Das Jüngste Gericht in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit [1 ed.] 9783737015547, 9783847115540

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Das Jüngste Gericht in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit [1 ed.]
 9783737015547, 9783847115540

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The Early Modern World Texts and Studies

Band 7

Herausgegeben von Markus Friedrich, Jürgen Sarnowsky und Johann Anselm Steiger

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Johann Anselm Steiger / Ricarda Höffler (Hg.)

Das Jüngste Gericht in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit

Mit 103 Abbildungen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Lucas van Leyden, Jüngstes Gericht (1526–1527), Detail, Rijksmuseum Amsterdam, Photographie © Johann Anselm Steiger Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2626-3718 ISBN 978-3-7370-1554-7

Inhalt

Johann Anselm Steiger Vorwort ..................................................................................................................

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Stefan Beyerle Die Hölle im Himmel (äthHen 22). Antik-jüdische Gerichtsvorstellungen .......................................................................................... 11 Jeffrey Chipps Smith Albrecht Dürer, the Landauer Altarpiece (1511), and End Times in Nürnberg ................................................................................................................ 29 Johann Anselm Steiger ‚lieber Jüngster Tag‘. Sehnsucht nach dem Jüngsten Gericht, Werke der Barmherzigkeit und Beichte bei Luther und im barocken Luthertum ......... 57 Ricarda Höffler „Den euch ist die oberkeitt gegeben vom Herrn“. Zum usus politicus der Weltgerichtsdarstellung im Luthertum der Frühen Neuzeit .......................... 95 Bernhard Jahn Das Jüngste Gericht auf der Bühne. Zu den medialen Grenzen des Theaters im 16. Jahrhundert................................................................................ 141 Marc Föcking Vor Gericht. Geistliches Spiel und Angstmanagement in Paolo Bozzis Rappresentatione del Giudicio universale (1596) .............................................. 159 Oliver Huck „Tuba mirum spargens sonum“ / „Posaunen wird man hören gehen“. Der Klang des Jüngsten Gerichts in der Frühen Neuzeit ................................ 179

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Inhalt

Maryam Haiawi „Posaunen tösen! Donner sprechen! | Nun will er segnen, er will rächen!“ Vom doppelten Ausgang des Jüngsten Gerichts in Christian Wilhelm Alers’ Singgedicht Der Tag des Gerichts in der Vertonung Georg Philipp Telemanns..................................................................................... 203 Constantin Cremer „Wo ist die Verheißung seiner Zukunfft?“ (2Petr 3,4). Überlegungen zum frühneuzeitlichen Verständnis des Jüngsten Gerichts anhand von Texten Erhard Erhardts und Martin Luthers .................................................... 229 Frank Alexander Kurzmann Einweihen in Erwartung des Jüngsten Tages. Betrachtungen zur Thematik des Letzten Gerichts in frühneuzeitlichen Einweihungspredigten .......................................................................................... 259 Piotr Kociumbas „Wacht auff ihr Todten/ kompt herfür Und zum Gerichte wallet.“ Das Jüngste Gericht im Spiegel des im Königlichen Preußen gesungenen geistlichen Liedrepertoires ............................................................. 275 Judith Lipperheide Vorbereitung auf das Jüngste Gericht. Individuelle Bekehrung und kollektive Erfahrung in der Maison de retraite der Jesuiten in Frankreich im 17. Jahrhundert ............................................................................ 303 Leonid Malec Das Ende immer im Blick. Uhren und die Zeitgestaltung bis zur letzten Stunde...................................................................................................................... 329 Stefan Michels Das Jüngste Gericht im poetischen Werk Erdmann Neumeisters (1671– 1756) im Spannungsfeld von lutherischer Theologie und galanter Conduite – ein Erkundungsgang ........................................................................ 369 Matthias Pohlig Das Jüngste Gericht als eine moralische Anstalt betrachtet? Apokalyptische Perspektiven der Aufklärung ................................................... 399 Personenregister .................................................................................................... 423 Register der aus der Bibel, den Pseudepigraphen und den Texten vom Toten Meer zitierten Stellen ................................................................................. 429

Johann Anselm Steiger

Vorwort

Der vorliegende Band dokumentiert den Ertrag einer interdisziplinären und internationalen Tagung, die das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Graduiertenkolleg 2008 Interkonfessionalität in der Frühen Neuzeit der Universität Hamburg gemeinsam mit der Reformationsgeschichtlichen Forschungsbibliothek Wittenberg vom 22. bis zum 25. September 2021 veranstaltete. Infolge der Covid-19-Pandemie fand die Tagung in digitalem Format statt. Eine der Motivationen für Planung und Durchführung der wissenschaftlichen Tagung war der Umstand, daß die Thematik des Jüngsten Gerichts (iudicium extremum) – von Ausnahmen abgesehen – in den akademisch-theologischen Debatten des 20. und 21. Jahrhunderts zu den eher am Rande traktierten oder gar gemiedenen Thematiken zählt(e). In allen Konfessionen der Frühen Neuzeit hingegen galt dem Jüngsten Gericht und der sog. Naherwartung größte Aufmerksamkeit in der gesamten Bandbreite der zu Gebote stehenden Medien, so beispielsweise in der akademisch-theologischen, mithin v. a. in der dogmatischen und exegetischen Gelehrsamkeit, in der Liturgie (einschließlich der Predigt), in der meditativen und lyrischen Literaturproduktion, in der bildenden Kunst, in der geistlichen Musik sowie auf der Bühne. Die an der Tagung beteiligten Wissenschaftler/innen setzten sich zum Ziel, die äußerst facettenreichen konfessionellen und medialen Artikulationsformen der Gerichtsthematik in der Frühen Neuzeit sowie deren Differenzen und Gemeinsamkeiten erstmals in breiter fächerübergreifender Weise zu analysieren: im Zusammenwirken literaturwissenschaftlicher, kunst- und musikhistorischer, historisch-theologischer, geschichtswissenschaftlicher und exegetischer Expertise. Im Laufe der Tagung und im Rahmen der Diskussion der vorgetragenen Fallstudien, welche neben einem Beitrag zur antik-jüdischen Thematisierung des Jüngsten Gerichts die Zeitspanne des frühen 16. Jahrhunderts bis hinein in die Aufklärungszeit abdeckten, stellte sich rasch die Erkenntnis ein, daß eine breiter angelegte Erkundung dieser Thematik äußerst lohnenswert wäre.

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Johann Anselm Steiger

Die mit vorliegendem Band der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Fallstudien befassen sich je exemplarisch mit den (Vertiefung erheischenden) Fragen, – wie das Zusammenwirken und die wechselseitig-intermediale amplificatio heterogener Ausdrucksformen die frühneuzeitliche Reflexion des Jüngsten Gerichts bestimmte und welche Auswirkungen die Gerichtserwartung auf die den Alltag prägende Frömmigkeits- und Materialkultur zeitigte; – wie die (oft trotz eindeutiger Quellenbefunde bestrittene) Faktizität der Erwartung eines Jüngsten Gerichts nach den Werken bei den Reformatoren und in den Protestantismen der Frühen Neuzeit zu deuten ist und welche Perspektiven sich hieraus mit Blick auf die Beschreibung inter- und transkonfessioneller Prozesse in der Frühen Neuzeit ergeben; – wie der Transfer vom Tod in das ewige (d. h. himmlische oder höllische) Leben infolge der Auferstehung am Jüngsten Tag die Medialität seiner Darstellung bestimmt; – wie die Erwartung eines Endkampfs des Guten und des Bösen als Teil des Gerichts den innerseelischen wie den konfessionellen Streit und insbesondere das Ringen um das Verständnis von Gnade und Werken bestimmt; – wie Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit der Gläubigen zu Gott an diesem Tag wirksam und entschieden werden; – welche Relevanz der neutestamentlichen Apokalyptik und ihrer alttestamentlichen bzw. frühjüdischen Verankerung für die einschlägigen medialen Repräsentationsformen des Jüngsten Gerichts zukommt und wie es um die Rezeption antik-christlicher und mittelalterlicher Texte und Ikonographien bestellt war. In der Diskussion dieser und verwandter Fragen wurden neben konfessionsspezifischen, inter- und transkonfessionellen Faktizitäten insbesondere auch Phänomene innerkonfessioneller Pluralität thematisiert und gewürdigt. Dank gebührt allen an der Tagung beteiligten Wissenschaftler/innen, v. a. denen, die ihre Texte zwecks Publikation zur Verfügung stellten, sowie der Reformationsgeschichtlichen Forschungsbibliothek Wittenberg, insbesondere deren Leiter Dr. Matthias Meinhardt, für die ersprießliche Kooperation. Frau Dr. Ricarda Höffler sei herzlich gedankt für ihre Mitwirkung an der redaktionellen Bearbeitung der Texte und der Betreuung der Drucklegung. Gewidmet ist der Band dem Andenken an Professorin Dr. Seraina Plotke, die am 27. Oktober 2020 im Alter von erst 48 Jahren verstarb. Das Graduiertenkolleg Interkonfessionalität in der Frühen Neuzeit, dessen Gastprofessorin Seraina Plotke im Sommersemester 2018 war und mit dem sie bereits zuvor seit mehreren Jahren eng verbunden war, gedenkt ihrer als einer herausragenden Wissenschaftlerin und zugewandten Person. Der Austausch mit ihr, der in wissen-

Vorwort

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schaftlicher Hinsicht stets höchst anregend und zugleich von humorvoller Mitmenschlichkeit geprägt war, fehlt und wird gewiß am Jüngsten Tag in der academia coelestis seine entzeitlichte Fortsetzung finden. Hamburg, Ostern 2022

Johann Anselm Steiger

Stefan Beyerle

Die Hölle im Himmel (äthHen 22). Antik-jüdische Gerichtsvorstellungen

1. Problematik Insbesondere in der christlichen Theologie prägen die Topoi „Schuld“, „Strafe“ und vor allem die „Lehre von den letzten Dingen“ („Eschatologie“) die Vorstellungen vom „Jüngsten Gericht“. Aus der Perspektive des Alten Testaments sind in diesem Kontext die Überlieferungen der frühen Schriftprophetie (Amos, Hosea, Micha, Jesaja oder Jeremia) von prägender Bedeutung. In der älteren Forschung bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts orientierte man sich an den in den Texten enthaltenen, redenden und agierenden, Propheten. Sie galten als genialische Künder göttlicher Wahrheiten, die sich in von JHWH herrührender Zukunftsgewissheit der göttlichen Sphäre am nächsten wussten.1 Ziel der prophetischen Gerichtsverkündigung war immer wieder das Kollektiv Altisraels oder auch des Nord- (Israel) bzw. Südreichs (Juda). Orientierung bot und bietet das Buch des Propheten Amos, dessen Verkündigung zugleich als ältestes Zeugnis der Schriftprophetie (Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr.) gilt. In den neun Kapiteln herrschen eindeutig Gerichtsansagen vor, die sich zum einen an das Volksganze (vgl. Am 8,2; auch Jer 1,14) richten, zum anderen in einer Situation relativer Sicherheit und Prosperität unter dem Nordreich-König Jerobeam II., also noch vor den Untergängen von Nord- (722/720 v. Chr.) und Südreich (597/587 v. Chr.), als unausweichlich verstanden werden. Nicht das Mahnen zur Umkehr, sondern das unumgängliche Gericht stehe, so die Deutung weiter, im Fokus.2 1 Dieses Prophetenverständnis ist mit Namen wie Bernhard Duhm (1847–1928), Hans Walter Wolff (1911–1993) oder Werner H. Schmidt (*1935) verbunden. 2 Es sei nur auf die von Werner H. Schmidt herausgearbeitete prophetische Grundgewissheit verwiesen: Vgl. Werner H. Schmidt: Die prophetische „Grundgewißheit“ (1971). In: Vielfalt und Einheit alttestamentlichen Glaubens. Bd. 1: Studien zur Hermeneutik und Methodik, Pentateuch und Prophetie. Hg. von Axel Graupner u. a. Neukirchen-Vluyn 1995, S. 193–213. Zur Kritik an

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Stefan Beyerle

Seit dem Aufkommen der redaktionsgeschichtlichen Methode in der Exegese der 1970er Jahre und – mit ein wenig Zeitverzögerung – auch in der Prophetenforschung, vor allem im 21. Jahrhundert, greifen stärker literarhistorische Ansätze, die ihren Ausgangspunkt beim Prophetenbuch und seinen Fortschreibungen nehmen.3 Prophetie wird nicht als Zeugnis auserwählter Gotteskünder, sondern als sich über die Jahrhunderte hin anreicherndes Schrifttum gelehrter Schreiberzunft verstanden. Diese wirkte deutlich später, als es etwa die Datierungen der Prophetentexte selbst anzeigen, so dass in den älteren Texten keineswegs das Gericht, vielmehr – vergleichbar der Prophetie im Alten Orient – Heilsansagen und Mahnungen vorherrschten. Erst im zeitlichen Kontext der Defiziterfahrungen vom Untergang des Nord- und Südreichs, den konkreten Bedrohungen unter den Assyrern und Babyloniern, werden Gerichtsansagen in die Schriftprophetie eingeflochten, die bisweilen auch als Verarbeitung und vaticinia ex eventu des Erfahrenen zu interpretieren sind.4 In der aktuellen Diskussion hat sich in der Mehrheit die Auffassung von der Prophetie als Schriftphänomen durchgesetzt.5 Ganz unabhängig davon, wie man sich in der Prophetenhermeneutik positioniert, ob man das Gericht als unhintergehbare Offenbarung genialischer Gotteskünder oder, in der Konsequenz, als nachlaufende Erklärung sich fortschreibender Texturen versteht: Gemeinsam und entscheidend bleibt, dass sich die Gerichtsansagen ausschließlich an Gruppen aus „Israel“ und seiner Umwelt wenden, also partikularistisch orientiert sind, dass das Gericht innerweltlich, ja innerhalb „Israel-Judas“, „Assurs“, Babylons“ und anderer Ethnien, vollzogen wird und damit keinen „kosmischen“ Endpunkt markiert.6 Dies ändert sich radikal, wenn die Gerichtsvorstellung endzeitlich verortet wird. Allerdings wäre

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der Interpretation des prophetischen Gerichts in der Amosschrift als kollektivem Phänomen vgl. jüngst Rainer Kessler: Amos. Stuttgart 2021 (Internationaler Exegetischer Kommentar zum Alten Testament), S. 18 f. Zu nennen sind Reinhard Gregor Kratz (*1957), Konrad Schmid (*1965) oder Uwe Becker (*1961), die sich mehr oder weniger eng auf Odil Hannes Steck (1935–2001) und Otto Kaiser (1924–2017) beziehen. Vgl. dazu Konrad Schmid: Klassische und nachklassische Deutungen der alttestamentlichen Prophetie. In: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 3 (1996), S. 225–250, und insbesondere zur Amosschrift Reinhard Gregor Kratz: Die Worte des Amos aus Tekoa (2003). In: Prophetenstudien. Kleine Schriften II. Tübingen 2011 (Forschungen zum Alten Testament 74), S. 310–343. Vgl. etwa Uwe Becker: Die Wiederentdeckung des Prophetenbuches. Tendenzen und Aufgaben der gegenwärtigen Prophetenforschung. In: Berliner Theologische Zeitschrift 21 (2004), S. 30– 60. Entsprechend wird das als „Strafe“ aufgefasste Exil unter Assyrern und Babyloniern in der antikjüdischen Literatur häufig als fortbestehend aufgefasst: Vgl. dazu Michael A. Knibb: The Exile in the Literature of the Intertestamental Period (1976). In: Essays on the Book of Enoch and Other Early Jewish Texts and Traditions. Leiden, Boston 2009 (Studia in Veteris Testamenti Pseudepigrapha 22), S. 191–212.

Die Hölle im Himmel (äthHen 22). Antik-jüdische Gerichtsvorstellungen

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der Eindruck falsch, wollte man die antik-jüdischen Gerichtskonzeptionen der Endzeit, auf Seiten gebender Traditionen ganz in der israelitischen Prophetie und, auf Seiten nehmender Konstrukte ganz in der Apokalyptik verankern.7 Etwa was die gebenden Traditionen betrifft, weisen die zeitlich vor dem antiken Judentum datierten Belege der Hebräischen Bibel eine ganze Fülle von Gerichtstätigkeiten und -konnotationen aus, die vom familialen Recht (vgl. Gen 16,1–16) über die königliche Rechtsprechung (vgl. 2Sam 15,1–6) bis in den wiederum prophetischen Rechtsstreit (vgl. Hos 4,1–2) reichen. Schon die im Hebräischen bezeugten Verben dîn (‫) ִדּין‬, rîḇ (‫ ) ִריב‬und šāpaṭ (‫)שָׁ פַט‬, samt ihren nominalen Ableitungen, verzweigen sich in ihrem Bedeutungsspektrum vom „Zank“ oder „Streit“, über den „Rechtsbeistand“, das „Herrschen“, bis hin zum „Urteil“ und „Gericht“.8 Das in den Begriffen angesprochene Wortfeld ist also sehr weit gefasst und genügt profanen wie religiösen Rahmenvorgaben. Ein Schwerpunkt ergibt sich aus der Zuordnung zur Gerichtsbarkeit, wobei die Rechtssätze den hebräischen Begriff šāpaṭ (‫ )שָׁ פַט‬bevorzugen (vgl. Gen 16,5 f.; Dtn 16,18; 17,8–12; 19,17 f.; 25,1 f.), ohne sich eine terminologische Beschränkung auf šāpaṭ aufzuerlegen.9

2. Spuren von Strukturen hin zum „Jüngsten Gericht“ Das Wortfeld „herrschen – richten“, das in der israelitischen Rechtshermeneutik bestimmend ist, kann lediglich als Orientierung für die strukturellen Umgestaltungen von Recht und Gericht im antiken Judentum dienen. Eine auf die Terminologie beschränkte Interpretation griffe zu kurz. Denn das Wortfeld 7 Einmal ganz davon abgesehen, dass auch eine ausschließliche Herleitung der Apokalyptik aus der Prophetie zu kurz greift. 8 Vgl. dazu Vinzenz Hamp, G. Johannes Botterweck: Art. ‫ ִדּין‬dîn. In: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament 2 (1977), Sp. 200–207; Helmer Ringgren: Art. ‫ ִריב‬rîḇ. In: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament 7 (1993), Sp. 496–501; Herbert Niehr: Art. ‫ שָׁ פַט‬šāpaṭ. In: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament 8 (1995), Sp. 408–428. 9 Neuere Synthesen gehen bei der Entwicklung der Gerichtsbarkeit und ihrer Institutionalisierung nicht mehr von einem vorstaatlichen Sippenrecht aus, das mit der Sesshaftwerdung „Israels“ bzw. seiner Stämme in eine an das Tor- oder Ortsgericht gebundene Rechtsprechung überging (vgl. etwa Hans Jochen Boecker: Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient. Neukirchen-Vluyn 1976 [Neukirchener Studienbücher 10], S. 20–32). Vielmehr wird man auch in der ältesten Rechtssammlung der Hebräischen Bibel, dem „Bundesbuch“ (Ex 20,22–23,13), von einer bereits (spät-)königszeitlichen Komposition ausgehen müssen. Es besteht jedoch die Möglichkeit, in die drei unterschiedlichen Funktionen des Rechts: Familie, Ortsgericht und Kult, zu differenzieren. Erst mit der joschijanischen „Kultreform“ und unter neuassyrischen Einflüssen kam es im deuteronomischen Recht seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. zu einer „Professionalisierung“. Vgl. dazu Eckart Otto: Tendenzen der Geschichte des Rechts in der Hebräischen Bibel (2003). In: Altorientalische und biblische Rechtsgeschichte. Gesammelte Studien. Wiesbaden 2008 (Beihefte zur Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte 8), S. 1–55, hier S. 7–30.

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verweist auf vielgestaltige und diverse Textsorten aufrufende Vorstellungen zum endzeitlichen Gericht.10

2.1. Strukturelle Ethos-Orientierung ausgehend von „richten/herrschen“ – hebräisch šāpaṭ

In die israelitische Rechtshermeneutik fügt sich ein – auch – in Weisheit und Prophetie verankertes Ethos, das nach Prv 29,14 dem König, der den Armen (hebräisch dal) Recht verschafft, eine beständige Herrschaft zusagt: Ein König, der in Wahrheit Arme (dal) richtet (šāpaṭ, Partizip, Qal), sein Thron hat auf ewig Bestand.11

Mit Jes 11,4 verbleibt man weiterhin im Themenfeld des Königtums, wonach der zukünftig erhoffte Herrscher aus dem Stumpf des Reises Isais den Armen (wiederum dal) zum Recht verhilft: Er [gemeint: der zukünftige Herrscher] wird richten (šāpaṭ, Afformativ-Konjugation, konsekutiv, Qal) in Gerechtigkeit Arme (dal) und er wird zurechtweisen in Billigkeit Geringe im Land. Und er schlägt Land [Konjektur: (den) Gewalttätigen] mit dem Stab seines Mundes und mit dem Hauch seiner Lippen tötet er (den) Frevler.

Der Text in Jes 11,1–5 hat, was bereits die hebräischen Verbformen anzeigen, eine Zukunft im Blick, in der zwischen den „Armen“ bzw. „Geringen“ und „Frevlern“ unterschieden wird. Auch wenn die Gerichtstat, ganz von JHWHs Geist des Planens, der Weisheit und Erkenntnis geleitet (11,2), forensisch zu verstehen ist, verbleibt die Zukunft mit dem universalen Tierfrieden (V.6) doch ganz in der „Weltinnenpolitik“ verhaftet.12 Jenseitsspekulationen begegnen in diesem Zusammenhang nicht. Ein Gebetstext, Ps 82, geht hier weiter. In V.3 wird dazu aufgerufen, den Armen (erneut dal) zu richten (šāpaṭ, Imperativ Qal), ihm wie der Waisen und 10 Vgl. dazu auch die Überblicke und Zusammenfassungen bei Marius Reiser: Die Gerichtspredigt Jesu. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu und ihrem frühjüdischen Hintergrund. Münster 1990 (Neutestamentliche Abhandlungen NF 23), S. 9–152; Werner Zager: Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu. Eine Untersuchung zur markinischen Jesusüberlieferung einschließlich der Q-Parallelen. Berlin, New York 1996 (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 82), S. 53–114. 11 Mit dem Richten „in Wahrheit“ (‫ )בֶּ אֱ מֶ ת‬ist das Qualitätsabstraktum einer positiven ethischen Eigenschaft durch die Präposition be eingeführt: so Ernst Jenni: Die hebräischen Präpositionen. Bd. 1: Die Präposition Beth. Stuttgart u. a. 1992, S. 334–335: Rubrik 413. Dasselbe gilt für die Ausdrücke ‫ בְּ צֶ דֶ ק‬und ‫ בְּ ִמישׁוֹר‬in Jes 11,4 (s. im Folgenden). 12 Den Begriff der „Weltinnenpolitik“ prägte Horst Seebaß: Die Herrscherverheißungen im Alten Testament. Neukirchen-Vluyn 1992 (Biblisch-Theologische Studien 19), S. 34, und wandte ihn auf Jes 11 an.

Die Hölle im Himmel (äthHen 22). Antik-jüdische Gerichtsvorstellungen

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dem Bedrückten Recht und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (vgl. V.2). In Ps 82,1.3 und 8 heißt es: 1 3 8

Ein Lied Asaphs: Gott steht in der Versammlung der Götter, inmitten der Götter richtet er (šāpaṭ, Präformativ-Konjugation, Qal). Richtet (šāpaṭ, Imperativ, Qal) den Armen (dal), die Waise und den Bedrückten, und dem Geringen verschafft Gerechtigkeit. Steh auf, Gott, richte die Erde (šāpaṭ, Imperativ, Qal), denn du erlangst Erbe in allen Völkern.

Zur universalistischen (vgl. V.8) und forensischen Note des göttlichen Gerichts tritt nun auch explizit die göttliche, jenseitige Sphäre (vgl. V.1) hinzu, und aus „Weltinnen-“ wird „Weltaußenpolitik“. Forensik, Universalismus, Zukunft und Jenseits sind in der Struktur des Ethos schließlich in einem Text aus den Handschriften vom Toten Meer miteinander verknüpft: 4Q285 oder Sefer ha-Milḥamah („Buch des Krieges“). Die Paläographie der fragmentarischen Sammlung, die thematisch an den endzeitlichen Krieg der „Söhne des Lichts“ gegen die „Söhne der Finsternis“ in der Kriegsrolle erinnert, datiert die Abschrift in die zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr.13 Die Komposition beschreibt einen finalen Kampf auf der Weltbühne, in dem die Protagonisten des forensischen Geschehens von den Armen und Frevlern zu „Israel“ werden, mitsamt seinem dem Gott nahen „Spross Davids“.14 Das „Böse“, repräsentiert durch die „Kittim“ (Römer), soll überwunden werden. In Fragment 7 wird zunächst Jes 10,34–11,1 zitiert, und in Z. 3–6 tritt neben den „Spross Davids“ (ṣæmaḥ dāwîd) der „Fürst der Gemeinschaft“ (neśî’ hā‘edāh) als endzeitliche Gestalt, die beide zumindest eng aufeinander bezogen, wahrscheinlich zu identifizieren sind – zumal noch als weitere Gestalt ein Priester (Z. 5; vgl. syrischer Baruch 40,1–3) erwähnt wird.15 So heißt es in 4Q285 (Sefer ha-Milḥamah) Frgm. 7, Z. 3–6:

13 Vgl. Philip Alexander, Géza Vermes: 285. 4QSefer ha-Milḥamah. In: Qumran Cave 4. XXVI: Cryptic Texts / Miscellanea. Part 1. Bearb. von Stephen J. Pfann u. a. Oxford 2000 (Discoveries in the Judaean Desert 36), S. 228–246, hier S. 231–232; Géza G. Xeravits: King, Priest, Prophet. Positive Eschatological Protagonists of the Qumran Library. Leiden, Boston 2003 (Studies on the Texts of the Desert of Judah 47), S. 64. 14 Das Kompositum ‫( צמח דויד‬ṣæmaḥ dāwîd) kommt, abgesehen von 4Q285 7 4–5, in den Handschriften vom Toten Meer noch in 4Q161 7–10.18; 4Q174 i 11; 4Q252 v 3–4 vor und bezeichnet einen zukünftigen, königlichen Herrscher (vgl. dazu Xeravits [Anm. 13], S. 154–159). 15 Vgl. Christian Metzenthin: Jesaja-Auslegung in Qumran. Zürich 2010 (Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments 98), S. 254, der beide Gestalten identifiziert. Interessant ist auch, dass 4Q285 7 in vielem mit der antiken Jesaja-Kommentierung aus 4QpIsaa (4Q161) iii 22–29 übereinstimmt (vgl. ebd., S. 248–254). Zum Priester vgl. Johannes Zimmermann: Messianische Texte aus Qumran. Königliche, priesterliche und prophetische Messiasvorstellungen in den Schriftfunden von Qumran. Tübingen 1998 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen

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Z. 3 [ ] der Spross Davids (ṣæmaḥ dāwîd), und sie werden Recht sprechen (šāpaṭ, Afformativ-Konjugation, konsekutiv, Nif‘al) über Z.4 [ ] und es tötet ihn der Fürst der Gemeinschaft (neśî’ hā‘edāh), der Spros[s Z.5 Davids] mit Schlägen und mit Wunden, und es befiehlt ein Priester Z.6 [Er]schlag[ene] der Kittim (= Römer)

Das „Recht-Sprechen“ in Z. 3 wendet sich gegen die „Kittim“ (Römer), als Repräsentanten des endzeitlich Bösen, zum finalen Gericht mit dem Ziel, dieses Böse auszumerzen. Um die Konzeption der in 4Q285 bezeugten Jenseitshoffnung genauer beschreiben zu können, sollte man ein erst kürzlich dieser Komposition zugewiesenes Fragment aus der Sammlung von Yigael Yadin berücksichtigen. Das ursprünglich 11QHymnsb (11Q16) zugeordnete Fragment XQ5 2 (= XQ5b) identifiziert Eibert Tigchelaar als Bestandteil von 4Q285 und platziert es, aufgrund sprachlicher, schreiberspezifischer, paläographischer und materialtechnischer Auffälligkeiten, im Anschluss an das hier diskutierte Fragment 7:16 Z. 2 Z. 3 Z. 4 Z. 5 Z. 6

[ ] ja, du hast Gefallen an ihm s]eine Feinde, und er schlug / wird schlagen Königreiche [ ] seine Verfehlungen und du hast gegeben / wirst geben[ [ ] für ihn, und Vermögen nebst Reichtum [ ] in seiner Hand/Macht, und sie erwiesen Unterwürfigkeit / werden Unterwürfigkeit erweisen

Der gebetsartige Text spricht zunächst von der Akzeptanz des Menschen durch Gott (Z. 2), der am Ende (Z. 6) die Bekundung der menschlichen Unterwerfung entspricht.17 In den Zeilen 4–5 wird auf die gewaltsame und erfolgreiche Besiegung der feindlichen Königtümer abgehoben. Es dürfte der royale Endzeit-Krieger selbst sein, dem hier, pars pro toto, Reichtümer – der Feinde?18 – gewährt werden. Die Verbformen könnten darauf verweisen, was leider nicht gesichert ist, dass die Endzeitereignisse bereits rekapituliert werden, was bei der Haltung des Beters für seine „Antizipation der Endzeit“ sprechen könnte.

Testament II/104), S. 88. Er vermutet eine segnende oder reinigende Funktion des Priesters am Ende der geschilderten Kriegsereignisse und im Kontext des Sieges über die „Kittim“. 16 Vgl. Eibert Tigchelaar: The Yadin Qumran Fragment XQ5b (XQText B) Identified as a Fragment of 4Q285 (4QSefer ha-Milḥamah). In: Revue de Qumrân 29 (2017), S. 281–286. 17 Wenn hier nicht die Unterwerfung der Feinde angesprochen ist: Vgl. etwa 1QM 12,14; 19,6. 18 Diese Interpretation ist deshalb möglich, weil „Reichtum“, insbesondere ‫( הוֹן‬hôn), vor allem in den gruppenspezifischen Texten vom Toten Meer, als Antonym zu „Armut“ meist pejorativ konnotiert ist (vgl. Francesco Zanella: Art. ‫ הוֹן‬hôn. In: Theologisches Wörterbuch zu den Qumrantexten 1 [2011], Sp. 758–762). Jedoch ist 4Q285 nicht eindeutig den gruppenspezifischen Texten zuzuweisen, wenngleich etwa Hartmut Stegemann: Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch. Freiburg i. Br. u. a. 1993 (Herder Spektrum 4249), S. 146, 4Q285 als gruppenspezifische (hier: „essenische“) Fassung der Kriegsregel (1QM) einordnet.

Die Hölle im Himmel (äthHen 22). Antik-jüdische Gerichtsvorstellungen

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2.2. Strukturelle Ethos-Orientierung ausgehend von „Rechtsstreit führen“ – hebräisch rîḇ

Die Grundbedeutung des Verbs rîḇ und seiner Nominalbildungen, „(Rechts-) Streit (führen)“, erweitert das Wortfeld zu Ethos und Recht um einen negativen bzw. neutralen Ton. So besitzt etwa der auf die berühmte Talio (Ex 21,23b–25) hinauslaufende Rechtsfall zweier streitender Männer (21,18) in der Vokabel rîḇ (Präformativ-Konjugation, Qal) einen deutlich negativen Akzent. Auch auf Kriegsereignisse kann der Begriff und seine Derivate verweisen (vgl. Ri 11,25; 12,2). Zuletzt wird in der Weisheitsliteratur gerne vor „Streit“ oder „Zank“ ausdrücklich gewarnt.19 Im Sinne des Rechtsstreits und eines damit verquickten Ethos wird rîḇ in Jes 1,23 genannt, wo es in Parallelstellung mit šāpaṭ (s. o., 2.1.) Verwendung findet (vgl. auch Prv 22,23; 23,11): Deine Beamten (sind) Widerspenstige und Gesellen von Dieben, jeder von ihnen liebt Bestechung und jagt Geschenken hinterher. Der (Einer) Waise verschaffen sie nicht Recht (šāpaṭ, Präformativ-Konjugation, Qal) und ein Witwen-Rechtsstreit (rîḇ, Nomen) gelangt nicht zu ihnen.

Jerusalem, einst Stadt des Rechts und der Gerechtigkeit, soll durch das prophetische Gericht von den Abtrünnigen und korrupten Richtern „gereinigt“ werden (vgl. Jes 1,21–28), die die Gemeinschaftstreue oder Gerechtigkeit und insbesondere das Armenethos mit Füßen treten – gegen die Aufforderung in Jes 1,17. In Ps 35 wehrt sich der Beter gegen Anfeindungen, indem er Gott als Helfer anruft. Die Anfeindungen haben zunächst kriegerischen Charakter (V.1–2). Im Zentrum des Gebets steht das Vertrauensbekenntnis zu JHWH (V.10), das den ersten Teil des Psalms abschließt und am Ende nochmals aufgegriffen wird (V.27b–28).20 In Ps 35,10.23 f. heißt es: 10

23 24

Alle meine Knochen sprechen: „JHWH, wer (ist) wie du?“ Der rettet den Bedrückten vor dem, der stärker (ist) als er, den Bedrückten und Armen (’æḇjôn) vor dem, der ihn ausraubt. Steh auf, erwache für mein Recht (mišpāṭ), mein Gott und mein Herr, für meinen Rechtsstreit (rîḇ, Nomen)! Verschaffe mir Recht (šāpaṭ, Imperativ, Qal) gemäß deiner Gemeinschaftstreue/Gerechtigkeit, JHWH, mein Gott, Auf dass sie sich nicht über mich freuen!

19 Vgl. dazu Helmer Ringgren: Art. ‫ ִריב‬rîḇ. In: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament 7 (1993), Sp. 496–501, hier Sp. 497–498. 20 Zur Gliederung von Ps 35 vgl. zuletzt Dieter Böhler: Psalmen 1–50. Freiburg i. Br. u. a. 2021 (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), S. 631–633.

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Die Gemeinschaftstreue oder Gerechtigkeit, die in Jes 1 noch für Jerusalem bzw. Zion stand und re-installiert wurde, bezieht der Beter aus Ps 35 in einer individualisierten Lesart auf Gott und in der geforderten Wirkung des Handelns Gottes auf sich selbst. Für Ps 35 gilt, dass der „Schlussabschnitt […] in gewisser Weise den ganzen Psalm noch einmal“ zusammenfasst.21 In Ps 35 wie in Jes 1 kommt die Rettung von Gott, bleibt jedoch in der erfahrbaren Zukunft verortet und beinhaltet bestenfalls in Jes 1 den Gerichtsgedanken, ohne dass damit das Endgericht in den Blick käme. Der mit der Vokabel rîḇ verknüpfte eschatologische Aspekt wird dann vor allem in den Kontexten der Handschriften vom Toten Meer ersichtlich. Dabei sind insbesondere zwei prominente Kompositionen zu berücksichtigen: Ein bisher nur in den Handschriften bezeugter eschatologischer Weisheitstext, 4QInstruction, und die sog. Kriegsrolle aus Höhle 1 (1QM). Beide Quellen zielen auf spezifische Konnotationen der Vokabel rîḇ (vgl. 4Q418 69 ii + 60 6–7; 4Q418 81+81a 7; 4Q417 2 i 12; 1QM 4,12; 12,5).22 Unter den Belegen in 4QInstruction können zwei (4Q418 81+81a 7; 4Q417 2 i 12) lediglich über den Kontext eschatologisch-weisheitlicher Vorstellungen entsprechend eingeordnet werden.23 Einen unmittelbaren Bezug zum Endgericht weist der Begriff rîḇ allerdings in 4Q418 69 ii + 60 6–7 aus. Eingebettet in einen theophanen Kontext werden die Folgen des Gerichts für die „im Herzen Törichten“ (4Q418 69 ii + 60 4; vgl. Z. 4– 9) und die „Erwählten der Wahrheit“ (4Q418 69 ii + 60 10; vgl. Z. 10–15) ausgestaltet.24 In der Diskussion dieses Textes wurde aufgrund der eschatologischen Anspielungen gar eine Abhängigkeit, zumindest Kenntnis, von einigen Abschnitten aus dem apokalyptischen Text des äthiopischen Henochbuches (Kap. 91 und 103,1–104,6) erwogen. Jedoch reichen die Textbezüge zur Etablierung einer derart weitgehenden These nicht hin.25 Das Gerichtsgeschehen gegen

21 So ebd., S. 639. 22 Vgl. Hadas Yifrah u. a.: Art. ‫ ִריב‬rîḇ. In: Theologisches Wörterbuch zu den Qumrantexten 3 (2016), Sp. 679–683, hier Sp. 680 und 683. 23 Ähnliches wäre etwa auch zur Verwendung von rîḇ und verwandter Termini im Zusammenhang der beiden Fassungen des „Penal Code“ im Kairo-Damaskus-Dokument (CD) und in der sog. „Sektenregel“ (1QS) festzuhalten, deren Rechtshermeneutik im Horizont einer „apokalyptischen Gemeinschaft“ zu verstehen ist. Zur Rechtshermeneutik im „Penal Code“ vgl. zuletzt Stefan Beyerle, Andreas Ruwe: A Comparison of the “Penal Code” in the Damascus Document and in the Serekh ha-Yaḥad from a Literary Perspective. In: Dead Sea Discoveries 25 (2018), S. 359–384. 24 Vgl. Matthew J. Goff: 4QInstruction. Atlanta, GA 2013 (Society of Biblical Literature. Wisdom Literature from the Ancient World 2), S. 226. 25 Vgl. zuletzt die Diskussion bei Stefan Beyerle: The Book of Hagu, the Righteous Ones, and the Learning Ones. On 1Q/4QInstruction, Enochic Apocalypticism and their Mutual Influences. In: Scribes as Sages and Prophets. Scribal Traditions in Biblical Wisdom Literature and in the Book of the Twelve. Hg. von Jutta Krispenz. Berlin, Boston 2021 (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 496), S. 255–281, hier S. 263–270.

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die „im Herzen Törichten“ ist folgendermaßen umschrieben (4Q418 69 ii + 60 4–9):26 Z. 4 Z. 5

Z. 6

Z. 7

Z. 8 Z. 9

[…] Und jetzt, im Herzen Törichte, was (ist) gut für (einen,) der nicht erschaffen wurde, [und was] (ist) Schweigsamkeit für (einen,) der nicht war, und was (ist) Recht/Gericht (mišpāṭ) für (einen,) der nicht gefestigt ist, und was jammern Einzelne (oder: Tote [?]) über a[lle Tag]e? Ihr, für die Unterwelt wart Ihr gebildet und zur ewigen Grube (ist) eure Rückkehr, denn sie [gemeint: die Unterwelt] wird erwachen und [sichtbar machen (?)] eur[e] Verfehlungen, ihre dunklen Orte rufen zu euren Rechtsstreitigkeiten (rîḇ, Nomen), und jeder, der auf ewig sein wird, die Wahrheitssuchenden werden aufdecken eure Gerichtsurteile (mišpāṭ). [Und dann] werden alle im Herzen Törichten vernichtet, die Söhne des Bösen werden nicht mehr gefunden, und a[lle,] die dem Frevel anhangen, trocknen aus. [Und dann] schreien aufgrund eurer Gerichtsurteile (mišpāṭ) die Fundamente der Himmelsfeste […]

Die „im Herzen Törichten“ und „Söhne des Bösen“ (Z. 8) werden in der Unterwelt der Vernichtung preisgegeben. Offenbar sind die Wahrheitssuchenden mit den „Erwählten der Wahrheit“ zu identifizieren, die im zweiten Abschnitt (Z. 10–15) das ewige Leben ererben und in ewigem Licht wandeln werden (Z. 13–14). Sie werden im Gerichtsgeschehen beim Aufdecken der Gerichtsurteile (Z. 7) offenbar beteiligt.27 Die in Z. 7 angesprochenen Rechtstreitigkeiten (rîḇ, Nomen) bezeichnen das göttliche Verdikt gegen die „im Herzen Törichten“ und ihre Verurteilung zu einer Existenz in der Unterwelt.28 Das Finale des Abschnitts (Z. 9) betont dann die kosmischen Ausmaße des theophanen Gerichts. Die Belege der Kriegsregel (1QM) nehmen mit dem Thema des endzeitlichen Kampfes zwischen den „Söhnen des Lichts“ und den „Söhnen der Finsternis“ ebenfalls auf kosmische Ereignisse Bezug. Offensichtlich wurde der endzeitliche Krieg auch als Einforderung göttlichen Rechts aufgefasst. Denn in der Kriegsvorbereitung werden ausführlich Standarten vorgeschrieben und erklärt (vgl. 1QM 3,13–4,17), auf denen neben anderen göttlichen Funktionen auch der „Rechtsstreit Gottes“ (1QM 4,12: rîḇ ’el) zu stehen kommt. Außerdem lobt ein Gebetstext die göttliche Macht im endzeitlichen Kampf (1QM 12,4–5):29 26 Zum Text vgl. Goff (Anm. 24), S. 223. Der Text wird teilweise auch durch eine weitere Abschrift aus Höhle 4 vom Toten Meer überliefert: 4Q417 5. 27 Goff (Anm. 24), S. 233 f., identifiziert sie mit Engelwesen. 28 So die Deutung bei Goff (Anm. 24), S. 232. 29 Zum Text vgl. Jean Duhaime: War Scroll (1QM; 1Q33; 4Q491–496 = 4QM1–6; 4Q497). In: The Dead Sea Scrolls. Hebrew, Aramaic, and Greek Texts with English Translations. Vol. 2: Damascus Document, War Scroll, and Related Documents. Hg. von James H. Charlesworth. Tübingen, Louisville, KY 1995 (The Princeton Theological Seminary Dead Sea Scrolls Project 2), S. 80–203, hier S. 120.

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Z. 4

Z. 5

Zu mustern ṣ[ ] jrjkh30 nach ihren Tausendschaften und nach ihren Myriaden, gemeinsam mit deinen Heiligen [ ], deinen Boten, um Macht (wörtlich: Hand) zu gewähren im Krieg [ ] die Aufständigen der Erde im Rechtsstreit (rîḇ, Nomen) deiner Gerichtsurteile (mišpāṭ), und das Volk der Erwählten des Himmels möge triumph[ieren].

Gemeinsam mit engelartigen Gestalten wird Gott den Sieg im Endzeitgeschehen herbeiführen und dabei im Gericht, das auch als „Rechtsstreit“ (Z. 5) gegen die „Aufständigen“ beschrieben ist, obsiegen.31 In beiden Texten aus den Handschriften vom Toten Meer, 4QInstruction und der „Kriegsregel“ (1QM), steht der Rechtsstreit (rîḇ) als Nomen für die Auseinandersetzungen mit den Frevlern und Abtrünnigen (4Q418 69 ii + 60 7; 1QM 12,5). Allerdings wird der Vollzug des eigentlichen Endzeitgerichts mit Hilfe einer Nominalbildung von šāpaṭ (hier: mišpāṭ) zum Ausdruck gebracht (4Q418 69 ii + 60 7–9; 1QM 12,4–5).

