Business Lawyer 85, 88 (2000–2001)). 87 Vgl. zu dieser Fallgruppe auch Sirodoeva-Paxson, 50 Hastings Law Journal 97, 129 ff. (1998–1999). 88 Committee on Corporate Laws: „Section 8.09 is designed to operate in the limited circumstances where other remedies are inadequate to address serious misconduct by a director and it is impracticable for shareholders to invoke the usual remedy of removal under section 8.08.“ (56 Business Lawyer 85 (2000–2001). 89 Nach der ursprünglichen Fassung des RMBCA konnte ein Aktionär die removal remedy auch selbständig gerichtlich geltend machen, wenn er über eine Beteiligung von mindestens 10 % verfügte. Alle übrigen Aktionäre waren auf die derivative suit angewiesen. Diese Beschränkung wurde jedoch als ungerechtfertigt angesehen, so dass sie in der Überarbeitung des RMBCA im Jahr 2001 abgeschafft wurde (Committee on Corporate Laws, 56 Business Lawyer 85, 89 (2000–2001); zur Entwicklung von Sec. 8.09 RMBCA siehe auch Sirodoeva-Paxson, 50 Hastings Law Journal 97, 155 ff. (1998–1999).

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zeigt sich weiterhin an der Subsidiarität dieses Rechtsinstituts gegenüber anderen verbandsinternen Kontrollmechanismen und nicht zuletzt daran, dass eine Wiederwahl des directors nur in Bezug auf die selbe Gesellschaft untersagt werden kann.

b) Kalifornien Im Recht des Bundesstaates Kalifornien ist die removal remedy in Sec. 304 California Corporation Code 90 geregelt. Im Vergleich mit Sec. 8.09 MBCA weist Sec. 304 Cal.Corp.Code einige Unterschiede auf. Zunächst stellt Sec. 304 Cal.Corp.Code nicht deutlich heraus, dass die Amtsenthebung im besten Interesse der Gesellschaft liegen muss. Trotz dieses Unterschiedes besteht kein Zweifel daran, dass Sec. 304 Cal.Corp.Code ebenso wie Sec. 8.09 MBCA nicht den Schutz des Rechtsverkehrs bzw. der Allgemeinheit, sondern den Schutz der Gesellschaft bezweckt.91 Denn das Fehlverhalten muss gerade gegenüber der Gesellschaft bestehen. Weiterhin kann das Verfahren nur von den Anteilseignern und nicht vom board selbst eingeleitet werden.92 Trotz dieser grundsätzlichen Möglichkeit einer Amtsenthebung wurde diese Kompetenz durch die Rechtsprechung nur zurückhaltend wahrgenommen und eingeschränkt.93 So kann ein director wegen eines Fehlverhaltens, das während seiner Amtszeit zutage getreten ist, nicht abberufen werden, wenn er für eine neue Amtszeit wiedergewählt wurde 94. Weiterhin muss das Vorliegen eines Fehlverhaltens im Sinne von Sec. 304 Cal.Corp.Code nicht zwangsläufig zur Amtsenthebung führen, soweit die der Gesellschaft zugefügten Nachteile kompensiert wurden.95

90 General Corporation Code, Cal.Corp.Code, titel 1, division 1 (West 2005) fortan Cal.Corp.Code. 91 Stairbird v. Lane, 203 Cal.App.2d 247 (Cal. Ct. App. 1962); Remillard Brick Co. v. Remillard-Dandini Co., 109 Cal.App.2d 405 (Cal. Ct. App. 1952) (keine Abberufung der directors im Falle der Rückerstattung von widerrechtlich erlangten Gewinnen). 92 Kritisch dazu Sirodoeva-Paxson, 50 Hastings Law Journal 97, 156f. (1998–1999), die darauf hinweist, dass dem board of directors als Leiter der Gesellschaft grundsätzlich das Recht zustehe, einen director z. B. auf Schadenersatz zu verklagen. Es sei deshalb nicht gerechtfertigt, dass die Gesellschaft (vertreten durch den board) kein Amtsenthebungsverfahren beantragen könne. 93 Für einen Überblick über die kalifornische Rechtsprechung siehe SirodoevaPaxson, 50 Hastings Law Journal 97 (1998–1999). 94 Starbird v. Lane 203 Cal.App.2d 247, 256 (Cal. Ct. App. 1962) (zur Vorgängervorschrift Sec. 811 Cal.Corp.Code). 95 Vgl. Remillard Brick Co v. Remillard-Dandini, 109 Cal.App.2d 405, 423f. (Cal. Ct. App. 1952) (zur Vorläufervorschrift Sec. 811 Cal.Corp.Code).

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Weiterhin kann ein Gericht nach Sec. 1806(g) Cal.Corp.Code einen director im Rahmen einer involuntary dissolution 96 seines Amtes entheben. Ein Antrag auf involuntary dissolution kann von den directors, den Aktionären und dem Attorney General beim zuständigen Gericht gestellt werden (Sec. 1800(a) Cal.Corp.Code). Entscheidet sich das Gericht für eine Abwicklung, kann es gemäß Sec. 1806(g) Cal.Corp.Code jeden director seines Amtes entheben, dem Unredlichkeit, Fehlverhalten oder Vernachlässigung bzw. Missbrauch seiner Befugnisse bei der Abwicklung der Gesellschaft vorzuwerfen ist oder der handlungsunfähig ist. Die Stelle wird aber durch die Gesellschafterversammlung neu besetzt. Im Gegensatz zur removal remedy des Sec. 304 Cal.Corp.Code handelt es sich bei der Amtsenthebung im Rahmen einer involuntary dissolution lediglich um eine Maßnahme, um die Durchführung der involuntary dissolution zu gewährleisten. Schließlich besteht noch die Möglichkeit einer gerichtlichen Amtsenthebung im Rahmen der equitable power der Gerichte, der jedoch Ausnahmecharakter beizumessen ist.97 c) New York Im Recht des Bundesstaates New York ist die removal remedy in Sec. 706(d) New York Business Corporation Law geregelt.98 Ebenso wie nach dem Recht des Bundesstaates Kalifornien kann die removal remedy auch nur von Gesellschaftern geltend gemacht werden. Sec. 706(d) NYBCL wird von der Rechtsprechung als abschließend betrachtet, so dass eine über diese Vorschrift hinausgehende gerichtliche Amtsenthebung nicht möglich ist.99

96 Eine involuntary dissolution ist unter anderem möglich, wenn die Gesellschaft seit mehr als einem Jahr keine geschäftliche Tätigkeit mehr entfaltet (Sec. 1800 (b)(1) Cal.Corp.Code), bei internen Differenzen zwischen den directors oder den Aktionären, die dazu führen, dass keine Mehrheitsbildung mehr möglich ist, so dass die Geschäfte der Gesellschaft nicht mehr geführt werden können (Sec. 1800 (b)(2) und (3) Cal.Corp.Code), oder wenn einem director Fehlverhalten gegenüber den Aktionären vorzuwerfen ist (Sec. 1800 (b)(4) Cal.Corp.Code). 97 American Center for Education, Inc. v. Cavnar, 80 Cal.App.3d 476, 499 (Cal. Ct. App.1978). 98 New York Business Corporation Law, N.Y.Bus.Corp.Law (McKinney 2005; fortan NYBCL). Die Regelung geht zurück auf die Entscheidung Burkin v. Katz (1 N.Y.2d 570 (N.Y. 1956)), in der eine Abwahl der directors durch den Mehrheitsgesellschafter nicht möglich war, da die Satzung Einstimmigkeit für die Abwahl von directors vorsah und diese die übrigen Anteile an der Gesellschaft hielten. 99 Managemant Technologies, Inc v. Morris, 961 F. Supp. 640, 650 (S.D.N.Y.).

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d) Delaware Delaware kennt im Gegensatz zum Model Business Corporation Act oder den Regelungen Kaliforniens bzw. New Yorks keine vergleichbare Rechtsprechung bzw. Regelung.100 Eine gerichtliche Abberufung bzw. ein Verbot der Wiederwahl eines directors besteht somit nicht.

e) Fazit Die removal remedy soll in erster Linie Minderheitsgesellschaftern die Möglichkeit eröffnen, directors abzuberufen, die sich gegenüber der Gesellschaft treuwidrig oder betrügerisch verhalten haben. Eine Schädigung von Gläubigern oder des Rechtsverkehrs allgemein kommt als Grund für eine removal remedy nicht in Betracht. Obwohl der Model Business Corporation Act somit eine – wenn auch beschränkte – Regelung zur gerichtlichen Abberufung von directors enthält und diese Regelung auch von einem Teil der Bundesstaaten umgesetzt wurde, ist der praktische Anwendungsbereich dieses Rechtsinstituts äußerst begrenzt.

2. Insolvenzverschleppung Das Insolvenzrecht der Vereinigten Staaten ist Bundesrecht.101 Ein Tätigkeitsverbot wegen verspäteter Insolvenzantragsstellung kennt das US-amerikanische Insolvenzrecht nicht, da dem US-amerikanischen Recht bereits eine Insolvenzantragspflicht unbekannt ist.102 Zwar besteht mit Eintritt der Insolvenz auch eine fiduciary duty der directors gegenüber den Gläubigern; eine Verpflichtung das Insolvenzverfahren zu beantragen, wird daraus allerdings nicht abgeleitet.103 Das US-amerikanische Insolvenzrecht kennt mit Sec. 525 (a) Bankruptcy Code vielmehr sogar ein Diskriminierungsverbot gegenüber dem Schuldner, der ein Bankruptcy-Verfahren ordnungsgemäß durchlaufen hat. Dieser darf nicht aufgrund eines solchen Verfahrens schlechter gestellt werden. Somit kann ihm vor allem nicht die Gründung einer neuen Gesellschaft verwehrt werden.

100 Ross Systems Corporation v. Ross, 18 Delaware Journal of Corporate Law 1116, 1145 (1993) (Del. Ch. 1993). 101 U.S. Const. art. I § 8 cl. 4. 102 Allen/Kraakman, Commentaries and Cases on the Law of Business Organizations, 2003, S. 137. 103 Siehe dazu ausführlich Schwarcz, 17 Cardozo Law Review 647 (1995–1996); Lin, 46 Vanderbilt Law Review 1485 (1993); Clark, 90 Harvard Law Review 505 (1976–1977).

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3. Kapitalmarktrecht Das US-amerikanische (Bundes-)Kapitalmarktrecht kannte ursprünglich keine Möglichkeit, einen director einer börsennotierten Gesellschaft von einer weiteren Tätigkeit als director auszuschließen. Die Securities and Exchange Commission (SEC) konnte lediglich gerichtlich durchsetzen, dass einer Person eine künftige Verletzung von kapitalmarktrechtlichen Vorschriften untersagt wird.104 Ein Tätigkeitsverbot konnte daraus aber nicht abgeleitet werden.105 Aufgrund dieser beschränkten Möglichkeiten wurden die Kompetenzen der SEC durch den Securities Enforcement Remedies and Penny Stock Reform Act 1990 106 erheblich erweitert. Die Securities and Exchange Commission konnte nun nach Sec. 20 (e) Securities Act und Sec. 21 (d)(2) Exchange Act eine temporary oder permanent suspension gegen einen director bei einem Bundesgericht beantragen, wenn der director gegen die Antifraud-Vorschriften verstoßen hat und dieser Verstoß die substantial unfitness des directors gezeigt hat.107 Während die Voraussetzungen für das Vorliegen eines securities fraud unter Rule 10 b-5 ohne weiteres aus dem case law entnommen werden konnten 108, gestaltete sich die Definition der substantial unfitness weitaus problematischer. Die ersten Entscheidungen gingen daher auch nicht auf den Begriff der substantial unfitness ein,109 sondern beschränkten sich auf eine Untersuchung der Wiederholungsgefahr von Gesetzesverstößen durch die Betroffenen.110 Erst in SEC v. Patel nannte das Bundesgericht für den Second 104 15 U.S.C. § 78u(d)(1) (1989). Die Verletzung von kapitalmarktrechtlichen Vorschriften ist zwar ohnehin untersagt, jedoch kann durch die Untersagung seitens der Securities and Exchange Commission bei einer erneuten Verletzung eine weitergehende Sanktion verhängt werden. 105 So zum Beispiel bei SEC v. Benson, 657 F.Supp. 1122 (S.D.N.Y. 1987). Benson hatte als company president mehrfach kapitalmarktrechtliche Vorschriften verletzt, so dass ihm künftige Verstöße untersagt wurden. Dies hatte neben einer Beschädigung der Reputation von Benson vor allem zur Folge, dass bei einem erneuten Verstoß eine höhere Strafe drohte. Zur Rechtslage vor dem Securities Enforcement Remedies and Penny Stock Reform Act 1990 vgl. Berg, 56 Vand.L.Rev. 1871, 1875 (2003). 106 Pub.L. No. 101–429, 104 Stat. 931 (1990); dazu ausführlich Morris, 7 Admin. L.J.Am.U. 151 (1993). 107 15 U.S.C. § 78u(d)(2)–(3) § 77t(e) (2000). 108 Als Tatbestandsmerkmale müssen dafür misrepresentation oder omission of a material fact, scienter, reliance und causation vorliegen. Im Überblick dazu vgl. Soderquist/Gabaldon, Securities Law, 1998, S. 135ff. 109 SEC v. Drexel Burnham Lambert, Inc., 837 F.Supp. 587 (S.D.N.Y. 1993) aff. SEC v. Posner, 16 F.3d 520 (2d Cir. 1994) cert. denied 513 U.S. 1077 (wiederholte Verletzung verschiedener kapitalmarktrechtlicher Vorschriften); SEC v. Sands, 902 F.Supp 1149 (C.D.Cal. 1995) (Verbuchung nicht bestehender Forderungen gegen die National Bank of Liberia). 110 So vor allem in SEC v. Sands, 902 F.Supp 1149, 1158 (C.D.Cal. 1995).

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Circuit mehrere Kriterien, die von Barnard 111 zuvor entwickelt worden waren und auch von anderen Berufungsgerichten übernommen wurden 112. Danach ist von Bedeutung, welche Schwere die Rechtsverletzung hatte, ob die Rechtsverletzung zum wiederholten Male vorgenommen wurde, welche Stellung oder Position der Beklagten in der Verletzung eingenommen hat, welcher Vorsatzgrad vorlag, in welchem Umfang ihm aus der Rechtsverletzung ein wirtschaftlicher Vorteil zugeflossen ist und wie hoch die Wiederholungsgefahr ist.113 Bei Verletzung einer Antifraud-Vorschrift und einer substantial unfitness konnte das Gericht eine temporary oder permanent suspension gegen den director aussprechen. Während die unteren Bundesgerichte der Securities and Exchange Commission in ihrer Auffassung folgten und eine Reihe lebenslanger Tätigkeitsverbote aussprachen, verfolgte das Berufungsgericht für den Second Circuit eine restriktivere Auslegung und sah zeitlich begrenzte Tätigkeitsverbote als ausreichend an. Dabei spielte vor allem das Kriterium der fehlenden Wiederholungsgefahr eine erhöhte Rolle.114 Obwohl die Securities and Exchange Commission in einer Reihe von Fällen Tätigkeitsverbote erreichen konnte, wurden die Voraussetzungen für die Einleitung eines solchen Verfahrens als zu restriktiv betrachtet.115 Im Zuge der Reform des Kapitalmarktrechtes durch den Sarbanes-Oxley Act 116 wurden daher sowohl die Voraussetzungen für ein Tätigkeitsverbot gesenkt als auch die Kompetenz der Securities and Exchange Commission zu ihrer Verhängung erweitert. Der Standard für ein Tätigkeitsverbot wurde von substantial unfitness auf bloße unfitness gesenkt.117 Darüber hinaus hat die Securities and Exchange Commission die Kompetenz erhalten, das Tätigkeitsverbot selbst anzuordnen (cease-anddesist proceedings; Sec. 21C Exchange Act 118). Die Einleitung eines Verfahrens vor einem Bundesgericht ist somit nicht mehr notwendig. Die Kompetenzen der Securities and Exchange Commission wurden somit deutlich erhöht, so dass eine steigende Anzahl von Verfahren zu erwarten ist.119 111 Barnard, 70 North Carolina Law Review 1489 (1991–1992). 112 SEC v. First Pac. Bancorp, 142 F.3d 1186, 1193 (9th Cir. 1998); für eine Übersicht über die Rechtsprechung vgl. Barnard, 76 Tulane Law Review 1253, 1259–1260 (2002). 113 Barnard, 70 North Carolina Law Review 1489, 1510ff. (1991–1992) als Standard für das Vorliegen einer substantial unfitness bestätigt durch SEC v. Patel, 61 F.3d 137, 141 (2d Cir. 1995); für einen Überblick zur Anwendung dieses Standards vgl. Barnard, 76 Tulane Law Review 1253, 1259 f. (2002). 114 SEC v. Patel, 61 F.3d 137, 142 (2d Cir. 1995). 115 Cutler, Remarks at the Glaser LegalWorks 20th Annual Federal Securities Institute (Feb. 15, 2002) www.sec.gov/news/speech/spch538.htm. 116 Pub.L. No. (HR 3763) 107th Cong., 2d sess. (July 30, 2002). 117 Sec. 305 Sarbanes-Oxley Act of 2002, Pub. L. No. 107–204, 116 Stat. 745, 778f. 118 15 U.S.C. § 78u-3. 119 Berg, 56 Vanderbilt Law Review 1871, 1888 ff. (2003); die Securities and Exchange

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IV. Fazit Bei den vorgestellten Regelungen des englischen und französischen Rechts steht der Schutz der künftigen Gläubiger im Vordergrund. Zukünftige Gläubiger sollen vor einem Geschäftsführer geschützt werden, der bereits einmal seine Pflichten in der Krise der Gesellschaft verletzt hat. Die französische Regelung zielt allerdings ergänzend auch auf den Schutz der bereits vorhandenen Gläubiger ab, da das Tätigkeitsverbot bei Zahlung der rückständigen Gesellschaftsverbindlichkeiten aufgehoben wird. Beide Rechtsordnungen beschränken sich dabei aber nicht wie Deutschland auf einen Zusammenhang von strafrechtlicher Sanktionierung und Tätigkeitsverbot. Ein Tätigkeitsverbot kann dort vielmehr bereits unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit einsetzen. Allgemein gläubigerschützende Tätigkeitsverbote sind in den Vereinigten Staaten aufgrund der dort geringeren Bedeutung eines präventiven Gläubigerschutzes nicht vorhanden. Regelungen der einzelstaatlichen Gesetze über die Abberufung von Direktoren beschränken sich vielmehr auf den Schutz von (Mehrheits-)Gesellschaftern, der aus dem Fokus dieser Untersuchung im übrigen ausgeblendet wurde. Tätigkeitsverbote im erheblichen Umfang gestattet aber das (Bundes-)Kapitalmarktrecht in den Vereinigten Staaten. Zwar verfügt auch das englische Recht über einen Zusammenhang von Tätigkeitsverbot und Kapitalmarktrecht, dieser beschränkt sich jedoch auf das Kapitalmarktstrafrecht. Die Rechtsfolgen eines Tätigkeitsverbotes sind in den einzelnen Rechtsordnungen äußerst unterschiedlich ausgestaltet. Gemeinsam ist allen Regelungen zunächst das Verbot, eine Organtätigkeit auszuüben.120 Ebenso gemeinsam ist allen Rechtsordnungen eine Abstufung der Dauer eines solchen Tätigkeitsverbotes. Dazu wird in allen dargestellten Regelungen grundsätzlich die Schwere der Rechtsverletzung bei der Bestimmung der Dauer des Tätigkeitsverbotes berücksichtigt. Die französische Regelung geht über ein bloßes Tätigkeitsverbot als Organmitglied hinaus, indem auch ein Großteil der allgemeinen wirtschaftlichen Tätigkeit untersagt wird. Dies wird allerdings durch den Wegfall des Tätigkeitsverbotes bei Zahlung der Gesellschaftsverbindlichkeiten wieder relativiert.

Commission hat im Jahr 2003 insgesamt 170 Tätigkeitsverbote ausgesprochen. Im Jahr 2002 waren es ingesamt 126 (vgl. Annual Report of the U.S. Securities and Exchange Commission, abrufbar unter www.sec.gov/about/annrep.shtml). 120 Mit Ausnahme der Regelung im MBCA und in den einzelnen Gesellschaftsrechten der US-amerikanischen Bundesstaaten (siehe C.III.).

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E. Reformempfehlung Vor dem Hintergrund der hinsichtlich der gläubigerschützenden Funktionen deutlich hinter dem ausländischen Recht zurückbleibenden Ausgestaltung der Tätigkeitsverbote im deutschen Recht sollten diese einer grundlegenden Reform unterzogen werden. Das gilt erst recht dann, wenn andere Instrumente des Gläubigerschutzes – wie etwa der Zwang zur Aufbringung eines Mindestkapitals – internationalen Entwicklungen entsprechend abgeschwächt werden.

I. Anwendungsbereich Im Gegensatz zur deutschen Rechtslage bezieht sich das Tätigkeitsverbot im englischen und französischen Recht nicht nur auf die formell bestellten Geschäftsleiter einer Kapitalgesellschaft, sondern ausdrücklich auch auf die faktischen Geschäftsleiter. Dieser Regelungsansatz sollte auch bei einer Reform des deutschen Rechts übernommen werden. Eine Regelung, wie sie etwa das Forderungssicherungsgesetz mit einer Verantwortlichkeit der Gesellschafter für die Bestellung „zulässiger Direktoren“ vorsieht, sollte demgegenüber nicht weiter verfolgt werden. Hier treten zunächst Probleme bei der Anwendung auf Publikumskapitalgesellschaften auf. Darüber hinaus kann eine Verantwortlichkeit der Gesellschafter insbesondere dann keine Abhilfe schaffen, wenn die Gesellschafter ebenso wie der Geschäftsführer vermögenslos sind. Eine direkte Erfassung aller bestellten und faktischen Geschäftsführer ist hier vorzugswürdiger. Dies entspricht im Übrigen auch schon der deutschen Rechtslage bei der Insolvenzverschleppungshaftung. Auch hier kann ein faktischer Geschäftsführer in Anspruch genommen werden.121

II. Tatbestand Hier sollten zunächst neben den ohnehin schon bestehenden Tatbeständen der § 6 Abs. 2 Satz 3, 4 GmbHG und § 76 Abs. 3 Satz 3, 4 AktG auf jeden Fall die gesellschaftsrechtlich spezifischen Insolvenzstraftatbestände (§ 84 GmbHG, § 401 AktG) erfasst werden.122 Ebenfalls sollten Verstöße gegen die Vorschriften über Kapitalaufbringung und -erhaltung in den Katalog aufgenommen werden.