2.3. Strukturelle Ethos-Orientierung ausgehend von „zum Recht verhelfen“ – hebräisch dîn

Während der Text vom „Spross Davids“, dem „Fürsten der Gemeinschaft“ (4Q285), den Fokus auf die zeitliche Dimension des Gerichts ausrichtet (2.1.), jedoch bereits 4QInstruction und die „Kriegsregel“ die kosmische Dimension des Endzeitgerichts berücksichtigen (2.2.), nimmt nun das äthiopische Henochbuch (vgl. äthHen 22) insbesondere den räumlichen Aspekt jener „kosmologischen Gerichtsvorstellung“ in den Blick.32 Zunächst ist auf die Struktur des Ethos zurückzukommen, die sich nunmehr am Wortfeld der hebräischen Wurzel dîn, „rechten mit“, „zum Recht verhelfen“, „streiten“, orientiert. Der Skeptiker Kohelet (6,10) setzt dem menschlichen Rechtsvermögen hier eine klare Grenze: Das, was geschehen wird, längst ist es namentlich bekannt, und es ist gewusst, was ein Mensch [ist].

30 Die Bedeutung dieser Phrase ist unklar. 31 Vgl. dazu auch den Kommentar von Duhaime (Anm. 29), S. 86: „God fights along with them (gemeint: Engelsgestalten, SB) from heaven with truth, righteousness, glory, might, and judgment […].“ 32 Die Zeit wird als „Endzeit“ in 4Q285, Frgm. 9, Z. 2, qualifiziert (‫‘ עת קץ‬et qeṣ: Vgl. Alexander, Vermes [Anm. 13], S. 244). Zimmermann (Anm. 15), S. 83, vgl. Dan 8,17; 11,35.40. Ein, wenn auch nicht belastbarer, Hinweis auf räumlich orientierte Jenseitigkeit in 4Q285 könnte die Erwähnung der – teilweise – rekonstruierten Engelnamen „Michael“ und „G[abrie]l“ in Frgm. 1, Z. 3 sein. Unter Verweis auf Józef T. Milik und u. a. 1QM 9,15–16 rekonstruieren Alexander, Vermes (Anm. 13), S. 232 f., außerdem die Engelnamen „Sariel“ und „Raphael“ in Frgm. 1, Z. 3.

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Und nicht kann einer einen Rechtsstreit führen (dîn, Infinitiv, Qal) mit dem, der stärker ist als er.

Darüber hinaus markiert Mose mit dem Verweis auf JHWH, der seinem Volk Recht verschafft (Dtn 32,36), den heilprophetischen Umschwung im Moselied:33 Fürwahr, JHWH verschafft seinem Volk Recht (dîn, Präformativ-Konjugation, Qal), seiner Diener erbarmt er sich: Wenn er sieht, dass Macht (wörtlich: Hand) geschwunden ist und Ende von Unmündig und Mündig.

In der Spruchweisheit (Prv 31,9) kommt am Schluss der Untersammlung der „Worte Lemû’els“ (V.1–9) wiederum das Ethos der Weisheit zum Tragen: Öffne deinen Mund, richte (šāpaṭ, Imperativ, Qal) [in] Gemeinschaftstreue/Gerechtigkeit (ṣædæq). Schaffe Recht (dîn, Imperativ, Qal) dem Bedrückten und Armen.

Dem Bedrückten und Armen soll im Horizont der weltordnungsrelevanten „Gerechtigkeit“ (ṣædæq) Recht verschafft werden (vgl. Ps 35,10: s. o. 2.2.). Die im äthiopischen Henochbuch, hier in äthHen 22, versammelten Vorstellungen knüpfen an dieses Ethos unter Verwendung der aramäischen Wurzel dîn an (vgl. zum aramäischen Befund: 4QEnoche ar [4Q206] 2 ii 2–3; äthHen 22,4).34 Zum Verständnis ist zunächst der Kontext zu beachten: Innerhalb des äthiopischen Henochbuchs, das in seiner Gesamtheit ausschließlich im Altäthiopischen (Gəʿəz, ግዕዝ) erhalten ist, sind unterschiedliche literarische Apokalypsen aus der Zeit des Zweiten Tempels gesammelt.35 Zu den ältesten gehören das Wächter- (äthHen 1–36) und das Astronomische Buch (äthHen 72–82), die im frühen 2., vielleicht gar bereits im späten 3. Jahrhundert v. Chr. entstanden sind. Dies 33 Vgl. Eckart Otto: Deuteronomium 12–34. Zweiter Teilbd.: 23,16–34,12. Freiburg i. Br. u. a. 2017 (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), S. 2156–2157 und 2190. 34 Zum Befund von dîn in den Handschriften vom Toten Meer insgesamt vgl. Holger Gzella: Art. ‫ ִדּין‬dîn. In: Theologisches Wörterbuch zu den Qumrantexten 1 (2011), Sp. 674–680; Reinhard Gregor Kratz u. a.: Hebräisches und aramäisches Wörterbuch zu den Texten vom Toten Meer. Einschließlich der Manuskripte aus der Kairoer Genizah. Bd. 2: ‫ג–ז‬. Berlin, Boston 2018, S. 95. – Die Zählung der aramäischen Henoch-Fragmente vom Toten Meer orientiert sich an Florentino García Martínez, Eibert J. C. Tigchelaar: The Dead Sea Scrolls Study Edition. Vol. 1: 1Q1–4Q273. Leiden u. a. 1997, hier S. 424 f. 35 Umstritten ist allerdings das Astronomische Buch (äthHen 72–82), worin etwa Klaus Koch: Die Anfänge der Apokalyptik in Israel und die Rolle des astronomischen Henochbuchs. In: Vor der Wende der Zeiten. Beiträge zur apokalyptischen Literatur. Gesammelte Aufsätze. Bd. 3. Hg. von Uwe Gleßmer, Martin Krause. Neukirchen-Vluyn 1996. S. 3–39, hier S. 6–8, ein vorapokalyptisches, weisheitliches Buch erkennt. Zu den Alternativen einer Gattungsbezeichnung für das Wächterbuch („Apokalypse“, „Testament“, Segensrede“) vgl. die Diskussion bei Veronika Bachmann: Die Welt im Ausnahmezustand. Eine Untersuchung zu Aussagegehalt und Theologie des Wächterbuches (1 Hen 1–36). Berlin, New York 2009 (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 409), S. 47–62.

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erweisen bereits die aus dieser Zeit datierenden ältesten aramäischen Fragmente der Handschriften vom Toten Meer. Für den hier zu diskutierenden Text in äthHen 22 ist neben zwei aramäischen Fragmenten36 auch die griechische Überlieferung des Codex Panopolitanus (5. oder 6. Jahrhundert n. Chr.) zu beachten. Das Wächterbuch stellt selbst eine Komposition dar, in deren ältestem Teil, Kapitel 6–11, die „Wächter“ genannten Himmelswesen (aramäisch ‫‘ עירין‬îrîn) der Menschheit Gewalt und Verderbnis bringen. Sie tun dies, indem sie der Menschheit in nicht sanktionierten Offenbarungen einerseits kulturelle Errungenschaften wie Waffen, Kosmetik und Sternenkunde vermitteln und andererseits in sexuellen Beziehungen mit den Menschentöchtern (vgl. Gen 6,1–4) „Giganten“ (griechisch γίγαντες gígantes) erschaffen.37 Im Anschluss wird Henoch das Gericht an den Wächtern offenbart (Kapitel 12–16), und er begibt sich darauf auf zwei Himmelsreisen (Kapitel 17– 19 und 20–36). Unser Text ist Bestandteil der zweiten Reise Henochs. – Henoch ist nach der Erzählung der Hebräischen Bibel vor der Sintflut verortet. Er ist in der Genealogie der Siebte nach Adam, sein irdisches Alter beträgt 365 Jahre und er wird als Gottgefälliger entrückt (so in Gen 5,23 f.). Damit scheint er prädestiniert, um sich bei seiner zweiten Himmelsreise ostwärts (Stichwort: Sonnenjahr) zu orientieren. Henoch gelangt nach äthHen 22 an einen anderen Ort im Westen, an dem ihm ein großer, hoher Berg gezeigt wird, in dem sich vier Aushöhlungen befinden (V.1 f.). Der Blick auf einen Berg mit den Orten für die „Seelengeister der Toten“ (Codex Panopolitanus zu V.3: τὰ πνεύματα τω῀ ν ψυχω ῀ ν τω῀ ν νεκρω ῀ ν) wandelt die Vorstellung von der Unterwelt oder Scheol, wie sie aus der Hebräischen Bibel bekannt ist, radikal ab: Die Scheol ist zunächst und zumeist der Ort für die Toten. Sie wird insbesondere in den Psalmen als Terminus zur Beschreibung des persönlichen Schicksals und nicht als vor allem kosmisch konnotierter Begriff verwendet. Aus der Scheol gibt es keine Wiederkehr (vgl. Hi 7,9; 10,21). Sie markiert den „Gegen-Ort“ als Kontrastbegriff zum Himmel (vgl. Am 9,2;

36 Diese sind: 4QEnoche ar (4Q206) 2 ii 1–7 mit Überschneidungen zum äthiopischen bzw. griechischen Text von äthHen 22,3–7; 4QEnochd ar (4Q205) 1 i 1–3 mit Überschneidungen zu äthHen 22,13–14. Ersteres Manuskript stammt aus der ersten, letzteres aus der zweiten Hälfte, kurz vor der Zeitenwende, des 1. Jahrhunderts v. Chr. Vgl. Marie-Theres Wacker: Weltordnung und Gericht. Studien zu 1 Henoch 22. Würzburg 21985 (Forschungen zur Bibel 45), S. 38 (zur Datierung von 4Q205 und 4Q206) und ebd., S. 40–96 (Diskussion des Textbefunds). Zur Textkritik in äthHen 22 vgl. auch George W. E. Nickelsburg: 1 Enoch 1. A Commentary on the Book of 1 Enoch, Chapters 1–36; 81–108. Minneapolis, MN 2001 (Hermeneia), S. 300–302. 37 Vgl. dazu Stefan Beyerle: Angelic Revelation in Jewish Apocalyptic Literature. In: Angels. The Concept of Celestial Beings – Origins, Development and Reception. Hg. von Friedrich V. Reiterer u. a. Berlin, New York 2007 (Deuterocanonical and Cognate Literature. Yearbook 2007), S. 205– 223.

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Ps 139,8).38 Außerdem: Schon in der erzählerischen Orientierung bleibt Henoch im himmlisch-kosmischen Kontext (vgl. auch griechischer Baruch / slawischer Baruch, Kap. 10). Zuletzt wird durch die Lokalisierung ein „post mortem-Gericht“ angebahnt, was bestenfalls noch in Dan 12,1–3 belegt ist.39 Für die Vorstellung vom Endgericht ist dann äthHen 22,3–4 von Bedeutung:40 3

4

(…) diese ausgehölten Stellen (sind vorhanden), dass in ihnen die Geister der Seelen der Toten versammelt werden. Dazu sind sie gemacht, die Seelen aller Menschenkinder zu versammeln. [ ] Ja, diese sind die Gruben, die als ihr Gefängnis dienen. So sind sie ge[ma]cht, bis zu dem Tag, an dem sie geri[cht]et werden (dîn, Präformativ-Konjugation, Ithpe‘el), bis zur Zeit des Endtages, d[a]s (ist) das große Gericht (dînāh rabāh), das an ihnen vollzogen wird.

Die lokalen Umstände der toten Seelen werden durch ihren Aufenthalt im Gefängnis, so allerdings nur in der aramäischen Version (aramäisch ‘agān, ‘agnā’),41 vereindeutigt. Außerdem wird das „große Gericht“ zum endzeitlichen Gericht erklärt. Die Terminologie vom „großen Gericht“42 ist in leichten Variationen mehrmals im Wächterbuch (äthHen 10,6.12; 16,1; 19,1; 22,11; 25,4) und darüber hinaus belegt.43 Schon in der Begrifflichkeit wird deutlich, dass erst das „große 38 Vgl. Wacker (Anm. 36), S. 133–135; Lydia Lee, Dominik Markl: Art. ‫ ְשׁאוֹל‬še’ôl. In: Theologisches Wörterbuch zu den Qumrantexten 3 (2016), Sp. 794–799, hier Sp. 795 f.; Peter Juhás: Liminales in der jüdischen Apokalyptik. Zwei Beispiele. In: Limina. Natur – Politik: Verhandlungen von Grenz- und Schwellenphänomenen in der Vormoderne. Hg. von Annika von Lüpke u. a. Berlin, Boston 2019, S. 7–29, hier S. 18. 39 Zum Motiv der „Berge“ in der Apokalyptik vgl. Peter Juhás: Berge als Widersacher. Studien zu einem Bergmotiv in der jüdischen Apokalyptik. Göttingen 2020 (Mundus Orientis 2), S. 44 f., außerdem Nickelsburg (Anm. 36), S. 304; Juhás (Anm. 38), S. 24. 40 Die unterstrichenen Textbestandteile bieten die Übersetzung der aramäischen Textfragmente aus 4QEnoche ar (4Q206) 2 ii 1–3. Zum aramäischen Text vgl. García Martínez, Tigchelaar (Anm. 34), S. 424. 41 Vgl. die Verbalwurzel ‘āgan und dazu Marcus Jastrow: A Dictionary of the Targumim, the Talmud Babli and Yerushalmi, and the Midrashic Literature. Neudruck New York 1989, S. 1042. Zum Motiv vgl. auch äthHen 10,13 sowie 18,16. Die äthiopischen Handschriften und Codex Panopolitanus verzichten auf diese Zuspitzung hin zum Negativen und schwächen ab: yanabərəwohu („man lässt sie wohnen“); ἐπισύνσχεσις („Ankunft“, „Aufenthalt“); vgl. Wacker (Anm. 36), S. 51, die jedoch für den griechischen Begriff auch die Bedeutung „Gefängnis“ annimmt. Auf den traditionsgeschichtlichen Hintergrund verweist Ekaterina Matusova: The Postmortem Divisions of the Dead in 1 Enoch 22:1–13. Against the Background of the Greek Influence Hypothesis. In: Evil and Death. Conceptions of the Human in Biblical, Early Jewish, GrecoRoman and Egyptian Literature. Hg. von Beate Ego, Ulrike Mittmann. Berlin, Boston 2015 (Deuterocanonical and Cognate Literature Studies 18), S. 149–177, hier S. 167. 42 Im Äthiopischen: kwənnane ‘abiy; im Griechischen: ἡ κρίσις ἡ μεγάλη, und im Aramäischen: ‫דינא‬ ‫ רבא‬dînāh rabāh. 43 Darüber hinaus verweist Nickelsburg (Anm. 36), S. 222, Anm. 21, noch auf folgende Belege: äthHen 84,4; 94,9; 98,10; 99,15; 104,5.

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Gericht“ die Endzeit als Epoche der Gewalt und Bedrückung durch die „Wächter“ und „Giganten“ zu einem Abschluss bringen wird. Zwar befindet sich schon nach der Einleitung in äthHen 22,1–2 unter den vier Aushöhlungen eine, die durch Licht und Wasser positiv abgehoben ist (V.2), jedoch werden erst in V.9–11, unter Aufnahme des Licht- und WasserMotivs, die „Geister der Gerechten“ von den „Geistern der Sünder“ unterschieden. In V.12 kommt eine dritte Gruppe hinzu: die „Geister der Weh-Klagenden“, womit ein Motiv aus V.5–7, wonach Abels Weh-Klagen zu hören war, aufgenommen scheint. Zur Diskussion der Gerichtsvorstellung in äthHen 22 sind zudem die Verse 9–11 und 13 zu beachten:44 9

10 11

13

Da antwortete er [i. e., der Engel Raphael] mir und sagte: „Diese drei sind gemacht, um die Geister der Toten abzutrennen. Und diese ist abgetrennt für die Geister der Gerechten, in der die Wasserquelle hell (ist). Und diese ist gemacht für die ‘Geister’ der Sünder, wenn sie sterben und in der Erde begraben werden und ein Gericht über sie in ihrem Leben nicht stattgefunden hat. Hier sind ihre Geister abgetrennt für diese große Folter bis zum großen Tag des Gerichts der Schläge und Folter für die in Ewigkeit Verfluchten, ‘zur’ Vergeltung für ihre Geister. Dort wird ‘man’ sie in Ewigkeit binden. Und diese ist gemacht für die Geister der Menschen, die nicht fromm sein werden, sondern Sünder, voll von Gottlosigkeit und Begleiter der Gesetzlosen. Und ihre Geister werden nicht geschädigt am Tag des Gerichts (yôm dînāh) von […] von dort.“

Folgende fünf Beobachtungen sind für die Gerichtsvorstellung von Interesse: Erstens findet eine Trennung in unterschiedliche Gruppen von „Sündern“ und „Gerechten“ bereits vor dem annoncierten Gerichtstag als Endgericht statt – einschließlich Bestrafung (V.10 f.: Folter etc.). Zum zweiten wird zwar den Abtrünnigen ihre Strafe angekündigt:45 Sie werden in Ewigkeit gebunden (V.11), das Schicksal der „Gerechten“ bleibt aber unklar.46 Drittens bleibt in der Schwebe, ob – gegenüber der Angabe von drei Höhlen in V.9 – in V.13 nicht

44 Die unterstrichenen Textbestandteile bieten die Übersetzung der aramäischen Textfragmente aus 4QEnochd ar (4Q205) 1 i 1. Zum aramäischen Text vgl. García Martínez, Tigchelaar (Anm. 34), S. 420. Die Übersetzung von V.9–11 stammt aus Wacker (Anm. 36), S. 96. 45 Gemäß äthHen 22,11 heißt es: „Dort wird ‚man‘ sie in Ewigkeit binden.“ (Übersetzung: Wacker [Anm. 36], 96) Die Semantik des Verbs „binden“ könnte an das Wortfeld für Gefängnis im Aramäischen anspielen (s. o.). Eine ähnliche Vorstellung findet man in Jub 5,10; 10,5 bezeugt (vgl. auch äthHen 10,12 und dazu Reiser [Anm. 10], S. 58). 46 Zwar betont Zager (Anm. 10), S. 85, dass die „auferweckten Gerechten“ die „Güter der Heilszeit“ genießen werden, wie etwa ewige Freude oder den auch in Prosperität konkretisierten Segen. Doch ist diese Perspektive nicht aus äthHen 22 selbst, sondern nur aus dem Kontext (äthHen 10,17–11,2; 25,4–6) zu gewinnen.

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eine vierte Gruppe erwähnt wird,47 die nicht den „Sündern“ zugerechnet werden kann, weil sie nur als mit den Gesetzlosen gemeinsam Agierende (Codex Panopolitanus zu V.13: μετὰ τω῀ ν ἀνóμων ἔσονται μέτοχοι) zu charakterisieren sind. Viertens beziehen sich alle Zuordnungen auf die Toten, deren „Geister“ bzw. „Seelen“.48 Die noch Lebenden sind, etwa im Unterschied zur paulinischen Auffassung (vgl. 1Thess 4,14–17) nicht im Blick.49 Fünftens und letztens ist die „Geisterwelt“, die Henoch auf seiner kosmischen bzw. Himmelsreise sieht, durch die räumliche Disposition in einem Berg mythisch aufgeladen – nicht die irdische, sondern die jenseitige Welt gerät so in den Blick.50 Fazit: Im Vergleich mit 4Q285 betont äthHen 22, bzw. die erhaltenen aramäischen Vorlagen in 4QEnoche ar (4Q206) 2 ii 1–7 (zu V.3–7) und 4QEnochd ar (4Q205) 1 i 1–3 (zu V.13 f.), sehr viel stärker den räumlichen Aspekt.

3. Ergebnisse Mit der Henoch-Überlieferung und dem Wächterbuch ist innerhalb der literarischen Gattung(en) der antik-jüdischen „Apokalypse“ ein Ethos bezeugt, das tendenziell eine „geistig-jenseitige“ Orientierung ausweist.51 Dennoch lassen sich Verknüpfungen mit dem Wortfeld „richten“ herstellen, die dann natürlich noch einmal stärker in jenen Apokalypsen hervortreten, die dezidiert durch „deuteronomistisches“ Denken, also eine rigide Orientierung an der Mose-Tora, beeinflusst sind, wie etwa im syrischen Baruch oder im Jubiläenbuch. Entsprechend ist der Bezugspunkt „Mose-Tora“ zur Beurteilung und Unterscheidung

47 So die meisten Interpretationen: Vgl. George W. E. Nickelsburg: Resurrection, Immortality, and Eternal Life in Intertestamental Judaism and Early Christianity. Expanded Edition. Cambridge, MA 2006 (Harvard Theological Studies 56), S. 170 f.; Nickelsburg (Anm. 36), S. 307 f. 48 Zur Terminologie: im Äthiopischen: nafās bzw. nafs; im Griechischen: πνεῦμα bzw. ψυχή (nur in V.3), und im Aramäischen: ‫ רוחא‬rûḥā bzw. ‫ נפש‬næpæš (rekonstruiert). 49 In äthHen 22,10 heißt es: „Und diese ist gemacht für die ‚Geister‘ der Sünder, wenn sie sterben und in der Erde begraben werden und ein Gericht über sie in ihrem Leben nicht stattgefunden hat.“ (Übersetzung: Wacker [Anm. 36], 96) Allerdings sind die Lebenden an dieser Stelle nur deshalb mit im Blick, um ihre spezifische Charakterisierung deutlich zu machen, zumal das Gerichtsgeschehen selbst ihren „Geistern“ gilt. Gegenüber äthHen 22 findet man im Jubiläenbuch etwa überhaupt keinen Hinweis auf das Gericht an den Lebenden: Vgl. Reiser (Anm. 10), S. 55– 60, v. a. S. 60. 50 In der Fortschreibung in äthHen 26–27 werden dann der Berg mit dem Tempelberg (Zion) und die Aushöhlungen mit Gehenna, dem Kidron-Tal, identifiziert. Vgl. dazu Wacker (Anm. 36), S. 234–257; Nickelsburg (Anm. 36), S. 318. 51 So John J. Collins: Ethos and Identity in Jewish Apocalyptic Literature (2002). In: Apocalypse, Prophecy, and Pseudepigraphy. On Jewish Apocalyptic Literature. Grand Rapids, MI, Cambridge 2015, S. 271–288, hier S. 280 und 287 f.

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Stefan Beyerle

von „Gerechten“ und „Frevlern“ sowohl im Kontext von äthHen 22 als auch im gesamten Wächterbuch nur mit großer Zurückhaltung anzuführen.52 Nun lässt sich das Ethos als Struktur der behandelten Gerichtsvorstellungen noch etwas genauer fassen. So hat Werner Zager darauf verwiesen, dass sich eine Entwicklung von der „Armenfürsorge“ hin zum anti-hellenistischen Widerstand seit den 160er Jahren v. Chr. abzeichnet – allerdings dürfte äthHen 22 einer älteren Tradition zugehören.53 Nun erweist die Ethos-Struktur auch, dass der Aspekt des „Recht Verschaffens“, des „ins Recht Setzens“, neben dem in seiner Schärfe nicht abzumildernden „Richten“, in der Gerichts-Idee zu berücksichtigen ist. In den Beispieltexten von 4Q285 oder 4QInstruction (und 1QM) kommt diese Nuance selbstredend viel stärker zum Tragen als in äthHen 22. Insbesondere die Motive in äthHen 22, vom „Gefängnis“ der Seelen, über „Wasser und Licht“ bis hin zur postmortalen Trennung der „Geister“ und „Seelen“, sind verankert in klassisch-griechischen, hellenistischen, altorientalischen und israelitisch-judäischen Traditionskomplexen.54 Umso auffälliger bleibt, dass nicht nur in äthHen 22, sondern im gesamten Wächterbuch die mosaische Tora zur Unterscheidung von „Gerechten“ und „Sündern“ nicht in Anspruch genommen wird, wie insgesamt „Mose“ und „Sinai“ eine bestenfalls untergeordnete Rolle spielen.55 In 4Q285 tritt der Mandatar Gottes, der „Spross Davids“, als endzeitlicher Richter auf. Aus einer eher friedvoll konzipierten und universalistisch orientierten Hoffnung in Jes 11 (vgl. V.3 f. und V.6–8) wird im Fragment aus den Handschriften vom Toten Meer ein die Gewalt einschließendes Endgericht, das 52 Anders zuletzt Matusova (Anm. 41), S. 172, die von der These biblischen Einflusses auf äthHen 22 ausgeht und betont: „This idea makes it unnecessary for the author of 1 Enoch to specify any particular elements of righteousness or gradation of righteousness. From this point of view, the righteous should be those who fulfil (in the direct meaning of the word) the law. Those who do not acknowledge or do not fulfil the code are in the opposite category of those who are assigned to the first dark hollow.“ 53 Vgl. Zager (Anm. 10), S. 55 f. Nickelsburg (Anm. 36), S. 293, nimmt auch für äthHen 20–36 ein Datum im späten 3. Jahrhundert v. Chr. an. Vgl. jetzt auch Daniel M. Gurtner: Introducing the Pseudepigrapha of Second Temple Judaism: Message, Context, and Significance. Grand Rapids, MI 2020, S. 25. 54 Vgl. dazu Wacker (Anm. 36), S. 200–219; Nickelsburg (Anm. 36), S. 304 und 306–309. Aktuell diskutiert Matusova (Anm. 41), S. 149–175, die Bezugnahmen auf griechische (Homer, Platon) und altorientalische (Gilgameš) Motivkonstellationen eher kritisch, insofern sie zwar Anspielungen auf äthHen 22 nicht grundsätzlich in Abrede stellt, jedoch unmittelbare Einflussnahmen ablehnt, zumal entsprechende Motive auch in der „Bibel“ (sic!) aufzufinden seien (vgl. v. a. ebd., S. 165–175). 55 Vgl. die Diskussion bei Kelley Coblentz Bautch: A Study of the Geography of 1 Enoch 17–19. „No One Has Seen What I Have Seen“. Leiden, Boston 2003 (Supplements to the Journal for the Study of Judaism 81), S. 289–299, und John J. Collins: The Invention of Judaism. Torah and Jewish Identity from Deuteronomy to Paul. Oakland, CA 2017 (The Taubman Lectures in Jewish Studies 7), S. 62–79 (v. a. S. 70–76).

Die Hölle im Himmel (äthHen 22). Antik-jüdische Gerichtsvorstellungen

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– insbesondere dann, wenn der Text als gruppenspezifisch eingeordnet werden kann – eher partikularistisch ausgerichtet ist. In äthHen 22 wirkt wohl Gott selbst als Richter.56 Der „große Heilige“ (äthHen 1,357; 14,158) vollzieht in mythischen Kontexten (vgl. auch äthHen 1,3–9; 6–11 und 17–19) das endzeitliche Jenseitsgericht. Aus den Kontexten erhellt zudem, dass ein eher an Weisheit und Prophetie, nicht an der Mose-Tora, orientiertes Ethos zur Entscheidung dient (vgl. vor allem 4QInstruction). Darin ist sich der Henochtext auch mit 4Q285 einig, doch in der Verortung der „Hölle“ im „Himmel“ oder des Jenseits zeigt er sein spezifisches Eigengepräge.

56 In den aramäischen Fragmenten sind für das Gerichtshandeln drei Verbformen im Ithpe‘el (‫[ יתדינן‬jtdjnn, „sie werden gerichtet“: 4QEnoche ar 2 ii 2]; ‫[ יתעבד‬jt‘bd, „wird durchgeführt/vollzogen“ = das „große Gericht“: 4QEnoche ar 2 ii 3]; ‫[ יתזקון‬jtzqwn, „sie werden geschädigt“: 4QEnochd ar 1 i 1]) überliefert, die als passivum divinum aufgefasst werden können (vgl. auch Reiser [Anm. 10], S. 146). 57 Vgl. 4QEnocha (4Q201) i 5 und Codex Panopolitanus: ὁ ἁ ́γιός μου ὁ μέγας. 58 Vgl. 4QEnochc (4Q204) vi 10 (rekonstruiert) und Codex Panopolitanus: ἁγίου τοῦ μεγάλου.

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Albrecht Dürer, the Landauer Altarpiece (1511), and End Times in Nürnberg

In 1511, Albrecht Dürer completed the Adoration of the Holy Trinity Altarpiece, also known as the Landauer Altar, the centerpiece of the chapel of the Zwölfbrüderhaus in Nürnberg1 (Figure 1). This ensemble is among the most beautiful and best preserved paintings by the Nürnberg master. The altarpiece, alas, has not been intact since 1585 when Emperor Rudolf II (r. 1576–1612) acquired the painting for his collection in Prague. He did not want the accompanying carved lindenwood frame. The picture is today in the Kunsthistorisches Museum in Wien while the expertly restored frame, which always remained in Nürnberg, is displayed in the Germanisches Nationalmuseum2 (Figure 5). This separation of both integral parts has influenced how the total altarpiece has been studied. By far, most of the attention is given to the painting. Yet Dürer’s visual and iconographic conception demands that the frame with its Last Judgment must be addressed. My essay will consider the whole Landauer Altarpiece within the context of Dürer’s art, the Twelve Brothers’ House chapel with its original audience, and a few prominent local examples of the Last Judgment. It stands as a pre-Reformation case study about the ubiquity of Last Judgment images in one’s daily experience.

1 Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv. Nr. 838 and Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Inv. Nr. Pl 211. The literature is extensive. See especially Friderike Klauner: Gedanken zu Dürers Allerheiligenbildern. In: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 75 (1970), pp. 57–92; Carolyn M. Carty: Dürer’s Adoration of the Trinity: A Reinterpretation. In: Art Bulletin 67 (1985), pp. 146–153; Fedja Anzelewsky: Albrecht Dürer. Das malerische Werk. 2 vols. Berlin 1991, rev. ed., pp. 62–64, 230–233, no. 118; Karl Schütz (ed.): Albrecht Dürer im Kunsthistorischen Museum. Wien 1994, pp. 78–79, no. 5; Daniel Hess, Dagmar Hirschfelder (eds.): Renaissance, Barock, Aufklärung. Kunst und Kultur im 16. bis zum 18. Jahrhundert. Nürnberg 2010 (Schausammlungen des Germanischen Nationalmuseums 3), pp. 422–423, nos. 323 and 335. 2 The Wien copy of the frame was made in 1880–1881 by Ludwig Geiger, a Nürnberg sculptor. The Nürnberg copy of the painting was made by Maria Schöffmann in Wien in 1891.

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Figure 1: Albrecht Dürer: Adoration of the Holy Trinity Altarpiece, 1511, painting, Wien, Kunsthistorisches Museum.

Albrecht Dürer, the Landauer Altarpiece (1511), and End Times in Nürnberg

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Matthäus Landauer hailed from a family of painters.3 He was a prosperous copper merchant who invented a process for smelting raw ore. Landauer conducted business throughout Thuringia, Bohemia, Cracow, and Breslau. In 1501, the same year that his wife Helena died, he purchased a large plot of land adjoining the Inner Laufertor.4 There Landauer founded a charitable home for twelve aged local artisans who were no longer capable of supporting themselves. His foundation was modelled on the local Mendel Zwölfbrüderhaus established in 1388/1397 by Konrad Mendel the Elder and located near the Carthusian monastery. The choice of twelve craftsmen references the twelve apostles. The endowment ordinance of 21 January 1510 stipulated the artisans had to be citizens of Nürnberg who had spent at least the last ten years in residence in the city.5 The ordinance specifically excluded individuals who were beggars, lame, cripple, blind, mute, insane, lazy, gamblers, swindlers, ruffians, blasphemers, adulterers, or had leprosy. Illustrated house books with watercolor depictions of individual artisans, identified by name, performing their trades exist for both the Mendel and Landauer communities.6 Landauer hired Hans Behaim (Beheim) the Elder, Nürnberg’s Stadtwerkmeister since 1503, to construct the residence and chapel of the Zwölfbrüderhaus.7 The chapel, erected between 1506 and 1508, was dedicated to the Holy Trinity and the community of saints. The structure was destroyed in 1945 and subsequently rebuilt in 1956–1957. The chapel is small measuring just 8.35 by 8.93 m. The most evocative view of the interior is Georg Christian Wilder’s watercolor of 18368 (Figure 2). The ribbed vaults of the rectangular chapel are supported by two interior columns. Dürer’s altarpiece stands in the center of the east wall. Wooden stalls for the twelve artisans are set by the side walls. A stone Crucifix hangs within the single open pendant vault in the space between the altar and Landauer’s tomb.

3 Joachim Ahlborn: Die Familie Landauer. Vom Maler zum Montanherrn. Nürnberg 1969, especially pp. 101–111. The Zwölfbrüderhaus and its Stiftung were closed in 1806. 4 As the city expanded, new walls were constructed in the northeast part of Nürnberg. The new Laufertor was completed in 1377. The original or inner Laufertor, erected after 1250, now stood well within the walls and was no longer part of the fortifications. The Zwölfbrüderhaus and chapel were erected on part of the former moat. Michael Diefenbacher, Rudolf Endres (eds.): Stadtlexikon Nürnberg. Nürnberg 2000 – 2nd revised ed., pp. 616–617. 5 Ahlborn (as n. 3), pp. 105–106. 6 The two-volume Landauer Hausbuch is Nürnberg, Stadtbibliothek, Inv. Nr. Amb. 279.2° and Amb. 279b.2°. See www.hausbuecher.nuernberg.de. 7 Diefenbacher, Endres (as n. 4), pp. 606–607. 8 Wilder added the long absent Landauer Altarpiece. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Inv. Nr. NSt. Nbg. 9556.

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Figure 2: Georg Christian Wilder: Interior of the Landauer Zwölfbrüderhaus Chapel, 1836, watercolor, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum.

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Dürer likely designed the chapel’s six elaborate stained glass windows, dated 1508, glazed by Veit Hirsvogel the Elder and his workshop.9 The Holy Trinity, adored by angels and set against the starry firmament of heaven, occupied the central triple-lancet of the east wall above Dürer’s altarpiece (Figure 3). The Trinity is conceived as a single figure with one head, four eyes, three noses, and three mouths. He holds a scepter and world orb topped with a cross as he sits enthroned with his feet resting on the globe of the earth. This unusual depiction was perhaps inspired by St. Augustine. In his text On the Trinity, written between 400 and 420, the Latin Church Father repeatedly stresses the oneness and indivisibility of the triune God.10 This union of three-in-one is beautifully captured in this stained glass window. The left-hand eastern windows originally displayed Landauer with his family in one lancet and the Wise and Foolish Virgins in the other. Set in a forest landscape, Landauer kneels in prayer while staring heavenward.11 In a very personal gesture, one of the two hovering angels gently grasps Landauer’s raised left hand as well as the right hand of the second woman (Helena or Dorothea) behind. The Wise and Foolish Virgins (Matthew 25:1–13), a symbolic counterpart to the saved and the damned, appear before the seated figure of God. The right-hand eastern window depicted the Fall of Rebel Angels paired with the Sacrifice of Isaac, a typological prefiguration of Christ’s death. The north and south walls featured the Evangelists, Prophets, and the Virgin Mary. Two lines of Latin texts were included at the bottom of each window.12 Landauer, his family, and, doubtlessly, the twelve brothers prayed for the intercession of Mary and the saints on their behalf to God, Christ, and the Holy Spirit. The inscription beneath Landauer says: ‘You who have known Christ as God / You widows, young men and old men, unite us with your merits’. The three prayers below the Trinity window read: ‘Father the Godhead and origin of all creation / Save your creature created by your kindness’ (center); ‘Son, identical in nature to the father archetype to heaven and earth / Christ have mercy on

9 Stained glass from only nine of the original twelve windows still existed in 1891. Hermann Schmitz: Die Glasgemälde des königlichen Kunstgewerbemuseums in Berlin. 2 vols. Berlin 1913, vol. I: pp. 140–146; vol. II: nos. 235–243, pls. 37–39; Gottfried Frenzel: Veit Hirsvogel: Eine Nürnberger Glasmalerwerkstatt der Dürerzeit. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 23 (1960), pp. 193– 210, especially p. 206; Barbara Butts: Albrecht Dürer and the Stained Glass for the All Saints Chapel of the House of the Twelve Brethren: The Boston Cartoon Reconsidered. In: Journal of the Museum of Fine Arts, Boston 2 (1990), pp. 65–79; and especially Hartmut Scholz: Die mittelalterlichen Glasmalereien in Nürnberg: Sebalder Stadtseite. Berlin 2013, pp. 442–453. 10 Sabine MacCormack: Augustine on Scripture and the Trinity. In: A Companion to Augustin. Ed. Mark Vessey. Oxford 2012, pp. 398–415, especially pp. 402–405. 11 Scholz (as n. 9), pp. 446–448, fig. 401. 12 Ibid., pp. 451–453 gives the Latin with a modern German translation.

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Figure 3: Veit Hirsvogel the Elder and workshop (after design by Albrecht Dürer): The Holy Trinity, 1508, stained glass, formerly Berlin, Kunstgewerbemuseum.

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those redeemed by your blood’ (right); ‘Spirit of both bond between son and father / Light our hearts with heavenly embers’ (left). When Wilder portrayed the chapel, the altarpiece was gone and the original windows had been removed, sold in the 1810s to the Duke of Sagan.13 By 1891, the windows entered the Kunstgewerbemuseum in Berlin and were destroyed in World War II. Landauer moved into the Zwölfbruderhaus in 1510. Two years later he stipulated that all of his personal property be donated to the house’s endowment (Stiftung) upon his death.14 Landauer resided there until his death in 1515. Earlier that year Landauer requested and received special permission from the provost of St. Sebaldus Church to be buried beneath the chapel.15 As seen in Wilder’s watercolor, his simple tomb slab, ornamented only with his brass coat of arms, is visible on the chapel’s floor between the two columns and on axis facing the altar. The plainness of this memorial contrasts with the monumental (2.5 × 6 m) epitaph that Landauer and his uncle, Sebald Schreyer (1446–1520), commissioned Adam Kraft to carve on the exterior of the choir of St. Sebaldus Church, the parish church for the northern half of Nürnberg, in 1490–1492.16 There Schreyer and the artist, carrying the instruments of the passion, appear as witnesses to Christ’s entombment. The Schreyer and Landauer families, with their coats of arms, are arranged at the bottom of the epitaph. It is appropriate to think of the entire Zwölfbrüderhaus chapel as a memorial to Landauer. His coat of arms appears on the consoles and vault in full view of the resident brothers who assembled there nightly to sing the Salve Regina.17 After meals the brothers gathered in the chapel presumably to recite their daily prayers, including several Our Fathers, in Landauer’s memory. Three masses were performed there each week. On Sundays and feast days, the brothers worshipped in the nearby Benedictine monastery of St. Egidien, whose decoration once included three stained glass windows and other donations from Landauer. During Advent, Lent, and other high feast days, the brothers attended the preaching in either St. Egidien or St. Sebaldus churches. When a brother died, he was buried in the Sebaldus Kirchhof under a tomb stone established by Landauer. A priest performed a vigil that night and a mass for their soul the next 13 Professor Haselberger in Leipzig restored the original windows and made copies sent to the Zwölfbrüderhaus chapel. These replicas in situ are partial visible in a c. 1900 photograph. Schmitz (as n. 9), vol. 1, p. 140; Scholz (as n. 9), p. 445. 14 Ahlborn (as n. 3), pp. 107–108. Wilhelm Haller, the husband of Dorothea, Landauer’s only child, strenuously protested but Landauer’s wishes were witnessed by three members of the city council and on 19 March 1513 ratified by Pope Leo X. 15 Klauner (as n. 1), p. 71. 16 Gerhard Weilandt: Die Sebalduskirche in Nürnberg. Petersberg 2007, pp. 304–305, fig. 268. 17 Ahlborn (as n. 3), pp. 107–108 for what follows.

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morning. Coinciding with these ceremonies, two candles were placed on Landauer’s tomb in the chapel. Dürer’s engagement with the decoration of the chapel, including its stained glass windows, began in 1507 after his return from Italy. His presentation drawing for the altarpiece, dated 1508, is today in the Musée Condé in Chantilly18 (Figure 4). The frame is sketched in pen with brown ink while the proposed painting is rendered more colorfully with light blue, green, and red washes as if to indicate the parts to be executed by the sculptor and joiner on one hand and Dürer on the other. The frame loosely reflects Renaissance-style altars and tombs that the artist saw during his 1505–1507 trip to Venice and north Italy. The form of a wingless altarpiece using classical decorative elements was highly unusual at this moment in German art. It features columns with composite capitals, a frieze showing the division of the saved and the damned, a rounded tympanum featuring the Deësis (Virgin Mary, Christ, and John the Baptist) surrounded by a two-part decorative arch, and three angels. The side pair of angels, seated on spheres, blow trumpets heralding the Last Judgment. The third angel above grasps what seems to be the cross though the sheet has been trimmed at the top. The base of the frame includes two blank coats of arms and a central scroll inscribed “Anno dom[ini] 1508”. The artist’s monogram is not original or, at least, by Dürer’s hand. The identities of the sculptor and joiner or carpenter that crafted the final frame are not known.19 The frame, carved in lindenwood, measures 2.84 × 2.13 m (Figure 5). There are differences between the drawing and the extant frame. The clear classical architecture forms of the drawing are now richly encrusted with tendrils and grape vines, features that link the frame with the grape vines arching above the Trinity and angels in the stained glass window.20 Landauer’s coat of arms fills the heraldic shields at bottom. The text scroll is inscribed: “mathes landauer hat entlich volbracht / das gottes haus der tzwelf bruder / samt der stiftung vnd dieser thafell / noch xps gepurd mcccccxi ior” (‘Matthäus Landauer finally completed the Hospital of the Twelve Brethren together with its foundation and this tablet in the year since Christ’s birth 1511’). The frieze closely follows the drawing. The heralding angels are larger in relative scale and their poses have been altered somewhat. If there was ever a third angel atop the arch then it has disappeared. The tympanum relief shows Christ as

18 39.1 × 26.8 cm. Friedrich Winkler: Die Zeichnungen Albrecht Dürers. 4 vols. Berlin 1936–1939, no. 445; Walter L. Strauss: The Complete Drawings of Albrecht Dürer. 6 vols. New York 1974, vol. 2, no. 1508/23. 19 The occasional attribution to Ludwig Krug is based more on the ready availability of a contemporary sculptor’s name rather than on a stylistic or documentary basis. 20 The altarpiece’s Eucharistic symbolism is discussed in Carty (as n. 1).

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Figure 4: Albrecht Dürer: Design for the Adoration of the Holy Trinity Altarpiece, 1508, drawing, Chantilly, Museé Condé.