121 BGHZ 104, 44, 46; OLG Düsseldorf, GmbHR 1994, 317, 318; Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, GmbHG, 17. Aufl. 2000, § 64 Rdn. 40; Hirte (Fn. 1), Rdn. 3.119; Uhlenbruck in Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl. 2003, § 13 Rdn. 54 m.w. Nachw. 122 Ebenso Fleischer, ZGR 2004, 437, 474; Mülbert, JZ 2002, 826, 835.

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Verstöße gegen weitere gläubigerschädigende Tatbestände wie etwa die Existenzvernichtung oder auch die vorsätzliche sittenwidrige Schädigung (§ 826 BGB) könnten hier auch erfasst werden. Von einer generellen Erfassung aller gläubigerschädigenden Handlungsweisen sollte allerdings Abstand genommen werden, da sich ansonsten mit Blick auf Art. 12 GG erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken ergeben würden. Insofern sollte eine abschließende katalogartige Aufzählung aller erfassten Handlungen vorgenommen werden; einem gewissen Ermessensspielraum der ein Tätigkeitsverbot verhängenden Behörde bzw. des dieses verhängenden Gerichts steht das nicht entgegen. Auch eine Ausweitung der Tätigkeitsverbote auf Fälle nachteiliger Handlungen gegenüber Gesellschaftern sollte nicht vorgenommen werden. Hier stehen vor allem im Gesellschaftsrecht anderweitige Instrumentarien zur Verfügung.123 Darüber hinaus sollten aber auch Verstöße gegen kapitalmarktrechtliche Vorschriften in die tatbestandlichen Voraussetzungen des Tätigkeitsverbotes aufgenommen werden, wie dies etwas in den USA und Großbritannien bereits der Fall ist.

III. Rechtsfolge Das Tätigkeitsverbot sollte sich nicht nur auf die Bestellung zum Geschäftsleiter einer Kapitalgesellschaft beschränken, sondern sollte auch andere Formen der Mitwirkung an der Leitung einer Kapitalgesellschaft erfassen. Somit könnten vor allem Umgehungsmöglichkeiten durch die Einschaltung von Strohmann-Geschäftsführern weitgehend unterbunden werden. Insbesondere müsste es in der Aktiengesellschaft auch auf den Aufsichtsrat erweitert werden. Das englische und das französische Recht sind hier durch die Erfassung des shadow directors und des gérant de fait wegweisend. Der Umfang des Tätigkeitsverbotes sollte anhand der Schwere des durch den Geschäftsleiter begangenen Gesetzesverstoßes bestimmt werden. Ein Tätigkeitsverbot für einen gesetzlich festgesetzten Mindestzeitraum – wie etwa im geltenden deutschen Recht für Berufsverbote oder in der französischen Regelung für einen Zeitraum von fünf Jahren – sollte nicht vorgesehen werden. Eine solche Regelung ließe sich verfassungsrechtlich nur dann rechtfertigen, wenn an die tatbestandlichen Voraussetzungen bzw. die Schwere der Rechtsverletzung durch den Geschäftsleiter erhöhte Anforderungen gestellt werden. Dadurch bestünde aber die Gefahr, dass dieses Instrumentarium von den Gerichten nur zurückhaltend eingesetzt wird. Eine zumindest abgestufte Anwendung der Tätigkeitsver-

123 Im Überblick dazu Hirte (Fn. 1) Rdn. 4.21ff.

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bote ist daher vorzugswürdiger. Etwaigen verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit könnte durch die Vorgabe von Regelbeispielen durch den Gesetzgeber Rechnung getragen werden. Die Anordnung der persönlichen Haftung für die Verbindlichkeiten einer Kapitalgesellschaft im Falle der Bestellung eines mit einem Tätigkeitsverbot belegten Geschäftsleiters – wie dies etwa im englischen Recht der Fall ist – könnte andererseits ein durchaus ausreichendes Abschreckungspotential eröffnen. Von der Rechtsfolge der Beschränkung möglicher mitgliedschaftlicher Rechte – wie dies etwa im französischen Recht der Fall ist – sollte kein Gebrauch gemacht werden. Dies würde nicht nur die Verfassungsmäßigkeit der Regelung fraglich erscheinen lassen, sondern auch für den Regelungszweck keinen wirklich weitergehenden Gewinn bringen. Der von einem Tätigkeitsverbot betroffene Geschäftsführer könnte zwar im Falle des Besitzes einer Stimmmehrheit einen Strohmann als Geschäftsführer bestellen. Bei einer über die bloße Abstimmung in der Gesellschafterversammlung hinausgehenden Einflussnahme auf die Leitung der Gesellschaft würde der Geschäftsleiter allerdings gegen das Tätigkeitsverbot verstoßen und einer Sanktionierung ausgesetzt sein.

IV. Durchsetzung Der Rechtsvergleich hat gezeigt, dass die Effizienz von Tätigkeitsverboten im großen Umfang von einer Durchsetzung durch geeignete Institutionen abhängt. Eine Behörde, die zusätzlich noch die Verhängung und Durchsetzung von Tätigkeitsverboten übernehmen kann, existiert in Deutschland bisher nicht. Die Registergerichte wären für eine solche Aufgabe zwar geeignet, können diese aufgrund einer mangelnden Ausstattung aber wohl kaum wahrnehmen.124 Anders lägen die Dinge aber schon dann, wenn die Registergerichte stärker als bisher zentralisiert und/oder zumindest datenmäßig „verlinkt“ würden. Allerdings könnte diese Aufgabe auch ergänzend durch das Bundeszentralregister wahrgenommen werden. Für Tätigkeitsverbote aufgrund eines Verstoßes gegen kapitalmarktrechtliche Vorschriften könnte diese Aufgabe demgegenüber die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) übernehmen. Anderenfalls müsste – was kaum wünschenswert ist – an die Errichtung einer neuen Behörde oder Institution gedacht werden. Die Schaffung einer speziellen Behörde bzw. einer vergleichbaren Institution kann freilich vor dem Hintergrund der Ausweitung der Tatbestände der Tätigkeitsverbote sinnvoll sein. Denn nach den hier gemachten Vorschlägen wären nicht mehr nur die Strafgerichte oder die

124 Ebenfalls kritisch bezüglich einer Wahrnehmung dieser Aufgabe durch die Registergerichte Fleischer, ZGR 2004, 437, 474.

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Ordnungsbehörden betroffen. Auch für die Koordination zwischen Strafgerichten und Ordnungsbehörden wäre die Zuständigkeit einer gesonderten Einrichtung vorteilhaft.

V. Europäische Koordinierung Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung des europäischen Gesellschaftsrechts stellt sich zunehmend die Problematik der Koordinierung der entsprechenden Normen der Mitgliedstaaten, da die nationalen Bestellungsverbote bisher bei der Gründung einer ausländischen Kapitalgesellschaft bzw. der Bestellung zum Geschäftsleiter einer solchen Gesellschaft keine Anwendung finden.125 Die Verurteilung wegen ausländischer Insolvenzstraftaten kann zwar in Deutschland Grundlage für ein Bestellungsverbot sein (siehe C.I.), dies ist in anderen Mitgliedstaaten aber nicht der Fall, so dass in Deutschland wegen einer Insolvenzstraftat verurteilte Geschäftsführer in diesen Mitgliedstaaten eine Kapitalgesellschaft gründen und dann deren Verwaltungssitz nach Deutschland verlegen können. Darüber hinaus werden in Deutschland auch ausländische Tätigkeitsverbote nur so weit berücksichtigt, als diese den deutschen Insolvenzstraftaten entsprechen. Unterhalb der Strafbarkeit liegende Tatbestände sind daher unbeachtlich.

VI. Verfassungsrechtliche Bedenken Die hier vorgeschlagene Erweiterung der Tätigkeitsverbote für Geschäftsleiter von Kapitalgesellschaften wirft vor allem die Frage nach deren Verfassungsmäßigkeit im Hinblick auf die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) auf. Eine Verletzung des Grundrechts der Berufsfreiheit setzt zunächst einen Eingriff voraus. Dieser ist immer dann gegeben, wenn durch eine staatliche Regelung mit Berufsbezug die berufliche Betätigung ganz oder teilweise unterbunden oder nicht in der gewünschten Weise ausgeübt werden kann.126 Das Verbot, die Position eines Geschäftsleiters einer Kapitalgesellschaft einzunehmen, stellt einen Eingriff in die Berufsfreiheit dar, da damit eine Einschränkung der Möglichkeiten einer beruflichen Betätigung verbunden ist. Eine zulässige Beschränkung der Berufsfreiheit erfordert zunächst die Verfolgung eines legitimen Zwecks. Darüber hinaus muss eine Beschränkung auch ge-

125 Vgl. hierzu Hirte in Hirte/Bücker, Grenzüberschreitende Gesellschaften, 2005, § 1 Rdn. 104f. 126 BVerfGE 82, 209, 223; Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 7. Aufl. 2004, Art. 12 Rdn. 11.

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eignet und notwendig sein.127 Hieran könnte man bei einem Tätigkeitsverbot bereits zweifeln, da insbesondere der Schutz der Gläubiger auch auf andere Weise erreicht werden kann. Inbesondere der Einsatz anderer staatlicher Aufsichtsinstrumente könnte hier ein milderes Mittel darstellen. Hier könnte auf die bisher zurückhaltende Nutzung bestehender Regelungsinstrumente durch die Strafgerichte und die Staatsanwaltschaften hingewiesen werden. Nimmt man die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer Ausweitung der Tätigkeitsverbote an, müsste diese Beschränkung schließlich noch verhältnismäßig sein. Der Maßstab für die Rechtfertigung eines solchen Eingriffes bestimmt sich bei der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) nach der von der Rechtsprechung entwickelten sogenannten Drei-Stufen-Theorie.128 Die Einordnung eines Tätigkeitsverbots in dieses Schema ist aufgrund der hier fraglichen Bestimmung des Berufes eines Geschäftsleiters allerdings schwierig. Hier kommt zunächst ein Abstellen auf die Ausübung des mit der Kapitalgesellschaft betriebenen Gewerbes in Betracht. Für eine sich daraus ableitende bloße Berufsausübungsbeschränkung spricht sicherlich zunächst die trotz eines Tätigkeitsverbots bestehende Möglichkeit der wirtschaftlichen Tätigkeit in einer anderen Gesellschaftsform – etwa in Form einer Personengesellschaft oder als Einzelkaufmann. Hinzu kommt, dass auch eine Beteiligung an einer solchen Kapitalgesellschaft nicht ausgeschlossen ist; lediglich die Leitung einer Kapitalgesellschaft wird untersagt. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung muss man bei den Tätigkeitsverboten für Geschäftsleiter allerdings auf den Beruf des Geschäftsführers selbst abstellen. Zwar ist es dem Betroffenen auch nach einem Tätigkeitsverbot noch unbenommen, das von der Kapitalgesellschaft betriebene Gewerbe anderweitig auszuüben; häufig besteht die Tätigkeit des Geschäftsführers jedoch nicht in der Ausübung eines bestimmten („sachlichen“) Gewerbes, sondern in der Wahrnehmung allgemeiner Geschäftsführungstätigkeiten, die unabhängig von dem von der Gesellschaft betriebenen Gewerbe sind. Hinzu kommt, dass die Voraussetzung für die Anwendung eines Tätigkeitsverbotes ja gerade eine Rechtsverletzung durch den betroffenen Geschäftsleiter ist. Der Zugang zu der Position eines Geschäftsleiters wird somit von bestimmten Eigenschaften des Geschäftsleiters (Rechtstreue) abhängig gemacht. Es handelt sich daher bei einem Tätigkeitsverbot für einen Geschäftsleiter einer Kapitalgesellschaft um eine subjektive Zulassungsbeschränkung und nicht nur um eine bloße Berufsausübungsregelung. Die Zulässigkeit einer damit zu bejahenden subjektiven Zulassungsbeschränkung setzt auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit voraus, dass eine Ausübung des

127 BVerfGE 106, 181, 191f.; E 103, 1, 10; E 102, 197, 213; Jarass (Fn. 126), Art. 12 Rdn. 31 m.w.Nachw. 128 BVerfGE 7, 377; ausführlich Jarass (Fn. 126), Art. 12 Rdn. 35ff.

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Berufes ohne Erfüllung der Voraussetzungen unmöglich oder unsachgemäß sein und Gefahren oder Schäden für die Allgemeinheit mit sich bringen muss.129 Dies wird man aufgrund der Schädigung von Gläubigern und Anlegern aber wohl annehmen können. Dem Verhältnismäßigkeitsgebot kann dabei zudem dadurch Rechnung getragen werden, dass der Umfang der potentiell von der Ausübung einer künftigen Geschäftsführerstellung betroffenen Gläubiger in die Abwägung einbezogen wird: so könnte etwa das Verbot der Übernahme des Geschäftsführeramtes in einer – wie immer zu definierenden – großen Gesellschaft für einen längeren Zeitraum aussprechbar sein als hinsichtlich Tätigkeiten in „kleinen“ Gesellschaften; und andererseits wird die Frage, ob der Verbotsadressat das Gewerbe auch in einer anderen Rechtsform als der – die persönliche Haftung der Gesellschafter ausschließenden – Kapitalgesellschaft betreiben kann, bei der Verhängung eines Tätigkeitsverbotes und seinem sachlichen und zeitlichen Umfang zu berücksichtigen sein. Aufgrund einer danach möglichen Rechtfertigung des Eingriffes in die Berufsfreiheit durch eine subjektive Berufszulassungsbeschränkung muss dies erst recht gelten, wenn man das Tätigkeitsverbot lediglich als Berufsausübungsbeschränkung ansehen sollte. Daher ist eine Einstufung der Tätigkeitsverbote als subjektive Zulassungsbeschränkung oder als Berufsausübungsbeschränkung nicht weiter relevant.

Anhang I – England Sec 6 Company Directors Disqualification Act – Duty of court to disqualify unfit directors of insolvent companies – (1) The court shall make a disqualification order against a person in any case where, on an application under this section, it is satisfied – (a) that he is or has been a director of a company which has at any time become insolvent (whether while he was a director or subsequently), and (b) that his conduct as a director of that company (either taken alone or taken together with his conduct as a director of any other company or companies) makes him unfit to be concerned in the management of a company. (2) For the purposes of this section and the next, a company becomes insolvent if – (a) the company goes into liquidation at a time when its assets are insufficient for the payment of its debts and other liabilities and the expenses of the winding up, (b) the company enters administration, (c) an administrative receiver of the company is appointed; and references to a person’s conduct as a director of any company or companies include, where that company or any of those companies has become insolvent, that person’s conduct in relation to any matter connected with or arising out of the insolvency of that company. 129 BVerfGE 7, 377, 414f.

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(3) In this section and section 7(2), „the court“ means – (a) where the company in question is being or has been wound up by the court, that court, (b) where the company in question is being or has been wound up voluntarily, any court which has or (as the case may be) had jurisdiction to wind it up, (c) where neither paragraph (a) nor (b) applies but an administrator or administrative receiver has at any time been appointed in respect of the company in question, any court which has jurisdiction to wind it up. (3A) Sections 117 and 120 of the Insolvency Act 1986 (jurisdiction) shall apply for the purposes of subsection (3) as if the references in the definitions of “registered office” to the presentation of the petition for winding up were references – (a) in a case within paragraph (b) of that subsection, to the passing of the resolution for voluntary winding up, (b) in a case within paragraph (c) of that subsection, to the appointment of the administrator or (as the case may be) administrative receiver. (3B) Nothing in subsection (3) invalidates any proceedings by reason of their being taken in the wrong court; and proceedings – (a) for or in connection with a disqualification order under this section, or (b) in connection with a disqualification undertaking accepted under section 7, may be retained in the court in which the proceedings were commenced, although it may not be the court in which they ought to have been commenced. (3C) In this section and section 7, “director” includes a shadow director. (4) Under this section the minimum period of disqualification is 2 years, and the maximum period is 15 years.

Anhang II – Frankreich Code de Commerce Chapitre II: De l’obligation aux dettes sociales Article L 652-1 Au cours d’une procédure de liquidation judiciaire, le tribunal peut décider de mettre à la charge de l’un des dirigeants de droit ou de fait d’une personne morale la totalité ou une partie des dettes de cette dernière lorsqu’il est établi, à l’encontre de ce dirigeant, que l’une des fautes ci-après a contribué à la cessation des paiements: 1º Avoir disposé des biens de la personne morale comme des siens propres; 2º Sous le couvert de la personne morale masquant ses agissements, avoir fait des actes de commerce dans un intérêt personnel; 3º Avoir fait des biens ou du crédit de la personne morale un usage contraire à l’intérêt de celle-ci à des fins personnelles ou pour favoriser une autre personne morale ou entreprise dans laquelle il était intéressé directement ou indirectement; 4º Avoir poursuivi abusivement, dans un intérêt personnel, une exploitation déficitaire qui ne pouvait conduire qu’à la cessation des paiements de la personne morale; 5º Avoir détourné ou dissimulé tout ou partie de l’actif ou frauduleusement augmenté le passif de la personne morale.

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Dans les cas visés au présent article, il ne peut être fait application des dispositions de l’article L 651-2.

Article L 652-2 En cas de pluralité de dirigeants responsables, le tribunal tient compte de la faute de chacun pour déterminer la part des dettes sociales mises à sa charge. Par décision motivée, il peut les déclarer solidairement responsables.

Article L 652-3 Les sommes recouvrées sont affectées au désintéressement des créanciers selon l’ordre de leurs sûretés.

Article L 652-4 L’action se prescrit par trois ans à compter du jugement qui prononce la liquidation judiciaire.

Article L 652-5 Les dispositions des articles L 651-3 et L 651-4 sont applicables à l’action prévue au présent chapitre.

Chapitre III: De la faillite personnelle et des autres mesures d’interdiction Article L 653-1 I. – Lorsqu’une procédure de redressement judiciaire ou de liquidation judiciaire est ouverte, les dispositions du présent chapitre sont applicables: 1º Aux personnes physiques exerçant la profession de commerçant, d’agriculteur ou immatriculées au répertoire des métiers et à toute autre personne physique exerçant une activité professionnelle indépendante y compris une profession libérale soumise à un statut législatif ou réglementaire ou dont le titre est protégé; 2º Aux personnes physiques, dirigeants de droit ou de fait de personnes morales; 3º Aux personnes physiques, représentants permanents de personnes morales, dirigeants des personnes morales définies au 2º. Ces mêmes dispositions ne sont pas applicables aux personnes physiques ou dirigeants de personne morale, exerçant une activité professionnelle indépendante et, à ce titre, soumises à des règles disciplinaires. II. – Les actions prévues par le présent chapitre se prescrivent par trois ans à compter du jugement qui prononce l’ouverture de la procédure mentionnée au I.

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Article L 653-2 La faillite personnelle emporte interdiction de diriger, gérer, administrer ou contrôler, directement ou indirectement, toute entreprise commerciale ou artisanale, toute exploitation agricole ou toute entreprise ayant toute autre activité indépendante et toute personne morale.

Article L 653-3 Le tribunal peut prononcer la faillite personnelle de toute personne mentionnée au 1º du I de l’article L 653-1, sous réserve des exceptions prévues au dernier alinéa du I du même article, contre laquelle a été relevé l’un des faits ci-après: 1º Avoir poursuivi abusivement une exploitation déficitaire qui ne pouvait conduire qu’à la cessation des paiements ; 2º Abrogé. 3º Avoir détourné ou dissimulé tout ou partie de son actif ou frauduleusement augmenté son passif.

Article L 653-4 Le tribunal peut prononcer la faillite personnelle de tout dirigeant, de droit ou de fait, d’une personne morale, qui a commis l’une des fautes mentionnées à l’article L 652-1.

Article L 653-5 Le tribunal peut prononcer la faillite personnelle de toute personne mentionnée à l’article L 653-1 contre laquelle a été relevé l’un des faits ci-après: 1º Avoir exercé une activité commerciale, artisanale ou agricole ou une fonction de direction ou d’administration d’une personne morale contrairement à une interdiction prévue par la loi; 2º Avoir, dans l’intention d’éviter ou de retarder l’ouverture de la procédure de redressement judiciaire ou de liquidation judiciaire, fait des achats en vue d’une revente au-dessous du cours ou employé des moyens ruineux pour se procurer des fonds; 3º Avoir souscrit, pour le compte d’autrui, sans contrepartie, des engagements jugés trop importants au moment de leur conclusion, eu égard à la situation de l’entreprise ou de la personne morale; 4º Avoir payé ou fait payer, après cessation des paiements et en connaissance de cause de celle-ci, un créancier au préjudice des autres créanciers; 5º Avoir, en s’abstenant volontairement de coopérer avec les organes de la procédure, fait obstacle à son bon déroulement; 6º Avoir fait disparaître des documents comptables, ne pas avoir tenu de comptabilité lorsque les textes applicables en font obligation, ou avoir tenu une comptabilité fictive, manifestement incomplète ou irrégulière au regard des dispositions applicables.

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Article L 653-6 Le tribunal peut prononcer la faillite personnelle du dirigeant de la personne morale qui n’a pas acquitté les dettes de celle-ci mises à sa charge.

Article L 653-7 Dans les cas prévus aux articles L 653-3 à L. 653-6 et L 653-8, le tribunal est saisi par le mandataire judiciaire, le liquidateur ou le ministère public. Dans l’intérêt collectif des créanciers, le tribunal peut également être saisi à toute époque de la procédure par la majorité des créanciers nommés contrôleurs lorsque le mandataire de justice ayant qualité pour agir n’a pas engagé les actions prévues aux mêmes articles, après une mise en demeure restée sans suite dans un délai et des conditions fixés par décret en Conseil d’Etat. Dans les mêmes cas que ceux prévus au premier alinéa, le juge-commissaire ne peut ni siéger dans la formation de jugement, ni participer au délibéré.