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Figure 5: Anonymous Nürnberg sculptor and joiner (after design by Albrecht Dürer): Frame for the Adoration of the Holy Trinity Altarpiece, 1511, lindenwood, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum.

judge seated on a rainbow with his feet perched on the orb of the world. He is flanked by Mary and John the Baptist. The drawing includes the lily and sword, symbols of heavenly reward and divine punishment. These features are now missing as are the two cherubim fluttering beside Christ. Given the damage seen

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Figure 6: Detail of Figure 5.

elsewhere in the frame, the sword and lily likely were originally displayed. Although Mary and John still kneel on clouds, the wavy clouds beneath Christ in the drawing were not carved. This diminishes the visionary quality of the scene somewhat. Dürer modified the painting’s composition. We shall return to the painting and its relation to the carved Last Judgment below. Dürer’s conception of the Last Judgment is fairly conventional (Figure 6). As the trumpets announce the end of earthly time, Christ determines the fates of humanity. Mary and John intercede on our behalf. In the frieze two golden robed angels escort the nude souls to our left where St. Peter, holding his key, greets the crowd. A king or emperor, a pope, a bishop, and two women are in the first group. A cardinal walks between the two angels. Heaven or the access to the divine realm is commonly rendered as a portal, sometimes with stairs. The elect pass through this threshold as they transition from divine judgment to an eternal heavenly state of being. Here Dürer includes instead a blazing golden sun, symbolizing celestial glory and the souls merging with the divine. Opposite, devils have enchained the damned whom they push and tug toward the ferocious, fanged hell mouth that already devours other sinners. The damned also include a king, pope, bishop, and cardinal along with two women, one voluptuous and the other old, and a man bent over in grief. In the very center, the fate of one soul is contested as he is pulled in both directions. I suspect the aged brothers and most viewers could identify with this man’s yet uncertain fate. It is easy to imagine the sounds of angelic trumpets or the pitiful wailing of the damned. Concurrent with the design and completion of the Landauer Altarpiece, that is from 1508 to 1511, Dürer was actively working on several print series

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including the Small Passion.21 When published in 1511, the cycle comprised a title page and thirty-six woodcuts. This series is far more extensive than his Large Passion, reissued in 1511, and the Engraved Passion, which appeared in 1513. He included the Last Judgment only in the Small Passion (Figure 7). This is also the sole print Dürer ever made of this theme. Other than the figures of Mary and John the Baptist being turned more toward Christ in the woodcut, this print’s Deësis is close in appearance to the Landauer drawing and altarpiece. At left, angels guide the saved toward a brilliant sun while devils drag their quarry to the hell mouth. The woodcut includes figures rising from their tombs in the distance. In the Small Passion series, Dürer frequently played with, indeed staged, the positioning and lighting of his monograms for dramatic effect. In the Last Judgment woodcut, the artist placed his broadly illuminated monogram just left of center signaling his aspiration to be among the saved. By 1508, Dürer had traveled widely along the upper Rhine and twice to Italy. Doubtlessly he encountered diverse examples of the Last Judgment in church decorations. During his Wanderjahre from 1490 to 1494, he stopped in Colmar and met the brothers of Martin Schongauer, the most famous earlier German printmaker. Although Dürer never personally encountered the printmaker who died in 1491, Schongauer’s brothers helped the young artist. Dürer owned several drawings by Schongauer including the Lord Blessing and likely the Colmar master’s sketch of Christ based on Rogier van der Weyden’s Last Judgment Altarpiece in the Hôtel Dieu in Beaune.22 It is possible Dürer visited nearby Breisach where in the last years of his life Schongauer and his assistants worked on the monumental Last Judgment (c. 1490) in the Stephansmünster.23 The cycle covers the entire south, west, and north walls of the entrance hall. I believe it is the largest early modern German representation of this theme. The mural paintings were badly damaged in World War II. Neither Dürer’s altarpiece nor his woodcut required such an elaborate scene. Rather he clearly stressed the subject’s basic features. Several readily visible Last Judgments in Nürnberg provide a local frame of reference for Dürer’s designs. The most elaborate and second oldest Last Judgment (1355–1360) adorns the west portal of the parish church of St. Lorenz24 21 12.7 × 9.7 cm. Rainer Schoch, Matthias Mende, Anna Scherbaum (eds.): Dürer. Das druckgraphische Werk. 3 vols. München 2001–2004, vol. 2, pp. 280–344, nos. 186–222, especially pp. 343– 344, no. 222. 22 Jeffrey Chipps Smith: Albrecht Dürer as Collector. In: Renaissance Quarterly 64 (2011), pp. 1– 49, here pp. 7–9. 23 Bernd Mathias Kremer. Martin Schongauer und Breisach: Zum 500. Todestag des Malers und Kupferstechers. In: Badische Heimat 4 (1991), np; Stephan Kemperdick: Martin Schongauer. Eine Monographie. Petersberg 2004, pp. 211–218. 24 Johannes Viebig: Die Lorenzkirche in Nürnberg. Königstein im Taunus 1971, p. 24.

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Figure 7: Albrecht Dürer: Last Judgment, c. 1510, woodcut, in the Small Passion, published Nürnberg 1511.

(Figure 8). The lower sections over the door recount the life and death of Christ through his resurrection. Above is the Last Judgment with Christ enthroned on the rainbow with the moon, sun, and clouds beneath his feet. He is flanked by the Virgin Mary, John the Baptist, two trumpeting angels, and two more angels emerging from clouds overhead. At the sound of the trumpets, the dead rise

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Figure 8: Last Judgment, west portal, 1355–1360, Nürnberg, St. Lorenz Church.

from their graves and push aside the tomb slabs. St. Peter, with his key to heaven and accompanied by an angel, welcomes the saved. The damned, bound by a linked metal chain, are pulled toward the gaping hell mouth with its sharp fangs and flames. Both groups include clergy as well as secular figures, all of whom are clothed. Dürer was baptized and worshipped in St. Sebaldus. During his career he designed stained glass windows and paintings for this church. When he died in 1528, funeral rites were held in there and he was buried in the St. Johannesfriedhof, west of town, which since the new city ordinances of 1518 became the grave site for St. Sebaldus’s parishioners. He knew this church and its decorations intimately. The Last Judgment portal, dating around 1310–1315, is one of two doorways on the south side of the church25 (Figure 9 and 10). The Deësis is accompanied by two heralding angels. Below, the resurrected arise from their tombs and are sorted into the saved and the damned. At far left an angel points heavenward. Another angel stands between the two groups and seems to gently push the last distraught sinner toward the hell mouth. Accompanying the tympanum are side statues set on the adjoining jamb capitals. Only three sculptures survived from the original program. These include two angels holding the cross and passion instruments as well as Abraham cradling the nude souls of the saved

25 Weilandt (as n. 16), pp. 29–36, figs. 20, 22.

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Figure 9: Last Judgment, south portal, c. 1310–1315, Nürnberg, St. Sebaldus Church.

in a cloth. The motif of the bosom of Abraham, cited in the story of the rich man and Lazarus (Luke 16:19–31), was interpreted as symbolic of heaven or, alternatively, a place where the righteous deceased await Judgment Day.26 Here once

26 ‘And it came to pass, that the beggar died, and was carried by the angels into Abraham’s bosom: the rich man also died, and was buried’ (Luke 16:22).

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Figure 10: Last Judgment, south portal, c. 1310–1315, Nürnberg, St. Sebaldus Church, detail.

again the damned are shackled in chains, a feature that Dürer adopted in the altarpiece and woodcut. The exterior and interior of St. Sebaldus are adorned with numerous private and family epitaphs. Scenes featuring images of Christ, Mary, and patron saints predominate here and in other Nürnberg churches. The choice of a Last Judgment was far less common. The most prominent example is the large rectangular sandstone epitaph of Hermann Schedel (1410–1485) formerly positioned over the so-called show door opening on the south side of the choir of St. Sebaldus.27 The composition differs from those discussed above as Christ is now accompanied by the twelve apostles. St. Peter appears a second time below as he stands beside the pointed-arched portal to heaven. In the lower center, just to the left (or on the saved side) of the inscription tablet, the kneeling Schedel is introduced by his guardian angel. Dürer was familiar with two other notable Last Judgments created by his teacher Michael Wolgemut and his workshop. A full page woodcut of the Last Judgment appears on folio CCLXII recto of Hartmann Schedel’s Weltchronik published by Anton Koberger, Dürer’s godfather, in 149328 (Figure 11). The author, Hartmann Schedel (1440–1514), also a physician, was Hermann’s much 27 Weilandt (as n. 16), pp. 301–302, figs. 48, 265a, and 266. 92 × 117 cm. Damaged in World War II. Now Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Inv. Nr. Pl. 0. 2963. 28 Text appears on folio CCLXI verso and CCLXII verso.

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Figure 11: Michael Wolgemut and workshop: Last Judgment, woodcut, in Hartmann Schedel, Weltchronik, Nürnberg 1493, fol. CCLXII.

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younger cousin. As the souls rise from their tombs, they are escorted by an angel to St. Peter as they pass through a cloud-like portal with a radiant sun. Opposite, the damned are dragged to hell, now shown as a flaming opening in the earth. Many city halls included depictions of the Last Judgment on the walls of their council and legal chambers. Hans Mielich’s exquisite dedicatory miniature of the council chamber in Regensburg’s Rathaus, in the Freiheitsbuch (1536) portrays the leaders seated around the wood paneled chamber.29 Hanging on the back wall is a painting of the Last Judgment. The presence of a picture like this warned everyone to act truthfully and honestly since, ultimately, Christ’s judgment awaited. In 1486, Michael Wolgemut or one of his assistants painted the subject for a wall of the Ratsstube in Nürnberg30 (Figure 12). Dürer certainly would have seen this picture since he entered Wolgemut’s workshop as an apprentice in that year. The inscription tablet located in the lower center beneath Christ and the Book of Life reads: “Juste iudicate filii hominum / Judiciu(m) quale faris taliter / Judicaberis Ir menschen / feldt urtel auf erden Als ir dort weldt geurdeildt werden” (‘Judge justly, you human beings. The way you pronounce judgment so will you be judged. / You humans, pass judgment on earth just as you want to be judged there [at the Last Judgment]’). To the right and left of the cross are the words: “Ego iusticias – iudicabo” (‘I will judge righteously’). A large mural painting of the Last Judgment also once covered the west wall of the Great Hall in Nürnberg’s Rathaus. This section was torn down amid the construction of the new west facade in 1619–1621. Paul Juvenal the Elder’s view of the Great Hall looking west, done around 1613, shows a large circular window in the upper part of the wall.31 The theme of the Last Judgment was appropriate for this location since most judicial matters were conducted at this end of the great hall. Hans von Kulmbach, one of Dürer’s collaborators, authored a drawing of a Last Judgment (c. 1520) organized around a central window.32 The configuration does not match that of the Great Hall’s west wall but it still provides an idea of how an artist would adapt the theme around a window.

29 Kristin Eldyss Sorensen Zapalac: ‘In His Image and Likeness’: Political Iconography and Religious Change in Regensburg, 1500–1600. Ithaca, NY 1990, pp. 26–54, especially pp. 26–29, fig. 1. On images of the Last Judgment in city halls, also see Stefan Huygebaert, Georges Martyn, Vanessa Paumen, Tine Van Poucke: The Art of Law: Three Centuries of Justice Depicted. Exh. cat., Groeningemuseum, Bruges. Tielt 2016, pp. 15–34. 30 107.6 × 1.96 cm. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Inv. Nr. Gm 520. Matthias Mende: Das alte Nürnberger Rathaus. Baugeschichte und Ausstattung des groβen Saales und der Ratsstube. Exh. cat., Nürnberg, Stadtgeschichtliche Museen 1979, pp. 188–189, fig. 67; Daniel Hess, Dagmar Hirschfelder, Katja von Baum (eds.): Die Gemälde des Spätmittelalters im Germanischen Nationalmuseum, Franken, 2 vols. Regensburg 2019, vol. 1, pp. 497–509, no. 36. 31 Mende (as n. 30), pp. 178–181, no. 110, color plate II. 32 Berlin, Kupferstichkabinett. Mende (as no. 30), pp. 317–319, no. 373, fig. 159.

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Figure 12: Michael Wolgemut and workshop: Last Judgment, 1486, painting, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum.

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Dürer’s painting of the Adoration of the Holy Trinity centers on the so-called Gnadenstuhl or Throne of Mercy with God the Father bearing the crucified Christ as the dove of the Holy Spirit hovers above. Dürer preferred the Gnadenstuhl formula over the more common contemporary Trinity representation showing Christ and God seated beside each other in glory with the dove hovering between or above them.33 The artist staged this as a heavenly vision filled with the ranks of angels, several holding the instruments of the Passion prominently including the Holy Lance, part of the imperial relics and regalia stored safely in the church of the Heilig-Geist-Spital in Nürnberg.34 Just below this highest realm and separated by a bank of clouds are the Virgin Mary and John the Baptist. Mary is accompanied by Saints Barbara, Catherine, Dorothy, Agnes, and a host of female martyrs. Joining John the Baptist are King David, Moses, and a mixed group of devout Christians. A crowd of clergy, secular rulers, and laity occupy the lower level of heaven. The pious elderly man dressed in a black fur-trimmed robe at the far left is Matthäus Landauer being introduced by a cardinal. His identity is verified by Dürer’s chalk or charcoal portrait drawing of the merchant. The sketch is inscribed with the artist’s monogram, the date 1511, and the words “landawer styfter”.35 The two portraits are virtually identical. Writing in about 1540, Pankraz Schwenter, a local poet and humanist, penned an entry in the City Chronicle of Nürnberg about the Zwölfbrüderhaus. It reads in part: ‘In the chapel mentioned above, as the altarpiece, there is a painting done with skillful art by the most renowned painter of the whole German nation, Albrecht Dürer, in which the said benefactor [Matthäus Landauer] and his son-in-law Wilhelm Haller, who was a highly skilled organist, are portrayed, such that anyone who knew them during their lives, will easily recognize their likeness and form’.36 Haller is sometimes identified as the kneeling man in golden armor at right. If so, can the woman behind him be Dorothea, his wife and Landauer’s daughter? Landauer’s inclusion is a form of pictorial wish fulfillment since he can visualize himself amid the saved even as, in life, he knelt praying in this chapel. 33 See his Trinity woodcut (1511), Prayer Book of Emperor Maximilian (1515; München, Bayerische Staatsbibliothek, 2 L.impr.membr.64, fol. e 1r; and drawing (1515; Boston, Museum of Fine Arts). Schoch, Mende, Scherbaum (as n. 21), vol. 2, no. 231; Heidrun Lange-Krach: Das Gebetbuch Kaiser Maximilians I. Meisterhafte Zeichnungen der deutschen Renaissance. 2 vols. Luzern 2017, text vol., pp. 97–98, plate vol., p. 49; Strauss (as n. 18), vol. 3, nos. 1515/15 and 1515/69. 34 Franz Kirchweger (ed.): Die Heilige Lanze in Wien. Insignie – Reliquie – Schicksalsspeer. Wien 2005. 35 Frankfurt am Main, Städel Museum, Inv. nr. 6951. Strauss (as n. 18), vol. 3, no. 1511/17; Jochen Sander (ed.): Albrecht Dürer: His Art in Context. Exh. cat., Städel Museum, Frankfurt. München 2013, pp. 112–113, no. 4.8. 36 Jeffrey Ashcroft (ed.): Albrecht Dürer. Documentary Biography. 2 vols. New Haven 2017, vol. 2, pp. 990–991, no. 316.

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This celestial vision, which occupies about nine-tenths of the composition, hovers over a thin strip of the terrestrial world featuring a large lake, likely based on the artist’s watercolor of Lake Garda, and a distant town on the left. There is, of course, one additional figure – a self-portrait of Albrecht Dürer at the lower right (Figure 13). He is both artist and witness. His normal cartellino has become a large sign with the inscription: “ALBERTVS.DVRER / NORICVS.FACIE / BAT.ANNO.A.VIR / GINIS.PARTV. / 1511” (‘Albrecht Dürer of Nürnberg was creating this in the year since the Virgin gave birth 1511’) plus his AD monogram. Through likeness and text, he proudly proclaims his creative authorship of the altarpiece much as he did with the self-portraits included in his three slightly early altarpieces: the Feast of the Rose Garlands (1506), the Martyrdom of 10,000 (1508), and the Heller Altar (1508).37 In these other pictures, he respectively witnesses the institution of the Brotherhood of the Rosary, the brutal slaughter of early Christian saints, and the Assumption of the Virgin. Here Dürer presents himself performing a role comparable to that of St. John the Evangelist recording his visions of the Apocalypse in the Book of Revelation. John, with pen and book at hand, stares at the heavenly apparition of the Apocalyptic Virgin and Child in the title page Dürer made for the new 1511 Latin edition of his book38 (Figure 14). In plate 12 of the Apocalypse, Dürer depicted St. John kneeling on Patmos as he experienced a vision of the Lamb of God adored by the heavenly hosts. Writer and artist, one with his quill and the other with his paint brush, describe the end times. Like St. John, Dürer places himself on the earth rather than in heaven. He stands confidently and looks out toward Matthäus Landauer, to current and future generations of the twelve craftsmen, and to any other viewers as if waiting for our judgment of his creation and doubtlessly hoping for a prayer for his soul. Here, like in the other three altarpieces containing his self-portraits, Dürer conveyed his own deep religious faith and his artist’s agency. The Zwölfbrüderhaus chapel’s dedication to the Holy Trinity and the community of saints is represented in its stained glass windows and altarpiece. The elements of its program certainly resulted from lengthy discussions between Landauer, Dürer, and perhaps a cleric from St. Egidien or St. Sebaldus. The conceptual or iconographic link for the two parts of the Landauer Altarpiece is St. Augustine’s City of God. Although Dürer’s knowledge of Latin was rather limited, he easily could have known the City of God through the assistance of humanist and clerical friends. While on his Wanderjahre from 1490–1494, Dürer became acquainted with and perhaps worked for the Basel publisher Johann 37 Anzelewsky (as n. 1), nos. 93, 105, and 115K. 38 Schoch, Mende, Scherbaum (as n. 21), vol. 2, pp. 59–105, nos. 109–126, specifically nos. 111 and 124.

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Figure 13: Albrecht Dürer: Self-Portrait, detail of Figure 1.

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Figure 14: Albrecht Dürer: Title Page, woodcut. In: Apocalipsis cum figuris. Nürnberg 1511 – second Latin edition.

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Amerbach. In a letter dated 20 October 1507, Dürer conveyed his greetings to Amerbach and his wife Barbara: ‘And I beg you, be so kind as to write and tell me what good things you are producing, and forgive me for making you read my simple note’.39 Amerbach published editions of Augustine’s De Civitate dei cum commento in 1489 and 1490 and again in the eleven-volume Opera Omnia of 1506. Amerbach’s edition was sometimes bound together with Augustine’s De Trinitate (On the Trinity). Willibald Pirckheimer, the artist’s closest friend, owned numerous of Augustine’s writings.40 His copy of one of Amerbach’s editions of the City of God, with the commentary by the Oxford Dominicans Thomas Waleys (d. 1350) and Nicholas Trivet (d. 1334), is likely the example listed in the later library of Thomas Howard, Earl of Arundel, and his grandson Henry Howard.41 Alternatively or additionally, the artist may have consulted with Benedictus Chelidonius or another of the Benedictine monks of the Egidienkloster. Brother Chelidonius directed the monastery’s school, which was considered the finest in Nürnberg. He was a talented neo-Latin poet who contributed the texts accompanying Dürer’s Large Passion, Small Passion, and Life of the Virgin series during precisely these years. As noted, the aged residents of the Zwölfbruderhaus worshipped in the nearby St. Egidien monastery every Sunday. The abbot of St. Egidien was one of the guarantors that the terms of Landauer’s will and the resulting Stiftung were carried out.42 Dürer also enjoyed close ties with the brothers of the Augustinian monastery of St. Veit, located near St. Sebaldus church. A few years later, the artist, Pirckheimer, and others met there to discuss religion with Johann Staupitz, the Vicar-General of the Augustinian friars in Germany. Therefore, there were many avenues by which the artist could know the writings of St. Augustine. The link between St. Augustine and Dürer’s painting, but normally not its frame, has been pointed out by Erwin Panofsky and other Dürer scholars.43 The Latin Church Father, writing between about 410 and 426, described the nature of the City of God in contrast with the City of Man as follows: ‘In the Heavenly City, on the other hand, man’s only wisdom is the devotion which rightly 39 Ashcroft (as n. 36), vol. 1, pp. 198–199, no. 43. 40 Pirckheimer’s library was eventually acquired by Thomas Howard, Earl of Arundel (1585–1646). Howard’s grandson, Henry Howard (1628–84), bequeathed the family’s library, including Pirckheimer’s books, to the Royal Society in London in 1681. The Bibliotheca Norfolciana. London 1681, pp. 12–13 lists ten titles by Augustine, including his Confessions, published in Venice in 1484 and bound together; In Psalms. Basel 1489; Sermons in two volumes. 1494; and an undated De Civitate Dei. On the history of the library, see royalsociety.org/blog/2019/11/the-collectorearl/ . 41 Bibliotheca Norfolciana (as n. 40), p. 12. 42 Ahlborn (as n. 3), p. 110. 43 Erwin Panofsky: The Life and Art of Albrecht Dürer. Introduction by Jeffrey Chipps Smith. Princeton 2005, pp. 125–131.

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worships the true God, and looks for its reward in the fellowship of the saints, not only holy men but also holy angels, “so that God may be all in all”’.44 Dürer’s painting portrays the seemingly infinite ranks of heaven filled with angels, Moses and those righteous individuals who lived before the coming of Christ, the blessed saints and other Christians saved by Christ’s sacrifice, and even Mattheus Landauer, who was very much alive in 1511. Augustine begins Book XX with the words: ‘I am going to speak about the day of God’s final judgment, as far as he will grant me. […] I must start by laying down as, so to speak, the foundation of the building the evidence of inspired Scripture’.45 He continues: ‘Now it is a belief held by the whole Church of the true God, in private confession and also in public profession, that Christ is to come from heaven to judge both the living and the dead, and this is what we call the Last Day, the day of divine judgment – that is, the last period of time; for it is not certain for how many days this judgment will extend’.46 He stresses that God’s judgments are inscrutable yet just. The rest of Book XX addresses the Apocalypse, the kingdom of saints, and New Jerusalem based on scripture including Augustine’s commentaries on the writings of Peter, Paul, and Old Testament prophesies.47 These and other topics are expanded upon in Book XXI where Augustine explains the nature of judgment and the punishments of the condemned.48 In Book XXII, the volume’s last section, Augustine characterizes the City of God as a ‘perpetual Sabbath’ as he cites Psalm 84:5[4]: ‘Blessed are those who dwell in your house; they will praise you for ever and ever’. He notes: ‘But in this City all the citizens will be immortal, for human beings also will obtain that which the angels have never lost. This will be effected by God, the founder of that City; for he has promised it […].’49 Augustine felt compelled to address many questions about the restoration of the whole human body of the deceased at the Resurrection. He writes: Thus all human beings will rise again with a body of the same size as they had, or would have had, in the prime of life. And yet, to be sure, it would be no disadvantage even if the form of the body were that of an infant or an old man; for in the resurrection no weakness will remain, either in mind or body.50

44 Augustine: City of God. Introduction by David Knowles, translation by Henry Bettenson. Harmondsworth 1972, pp. 593–594 (Book XIV, chapter 28). 45 Ibid., p. 895 (Book XX, chapter 1). 46 Ibid., p. 896 (Book XX, chapter 1). 47 Ibid., pp. 895–963 (Book XX). 48 Ibid., pp. 964–1021 (Book XXI). 49 Ibid., p. 1022 (Book XXII, chapter 1). 50 Ibid., pp. 1056–57 (Book XXII, chapter 16).

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Throughout human history the City of God, reigned over by Christ, and the City of Man, ruled by the devil, co-exist and are at times difficult to distinguish. This uncertainty ends with the Last Judgment. In Dürer’s altarpiece, blasts from the angels’ horns announce that Judgment Day has arrived. Christ enthroned on a rainbow determines everyone’s individual fate. Those on Christ’s right, his dexter side from his perspective, are escorted toward the glory of heaven. The damned on Christ’s left or sinister side are dragged by devils toward the gapping mouth of hell. Does the painting reveal what happened before or after the resurrection? Contrary to Panofsky’s interpretation, Fedja Anzelewsky argues that the painting is not an image of the eternal Sabbath but a vision of the promised bliss of heaven that appears over the still inhabited world.51 Besides the artist, there are other minute figures including a rider and men by boats in the distant landscape at left. Dürer is situated in the present world. Indeed there is a tree stump, a reminder of death, beside him. Carolyn Carty stresses that Christ is represented nailed to the cross rather than enthroned: “The image of Christ crucified is a sign of redemption, Christ offered by the Heavenly Father in expiation for the sins of mankind.”52 She proposes a Eucharistic reading of the altarpiece with its grape vines on the frame and inclusion of certain saints, such as Barbara holding a host and chalice rather than her traditional tower symbol. Hartmut Scholz notes all of the stained glass windows are framed in grape vines.53 From the perspective of the worshippers in the chapel, the painting with its crucified Christ serves as a meaningful backdrop when the officiating priest raises the host during the mass. Is this a beatific glimpse of heaven offered to humanity through the Eucharist? I think Dürer, consistent with the texts and images of the stained glass windows of the chapel, presents Landauer and the brothers a foretaste or visionary preview of heaven rather than the eternal celestial realm at the end of time after the Last Judgment. Nevertheless, from a devotional perspective, the temporal distinction hardly mattered to those worshipping in the chapel who looked on the painting as a beautiful, indeed comforting, conception of the hereafter. Dürer had various artistic and aesthetic intentions when designing the Landauer Altarpiece. Nevertheless, I am struck how the frame’s shape recalls a church portal with its columns, sculpted tympanum, and lintel (see Figure 9 and 10). The painting’s liminality suggests imaginatively an open doorway, a threshold from this world to the next. Depictions of the Last Judgment frequently were placed over church doorways, especially above the western portal as in St. 51 Anzelewsky (as n. 1), p. 63. 52 Carty (as n. 1), p. 147. 53 Scholz (as n. 9), p. 448.

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Lorenz church. The setting sun marking the transition from day to night was an apt physical counterpart for the passage from life to death and from death to judgment. At St. Sebaldus, Last Judgment reliefs adorned the two southern entrances. Church portals signified thresholds, the liminal space between the earthly realm, here Nürnberg, and the sacred space of the interior. Lynn Jacobs notes: “church portals were metaphorically understood as entries into paradise, with the church interior seen as heavenly space.”54 Some medieval churches enclosed their principal portal with a Vorhalle or entrance hall known as the Paradies. The elaborate Paradise on the south side of the cathedral of St. Paulus in Münster presents Christ enthroned over the doorway. He blesses and displays a large open book as logos and humanity’s judge. Christ is accompanied by large stone statues of the Apostles and St. Paul.55 These sculptures define the space as the Porta Coeli, the entrance to heaven. An inscription added there in 1486 informs worshippers: ‘Before the eternal temple stands the heavenly paradise. How overjoyed a person would be had he lived in it. Walk through here, you poor of the past, shout out your guilt to the sublime sanctuaries, return your vows to God.’56 Other churches display the words of Jacob following his dream at Bethel: ‘How awesome is this place! This is none other than the house of God, and this is the gate of heaven’ (Genesis 28:17).57 The liminality of the church threshold works both directions. In the Latin Requiem mass, after the deceased’s body final blessing, the choir sings the antiphon In paradisum (‘May the angels lead you into paradise; may the martyrs receive you at your arrival and lead you to the holy city Jerusalem. May choirs of angels receive you and with Lazarus, once [a] poor [man], may you have eternal rest’) as the corpse is carried from the church to the graveyard.58 Within the intimate space of the Zwölfbrüderhaus chapel Dürer’s altarpiece served as its focal point. God bears the crucified Christ who is displayed to and adored by the angelic hosts and the ranks of the saved. Just above in the frame, Christ sits in judgment recalling John’s words from his account of the Parable of the Good Shepherd: ‘I am the door. If anyone enter by me he shall be safe, and shall go in and out, and shall find pastures’ (John 10:9–10). Christ is the door, 54 Lynn Jacobs: Thresholds and Boundaries: Liminality in Netherlandish Art (1385–1530). London 2018, p. 32. She cites Tina Bawden: Die Schwelle im Mittelalter: Bildmotiv und Bildort. Köln 2014. Also see Weilandt (as n. 16), pp. 135–141 on the topography of St. Sebaldus as a representation of Heavenly Jerusalem. 55 Udo Grote: Der Dom zu Münster. Münster 2014, pp. 41–61, especially pp. 41–45. 56 “PRO TEMPLO ETERNO STABAT PARADYSUS OLYMPI / FELIX QUAM NIMIUM SI COLVISSET HOMO; / ITE PER HANC MISERI MORTALES PLANGITE CULPAS / AD TEMPLA EXCELSA / REDITE VOTA DEO”. Grote (as n. 55), p. 44. 57 Jacobs (as n. 54), pp. 9 and 17 (n. 46). The text of Psalm 118:20: ‘This is the gate of the Lord: the righteous shall enter by it’, was also used. 58 Carty (as n. 1), pp. 152–153; https://en.wikipedia.org/wiki/In_paradisum.

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the porta coeli. Last Judgment stands as the final threshold between heaven and hell. Landauer and the aged artisans worshipping in their chapel prayed that they too would cross the salvific threshold from this world and enter into heaven. Augustine tells his readers in the last chapter of the City of God that the Lord’s Day will be an eternal eighth day of perpetual Sabbath: ‘There we shall be still and see; we shall see and we shall love; we shall love and we shall praise. Behold what will be, in the end, without end! For what is our end but to reach that kingdom which has no end?’59 The Landauer Altarpiece, with its pictorial rhetoric of the End Time, may warn about damnation but it offers its original audience, including Landauer both in life and in death buried just before the altar, hope for salvation and the eternal glory of heaven. This balance between hope and fear is inherent in all of the Last Judgment scenes that Landauer and his contemporaries might encounter as they went about their everyday lives. Dürer’s altarpiece, with its heavenly community in perpetual adoration, imaginatively offers a glimpse of what redemption might look like.

Figures Figure 1, 3, 6, 8, 9, 11, 13: Jeffrey Chipps Smith. – Figure 2: © RMN-Grand Palais / Art Resource, NY / Gérard Blot. – Figure 5: © Germanisches Nationalmuseum / Dirk Meßberger. – Figure 7, 14: Metropolitan Museum of Art, New York. – Figure 10: © Johann Anselm Steiger. – Figure 12: © Germanisches Nationalmuseum / Georg Janßen.

59 Augustine (as n. 44), Book XXII, chapter 30, p. 1091.

Johann Anselm Steiger

‚lieber Jüngster Tag‘. Sehnsucht nach dem Jüngsten Gericht, Werke der Barmherzigkeit und Beichte bei Luther und im barocken Luthertum

I. Das Paradox des ‚lieben Jüngsten Tags‘ Ein mit Blick auf das reformatorische Verständnis der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade sowie des Jüngsten Gerichts basaler und zentraler Text der Heiligen Schrift ist Joh 5,24 – ein Vers, der eine direkte Rede des Sohnes Gottes wiedergibt: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.“ Diesem Vers kommt in Luthers Theologie und in derjenigen seiner frühneuzeitlichen Erben eine exzeptionelle Bedeutung zu, insofern er verdeutlicht, daß derjenige, der glaubt, das Jüngste Gericht nicht als Strafgericht zu fürchten hat, das zur ewigen Verdammnis führt. Vielmehr dürfen alle Glaubenden gewiß sein – so schwach ihr Glaube auch immer sein mag –, daß sie am Jüngsten Tag kein Verdammungsurteil zu hören bekommen, sondern ihnen der Eingang in die ewige Seligkeit unumstößlich in Aussicht steht, weil der Sohn Gottes an Gründonnerstag und Karfreitag bereits das göttliche Strafgericht ein für allemal und gänzlich erlitten hat. Aus diesem Zusammenhang rührt die von Luther promulgierte freudige Gewißheit, daß das Jüngste Gericht nichts Erschreckendes ist, sondern dieses als „lieber Jüngster Tag“1 zu gelten hat.

1 Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel. Bd. 9, S. 175, Z. 17. Vgl. hierzu Frank Alexander Kurzmann: Die Rede vom Jüngsten Gericht in den Konfessionen der Frühen Neuzeit. Berlin, Boston 2019 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 141), S. 32–34 sowie Johannes Schilling: Der liebe Jüngste Tag. Endzeiterwartung um 1500. In: Jahrhundertwenden. Endzeitund Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen u. a. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 155), S. 15–26, bes. S. 26.

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Zwar begegnet diese spezifische Formulierung bei Luther nur einmal, nämlich in einem Brief an seine Frau vom 16. Juli 1540, der allerdings kaum breite Rezeption erfahren haben dürfte, zumal er erst im Jahre 1811 publiziert wurde.2 Gleichwohl gibt es im Œuvre des Reformators artverwandte Äußerungen, etwa in der Druckfassung einer am zweiten Advent des Jahres 1531 gehaltenen Predigt, in der Luther den Jüngsten Tag als einen solchen profiliert, den man getrost erwarten dürfe, weil er „nicht schrecklich, sondern eitel Zucker“3 sein werde, ja, ein „liebe[r] Tag unsrer Erlösung“.4 Die paradoxale (und offenbar nicht unmittelbar auf Luther zurückzuführende) Rede vom ‚lieben Jüngsten Tag‘ zeitigte – gänzlich anders als das wohl erst kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgekommene apokryphe Luther-Diktum vom Apfelbäumchen5 – im 16. bis 19. Jahrhundert starke Wirkung und Verbreitung,6 was dringend in extenso traditionsgeschichtlich zu erforschen wäre. So läßt z. B. Christian Scriver (1629– 1693) seinen Gotthold sogleich zu Beginn der Zufälligen Andachten die Sehnsucht nach dem Jüngsten Tag mit folgenden Gebetsworten artikulieren: „O lieber Jüngster Tag! O erwünschter Freudentag! O seliger Tag der Offenbarung der Kinder Gottes! O Heiliger Sabbath! O Anfang der ewigen Ruhe! Wann wirst du doch endlich anbrechen?“7 Zu Beginn des letzten Drittels des Reformationsjahrhunderts ist es etwa Johannes Gigas (1514–1581), der hervorhebt, daß die Menschen sich keineswegs angesichts des letzten Gerichts ängstigen müssen, vielmehr verschmachten würden, „wenn sie sich des lieben Jüngsten Tages nicht zu trösten hätten“.8 Der Meißener Superintendent Wolfgang Mamphrasius (1557–1616) hingegen spricht in einer in St. Marien zu Liegnitz gehaltenen Predigt gar im doppelten Superlativ vom „liebsten Jüngsten Tage“, der anbrechen werde, „wenn’s nun am [ge]fährlichsten in der Welt stehen wird“,9 während sich in einer Orgelweihpredigt von Johann Melchior Vetterlein (gest. 1711) einer der seltenen Belege für die Be2 Vgl. Martin Luther: Briefe an Albrecht, Herzog von Preußen. Von den Originalen im geheimen Archiv zu Königsberg, mit erklärenden Anmerkungen hg. von Karl Faber. Königsberg 1811, S. 98 f. 3 Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. 73 Bde. Weimar 1883–2009 (fortan zit. Luther, WA mit Angabe von Bd.-, Seiten- und ggf. Zeilenzahl), hier WA 34/II,478,37. 4 Luther, WA 34/II,479,17. 5 Vgl. Martin Schloemann: Luthers Apfelbäumchen? Ein Kapitel deutscher Mentalitätsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 1994, bes. S. 26. 6 Diesbezüglich einschlägige Belege bieten u. a. die in vorliegendem Band enthaltenen Beiträge von Kurzmann (u. S. 266) und Huck (u. S. 191). 7 Christian Scriver: Gottholds Zufällige Andachten/ Bey Betrachtung mancherley Dinge der Kunst und Natur in unterschiednen Veranlassungen […]. Leipzig 1671, S. 1. 8 Johannes Gigas: Vom Jüngsten Tage vnd Deutschem Lande: Eine kurtze Predigt. Frankfurt a. d. O. 1567, fol. B 1r. 9 Ägidius Hunnius: Ausführlicher Bericht/ VOn der Visitation der Kirchen im hochlöblichen Herzogthumb Lignitz in der Schlesien. […]. Wittenberg 1593, S. 99.

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zeichnung des iudicium extremum als „das liebe Jüngste Gericht“10 findet. Zum ‚lieben Jüngsten Tag‘ äußern sich etwa auch der Fraustädter Pastor Valerius Herberger (1562–1627) in seiner oftmals gedruckten Evangelischen Herz-Postilla11 sowie der Hamburger Hauptpastor an St. Jacobi, äußerst populäre Prediger und geistliche Schriftsteller Johann Balthasar Schupp (1610–1661) am Ende seiner Abgenötigten Ehren-Rettung in einer Formulierung, die in ein Zitat aus Philipp Nicolais (1556–1608) Lied „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ mündet: Soll es aber ja in dieser Welt nicht besser werden, wohlan, so brich doch einmal, du lieber Himmel, falle über einen Haufen, du liebe Erde, komm, du lieber Jüngster Tag, da alle meine Traurigkeit wird in Freude verwandelt werden. Komm, du schöne Freuden-Krone, bleib nicht lange, deiner wart ich mit Verlangen.12

Einschlägig diesbezüglich ist neben der Gebetsliteratur, so etwa der Morgensegen in Johann Arndts (1555–1621) Paradies-Gärtlein,13 erwartbarerweise auch die geistlich-lyrische Textproduktion des 16. und 17. Jahrhunderts sowie näherhin die Kirchenlieddichtung.14 Was das Reformationsjahrhundert anlangt, dürfte einen nicht unbeträchtlichen Anteil an der höchst eindrücklichen Ausbreitung der Rede vom ‚lieben 10 Johann Melchior Vetterlein: Geistlich- und GOtt wohlgefälliges Lob- und Danck-Opffer/ Welches aus dem CL. Psalm Davids/ in einer einfältigen Orgel-Predigt/ Bey Einweyhung der Neuen Orgel zu Bindlach […] vorgestellet […]. Bayreuth 1680, S. 36. 11 Vgl. Valerius Herberger: Evangelische HertzPOstilla […] Erster Theil/ Jn welcher Alle ordentliche Sonntags-Evangelia und auch aller fürnehmen berühmten Heiligen gewöhnliche FeyertagsTexte/ durchs gantze Jahr aufgeklitschet/ der Kern ausgeschelet/ aufs Hertze andächtiger Christen geführet/ und zu heilsamer Lehre/ nothwendiger Warnung/ nützlichem Troste/ andächtigem Gebet/ unsträfflichem Leben/ und seliger Sterbens-Kunst abgerichtet werden […]. Leipzig 1691 [11613], S. 16: „Endlich, weil unser Seligmacher die himmlische Freude das Reich Gottes nennet, so gibt er deinem Herzen zu bedenken, daß du dich auf den lieben Jüngsten Tag magst freuen […].“ 12 Johann Balthasar Schupp: Streitschriften. Zweiter Teil. Abdruck der jeweils ältesten Ausgabe mit den Varianten der Einzeldrucke und der ältesten Gesamtausgabe der deutschen Schriften. Hg. von Carl Vogt. Halle/S. 1911 (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 225 f.), S. 138. 13 Vgl. z. B. Johann Arndt: Paradiß Gärtlein/ Voller Christlicher Tugenden/ wie dieselbige in die Seele zu pflantzen/ Durch Andächtige/ lehrhaffte vnd tröstliche Gebet/ zu ernewerung des Bildes Gottes/ zur vbung des wahren lebendigen Christenthumbs/ zu erweckung des newen Geistlichen Lebens/ zur dancksagung für allerley Wolthaten Gottes/ zum Trost in Creutz vnd Trübsall/ zur heyligung/ lob vnd preys des Namens Gottes […]. O. O. 1612, S. 192: „[…] behüte meine Seele und meinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit, beschere mir ein seliges Ende und laß mich des lieben Jüngsten Tages und der Erscheinung der Herrlichkeit meines Herrn Jesu Christi mit Verlangen und Freuden erwarten.“ Auch in Arndts Postilla sowie in seinen Predigten über den Psalter finden sich Belege für den ‚lieben Jüngsten Tag‘. 14 Auffällig ist, daß in Johann Rists geistlichen Texten recht häufig vom ‚lieben Jüngsten Tag‘ die Rede ist, allerdings stets in prosaischer, nicht aber in lyrischer Form. Vgl. die u. S. 191, Anm. 73 in Oliver Hucks Beitrag angeführten Belege.

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Jüngsten Tag‘ Erasmus Alberus’ (ca. 1500–1553) Von den Zeichen des Jüngsten Tags: Ein schön Lied15 gehabt haben. Das Lied wurde zuerst im Jahre 1548 mit einer vierstimmigen Komposition Johann Walthers (1496–1570) als Einzeldruck publiziert und fand hernach Aufnahme in einige kleinere Liedersammlungen sowie in zahlreiche Gesangbücher. Der Text macht in dreizehn Strophen signa des nahe bevorstehenden Jüngsten Tages namhaft und nutzt hierfür den dreizehnmal an den Strophenenden stehenden Kehrvers „Das ist ein Zeichen für [= vor] dem Jüngsten Tag“. So deutet etwa die erste Strophe den Umstand, daß das mit der Reformation erneut ans Licht getretene Evangelium von vielen nicht angenommen wird, als Zeichen des kurz bevorstehenden Jüngsten Tages, während die zweite Strophe das Streben nach finanziellem Gewinn und die trügerische Sorglosigkeit der Menschen als Hinweise darauf ansieht, daß das Jüngste Gericht bald stattfinden wird: Gott hat das Euangelium Gegeben, daß wir werden frumm, Die Welt acht’ solchen Schatz nicht hoch, Der mehrer [= größere] Teil fragt nichts danoch, Das ist ein Zeichen für [= vor] dem Jüngsten Tag. Man fragt nichts nach der guten Lehr’, Der Geiz und Wucher nun viel mehr Hat überhand genommen gar, Noch sprechen sie, es hat kein Fahr [= Gefahr], Das ist ein Zeichen vor dem Jüngsten Tag.