Article L 653-8 Dans les cas prévus aux articles L 625-3 à L 625-6, le tribunal peut prononcer, à la place de la faillite personnelle, l’interdiction de diriger, gérer, administrer ou contrôler, directement ou indirectement, soit toute entreprise commerciale ou artisanale, toute exploitation agricole et toute personne morale, soit une ou plusieurs de celles-ci. L’interdiction mentionnée au premier alinéa peut également être prononcée à l’encontre de toute personne mentionnée à l’article L 625-1 qui, de mauvaise foi, n’aura pas remis au représentant des créanciers, à l’administrateur ou au liquidateur les renseignements qu’il est tenu de lui communiquer en application de l’article L 622-6 dans le mois suivant le jugement d’ouverture. Elle peut également être prononcée à l’encontre de toute personne mentionnée à l’article L 653-1 qui aura omis de faire, dans le délai de quarante-cinq jours, la déclaration de cessation des paiements, sans avoir, par ailleurs, demandé l’ouverture d’une procédure de conciliation.

Article L 653-9 Le droit de vote des dirigeants frappés de la faillite personnelle ou de l’interdiction prévue à l’article L 625-8 est exercé dans les assemblées des personnes morales soumises à une procédure de sauvegarde, de redressement judiciaire ou de liquidation judiciaire par un mandataire désigné par le tribunal à cet effet, à la requête de l’administrateur, du liquidateur ou du commissaire à l’exécution du plan. Le tribunal peut enjoindre à ces dirigeants ou à certains d’entre eux, de céder leurs actions ou parts sociales dans la personne morale ou ordonner leur cession forcée par les soins d’un mandataire de justice, au besoin après expertise. Le produit de la vente est affecté au paiement de la part des dettes sociales dans le cas où ces dettes ont été mises à la charge des dirigeants.

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Article L 653-10 Le tribunal qui prononce la faillite personnelle peut prononcer l’incapacité d’exercer une fonction publique élective. L’incapacité est prononcée pour une durée égale à celle de la faillite personnelle, dans la limite de cinq ans. Lorsque la décision est devenue définitive, le ministère public notifie à l’intéressé l’incapacité, qui produit effet à compter de la date de cette notification.

Article L 653-11 Lorsque le tribunal prononce la faillite personnelle ou l’interdiction prévue à l’article L 653-8, il fixe la durée de la mesure, qui ne peut être supérieure à quinze ans. Il peut ordonner l’exécution provisoire de sa décision. Les déchéances, les interdictions et l’incapacité d’exercer une fonction publique élective cessent de plein droit au terme fixé, sans qu’il y ait lieu au prononcé d’un jugement. Le jugement de clôture pour extinction du passif, y compris après exécution de l’obligation aux dettes sociales prononcée à son encontre, rétablit le chef d’entreprise ou les dirigeants de la personne morale dans tous leurs droits. Il les dispense ou relève de toutes les déchéances, interdictions et incapacité d’exercer une fonction publique élective. L’intéressé peut demander au tribunal de le relever, en tout ou partie, des déchéances et interdictions et de l’incapacité d’exercer une fonction publique élective s’il a apporté une contribution suffisante au paiement du passif. Lorsqu’il a fait l’objet de l’interdiction prévue à l’article L 653-8, il peut en être relevé s’il présente toutes garanties démontrant sa capacité à diriger ou contrôler l’une ou plusieurs des entreprises ou personnes visées par le même article. Lorsqu’il y a relèvement total des déchéances et interdictions et de l’incapacité, la décision du tribunal emporte réhabilitation.

Anhang III – Vereinigte Staaten von Amerika Sec. 8.09 Revised Model Business Corporation Act “The [name or describe] court of the county where a corporation’s principal office (or, if none in this state, its registered office) is located may remove a director of the corporation from office in a proceeding commenced by or in the right of the corporation if the court finds that (1) the director engaged in fraudulent conduct with respect to the corporation or its shareholders, grossly abused the position of director, or intentionally inflicted harm on the corporation; and (2) considering the director’s course of conduct and the inadequacy of other available remedies, removal would be in the best interest of the corporation.” A shareholder proceeding on behalf of the corporation under subsection (a) shall comply with all of the requirements of sub-chapter 7D, except section 7.41(1). The court, in addition to removing the director, my bar the director from reelection for a period prescribed by the court. Nothing in this section limits the equitable powers of the court to order other relief.

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Sec. 304 California Corporation Code The superior court of the proper county may, at the suit of shareholders holding at least 10 percent of the number of outstanding shares of any class, remove from office any director in case of fraudulent or dishonest acts or gross abuse of authority or discretion with reference to the corporation and may bar from reelection any director so removed for a period prescribed by the court. The corporation shall be made a party to such action. Sec. 706(d) New York Business Corporation Law An action to procure a judgment removing a director for cause may be brought by the attorney-general or by the holders of ten percent of the outstanding shares, whether or not entitled to vote. The court my bar from re-election any director so removed for a period fixed by the court. Sec. 525 Bankruptcy Code (11 U.S.C. § 525) … a governmental unit may not deny, revoke, suspend, or refuse to renew a license, permit, charter, franchise, or other similar grant to, condition such a grant to, discriminate with respect to such a grant against, deny employment to, terminate the employment of, or discriminate with respect to employment against, a person that is or has been a debtor under this title or a bankrupt or a debtor under the Bankruptcy Act, or another person with whom such bankrupt or debtor has been associated, solely because such bankrupt or debtor is or has been a debtor under this title or a bankrupt or debtor under the Bankruptcy Act, has been insolvent before the commencement of the case under this title, or during the case but before the debtor is granted or denied a discharge, or has not paid a debt that is dischargeable in the case under this title or that was discharged under the Bankruptcy Act. 15 U.S.C. § 78u(d)(2) Authority of Court To Prohibit Persons From Serving as Officers and Directors In any proceeding under paragraph (1) of this subsection, the court may prohibit, conditionally or unconditionally, and permanently or for such period of time as it shall determine, any person who violated section 78j (b) of this title or the rules or regulations thereunder from acting as an officer or director of any issuer that has a class of securities registered pursuant to section 78l of this title or that is required to file reports pursuant to section 78o (d) of this title if the person’s conduct demonstrates unfitness to serve as an officer or director of any such issuer. 15 U.S.C. § 77t(e) – Authority of court to prohibit persons from serving as officers and directors. In any proceeding under subsection (b) of this section, the court may prohibit, conditionally or unconditionally, and permanently or for such period of time as it shall determine, any person who violated section 77q (a)(1) of this title from acting as an officer or director of any issuer that has a class of securities registered pursuant to section 78l of this title or that is required to file reports pursuant to section 78o (d) of this title if the person’s conduct demonstrates unfitness to serve as an officer or director of any such issuer.

Festes Kapital im Aktienrecht und seine Bedeutung für den Minderheiten- und Anlegerschutz

von Professor Dr. JENS EKKENGA, Gießen und Professor Dr. WALTER BAYER, Jena

Inhaltsübersicht I. Wirtschaftlicher und rechtlicher Hintergrund – eine Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff des festen Kapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtliches Instrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schutzaspekte des Grundkapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verbindungslinien zwischen Grundkapital und Minderheitenschutz a) Gleichheit der Mitgliedschaften durch nominelle Festlegung der Beteiligungsquoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Minderheitenschutz durch formale Gleichheit der Mitgliedschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schutzdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbindungslinien zwischen Kapital- und Anlegerschutz . . . . . . III. Schutzaspekte der Rücklagensicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kapitalrücklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Minderheitenschutz durch Rücklagensicherung . . . . . . . . . b) Schutzdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gewinnrücklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Minderheitenschutz ohne festes Kapital de lege ferenda? . . . . . . . . 1. Instrumente des Minderheitenschutzes . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Definitionsaspekt: Minderheitenschutz ohne nominelle Festlegung der Beteiligungsquoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abschaffung des festen Kapitals als Gegenstand zwingenden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abschaffung des festen Kapitals als Gegenstand nachgiebigen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Folgerungen für das Bezugsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Blick in das englische Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Finanzierungsaspekt: Minderheitenschutz ohne Zwang zur Kapitalaufbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

343 343 343 345 345 345 346 348 350 351 351 351 354 355 356 356 357 357 359 361 362 364

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Festes Kapital im Aktienrecht und Minderheitenschutz

a) Notwendigkeit der Kapitalaufbringung . . . . . . . . . . . . . b) Notwendigkeit der Kapitalaufbringungskontrolle . . . . . . . 4. Der Erhaltungsaspekt: Minderheitenschutz ohne Ausschüttungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Anlegerschutz ohne festes Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 364 . 365 . 367 . 367 . 368

I. Wirtschaftlicher und rechtlicher Hintergrund – eine Bestandsaufnahme 1. Begriff des festen Kapitals „Festes Kapital“ steht als Oberbegriff für diejenigen Anteile am Eigenkapital, deren Volumina aktienrechtlich reglementiert sind. Die „Festigkeit“ äußert sich darin, dass das Gesetz ein nominelles Finanzierungsziel definiert (Mindestkapital, § 7 AktG), die Modalitäten der Mittelzuführung zur Erreichung des Finanzierungszieles vorgibt (Grundsatz der realen Kapitalaufbringung) oder Definanzierungen jenseits einer nominell feststehenden Grenze verbietet (Grundsatz der Kapitalerhaltung, vgl. § 57 AktG). Diese unterschiedlich ausgeprägten nominellen Festlegungen kennzeichnen das feste Kapital als juristisches Konstrukt, das dazu bestimmt ist, den finanzwirtschaftlichen Entscheidungsrahmen der verbandsinternen Funktionsträger zu beschneiden. Es handelt sich um das regulative Gegenstück zum effektiven Eigenkapital, das als bewegliche Residualgröße die Ergebnisse jener Entscheidungsfreiheit abbildet. Beide Kategorien erscheinen in der Jahresabschlussbilanz: Das feste Eigenkapital ist auf der Passivseite als gezeichnetes Kapital (§§ 272 Abs. 1 S. 1, 283 HGB; aktienrechtlich: Grundkapital, §§ 6, 152 Abs. 1 S. 1 AktG), als Kapitalrücklage (§ 272 Abs. 2 Nr. 1–3 HGB; aktienrechtlich: § 150 Abs. 3, 4 AktG) und als Gewinnrücklage (§ 272 Abs. 3 HGB; aktienrechtlich: Gesetzliche Rücklage nach § 150 Abs. 1–4 AktG) auszuweisen. Das „bewegliche“ Eigenkapital begegnet im ausschüttbaren (also nicht in die gesetzliche Zwangsrücklage einzustellenden) Teil des Jahresergebnisses (§ 268 Abs. 1 HGB) oder als negativer Merkposten auf der Aktivseite als „nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag“ (§ 268 Abs. 3 HGB). Im Gegensatz zum festen Kapital ist es nicht voll zu bilanzieren, da sein veränderliches Volumen vom jeweiligen Umfang des Aktivvermögens einschließlich der nicht dotierten Wertanteile („stille Reserven“) abhängt. 2. Rechtliches Instrumentarium Die Rechtsfolgen des festen Eigenkapitals äußern sich in gesetzlichen Verbotsanordnungen, soweit es die Kapitalerhaltung betrifft (Ausschüttungssperre gem. § 57 AktG, Verwendungsbeschränkungen gem. § 150 Abs. 3, 4 AktG). Für die

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Festlegung und Sicherung der Kapitalaufbringung gibt es dagegen keine Handlungsgebote oder -verbote. Vielmehr übt der Gesetzgeber indirekt Zwang aus, indem er die Finanzierungsmaßnahme unter Registervorbehalt stellt: Ohne Nachweis der Kapitalaufbringung keine Eintragung (§§ 36ff., 188, 203 Abs. 1 S. 1 AktG), ohne Eintragung keine AG (§ 41 Abs. 1 S. 1 AktG) bzw. Kapitalerhöhung (§§ 189, 203 Abs. 1 S. 1 AktG) und ohne Durchführung der Kapitalerhöhung keine Börsenzulassung (vgl. § 4 BörsZulVO). Mit der Vorschaltung des registergerichtlichen Verfahrens installiert das Aktienrecht einen vorbeugenden Kontrollmechanismus, der nicht allein den Beteiligten selbst, sondern in letzter Instanz staatlichen Funktionsträgern überantwortet ist. Hiervon erfasst ist jedenfalls die Valutierung des (erhöhten) Grundkapitals in Höhe des gesetzlich geforderten Aufbringungsminimums (vgl. §§ 36a, 188 Abs. 2, 203 Abs. 1 AktG). Nach heute gesichertem Erkenntnisstand erstreckt sich die vorbeugende Überwachung durch das Registergericht auch auf die Festlegung des Finanzierungszieles, d. h. der Registerrichter darf die Eintragung einer materiell rechtswidrigen Kapitalerhöhungsmaßnahme jedenfalls dann nicht verfügen, wenn sie mit schlüssiger Begründung gerichtlich angefochten ist 1 – es sei denn, die Gesellschaft hat sich die Freigabe der Eintragung nach Maßgabe von § 246a AktG gerichtlich bestätigen lassen. Verstößen gegen den Grundsatz der Kapitalerhaltung begegnet das Aktienrecht dagegen mit haftungsrechtlichen Mitteln, die sich eher – wenn auch nicht ausschließlich – für eine reaktive Kontrolle der Kapitalfestigkeit eignen. Zu ihnen gehören Restitutionsansprüche der AG (§ 62 Abs. 1 AktG) und Kompensationsansprüche gegen die verantwortlichen Organmitglieder (§§ 93 Abs. 2, 116 AktG).2 Die Gesellschafter sind an diesem Schutzsystem bisher – anders als die Gläubiger (§§ 62 Abs. 2, 93 Abs. 5 AktG) – kaum institutionell beteiligt.3 Das ändert sich erst mit der Ersetzung bzw. Ergänzung der allgemeinen Kapitalerhaltungsregeln durch den besonderen Benachteiligungsschutz im Vertragskonzern (§§ 309 Abs. 4, 310 Abs. 4 AktG) sowie im Recht der faktisch verbundenen Unternehmen (§§ 317 Abs. 4, 309 Abs. 4 AktG). Den Gläubigern wird die Rechtsverfolgung durch das Bilanzrecht erleichtert oder vielfach erst ermöglicht: Die Rückforderungs- und Schadensersatzansprüche müssen als Teil des AG-Vermögens aktiviert und im Jahresabschluss offen gelegt werden. Geschieht dies nicht, so liegt die Kontrollzuständigkeit beim Jahresabschlussprüfer, der der AG ent-

1 Vgl. MünchKommAktG/Hüffer, 2. Aufl., § 243 Rdn. 126; MünchKommAktG/ Peifer § 184 Rdn. 23 ff.; Lutter NJW 1969, 1873 ff. 2 Die disziplinierende (und damit präventiv wirkende) Funktion der Organhaftung ist keineswegs von vornherein in Abrede zu stellen, ihr praktisches Gewicht darf aber nicht überschätzt werden. Vgl. hierzu GroßKommAktG/Hopt, 4. Aufl., § 93 Rdn. 15 ff. mwN. 3 Ausnahme: §§ 147 Abs. 2 S. 2, 148 AktG.

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weder den Bestätigungsvermerk verweigert oder ihren Verwaltungsorganen über den Missstand berichtet, § 321 Abs. 1 S. 3 HGB.4 Das neue BilanzkontrollG 5 hat dieses Prüfungssystem für börsennotierte Gesellschaften erweitert, indem es den bislang ausschließlich privaten Kontrollinstanzen einen behördlichen Überwachungsapparat an die Seite stellte (§§ 37 n ff. WpHG).

II. Schutzaspekte des Grundkapitals 1. Verbindungslinien zwischen Grundkapital und Minderheitenschutz a) Gleichheit der Mitgliedschaften durch nominelle Festlegung der Beteiligungsquoten Da das Grundkapital stets die Summe aller Anteilsnennwerte ist, definiert es neben dem gesetzlich vorgeschriebenen Umfang der Eigenfinanzierung das Mitgliedschaftsrecht jedes Aktionärs im Verhältnis zu den jeweils anderen Mitgliedschaftsrechten (vgl. § 8 Abs. 4 AktG).6 Das ist auch bei Stückaktien nicht prinzipiell anders.7 Die so ermittelte statische Beteiligungsquote ist Bemessungsgrundlage für den Einfluss auf Abstimmungsergebnisse (§ 134 Abs. 1 S. 1 AktG), für die Berechnung der Dividende (§ 60 Abs. 1 AktG) 8 und für die Bemessung des Liquidationsanteils (§ 271 Abs. 2 AktG). In einem allgemeineren Sinne legt die Beteiligungsquote diejenigen Kriterien fest, die zur Konkretisierung des verbandsinternen Gleichbehandlungsgebotes benötigt werden 9, und steht damit im engen Zusammenhang mit einem der zentralen Grundsätze des europäischen und deutschen Rechts (Art. 42 der 2. GesRL; § 53 a AktG): Die Verteilung individueller Mitgliedschaftsrechte nach Quoten entspricht dem Gleichheitsprinzip auch dann, wenn die Verteilungsergebnisse infolge unterschiedlich hoher Nennbeträge voneinander abweichen. Denn was „gewollt gleich“ und „ungewollt ungleich“ ist, obliegt der verbandsautonomen Entscheidungsfindung, die sich nach dem Konsensprinzip in der Gründungssatzung und nach dem Mehrheitsprinzip bei Satzungsänderungen vollzieht. In diesen kollektiven Gleichheitsmechanismus sind nicht nur die Altaktionäre einbezogen 10, sondern auch eintretende Neugesellschafter nach einer Kapital4 5 6 7 8 9

Vgl. dazu nur MünchKommAktG/Bayer § 62 Rdn. 114ff., 116 mwN. BGBl 2004 I, S. 3408. MünchKommAktG/Heider § 8 Rdn. 65. MünchKommAktG/Heider § 8 Rdn. 99. MünchKommAktG/Bayer § 60 Rdn. 6 ff. Bisher kaum diskutiert. Vgl. aber die Andeutungen bei Schön, Festschrift für Röhricht, 2005, S. 559, 564. 10 Zwischen Erstzeichnern und Zweiterwerbern ist im hier erörterten Zusammenhang nicht zu unterscheiden.

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erhöhung. Denn die verbandsinterne Herrschaft über den Gleichbehandlungsmaßstab durch nominelle Festlegung der Beteiligungsquoten bringt es mit sich, dass Umfang und Ausstattung neu entstehender Mitgliedschaften mit dem zeichnungsinteressierten Dritten nicht individuell ausgehandelt werden.11 Der Zeichnungsvertrag ist zwar das Ergebnis einer verbandsexternen Einigung über den Inhalt der Mitgliedschaft und insofern Ausdruck der vertraglichen Abschlussfreiheit. Die Einigung beruht aber nicht auf einzelvertraglicher Inhaltsgestaltung, sondern ist das Ergebnis einer einseitigen Unterordnung des Neugesellschafters: Er hat keine Chance, für sich Sonderkonditionen auszuhandeln, die von den verbandsinternen Vorgaben abweichen. Dabei spielt keine Rolle, ob die Inhalte der neuen Mitgliedschaften von der Hauptversammlung vorbestimmt worden sind (§§ 182ff. AktG) oder ob der Vorstand ein von der Hauptversammlung genehmigtes Kapital ausübt und dabei über den Inhalt der Aktienrechte und die Bedingungen der Aktienausgabe entscheidet (§ 204 Abs. 1 S. 1 AktG). Die Situation des Zeichners unterscheidet sich demnach, was die Einbindung in das Gleichheitsprinzip anbelangt, nicht von der Lage desjenigen Neugesellschafters, der aufgrund Zweiterwerbs am Sekundärmarkt in die Gesellschaft eintritt. Das ist im Schrifttum bisher nicht immer scharf genug gesehen worden.12

b) Minderheitenschutz durch formale Gleichheit der Mitgliedschaften Die Einrichtung und Beibehaltung nominell fixierter Beteiligungsquoten mündet in ein Gebot formaler Gleichbehandlung der Aktionäre, das sich auf die Verteilung der Beitragslasten und die Ausschüttungsbemessung gleichermaßen bezieht und Benachteiligungen ebenso unterbindet wie die Erlangung von Sondervorteilen. Ein direkter Bezug zum Minderheitenschutz besteht insofern, als Ungleichbehandlungen der geschilderten Art typischerweise – wenn auch nicht zwangsläufig – auf der Ausnutzung von Machtvorsprüngen beruhen 13 und formale Bindungen Bewegungsfreiräume, in denen sich Machtvorsprünge entfalten können, gar nicht erst entstehen lassen. Allerdings sind die Verbindungslinien der Kapitalerhaltung zum Minderheitenschutz wesentlich stärker ausgeprägt als die der Kapitalaufbringung:

11 MünchKommAktG/Bayer § 60 Rdn. 22. 12 Vgl. vor allem Schockenhoff, Gesellschaftsinteresse und Gleichbehandlung beim Bezugsrechtsausschluss, 1987, S. 38, der die These vertritt, zwischen Altgesellschaftern und Zeichnern gebe es keine Verteilungskonflikte. 13 Der Gesetzgeber zieht aus dieser Erfahrung vor allem im Konzernrecht Konsequenzen, indem er die Kontrollinstrumente des Haftungsrechts zugunsten der außenstehenden (Minderheits-)gesellschafter erweitert, vgl. § 309 Abs. 4 S. 1, § 310 Abs. 4, § 317 Abs. 4, § 318 Abs. 4 AktG.