Erst in der letzten Strophe, in der das lyrische Ich von Christus die Beendigung des alten Äon erbittet, erfährt dieser Kehrvers eine Änderung und transmutiert in die getroste Bitte: „Darum mach’s einmal mit ihr [= der Erde] ein End’| Und laß uns sehn den lieben Jüngsten Tag.“ Überblickt man das bezüglich der Topik des ‚lieben Jüngsten Tages‘ einschlägige Quellenmaterial, fällt auf, daß in ihm die Ausschau auf die ewigen Höllenstrafen derjenigen nicht auch nur ansatzweise im Vordergrund steht, die der Richter Christus dereinst der Verwerfung anheimgeben wird. Vielmehr artikuliert sich hier die brennende und getroste Sehnsucht nach der grundstürzender nicht denkbaren Kehrtwende am Jüngsten Tag, die gänzlich anderes glaubend erhofft. Denn erwartet wird der ‚liebe Jüngste Tag‘ als ein Datum, das der altgewordenen und immer noch von den Verderbensmächten bestimmten Welt endlich und endgültig ein Ende setzen wird. Erhofft wird somit das Ende der Welt, die selbst als Hölle erfahren wird, weil sie zutiefst von Kriegen, Seuchen, Natur-

15 Erasmus Alberus: Von den Zeichen des Jüngsten Tags: Ein schön Lied. [Wittenberg] 1548.

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katastrophen, Hungersnöten, Himmelserscheinungen und von sich hieraus ergebenden leiblichen und seelischen Nöten geprägt ist. Innerhalb dieser kontrafaktischen, weil getrosten Blickrichtung auf das Jüngste Gericht verkehren sich auch die vor der Hand die Gewissen der Menschen terrorisierenden apokalyptischen Vorzeichen des Jüngsten Tages in ihr krasses Gegenteil. Um dies zu erläutern, bezieht sich Luther u. a. auf Lk 21,25– 28. Hier kündigt der Sohn Gottes bekanntlich an, es würden Zeichen an den Himmelskörpern sichtbar werden, ein Tsunami eintreten und den Menschen bange werden, und läßt dieses Schreckensszenario münden in den erstaunlichen Imperativ: „Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, so sehet auf und erhebet eure Häupter, darum daß sich eure Erlösung naht“ (Lk 21,28). Hernach parallelisiert Jesus die apokalyptischen Vorzeichen des Jüngsten Tages mit den Knospen am Feigenbaum, die den nahe bevorstehenden Sommer ankündigten. Luther kommentiert diesen Text folgendermaßen: Denn wer hat je gehöret, daß das heiße Bäume ausschlagen und blühen, wenn Sonn’ und Mond ihren schein verlieret, Himmel und Erden krachet, die Leute beben und zittern, Luft, Wasser und alle Kreaturn sich so stellen, als wolle es jetzt alles zugrund’ gehen? Heißt das anfangen zu grünen und Sommer werden, so ist es ein seltsame Sprache und neue Grammatica. Ich meinete, es sollt vielmehr heißen das Widerspiel [= Gegenteil], einen rauhen, kalten, toten Winter kommen, der alle Frucht und, was da wächst, verderbet. Aber Christus ist ein ander Meister, der anders von Sachen kann reden und besser trösten denn wir, machet aus dem unfreundlichen Anblick ein lieblich, tröstlich Bild und eine schöne, köstliche interpretatio aus der rhetorica und deutet’s so, daß, wenn ich sehe Sonn und Mond finster, Wasser und Wind brausen und beide, Berg und Tal, umreißen, soll ich sagen: Des sei Gott gelobt! Es will nun Sommer werden.16

Was die Predigt Jesu in Lk 21 zum Gegenstand hat, ist mithin Luther zufolge nichts weniger als die Konstitution einer nova grammatica und einer nova rhetorica, mithin eine Umwertung und Neuwerdung des Triviums im Lichte des Glaubens, die es überhaupt erst ermöglichen, das vor der Hand als Terrorakt der göttlichen Justiz erscheinende Jüngste Gericht als tröstliches Ereignis in den Blick zu nehmen. Conditio sine qua non hierfür aber ist die sich aus Joh 5,24 ergebende Gewißheit, daß das Gericht den Glaubenden nicht zur Verdammung gereicht, weswegen es Luther zufolge notwendig ist, in der Situation der Anfechtung und zumal im Angesicht des Todes die Augen zu verschließen vor der schrecklichen Sichtweise des Gerichts gemäß der alten Grammatik, mit der die gestrige – mithin nicht durch den Glauben erleuchtete – Vernunft wieder um die Ecke kommt:

16 Luther, WA 34/II,480,14–26.

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Darum muß man die Augen zutun und ganz bloß an dem Worte hangen. Denn wenn’s ans Sterben kommen wird, da wird sich die Vernunft aufsperren, inwendig und auswendig umsehen, und wenn sie denn siehet ihre Sünde in dem Gewissen und siehet das Gericht Gottes und den Tod vor Augen, so kann sie sich nicht erhalten, sie muß allda verzweifeln, so ist’s denn aus. Wie soll man ihm aber tun? Die Vernunft muß man zutun und blenden, und ob man gleich auswendig noch inwendig nichts fühlet denn eitel Sünde, dennoch muß man bloß an Gottes Wort hangen, das ist denn das Leben. Wer sich so dran hänget, den zieht es durch Tod und Hölle hinweg, daß man der keines nicht fühlet, wie Christus im Johannes selbst spricht: ‚Wahrlich, wahrlich, sag’ ich euch: Wer mein Wort höret und glaubet dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen‘.17

Nicht nur im 16. und 17., sondern (mit offenbar mitnichten abnehmender Tendenz) auch im 18. und 19. Jahrhundert war vom ‚lieben Jüngsten Tag‘ die Rede, etwa bei Johann Jacob Moser (1701–1785),18 Johann Gottfried Herder (1744– 1803),19 Heinrich Gottlieb Zerrenner (1750–1811)20 und Johann Peter Hebel (1760–1826)21 sowie mit besonderer Häufung bei lutherischen Predigern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Was den Pietismus anlangt, ist zu konstatieren, daß Philipp Jakob Speners (1635–1705) eschatologischer ‚Neuansatz‘ und seine „Abkehr“ von Luthers bzw. der barock-lutherischen Naherwartung22 keineswegs eine Abschwächung des besagten Topos zeitigte, wie zuweilen behauptet wurde. Im Gegenteil ist gar zu konstatieren, daß Spener selbst von „jenem Tag“ als dem „lieben Jüngsten Tag“23 sprach – etwa in seinen Predigten, aber auch (anders als der Reformator selbst) als Katechet, wie Speners Bearbei17 Luther, WA 21,149,27–150,2. 18 Vgl. Johann Jacob Moser: Gesammlete Lieder, So zum Theil schon vormals gedruckt, zum Theil aber bisher ungedruckt gewesen; Mit gedoppelten Register. Bd. 1. O. O. 1766, S. 542, die achte und letzte Strophe des Liedes: ‚Ich glaub’s und will darauf mit allen Freuden sterben‘: „Ach Vater, laß dein Reich | nunmehro bald erscheinen. | Herr Jesu, komm doch, komm! | Komm zu dem Heil der Deinen! | O lieber Jüngster Tag, | brich an und komm herzu! | Bring Jesu Gliederschaft | Zur vollen Freud und Ruh.“ 19 Vgl. Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 29. Berlin 1889, S. 528. 20 Vgl. Heinrich Gottlieb Zerrenner: Predigten, ganz und stückweise, für die lieben Landleute. Bd. 1. Magdeburg 1810, S. 123. 21 Vgl. Johann Anselm Steiger: Bibel-Sprache, Welt und Jüngster Tag bei Johann Peter Hebel. Erziehung zum Glauben zwischen Überlieferung und Aufklärung. Göttingen 1994 (Arbeiten zur Pastoraltheologie 25), S. 231. 22 Vgl. Johannes Wallmann: Reformation, Orthodoxie, Pietismus. In: Ders.: Pietismus und Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze III. Tübingen 2010, S. 1–21, hier S. 19. Dietrich Blaufuß: Pietismus. Religiöse Reformbewegung zwischen Weltenthaltung und Weltgestaltung. In: Morgen-Glantz 15 (2005) S. 111–136, hier S. 122. 23 Philipp Jakob Spener: Frommer Christen Pflicht und Gnaden-Lohn […] [= Leichenpredigt auf Johann Georg Grambs]. Frankfurt a. M. 1668, S. 25. Vgl. das erneute Vorkommen auf S. 26. Vgl. auch ders.: Glaubiger Kinder GOttes Seeligkeit […] [= Leichenpredigt auf Johann Adolph Kellner]. Frankfurt a. M. 1667, S. 27.

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tung von Luthers Kleinem Katechismus zu entnehmen ist.24 Festzuhalten jedenfalls bleibt, daß der ‚liebe Jüngste Tag‘ bei Spener weitaus häufiger begegnet als bei Luther. Auffällig ist die hohe Rekurrenz der Rede vom ‚lieben Jüngsten Tag‘ in Texten lutherischer Provenienz, der deutlich weniger Belegstellen in deutschsprachigkatholischen Publikationen gegenüberstehen, etwa in denjenigen des Abraham a Sancta Clara (1644–1709) bzw. in Texten, die unter seinem Namen publiziert wurden.25

II. Zum Jüngsten Gericht gemäß den Werken der Barmherzigkeit Das heute recht weitverbreitete Mißverständnis, Luthers Theologie sehe kein Gericht nach den Werken vor, kann sich auf die Schriften des Reformators nicht berufen und stützt sich daher nicht selten auf die kaum plausibilisierbare These, Luther habe hie und da noch ein herkömmlich-mittelalterliches Verständnis promulgiert, mithin schlicht gewisse überkommene Eierschalen nicht oder nicht konsequent genug abgelegt. Dem entgegen steht allerdings z. B. Luthers Deutung von Mt 25,31–46. Dieser Text vom Großen Endgericht mit doppeltem Ausgang dient Luther zufolge der Erinnerung daran, daß die von Gott in Christus erwiesene Barmherzigkeit und die durch seinen Kreuzestod erworbene Erlösung vom ewigen Tod auch eine exemplarische, also eine Vorbild stiftende Funktion haben.26 Jesu Gerichtsrede über die Werke der Barmherzigkeit evoziert laut Luther die Erkenntnis,

24 Vgl. Philipp Jakob Spener: Einfältige Erläuterung Der Christlichen Lehr/ Nach der Ordnung deß kleinen Catechismi deß theuren Manns GOttes LUTHERI. […]. Frankfurt a. M. 1687, S. 483. 25 Vgl. z. B. [Ps-]Abraham a Sancta Clara: Besonders meublirt- und gezierte Todten-Capelle/ Oder Allgemeiner Todten-Spiegel/ Darinnen Alle Menschen/ wes Standes sie sind/ sich beschauen/ an denen mannigfältigen Sinn-reichen Gemählden das MEMENTO MORI zu studiren/ und die Nichtigkeit und Eitelkeit dieses Lebens Democriticè oder Heracliticè, Das ist: Mit lachendem Mund/ oder thränenden Augen/ wie es beliebt/ können betrachten und verachten lernen. Nürnberg 1710, S. 179. Vgl. Franz M. Eybl: Art. Abraham a Sancta Clara. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1620–1720. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Stefanie Arend, Bernhard Jahn, Jörg Robert, Robert Seidel, Johann Anselm Steiger, Stefan Tilg, Friedrich Vollhardt. Bd. 1. Berlin u. a. 2019, Sp. 7–28. Eybl weist ebd., Sp. 12 und 19 darauf hin, daß es sich bei der TodtenCapelle um eine Schrift handelt, die zwar ihrem „Inhalt“ (Sp. 19) nach auf Abraham a Sancta Clara zurückgeht, er jedoch nicht als ihr Autor im engeren Sinne anzusehen ist, weswegen sie den Pseudo-Abrahamiana zuzuweisen sei. 26 Vgl. hierzu Kurzmann (Anm. 1).

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Abb. 1: Danzig, St. Marien, Almosentafel (1607), Gesamtansicht.

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daß, weil er uns solche Barmherzigkeit erzeigt, daß wir nicht an Leib und Seele verloren sind, so sollen wir gegen unserm Nächsten auch also tun, auf daß wir nicht wider das fünfte Gebot handeln, welches eigentlich die Liebe und Barmherzigkeit fordert […].27

Zuweilen wird Luther in der Absicht, seine Hörer zu ermahnen, freilich noch deutlicher, beispielsweise wenn er diesen ihre Vorfahren als positive Exempel vor Augen führt, die zahlreiche gute Werke getan haben, wenngleich in der Irrmeinung, dadurch einen Beitrag zu ihrem Seelenheil zu leisten.28 Hieraus erklärt sich, weswegen nicht nur in frühneuzeitlich-lutherischen Textmedien, sondern auch in geistlichen Bildwerken – nicht zuletzt in Kirchenräumen – recht häufig die Sieben Werke der Barmherzigkeit thematisiert werden, so z. B. in der Schloßkapelle zu Celle29 sowie in der von Anton Möller d. Ä. (ca. 1563–1611) im Jahre 1607 geschaffenen Danziger Almosentafel (Abb. 1).30 Am unteren Rand des Hauptbildes (Abb. 2) liegt ausgestreckt eine weibliche Gestalt, die den Glauben (fides) verkörpert. Sie hält einen Crucifixus in der rechten Armbeuge und hat einen Abendmahlskelch in der linken Hand. Aus dem Herzen der fides wächst ein Baumstamm hervor, der in die ebenfalls personifiziert dargestellte Liebe (caritas) übergeht. Gängiger ikonographischer Tradition verpflichtet, ist caritas mit Kindern abgebildet, deren kleinstes sie auf dem rechten Arm trägt, während die übrigen rechts und links von ihr angeordnet sind. Die beiden Kleinkinder rechts, die einander die Hände reichen, kennzeichnete Möller durch Schriftbänder als Personifikationen der Eintracht (concordia) bzw. des Friedens (pax). Im Kontrast hierzu stehen die beiden Kinder links: Ein Mädchen erschreckt einen kleinen Knaben, der ein Steckenpferd zwischen den Beinen hat und Schutz unter dem Gewand der caritas sucht: Das Mädchen hält dem Jungen eine fauchende Katze vor Augen. Die Komposition des Gemäldes variiert deutlich erkennbar nicht nur das Bildformular der Schutzmantelmadonna, an deren Stelle die unter ihrem Mantel Zuflucht gewährende caritas tritt,31 sondern auch dasjenige der Wurzel Jesse. Denn aus der caritas wachsen Zweige, die in sieben Medaillons münden, in denen die Sieben Werke der Barmherzigkeit szenisch wiedergegeben sind. Hiermit 27 Luther, WA 22,418,16–20. 28 Vgl. Luther, WA 22,416,4–15. 29 Vgl. Johann Anselm Steiger: Die Schloßkapelle in Celle. Ein Bild- und Schriftraum der Reformation. Dokumentation sämtlicher Bildwerke und Inschriften in ihren Kontexten. Regensburg 2018, S. 117–121. 30 Vgl. Johann Anselm Steiger: Gedächtnisorte der Reformation. Sakrale Kunst im Norden (16. bis 18. Jahrhundert). 2 Bde. Regensburg 2016, Bd. 1, S. 193–197. 31 Zu beachten ist freilich, daß auch die caritas-Ikonographie auf mittelalterliche Wurzeln zurückgeht. Vgl. hierzu Edgar Wind: Charity. The case history of a pattern. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 1 (1937/38), S. 322–330. Robert Freyhan: The evolution of the caritas figure in the thirteenth and fourteenth centuries. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 11 (1948), S. 68–86.

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Abb. 2: Detail: Hauptgemälde.

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wird einerseits Bezug genommen auf die Gerichtsszene in Mt 25,35–46 und auf Jesu in diesem Text überlieferte Endzeitrede über die ersten sechs Werke der Barmherzigkeit. Andererseits gerät so das apokryphe Buch Tobias in den Blick, in dem berichtet wird, daß der alte Tobias ein gottesfürchtiger und frommer Mensch gewesen sei, der die unter der Terrorherrschaft des assyrischen Königs Sanherib im Exil erschlagenen Israeliten trotz strikten Verbots nachts heimlich begrub (Tob 1,20 f.; 2,3). Nachhaltige Wirkung entfaltete dieser Aspekt der Tobias-Erzählung insofern, als die Bestattung der Toten (schon im antiken Christentum) Aufnahme in die Liste der Sieben Werke der Barmherzigkeit fand. Die Medaillons zeigen folgende Werke der Barmherzigkeit (im Uhrzeigersinn, links unten beginnend): die Speisung der Hungrigen, die Tränkung der Dürstenden, die Bekleidung der Nackten, die Pflege der Kranken, den Besuch der Gefangenen, die Beherbergung Fremder und abschließend die Totenbestattung. Hinterfangen wird die Szene von einer Gloriole, welcher der hebräische Gottesname in Form des Tetragramms eingeschrieben ist. Präziser als in vorliegendem Gemälde läßt sich die lutherische Rechtfertigungslehre und deren Verhältnisbestimmung von Glaube und guten Werken kaum fassen, innerhalb deren die Werke der Nächstenliebe als Früchte der Gnade verstanden werden. Immer wieder hat Luther betont, daß nicht die guten Früchte den Baum gut machen, vielmehr gelte umgekehrt, daß ein Baum reiche Frucht trägt, weil er gut ist. Da siehst du, daß nicht die Früchte den Baum gut machen, sondern ohne alle Früchte und vor allen Früchten muß der Baum vorhin [= vorher] gut sein oder gut gemacht werden. Wie er [Christus] auch sagt Mt 12,33 f.: ‚Macht entweder den Baum gut, so werden die Früchte gut, oder macht den Baum böse, so wird die Frucht böse. Wie könnt ihr Gutes reden weil [= solange] ihr böse seid?‘ Also ist’s stracks wahr, daß der Mensch ohne alle guten Werke und vor allen guten Werken muß zuvor fromm sein, daß es klar ist, wie unmöglich es sei, daß er durch Werke sollt’ fromm werden, wo er nicht zuvor fromm ist, ehe er die guten Werke tut.32

In Mt 25,31–46 steht Jesu Rede von den Werken der Barmherzigkeit im Zusammenhang mit der Ankündigung des letzten göttlichen Gerichts. Diesem Kontext trägt das Danziger Kunstwerk Rechnung: Im Bogenfeld über der Darstellung der Werke der Barmherzigkeit ist Christus als Weltenrichter in Szene gesetzt (Abb. 3), von dessen Mund eine Lilie und ein Schwert ausgehen. In diesem Bilddetail folgte Möller einem seit dem Mittelalter gängigen Bildformular, das beispielsweise im Kirchenraum von St. Marien in Gestalt der Mitteltafel von Hans Memlings (gest. 1494) Triptychon des Weltgerichts, das sich heute im Nationalmuseum in Danzig befindet, gegenwärtig war (Abb. 4) und noch heute in

32 Luther, WA 10/III,284,10–19.

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Abb. 3: Detail: Gemälde im Bogenfeld der Almosentafel.

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Abb. 4: Hans Memling: Triptychon des Weltgerichts (ca. 1467–1471), Mitteltafel, Detail (Muzeum Narodowe w Gdańsku).

Form eines mittelalterlichen Freskos im Kirchenraum präsent ist (Abb. 5). Das Schwert (vgl. Jes 49,2, Apk 1,16) steht als Symbol für das verdammliche Urteil, dessen Vollzug folgerichtig in der rechten unteren Bildhälfte wiedergegeben ist, während die Lilie das Wort der Barmherzigkeit verkörpert, mittels dessen der Richter den Erwählten den Eingang zum ewigen Leben gewährt. Luther hatte sich in seinen Schriften mehrfach kritisch gegen die Darstellung Jesu Christi als Richter gewandt. Verbunden mit der altgläubigen Auffassung, ein jeder habe selbst durch das Tun guter Werke zu seinem Seelenheil maßgeblich beizutragen, erschien ihm dieses Bildmotiv als Schreckensbotschaft. Auf diese Weise gerate aus dem Blickfeld, daß Christus als Hoherpriester fungiere, der sich mit seiner Fürbitte bei Gottvater für die Menschen einsetzt.

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Abb. 5: Danzig, St. Marien, Fresko.

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Aus diesem allen siehest du nun, welch ein schändlicher und schädlicher Greuel es ist um des Papsts Lehre, da man die Leute so gar nichts von diesem Priestertum Christi gelehret hat, ja zum Widerspiel [= im Gegenteil] ihn als einen schrecklichen Richter fürgehalten und seinen strengen und ernsten Zorn so eingebildet, daß sie mußten vor ihm fliehen, und solches so tief in die Herzen getrieben, daß ich und andere erschrecken mußten, wenn wir den Namen Christi höreten. Denn wir waren alle dahin geweiset, daß wir müßten selbst genugtun für unsere Sünde und Christus am Jüngsten Tage würde von uns Rechnung fordern, wie wir die Sünde gebüßet und wieviel guter Werke wir getan hätten.33

Luther war die Abbildung des Sohnes Gottes als Richter mit Schwert und Lilie äußerst vertraut. Sie begegnete ihm etwa als Sandsteinrelief regelmäßig am Eingang des Kirchhofs der Wittenberger Stadtkirche – heute befindet sich das aus dem 14. Jahrhundert stammende Bild in der Sakristei der Stadtkirche. Freilich stellt Luthers bildkritische Argumentation nur gewissermaßen die eine Seite seines Umgangs mit dem überkommenen Motiv des Richters Christus mit Schwert und Lilie dar. Denn Luther hat zugleich für eine Verschärfung dieser Bildtradition plädiert: Wenn schon, dann müsse der Sohn Gottes als letzter Richter der Welt nur mit „Schwert, Knüttel, Rute oder Prügel“34 ins Bild gefaßt und die Lilie weggelassen werden, damit deutlich werde, daß Christus sein Regiment allein mit dem Wort führt.35 Tatsache freilich ist: Der besagten mittelalterlichen Bildtradition war im frühneuzeitlichen Luthertum ein vergleichsweise reges Fortleben beschieden, wie exemplarisch anhand von Möllers Almosentafel, aber beispielsweise auch aus 33 Luther, WA 41,197,35 f.; 198,23–29. 34 Luther, WA 46,730,30. 35 Vgl. Luther, WA 46,730,25–731,20: „Wie denn der Herr Christus auch im Papsttum ist gemalet worden, daß aus seinem Munde ein Schwert auf einer Seiten gehe und ein Lilienzweig auf der andern Seiten, und daß er die Spitzen des Schwerts gegen den Menschen kehren solle. Aber man hat Christum nicht recht gemalet, sondern also sollt’ er contrafeiet worden sein, daß ein Schwert, Knüttel, Rute oder Prügel aus seinem Munde ginge, gleichwie in der Offenbarung Johannis am ersten Kapitel der Evangelist einen Mann siehet, aus des Munde ging ein scharf, zweischneidig Schwert, und sein Angesicht leuchtet wie die helle Sonne (Apk 1,16). Und also ist er auch im Jesaja Kapitel 11 gemalet, daß er werde die Erde schlagen mit der Rute und Schwert seines Mundes (Jes 11,4). Und in der Offenbarung Johannis am 19. Kapitel wird gesagt, daß, die das Tier angebetet haben, sind in den feurigen Pfuhl geworfen, und die andern wurden erwürget mit dem Schwert des, der auf dem Pferde saß, das aus seinem Munde ging (Apk 19,11–15) etc. Es ist aber ein Schwert, das ihme nicht in den Mund hineinging, sondern das herausgehet, bedeutet, er solle sein Reich oder Schwert im Munde führen, denn Christus nicht sein Regiment, Schwert und Rute in der Faust führen werde, das denn gehört den Eltern, die sollen die Rute brauchen, die Obrigkeit und Meister Hans, der Henker, sollen das Schwert führen. Sondern es soll heißen eine Mundrut oder Mundschwert, und also nennet St. Paulus auch Gottes Wort des Geistes Schwert (Eph 6,17) und will St. Paulus da Christum und alle Prediger des göttlichen Worts abmalen, wie sie sich halten sollen, nämlich, daß sie die Leute lehren werden durch das Schwert des Mundes, durch das Schwert des Geistes oder durchs göttliche Wort, und das ist die Rute, damit man strafet und schilt, die auch soll aus dem Munde gehen, wie Jesaja spricht, er werde mit der Rute seines Mundes das Land schlagen und den Gottlosen töten, nennet die Rute des Mundes das Wort Gottes.“

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Abb. 6: Danzig, St. Marien, Gemälde am Epitaph für Hans Gronau d. Ä. (1612).

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dem ebenfalls in St. Marien zu Danzig hängenden Epitaph für Hans Gronau d. Ä. (1518/19–1600) ersichtlich wird (Abb. 6). Das Gemälde im Bogenfeld von Möllers Danziger Almosentafel stellt Christus dar, der das letzte Gericht abhält und diejenigen, die in das ewige Leben eingehen, von denen scheidet, die in die ewige Verdammnis verstoßen werden. Unterhalb des Hauptbildes finden sich auf zwei benachbarten Schrifttafeln zahlreiche lateinische und deutsche Bibelsprüche. Auf der linken Tafel sind zwei neutestamentliche Zitate und eines aus dem Alten Testament zu lesen, die allesamt die Relevanz der christlichen Nächstenliebe in den Vordergrund heben: In CHRISTO IESU valet FIDES: qvae per Charitatem operatur. Galat. V. v 6. Nunc manet Fides, Spes, Charitas: tria haec: maxima autem harum Charitas. 1 Cor: XIII. v 13. Frange esurienti panem tuum: et egenos vagosque induc in domum tuam: cum videris nudum, operi eum: & carnem tuam ne despexeris. Tunc erumpet qvasi manè lumen tuum: et sanitas tua citius orietur, et anteibit faciem tuam iustitia tua, & gloria DOMINI colliget te. Esaiae LVIII. v 7. 8.

Ergänzt wird das Inschriftenprogramm auf der rechten Seite durch drei deutschsprachige Verse, von denen drei alttestamentlichen Ursprungs sind (Ps 41,2–4, Prv 3,27 und 19,17) und einer aus dem Neuen Testament stammt (Mt 25,40). Wol dem/ der sich des Dürfftigen annimbt/ den wird der Herr erretten zur bösen Zeit. Der Herr wird ihn bewaren/ vnd beim leben erhalten/ vnd ihm laßen wolgehen auff Erden/ vnd nicht geben in seiner Feinde willen. Der Herr wird ihn erquicken auff seinem Siechbette Psalm: xlj. vers: 2. 3. 4. Wegere dich nicht dem Dürfftigen guts zu thun/ so deine hand von Gott hat solchs zu thun. Proverbiorum Cap: iii. vers: 27. Wer sich des Armen erbarmet/ der leihet dem Herrn/ der wird ihm wider gutts vergelten. Proverbiorum Cap: xix. v: 17. Warlich ich sage euch/ was ihr gethan habt einem vnter diesen meinen geringsten Brüdern/ das habt ihr mir gethan. Matth: xxv. vers: 40.

Die intertextuelle Verschaltung der beiden zuletzt zitierten Verse (Mt 25,40 und Prv 19,17) begegnet in frühneuzeitlichen Texten, die sich mit den Werken der Barmherzigkeit befassen, außerordentlich häufig, insbesondere auch in den sog. Almosenpredigten.36 Hier ist eine Traditionslinie erkennbar, die u. a. auf Luthers Schriften zum Wucher zurückführbar ist, in denen der Reformator im Sinne von Prv 19,17 einen spezifischen, d. h. einen mit der Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnade und ohne verdienstliche Werke kompatiblen Lohn36 Vgl. Steiger, Gebet (Anm. 41), S. 64–67.

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gedanken erarbeitet.37 Mit Bezug auf Prv 19,17 legt etwa Heinrich Müller (1631– 1675) dar, daß Investitionen in den karitativen Bereich hohe Zinserträge im Himmel erwirtschaften – unter der Voraussetzung, dass die sich hierin konkretisierende Nächstenliebe von Herzen kommt, mithin allein aus dem Glauben resultiert und nicht die verfehlte Meinung vorliegt, durch gute Werke könne man Gottes Gnade verdienen. Jede andere, weltliche Anlagestrategie dagegen habe stets mit dem Totalverlust der Investition zu rechnen – anders als im Himmel, in dem es einen festen, sogar unvergleichlich hohen Zinssatz gebe.38 Nur unter völliger Absehung von jeglichem Verdienstgedanken kann demnach im Sinne Johann Gerhards (1582–1637) vom „selige[n] Wucher“39 die Rede sein, in den der Glaubende mit Gott durch das Tun der Werke der Barmherzigkeit eintritt. Der lyrische Text, der an der Danziger Almosentafel unten in einem ovalen Medaillon untergebracht ist,40 liefert dem Betrachter die Nutzanwendung der darüber befindlichen intermedialen Bild- und Textkomposition und will ihn motivieren, für die Bedürftigen der Stadt eine Gabe in den Opferstock einzulegen. Für ihr soziales und karitatives Engagement wird den Gebern sowohl irdische als auch ewige Vergeltung in Aussicht gestellt, wie dies häufig auch an den ähnlich gearteten frühneuzeitlichen Lazarus-Tafeln der Fall ist.41 Außerdem informiert dieser Text darüber, auf wessen Anstoß hin die Almosentafel errichtet wurde. Dies hatten die vom Rat der Stadt Danzig eingesetzten „Pfleger der Hausarmen“ erwirkt, also diejenigen, die sich im Auftrag der Stadt um die Belange und die Unterstützung der Armen zu kümmern hatten und mit dazu beitrugen, daß Danzig über eine (weit über seine Grenzen hinaus bekannte) höchst fortschrittliche Sozialfürsorge verfügte.42

37 Vgl. z. B. WA 51,420,7–9. 38 Vgl. Steiger, Gebet (Anm. 41), S. 64 f. 39 Johann Gerhard: Postilla (1613), Teil 3: Trinitatis bis 27. Sonntag nach Trinitatis. Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2017 (Doctrina et Pietas I, 7, 3), S. 77, Z. 13. 40 „All Christen so dis Bild ansehn/ | Wollen wißen vnd recht verstehn; | Das die Pfleger der Haußarmen | Solchs auffgericht zum erbarmen | Gutter fromer hertzen gemein/ | Das sie möchten erinnert sein | Jhrer gebüer [= Pflicht]/ vnd dencken dran/ | Wie Gott will gutts bewiesen han | Am Nechsten/ vnd insonderheit | An denen die mit Dürfftigkeit | Vnd Armut hart beschweret sein: | Drumb öffne hier das Hertze dein | Vnd leg ein Gab in Kasten hier | Den Hausarmen zu hulff/ solchs dir | Vergelten wird Christus der Herr | Hie zeitlich v[nd] dort noch viel mehr.“ 41 Vgl. Johann Anselm Steiger: Das Gebet im Zeitalter der Reformation und des Barock. Ein Beitrag zu Martin Luther und Heinrich Müller sowie zur Bildtradition des armen Lazarus. Neuendettelsau 2013, S. 63–90, 165–191. 42 Vgl. Zdzisław Kropidłowski: Selbsthilfe und Armenfürsorge in Danzig, Thorn und Elbing vom 16. bis 18. Jahrhundert. In: Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils. Hg. von Sabine Beckmann, Klaus Garber. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 103), S. 197–209.

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Abb. 7: Meister von Alkmaar: Gemäldezyklus zu den Sieben Werken der Barmherzigkeit (1504), Besuch der Kranken (Rijksmuseum Amsterdam).

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Auf ein Detail der bildlichen Darstellungsweise der Werke der Barmherzigkeit in den sieben Medaillons der Danziger Almosentafel ist an dieser Stelle noch aufmerksam zu machen: Einer bereits vorreformatorischen ikonographischen Tradition gemäß, wie sie beispielsweise in dem 1504 geschaffenen Zyklus von Öltafelgemälden des Meisters von Alkmaar (wirkte 1490–1510) vor Augen tritt (Abb. 7),43 ist der nimbierte Heiland in allen sieben Verbildlichungen der Werke der Barmherzigkeit präsent. Ist Christus im betr. Gemälde des Meisters von Alkmaar, welches dem Besuch der Kranken gewidmet ist, gewissermaßen in zweiter Reihe und somit als (nicht auf den ersten Blick ins Auge fallender) Beobachter bzw. Besucher der im Hospital befindlichen Kranken in Szene gesetzt, liegt in dem diesbezüglichen Medaillon in Möllers Almosentafel ein deutlich erkennbarer Rollentausch vor. Denn hier ist der Sohn Gottes nicht Besucher, sondern liegt selbst im Krankenbett (Abb. 8), womit der Logik von Mt 25 sehr viel stärker entsprochen wird, wonach Christus in den Kranken (zunächst unerkannt) präsent ist. Auf diese Weise sowie im Miteinander der Darstellungen der Sieben Werke der Barmherzigkeit einerseits und des von Christus abgehaltenen Jüngsten Gerichts andererseits wird in Möllers Gemälde in interpikturaler Weise ein spezifisches Moment im Textgefälle von Mt 25,31–46 berücksichtigt. Es handelt sich ja um einen Text, der Christus – im Sinne einer Vorwegnahme – als einen solchen auftreten läßt, der seine Hörer vorab über die Maximen des endzeitlichen Gerichts in Kenntnis setzt. Jesu Adressaten (und auch die Leser des Textes) erfahren jetzt bereits, daß dereinst bei den vor Gericht Stehenden Erstaunen herrschen wird, das sich in folgenden Worten artikulieren wird: „Wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dich gespeiset? oder durstig und haben dich getränkt? Wann haben wir dich [als] einen Gast gesehen und beherberget? oder nackt und haben dich bekleidet? Wann haben wir dich krank oder gefangen gesehen und sind zu dir gekommen?“ (Mt 25,37–39). Erst die – hier vorab hörbar werdenden – Worte des Richters „wahrlich ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40), lösen das Rätsel (vorläufig) auf und stellen klar, daß denen, welche die Werke der Barmherzigkeit vollbrachten, nicht bewußt war, daß sie in den Bedürftigen den Sohn Gottes selbst vor sich hatten. Insofern verfügen die Rezipienten des Textes Mt 25,31–46 und die Betrachter der auf ihm fußenden Bildkomposition des Danziger Gemäldes über einen proleptischen Informationsvorsprung. Er besteht in der Erkenntnis, daß in den Bedürftigen kein geringerer als Christus selbst (wenngleich verborgen) in Erscheinung tritt, was demjenigen, der genau hinsieht, in den die Werke der Barmherzigkeit darstellenden Bild43 Vgl. zum Zusammenhang Ralf van Bühren: Die Werke der Barmherzigkeit in der Kunst des 12.– 18. Jahrhunderts. Zum Wandel eines Bildmotivs vor dem Hintergrund neuzeitlicher Rhetorikrezeption. Hildesheim u. a. 1998 (Studien zur Kunstgeschichte 115).

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Abb. 8: Danzig, St. Marien, Almosentafel, Detail: Besuch der Kranken.

medaillons (zumindest in zweidimensionaler Gestalt) sichtbar wird. Freilich steht das in Mt 25,31–46 angekündigte Urteil des finalen Richters als des „Dritte[n]“ und „absolut Anderen“44 noch aus, welches erst die Abskondität des Sohnes Gottes in den Bedürftigen abschließend und definitiv offenbaren wird. Das aber heißt, daß den Bildmedaillons die Funktion zukommt, diese noch ausstehende endgültige Entbergung propädeutisch vorzubereiten und anzubahnen. Deutlich wird hieraus jedoch auch, daß die verbreitete Disjunktion von präsentischer und futurischer Eschatologie mit Blick auf die frühneuzeitliche Quellenlage unsachgemäß ist. Die nach lutherischer Ansicht präsentisch gültige Gewißheit, daß die Glaubenden nicht ins verdammliche Jüngste Gericht kommen, verbindet sich mit der Mahnung, daß es ein solches futurisches Gericht nach den Werken sehr wohl geben wird, was sich wiederum präsentisch dahingehend auswirkt, daß die Sieben Werke der Barmherzigkeit als die futurisch im letzten Gericht gültigen Kriterien der göttlichen Gerichtsbarkeit schon jetzt als Maxi44 Heinrich Assel: Elementare Christologie. Bd. 3: Inkarnation des Menschen und Menschwerdung Gottes. Gütersloh 2020, S. 251.

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men des rechten christlichen Handelns im Sinne der Nächstenliebe zu beherzigen sind, damit man künftig im Jüngsten Gericht bestehen möge.

III. Der Beichtstuhl als Schutzraum vor Gottes Zornesgericht und der Gekreuzigte als Zufluchtsort Wie sehr sich die zuvor geschilderten Sachzusammenhänge auch mit Blick auf das lutherisch-barocke Verständnis der Beichte und deren Visualisierung – mithin in präsentischer Dimension – auswirkte, sei im folgenden anhand eines Beispiels erläutert, nämlich anhand des 1723 geschaffenen Beichtstuhls (Abb. 10) in der Kirche zu Landow auf Rügen (Abb. 9), der über zwei Emblemgemälde und recht zahlreiche Inschriften verfügt. Gemälde Nr. 1 Bild: Der göttliche Amor fährt mit einem Blitzbündel vom Himmel herab, während die Seele in einer Höhle Zuflucht sucht. Bildüberschrift: Sünder! wache auff von Sünden, | suche Gott weil Er zu finden: Bildunterschrift: Die Mißethat gereuet mich, | Ach! schone Vater gnädiglich. Vorlage: Hermann Hugo, Pia Desideria, Nr. 12 (Bild). Das erste Gemälde (Abb. 11) an der Frontseite des Beichtstuhls stellt den göttlichen Amor (amor divinus) dar, der ein Blitzbündel in seiner erhobenen rechten Hand hält, vom Himmel herabschwebt und die als junge Frau personifizierte menschliche Seele bedroht, die mit über dem Kopf zum Gebet gefalteten Händen zu ihm emporblickt und in einer Höhle Zuflucht sucht. Direkt über der Seele fahren aus dem dunklen Gewölk Feuerflammen und Blitze herab. Die für diese Bildkomposition verwendete Vorlage findet sich in den Pia Desideria des flämischen Jesuiten Hermann Hugo (1588–1629), deren Emblemata für die Ausschmückung von frühneuzeitlich-lutherischen Kirchenräumen recht häufig als Quellen genutzt wurden und auf diese Weise interkonfessionelle Rezeption erfuhren. Es handelt sich um die zwölfte der von Boetius van Bolswert (ca. 1580– 1633) geschaffenen Emblemradierungen in Hugos genanntem Werk (Abb. 12), die einige Bilddetails mehr aufweist als das Gemälde am Beichtstuhl. So ist etwa am linken Bildrand ein nicht näher identifizierbares Tier zu erblicken, welches sich bereits in einer kleineren Höhle in Schutz gebracht hat, während unten eine Schlange Reißaus nimmt. Die Personifikation der Seele trägt stärker ausgeprägte kindliche Züge und befleißigt sich einer Armhaltung, die Entsetzen und Schrecken signalisiert.

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Abb. 9: Kirche zu Landow (Insel Rügen) von Südosten.

Daß die hier dargestellte Szene biblischen Ursprungs ist, erhellt erst aus dem intermedialen Zusammenspiel des Bildmotivs mit der Emblem-subscriptio und der Deutung des Sinnbildes bei Hugo. Denn die hier verwendete Bildunterschrift ist Hiob 14,13 entnommen und gibt das klagende Gebet des von Gott mit härtesten Schicksalsschlägen bedachten Hiob wieder, in dem dieser den ihn züchtigenden Gott um die Gewährung eines Zufluchtsortes bittet: „Quis mihi hoc tribuat ut in inferno protegas me, et abscondeas me, donec pertranseat furor tuus!“ In Luthers Übersetzung lautet der Vers: „Ach daß du mich in der Hölle verdecktest und verbärgest, bis dein Zorn sich lege.“ Die hier vor Augen stehende Situation ist mithin von enormen Spannungen geprägt, denn sie parallelisiert den Buße tuenden Menschen mit Hiob, der infolge des ihm von Gott

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Abb. 10: Beichtstuhl in der Kirche zu Landow (1723).

auferlegten Verlustes seiner Kinder und Güter in tiefste Anfechtung geraten war und mit Gott auf das heftigste haderte. Darüber hinaus abverlangen das Emblem und seine Deutung bei Hugo dem Büßer, sich nicht in Anbetracht der Erfahrung des göttlichen Zorns über die Sünde auf die Flucht zu begeben, da man Gott nicht entfliehen kann, sondern diesen kontrafaktisch anzurufen und die Gewährung eines Schutzraums zu erflehen. Diesen Aspekt bereitet Hugos Erklärungsgedicht zur zwölften Emblemradierung vor, in dem das lyrische Ich zunächst sehr ausführlich seinen Wunsch nach einem gottfernen Ort artikuliert, an dem es sich in Sicherheit bringen könne:

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Abb. 11: Das erste Emblemgemälde am Beichtstuhl in der Kirche zu Landow.

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Abb. 12: Hermann Hugo: Pia Desideria […]. Danzig 1657 (UB Greifswald 520/Fv 56), Radierung Nr. 12.

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Wer wird mir Aufenthalt und Herberge vergönnen, In der ich deinem Zorn entgehen werde können, Der von dem Morgen her schon wie ein Wetter bricht, O, ach, wo geh’ ich hin vor deinem Angesicht? […] Da wünsch’ ich nur allein die dunkel-schwarzen Wälder, Die Höhlen sonder [= ohne] Licht, die nebelgrauen Felder, […] Da wünsch’ ich mir zu sein in tiefstem Erdengrunde, Bei unergründ’ter See, im hohlen Felsen-Schlunde, An einem finstern Ort, den Sonn und Mond nicht weiß, Den nie beschienen hat der güldne Sternenkreis.45

Hugos meditativer Prosatext zur zwölften Emblemradierung arbeitet sodann – u. a. unter Bezugnahme auf die Erzählung vom Propheten Jona, der erfolglos versuchte, Gott durch eine Schiffsreise zu entkommen – die Unentrinnbarkeit des göttlichen Gerichtszorns heraus und mündet in die Artikulation der Erkenntnis, daß die einzige dem Büßer verbleibende Möglichkeit paradoxerweise darin besteht, bei dem Zuflucht zu suchen, vor dem er zuvor vermeinte fliehen zu können: bei Gott. Willst du aber Gott entrinnen, so fliehe zu dem Herrn, denn es ist kein Ort vorhanden, dahin du vor Gott entfliehen mögest. Vor den Augen des Allmächtigen sind alle Dinge gegenwärtig, entdeckt und offenbar.46

Es liegt auf der Hand, daß dem in Rede stehenden Sinnbild durch dessen Übertragung an den Beichtstuhl eine sehr konkrete Bedeutung zuwächst: Der Beichtstuhl, in dem nach lutherischem Verständnis der Pönitent Gelegenheit bekommt, seine Reue über die Sünden offenzulegen und im Glauben um Vergebung nachzusuchen, ist dieser von Gott selbst gewährte Schutzraum und Zufluchtsort vor dem göttlichen Zorn. Auf diese Weise repräsentiert der Beichtstuhl als dreidimensional-innenarchitektonisches Artefakt die Botschaft, die an ihm zweidimensional-intermedial in Gemälden und Kurztexten zur Anschauung gebracht wird: daß der über die Sünde erzürnte Richtergott zugleich der die Menschen Liebende ist. Der unbekannte Konzeptor der Sinnbildausstattung des Landower Beichtstuhls gab der Emblem-pictura eine von Hugos Vorlage abweichende Unterschrift bei: „Die Mißethat gereuet mich, | Ach! schone Vater gnädiglich.“ Diese

45 Hermann Hugo, Johann Georg Albinus (Übers.): Himmel-flammende Seelen-Lust. Oder Hermann Hugons PIA DESIDERIA, Das ist: Gottselige Begierden/ Allen inbrünstig verliebten JesusSeelen/ in hochteutscher gebundener und ungebundener Rede andächtig vorgestellet […]. Frankfurt a. M. 1675 (Staats- und Stadtbibliothek Augsburg LD 30), S. 160 f. 46 Ebd., S. 175 f.

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Worte dürfen einerseits als Bittgebet aufgefaßt werden, welches die junge Frau im Bild mit betend erhobenen Händen artikuliert, um ihre Zerknirschung (contritio) angesichts ihrer Sündhaftigkeit zum Ausdruck zu bringen, worin ein wesentlicher Bestandteil der Buße zu erblicken ist. Andererseits eignet sich dieser Kurztext als Gebet eines jeden Büßers – auch derjenigen Pönitenten, die den Landower Beichtstuhl aufsuchen. Auffällig ist, daß sich die Variation der von Hugo entlehnten pictura aus deren Kombination mit der neuen subscriptio am Beichtstuhl folgerichtig ergibt: Da es sich bei dieser um ein Kurzgebet handelt, wurde die vor dem Zorn Gottes fliehende Frau als Beterin mit zum Gebet ausgereckten Händen inszeniert, während sie bei Hugo die Hände aus Angst vor drohendem Unheil emporzureißen scheint. Die Bildüberschrift zum ersten Emblem am Beichtstuhl umfaßt zwei Verse und lautet „Sünder! wache auff von Sünden, | suche Gott weil Er zu finden:“ Hieraus wird deutlich, daß die Inschriften, welche der Emblem-pictura am Beichtstuhl beigegeben sind, dieser deutlich voraus sind. Denn zeigt das Bild noch den sündigen Menschen, der sich auf der Flucht vor Gottes Gericht befindet und mithin ein Anliegen verfolgt, das zum Scheitern verurteilt ist, handeln beide Inschriften von der Hinwendung des sündigen Menschen zu Gott, was die Erkenntnis voraussetzt, daß nur bei ihm Rettung, Vergebung und Zuflucht zu finden sind. Die Bildüberschrift zum ersten Emblemgemälde am Beichtstuhl wird in derjenigen zum zweiten fortgesetzt und besteht somit aus vier Versen: „Sünder! wache auff von Sünden, | suche Gott weil Er zu finden: | Komm dieweil die Gnaden Thür, | nun noch stehet offen dir“. Mit nur leichten Abwandlungen wird hier ein Kirchenlied zitiert, genauer ein Teil der fünften Strophe von „Ach, wie will es endlich werden“, die in Gänze lautet: Ach, so wache doch von Sünden Auf, o du mein sichrer Geist! Suche Gott, weil [= solange] er zu finden, Weil er noch dein Vater heißt. Komme, weil die Gnaden-Thür Nun noch stehet offen dir. Jesu, zu so gutem Werke Mich mit Herzen-Andacht stärke.47

47 Johann Crüger: PRAXIS PIETATIS MELICA, Das ist: Ubung der Gottseligkeit/ Jn Christlichen und Trostreichen Gesängen/ Herrn D. Martini Lutheri fürnehmlich/ wie auch anderer seiner getreuen Nachfolger/ und reiner Evangelischer Lehre Bekenner; Ordentlich zusammen gebracht/ Und itzo Mit den neuesten/ schönsten und Trostreichsten Liedern biß 1204. vermehret/ Auch zu Beförderung des so wol Kirchen- als Privat-Gottesdienstes die nöthigsten mit beygesetzten bißhero gebräuchlichen und vielen schönen neuen Melodien/ nebst dem dazu gehörigen Fundament/ angeordnet […]. EDITIO XXXV. Berlin 1712 (BSB München Liturg. 1374 r), Nr. 219, S. 215.

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Hierbei handelt es um ein Lied aus der Feder eines unbekannten Autors, das zuweilen Angelus Silesius (Johannes Scheffler, 1624–1677)48 zugeschrieben wurde,49 mithin einem Lutheraner, der im Jahre 1653 zum Katholizismus konvertiert war. Diese Zuschreibung gilt jedoch als ungewiß.50 Wäre sie zutreffend, würde dies bedeuten, daß nicht nur die pictura des ersten Emblemgemäldes, sondern auch die Überschriften beider Sinnbilder am Landower Beichtstuhl römisch-katholischen Ursprungs sind. Gemälde Nr. 2 Bild: Die fromme Seele umarmt die Beine des Gekreuzigten und wird von einem Schild vor Blitzen geschützt. Bildüberschrift: Komm dieweil die Gnaden Thür, | nun noch stehet offen dir Bildunterschrift: Durch Ergreiffung JESU Wunden, | Hab ich beÿ Gott Gnade funden. Vorlage: – Das zweite Emblemgemälde (Abb. 13) am Landower Beichtstuhl, für das eine Vorlage bislang nicht ermittelt werden konnte, stellt in einer Landschaft die abermals als weibliche Gestalt personifizierte fromme Seele dar, welche die Beine des Gekreuzigten umarmt, was die Bildunterschrift (metrisch reichlich ungelenk) als Hinwendung zu den Wunden Christi deutet, aus denen auf Golgatha das Heil und die Gnade Gottvaters erwirkende Blut floß. Links über der Glaubenden schwebt ein Schild, auf dem ein Kreuz sichtbar ist und der die Frau vor bedrohlichen Blitzen in Schutz nimmt, die aus dem Himmel hervorzucken. Die enge Korrespondenz zwischen dem Crucifixus und dem Kreuz auf dem Schild erschließt sich auf den ersten Blick, während ein beide Sinnbildgemälde vergleichendes Betrachten erforderlich ist, um wahrzunehmen, daß die in ihnen sichtbaren Blitze als ein wichtiges ikonographisch-interpikturales Kontinuum aufzufassen sind. Die im ersten Gemälde von den göttlichen Zornesblitzen bedrohte fromme Seele, die zunächst vor Gott, dem Richter, floh, nimmt im zweiten Gemälde – ganz im Sinne von Hermann Hugos Erklärungstexten zu demjenigen Emblem, das als Bildvorlage des ersten Gemäldes fungierte (s. o.) – Zuflucht zu Gott in Gestalt der zweiten trinitarischen Person, die am Kreuz für alle sündigen Menschen, mithin auch für die fromme Seele, den Tod und nach 48 Vgl. Jan Mohr: Art. Angelus Silesius. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1620–1720. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Stefanie Arend, Bernhard Jahn, Jörg Robert, Robert Seidel, Johann Anselm Steiger, Stefan Tilg, Friedrich Vollhardt. Bd. 1. Berlin u. a. 2019, Sp. 216– 235. 49 So z. B. auch in hymnary.org/text/ach_wie_will_es_endlich_werden (eingesehen am 11.11.2021). 50 Vgl. Albert Friedrich Wilhelm Fischer: Kirchenlieder-Lexicon. Hymnologisch-literarische Nachweisungen über ca. 4500 der wichtigsten und verbreitetsten Kirchenlieder aller Zeiten in alphabetischer Folge nebst einer Uebersicht der Liederdichter. Erste Hälfte. Gotha 1878, S. 30.

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Abb. 13: Das zweite Emblemgemälde am Beichtstuhl in der Kirche zu Landow.

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lutherischem Verständnis das Zornesgericht Gottes ein für allemal erlitten hat, um allen Sündern, die sich ihm im Glauben zuwenden, Vergebung zu erwerben. Hier bewahrheiten sich mit Blick auf den Sohn Gottes vielzählige Worte des Psalmisten, die mit der Schild-Metaphorik operieren, wie etwa: Aber du, Herr, bist der Schild für mich und der mich zu Ehren setzt und mein Haupt aufrichtet. (Ps 3,4) Mein Schild ist bei Gott, der den frommen Herzen hilft. (Ps 7,11) Unsre Seele harrt auf den Herrn; er ist unsre Hilfe und Schild. (Ps 33,20)

Zugleich wird mit dem Bildmotiv des schützenden Schildes ein Motiv aus der Topik der geistlichen Waffenrüstung (militia Christiana) aufgegriffen, der gemäß mit Hilfe des „Schildes des Glaubens […] alle feurigen Pfeile des Bösewichts“ (Eph 6,16), mithin des Satans, ausgelöscht werden können. Hieraus ergibt sich, daß dem Bildmotiv des Schildes in vorliegendem Gemälde eine Doppelcodierung eignet, insofern es als Versinnbildlichung sowohl des Sohnes Gottes als auch des sich ihm glaubend zuwendenden Menschen aufgefaßt werden kann. Hinzu aber kommt, daß durch das Bilddetail der Bezeichnung des Schildes mit dem Kreuz ein Sachverhalt aufgerufen wird, der in der Frühen Neuzeit äußerst gängig war und im Kreuz ein Siegeszeichen erblickt. Diese Sichtweise geht bekanntlich auf Eusebius von Caesarea (gest. 339/340) zurück, der in seiner Vita Constantini berichtet, daß Christus selbst Kaiser Konstantin d. Gr. (272– 373) im Jahre 312 in der Nacht vor seiner Schlacht bei der Milvischen Brücke erschienen sei und ihm die Erscheinung eines Lichtkreuzes als Siegeszeichen gedeutet habe.51 Tags darauf habe Konstantin unter Berufung auf Christi Kreuz und das Motto „In hoc signo vinces“ über seinen Rivalen Maxentius (gest. 312) den Sieg errungen. Der Glaubende, der sich allein Christus zuwendet – so die Botschaft des Emblemgemäldes – ist in der Lage, mit dem Schild des Glaubens nicht nur die widergöttlichen Verderbensmächte, sondern auch Gottes gerechten Zorn von sich fernzuhalten, indem er Gottvater als dem strengen Richter das Siegeszeichen des Kreuzes vor Augen hält und ihn somit dessen erinnert, daß sein Sohn das Strafgericht um der sündigen Menschheit willen bereits erlitten hat und diese vor dem Zorn des göttlichen Richters fortwährend beschützt. In der frühneuzeitlichen Emblematik ist das Bildsujet des mit dem Kreuz bzw. mit dem Namen Jesu Christi bezeichneten Schildes durchaus gängig und begegnet z. B. in der durch die Sinnbildkunst Daniel Cramers (1568–1637)

51 Vgl. Eusebius von Caesarea: De Vita Constantini. Übers. und kommentiert von Horst Schneider. Turnhout 2007 (Fontes Christiani 83), hier I, 28–30.

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Abb. 14: Hieronymus Ammon: IMITATIO CRAMERIANA sive Exercitium Pietatis Domesticum. Nürnberg 1647 (SUB Göttingen 8 P GERM II, 6501), fol. F 4r.

angeregten Imitatio Crameriana (1647) des Hieronymus Ammon (1591– 1659).52 Der betreffende Emblemkupferstich bei Ammon (Abb. 14) ist nicht als 52 Vgl. Sabine Mödersheim: Art. Ammon, Hieronymus. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1620– 1720. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Stefanie Arend, Bernhard Jahn, Jörg

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Vorlage des Landower Gemäldes aufzufassen, aber im Rahmen von dessen Deutung doch höchst aufschlußreich. Der Stich stellt einen gebückten Mann mit vor der Brust verschränkten Armen dar, der unter einem Schild, welchen eine Himmelshand über ihn hält, Schutz vor Hagel und Blitzen findet, die auf ihn herabfallen. Der Schild trägt nicht nur den Namen des Gottessohnes in Form des griechischen Monogramms „IHS“, sondern ist auch mit dem Kreuz bezeichnet, das sich über dem Querbalken des „H“ erhebt; darunter sind drei in V-Form angeordnete Nägel erkennbar. Ohne Zweifel greift der Lutheraner Ammon hiermit das bereits von Ignatius von Loyola (1491–1556) genutzte Signet des Jesuitenordens53 auf, wie es z. B. in der Antwerpener Festschrift zu dessen hundertjährigem Bestehen begegnet (Abb. 15). Das Monogramm IHS wird traditionellerweise nicht nur als Kürzel des griechischen Jesus-Namens, sondern auch als Abkürzung der lateinischen Wendungen „Iesum habemus socium“ (‚Jesus haben wir zum Gefährten‘) bzw. „Iesus Hominum Salvator“ (‚Jesus, der Menschen Retter‘) gedeutet. Ammon jedoch übt zumindest implizite Kritik an der jesuitischen Inanspruchnahme des besagten Symbols, indem er es als gnädig-rettendes Erkennungszeichen Gottes selbst (und nicht eines Ordens) sowie als graphische Ausstattung desjenigen Schutzschildes verwendet, der jedem Glaubenden gewährt wird. Es ist gewiß kein Zufall, daß der zweite Teil des Zitates aus dem Kirchenlied „Ach, wie will es endlich werden“ (s. o.) mit dem Wortlaut „Komm dieweil die Gnaden Thür, | nun noch stehet offen dir“ sich ausgerechnet über demjenigen Emblemgemälde befindet, welches an der Tür des Beichtstuhls angebracht wurde. Im intermedialen Zusammenspiel der Emblem-pictura mit den Inschriften und unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Plazierung am Beichtstuhl wird somit deutlich: In der Beichte und mit der Absolution des Pönitenten durch den Beichtvater werden dem sündigen Menschen die Gnade Gottes und der Schutz vor dem göttlichen Strafgericht zuteil, weswegen dem Eingang zum Beichtstuhl, mithin dessen Tür, emblematische Bedeutsamkeit zuwächst: als Gnadentür. Bedenkt man, daß in der Frühen Neuzeit nicht selten – etwa von

Robert, Robert Seidel, Johann Anselm Steiger, Stefan Tilg, Friedrich Vollhardt. Bd. 1. Berlin u. a. 2019, Sp. 174–177 sowie Sabine Mödersheim: Imitatio Crameriana. Polyvalenz in der Übernahme von Motiven aus Daniel Cramers Emblemata Sacra. In: Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik. Multivalence and Multifunctionality of the Emblem. Akten des 5. Internationalen Kongresses der Society for Emblem Studies. Proceedings of the 5th International Conference of the Society for Emblem Studies. Hg. von Wolfgang Harms, Dietmar Peil. Frankfurt a. M. u. a. 2002 (Mikrokosmos 65), S. 597–613. 53 Vgl. Markus Friedrich: Die Jesuiten. Aufstieg, Niedergang, Neubeginn. München u. a. 2016, S. 115 f.

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Abb. 15: [Johannes Bolland / Godefridus Henschenius / Jean de Tollenaer:] IMAGO PRIMI SAECVLI SOCIETATIS IESV A PROVINCIA FLANDRO-BELGICA EIVSDEM SOCIETATIS REPRAESENTATA. Antwerpen 1640 (Staatliche Bibliothek Regensburg 999/Hist. Eccl. 140), I, S. 45.

Johann Michael Dilherr (1604–1669)54 – auch die Wunden des gekreuzigten Christus als ‚Gnadentüren‘ bezeichnet werden, schließt sich der Kreis: Die Tür zum Beichtstuhl eröffnet dem Glaubenden die Möglichkeit, vermittelt durch die an diesem Ort gewährte Zusage der Sündenvergebung wie die Frau im Gemälde Christus selbst zu begegnen und durch die ‚Gnadentüren‘ seiner Wunden Zutritt zu Gott als dem nun nicht mehr zornigen, sondern barmherzigen Vater zu gewinnen. Zieht man den Kontext des in den beiden Emblemüberschriften zitierten Kirchenliedes zu Rate, dann zeigt sich, daß offenbar hinsichtlich der Gestaltung der Bildkomposition des zweiten Gemäldes dessen achte Strophe mit im Blick ge-

54 Vgl. die zwölfte Strophe von Dilherrs Lied „Nichts Guts an mir ich finden kann“: „Sollt’st du dein’ Wunden schließen mir, | die, Jesu, sind mein’ Gnadentür’? | Das überredet niemand mich, | Dein Herz müßt’ ehe verbluten sich.“ Johann Michael Dilherr (Hg.): Bey 1000 Alte vnd Neue Geistliche Psalmen/ Lieder vnd Gebete; welche in den Christlichen Evangelischen Kirchen/ vnd Häusern/ so der Augspurgischen Confession sind zugethan/ pflegen gesungen zu werden: […]. Nürnberg 1654 (Staats- und Stadtbibliothek Augsburg Th Lt E 456), S. 569.

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wesen sein dürfte, die sich geradezu wie ein lyrischer Kurzkommentar zu derselben liest: Ach! Ich kann schon tröstlich finden, Jesu, hier in deinem Blut Die Abwaschung meiner Sünden. Dieses stärket meinen Mut, Dies erfrischet meinen Sinn, Ob ich gleich ein Sünder bin. Jesu, mich forthin regiere, Daß ich ein fromm’ Leben führe.55

Was an der Frontseite des Beichtstuhls mit Hilfe von Bildern und Inschriften intermedial beschrieben wird, mithin der Weg von der Bedrohung durch Gottes verderbliches Gericht und der Zerknirschung angesichts der Sündhaftigkeit zur Erfahrung des göttlichen Schutzes in Gestalt der Absolution von den Sünden, wird im Inneren des Beichtstuhls mutatis mutandis in Form von Inschriften vertieft, die den Prozeß der Beichte begleiten, indem sie ein mögliches Gespräch zwischen Beichtiger und Beichtkind (bzw. Teile desselben) gestalten. An der (wohl rechten) Seitenwand des Beichtstuhls, mithin gegenüber dem Ort, an dem der Beichtiger gesessen haben dürfte, weil die Tür zum Beichtstuhl sich rechts an der Frontseite desselben befindet, sind oben links die Worte zu lesen: „Wer seine Mißethat leugnet, dem wird’s nicht gelingen“. Sie finden ihre Fortsetzung unmittelbar rechts daneben: „Wer sie aber bekennet und läßt der wird Barmhertzigkeit erlangen. Prov: XXVIII. v. 13“. Dieses Zitat aus den Sprüchen Salomos ist als alttestamentlich-weisheitliche Ermahnung und Aufforderung an die zur Beichte kommenden Glaubenden zu verstehen, ihre Sündhaftigkeit freimütig zu bekennen, d. h. diese im Schutzraum des Beichtgeheimnisses offen zu artikulieren. Daß dieser Bibelvers gegen Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Kontext der Beichtthematik, auch in der katechetischen Literatur, geläufig war, erhellt z. B. aus dem im besagten Zeitraum stark verbreiteten und häufig gedruckten Nürnberger Kinderlehr-Büchlein, in dem zu lesen ist: Worauf bestehet [= gründet] eine rechte Beicht? Auf zweien Stücken: Erstlich, daß man die Sünde bekenne und herzlich bereue. Zum andern, daß man aus wahrem Glauben die Absolution begehre mit eiferigem Versprechen, forthin das Leben zu bessern. Wer seine Missetat leugnet, dem wird’s nicht gelingen, wer sie aber bekennet und läßt, der wird Barmherzigkeit erlangen, Sprüche Salomos 28,13.56

55 Crüger, Praxis pietatis melica (Anm. 47), S. 216. 56 Kinderlehr-Büchlein/ Darinnen Der Kleine Catechismus: Für Die gemeine Pfarrherren und Prediger. Nach dem alten Exemplar D. Martini Lutheri/ Samt angehängten Fragstücken. Mit Fleiß übersehen/ und mit einem nützlichen Register vermehrt. Nürnberg 1701 (Staats- und Stadtbibliothek Augsburg Th Pr 1363), S. 237.

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Unter dem Zitat von Prv 28,13 sind an der Seitenwand des Beichtstuhls mittig in halber Höhe sechs Verse festgehalten, für die (wie für diejenigen an der Innenseite der Tür des Beichtstuhls) bislang keine literarische Vorlage ermittelt werden konnte, weswegen anzunehmen ist, daß diese beiden Strophen für deren Verwendung als Inschriften eigens gedichtet wurden. Die an der Seitenwand befindliche Strophe stellt – erneut im Sinne einer Ermahnung (admonitio) und in direkter Anrede – klar, daß das Beichtkind im Beichtstuhl keineswegs nur einer kirchlichen Amtsperson begegnet, sondern vor „Gottes Zorn-Gericht“ steht. Dieser unzweifelhaft der Gesetzespredigt zuzuordnende Aufruf wird mit der ebenfalls imperativisch formulierten Aufforderung zur Buße verbunden und mündet in die evangelische Zusage der Austilgung jeglicher Sünden durch den Sohn Gottes, die zur Folge hat, daß der Glaubende gemäß Joh 5,24 aus dem verdammlichen Gericht Gottes herausgenommen ist: Sünder dencke, daß du stehest fur des Höchsten Angesicht, Wenn du in den Beichtstuhl geh[est,] fürchte Gottes Zorn-Gericht: Drum laß dich bußfärtig finden, so tilgt JEsus deine Sünden.

Daß es nach frühneuzeitlich-lutherischem Verständnis in der rechten Beichte nicht vieler Worte des Beichtenden bedarf, auch nicht des Aufzählens zahlreicher begangener Tatsünden (vgl. Ps 19,13),57 sondern schlicht der reuigen Bitte um Erneuerung der in der Taufe zugesagten Sündenvergebung sowie des Glaubens, daß diese allein aus Gnade (sola gratia) gewährt wird, verdeutlicht die Zitation eines Schlüsselverses aus einem der sieben Bußpsalmen in der oberen Zone der Innenseite der Beichtstuhlfront: „[Gott, sey mir gnädig nach deiner Güte]58 und tilge meine Sünden nach deiner grossen Barmhertzigkeit. Psalm L. v. 3“ Hier wird Ps 51,3 zitiert und als Beleg auffälligerweise die übliche Stellenangabe aus der Biblia Vulgata festgehalten. Diese Inschrift bietet dem Beichtenden die Möglichkeit, sich die Worte eines zentralen alttestamentlichen Bußgebets anzueignen, die – wenn sie (gewissermaßen als Stoßseufzer) von Herzen kommen – völlig ausreichend sind, um Sündenvergebung zu erlangen. An der Innenseite der Tür des Beichtstuhls stehen abermals sechs Verse, welche die wirksame Absolution durch den Beichtiger festhalten und diese mit Worten der Sendung verbinden, d. h. mit der Ermahnung, die Buße im Alltag durch Besserung des Lebens konkret werden zu lassen, womit der etymolo57 Vgl. ebd., S. 238: „Kann und soll man alle Sünde vor dem Beichtvater beichten und bekennen? Nein, dieweil es unmöglich und viele Sünden unwissend geschehen. Wer kann merken, wie oft er fehlet? Verzeihe mir die verborgenen Fehle, Ps 19,15 [richtig: 19,13].“ 58 Die geklammerte Passage ist nur fragmentarisch lesbar.

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gischen Verflochtenheit von ‚büßen‘ und ‚bessern‘ Rechnung getragen wird. Zugleich wird die in der Beichte zugesprochene Sündenvergebung als Signatur der gegenwärtigen „Gnaden-Zeit“ und überdies als Ausblick auf die dem Glaubenden bevorstehende „frohe Ewigkeit“ qualifiziert, womit eine tröstliche eschatologische Perspektive eröffnet wird. Geh hin und beßre dich die Sun[d] ist dir vergeben darum beweise nun mit Ernst ein frommer Leben und wandle so fur Gott in dieser Gnaden-Zeit daß dir dort werden mög die frohe Ewigkeit.

So läßt sich nur sprechen in Anbetracht der Tatsache, daß der Glaubende gewiß sein darf, im Sinne von Joh 5,24 aus dem verdammlichen Gericht Gottes herausgenommen zu sein, weil der Sohn Gottes, welcher das Jüngste Gericht abhalten wird, dieses im Garten Gethsemane und auf Golgatha bereits erlitten hat. Nur in einer solchen Perspektive läßt sich zudem in der hic et nunc bereits angebrochenen „Gnaden-Zeit“ auf die „frohe Ewigkeit“ und den ‚lieben Jüngsten Tag‘ vorausblicken und admonitiv in Erinnerung bringen, daß die sola fide erlangte Rechtfertigung des Menschen sich im Tun der Werke der Barmherzigkeit konkretisiert und die Augen dafür öffnet, daß Christus – mithin der Richter – in den Bedürftigen (in verborgener, mithin je und je neu zu entdeckender Weise) epiphan war, epiphan ist und bis zum Tag des Gerichts epiphan sein wird.

Abbildungsnachweis Alle Photographien © Johann Anselm Steiger, Hamburg.

Ricarda Höffler

„Den euch ist die oberkeitt gegeben vom Herrn“. Zum usus politicus der Weltgerichtsdarstellung im Luthertum der Frühen Neuzeit

1. Einleitung Als sich der Nürnberger Rat im Frühjahr 1525 dazu entschloss, ein Religionsgespräch im Großen Saal des alten Nürnberger Rathauses anzuberaumen,1 dürfte diese folgenträchtige Entscheidung vermutlich unter den wachsamen Augen des Weltenrichters gefallen sein. In der sich im Osten an den Rathaussaal anschließenden Ratsstube,2 wo die 42 Mitglieder des Inneren Rats zu ihren Sitzungen zusammenkamen, hing neben der Tür eine in der Breite etwa zwei Meter messende Darstellung des Jüngsten Gerichts (Abb. 1) von der Hand Michael Wolgemuts, die rund dreißig Jahre zuvor entstanden war.3 Das Gemälde, das bis ins anbrechende 19. Jahrhundert in situ verbleiben sollte und sich heute im Besitz des Germanischen Nationalmuseums befindet,4 folgt der traditionellen Ikono1 Siehe hierzu Gottfried Seebaß: Der Nürnberger Rat und das Religionsgespräch vom März 1525. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 34/35 (1975), S. 467–499, zur Einführung der Reformation in Nürnberg exemplarisch auch ders.: Zur Geschichte der reformatorischen und sozialen Bewegung in der Reichsstadt Nürnberg im Jahre 1524/25. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 71 (1984), S. 269–276 sowie Berndt Hamm: Die Reformation in Nürnberg. In: Theologische Literaturzeitung 136 (2011), Sp. 855–874. 2 Siehe zum Nürnberger Rathaus Kat. Ausst. Das alte Nürnberger Rathaus. Bd. 1: Baugeschichte und Ausstattung des großen Saales und der Ratsstube (Nürnberger Rathaus, 16.6.–20.8.1978). Hg. von Matthias Mende. Nürnberg 1979. 3 Vgl. Melanie Damm: Iuste iudicate filii hominum – Die Darstellung von Gerechtigkeit in der Kunst am Beispiel einer Bildergruppe im Kölner Rathaus. Eine Untersuchung zur Ikonographie, zum Bildtypus und Stil der Gemälde. Münster i. W. 2000 (Kunstgeschichte 71), S. 59 f.; Georg Troescher: Weltgerichtsbilder in Rathäusern und Gerichtsstätten. In: Westdeutsches Jahrbuch für Kunstgeschichte: Wallraf-Richartz Jahrbuch 11 (1939), S. 139–214, hier S. 191 sowie Ursula Lederle: Gerechtigkeitsdarstellungen in deutschen und niederländischen Rathäusern. Philippsburg 1937, S. 17. 4 Vgl. noch Johann Caspar Lavater: Reise nach Kopenhagen im Sommer 1793. Auszug aus dem Tagebuch. Zürich, Hamburg 1794, S. 298–301.

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graphie: Mittig thront, die Weltkugel und das aufgeschlagene Buch mit den Sieben Siegeln zu seinen Füßen, Christus als Weltenrichter, flankiert von Maria und Johannes dem Täufer, die inmitten der Zwölf Apostel ihren Platz eingenommen haben. Vom Antlitz Christi gehen links die Lilie der Gnade und rechts das Schwert des Gerichtes (vgl. Jes 49,2; Apk 1,16) aus, analog zu den im unteren Drittel des Gemäldes verorteten Szenen der Aufnahme der Seligen in das Reich Gottes und des Höllensturzes der Verdammten. Beigegeben sind der Darstellung zwei Inschriften: Die nur noch schwer lesbaren, direkt auf den Goldgrund aufgetragenen Worte zu beiden Seiten Christi entstammen Ps 75,5 der den Stolzen unter den Menschen das göttliche Gericht ankündigt: „Ego iusticias iudicabo“ – ‚Ich werde gerecht richten‘. Im Bildvordergrund, direkt unterhalb des Buchs mit den Sieben Siegeln,6 findet sich derweil eine Holztafel mit einer lateinisch-deutschen Inschrift, die sich direkt und mahnend an die Betrachter richtet: „Juste iudicate filij hominum. Judiciu[m] quale facis, taliter Judicaberis. Jr menschen feldt urtel auf erden Als ir dort weldt geurtelt werden.“ Wie sich aus diesen Inschriften unschwer ableiten lässt, hielt das Gemälde für die Mitglieder des Kleinen Rats gleich zwei Botschaften bereit: Zum einen war es Christus, der dem Rat als ultimatives Vorbild eines gerechten Richters dienen sollte, immerhin hatte Gott als Ursprung allen Rechts zu gelten, das auf Erden dazu diente, die wiederum von Gott gestiftete Ordnung aufrechtzuerhalten.7 Zum anderen machte die Schrifttafel in der unteren Zone unmissverständlich klar, dass die Ratsangehörigen selbst unter strenger Beobachtung standen: Fällten sie falsche oder ungerechte Entscheidungen, so hatten sie sich dafür konsequenterweise vor dem höchsten Richter – i. e. Gott – zu verantworten. Kurz gesagt: Das Bild des Jüngsten Gerichts stellte sicher, dass die Anwesenden in ihrem politischen Handeln stets die Frage nach ihrem jenseitigen Heil im Blick behielten, die sich im ausgehenden Mittelalter nicht nur im sakralen Raum der Kirche, sondern auch im profanen Raum des Rathauses entschied.

5 „Confitebimur tibi Deus confitebimur et iuxta nomen tuum narrabunt mirabilia tua cum accepero tempus ego iustitias iudicabo dissolvetur terra cum omnibus habitatoribus suis ego adpendi columnas eius […]“ (Ps 75,1–4). 6 Es sei an dieser Stelle lediglich am Rande erwähnt, dass die Siegel jeweils mit dem Doppeladler des Heiligen Römischen Reiches versehen sind. 7 Vgl. u. a. Wolfgang Schild: Folter, Pranger, Scheiterhaufen. Rechtsprechung im Mittelalter. München 2010, S. 8–37 sowie weiterführend Adolf Laufs: Das Jüngste Gericht in der Rechtsgeschichte. In: Festschrift für Jan Schröder zum 70. Geburtstag. Hg. von Arndt Kiehnle u. a. Tübingen 2013, S. 709–724.

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Abb. 1: Michael Wolgemut: Jüngstes Gericht, um 1496, 107,6 × 196 cm, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Foto: Georg Janßen.

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2. Die Weltgerichtsdarstellung im Rathaus – im Luthertum passé? Wolgemuts Gemälde ist bekanntlich kein Einzelfall. Seit dem 14. Jahrhundert gehörten Weltgerichtsdarstellungen zur üblichen Ausstattung jener Örtlichkeiten, an denen Recht gesprochen und politische Entscheidungen gefällt wurden, bevorzugt also zum Bildprogramm von Gerichtssälen und Ratsstuben.8 Der zugrundeliegende und noch für das Nürnberger Gemälde zentrale Gedanke war zu diesem Zeitpunkt bereits fest etabliert: Schon der Prolog Eikes von Repgow zum um 1220 verfassten Sachsenspiegel ermahnte seine Adressaten, so zu richten, dass Gottes Gericht gnädig über sie ergehen könne;9 im Falle des illuminierten Oldenburger Exemplars10 von 1336 wurde dem Prolog schließlich auch eine Miniatur (Abb. 2) zur Seite gestellt, die diesen Zusammenhang von weltlichem und göttlichem Recht und Gericht nochmals unterstrich: Der auf einem Regenbogen thronende Christus überreicht, den Blick streng auf den Betrachter gerichtet, das Schwert an den weltlichen Herrscher zu seiner Rechten, während er mit dem Zeigefinger mahnend auf den aufgesperrten Höllenrachen zu seiner Linken deutet, der soeben eine menschliche Gestalt verschlingt.11 Diese wenig missverständliche Warnung wurde etwa zeitgleich in größerem Format an die Wände der Gerichtssäle und Rathäuser transferiert, wie aus einer Glosse zum Sächsischen Weichbildrecht – dem Rechtsbuch der Stadt Magdeburg – aus der Zeit um 1330 hervorgeht: […] wo der richter mit orteiln richtit, in der selbien stat, unde in der selbien stunde sizit got in sinem gotlichen gerichte obir den richter unde obir die schepphen; unde dorum sulde eyn izlichir richter in dem rathuse lazin molen daz gestrenge gerichte unsers herren; unde ist dorumme daz er gedenken sal an daz gerichte, daz das unsers herren sy; unde daz er ouch gedenke, daz er richter sal sien des volkes, das got irlost hat mit sinem teuren blute; unde darumme spricht David: ‚juste judicate filii hominum; richtit recht ir menschenkint‘; 8 Vgl. ausführlich Troescher (Anm. 3), vor ihm bereits Lederle (Anm. 3), S. 14–26. Zu den Orten der Rechtsprechung im Mittelalter vgl. auch Barbara Deimling: The Courtroom: From Church Portal to Town Hall. In: The History of Courts and Procedure in Medieval Canon Law. Hg. von Wilfried Hartmann, Kenneth Pennington. Washington, D. C. 2016 (History of medieval canon law), S. 30–50. 9 „God is selven regt, darumme is eme regt lef, dor dat sen se sich alle vore, den en gherichte van godes halven bevolen si, dat se alle richten, alse godes torn unde sin gerichte genediliken over se irgan mothe“ (nhd. ‚Gott ist selber Recht, deshalb ist ihm Recht lieb, darum sollen alle, denen ein Gericht von Gott anbefohlen ist, darauf achten, daß sie so richten, daß Gottes Zorn und sein Gericht über sie gnädig ergehen mögen‘). Zit. nach Christa Bertelsmeier-Kierst: Eike von Repgow: ‚Sachsenspiegel‘. In: Klassiker des Mittelalters. Hg. von Regina Töpfer. Hildesheim 2019 (Spolio Berolinensia 38), S. 59–81, hier S. 79. 10 Siehe zu den vier illuminierten Ausgaben des Sachsenspiegels Kat. Ausst. Gott ist selber Recht. Die vier Bilderhandschriften des Sachsenspiegels (Schatzkammer der Bibliotheca Augusta, 12.2.– 11.3.1992). Hg. von Ruth Schmidt-Wiegand, Wolfgang Milde. Wolfenbüttel 1992. 11 Vgl. Bertelsmeier-Kierst (Anm. 9), S. 77–81.

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Abb. 2: Eike von Repgow: Sachsenspiegel, fol. 6r des illuminierten Exemplars (1336) der Landesbibliothek Oldenburg, CIM I 410.

[…] mit welchem maze ir mest, daz ist, welchir orteil ir obir dy lute gebit, […] daz orteil sy recht ader unrecht, daz orteil gheit in den selbien stunden obir uch.12

Dass sich das Zitat aus Ps 58,213 auf der Schrifttafel in Wolgemuts Gemälde wiederfindet, ist wenig überraschend. Das Sächsische Weichbildrecht fand gemeinsam mit dem Sachsenspiegel – dem Land- und Lehnrecht – weit über Magdeburg hinaus Verbreitung,14 und so wurde die Anbringung von Weltgerichts12 Glosse zu Art. XVI des Sächsischen Weichbildrechts (um 1330), zit. nach Das Saechsische Weichbildrecht. Jus Municipale Saxonicum. Hg. von Alexander von Daniels, Franz von Gruben. Berlin 1858, Sp. 256. 13 „Si vere utique iustitiam loquimini recta iudicate filii hominum […].“ 14 Das Sächsische Weichbildrecht ist in etlichen Handschriften und seit dem 15. Jahrhundert in unzähligen Drucken überliefert; von letzteren sei hier etwa die 1482 in Augsburg bei Anton Sorg gedruckte Fassung genannt. Die vielfach nachgedruckte Standardausgabe lieferte dann 1537 der Leipziger Jurist Christoph Zobel.

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bildern in und an Rathäusern und Gerichtsstätten rasch auch an anderen Orten Usus. Diesen Umstand dokumentieren auch einige Bildzeugnisse, so etwa eine Miniatur zum Hamburger Stadtrecht15 von 1497 (Abb. 3), die eine Gerichtsverhandlung vor dem Niedergericht präsentiert, oder auch Hans Mielichs Darstellung16 einer Ratssitzung für das Regensburger Freiheitenbuch von 1536 (Abb. 4). Hier findet sich jeweils an der Rückwand gut sichtbar eine Darstellung des Jüngsten Gerichts, die kraft ihrer Anwesenheit an die Omnipräsenz Gottes wie auch seines Richtspruchs erinnert – im Hamburger Fall untermauert durch die sich in den Bildraum herabsenkenden Hände Gottes, die zwei Schriftbänder halten, mahnend, dass das Gericht nicht für die Menschen, sondern den Herrn gehalten werde, und die Richter so gerichtet würden, wie sie selbst richteten.17 Damit ist das Geschehen dezidiert in eine eschatologische Dynamik eingebunden, ganz so, wie wir es auch für Wolgemuts Gemälde feststellen konnten, das die politischen Entscheidungsträger unter Androhung des göttlichen Zorns zu gerechtem Handeln anhielt. Entsprechend hat Margit Kern resümiert: „Die Logik dieser Forderung ist klar: Die Vorstellung, zur Rettung des eigenen Seelenheils beitragen zu können, sollte zum ethisch wünschenswerten Verhalten motivieren, zog doch Rechtsbeugung aus Habgier unweigerlich die Strafe Gottes nach sich, während Wohlverhalten Gottes gerechten Lohn erwarten ließ.“18 Diese einleitenden Beispiele sind hier bewusst gewählt. Beginnend mit der fränkischen Reichsstadt, setzten bekanntlich alle drei Städte die Reformation durch: Nürnberg 1525, Hamburg drei Jahre später, Regensburg folgte 1542. Damit entschied man sich für eine ‚von oben‘ angeordnete Neuausrichtung des religiösen Lebens, die ihr Zentrum darin fand, dass die Frage nach dem Bestehen vor dem göttlichen Gericht anders beantwortet wurde als zuvor: Nicht durch die Werke, sondern allein durch den gottgegebenen Glauben wurde der Mensch gerechtfertigt (vgl. Röm 3,28) und damit im Hier und Jetzt bereits vollständig und letztgültig zum Heil angenommen, während umgekehrt der Unglaube den Einzelnen der Verdammnis preisgab. Nicht, dass die äußeren Werke dadurch

15 Hierzu ausführlich Beate Binder: Illustriertes Recht. Die Miniaturen des Hamburger Stadtrechts von 1497. Hamburg 1988. 16 Siehe hierzu Margit Kern: Tugend versus Gnade. Protestantische Bildprogramme in Nürnberg, Pirna, Regensburg und Ulm. Berlin 2002, S. 221–223; für eine ausführliche Auseinandersetzung mit Mielichs Miniatur zuvor Kristin Eldyss Sorensen Zapalac: „In his image and likeness“. Political Iconography and Religious Change in Regensburg, 1500–1600. Ithaca 1990. 17 Die Inschriften paraphrasieren und verknüpfen 2Chr 19,6 und Mt 7,2: „Animaduertite quid faciatis alias iudicaturi non enim hominis sed Dei exercetis iudicium | Quodcunque iudicaue[ri]tis in vos redundabit qua enim mensura mensi fueritis remetetur vobis“. Vgl. Zapalac (Anm. 16), S. 196, Anm. 24 f. 18 Kern, Tugend (Anm. 16), S. 223.

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Abb. 3: Darstellung des Niedergerichts im Hamburger Stadtrecht, 1497, Hamburg, Staatsarchiv.

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Abb. 4: Hans Mielich: Sitzung des Inneren Rats, fol. 2r des Freiheitenbuchs der Stadt Regensburg, 1536, Regensburg, Stadtarchiv.

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bedeutungslos wurden, wie es einer landläufigen Annahme entspräche: Vielmehr bewahrten sie als Folge und Ausdruck des Glaubens (vgl. Röm 14,23) weiterhin ihre Notwendigkeit und erfüllten sie am Jüngsten Tag gewissermaßen die Funktion der „Zeugen“,19 die den Einzelnen be- oder aber entlasten konnten.20 Dass das Bild des Jüngsten Gerichts damit im geistlichen Bereich, mithin im Kirchenraum weiterhin seine Daseinsberechtigung besaß, hat besonders die jüngere Forschung21 hervorgehoben: Da der Zorn Gottes über die Nichtbefolgung des Gesetzes Realität blieb, war der als simul iustus et peccator verstandene Mensch – im Sinne des usus elenchticus bzw. theologicus legis22 – stets mit diesem zu konfrontieren, damit er wiederum Zuflucht bei Gott suchte, der ihm durch das Evangelium die Heilsgewissheit zusprach. Diese Logik schlug sich etwa in den Gesetz und Gnade-Bildern23 der Cranach-Werkstatt nieder, die oftmals eine Darstellung des Jüngsten Gerichts beinhalten und deren Inschriften, so im Falle des wohlbekannten Gothaer Gemäldes von 1529 (Abb. 5), mit dem Hinweis auf den göttlichen Zorn beginnen, um schließlich den Sieg Christi über Tod, Teufel und Hölle zu verkünden.24 Damit vermochte sich auch der

19 So bereits Ole Modalsli: Das Gericht nach den Werken. Ein Beitrag zu Luthers Lehre vom Gesetz. Göttingen 1963 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 13), S. 50. 20 Siehe zum Gericht nach den Werken Johann Anselm Steigers Beitrag im vorliegenden Band sowie Frank Alexander Kurzmann: Die Rede vom Jüngsten Gericht in den Konfessionen der Frühen Neuzeit. Berlin 2019 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 141), S. 23–28. 21 Vgl. exemplarisch Johann Anselm Steiger: Gedächtnisorte der Reformation. Sakrale Kunst im Norden (16.–18. Jahrhundert). Bd. 2 (L–Z). Regensburg 2016, S. 687–689 sowie Kern, Tugend (Anm. 16), S. 222. Schon Craig Harbison: The Last Judgment in Sixteenth Century Northern Europe. A Study of the Relation between Art and the Reformation. New York 1976, S. 92–102, wies jedoch darauf hin, dass Darstellungen des Jüngsten Gerichts im Luthertum keinesfalls obsolet wurden, sondern vielmehr reinterpretiert worden seien. 22 Vgl. zum duplex usus legis (i. e. usus theologicus und usus politicus legis) etwa den Überblick bei Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik. Grundlagen und Grundbegriffe. Berlin 1990, S. 60–82. 23 Siehe ausführlich Heimo Reinitzer: Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte. Hamburg 2006. 24 Von links nach rechts: „Vom Regenbogen und gericht. | Ess wird Gottes zorn offenbart vom himmel vber aller menschen Gotloss leben vnd vnnrecht. Roman. 1. | wier seind allzümal sünder vnndt mangelnn des preises | das sie sich Gottes nicht rühmen mügen Roman. 1.“; „Vom Teüffel vnd Todt | Die Sünnde ist des Todes spieß aber das gesetz ist der sünden | krafft. 1. corinth. 15. | Das gesetz Richtet zornn ahn. Roman. 4.“; „Vom Mose vnd den Propheten | Durch das gesetz kömet erkentnüs der sünden Roman. 3. | Matthei. 11. | Das gesetz vndt propheten gehen bis auff Johannes zeitt.“; „Vom Menschen | Der geRechte lebett seines glaübens Roman. 1. | wier halten das ein mensch geRecht werde [durch] den glaüwen | on werch des gesetzs Roman. 3.“; „Vom Teuffer | Sihe das ist gottes Lamb das der welt sunde tregt | sant Johannes Baptist Johannis. 2. | In der heiligüng des geistes zum gehorssam vnd bespre[n]g|üng des blütes Jesü Christi amen. 1. petri. 1.“; „Von Tode vnd Lamb | Der Tod ist verschlungen v[o]m sieg Tod wo ist dein spiss | helle wo ist dein sieg: danck hab Gott der vns den siegk gegeben | hat dürch Jesüm christüm vnsern herren. 1. coerinth. 15.“

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Abb. 5: Lucas Cranach d. Ä.: Gesetz und Gnade, 1529, 82,2 × 118 cm, Gotha, Schlossmuseum.