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Die formale Gleichheit der Beitragsbemessung ist durch das Prinzip der nominellen Kapitalaufbringung nicht durchweg gewährleistet. Sie beschränkt sich, soweit es die Kontrolle durch das Registergericht betrifft, auf Bareinlagen in Höhe des in §§ 36 a Abs. 1, 188 Abs. 2, 203 Abs. 1 AktG vorgeschriebenen Aufbringungsminimums. Da ohne Leistungsnachweis mangels Eintragung keine (neuen) Mitgliedschaften begründet werden, kann jeder Zeichner sicher sein, dass für alle Gesellschaftsanteile gleiche Renditebedingungen hergestellt werden. Der Mehrheitsgesellschafter kann also kraft seines Einflusses keinen investitionspolitischen Sondervorteil für sich erwirken. Die praktische Bedeutung des von der Kapitalaufbringungskontrolle erfassten Beitragsminimums ist jedoch eher gering, weil Barkapitalerhöhungen in den allermeisten Fällen per Fremdemission abgewickelt werden. Die neuen Anteile werden dann komplett vom konsortialführenden Kreditinstitut oder von wenigen, gesellschaftsvertraglich syndizierten Banken zu pari gezeichnet und gegen Einzahlung von 25 % des Aktiennennwertes übernommen.14 Die volle Valuta und das oft um ein Vielfaches höhere Aufgeld fließen der AG erst aus dem Platzierungserlös, also nach Eintragung der Kapitalerhöhung und Beendigung der registergerichtlichen Kontrollfunktionen zu.15 Was diesen verbandsextern abgewickelten Teil der Mittelzuführung anbelangt, der in der Regel den wirtschaftlichen Kern der Finanzierungsmaßnahme ausmacht, verlagert sich das regulatorische Ziel der Gleichbehandlung vom gesellschaftsrechtlichen Minderheitenschutz hin zum kapitalmarktrechtlichen Anlegerschutz (dazu sogleich unter 3.). Bei der Sachkapitalerhöhung erübrigt sich die Aufgabe der kollektiven Mittelaufbringung und damit die der formal gleichen Beitragsbemessung, es sei denn, dass sich atypischerweise alle Gesellschafter mit gleichen Sacheinlagen beteiligen.16 Die Kontrolle der Werthaltigkeit dient hier einem anderen Zweck, nämlich dem des Verwässerungsschutzes als Antwort auf interne Quotenverschiebungen (s. dazu unter c.). Einfacher zu begründen ist der Zusammenhang zwischen Kapitalerhaltung und Minderheitenschutz. Ausschüttungssperren sichern die Gleichheit der Renditechancen unter den Gesellschaftern, indem sie Sonderentnahmen verbieten, die ein einflussreiches Mitglied sonst zum eigenen Vorteil erwirken könnte. Diese Sicherungsfunktion erstreckt sich sowohl auf die Erhaltung des nominellen Beitragsaufkommens (formaler Gleichheitsaspekt) als auch auf die Beibehaltung der offenen Rücklagen (materieller Gleichheitsaspekt, näher unter III.). In Rechtsprechung und Literatur pflegt man denn auch ganz selbstverständlich einen direkten teleologischen Zusammenhang zwischen dem Grundsatz der Kapitalerhaltung und dem Gleichbehandlungsgrundsatz des § 53a AktG herzu14 MünchKommAktG/Bayer § 204 Rdn. 20 mwN. 15 Ausführlicher Ekkenga in Fleischer, Handbuch des Vorstandsrechts, 2006, § 21 Rdn. 106. 16 Beispiel: „Ausschütt-Rückhol-Verfahren“, vgl. BGHZ 135, 381, 383.

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stellen.17 Aber selbst wenn Vermögen der Aktiengesellschaft alle Aktionäre ohne Bevorzugung einzelner zurückgeführt wird, sind individuelle Renditeinteressen betroffen. Denn wer der AG kleingestückeltes Kapital zuführt, tut dies in der Erwartung, dass das im Emissionsverfahren angekündigte Beitragsvolumen insgesamt erreicht und zu Investitionszwecken langfristig genutzt wird. Diese Erwartung erfüllt sich nur unter der Erhaltung aller nominellen Kapitalanteile im Unternehmen. Legislativen Ausdruck hat dieses mitgliedschaftliche Schutzinteresse in § 92 Abs. 1 AktG gefunden. Die darin vorgeschriebene Befassung der Hauptversammlung bei Verlust von 50 % des Grundkapitals soll den Aktionären dazu verhelfen, rechtzeitig Sanierungsmaßnahmen beschließen zu können.18

c) Schutzdefizite Dass die formale Gleichheit der Mitgliedschaften aus der Sicht der Anteilsminderheit auch Nachteile hat, liegt in der Natur der Sache, weil über die Inhalte der Mitgliedschaften nach dem Mehrheitsprinzip statt konsensual entschieden wird (s. soeben unter a.). Die verbandsexterne Aushandlung der Mitgliedschaften wäre zwar ebenfalls geeignet, Gesellschafterinteressen zu beeinträchtigen, doch handelte es sich hierbei nicht um einen Mehrheits-/Minderheitenkonflikt, sondern um ein Problem der Managementkontrolle (dazu s. unten IV, 2, a). Im Verhältnis der Gesellschafter untereinander ist zwischen dem Schutz der Mitgliedschaft im Allgemeinen und dem Schutz vor Quotenverwässerungen beim Hinzutritt neuer Gesellschafter im Besonderen zu unterscheiden: Nach dem Gesetz ist es nicht zuletzt Sache der Minderheitsaktionäre, rechtswidrige Mehrheitsbeschlüsse über die Erhöhung des Grundkapitals gerichtlich anzufechten (§ 245 Nr. 1 bis 3 AktG) und damit den vorbeugenden Kontrollmechanismus zur Einhaltung der formalen Gleichheitskriterien auszulösen. Dieser Präventivschutz erstreckt sich auf die Festlegung des Finanzierungszieles und dessen Durchführung, also auf die Kapitalaufbringung gleichermaßen (s. oben I, 2). Er droht allerdings immer mehr zu verflachen, je weiter sich der Entscheidungsprozess von der Hauptversammlung zur Managementebene verlagert: Verfügen Vorstand und Aufsichtsrat über ein genehmigtes Kapital (§§ 202, 203 AktG) und sind sie zugleich ermächtigt, über das Finanzierungsziel mitsamt allen wesentlichen „Bedingungen der Aktienausgabe“ (§ 204 AktG) autonom zu bestimmen, so lässt sich ein ausreichender Rechtsschutz ohne die Möglichkeit einer gegen das Handeln der Verwaltung gerichteten, vorbeugenden Aktionärsklage nicht verwirklichen. Darauf ist das deutsche Aktienrecht – ungeachtet der mit 17 RGZ 107, 161, 168; KölnKommAktG/Lutter, 2. Aufl., § 57 Rdn. 2 mwN; MünchKommAktG/Bayer § 57 Rdn. 2. 18 MünchKommAktG/Hefermehl/Spindler § 92 Rdn. 2.

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dem UMAG (Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts) eingeleiteten Verbesserungen – bekanntlich nicht ausgerichtet.19 Auf die umfangreiche rechtspositive und -politische Diskussion zum „Siemens/ Nold“-Urteil des BGH 20 kann und muss hier aus Raumgründen Bezug genommen werden.21 Die Erschaffung neuer Mitgliedschaften und deren Vergabe an Dritte hat zur Folge, dass die Altgesellschafter einen Teil ihrer Beteiligungsquote an den Neugesellschafter abgeben 22, so dass Kapitalerhöhungen stets mit der Gefahr einer nominellen Anteilsverwässerung verbunden sind. Den Altaktionären steht deshalb im Regelfall ein Bezugsrecht auf Erwerb der neuen Anteile zu (§ 186 Abs. 1 AktG), sofern ihnen nicht die Möglichkeit eröffnet wird, sich zu vergleichbaren Konditionen am Zirkulationsmarkt einzudecken (§ 186 Abs. 3 S. 4 AktG). Dieses Schutzsystem ist in mehrfacher Hinsicht defizitär: (1) Die Altaktionäre sind vor die Wahl gestellt, ihren Quotenverlust entweder hinzunehmen oder weitere Mittel in die Gesellschaft zu investieren – es sei denn, ihnen gelingt der Verkauf des Bezugsrechts am Kapitalmarkt.23 (2) Das Bezugsrecht ist unzweckmäßig, wenn – wie etwa bei Ausgabe neuer Anteile gegen Sacheinlagen – nur bestimmte Personen zum Anteilserwerb zugelassen werden sollen. Wird das Bezugsrecht deshalb nach § 186 Abs. 3 S. 1 AktG ausgeschlossen, bleibt der benachteiligte Aktionär u. U. ohne vermögensrechtliche Kompensation. Zwar soll § 255 Abs. 2 S. 1 AktG gewährleisten, dass der AG ein hinreichendes Aufgeld zufließt, das die reduzierten Anteilsquoten der Altaktionäre bis zur Erreichung des effektiven Status quo ante aufwertet.24 Dieses effektive Kapitalaufbringungssoll ist aber bei der Aktienausgabe durch den Vorstand beim genehmigten Kapital nicht gesichert, weil es weder an der registergerichtlichen Aufbringungskontrolle noch an der langfristigen Kapitalsicherung teilnimmt (dazu sogleich unter III, 1, a.). (4) Der vom Bezugsrecht ausgeschlossene Aktionär muss die Verringerung seiner Stimmquote daher im Ergebnis regelmäßig entschädigungslos hinnehmen. Deren Werthaltigkeit lässt sich selbst bei Publikumsgesellschaften nicht mehr generell leugnen 25,

19 Zur Problematik ausf. MünchKommAktG/Bayer § 203 Rdn. 173ff. 20 BGHZ 136, 133 = NJW 1997, 2815; dazu statt vieler Hüffer, AktG, 6. Aufl. 2005, § 203 Rdn. 33ff., 38f. mwN.; Cahn ZHR 164 (2000), 113. 21 Zusammenfassend MünchKommAktG/Bayer § 203 Rdn. 97ff., 105ff. mwN. 22 Im Schrifttum gelegentlich als „Quersubventionierung“ der Neu- durch die Altgesellschafter bezeichnet, vgl. Habersack, Die Mitgliedschaft – subjektives und „sonstiges“ Recht, 1996, S. 260. 23 Im Falle des „vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses“ nach § 186 Abs. 3 S. 4 AktG entfällt diese Möglichkeit, weshalb der Gesetzgeber dieses Verfahren nur für kleinere Operationen zugelassen hat, die 10 % des Grundkapitals nicht übersteigen. 24 Zusammenfassend Bayer ZHR 167 (2004), 132, 140ff. mwN. 25 Im Ergebnis wie hier Hüffer, AktG § 186 Rdn. 33; KölnKommAktG/Lutter § 186 Rdn. 76.

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spätestens nachdem der Gesetzgeber geregelt hat, dass Übernahme- und Pflichtangebote nach dem WpÜG stets Vollangebote sein müssen (§§ 32, 35 WpÜG): Der Übernahmeerfolg hängt vom Erwerb der Stimmrechte ab, und hierfür wird jedem Angebotsadressaten ein nicht unerheblicher Kontrollzuschlag offeriert.26 (5) Beim genehmigten Kapital ist der Minderheitenschutz gegen Eingriffe in das Bezugsrecht nicht mehr voll gewährleistet. Zwar unterliegt der Vorstand in der Sache den gleichen Rechtfertigungszwängen wie die Hauptversammlung im Rahmen regulärer Kapitalerhöhungen ohne Bezugsrechte.27 Den Minderheitsaktionären fehlen jedoch die informatorischen Grundlagen und verfahrensrechtlichen Mittel, um ihre Abwehrrechte gegenüber der Verwaltung zeitnah, d. h. möglichst mit präventiver Wirkung 28 durchzusetzen. Auf die „Siemens-Nold“Diskussion ist abermals zu verweisen.29

2. Verbindungslinien zwischen Kapital- und Anlegerschutz Nach einhelliger Meinung im Schrifttum gewährt das Recht des Primärmarktes keinen wie auch immer gearteten Anspruch der Zuteilungsbewerber auf Beteiligung an der Emission, selbst wenn man unterstellt, dass der Emittent tragfähige Gründe für eine eventuelle Ungleichbehandlung nicht vorweisen kann. Denn das börsenrechtliche Gleichbehandlungsgebot (§ 39 Abs. 1 Nr. 1 BörsG) schützt – dem verbandsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz des § 53a AktG entsprechend – nicht die Kaufinteressenten, sondern nur die Altaktionäre bzw. -obligationäre.30 Zwar gibt es mittlerweile positivrechtliche Ansätze eines weitergehenden, kapitalmarktrechtlichen Gleichbehandlungsgebotes, doch beschränken sich diese einstweilen auf die Herstellung von Chancengleichheit im Rahmen der Informationsvermittlung.31 I.Ü. stellt Art. 12 der Grundsätze der Börsensachverständigenkommission für die Zuteilung von Aktienemissionen an Privatanleger vom 7. Juni 2000 (sog. Zuteilungsgrundsätze) ausdrücklich klar, dass es „kein Recht auf Zuteilung“ gibt.