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thronende Richter im Prozess der Betrachtung immer wieder aufs Neue (!) vom Schreck- hin zum Trostbild zu wandeln, stand doch Luther zufolge der Mensch entweder vor dem Gerichts- oder aber dem Gnadenstuhl: Denn so leret mich die schrifft, das Gott den menschen zween Stule gestellet habe, Einen Rechtstul fur die, so noch sicher und stoltz sind und jre sunde nicht erkennen noch bekennen wollen, Und Einen Gnaden stul fur die armen, bloden gewissen, die jre sunde fulen und bekennen, fur seinem gericht verzagen und gerne gnade hetten, Dieser Gnaden stul ist nu Christus selbs, sagt S. Paulus Rom. 3. [Röm 3,25], den Gott uns gestellet hat, das wir dazu zuflucht haben sollen, wo wir fur Gott durch uns selbs nicht konnen bestehen. […] Also das Gott selbs den Gnadenstul gesetzt hat und uns von dem Richtstul zu diesem weiset, Die andern wollen wir fur den Richtstul lassen komen als die hoffertigen heiligen, verechter und verfolger Gottes worts, Da werden sie jr urteil wol horen, Die lasse bleiben jnn jrem kreis, bis sie sich auch demuetigen, Wir aber wollen jnn dem Circkel nicht bleiben, sondern eraus tretten, so weit wir jmer konnen, jnn den freien kreis und platz, da der Gnaden stul stehet, Und beruffen uns darauff mit allem recht, Weil wirs nicht aus unserm kopff erdacht haben, sondern sein eigen Wort ist, und streng schrecklich urteil drewet denen, die da komen mit jrer heiligkeit, als damit fur Gott zubestehen, und des Gnaden stuls Christi nicht achten, Denn es ist schon das urteil beschlossen, das sie mussen fur den Richtstul komen […].25

So viel – fürs Erste – zum Bild des Jüngsten Gerichts im Kirchenraum, das für die Reformatoren Luther’scher Prägung offenbar keineswegs seine Relevanz einbüßte. Wie aber steht es um die Rathäuser? Wenn, wie die Forschung betont hat, die hier angebrachten Weltgerichtsdarstellungen einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen dem Handeln im Gerichts- oder Ratssaal und dem göttlichen Gericht herstellten und darin einem ‚werkgerechten‘ Gedanken folgten, so läge freilich die Conclusio nahe, dass derartige Bilder mit der Einführung der Reformation zumindest fragwürdig, wenn nicht sogar obsolet wurden. Zu diesem Schluss kam 1990 Kristin Zapalac, die in ihrer breit angelegten Studie26 zur politischen Ikonographie in Regensburg resümierte, in lutherischen Städten seien die in den Rathäusern befindlichen Weltgerichtsdarstellungen nach und nach den Tugendallegorien gewichen. Für Regensburg ist dies zutreffend, wurde hier doch 1592 das Jüngste Gericht durch die Allegorie des guten Regiments Isaac Schwendtners (Abb. 6) ausgetauscht, die auf einem Nürnberger Holzschnitt Jost Ammans von 1579 (Abb. 7) basiert: Mittig thront nicht mehr der Weltenrichter, sondern Justitia, die durch eine Goldkette mit Caritas und Prudentia, Pax und Ceres verbunden ist, und es ist eben diese fruchtbare Verbindung, die unter Gottes Segen steht und laut Inschrift die Stabilität der res publica sichert. Vom drohenden göttlichen Zorn fehlt in der Tat nunmehr jede Spur. Aus dieser in 25 Luther, WA 36,367,1–7.20–31 (Predigten des Jahres 1532, Nr. 51). Vgl. auch Reinitzer (Anm. 23), S. 47. 26 Vgl. Zapalac (Anm. 16).

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Abb. 6: Isaac Schwendtner: Allegorie des guten Regiments, 1592, Regensburg, Altes Rathaus, Kurfürstenzimmer.

Regensburg zu beobachtenden ikonographischen Verschiebung schloss Zapalac für das Luthertum in toto: „The Last Judgment panels that hung on the walls of Northern courtrooms in the late-medieval period were in the sixteenth century systematically replaced in Lutheran cities by allegorical depictions of Justitia.“27

27 Ebd., S. XIII passim.

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Abb. 7: Jost Amman: Allegorie des guten Regiments, 1579, Amsterdam, Rijksmuseum, RP-P-1964482.

Problematisch an Zapalacs These war nun nicht nur ihr generalisierender Charakter (s. u.), sondern auch – wie schon Kern kritisch bemerkte28 – die ihr zugrundeliegende (fälschliche) Annahme, Luther habe den zornigen durch den

28 Vgl. Kern, Tugend (Anm. 16), S. 222.

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gnädigen Gott ‚ersetzt‘, womit notgedrungen auch das Bild des Jüngsten Gerichts verschwunden sei.29 Bereits für den Kirchenraum ist dies, wie gesagt, nicht zutreffend, doch auch im Blick auf die Rathäuser wird deutlich, dass Zapalacs verallgemeinerndes Resümee der Korrektur bedarf. Denn so bemerkenswert der Fall Regensburg und so zutreffend es ist, dass sich allegorische Darstellungen in und an Rathäusern (und übrigens auch in den Kirchenräumen)30 im Laufe der Frühen Neuzeit zunehmender Beliebtheit erfreuten,31 so wäre es gleichwohl voreilig, anzunehmen, das Jüngste Gericht habe hier im Luthertum ausgedient. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Die seit dem Mittelalter vor allem im deutschsprachigen und niederländischen Raum übliche Anbringung von Weltgerichtsdarstellungen in Rathäusern und Gerichtssälen wurde in der Frühen Neuzeit nicht nur konfessionsübergreifend beibehalten,32 sondern erfreute sich – vermehrt im 17. Jahrhundert – besonders in lutherischen Städten einiger Beliebtheit. Um zu diesem Schluss zu gelangen, genügt bereits ein genauerer Blick auf die immer noch grundlegende Studie zu den (z. T. inzwischen verschollenen oder zerstörten) Weltgerichtsbildern im profanen Raum, die der

29 Vgl. Zapalac (Anm. 16), S. 55. 30 Vgl. ausführlich Kern, Tugend (Anm. 16), S. 75–186. 31 Hierzu ist freilich anzumerken, dass allegorische Darstellungen auch schon in mittelalterlichen Rathäusern beliebt waren, denkt man etwa allein an Ambrogio Lorenzettis 1339 vollendete Allegorie der Guten und Schlechten Regierung in der Sala dei Nove des Palazzo Pubblico in Siena. 32 Auf den Umstand, dass sich derartige Darstellungen auch in protestantischen (i. e. auch reformierten!) Gebieten weiterhin finden, hat bereits Harbison (Anm. 21), S. 63 f. sowie S. 177–181, hingewiesen, wofür er von Zapalac (Anm. 16), S. 195 f., Anm. 21, scharf kritisiert wurde. Zwar hat sie recht, wenn sie bemängelt, dass Harbison eventuelle, theologisch bedingte Transformationen der Weltgerichtsbilder nicht thematisiert, allerdings scheint mir die Begründung, mit der sie Harbisons Argument einer auch im Protestantismus zu beobachtenden longue durée eben dieser Bilder zu entkräften meinte, nicht so recht zu überzeugen: „The evidence produced by Harbison to show that the Protestants continued to commission Last Judgment images for their council chambers is marred by inaccurate dating in the case of Regensburg (which became officially Lutheran in 1542, not in 1533 as Harbison supposed) and by his failure to distinguish between isolated depictions and those included as part of a series of exemplary images“ (ebd., S. 196, Anm. 21). Ob jedoch eine falsche Datierung Harbisons gesamte These zu untergraben imstande ist, ist m. E. anzuzweifeln, und auch Zapalac selbst vermied es im Gegenzug, zum einen die Beispiele in katholischen Gebieten in den Blick zu nehmen, die ihrerseits nicht ‚isoliert‘ standen (siehe exemplarisch die Wandmalereien von 1564 im Kleinen Rathaussaal des Rathauses in Wasserburg am Inn), und zum anderen über Weltgerichtsbilder in bzw. an lutherischen Rathäusern zu sprechen, die nicht Teil eines größeren Bildprogramms sind bzw. waren; als Beispiele seien hier lediglich das Weltgericht im Rathaus in Schneeberg (siehe Anm. 38) sowie das im 17. Jahrhundert geschaffene Tafelgemälde an der Fassade des Rathauses in Tallinn genannt. Vgl. zu letzterem Johann Anselm Steiger: Bildmediale Gedächtnisorte der Reformation im Ostseeraum. In: Reformatio Baltica. Kulturwirkungen der Reformation in den Metropolen des Ostseeraums. Hg. von Heinrich Assel, Johann Anselm Steiger, Axel E. Walter. Berlin 2017, S. 19–50, hier S. 47 f.; ders., Gedächtnisorte 2 (Anm. 21), S. 809–811 sowie bereits Troescher (Anm. 3), S. 204.

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Bonner Kunsthistoriker Georg Troescher bereits 1939 vorlegte.33 Auf Grundlage des ihm zugänglichen Quellenmaterials stellte Troescher eine nach Ort und Jahr geordnete Übersicht über die belegten Darstellungen zusammen, wobei es eingedenk des Publikationsjahres wenig verwunderlich sein dürfte, dass die rund 120 Werke umfassende Liste noch unvollständig war und Troescher die zusammengetragenen Bilder auch nicht unter konfessionellen Gesichtspunkten betrachtete. Vielmehr war es ihm darum zu tun, aufzuzeigen, „[w]ie stark der Gerichtsgedanke im Denken und Fühlen unseres [= des deutschen] Volkes verwurzelt“ sei, weswegen er die besagten Weltgerichtsbilder zu „eine[r] der eigentümlichsten und aufschlußreichsten Äußerungen des germanischen Denkens und Fühlens“ erklärte.34 So fragwürdig diese Einlassungen nun auch sein mögen, so lassen sich aus dem von Troescher gebotenen Überblick dennoch Schlüsse ziehen, die für unseren Kontext von nicht zu unterschätzender Relevanz sind: Angesichts der Anbringungsorte und Datierungen und unter Berücksichtigung der jeweils zum Entstehungszeitpunkt vorherrschenden konfessionellen Situation ergibt sich – zunächst ungeachtet der Frage nach den gestalterischen und ikonographischen Spezifika sowie der Einbindung in ein größeres Bildprogramm – für die Zeit bis etwa 173535 die grundsätzliche Feststellung, dass auch in lutherisch dominierten Gebieten und Städten eine große Zahl neuer Weltgerichtsbilder für den profanen Raum geschaffen wurde; exemplarisch genannt seien an dieser Stelle lediglich die Jüngsten Gerichte für die Rathäuser in Ulm (1562),36 Güstrow (1584),37 Freiberg i. S. (um 1622),38 Kiel (um 1691)39 und Schwäbisch Hall 33 Vgl. Troescher (Anm. 3). 34 Troescher (Anm. 3), S. 213. 35 Im Laufe des 18. Jahrhunderts verlieren Darstellungen des Jüngsten Gerichts – auch im Kirchenraum – deutlich an Beliebtheit. Zum Jüngsten Gericht zur Zeit der Aufklärung siehe den Beitrag von Matthias Pohlig im vorliegenden Band. 36 Siehe Othmar Metzger: Die Ulmer Stadtmaler (1495–1631). In: Ulm und Oberschwaben 35 (1958), S. 181–200, hier S. 184; ders.: Die Malerfamilie Rieder. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben 6 (1958), S. 238–258, hier S. 244; Troescher (Anm. 3), S. 196 f. sowie Theodor Ebner: Das Rathaus in Ulm. Festschrift zur Vollendung seiner Restaurierung im Oktober 1905. Ulm 1905, S. 16. 37 Siehe Steffen Stuth: Höfe und Residenzen. Untersuchungen zu den Höfen der Herzöge von Mecklenburg im 16. und 17. Jahrhundert. Bremen 2001 (Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns 4), S. 64; Kilian Heck: Genealogie als dynastische Sphärenbildung. Herzog Ulrich zu Mecklenburg in Güstrow. In: Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von dems., Bernhard Jahn. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 80), S. 137–144, hier S. 142 f. sowie Troescher (Anm. 3), S. 204. 38 Vgl. Troescher (Anm. 3), S. 170 sowie Konrad Knebel: Geschichte des Rathauses zu Freiberg. In: Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins 40 (1904), S. 3–29, hier S. 13. An dieser Stelle sei erwähnt, dass sich auch im Rathaus des rund 80 km südwestlich von Freiberg gelegenen Schneeberg – in der dortigen Wolfgangskirche fand 1539 das erste ‚lutherische‘ Altarretabel aus der Cranach-Werkstatt seinen Ort – eine Darstellung des Jüngsten Gerichts befand, die Troescher

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(1735). 40 Dabei sollte man sich bisweilen auch explizit auf die zuvor zitierte Glosse zum Sächsischen Weichbildrecht beziehen, so etwa 1628 in Breslau und noch 1703 in Hamburg.41 Ebenso ist zu betonen, dass vielerorts, ganz anders als in Regensburg, die mittelalterlichen Darstellungen an Ort und Stelle verblieben und, wenn überhaupt, erst im späteren 18. oder im 19. Jahrhundert entfernt oder übermalt wurden. Beispiele bilden hier, neben dem eingangs vorgestellten Nürnberger Gemälde Michael Wolgemuts, die Wandmalereien im (heutigen) Großen Sitzungssaal des Rathauses in Goslar42 sowie in der sog. Gerichtslaube des Rathauses in Lüneburg.43 Als grundsätzlich ‚problematisch‘ empfand man Weltgerichtsdarstellungen im profanen Raum also offenbar auch in lutherischen Gebieten nicht, so die allgemeine Beobachtung. Damit ist nun, entgegen Zapalacs These eines aus der Causa Regensburg abzuleitenden ‚spezifisch lutherischen‘ Umgangs mit den Bildern des Jüngsten Gerichts (im Gegensatz zum ‚katholischen‘), auch für die Rathäuser vorauszusetzen, was im Blick auf die religiösen Bildprogramme der Frühen Neuzeit erst in jüngerer Zeit zunehmend in den Fokus der Forschung getreten ist: dass nämlich, so Kern, 39

das konfessionell Eigene und das konfessionell Fremde nicht feststehende Größen sind, dass es die lutherische [oder katholische, Anm. d. Verf.] Bildprägung und Ikonographie

nicht kannte. Das Rathaus, das 1548 in Betrieb genommen worden war, fiel 1719 einem Stadtbrand zum Opfer, allerdings ist uns aus der Zeit vor dem Brand eine Beschreibung Christian Meltzers überliefert, derzufolge das Gemälde über der Tür der Ratsstube angebracht war: „Uber dieser Stuben-Thür/ von aussen/ ist das Gemählde des Jüngsten Gerichts auffgehenget/ welches sonder Zweiffel einer dern Krodel gemahlet hat und A. 1602. renoviret ist. Darunter stehet der Paulinische Spruch: Wir müssen alle offenbahr werden für dem Richterstuhl Christi [2Kor 5,10] etc. Und ferner drunter: Habt Gerechtigkeit lieb ihr Regenten auff Erden [Sap 1,1].“ Christian Meltzer: Historia Schneebergensis Renovata. Das ist: Erneuerte Stadt- u. Berg-Chronica Der im Ober-Ertz-Gebürge des belobten Meißens gelegenen Wohl-löbl. Freyen Berg-Stadt Schneeberg […]. Schneeberg 1716, S. 137. Für das Gemälde zeichnete womöglich der Schneeberger Maler Wolfgang Krodel d. Ä. (gest. 1568) verantwortlich, der bei Cranach d. Ä. gelernt hatte; entsprechend dürfte das Gemälde wohl Krodels Jüngstem Gericht (1530) geähnelt haben, das sich heute im Besitz des Palastmuseums Wilanów in Warschau befindet. 39 Auch das Kieler Beispiel war Troescher nicht bekannt. Siehe hierzu noch Wolfgang Scheffler, Hedwig Sievert: Das Gerichtsbild im Kieler Rathaus. In: Mitteilungen zur Kieler Stadtgeschichte 51 (1951), S. 9–13. Wo sich das Gemälde heute befindet, ließ sich bisher nicht eruieren. 40 Siehe Lucrezia Hartmann: Das Rathaus in Schwäbisch Hall. In: Württembergisch-Franken 53 (1969), S. 63–79, hier S. 68–75 sowie Troescher (Anm. 3), S. 195. 41 Vgl. Troescher (Anm. 3), S. 148–150. 42 Auch dieses war Troescher noch nicht bekannt. Vgl. hierzu den Katalogeintrag in: Mittelalterliche Rathäuser in Niedersachsen und Bremen. Hg. von Ursula Schädler-Saub, Angela Weyer. Petersberg 2003 (Regionale Kulturerbe-Routen 2), S. 103–108. 43 Siehe Schädler-Saub, Weyer (Anm. 42), S. 153; Hans Georg Gmelin: Das Weltgerichtsbild in der Gerichtslaube des Lüneburger Rathauses. In: Lüneburger Blätter 19/20 (1968/69), S. 95–99; Troescher (Anm. 3), S. 187 f. sowie Lederle (Anm. 3), S. 17 f.

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nicht gibt, sondern dass an jedem Ort und in jeder Zeit jeweils neu konfiguriert wird, ob und wie konfessionelle Differenz artikuliert oder wie überkonfessionelle christliche Traditionen hervorgehoben werden. Diese Praktiken der Hervorbringung und Verbreitung von konfessionsspezifischen Bildformularen sind sehr stark von den lokalen Bedingungen, der Stabilität oder Instabilität konfessioneller Zugehörigkeit abhängig. Bildern kommt von Anfang an die Aufgabe zu, Kristallisationskerne konfessionellen Selbstverständnisses zu sein. Sie erfahren, wie der Bildtypus Gesetz und Gnade dokumentiert, in dieser Funktion weite Verbreitung. Dennoch sind gleichzeitig zahlreiche semantische Verschiebungen zu beobachten, überregionale, tradierte Bildformulare werden lokal abgewandelt und angepasst. Diese Aneignungsprozesse lassen sich gut mit dem Begriff der ‚Glokalisierung‘ charakterisieren, den Roland Robertson für die Kulturwissenschaften fruchtbar gemacht hat, um zum Ausdruck zu bringen, dass überregional zirkulierende Konzepte in der lokalen Aneignung Veränderungen unterworfen sind.44

Möchte man folglich die durchaus berechtigten Fragen stellen, wie die Lutheraner denn nun mit der lang gepflegten Tradition der Weltgerichtsdarstellung im Rathaus verfuhren, ob und, wenn ja, welchen Transformationen diese angesichts eines sich zeitgleich wandelnden bzw. festigenden Kirchen- und Obrigkeitsverständnisses unterzogen wurde und inwiefern sich hier konfessionelle Markierungen feststellen lassen, so sind diese a priori nicht generalisierend, sondern nur direkt am Objekt zu beantworten. Dies gilt schon allein deshalb, da der politische (schwerlich von der Konfession zu trennende) Kontext des Rathauses nun einmal in hohem Maße – bisweilen vielleicht sogar in höherem Maße als der des Kirchenraums – an lokale Gegeben- und Besonderheiten gebunden war und dieses politische Lokalkolorit entsprechend Konsequenzen für die Ausgestaltung jener Bilder nach sich zog, die für diesen Kontext geschaffen wurden. Dies vorausgesetzt, seien diese Fragen daher im Folgenden an einem m. E. besonders erhellenden Fallbeispiel diskutiert, das nicht nur in politisch turbulenten Zeiten, sondern auch unter dezidiert lutherischen Vorzeichen entstand – und gerade darin eindrücklich unter Beweis stellt, dass der Fall Regensburg kaum als repräsentativ zu betrachten ist.

44 Margit Kern: Was ist lutherisch? Konfessionelle Aushandlungsprozesse in religiösen Bildprogrammen der Frühen Neuzeit. In: Kat. Ausst. Luther und die Deutschen. Begleitband zur Nationalen Sonderausstellung (Eisenach, Wartburg, 4.5.–5.11.2017). Hg. von der Wartburg-Stiftung Eisenach. Petersberg 2017, S. 339–344, hier S. 340. Hervorhebung i. O. Kern bezieht sich hier auf Roland Robertson: Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit. In: Perspektiven der Weltgesellschaft. Hg. von Ulrich Beck. Frankfurt a. M. 1998, S. 192–220.

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3. Gesetz und Gericht im Rathaus von Stadthagen 1623 erhielt das Rathaus45 im unweit der Residenzstadt Bückeburg gelegenen Stadthagen ein Gemälde (Abb. 8) des Stadthäger Künstlers und Ratsherrn Hermann Moller,46 das sich noch heute in situ befindet: Die Tafel mit einer stattlichen Breite von über drei Metern fand ihren Ort in der Ratsstube, die zwischenzeitlich – bis Ende der 1990er Jahre – als Amtszimmer des Stadtdirektors diente, nunmehr jedoch als Trauzimmer des Alten Rathauses fungiert. Das Gemälde, das Troescher offenbar nicht bekannt war und auch in der neueren Forschung kaum Beachtung fand,47 ist in zwei oder vielmehr drei Bereiche geteilt: Getrennt durch eine von Pfeilern gerahmte Nische, in der uns eine unbekleidete Figur eine Schrifttafel präsentiert, werden hier, wie schon im Mittelalter oftmals zu beobachten,48 die beiden ‚Klassiker‘ unter den biblisch fundierten Gerechtigkeitsdarstellungen,49 will sagen: das Jüngste Gericht und das Urteil des Salomo einander gegenübergestellt. Dabei bildet erstere nicht nur kompositorisch, sondern auch ob der Größenverhältnisse den Mittel- und folglich auch den Ausgangspunkt der Bildbetrachtung (Abb. 9): Den rechten Arm auf die Schrifttafel vor ihr gelegt, mit der Linken die Tafel umfassend, nimmt die offenbar auf die Knie gesunkene – und von Rolf Fritz nicht ganz nachvollziehbar als ‚Justitia‘ identifizierte50 – androgyne 45 Siehe Horst Masuch, Anna Masuch: Das Rathaus von Stadthagen. Ein Renaissancebau. Bückeburg 1964. 46 Siehe zur Künstlerfamilie Moller Rolf Fritz: Die Künstlerfamilie Moller in Stadthagen. In: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 8 (1969), S. 147–160. 47 Die ausführlichste Auseinandersetzung findet sich immer noch bei Fritz (Anm. 46), S. 153–156. Danach findet das Gemälde lediglich am Rande Erwähnung. Siehe etwa Siegrid Westphal: Frieden durch Policey. Die Reichspoliceyordnungen als Vorbild für die territoriale Friedenssicherung. In: 1615 – Recht und Ordnung in Schaumburg. Hg. von Stefan Brüdermann. Bielefeld 2018 (Schaumburger Studien 74), S. 104–117, hier S. 104; Georg Ulrich Großmann: Hannover und Südniedersachsen. Geschichte, Kunst und Landschaft zwischen Harz und Weser: Braunschweig, Hildesheim, Goslar, Göttingen und Hameln. Köln 1999, S. 257; Helge Bei der Wieden: Ein norddeutscher Renaissancefürst. Ernst zu Holstein-Schaumburg. 1569–1622. Bielefeld 1994 (Kulturlandschaft Schaumburg 1), S. 9 f. sowie Renate Jürgens: Malerei und Plastik im Bereich der „Weserrenaissance“ – ein Überblick. In: Kat. Ausst. Renaissance im Weserraum (WeserrenaissanceMuseum Schloss Brake, 22.4.–1.10.1989). Bd. 2: Aufsätze. Hg. von Georg Ulrich Großmann. München 1989 (Schriften des Weserrenaissance-Museums Schloss Brake 2), S. 71–92, hier S. 86. Die Beschreibung auf der Website zur Weserrenaissance in Stadthagen (https://www.weserrenaissance-stadthagen.de/Zusatzinfo_Rathaus.html, letztes Abrufdatum: 28.10.2021) geht nur geringfügig über den bisherigen Forschungsstand hinaus. 48 Dass die Gegenüberstellung von Jüngstem Gericht und Urteil Salomonis auf eine lange Tradition zurückblickt, zeigt sich nicht nur in den Rathäusern und Gerichtssälen, sondern bspw. auch in dem Umstand, dass sie zu den üblichen – typologischen – Bildpaaren der Biblia Pauperum gehört. 49 Vgl. bereits Lederle (Anm. 3), S. 14–31. 50 Vgl. Fritz (Anm. 46), S. 153.

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Abb. 8: Hermann Moller: Gerechtigkeitsbild, 1623, 122,8 × 312 cm, Stadthagen, Rathaus, Trauzimmer (ehem. Ratsstube).

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Abb. 9: Hermann Moller: Gerechtigkeitsbild, Detail: Mittelteil.

Gestalt die gesamte Höhe des Bildes ein und tritt uns damit in Lebensgröße gegenüber. Die Inschrift, die im unteren Drittel die Ratsverwandten Philip Mercklin, Hermann Moller und Michael Bomers als Stifter des Gemäldes benennt (ihre Wappen sind an den beiden Pfeilern und am unteren Rand der Schrifttafel

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platziert), zitiert je eine Passage aus dem 5. Buch Mose und dem Buch der Weisheit Salomos.51 Während erstere (Dtn 1,16 f.) die Obrigkeit dazu ermahnt, jeden ungeachtet seines Standes und seiner Herkunft anzuhören, und diesen Anspruch auf das göttliche Richteramt zurückführt – „den das Gerichtampt ist Gottes“ –, verweist letztere (Sap 6,1.3.5–7) auf das zukünftige Gericht: Diejenigen, denen, so heißt es hier, „die oberkeitt gegeben [ist] vom Herrn und die Gewalt vom Höchsten“, werden sich dereinst vor Gott verantworten müssen: „denn den geringen wiederfehret gnade, aber die Gewaltigen werden gewaltiglich gestrafft werden.“

3.1. Gerichtsernst und Gottesfurcht in Krisenzeiten

Die an zentraler Stelle platzierte Inschrift des Stadthäger Gerechtigkeitsbildes erfüllt also eine gleich dreifache Funktion. Sie beinhaltet, erstens, eine Legitimation weltlicher Herrschaft, zweitens eine Definition guter Amtsführung und drittens eine deutliche Mahnung, dass die Herrschenden dem Gericht nicht entkommen können. Damit steht die Obrigkeit auch in Stadthagen unter strenger Beobachtung, was jedoch angesichts des zu Beginn des 17. Jahrhunderts in der lutherischen Orthodoxie vorherrschenden Gedankens eines ordo triplex hierarchicus52 nur naheliegend ist. Da die weltliche Obrigkeit – als Vertreterin des status politicus – zur Aufrechterhaltung des sittlichen Zusammenlebens eingesetzt ist, kommt ihr eine besondere Verantwortung für ihre Untertanen zu: Nach lutherischem Verständnis obliegen ihr als Dienerin Gottes nach dem Sündenfall

51 „Im V. Buch Mosis am 1. cap. [Dtn 1,16 f.] | Verhöret ewre Brüder vnd richtet recht zwisschen iederman vnd seinem Bruder vnd dem Frembdlinge[.] [K]eine Person solt ihr im Gericht ansehen sonder[n] solt den kleinen horen wie den grosse[n] vnd für niemands Person euch schewen den das Gerichtampt [ist] gottes. | Im Buch der Weisheit am 6. cap. [Sap 6,1.3.5–7] | So horet nu Ihr konige vnd mercket[,] lernet Ihr Richter auff Erden den euch ist die oberkeitt gegeben vom Herrn vnd die gewalt vom Hohesten welcher wird fragen wie ihr ha[n]delt vnd forschen was ihr ordent den Er wird gar gr[e]wlich vnd kurtz vber euch komen vnd es wird gar ein scharff Gericht gehen vber die Oberherrn denn den geringen wiederfehret gnade aber die Gewaltigen werden gewaltiglich gestrafft werden. | Anno 1623 haben diese gemald Tafell die Ehrnveste vnd achtbare Philip Mercklin, Herman Moller, Michaell Bomers, Bürger vnd Rathsverwanten zum Stadhagen aus liebe gegen diese Gemeine vnd Stad wollmeinentlich in diese Rathstube zum gedechtnis verehren wollen.“ 52 Siehe zur lutherischen Dreiständelehre u. a. Inge Mager: Die Rezeption der Zwei-Reiche-Vorstellung in der lutherischen Orthodoxie bis zu Johann Gerhard. In: Bekennen und Bekenntnis im Kontext der Wittenberger Reformation. Hg. von Daniel Gehrt u. a. Göttingen 2019 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 128), S. 193–206; Martin Honecker: Recht in der Kirche des Evangeliums. Tübingen 2008 (Jus ecclesiasticum 85), S. 74–81 sowie Oswald Bayer: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung. Tübingen 2003, S. 110–139.

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die Pflicht und die alleinige Macht, als „äußeres Zuchtmittel“53 vom Schwert Gebrauch zu machen (vgl. Röm 13,1–7), i. e. die Unschuldigen zu schützen und die Schuldigen zu strafen, wobei sich ihr ‚Zugriffsrecht‘ auf den äußeren Menschen beschränkt und am Jüngsten Tag obsolet wird. Im Sinne des usus politicus bzw. civilis legis wirkt Gott demnach durch das Gesetz zum Zusammenhalt seiner Schöpfung, oder anders ausgedrückt: Auch im weltlichen Regiment ist es Gott, der mittelbar regiert – „[d]urch die Obrigkeit ist Gott der eigentliche Richter.“54 Insofern es nun aufgrund dieser Tatsache umgekehrt den Untertanen nicht zusteht, das Schwert gegen die Obrigkeit zu erheben, so bedarf es entsprechend der konstanten und eindringlichen Erinnerung, dass selbstverständlich auch die Obrigkeit (deren Vertreter als Hörer des Evangeliums wiederum in den status ecclesiasticus eingebunden und dem vom Wort bestimmten ‚Wächteramt‘ der Prediger unterworfen sind)55 dereinst vor dem höchsten aller Richter stehen wird, von dem sie auf Erden ihr Amt bezieht. Diesen in der Stadthäger Inschrift deutlich präsenten Gerichtsernst sowie das mit ihm einhergehende Ineinandergreifen von Legitimation und Ermahnung finden wir bereits bei Luther (insbesondere in seiner richtungsweisenden und breit rezipierten Auslegung des 101. Psalms),56 doch auch und gerade in der lutherischen Orthodoxie wurde der zur Gottesfurcht auffordernden Strafpredigt gegenüber der weltlichen Obrigkeit eine wichtige, regulierende Funktion zugesprochen.57 Exemplarisch sei an dieser Stelle lediglich auf den Wolfenbütteler Hofprediger Basilius Sattler (gest. 1624) verwiesen, der mit den Herrschenden besonders hart ‚ins Gericht‘ ging: Sattler, der fast ein halbes Jahrhundert lang im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel wirkte,58 hielt 1613 die Leichenpre-

53 Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang. Göttingen 1995, S. 344. 54 Reinhard Slenczka: Usus politicus legis – Das universale Gesetz und Gericht Gottes. Probleme theologischer Rechtsbegründung. In: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 55 (2010), S. 374–401, hier S. 378. Vgl. auch Jonathan Mumme: Die Präsenz Christi im Amt. Am Beispiel ausgewählter Predigten Martin Luthers, 1535–1546. Göttingen 2015 (Refo500 Academic Studies 21), S. 221 f. 55 Vgl. Honecker, Recht (Anm. 52), S. 75. Siehe zum ‚Wächteramt‘ der Prediger u. a. Luise SchornSchütte: Politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Obrigkeitskritik im Alten Reich. In: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 273–314, hier S. 307 sowie dies.: Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht. Die politica christiana als Legitimitätsgrundlage. In: Historische Zeitschrift. Beihefte 39 (2004), S. 195–232, hier S. 220 f. 56 Vgl. zu Luthers Auslegung Wolfgang Sommer: Gottesfurcht und Fürstenherrschaft. Studien zum Obrigkeitsverständnis Johann Arndts und lutherischer Hofprediger zur Zeit der altprotestantischen Orthodoxie. Göttingen 1988 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 41), S. 23–73. 57 Vgl. hierzu in jüngerer Zeit auch Kurzmann (Anm. 20), S. 268–278. 58 Vgl. Sommer, Gottesfurcht (Anm. 56), S. 225–254.

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digt59 auf Herzog Heinrich Julius, in der er mit scharfen Worten seine Obrigkeitskritik60 ausformulierte und in diesem Zuge die provokante Frage stellte, „[o]b die Herrn und gewaltige auch in Himmel kommen/ und Gott sie selig machen wolle“. Unter Berufung auf u. a. Sap 6,7 (s. o.) zeichnet Sattler zunächst das Bild eines strafenden Richters, das, wie er betont, den Eindruck vermitteln könnte, „als wenn sie Gott nicht wolte selig machen/ vnd jhnen die Seligkeit nicht gönnete/ weil viel Gewaltige verdampt werden“. Dies könne so manchen Regenten „fürn Kopff stossen“, in Angst und Schrecken versetzen und dazu führen, dass dieser „entweder verzagte/ oder sich gar in die Schantze schlüge/ vnd gedechte/ so wolte er eben so mehr in die Helle rennen/ als traben“.61 Doch es sei hervorzuheben, dass Gott allen Menschen helfen und sie zur Erkenntnis der Wahrheit führen wolle (vgl. 1Tim 2,4) – folglich auch die Vertreter der Obrigkeit, denen (und so möchte Sattler sein Amt auch verstanden wissen) durch die Prediger nicht nur der Zorn Gottes zu verkünden, sondern auch die göttliche Gnade anzubieten sei. Das Problem bestehe nun jedoch darin, dass die Herrschenden sich offt jrer gewalt vber heben/ Gottes wort/ dardurch Gott allein selig machet/ nit achten/ es nit annemen/ sich nit bekeren/ sondern meinen/ weil sie hie auff Erden keinen Oberherrn haben/ so mögen sie thun was sie selber wollen […]. So gehets noch offtmals her/ das die Herrn jnen auch mit Gottes wort nit wollen einreden lassen/ vnd sprechen/ wie Ps 2. steht. Lasset vns zureissen jre Bande/ vnnd von vns werffen jhre Seyle? [Ps 2,2] Darzu denn etliche Schmeichler redlich helffen/ E. Gn. müssen sich die Pfaffen nicht regieren lassen/ sondern sie auff die Finger klopffen.62

Wie sich aus dieser Klage über den am Hofe herrschenden Hochmut sowie die Gleichgültigkeit gegenüber der Predigt schließen lässt, stand im Zentrum des Sattler’schen Selbstverständnisses als Hofprediger – das er sich mit anderen lutherischen Theologen wie bspw. dem zeitgleich am Dresdner Hof wirkenden Polykarp Leyser teilte63 – der Anspruch auf „die unverkürzte Verkündigung des Wortes Gottes an die Obrigkeit, aus dem sie Richtung und Weisung für das persönliche Leben wie amtliche Handeln empfängt“.64 Diese grundlegende und im 59 Basilius Sattler: Eine Predigt/ Von der Oberkeit/ Gethan bey der Begräbnuß Des Weyland Hochwürdigen/ Durchleuchtigen/ Hochgebornen Fürsten und Herrn/ Herrn Heinrich Julii/ Postulirten Bischoffen des Stiffts Halberstadt/ und Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburg/ hochlöblicher gedechtnuß. Magdeburg 1613. 60 Vgl. zur Obrigkeitskritik um 1600 auch pointiert Wolfgang Sommer: Obrigkeitskritik und die politische Funktion der Frömmigkeit im deutschen Luthertum des konfessionellen Zeitalters. In: Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutschbritischen Vergleich. Hg. von Robert von Friedeburg. Berlin 2001, S. 245–263. 61 Sattler (Anm. 59), fol. C 4v. 62 Ebd., fol. D 1v. 63 Vgl. Sommer, Gottesfurcht (Anm. 56), S. 74–134. 64 Ebd., S. 253.

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Luthertum des 17. Jahrhunderts erstarkende Überzeugung, dass die Obrigkeit nur durch die Anerkennung der eigenen Erlösungsbedürftigkeit und die damit einhergehende Gottesfurcht und Demut zu einer tatsächlich gottgefälligen, auf das Wohl aller ausgerichteten Amtsführung befähigt wird,65 ist für unseren Kontext insofern entscheidend, als diese, wie wir sehen werden, auch in Mollers Gerechtigkeitsbild durchdekliniert wird – und es sei an dieser Stelle bereits darauf hingewiesen, dass die Stadthäger Ratsmitglieder schon am Außenbau des Rathauses an ein solches Abhängigkeitsverhältnis erinnert wurden: Die Schrifttafel des 1596 vollendeten, direkt oberhalb der Fenster zur ehemaligen Ratsstube angebrachten Ausluchtaufsatzes am Ostgiebel zitiert zum einen Ps 127,166 und verweist zum anderen (unter Berufung auf Prv 8, vgl. Prv 8,12) auf den Umstand, dass sich eine weise Führung und ein jeder Erfolg allein Gott verdankten: „CONSILIVM ET INTELLIGENTIA SVCCESSVS ET EXECVTIO PROVENIVNT A DOMI67 NO.“ Blicken wir also vor diesem Hintergrund nochmals auf die Inschriftentafel des Gerechtigkeitsbildes, so ist zunächst festzuhalten, dass der hier ausformulierte Gerichtsgedanke nicht als mittelalterliches Relikt, sondern vielmehr als Ausdruck jenes um 1600 im Luthertum zu beobachtenden Trends hin zu einer „stärkere[n] Verchristlichung der Obrigkeit“68 aufzufassen ist, der sich auch in dem zuvor skizzierten (und dem gängigen Narrativ einer lutherischen ‚Obrigkeitshörigkeit‘ widersprechenden) Amtsverständnis der Hofprediger spiegelt. Der Umstand, dass wir in den lutherischen Schlosskapellen – und hierauf wird zurückzukommen sein – häufig Darstellungen des Jüngsten Gerichts begegnen, die entweder, wie etwa in Celle,69 vom Herrenstuhl aus gut einsehbar oder aber, wie in Bückeburg,70 direkt an der Fürstenloge angebracht sind, fügt sich recht nahtlos in dieses Bild. Dabei erhält die im Stadthäger Gerechtigkeitsbild im Zentrum stehende legitimierende wie auch warnende Botschaft nun nochmals besonderes Gewicht, 65 Vgl. auch Sommer, Obrigkeitskritik (Anm. 60), S. 251. 66 „Nisi Dominus aedificaverit domum in vanum laboraverunt qui aedificant eam nisi Dominus custodierit civitatem frustra vigilat qui custodit eam.“ („WO der HERR nicht das haus bawet, so erbeyten vmbsonst, Die dran bawen. Wo der HERR nicht die stad behuetet, So wachet der wechter vmb sonst.“) 67 Vgl. Masuch (Anm. 45), S. 34. 68 Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617. Tübingen 2007 (Spätmittelalter und Reformation 37), S. 139. 69 Vgl. Johann Anselm Steiger: Die Schloßkapelle in Celle. Ein Bild- und Schriftraum der Reformation. Dokumentation sämtlicher Bildwerke und Inschriften in ihren Kontexten. Regensburg 2018, S. 111–122. 70 Vgl. Heiner Borggrefe: Schloss Bückeburg. Höfischer Glanz – fürstliche Repräsentation. Hannover 2008 (Kulturlandschaft Schaumburg 13), S. 18 f.

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Abb. 10: Aegidius Sadeler II.: Allegorie auf die Regierung Matthias’ I., 1614, Amsterdam, Rijksmuseum, RP-P-OB-70.082.

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bedenkt man das Vorbild, dessen sich Moller bediente,71 fungierte hier doch als Vorlage Aegidius Sadelers72 1614 geschaffene Allegorie auf die Regierung Matthias’ I. (Abb. 10). Der Kupferstich73 präsentiert mittig die von den Porträts seiner Vorgänger eingefasste Büste des Kaisers, flankiert links von der Zähmung des Pegasus durch Merkur, rechts von Fama und der Tötung des Drachens der Häresie durch Minerva.74 Im oberen Drittel haben sich Sapientia und Fortitudo als Bannerträgerinnen der Habsburger („Firmatum coelitus omen“) und Matthias’ („Amat Victoria curam“) niedergelassen; zwischen ihnen lassen die Drei Grazien einen Schauer aus Blüten und Gold auf das Bildnis des Kaisers herabregnen. Das für uns entscheidende untere Drittel hingegen (Abb. 11) wird dominiert vom Adler der Habsburger, der, den Globus fest in den Krallen haltend, mit Schwert und Kreuz die Personifikationen des Neides (Invidia) und der Dummheit (Stultitia) unter sich begräbt, während sich ihm links die Untertanen Ungarns und Böhmens, rechts die unterworfenen Türken in Ergebenheit zuwenden. Direkt vor dem Globus kniet derweil, den Blick zum Adler über ihr erhoben, eine nicht weiter identifizierte Gestalt mit einer Widmungstafel, auf der die Herrschertitel des Porträtierten aufgezählt sind. Es ist unschwer zu erkennen, dass diese in Sadelers Kupferstich recht unscheinbar anmutende Figur als direktes Vorbild für den ausgesprochen dominanten Mittelteil des Moller’schen Gemäldes diente, was jedoch mitnichten ästhetische Gründe gehabt haben dürfte: Die ganz dem Herrscherlob verschriebene Druckgrafik rühmt in extenso die Weisheit und Stärke, die Besonnenheit und den Mut, kurz: die Tugendhaftigkeit, aufgrund deren Matthias seinem Bruder Rudolf II. auf den Thron gefolgt war.75 Mit Rudolfs Tod hatte 1612 auch der

71 Siehe auch https://www.weserrenaissance-stadthagen.de/Zusatzinfo_Rathaus.html (letztes Abrufdatum: 28.10.2021). 72 Siehe zu Sadeler Dorothy Limouze: Aegidius Sadeler, Imperial Printmaker. In: Philadelphia Museum of Art Bulletin 85 (1989), S. 1–24. 73 Das ebenfalls Sadeler zugeschriebene Gemälde, das wohl als Vorlage diente, befindet sich heute im Besitz des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Siehe Agnes Kusler: ‚Maiestatis Hungariae Aquila‘: Christoph Lackner and the Hieroglyph of the Habsburg Eagle. In: Emblems and the Natural World. Hg. von Karl A. E. Enenkel, Paul J. Smith. Leiden 2017 (Intersections. Interdisciplinary Studies in Early Modern Culture 50), S. 419–453, hier S. 442–444 sowie Limouze (Anm. 72), S. 15 f. 74 Während die Zähmung des Pegasus von der Fontana dei Dioscuri auf der Piazza del Quirinale in Rom inspiriert sein dürfte, zitiert die Drachentötung (die freilich auf Michaels Kampf mit dem Drachen verweist) Sadelers vier Jahre zuvor geschaffenen Triumph der Weisheit: Hier sticht Minerva, umgeben von den Personifikationen der Wissenschaften, der von ihr zu Boden gerungenen Stultitia in den Hals. 75 Vgl. zur Regierungszeit Matthias’ I. Bernd Rill: Kaiser Matthias. Bruderzwist und Glaubenskampf. Graz 1999.

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Abb. 11: Aegidius Sadeler II.: Allegorie auf die Regierung Matthias’ I., Detail: unteres Drittel.

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habsburgische Bruderzwist76 ein Ende gefunden, und so hat es durchaus Symbolcharakter, dass die Putti am oberen Bildrand nicht etwa die Reichskrone, sondern die rudolfinische Hauskrone77 aus dem Himmel herabtragen, die Matthias den Triumph über seinen Bruder und damit den Kaisertitel beschert – ein Titel und vor allem ein Name, der wenige Jahre später mit dem Ausbruch des Krieges verknüpft sein sollte, war es doch Matthias, in dessen Regierungszeit der Beginn des Böhmischen Aufstandes und der Prager Fenstersturz fielen.78 Von den sich anschließenden Kriegswirren war zur Entstehungszeit des Gemäldes auch Stadthagen nicht mehr verschont geblieben: Die um Neutralität bemühte Grafschaft Schaumburg79 wurde zum Kriegsschauplatz, nachdem Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel – aufgrund seiner Kriegsführung „der tolle Halberstädter“ genannt – Westfalen als Versorgungsbasis auserkoren hatte.80 Erst im Februar 1623 waren seine Söldnertruppen im zwanzig Kilometer entfernten Rinteln eingefallen und hatten die dortige Universität besetzt;81 drei Monate später wurde auch Stadthagen erstmals belagert.82 Eingedenk dessen, 76 Vgl. zuletzt ausführlich die Beiträge in Václav Bůžek (Hg.): Ein Bruderzwist im Hause Habsburg (1608–1611). České Budějovice 2010 (Opera Historica 14). 77 Die von Rudolf II. in Auftrag gegebene Kaiserkrone wurde 1602 von Jan Vermeyen geschaffen und zählt zu jenen Privatkronen, die sich manche Kaiser für offizielle Anlässe anfertigen ließen, da die Reichskrone als Teil der Reichskleinodien in Nürnberg verwahrt und nur zur Krönungszeremonie herausgegeben wurde. Siehe hierzu Hermann Fillitz: Die österreichische Kaiserkrone und die Insignien des Kaisertums Österreich. Wien 1959. 78 Es sei daran erinnert, dass es der Majestätsbrief Rudolfs II. gewesen war, der 1609 den böhmischen Protestanten die freie Religionsausübung zugesichert hatte, nachdem diese Rudolf in der Auseinandersetzung mit seinem Bruder unterstützt hatten. Obwohl letzterer nach Rudolfs Tod die Gültigkeit des Dokuments bestätigte, spitzte sich die konfessionelle Lage in Böhmen durch das (von Matthias nicht unterbundene) Gebahren seiner katholischen Statthalter zunehmend zu, um schließlich im Prager Fenstersturz von 1618 zu gipfeln. Nach der Niederlage der Protestanten in der Schlacht am Weißen Berg (1620) wurde der Majestätsbrief durch Matthias’ Nachfolger Ferdinand II. für ungültig erklärt. Siehe in jüngerer Zeit ausführlich Geoff Mortimer: The Origins of the Thirty Years War and the Revolt in Bohemia, 1618. Basingstoke 2015. 79 Zur Grafschaft Schaumburg siehe u. a. Helge Bei der Wieden: Die Einführung der Reformation in der Grafschaft Schaumburg. In: Die Ausstrahlung der Reformation. Beiträge zu Kirche und Alltag in Nordwestdeutschland. Hg. von dems. Göttingen 2011 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 43), S. 13–51; ders.: Die Grafschaft Schaumburg zwischen den Konfessionen in der frühen Neuzeit. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 100 (2002), S. 21–42 sowie ders.: Die Konkordienformel in der Grafschaft Schaumburg und Holstein(-Pinneberg). In: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 97 (1999), S. 83–104. 80 Vgl. Stefan Brüdermann: 1618 – Schaumburg und der Dreißigjährige Krieg. In: Entscheidungsjahre in Schaumburg. Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Novemberpogrom. Hg. von dems. Göttingen 2020 (Kulturlandschaft Schaumburg 25), S. 9–36, hier S. 12–14. 81 Vgl. ebd., S. 14 sowie Rudolf Feige: Das akademische Gymnasium Stadthagen und die Frühzeit der Universität Rinteln. Hameln 1956, S. 34 f. 82 Vgl. Otto Zaretzky: Stadthagen im 30jährigen Kriege [1939]. In: Stadthagen im Wandel der Zeit. Beiträge zur Stadtgeschichte. Hg. von Otto Bernstorf. Stadthagen 1958, S. 281–301, hier S. 287.

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dass die in Böhmen ausgebrochenen Auseinandersetzungen inzwischen also die eigenen Stadtgrenzen erreicht hatten, taugte der zuvor in Sadelers Kupferstich noch gerühmte habsburgische Regierungsstil, für den die Widmungstafel pars pro toto steht, wohl nur noch als negativer Bezugspunkt. Gerade als solcher blieb er jedoch in Mollers Gemälde aufgrund der schieren Größe und raumgreifenden Präsenz stets besonderer und herausgehobener Teil der alltäglichen Realität der Stadthäger Ratsherren, zu denen auch der Künstler selbst gehörte. Damit betonte diese Figur, den Blick nunmehr gen Himmel erhoben, umso mehr die Notwendigkeit der an die Stelle der Herrschertitel getretenen Grundsätze und Forderungen – denn dass es in Krisenzeiten umso dringlicher einer wahrhaftig weisen Führung bedurfte, die zum Schutz der Stadt und ihrer Einwohner für Recht und Ordnung sorgte, liegt auf der Hand.

3.2. Himmlisches und irdisches Gericht

Mit dem Jüngsten Gericht und dem Urteil des Salomo liefert das Gemälde nun gleich zwei Vorbilder einer solchen Führung, wobei ‚Vorbilder‘ ganz wörtlich zu nehmen ist: Die unstimmige Raumkonstruktion gibt zu erkennen, dass es sich hier um Bilder im Bild handelt, die dieser definierenden Mitte als voneinander abhängige und aufeinander bezogene Pendants zur Seite gestellt sind – sozusagen als bildliche Entsprechung dessen, was die Schrifttafel formuliert. Dabei ist das Weltgericht (Abb. 12) sowohl Ausgangs- als auch Endpunkt: Mittig thront Christus auf einem Regenbogen, flankiert von Maria, Johannes dem Täufer und den Vertretern des Alten und Neuen Bundes. Mit ausgebreiteten Armen blickt er herab auf die soeben aus ihren Gräbern gerufenen Menschen, die von den Engeln in den Himmel hinaufgeführt oder aber in die Hölle getrieben werden. Als Vorlage fungierte hier ein um 1590 geschaffener, konfessionsübergreifend breit rezipierter83 Kupferstich Johann Sadelers (Abb. 13) nach einem Gemälde des Münchner Hofmalers Christoph Schwartz,84 das, so die Inschrift am unteren Bildrand, der Ehefrau Herzog Wilhelms V. von Bayern

83 Spuren des Kupferstichs lassen sich europaweit nachverfolgen; als eines der beeindruckendsten (protestantischen) Beispiele sei hier lediglich das in den 1630er Jahren von Richard Greenbury geschaffene, monochrom gehaltene Westfenster der Magdalen College Chapel in Oxford genannt. Siehe hierzu Graham Parry: Glory, Laud and Honour. The Arts of the Anglican CounterReformation. Woodbridge 2006, S. 72–74. 84 Diese Bezugnahme ist der Forschung, so weit ich sehe, bisher entgangen. – Johann Sadeler I., Onkel des zuvor erwähnten Aegidius Sadeler II., war bis 1595 Hofkupferstecher Herzog Wilhelms V. in München; der hier ebenfalls wirkende Christoph Schwartz zeichnete mitunter für das Hochaltargemälde der 1597 geweihten Jesuitenkirche St. Michael verantwortlich.

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Abb. 12: Hermann Moller: Gerechtigkeitsbild, Detail: Jüngstes Gericht.

gewidmet war.85 Eingefasst ist der querovale Stich von einem umlaufenden Zitat aus den Sibyllinischen Orakeln (OrSib 8,413–416), das den Vollzug des Gerichts und den Richtspruch über die Frommen und Gottlosen ankündigt: TEMPLA POLI VOLVENS TERRAI VISCERA PANDAM, EXQVE CIAM TVMVLIS MANES, FATOQ[VE] SVBACTO ET FRACTIS LETHI STIMVLIS CONPLEBO TRIBVNAL, FACTAQ[VE] CVNCTORVM IVDEX PIA ET IMPIA CERNAM.86

85 Siehe hierzu Gašper Cerkovnik: Christoph Schwarz’s Last Judgement and Counter-Reformation in Inner Austria. In: Art and its Responses to Changes in Society. Hg. von Ines Unetič u. a. Newcastle upon Tyne 2016, S. 49–62. 86 Im griechischen Original lautet OrSib 8,413–416: „οὐρανὸν εἱλίξω, γαίης κευθμῶνας ἀνοίξω, | καὶ τότ' ἀναστήσω νεκροὺς μοῖραν ἀναλύσας | καὶ θανάτου κέντρον, καὶ ὕστερον εἰς κρίσιν ἥξω |

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Abb. 13: Johann Sadeler I. (nach Christoph Schwartz): Jüngstes Gericht, um 1590, Amsterdam, Rijksmuseum, RP-P-OB-5337.

Das Zitat entfiel im Stadthäger Gerechtigkeitsbild, was pragmatische Gründe gehabt haben könnte, womöglich aber seiner außerbiblischen Herkunft geschuldet ist,87 der nun die der Heiligen Schrift entnommenen Verse auf der Inschriftentafel entgegengesetzt werden. Überhaupt sind die Änderungen, die Moller geκρίνων εὐσεβέων καὶ δυσσεβέων βίον ἀνδρῶν“ (‚[Ich] werde den Himmel erschüttern, die Schlünde der Erde eröffnen, und dann will ich die Toten erwecken, lösend das Schicksal und den Stachel des Todes, und schließlich komme ich zum Gericht, um zu richten das Leben der frommen und gottlosen Menschen‘). Gr. Text und dt. Übers. zit. nach Sibyllinische Weissagungen. Griechisch-deutsch. Auf der Grundlage der Ausgabe von Alfons Kurfeß neu übersetzt und hg. von Jörg-Dieter Gauger. Düsseldorf 1998. 87 Allerdings ist zu erwähnen, dass sich dieses Zitat auch durchaus im lutherischen Raum findet. So ist etwa für die Marktkirche in Hannover ein Jüngstes Gericht von 1596 belegt, dem die oben zitierten Verse beigegeben waren. Man darf davon ausgehen, dass das Gemälde, das der Hannoveraner Jurist Conrad Bünting gestiftet hatte, auf Sadelers Darstellung basierte, allerdings sind uns diesbezüglich keine näheren Details überliefert. Siehe hierzu Sabine Wehking: Die Inschriften der Stadt Hannover. Wiesbaden 1993 (Die deutschen Inschriften 36), S. 129.

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genüber seiner ‚katholischen‘ Vorlage vornahm, nicht unerheblich und auch hinsichtlich der Frage nach etwaigen konfessionellen Markierungen aufschlussreich: Wird der Betrachter bei Sadeler noch auf Abstand gehalten, insofern der Weltenrichter in weite Ferne gerückt ist, so verweigert sich das Stadthäger Weltgericht – analog zur direkten Anrede der Obrigkeit auf der Schrifttafel – einer distanzierten Rezeption. Die Komprimierung und Neuanordnung verringern den Abstand zwischen himmlischer und irdischer Sphäre und damit zwischen Weltenrichter und Betrachter, wobei die bei Sadeler zu beobachtende Ovalform von Komposition und Blickführung zugunsten einer strengen Betonung der Mittelachse und des traditionellen Links-Rechts-Schemas (theologisch gesprochen: doppelten Ausgangs) des Jüngsten Gerichts aufgelöst wird. Das ganz im Zeichen von Fall und Aufstieg stehende Kreisen des Blicks ‚an der Peripherie‘, wie es der Kupferstich einfordert,88 weicht bei Moller einer recht forschen Stillstellung, die den Betrachter auf die Mittelachse fixiert und durchaus einen ‚konservativen‘ Zug besitzt: Mag sein Jüngstes Gericht auch zweifellos auf der opulenten Münchner Druckgrafik basieren, so ähnelt es in seinem nunmehr klar strukturierten Aufbau doch eher jenen mittelalterlichen Weltgerichtsdarstellungen, für die das eingangs vorgestellte Gemälde Michael Wolgemuts exemplarisch zu nennen ist. Damit einher geht in Stadthagen eine deutliche Akzentuierung des thronenden Richters wie auch der männlichen Gestalt im Vordergrund, die in Erwartung ihres Urteils flehend die Hände erhoben hält und den Blick des Rezipienten, dem sie so zur Identifikationsfigur wird, in die himmlische Zone geleitet. Wenig überraschend wird gerade hier die konfessionelle Verschiebung offenkundig: Im Mittelpunkt der oberen Hälfte des Münchner Kupferstichs steht – was Gašper Cerkovnik zu Recht als „undoubtedly Catholic message of the composition“89 bezeichnet hat – nicht etwa Christus allein. Stattdessen kniet direkt zu seiner Rechten, erhöht und aus dem Kreise der Heiligen und Märtyrer herausgelöst, Maria, die die Hände demütig vor der Brust gekreuzt hat. Demgegenüber erfuhr die Muttergottes im protestantischen Stadthagen eine Erniedrigung, indem der Künstler sie, der ikonographischen Tradition folgend, zurück auf die Ebene Johannes des Täufers transferierte. Eine derart privilegierte Stellung Mariens (als mindestens Mediatrix, wenn nicht gar Corredemptrix) ziemte sich offensichtlich aus Perspektive des lutherischen Rechtfertigungsverständnisses

88 Das ‚Kreisen‘ ist hier auch im ganz wörtlichen Sinne zu verstehen, insofern das händisch vollzogene Drehen gegen den Uhrzeigersinn notwendig ist, um die Inschrift problemlos lesen zu können, wobei die Rezeption in diesem Fall mit dem Höllensturz beginnt. 89 Cerkovnik (Anm. 85), S. 52.

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nicht.90 Dass der Gedanke einer Rechtfertigung sola fide nicht nur im Kirchenraum, sondern auch im Rathaus entscheidend ist, zeigt sich nicht zuletzt und besonders in der Neuverortung des Mose: Dieser findet sich bei Moller nun nicht mehr (wie bei Sadeler) zur Rechten, sondern zur Linken des Weltenrichters, etwas abgesondert am rechten Bildrand. Dabei ist er jedoch bezeichnenderweise nicht allein; hinter ihm steht (höchstwahrscheinlich) Paulus, der sich, den Zeigefinger mahnend erhoben, über die Gesetzestafeln und damit zu den Verdammten herabbeugt. Die zentrale Botschaft – und man erinnere sich an Cranach (vgl. Abb. 5) – dürfte klar sein: Vor den Qualen der Hölle bewahrt, mit allen Implikationen, allein ein paulinischer, will sagen: lutherischer Blick auf das Gesetz. Da der Mensch nun demgemäß bis zum Jüngsten Tag simul iustus et peccator bleibt – also in der Mitte steht – und die Welt nach lutherischem Verständnis daher nicht mit dem Evangelium zu regieren ist,91 bedarf es des usus politicus legis und damit der weltlichen Obrigkeit.92 Letztere findet hier in Salomo ihr exemplum (Abb. 14), auf das Mose, nach links gewandt, als Einziger ausgerichtet

90 Diese ‚Erniedrigung‘ scheint der übliche protestantische Umgang mit Sadelers Kupferstich gewesen zu sein. Exemplarisch genannt seien hier – neben dem Oxforder Beispiel (siehe Anm. 83) – zum einen das Jüngste Gericht (1696) im südlichen Kreuzarm der Dreifaltigkeitskirche in Schweidnitz (hier wird übrigens interessanterweise niemand in die Hölle gestürzt), zum anderen das an anderer Stelle erwähnte Gerechtigkeitsbild des Kieler Rathauses, zu dem Wolfgang Scheffler nicht ganz wertfrei bemerkte: „Der Kieler Maler hat die Schönheit der Schwartzschen Bildkomposition, wie ein Vergleich der beiden Abbildungen ohne weiteres erkennen läßt, vereinfacht, verschoben und verschandelt. Vor allem kommt die großartige Gloriole Christi, die gemäß der Ovalkomposition des Ganzen, ebenfalls queroval geformt ist, nicht zur Entfaltung; sie ist oben abgeschnitten, und da es sich ja jetzt um ein rechteckiges Bild handelt, konzentrisch – kreisförmig gestaltet. Die fürbittende Marienfigur hat der für ein protestantisches Rathaus Malende weggelassen, aber nicht bedacht, daß er dann Christus auf der Weltkugel auf die Mitte der Wolke hätte rücken müssen.“ Scheffler, Sievert (Anm. 39), S. 11. – Vgl. zur Muttergottes in der Frühen Neuzeit auch die Beiträge in Bernhard Jahn, Claudia Schindler (Hg.): Maria in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit. Berlin 2020 (Frühe Neuzeit 234). 91 Siehe etwa Volker Leppin: Das Gewaltmonopol der Obrigkeit. Luthers sogenannte Zwei-ReicheLehre und der Kampf zwischen Gott und Teufel. In: Ders.: Reformatorische Gestaltungen. Theologie und Kirchenpolitik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Leipzig 2016 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 43), S. 45–57. 92 Vgl. hierzu Gerhard Ebeling: Theologisches Verantworten des Politischen. Luthers Unterrichtung der Gewissen heute bedacht. In: Ders.: Umgang mit Luther. Tübingen 1983, S. 164–201, hier S. 180: „Die weltliche Obrigkeit ist Gottes Anordnung und Werk in der Weise seines ersten Brauchs des Gesetzes, welcher der Herstellung und Aufrechterhaltung bürgerlicher Gerechtigkeit dient. Das heißt: Sie hat zwar nicht mit dem homo peccator als solchem zu tun – das ist Sache der Verkündigung des Evangeliums und um des Evangeliums willen der Predigt des Gesetzes –, wohl aber mit den Auswirkungen der Ursünde im menschlichen Zusammenleben; nicht mit dem peccatum radicale selbst, sondern mit den Sündenfolgen, und zwar nur mit den öffentlichen crimina, die das Zusammenleben unmöglich machen.“

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Abb. 14: Hermann Moller: Gerechtigkeitsbild, Detail: König Salomo.

ist: Erhöht und mit ausgebreiteten Armen hat Salomo auf dem reich geschmückten Löwenthron (vgl. 1Kön 10,18–20) Platz genommen, vor dem die beiden Frauen auf die Knie gesunken sind, die ihre nackten Säuglinge – einer von ihnen offenkundig tot – vor den Stufen des Throns abgelegt haben und den Richtspruch des Regenten erwarten. Die biblische Erzählung, die dem hier dargestellten Urteil Salomonis zugrunde liegt (vgl. 1Kön 3,16–28), bedarf an dieser Stelle wohl keiner weiteren Erläuterung. Wichtig für das Verständnis des Stadthäger Gerechtigkeitsbildes ist jedoch die dem Urteil vorausgehende, demütig an Gott gerichtete Bitte Salomos um Weisheit (vgl. 1Kön 3,1–15), die ihm Gott nicht nur erfüllt, sondern die auch, wie etwa der Celler Superintendent Urbanus Rhegius in seinem 1537

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publizierten CHristlicher Fürsten und Herrn Handbüchlin93 betonte, notwendige Voraussetzung für den gerechten Richtspruch ist: Ein Christlicher Fürst der Gottes wort liebet/ vnd in übung hat/ vnd sich gantz vnd gar Christo inn seine hend befilhet/ der wirt vonn Gott nit verlassenn/ sonder begabt mit der rechten weißheit zu regieren/ wie wir clar im Salomon sehen/ der bat Gott vmb weißheit/ daß er gericht vnd gerechtigkeit üben vnd erhallten/ vnd also Gottes volck recht regieren möcht/ vnd Gott hett ein wolgefallen an seinem gebet vnd erhört jn […]. Also muß nun ein Fürst handtuest [handfest] sein/ die Gerechtigkeit handthaben/ weiß/ fürsichtig/ vnd ein groß mannlich hertz haben/ daß er sich in so vil vnd mancherley fellen/ die sich im Regiment zutragen/ könne vnverweißlich halten/ daß er weder zur rechten noch zur lincken seiten neben außziehe/ sonder das mittel treffe. Das ist jm nun vnmüglich zuthun/ on sonderliche Gottes gnad/ alleyn auß krafft natürliches verstands/ vonn wegen der angebornen blindtheit/ so wir von der sünd haben/ vnnd vonn wegen des leydigen Teufels arglistigkeit/ ob gleich ein mensch nach dem fleysch/ von den weisesten leuten erzogen/ vnd mit hohem verstande vonn Gott geziert ist. […] Darumb thuts die blosse natur nit/ on die gnade Christi/ Dann wo der recht glaub nit ist/ vnnd Gottesforcht/ daselbs kann freilich auch die rechte weißheit nit sein […].94

Für Rhegius (wie später dann auch für Sattler und andere Hofprediger) verdankt sich also die salomonische Weisheit allein der Gnade Gottes, womit die lutherische Interdependenz bzw. Zuordnung von Kirchenraum und Rathaus nochmals deutlich werden dürfte: Die Untertanen – zu denen auch die Prediger gehören – haben sich der von Gott nach dem Sündenfall eingesetzten und bis zum Jüngsten Tag notwendigen weltlichen Obrigkeit zu beugen, doch letztere bedarf, insofern sie selbst von der Last der Sünde geplagt ist, umgekehrt des Glaubens, mithin der Predigt von Gesetz und Evangelium, um die ihr übertragene Aufgabe erfüllen zu können. Ohne Gottesfurcht, die in den ‚Zuständigkeitsbereich‘ der Prediger fällt, ist demnach eine auf das Wohl aller ausgerichtete Amtsführung nicht denkbar.

3.3. Gottes Geist und weltliches Regiment: Das Vorbild Lüneburg

Bildliche Umsetzung fand dieses Prinzip im von mir unterstellten Vorbild des Stadthäger Urteil Salomonis, das sich in der Niedergerichtslaube95 des Rat93 Urbanus Rhegius: CHristlicher Fürsten und Herrn Handbüchlin/ darinn Lere vnd trost aller Oberkeit/ alleyn auß Gottes Wort gezogen. Marburg 1537. 94 Ebd., fol. A 8r–v. Vgl. auch Steiger, Schloßkapelle in Celle (Anm. 69), S. 151 f. 95 Siehe Ann-Kathrin Hubrich: Disambiguierung im Bild. In: Ambiguität und die Ordnung des Sozialen im Mittelalter. Hg. von Benjamin Scheller, Christian Hoffarth. Berlin 2018 (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Beihefte 10), S. 205–232; dies.: Rezeptionsprozesse im Rechtsraum am Beispiel des Lüneburger Niedergerichts. In: Die Kunst der Rezeption. The Art of Reception. Hg. von Jacobus Bracker, Ann-Kathrin Hubrich. Hamburg 2015 (Visual Past. A

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hauses in Lüneburg findet, rund 160 Kilometer nordöstlich von Stadthagen (Abb. 15). Die offene, rippengewölbte Halle des Niedergerichts, die an der Nordostecke des Rathauses situiert ist, nimmt „eine Scharnierfunktion von Gebäudekomplex und öffentlichem Raum“96 ein und wurde in den Jahren 1603 bis 1607 durch den Kartographen und Maler Daniel Frese ausgestaltet, der seit 1573 regelmäßig für den Lüneburger Rat tätig war.97 Das drei- oder vielmehr vierteilige Bildprogramm, zu dem auch das Urteil des Salomo gehört (s. u.), zählt zu den letzten Arbeiten, die der 1611 verstorbene Frese am Rathaus ausführte, beginnend – gemäß der üblichen Leserichtung – mit dem Schildbogen an der Südwand. Das hier angebrachte Gemälde zeigt eine Darstellung des Jüngsten Gerichts, die auf einem Antwerpener Kupferstich Cornelis Corts basiert. Die lateinische Inschrift am Bogen zitiert Ps 9,8 f.,98 ergänzt durch eine sinngemäße deutschsprachige Übersetzung am unteren Bildrand, die die Betrachter an den göttlichen Richterstuhl erinnert: „Der grosse Godt Hadt ewigleich | Sein stul bereidt im Himmelreich || Er wirdt recht Richten Jederman | Wie ers hir mag vordeinet Han.“ Der Hinweis auf den ‚Jedermann‘ ist insofern zentral, als dieses Wort nicht nur die Angeklagten und Zeugen, sondern selbstverständlich auch und besonders die Vertreter der Obrigkeit miteinschließt, die in Lüneburg („hir“) zu Gericht saßen und als Hauptadressaten des Bildprogramms zu verstehen sind. Dies bestätigt sich im Blick auf die Rechtsprechung Daniels (vgl. Dan 13,1– 64), die sich an der Westwand anschließt. Das Gemälde ist, wie wir es auch aus spätmittelalterlichen Umsetzungen des Sujets kennen,99 als Simultandarstellung angelegt, die „die ambige Grundstruktur der Rechtsprechung“100 ins Bild setzt: Im Zentrum steht Daniels Verhör der beiden Alten (Dan 13,50–61), flankiert Journal for the Study of Past Visual Cultures 2.1), S. 669–715 sowie Joachim Ganzert: Herrschaft als Vergegenwärtigung. Zum Niedergericht im Lüneburger Rathaus und zur Archetypik sakraler Herrschaftslegitimation. In: Das Lüneburger Rathaus. Bd. 2: Ergebnisse der Untersuchungen 2008 bis 2011. Hg. von dems. Petersberg 2014 (Beiträge zur Architektur- und Kulturgeschichte 10, 2), S. 157–246. 96 Hubrich, Rezeptionsprozesse (Anm. 95), S. 670. 97 Zu Frese siehe auch Friedrich Gross: Lutherische Gerechtigkeit für einen Apelles von Lüneburg? Zum stiefmütterlich behandelten Hauptwerk des Daniel Frese (1540?–1611) im Rathaus der Salzstadt. In: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 39 (2000), S. 29–77. 98 „DOMINVS IN AETERNVM PERMANET PARAVIT IN IVDICIO THRONVM SVVM ET IPSE IVDICABIT ORBEM TERRAE IN AEQVITATE. POPVLOS IN IVSTITIA PSAL 9.“ 99 Eine recht ähnliche Darstellung der Rechtsprechung Daniels findet sich bspw. in einem Gemälde aus der Zeit um 1500, das sich im Besitz des Landesmuseums Joanneum in Graz befindet. Siehe hierzu den Eintrag in der Rechtsikonographischen Datenbank via http://gams.uni-graz.at/o: rehi.2539 (letztes Abrufdatum: 27.11.2021). Zu nennen wäre auch ein ebenfalls um 1500 geschaffenes Tafelgemälde des Meisters von Apoll und Daphne, das im Art Institute in Chicago aufbewahrt wird. 100 Hubrich, Rezeptionsprozesse (Anm. 95), S. 680.

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Abb. 15: Niedergerichtslaube des Lüneburger Rathauses mit Gemälden von Daniel Frese, Schmalseite: Jüngstes Gericht (nach Cornelis Cort), Längsseite: Rechtsprechung Daniels (Dan 13,1–64), 1603–1607.

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von den in den Hintergrund gerückten Szenen des versuchten Übergriffs derselben auf Susanna (Dan 13,19–24) sowie der sich dem Verhör anschließenden Hinrichtung der beiden Männer (Dan 13,61 f.), die die gottesfürchtige Frau fälschlich des Ehebruchs bezichtigt hatten und durch Daniel der Lüge überführt wurden. Die hier aufgegriffene alttestamentliche Passage ist für unseren Kontext in mehrerlei Hinsicht bedeutsam: Zum einen bietet sie mit Daniel ein Paradebeispiel eines scharfsinnigen Richters, der mittels einer unabhängigen, inquisitorischen Zeugenbefragung die Wahrheit ans Licht befördert. Zum anderen, und damit zusammenhängend, thematisiert sie gleichzeitig und kontrastiv den obrigkeitlichen Amtsmissbrauch, war das Einschreiten Daniels doch nur deshalb vonnöten, da die beiden Alten um ihre Macht und Autorität als Richter wussten (vgl. Dan 13,41) und daher in ihrer – von sexueller Begierde, Rachsucht und Eigennutz getriebenen – Anschuldigung auf das Vertrauen der Gemeinde setzen konnten. Entsprechend mahnt denn auch die Inschrift: „Ein Richter Sey der armen Schutß | Schaff Gleich Vndt Recht nicht egennutß || Die Warheidt auch erfrosch [sic] mit Fleiss | So wirdt ehr haben Rhumb vnd preis.“101 Entscheidend für den Gesamtzusammenhang des Lüneburger Bildprogramms ist nun allerdings, dass Daniel diesen Scharfsinn keineswegs aus sich selbst schöpft, sondern Gott verdankt, wie es in Dan 13,45 heißt: „Vnd da man sie [= Susanna] hin zum tode fueret, erwecket Gott den Geist eines jungen Knabens, der hies Daniel, Der fieng an laut zu ruffen […].“ Doch findet dieser zentrale Aspekt nicht in der Darstellung der Rechtsprechung Daniels selbst, sondern erst an jenem Ort seine bildliche Entsprechung, der für den leitenden Richter, der sich am Exempel Daniels zu orientieren hatte, gedacht war – womit wir denn auch beim salomonischen Urteil angelangt wären, das Moller wenige Jahre später als Vorbild für sein Gerechtigkeitsgemälde dienen sollte: An der Westwand der Niedergerichtslaube ist, direkt neben der Rechtsprechung Daniels und schräg gegenüber dem Jüngsten Gericht an der Südwand, eine Klappe mit dem Stadtwappen eingelassen, die bei Gerichtsverhandlungen geöffnet wurde. Zum Vorschein kam Freses Urteil des Salomo (Abb. 16), vor dem der Richter – flankiert von Justitia und Pax – seinen Platz einnahm. Die Inschrift formuliert in Anlehnung an 2Sam 14,17102 abermals ein klares Ideal: „Ein richter soll englisch gesinnet sein | Von menslichen bewegung rein || Die sachen ehr auch hören soll | Zwischn boes vnd gudt erken[n]en woll.“ Die Forderung nach einer ‚Reinheit von menschlichen Bewegungen‘ („SINE AFFECTV HVMANO“) knüpft an die Daniel-Passage an, die mit den beiden Alten beispiel101 Am Bogen: „IVDEX DEBET ESSE PATER PAVPERVM ET CAVSAM QVAM NESCIT DILIGENTISSIME INVESTIGARE · IOB 29“ (vgl. Hiob 29,16). 102 Am Bogen: „SINT IVDICES SICVT ANGELVS DOMINI VT SINE AFFECTV HVMANO | AVDIANT, ET IVDICENT BONVM A MALO · I SAM : 14“ (vgl. 2Sam 14,17).

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haft auf den Punkt bringt, welche Amtsmissbräuche drohen, wenn eine solche ‚Reinheit‘ nicht gegeben ist – und dies im ganz wörtlichen Sinne, insofern sich letztere (denken wir an Rhegius) nach lutherischem Verständnis allein dem göttlichen Gnadenakt verdankt, sprich: von Gott gegeben ist, was sich auch im Blick auf die Lüneburger Niedergerichtslaube bestätigt. Der Richter, der sich hier vor dem Urteil Salomonis niederließ, war ob dieser Platzierung nicht nur an Salomo zu messen;103 vielmehr war er wie dieser a priori auf den Geist Gottes angewiesen, der sich direkt über ihm befand: Die Klappe, die im geöffneten Zustand zum Baldachin wurde, trägt auf der Innenseite eine Darstellung der Trinität,104 die zum einen den Anwesenden vor Augen führte, dass die Majestät Gottes stets über der weltlichen Obrigkeit stand und von dieser entsprechend zu achten war. Zum anderen wurde hierin auch deutlich, dass der Richter, der das Urteil zu fällen hatte, der Präsenz des göttlichen Geistes bedurfte, um ebenso weise urteilen zu können wie derjenige, der ihm als Vorbild im Rücken saß.105

103 Vgl. auch Hubrich, Rezeptionsprozesse (Anm. 95), S. 682: „Die Gerichtsverhandlung markiert den Moment der Zeugenbefragung und hebt damit in Anschluss an das Gemälde Die Rechtsprechung Daniels die Hervorbringung der Wahrheit mittels inquisitorischer Methode hervor. Dadurch wird sinnbildlich eine Parallelisierung der im Bild gezeigten Verhandlung mit der aktuell im Niedergericht stattfindenden evoziert […]. Der Richter, der den weisen Salomon in seinem Rücken sitzen hat, soll ebenso wie er weise urteilen und durch eine geschickte Prozessführung den wahren Tathergang ermitteln.“ 104 Das Gemälde basiert auf der oberen Hälfte eines 1591 datierten Kupferstichs Johann Sadelers nach einem Gemälde Antonio Maria Vianis (von dessen Hand übrigens auch zwei der Nebenaltargemälde der Münchner Jesuitenkirche stammen). Diese Bezugnahme ist insofern nicht unerheblich, als es hier im Blick auf die untere Bildhälfte zu einer bemerkenswerten Verschiebung kommt: Im Münchner Kupferstich haben sich zu Füßen der Trinität die Erzengel versammelt, die sich um Michael scharen, der, das Flammenschwert in der Rechten und den Blick auf den Betrachter gerichtet, die Seelenwaage erhoben hält – ein unmissverständlicher Verweis auf die göttliche Gerechtigkeit, die am Jüngsten Tag die Seligen von den Verdammten scheiden wird. In Lüneburg tritt an die Stelle Michaels der Vertreter der weltlichen Obrigkeit (zu seiner Rechten Justitia mit Schwert und Waage!), die bis zum Weltgericht – dieses befindet sich gut sichtbar schräg gegenüber – dafür zuständig ist, den Teufel in Schach zu halten. Wenn daher in den Inschriften von der ‚englischen Gesinnung‘ die Rede ist, die den Richtern abverlangt wird, so besitzt diese Forderung vor dem Hintergrund dieser interpiktorialen Beziehung durchaus einen doppelten Boden. 105 Daher ist Hubrichs noch recht vorsichtig formulierte Überlegung unbedingt zu unterstreichen: „Beim Aufklappen des Baldachins wird das Gemälde Das Salomonische Urteil im Rücken des Richters freigelegt, die Trinitätsdarstellung wird durch die Öffnung des Baldachins über dem Kopfe des Richters positioniert. Durch die Anbringung des Gemäldes wird eine metaphorische Ebene eröffnet. Die Trinität ist einerseits als überwachende Instanz über den Köpfen der Richterherren zu verstehen, kann andererseits aber auch als Weisungsquelle gedacht werden. Hier zeigt sich deutlich die Idee des […] Stellvertretertums – ein Übertragungsmoment im Sinne einer göttlichen Weisung, die zur richtigen Urteilsfindung führt.“ Hubrich, Rezeptionsprozesse (Anm. 95), S. 690. Hervorhebung durch R. H.

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Abb. 16: Daniel Frese: Urteil des Salomo und Heilige Dreifaltigkeit (letztere nach Johann Sadeler I.) zwischen Justitia und Pax, Niedergerichtslaube des Lüneburger Rathauses, 1603–1607.

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Dass man sich angesichts dieses Ensembles nun womöglich an die oftmals mit der Heiliggeisttaube geschmückten Schalldeckel frühneuzeitlicher Kanzeln erinnert fühlt, nimmt nicht Wunder: Kanzel und Gerichtsstuhl, Wort und Schwert entsprechen den beiden einander zugeordneten Arten, auf die Gott mittelbar die Welt regiert. Eingedenk dessen dürfte es freilich – und dies sei an dieser Stelle lediglich am Rande bemerkt – kein Zufall sein, dass sich eine recht ähnliche Bildkonstellation in der zwischen 1569 und 1576 ausgestalteten Schlosskapelle in Celle findet. An der Rückwand des von einem Baldachin bekrönten Herrenstuhls ist eine durch etliche Schriftzitate106 ergänzte Trinitätsdarstellung angebracht, die der seit dem Mittelalter bekannten Form der Compassio Patris (auch bekannt als ‚Gnadenstuhl‘) folgt und dabei, wie Johann Anselm Steiger gezeigt hat, einen Gedanken ausformuliert, den Frese einige Jahre später aufgreifen sollte: Der weltliche Herrscher hat seinen Sitz zwar an herausgehobener Position auf der Nordempore, ihm deutlich übergeordnet freilich ist das Bildnis der göttlichen Trinität, die allein über eine unumschränkte Machtposition verfügt, und der sich der Herzog (räumlich und politisch) unterzuordnen hat. Aufs engste hiermit hängt zusammen, daß der Herzog sowohl durch das ihn hinterfangende Bildmedium als auch durch die Inschriften dessen erinnert wird, daß seine Macht eine bloß partiell-weltliche, keinesfalls aber eine im eigentlichen Sinne geistliche ist, die Regierung und Rettung der Seelen vielmehr allein dem dreieinigen Gott obliegen. Und noch wichtiger: Der Herzog kann angesichts der ihn im direkten Umfeld umgebenden Bild- und Textmedien überhaupt nicht darüber hinwegsehen oder -lesen, daß er selbst wie alle anderen Menschen der gnädigen Sündenvergebung um Jesu Christi willen unbedingt bedarf.107

Letzteres gilt umso mehr eingedenk dessen, dass der amtierende Fürst von Lüneburg, der in Celle residierte, vom Herrenstuhl aus einen guten Blick auf das – von Fides und Caritas flankierte – Jüngste Gericht hatte (s. o.), das neben der Kanzel an der Südseite situiert ist.108 Auch für das Fürstentum Lüneburg folgt daraus konsequenterweise: ohne Gottesfurcht keine gottgefällige Amtsführung. Blickt man vor diesem Hintergrund auf die Lüneburger Niedergerichtslaube, so ist schnell ersichtlich, wie diese Bezugnahme zu verstehen ist: Die Leitung der hier stattfindenden Verhandlungen oblag dem Vogt, der als landesherrlicher Vertreter des Fürsten zwar dazu aufgefordert war, in dessen Auftrag Recht zu sprechen und vom weltlichen Schwert Gebrauch zu machen. Über ihm stand allerdings, genauso wie im Falle seines Landesherrn, immer noch die göttliche Majestät, die am Jüngsten Tag über ihn das Urteil fällen würde – das machen die Darstellungen des Weltgerichts an der Schmalseite und der Trinität auf der Innenseite der Klappe unmissverständlich klar. 106 Vgl. Steiger, Schloßkapelle in Celle (Anm. 69), S. 43–45. 107 Ebd., S. 45. 108 Vgl. ebd., S. 111.

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3.4. Pietas und Justitia: Verdienst und Erbe des gottesfürchtigen Fürsten

Der Lüneburger Logik folgt nun auch das Stadthäger Gemälde, das sich an Daniel Freses Darstellung des salomonischen Urteils orientierte. Auch hier ist es Gott, von dem Salomo sein Amt wie auch seine Weisheit bezieht: Komposition und Bildaufbau des Urteils Salomos entsprechen denen des Jüngsten Gerichts, markieren ersteres folglich als irdische Entsprechung des Letzteren. Die Körperhaltung Salomos, der erhöht und mit ausgebreiteten Armen auf dem Löwenthron Platz genommen hat, folgt denn auch jener des thronenden Weltenrichters109 – und wie Christus die Seligen von den Verdammten scheidet, so hat Salomo darüber zu urteilen, welche der beiden zu Füßen des Throns knienden Frauen die Wahrheit sagt. Dass Salomo dabei leicht aus der Körperachse gedreht und somit dem Weltgericht zugewandt ist, ist insofern programmatisch, als Salomo, erstens, die für ein solches Urteil notwendige Weisheit nicht aus sich selbst schöpft, sondern von Gott erhält, und, zweitens, wie alle anderen auch dereinst vor seinem Richter stehen wird – und dort wird ihn, blicken wir auf die unscheinbar anmutende, aber alles entscheidende Mose-Paulus-Gruppe, allein der gottgegebene Glaube vor der Hölle bewahren, der ihn im Hier und Jetzt zu einer Amtsführung befähigt, die ihm am Jüngsten Tag als Zeugin zur Seite steht. All diese Grundprinzipien gelten nun selbstverständlich auch für die Stadthäger Ratsmitglieder, für die eine solche gottgefällige Amtsführung allerdings keineswegs auf einer abstrakten Ebene verblieb: Wie die überschaubare Forschung früh erkannt hat,110 trägt Salomo die Gesichtszüge des 1622 verstorbenen Landesherrn Graf Ernst zu Holstein-Schaumburg (Abb. 17).111 Ernst, der 1619 in den Fürstenstand erhoben worden war, hatte Schaumburg nach Jahren maroder Finanzen zur wirtschaftlichen Blüte verholfen und sich als Förderer von Kunst und Wissenschaft hervorgetan;112 auch die Gründung der Universität Rinteln verdankte sich seiner Führung.113 Vor allem jedoch die 1614 und 1615 erfolgte Einführung einer neuen Kirchen- und einer neuen Polizeiordnung sicherte 109 Ähnliches kennen wir bereits aus dem Spätmittelalter: Die ehemals im Rathaus von Wesel angebrachte Eidesleistung Derick Baegerts (um 1493) etwa zeigt den Richter in gleicher Körperhaltung wie den Weltenrichter auf dem Gemälde zu seiner Rechten. 110 Vgl. Fritz (Anm. 46), S. 155. 111 Dies steht in einer gewissen lutherischen (bzw. Luther’schen) Tradition: Schon Luther verglich – vor allem in seiner Kohelet-Vorlesung von 1526 (vgl. WA 20,155,4–28) – seinen Landesherrn Friedrich den Weisen mit Salomo. Vgl. hierzu Wilhelm Maurer: Der kursächsische Salomo. Zu Luthers Vorlesungen über Kohelet (1526) und über das Hohelied (1530/31). In: Antwort aus der Geschichte. Beobachtungen und Erwägungen zum geschichtlichen Bild der Kirche. Walter Dress zum 65. Geburtstag. Hg. von Wolfgang Sommer. Berlin 1969, S. 99–116. 112 Vgl. ausführlich Bei der Wieden, Ein norddeutscher Renaissancefürst (Anm. 47). 113 Vgl. ausführlich Gerhard Schormann: Academia Ernestina. Die schaumburgische Universität zu Rinteln an der Weser (1610/21–1810). Marburg 1982.