26 §§ 32, 35 Abs. 1, 2 WpÜG. Vgl. dazu Ekkenga in: Ehricke/Ekkenga/Oechsler, WpÜG, § 33 Rdn. 3. 27 So zu Recht die hM: Ausf. MünchKommAktG/Bayer § 203 Rdn. 110ff. mwN zum Streitstand. 28 Zu den Rechtsschutzdefiziten im Rahmen der reaktiven Managementkontrolle s. o. I, 2. 29 S. die Nachw. Fn. 20, 21. 30 Gravenhorst, Plazierungsverfahren bei Aktienemissionen und der Anspruch auf Zuteilung, 2002, S. 98 ff.; Escher-Weingart, AG 2000, 164, 166f. 31 § 15 Abs. 5 S. 1 WpPG; vgl. Ekkenga/Maas, Das Recht der Wertpapieremissionen, in: Kümpel/Hammen/Ekkenga, Kapitalmarktrecht, Kennz. 055 Rdn. 144.

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Die Bedeutung des nominellen Kapitals für den Anlegerschutz beschränkt sich daher auf den Zirkulationsmarkt: Die Zerlegung des nominellen Kapitals in Anteilsnennwerte verschafft den Gesellschaftern und bei bestehender Publizität auch außen stehenden Dritten jederzeitigen Einblick in die aktuellen Beteiligungsquoten unter Berücksichtigung von Kapitalveränderungen. Das dient der Markttransparenz bei kleingestückelten Beteiligungen, insbesondere also bei der Publikumsaktie. Daneben mag die Publizität des Vermögensumfanges eine gewisse Rolle spielen. So verhindert die Ausschüttungsfestigkeit der Kapitalrücklagen legale Täuschungsmanöver durch „Window Dressing“: Das Unternehmen könnte seine Eigenkapitalquote durch Bildung frei verfügbarer Kapitalrücklagen kurzfristig verbessern, um die Gelder sogleich nach Veröffentlichung des Jahresoder Zwischenabschlusses wieder an die Inferenten zurückzuführen. Ob dagegen allein schon die regelwidrige Verteilung der Vermögenssubstanz unter die Aktionäre geeignet wäre, den Aktienkurs künstlich nach oben zu treiben 32, ist nicht unzweifelhaft. Jedenfalls wäre derartigen Entwicklungen nicht im Wege der Kapitalerhaltung zu begegnen, sondern durch Herstellung von Markttransparenz: Es darf nicht der falsche Eindruck entstehen, die Ausschüttung sei Ausdruck eines höheren Ertragswertes der Aktie.33

III. Schutzaspekte der Rücklagensicherung 1. Kapitalrücklagen a) Minderheitenschutz durch Rücklagensicherung Kapitalrücklagen sind keine Nominalgrößen zur Festlegung einer Beitragspflicht, sondern bilden den effektiven Wert zugeführter Eigenmittel ab. Sie sind also weder Instrumente zur Gewährleistung formal gleicher Verhältnisse, noch haben sie ihrerseits Einfluss auf die formale Festlegung der Beteiligungsquoten: Leistungen über pari, die gem. § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB als Aufgeld gebucht werden, erhöhen nicht den nominellen Anteilswert des Inferenten. Derartige Leistungen fixieren auf Dauer die Äquivalenz im Austauschverhältnis „Erwerb der Mitgliedschaft gegen Einlage“, denn sie vergüten denjenigen Anteil am Reinvermögen, dessen Höhe der Summe aus bereits vorhandenen (offenen und stillen) Rücklagen und Gewinnvorträgen entspricht. Da sich dieser Vergütungszweck auf das Verhältnis zwischen Mitglied und Gesellschaft bezieht, lässt sich ein Zusammenhang mit dem Gesellschafterschutz nur mittelbar, nämlich über den Ver-

32 So KölnKommAktG/Lutter § 57 Rdn. 2; GroßKommAktG/Henze § 57 Rdn. 7. 33 Vgl. MünchKommAktG/Bayer § 57 Rdn. 3.

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bandszweck und die Zweckdienlichkeit der Kapitalzuführung und -ausstattung herstellen.34 In eine direkte, wenn auch nicht rechtsgeschäftliche Austauschverbindung mit den Gesellschaftern tritt dagegen der Erwerber neu ausgegebener Anteile. Das folgt aus der nominellen Anteilsverwässerung bei Kapitalerhöhungen: Der Neugesellschafter bezieht mit der Mitgliedschaft zugleich einen Quotenanteil aus dem Vermögen der Altgesellschafter, das Aufgeld verschafft den Altgesellschaftern zusätzliche Renditechancen und erfüllt somit den zusätzlichen Zweck, sie für den Rechtsverlust zu entschädigen (s. unter II, 1, c). Insofern lässt sich in Abgrenzung gegen die nominelle Beitragsbemessung von einem System materieller Gleichheit sprechen (s. o. II, 1, b). Die Kapitalaufbringung ist zwar auch über die Aktiennennbeträge hinaus verbandsintern formalisiert, denn über die Höhe des Aufgeldes entscheiden nicht Gesellschaft und Zeichner im freien Verhandlungsprozess, sondern die Gesellschafter in der Hauptversammlung (§ 182 Abs. 3 AktG) oder an ihrer Stelle Vorstand und Aufsichtsrat kraft Ermächtigung (§ 204 Abs. 1 AktG).35 Zudem hat der Gesetzgeber die registergerichtliche Kapitalaufbringungskontrolle konsequent auf das deklarierte Einlageaufgeld erstreckt (§§ 36a Abs. 1, 188 Abs. 2 AktG).36 Insofern besteht eine Parallele zur nominellen Beitragsbemessung bei der Aufbringung des Grundkapitals. Die praktische Bedeutung der verbandsinternen Preisfindung ist jedoch denkbar gering, weil gegenüber den emissionsbegleitenden Banken meist kein Agio erhoben wird (vgl. II, 2, b.) und die Aktionäre normalerweise kein Interesse, jedenfalls aber kein rechtliches Mittel haben, die beschlussweise Fixierung eines Aufgeldes gerichtlich zu erzwingen. Anders verhält es sich, wenn es sich um eine per Mehrheitsbeschluss veranlasste bezugsrechtsfreie Emission handelt, so dass ein Verkauf unter Verkehrswert (Beteiligungs-/ Kurswert) ausscheidet. Doch gelten dann die Mindestpreisregeln der §§ 186 Abs. 3 S. 4, 255 Abs. 2 S. 1 AktG, die gerade keine nominelle Festlegung des Aufgeldes zwingend vorsehen, sondern das Mittelaufkommen letztlich von der Kursentwicklung am Kapitalmarkt abhängig machen.37 Damit ist den Minderheitsgesellschaftern de lege lata die Möglichkeit genommen, sich per Beschlussanfechtung gegen eine drohende Anteilsverwässerung wegen zu billiger Ausgabe der neuen Aktien zu wehren. Denn eine zunächst gesetzeskonforme Mindestpreisbestimmung im Kapitalerhöhungs- oder Ermächtigungsbeschluss kann nicht nachträglich dadurch unrechtmäßig werden, dass die im Beschlusszeitpunkt erwartete Kursentwicklung später ausbleibt.38 34 Arg. § 92 Abs. 1 AktG. 35 MünchKommAktG/Bayer § 204 Rdn. 7ff. 36 Insofern besteht ein von Schrifttum und Praxis nicht immer beachteter Unterschied zur Rechtslage bei der GmbH. Ausf. hierzu Bayer FS Ulmer 2003 S. 21, 36ff. mwN. 37 Für § 255 Abs. 2 S. 1 AktG gilt das jedenfalls in den häufigen Fällen des genehmigten Kapitals, s. sogleich unter b. 38 Maßgeblich für die Beschlusskontrolle sind die Umstände im Zeitpunkt der Be-

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Die Kapitalsicherung gegen Ausschüttung beruht bei den Kapitalrücklagen auf der Verpflichtung, die zugeführten Eigenmittel als solche im Jahresabschluss zu passivieren und dort beizubehalten (Auflösungsverbot, vgl. § 150 Abs. 3, 4 AktG).39 Dieses Erhaltungsgebot lässt sich wie im Rahmen des nominellen Kapitalschutzes spiegelbildlich zum Kapitalaufbringungsgebot interpretieren und auf den Minderheitenschutz beziehen. Denn es verhindert, dass Kapitalentnahmen teilweise aus Mitteln bestritten werden, die eintretende Neugesellschafter zuvor zur Kompensation einer Vorteilserlangung durch Quotenverschiebung eingebracht haben. Da diese Mittel nach dem Prinzip der formellen Gleichheit der Anteilsbemessung den Altgesellschaftern anteilig zufallen, hätte die Ausschüttung der Rücklagen an alle Gesellschafter eine Wertverschiebung zu Lasten der Neugesellschafter zur Folge. Anders wäre es nur dann, wenn die Neugesellschafter durch ihren Eintritt und die nachfolgende Ausschüttung ihrerseits an vorhandenen Kapitalrücklagen partizipieren, so dass der Wertverschiebung zugunsten der Altgesellschafter eine spiegelbildliche Wertverschiebung zugunsten der Neugesellschafter gegenübersteht. Dieser Fall bleibt aber wohl hypothetisch, weil die vorhandenen Rücklagen bereits durch das Aufgeld mitvergütet werden. Der Unterschied zeigt sich in der Bewertung: Während die bilanzierten Rücklagen (nur) die Vermögenssubstanz abbilden, sind die Aufgelder nach dem (höheren) Ertragswert berechnet. Sie enthalten also den Gegenwert künftiger Gewinne, die nach der Ausschüttung nicht mehr anfallen. Berechnungsbeispiel: Die AG verfügt über offene Rücklagen von 2 Mio € bei einem Grundkapital in Höhe von 1 Mio €, das sich aus 100.000 Anteilen zu je 10 € zusammensetzt. Der Wert jedes Anteils an den offenen Rücklagen beträgt somit 20 €. Im Jahre 01 werden 50.000 neue Anteile im Nennwert zu je 10 € ausgegeben. Die Zeichnung erfolgt gegen Zahlung eines Aufgeldes von 40 €. Darin enthalten ist eine Vergütung von 20 € für den Goodwill, der nicht aktiviert ist; die restlichen 20 € entfallen auf die anteilige Wertdeckung für die offenen Rücklagen. Der AG fließen also 2 Mio € an weiteren Rücklagen zu. Im Jahre 02 werden