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Abb. 17: Lucas Kilian: Graf Ernst zu Holstein-Schaumburg (1569–1622), 1623, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich Museum, LKilian AB 3.104.

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Ernst den Ruf des Garanten von Frieden, Sicherheit, Recht und Ordnung im geistlichen und weltlichen Bereich.114 Bei seiner feierlichen Beisetzung im Mausoleum in Stadthagen115 wurden die beiden Schriftstücke denn auch – den traditionellen Herrschertugenden zugeordnet – seinem Sarg vorangetragen: [Den Cammer Junckern] hat gefolget der Cantzler/ D. Julius Reichardt/ so auff einem schwartzen Sammeten Küssen auff beyden seyten mit schwartzem taffet behenget/ die Holstein Schawenburgische Kirchen- vnd Policey Ordnung in schwartzen Sammet gebunden/ sampt dem Fürstl. grossen Insiegel/ getragen/ vnd darauff der Ordnung gemahlet/ oder mit gegossen silbernen Buchstaben getruckt gestanden/ auff einer seiten PIETAS auff der andern seiten JUSTITIA.116

Das Begräbnis ihres Landesherrn sollte für die Bevölkerung Schaumburgs besonders im Rückblick schmerzhaften Symbolcharakter erhalten. Dass die Grafschaft bisher von kriegerischen Auseinandersetzungen verschont geblieben war, hatten die Schaumburger vor allem Graf Ernst zu verdanken, der Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel seit 1621 mehrfach hohe Summen bezahlt hatte, um das Territorium von den „ausgeprägte[n] militärische[n] Neigungen“117 des ‚tollen Halberstädters‘ abzuschirmen. Das änderte sich jedoch am 21. März 1622, jenem Tag, an dem Ernst in Stadthagen beigesetzt wurde: Zur gleichen Zeit überfielen, wie der Chronist Johann Prange zu berichten weiß, erstmals die in den Diensten Christians stehenden Truppen Georgs von Fleckenstein die Vogteien Lachem und Exten und „raubeten[,] plünderten alles aus, schlugen und marterten die Leute, und zogen in die Pfalz[.]“118 Damit war der Krieg nach Schaumburg gelangt, und er sollte, wie zu Beginn bereits angedeutet, den Weserraum für die nächsten Jahre auch nicht mehr verlassen – wenig überraschend also, dass man Graf Ernst ein Denkmal setzte, das an alles erinnerte und alles in sich vereinte, was es in Krisenzeiten brauchte: eine gottesfürchtige Führung, die sich ihrer Verantwortung wie auch ihrer eigenen Erlösungsbedürftigkeit be114 Vgl. ausführlich die Beiträge in Stefan Brüdermann (Hg.): 1615 – Recht und Ordnung in Schaumburg. Bielefeld 2018 (Schaumburger Studien 74). 115 Vgl. Karin Tebbe: Epitaphien in der Grafschaft Schaumburg. Die Visualisierung der politischen Ordnung im Kirchenraum. Marburg 1996 (Materialien zur Kunst- und Kulturgeschichte in Nord- und Westdeutschland 18), S. 134–152 sowie Marie-Theres Suermann: Das Mausoleum des Fürsten Ernst zu Holstein-Schaumburg in Stadthagen. Berlin 1984. 116 Kurtze Beschreibung/ Von tödtlichem Abgang und Leichbegängnüß/ […] Des Durchleuchtigen/ Hochgebornen Fürsten und Herrn/ Herrn Ernsten/ Fürsten des Reichs/ Graffen zu Holstein/ Schauwenburg/ und Sternberg […] in offenen Druck verfertiget. Rinteln 1622, S. 34 f. 117 Brüdermann, Schaumburg und der Dreißigjährige Krieg (Anm. 80), S. 12. 118 Johann Prange: Richtiges Verzeichniß dessen, was sich bey Regierung des weyland hochgebohrnen Reichs-Grafen und Herrn Jobst Hermanns in der Graffschaft Schaumburg in Krieges-Sachen zugetragen. In: Bibliotheca Historiae Schavenbvrgicae, oder Sammlung einiger zur Weltlichen, Kirchen, Gelehrten und Natürlichen Historie der Graffschaft Schaumburg gehöriger Nachrichten und Urkunden. Hg. von Carl Anton Dolle. Rinteln 1751, S. 5–23, hier S. 9.

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wusst war und daher im Sinne der cura religionis den wahren Glauben schützte und auch selbst pflegte,119 um die ihr übertragene Aufgabe würdig und zum Wohle aller erfüllen zu können – bis es am Jüngsten Tag des weltlichen Regiments nicht mehr bedurfte. Vor diesem Hintergrund ist es, hierauf sei abschließend hingewiesen, nur naheliegend, dass die im Zentrum des Stadthäger Gerechtigkeitsbildes stehende, raumgreifende Figur den Finger auf das Wort „zwisschen“ gelegt hat (Abb. 9): Dieses Wort bezeichnet nicht nur das Scheiden des Guten vom Bösen oder die Stellung des Einzelnen vor Gott. Denn bedenken wir nochmals den deutlich hervorgehobenen Bildcharakter der diese Mitte flankierenden Darstellungen, so findet sich in diesem ‚Dazwischen‘ auch die zunehmend bedrohliche Gegenwart und Lebensrealität der Ratsherren, die stets auf Ernst zurückblicken, um das Zukünftige nicht fürchten zu müssen. Weniger Salomo ist hier das Vorbild als vielmehr der kürzlich verstorbene Landesherr, mit dessen Tod auch der Frieden ein Ende gefunden hatte – und nur der Schutz seines Erbes, d. h. die Pflege von Pietas und Justitia, die Aufrechterhaltung der Ordnung sowohl im geistlichen als auch im weltlichen Bereich, würde Stadthagen vor dem drohenden und immer näher rückenden Chaos des Krieges behüten.

Abbildungsnachweise Abb. 1: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Foto: Georg Janßen. – Abb. 2: Oldenburg, Landesbibliothek. – Abb. 3, 6: Zapalac (Anm. 16), S. 30; 33. – Abb. 4: Dietrich W. Poeck: Rituale der Ratswelt. Zeichen und Zeremoniell der Ratssetzung in Europa (12.–18. Jahrhundert). Köln 2003 (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen 60), Abb. 15. – Abb. 5: Johann Anselm Steiger. – Abb. 7, 10, 11, 13: Amsterdam, Rijksmuseum. – Abb. 8: Bei der Wieden, Ein norddeutscher Renaissancefürst (Anm. 47), S. 52 f. – Abb. 9, 12, 14: Fritz (Anm. 46), S. 154; 156 f. – Abb. 15, 16: Joachim Ganzert: Das Lüneburger Rathaus und seine fünf Aggregatzustände. In: Das Lüneburger Rathaus. Bd. 3: Ergebnisse der Untersuchungen 2012 bis 2014. Hg. von dems. Petersberg 2015 (Beiträge zur Architektur- und Kulturgeschichte 10, 3), S. 338–405, hier S. 385. – Abb. 17: Braunschweig, Herzog Anton Ulrich Museum.

119 Es sei darauf hingewiesen, dass Ernst selbst kinderlos geblieben war; seine Nachfolge trat sein katholisch erzogener Cousin Jobst Hermann an, der allerdings keine konfessionspolitischen Ambitionen zeigte und auch keinerlei Anstalten machte, den lutherischen Bekenntnisstand Schaumburgs infrage zu stellen. Vgl. Helge Bei der Wieden: Fürst Ernst Graf von HolsteinSchaumburg und seine Wirtschaftspolitik. Bückeburg 1961 (Schaumburg-lippische Mitteilungen 15), S. 63 f.

Bernhard Jahn

Das Jüngste Gericht auf der Bühne. Zu den medialen Grenzen des Theaters im 16. Jahrhundert

Die Geschichte des Jüngsten Gerichts auf der Bühne und die damit verbundene Frage nach den medialen Grenzen beginnt für den deutschsprachigen Raum schon in der Antike, mit Tertullians wirkmächtiger Polemik de spectaculis. Tertullian wurde mit seiner um 200 n. Chr. entstandenen Schrift zum Ahnherrn aller fundamentalistischen Theatergegner in Deutschland und konnte noch Mitte des 18. Jahrhunderts gegen das Theater ins Feld geführt werden.1 Am Ende seiner Generalabrechnung mit den heidnischen spectacula – darunter fallen neben dem Theater im engeren Sinne auch Zirkusveranstaltungen, Wagenrennen und Gladiatorenkämpfe – nachdem er für die Christen ein fundamentales Mimesis-Verbot2 entwickelt hat, fragt er polemisch, ob es denn für Christen überhaupt keine Schauspiele geben könne, nichts zu sehen und nichts zu hören. Als Antwort verweist er auf das Jüngste Gericht: Was für ein Schauspiel (spectaculum) aber steht uns demnächst bevor – die Wiederkehr des nunmehr nicht mehr in Frage gestellten, des nunmehr stolzen, nunmehr triumphierenden Herrn! Was wird das für ein Jubilieren der Engel, was für ein Ruhm der Heiligen sein! Was für eine darauf folgende Herrschaft der Gerechten! Was für eine Stadt, das Neue Jerusalem! Aber es kommen gewiß noch andere Schauspiele, jener letzte und endgültige Tag des Gerichts! […] Was für ein umfassendes Schauspiel wird das dann sein! Was soll ich da bestaunen? Worüber soll ich da lachen?3

1 Zur Geschichte der Theaterfeindlichkeit vgl. Werner Weismann: Kirche und Schauspiele. Die Schauspiele im Urteil der lateinischen Kirchenväter unter besonderer Berücksichtigung von Augustin. Würzburg 1972 (Cassiciacum 27); Christopher Wild: Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralik von Gryphius bis Kleist. Freiburg i. Br. 12003. 2 Dazu Bernhard Jahn: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740). Tübingen 2005 (Theatron 45), S. 143–146. 3 „Quale autem spectaculum in proximo est adventus domini iam indubitati, iam superbi, iam triumphantis! Quae illa exultatio angelorum, quae Gloria resurgentium sanctorum! Quale regnum

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Nicht ohne Sadismus malt sich Tertullian aus, wie die Tragöden im Feuer der Hölle eine noch viel bessere Performance ihrer Leiden bieten werden,4 um dann die eigentliche theatervernichtende Pointe zu präsentieren: Das Jüngste Gericht und das Himmlische Jerusalem sind nicht auf dem Theater zu repräsentieren: Mit Paulus (1Kor 2,9) fragt er: Und im übrigen: Was sind das für Dinge, ‚die kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und die in keines Menschen Herz gekommen sind?‘ Angenehmere, denke ich doch, als Circus, Theater, Amphitheater und jedes Stadion.5

Von Tertullian her gedacht stellt sich das Jüngste Gericht auf der Bühne als ein Medienproblem dar. Es kann „imaginante repraesentata“,6 d. h. mit dem inneren Auge geschaut werden, ist aber für eine äußere Darstellung, für die Augen und Ohren der Zuschauer, ungeeignet. Angesichts der Wirkmächtigkeit Tertullians überrascht es nicht, daß das Jüngste Gericht schon im Mittelalter im Rahmen der vier letzten Dinge zu einem beliebten Meditationsthema wurde,7 es überrascht aber wohl, daß dieses Thema schon früh, quasi mit dem Beginn des Geistlichen Spiels neben den Oster- und Weihnachtsspielen in Form von Antichrist- und Weltgerichtsspielen zu einem Hauptthemenspender für das mittelalterliche europäische Theater wurde.8 Im deutschsprachigen Raum dominierten im 15. und frühen 16. Jahrhundert die Weltgerichtspiele, die alle quellenmäßig eng miteinander verwandt sind, wie die monumentale Interlinear-Edition von 15 Textzeugen durch Hansjürgen Linke dokumentiert.9 Der Aufbau solcher Weltgerichtsspiele sieht im Rahmen gewisser Variationsmöglichkeiten wie folgt aus:10

exinde iustorum! Qualis civitas nova Hierusalem! […] Quae tunc spectaculi latitudo! Quid admirer? Quid rideam?” Tertullian: De spectaculis. Über die Spiele. Lateinisch / Deutsch. Hg. von Karl-Wilhelm Weeber. Stuttgart 1988, S. 83–85 (hier S. 82 f.). 4 Ebd., S. 86. 5 Ebd., S. 87. „Ceterum qualia illa sunt, quae nec oculus vidit nec auris audivit nec in cor hominis ascenderunt? Credo, circo et utraque cavea et omni stadio gratiora.“ (S. 86). 6 Ebd., S. 86. 7 Vgl. dazu Christian Schmidt: Drama und Betrachtung. Meditative Theaterästhetiken im 16. Jahrhundert. Berlin, Boston 2018 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 93 (327)); Jörg Jochen Berns: Himmelsmaschinen / Höllenmaschinen. Zur Technologie der Ewigkeit. Berlin 2007. 8 Den besten Überblick bietet immer noch: Karl Reuschel: Die deutschen Weltgerichtsspiele des Mittelalters und der Reformationszeit. Leipzig 1906. Ferner: Dieter Trauden: Gnade vor Recht? Untersuchungen zu den deutschsprachigen Weltgerichtsspielen des Mittelalters. Amsterdam 2000. 9 Die deutschen Weltgerichtspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe. Hg. von Hansjürgen Linke. 3 Bde. Tübingen, Basel 2002. 10 Vgl. Trauden (Anm. 8), S. 152–159; Ursula Schulze: Geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Von der liturgischen Feier zum Schauspiel. Berlin 2012, S. 164–178; dies.:

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Zunächst treten Propheten und Kirchenlehrer auf, die den Jüngsten Tag ankündigen, wobei Hieronymus 15 Zeichen nennt, an denen die Ankunft des Jüngsten Tages zu erkennen ist. Vier Engel laden die Toten vor Gericht, Christus erscheint als Richter, belohnt die Guten und verdammt die Bösen. Letztere werden trotz all ihrer Bitten (und Fürbitten Marias) von den Teufeln in die Hölle geführt. Die Gerechten ziehen in den Himmel ein. Weltgerichtsspiele konnten kombiniert werden mit Antichristspielen,11 sie konnten ferner in größere Spielzusammenhänge integriert werden, etwa in mehrtägige Fronleichnamsspiele, deren Abschluß sie bildeten.12 Die Weltgerichtsspiele dieses Typus sind wenig dramatisch, wenn man von einer dialogischen Dramaturgie ausgeht, sie sind als Reihenspiele konzipiert. Jede Figur gibt ihren Redebeitrag zum Besten, tritt aber nicht in Dialog mit anderen Figuren. Dialogverbindungen entstehen allenfalls durch die an Christus gerichteten Bitten der Verdammten. Diese Beobachtung lenkt zurück auf die Frage, ob der Gegensatz zwischen der Rezeption der Weltgerichtsthematik in der Meditationspraxis und der Rezeption im Rahmen geistlicher Spiele nicht eine falsche Antithese darstellt: monochrome, einmediale Buchlektüre versus farbiges, multimediales Theater. Um die Frage für das Theater im deutschsprachigen Raum zwischen 1450 und 1650 zu beantworten, müssen zunächst die aufführungspraktischen Bedingungen in diesem Zeitraum rekapituliert werden. Im Anschluß daran möchte ich anhand einiger Beispiele aus dem 16. Jahrhundert, die von Hans Sachs, Thomas Naogeorg und Andreas Hartmann stammen, die Konsequenzen für die Darstellung des Jüngsten Tages vorführen, die sich aus den aufführungspraktischen Rahmenbedingungen ergeben.

I. Zweifellos ist das abendländische Theater seit der griechischen Antike, wie die griechische Wortbedeutung schon nahelegt, durch das Sehen, das Schauen bestimmt. Die Zuschauer bekommen etwas vor Augen gestellt, sollen Sichtbares wahrnehmen. Doch was, bzw. wie viel sie sehen, und was und wie viel sie sich innerlich imaginieren müssen, weil es nicht sichtbar ist, unterlag einem historischen Wandel und hängt von den jeweiligen Theaterkonzepten ab. Beim pers-

Erweiterungs- und Veränderungsprozesse in der Tradition der Weltgerichtsspiele. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 118 (1996), S. 205–233. 11 Vgl. Klaus Aichele: Das Antichristdrama des Mittelalters, der Reformation und der Gegenreformation. Den Haag 1974. 12 Reuschel (Anm. 8), S. 142–147.

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pektivisch ausgerichteten Kulissentheater, wie es sich im deutschsprachigen Raum erst langsam seit der Mitte des 17. Jahrhunderts durchzusetzen begann und dann im Illusionstheater und der Guckkastenbühne des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt fand, wird den Zuschauern ein vollständiger Bildraum geboten, unter der Voraussetzung freilich, daß die Zuschauerposition im Hinblick auf die Zentralperspektive optimal ist. Die Zuschauerinnen und Zuschauer bekommen bei dieser Form des Theaters einen vollständigen Bildraum gezeigt, den sie sich wahrnehmend, und das heißt vor allem sehend, erschließen müssen. Vor der Einführung des Kulissentheaters hingegen stand der Schauspielerkörper im Zentrum des Sichtbaren und Wahrnehmbaren, seine Gestik, seine Mimik und Proxemik, sein reich ausgestattetes Kostüm. Der Raum hingegen, in dem der Schauspieler-Körper sich befand, ein Marktplatz, ein Wald, ein Schiff auf dem Meer, war von den Zuschauern zu imaginieren, da es keine Kulissen und keine zentralperspektivische Ausrichtung des Zuschauerraums etwa in Form der Sitzordnung der Zuschauer gab.

Abb. 1: Justus Georg Schottelius: FriedensSieg. Wolfenbüttel 1648, 3. Handlung (HAB Wolfenbüttel Lo 6992).

Am Beispiel einer Aufführung von Georg Justus Schottelius’ FriedensSieg, die durch eine dem Textdruck beigefügte Kupferstichserie dokumentiert wurde, läßt sich eine typische Theateraufführung in einem Innenraum aus den 1640er Jahren studieren. Das höfische Publikum saß auf drei Seiten verteilt in Stuhlreihen an den Wänden, nur die rechte Seite war den Auftritten und Abgängen der Schauspieler vorbehalten. Hier findet sich ein fester szenischer Aufbau, eine Wolkenformation, die begehbar ist. Dieser späte Beleg aus der Mitte des 17. Jahrhunderts aktiviert ein BühnenModell, welches, auf den Marktplatz verlagert, schon für die Weltgerichtsspiele des Spätmittelalters Geltung besaß: Die Weltgerichtspiel-Bühne hat man sich wohl immer – und nicht nur in München und Luzern, wo das gesichert ist – als eine Marktbühne vorzustellen. Das Publikum umgab sie von drei Seiten. Die vierte Seite, die sich vielleicht an ein Haus anlehnte, war […] dem

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erhöht zu denkenden Himmel, d. h. dem Bühnenstand zumindest für Gottvater, wo nicht gar die Trinität […] vorbehalten.13

Die schauspielerische Actio fand im Braunschweiger Beispiel in der Mitte des Saales statt. Man sieht einen Bühnen-Wagen und reich kostümierte Schauspieler. Das Theater bediente sich dabei der vielgestaltigen Praxis der Umzüge und Mummereien, wie sie Claudia Schnitzer für die Frühe Neuzeit dargestellt hat.14

Abb. 2: Esaias van Hulsen: Aigentliche Wahrhaffte Delineatio vnnd Abbildung aller Fürstlichen Auffzüg vnd Rütterspielen […]. Stuttgart 1617, Abb. 2 (HAB Wolfenbüttel 36. 17. 3 Geom. 2°).

Für Theater-Präsentationen auf Plätzen unter freiem Himmel galten dieselben Bedingungen.15 Die Mummereien waren ja oft sogar als Freiluftveranstaltungen, als Umzüge mit Schauwägen durch die Stadt, konzipiert gewesen, gleiches gilt für die Prozessionsspiele an Fronleichnam.16 13 Hansjürgen Linke: Das Theater der Weltgerichtsspiele. Tatsachen und Mutmaßungen. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 126 (2007), S. 354–389, hier S. 361 f. 14 Claudia Schnitzer: Höfische Maskeraden. Funktion und Ausstattung von Verkleidungsdivertissements an deutschen Höfen der Frühen Neuzeit. Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 53). Grundlegend dazu Jörg Jochen Berns: Trionfo-Theater am Hof von Braunschweig-Wolfenbüttel. In: Daphnis 10 (1981), S. 47–94. 15 Wolfgang Michael: Frühformen der deutschen Bühne. Berlin 1963 (Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte 62). Mit Kritik an der als ubiquitär vorausgesetzten Simultanbühne: Hans Rudolf Velten: Die Nullstufe der Bühne: Spielfläche und Schranken als historische Aufführungsdispositive im spätmittelalterlichen Theater. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 50 (2020), S. 511–531. 16 Vgl. am Beispiel eines Antwerpener Umzugs von 1566, der auch das Jüngste Gericht thematisiert, und der vor allem über Schauwägen strukturiert wurde: Anna Pawlak, Sophie Rüth: Riese, Wal-

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Wenn man diese aufführungspraktischen Rahmenbedingungen auf das Thema des Jüngsten Tages überträgt, wird schnell klar, daß das Gros der apokalyptischen Szenarien gar nicht ohne weiteres visuell umgesetzt werden konnte, und das, obwohl es in der Malerei schon eine lange Tradition der Weltgerichtsdarstellungen gab.17 Diese Ausgangsthese sei nun an einem Beispiel näher ausgeführt, am sog. Berliner Weltgerichtsspiel, das de facto ein Augsburger Spiel darstellt, oder vorsichtiger formuliert, in einer aus Augsburg stammenden Handschrift erhalten ist, die 1482 von Konrad Bollstatter angefertigt worden ist.18 Diese Handschrift ist deswegen besonders geeignet, weil sie illustriert ist. Zuletzt ist vor allem von Cornelia Herberichs nachdrücklich darauf hingewiesen worden, daß es sich bei den überlieferten Handschriften der Weltgerichtsspiele mehr als bei anderen Geistlichen Spielen um reine Lesehandschriften handele, und besonders beim Berliner Weltgerichtsspiel ist sich die Forschung darüber einig, daß mit der Handschrift ein Erbauungsbuch vorliegt. Wie Heberichs nachweist, hat dies Konsequenzen für die buchgestalterische Anlage. Die von ihr herausgearbeitete Bildregie sei hier aufgegriffen, jedoch anders gewendet. Es geht nicht um die Leistung der Bilder für das Buch, sondern um einen Vergleich der Bilder im Buch mit den möglichen visuellen Bildern bei einer Aufführung. Zunächst, bei der Darstellung der Weissagungen der Propheten und Kirchenlehrer, verhalten sich die Illustrationen in der Handschrift wie Darstellungen der Theaterpraxis:19

fisch und das Jüngste Gericht. Die Antwerpener Festkultur der Frühen Neuzeit als soziokulturelles Dispositiv. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 50 (2020), S. 435–463. 17 Ich möchte damit nicht leugnen, daß es Darstellungskonventionen gab, die von der Malerei in das Geistliche Spiel übernommen wurden (und umgekehrt). Dies betraf vor allem die Gestik und Mimik, auch bestimmte Requisiten. Dennoch müssen vorab jeweils die medialen Ausgangsbedingungen für das Theater und für die Malerei geklärt werden, bevor solche intermedialen Wechselwirkungen festgeschrieben werden. Vgl. Johanna Thali: Text und Bild – Spiel und Politik. Überlegungen zum Verhältnis von Theater und Malerei am Beispiel Luzerns. In: Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation. Hg. von Christel Meier, Heinz Meyer, Claudia Spanily. Münster i. W. 2004, S. 171–203. Götz Pochat: Theater und bildende Kunst im Mittelalter und in der Renaissance in Italien. Graz 1990. 18 Vgl. Cornelia Herberichs: Das Jungst Gericht puch. Zur Medialität des Berliner Weltgerichtsspiels. In: Das Geistliche Spiel des europäischen Spätmittelalters. Hg. von Wernfried Hofmeister, Cora Dietl. Wiesbaden 2015 (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 20), S. 280– 293, hier S. 282 f. mit weiterführender Literatur. 19 Herberichs (Anm. 18), S. 284.

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Abb. 3: Berliner Weltgerichtsspiel: Johel der Weyssage spricht, Bl. 2r (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz Ms. Germ. fol. 722).

Wir sehen in der Abbildung, wer spricht, nämlich der Prophet Joel, mit entsprechender Rede-Gestik und einer Kostümierung im orientalischen Stil mit Turban vor leerem Bildhintergrund. So darf man sich die Figur bei einer Aufführung des Weltgerichtsspiels vorstellen. Was wir nicht sehen, und was auch die damaligen Zuschauer nicht vor Augen gestellt bekamen, ist der Inhalt von Joels Weissagung. Er spricht unter anderem davon, daß die Sonne erlischt und der Mond sich blutig färbt, „vor gottes antlütz ain feúr lauffet | Man und weyb sich selber rauffe[n]t.“20 All das müssen sich die Leser wie die Theaterbesucher gleicher-

20 Zit. nach: Berliner Weltgerichtsspiel. Augsburger Buch vom Jüngsten Gericht Ms. germ. fol. 722 der Staatsbibliothek Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Hg. von Ursula Schulze. Göppingen 1991, S. 63.

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maßen „imaginante“ vor dem inneren Auge vorstellen, wie Tertullian es sich wünschte. Setzt man den Vergleich der Augsburger Handschrift mit einer Aufführung unter den damaligen Aufführungsbedingungen fort, dann ergibt sich eine überraschende mediale Pointe. Folgen die Bildbeigaben zunächst dem eben beschriebenen Prinzip – wir sehen, wer spricht, aber nicht, wovon er spricht –, so ändert sich dieses Verfahren bei der Prophezeiung des Hieronymus, den sogenannten fünfzehn Zeichen.21 Hier wird zwar auch Hieronymus zunächst als Sprecher vor Augen gestellt, in der traditionellen Ikonographie mit Kardinalshut:

Abb. 4: Berliner Weltgerichtsspiel: Der Lerer Jeronimus, Bl. 6r (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz Ms. Germ. fol. 722).

21 Herberichs (Anm. 18), S. 284 f.

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Doch dann wird auch visualisiert, was seine Prophezeiung beinhaltet:

Abb. 5: Berliner Weltgerichtsspiel: Das Sechst zaychen, Bl. 8v (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz Ms. Germ. fol. 722).

Wir sehen oben das sechste Zeichen, den Einsturz aller Gebäude, und unten das siebte Zeichen, das Zerbrechen der Felsen. Die Leserinnen und Leser der Handschrift bekommen auf diese Weise alle fünfzehn Weltuntergangszeichen vor Augen gestellt, die Zuschauer bei der Aufführung des Dramas, nach allem, was wir wissen, nicht. Die Lektüre ist in einem gewissen Sinne theatraler als die Aufführung des Spiels, jedenfalls dann, wenn man das Kriterium der Visualität zugrunde legt.

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II. Diese Tendenz, daß bei den Weltgerichtsspielen das Gros der visuellen Ereignisse von den Zuschauern imaginiert werden muß, gilt auch für die nachreformatorischen Weltgerichtsspiele. Wie angesichts der Traditionslinien, die sich bei den Weihnachts-, Passions- und Osterspielen feststellen lassen,22 wenig verwunderlich, gibt es auch bei den Weltgerichtsspielen eine Kontinuität zwischen vor- und nachreformatorischer Tradition. Am wohl erfolgreichsten Weltgerichtsspiel des 16. Jahrhunderts, an Hans Sachsens Tragedia mit 34 personen, des jünsten gerichtes23 aus dem Jahre 1558 läßt sich diese Kontinuität, aber auch der interkonfessionelle Austausch gut veranschaulichen. Die Tragedia geht möglicherweise auf ein verloren gegangenes Freiberger Weltgerichtsspiel aus dem 15. Jahrhundert zurück.24 Doch auch wenn man diese Bearbeitungs-These ablehnt,25 bleiben die Bausteine aus den vorreformatorischen Weltgerichtsspielen, die Sachs verwendet, deutlich sichtbar. Sachsens Dramen sind vor allem von den Meistersingern im süddeutschen Raum aufgeführt worden, belegt sind Aufführungen in Kaufbeuren, Nördlingen und München, d. h. zum Teil in katholischen Städten, und diese Aufführungstradition reichte bis ins 18. Jahrhundert, in Kaufbeuren etwa bis 1711.26 Sachs integriert in sein Weltgerichtsspiel ein Eigengerichtsspiel,27 der zweite Akt schildert das Leben eines Jünglings, der ein „epicurisch leben“ führt und nichts vom Weltende wissen möchte: Man sagt vil von dem jüngsten tag, Nach dem ich doch gar nichts nit frag. Die welt steht, wie vor tausend jarn, Wie man in büchern thut erfarn.28

Der Jüngling wird krank, muß sterben, wird aber von einem deutlich als protestantisch gezeichneten Geistlichen vor der Hölle gerettet. Der dritte Akt enthält die Zeichen des bevorstehenden Gerichts, die aber nicht von biblischen Propheten und Kirchenlehrern vorgetragen werden, son22 Vgl. dazu Maximiliane Johanna Antonia Gürth: Interkonfessionelle Aushandlungsprozesse im protestantischen Drama. Mittelalterliche Traditionslinien des geistlichen Spiels im Bibeldrama der Reformationszeit. Berlin u. a. 2020 (Hamburger Beiträge zur Germanistik 63). 23 Im folgenden zitiert nach: Hans Sachs. Hg. von Adelbert von Keller. Bd. 11. Tübingen 1878 (Bibliothek des litterarischen Vereins Stuttgart 136), S. 400–450. 24 Reuschel (Anm. 8), S. 151–159. 25 Reuschel selbst ist sich schon nicht ganz sicher. Ebd., S. 153, Fußnote 2. Vgl. Schmidt (Anm. 7), S. 161. 26 Reuschel (Anm. 8), S. 158 f. 27 Sachs (Anm. 23), S. 406–415. 28 Ebd., S. 407.

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dern von Vertretern der Stände, einem König, Prälaten, Bürger, Handwerksmann und einem Bauern, die zum Teil die Zeichen auf die aktuelle politische Situation (Türkenbedrohung) hin deuten. Es ergibt sich ein Reigen in der Art eines Totentanzes. Die Reden der genannten Figuren sind sehr stark anaphorisch gegliedert, wodurch immer wieder der an die Zuschauer gerichtete Imperativ, zu sehen und zu hören, herausgestellt wird: Der pawr schlecht sein hend zsamm unnd spricht: O secht! Es will gar finster werden. Gantz dußmich sicht himel und erden. Got so grewliche zeichen thut. Secht zu! Es hat geregnet blut. […] O secht, wie die fewrigen blitzen Uber die gantzen welt erglitzen! Secht, wie die wolckenbrüch herfallen Und die wassergüß uberwallen! Hört, wie das wilde meer thut sausen […] Secht, wie bidmet das erdtreich Und stellt sich aller ding geleich, Als wöll himel und erdt zergehn!29

Das sind anaphorisch gereihte Imperative, die zu sinnlicher Wahrnehmung auffordern. Doch die beschriebenen Phänomene gab es auf der zeitgenössischen Bühne nicht zu sehen. Die Zuschauer mußten mit dem inneren Auge sehen und mit dem inneren Ohr hören. Sachsens Tragedia enthält keinen einzigen Hinweis zur szenischen Ausgestaltung der Bühne, aber zahlreiche Hinweise zur Actio der Schauspieler („Der teuffel patscht die hendt zusamen, tantzt und springt umb den krancken“30). Das für die Zuschauer Sichtbare ist der kostümierte Schauspielerkörper und seine Actio. Die einzige Ausnahme von dieser Regel bildet bei Sachs ein Regenbogenthron, auf dem Christus als Weltenrichter thront.31 Die Anfertigung eines solchen Regenbogens wird in einer Stadtrechnung aus Hall/Tirol von 1507 erwähnt,32 er scheint ein topisches Requisit zu sein und findet sich auch in einer Illustration der Handschrift des Berliner Weltgerichtsspiels dargestellt.

29 Ebd., S. 418 f. 30 Ebd., S. 412. 31 Ebd., S. 420. Zum Regenbogen als Requisit vgl. Linke (Anm. 13), S. 364. 32 Trauden (Anm. 8), S. 127.

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Abb. 6: Berliner Weltgerichtsspiel, Bl. 16r (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz Ms. Germ. fol. 722).

Zur Tradition des visuell Wahrnehmbaren gehört in den Spielen des 16. Jahrhunderts meist auch der Hölleneingang,33 und zwar in Gestalt eines geöffneten Drachenmauls.

33 Das Rechnungsbuch von Hall/Tirol erwähnt neben dem Regenbogen auch die Kosten für die Herstellung einer Hölle. Trauden (Anm. 8), S. 127. Vgl. zur Höllendarstellung Linke (Anm. 13), S. 362 f.

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Abb. 7: Berliner Weltgerichtsspiel, Bl. 35v (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz Ms. Germ. fol. 722).

Sachs scheint auf den Hölleneingang als fest modellierte Kulisse zu verzichten, jedenfalls wird ein solcher nicht in seiner Tragedia erwähnt. Die Teufel gehen mit den Verdammten einfach ab: „Die teuffel fürn die verdambten an einer ketten dahin.“34 Die Hölle wird nicht gezeigt, aber auch der Himmel nicht: Christus spricht zu den „außerwehlten“: Ir außerwelten allesandt, Kombt her ins himlisch vatterlandt […] Mit frewden, die auff erden vor 34 Sachs (Anm. 23), S. 447.

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Gehört hat keines menschen ohr Und auch kein aug nit hat gesehen, Das auch kein zungen mag außjehen, Ist in keins menschen hertz nie kommen, Was Gott den außerwelten frommen Wirt dort auß lautern gnaden geben […]35

Mit Verweis auf den 1. Korintherbrief, auf den schon Tertullian sich berief, werden hier die Dinge, die kein Auge je gesehen und kein Ohr je gehört hat (1Kor 2,9), auf der Bühne nicht gezeigt noch auch musikalisch hörbar gemacht. Das Drama endet mit dieser nicht visualisierbaren Verheißung. Ein Auferstehungschoral („Christ ist erstanden“) und ein Epilog des Ehrenholdts beschließen die Tragedia.36

III. Das Problem einer möglichen Visualisierung oder überhaupt einer Darstellbarkeit des Himmels und der Hölle auf der Bühne ist latent in der Dramatik des 16. Jahrhunderts spürbar und am deutlichsten greifbar vielleicht in Andreas Hartmanns Comoedia Vom Zustande Jm Himmel vnnd in der Hellen (Magdeburg 1600).37 Hartmanns Comoedia, die in Dresden, Torgau und wohl auch in Magdeburg aufgeführt wurde, versteht sich zwar als Warnung vor dem Jüngsten Gericht: ES bleibt warhafftig aussen nicht/ Am Jungsten Tag das Letzt Gericht/ Zur Straff vnd Schreckn Gottloser Leut Den Frommen abr zu Ewiger Frewd.38

Doch der Aufbau des Stücks folgt nicht dem traditionellen Schema der Weltgerichtsspiele. Das Stück basiert auf Bartholomäus Ringwaldts Christliche Warnung des treuen Eckarts, einer Jenseitsreise im Stile von Dantes Divina Comedia, bei der der Protagonist, geleitet vom Erzengel Raphael, Himmel und Hölle besucht.39 Das Weltgericht selbst ist nicht Teil der dramatischen Handlung. Auf35 Ebd., S. 447 f. 36 Ebd., S. 448. 37 Andreas Hartmann: Eine Newe. Außbündige/ sehr schöne/ vnd durchauß Christliche Comoedia. Vom Zustande. Im Himmel vnnd in der Hellen. Magdeburg 1600. Vgl. dazu Malena Ratzke: Der treue Eckart und die Fastnacht. Spätmittelalterliche Spieltraditionen in Dramen um 1600 (Hartmann, Pape). In: Morgen-Glantz 26 (2016), S. 81–101, zu Hartmann S. 84 f. 38 Hartmann (Anm. 37), Bl. Aviv. 39 Vgl. Bernhard Jahn: Art. Ringwaldt, Bartholomäus. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd. 5. Berlin, Boston 2016, Sp. 310–315.

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führungstechnisch gibt es auch bei Hartmann wenig zu sehen. Die visuellen Eindrücke werden als Ekphrasis sprachlich für das innere Auge evoziert. Raphael fordert Eckhart auf, Gott zu schauen: Sih Eckhart/ wie schwebt da empor/ Jm Himmel der allrschönste Chor/ Darinn die drey Personen sich/ Der Gottheit zeigen offentlich/ Schaw Eckhart Gottes Maiestat/ Sich alda praesentiret hat/ Sih vnd beschaw es wol zu hand/ Da ist deß HERREN rechte Hand/ Eckhart/ Eckhart/ sihe auf zu schawn/ Zag nicht so/ laß dir gar nicht grawn/ Schaw an die höchste Wonn vnd frewd/ Vnd Gottes grosse Herrligkeit.40

Die anaphorischen Imperative, die zum Schauen auffordern, gelten für Eckart wie die Zuschauer gleichermaßen. Mit dem äußeren Sinn zu sehen gibt es für beide allerdings nichts: für die Zuschauer nicht, weil sie die Gottesschau innerlich imaginieren müssen, für Eckart nicht, weil er ohnmächtig wird: Ach auß dem grossen Gottes Sitz/ Erschreckt mich so ein heller Plitz/ Das mir vorgingn die Sinne mein/ Ich dacht ich würd des Todes sein. […] Ach wie kann von mir armen Erdn Die Gottheit angeschawet werdn/ Ach ich bitt/ mich damit verschon/ Erkler mirs nur mit worten schon.41

Wie der letzte Vers deutlich macht, fordert Eckart aufgrund seines Status als schwacher Mensch („Erdn“ im Sinne von ,irdischer Sünder‘) eine nichtvisuelle, rein sprachliche Darstellung der Herrlichkeit Gottes, die der Engel dann im folgenden bietet. Und auch für die auditive Sphäre des Himmels scheint ein Imaginationsgebot zu gelten: Die Musik der Engel wird sprachlich durch Unüberbietbarkeitstopoi beschrieben, jedoch nicht durch eigens erklingende aktuelle Musik vorgeführt:42 40 Hartmann (Anm. 37), Szene II,3, Bl. Eiiijr. 41 Ebd., Szene II,3, Bl. Eiiijr f. 42 Wie dies etwa bei Johann Rists ‚Friedewünschendem Teutschland‘ (Hamburg 1649) der Fall ist. „Alsobald fahen die Engel/ welche hie und da zwischen den gemachten Wolken in grosser Klarheit sitzen/ an zu singen und zu spielen ‚Verleihe uns Frieden gnädiglich‘ u.s.w. wie dasselbe Herr Schütze oder Herr Schoop in die Melodeien haben versetzet.“ (III,5) Johann Rist: Sämtliche

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Auch geht bey jhn [scil. den Engeln] in vollem schwangk/ Die schönste Music vnd Gesangk/ Denn obwol mancher Fürst vnd Herr/ Gerhümet wird gar weit vnd fer/ Der Music halben mich vernim/ An Instrumenten vnd Menschen stim/ So ist doch solche edle Kunst/ Nicht wol ein Schatten oder Dunst/ Besondere wer Cantorey/ Ist gegn sie wie ein Gänß gschrey/ Der man baldt vberdrüssig wird [.]43

Lediglich die Hölle entfaltet ein hörbares Soundscape: Zum Jammern und Wehklagen der verdammten Seelen treten kleine Raketen (wohl als Knallkörper) hinzu: Bawer. O Zether/ zether/ Ach vnd Weh/ Du hörst auff nun noch nimmermehr. Die Verdampten schreyen jemmerlich. Ach/ ach/ Hui/ hui/ hui/ ach/ ach. Allhier gehet in der Hellen das Fewerwerck an.44

Himmel und Hölle bleiben, auf die Bühne gebracht, letztlich Imaginationsräume. Daß Hartmann dabei selbst mit seiner nur ekphrastischen Darstellung von Himmel und Hölle für die Zeitgenossen immer noch zu weit ging, konnte Malena Ratzke nachweisen.45 Wenige Jahre später erschien in Magdeburg ein Drama von Ambrosius Pape, Christiani Hominis Sors et Fortuna,46 das sich als expliziter Gegenentwurf zu Hartmanns Drama lesen läßt. Christian, der Protagonist, bittet Eckart um eine Jenseitsschau, damit er, so gestärkt, hier auf Erden nicht vom Weg der Tugend abkommt. Doch Papes Eckart verweigert die Jenseitsreise, die Bibel enthalte ja schon alle notwendigen Informationen (vgl. Lk 16,29). Die auf der Bühne verweigerte Jenseitsschau stellt die radikalste Position innerhalb des Protestantismus dar. Wie wir schon sahen, machten sie sich nicht alle Dramatiker zueigen, gleichwohl wird in dieser Radikalposition deutlich, daß auch für die diejenigen Autoren, die das Theater nicht ablehnen, und das ist Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt hg. von Eberhard Mannack. Bd. 2: Dramatische Dichtungen (das friedewünschende Teutschland, das friedejauchtzende Teutschland). Berlin 1972, S. 200. 43 Hartmann (Anm. 37), Szene II,3, Bl. Dvv. 44 Ebd., Szene II,3, Bl. Miv. Die Kursivierung wurde zur Verdeutlichung der Regiebemerkungen hinzugefügt. 45 Ratzke (Anm. 37), S. 97–101. 46 Ambrosius Pape: Christiani Hominis Sors & Fortuna. Das ist: Vom Glück und Zustand eines rechten Christen […]. Magdeburg 1612.

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unter den Lutheranern die Mehrheit,47 der Umgang mit den vier letzten Dingen auf dem Theater besondere Behutsamkeit erfordert, was die Visualisierung betrifft. Daß die Vorbehalte dann auch wieder künstlerisch produktiv werden konnten, mag ein letztes Beispiel zeigen, das vielleicht großartigste und jedenfalls wirkmächtigste Reformationsdrama, Thomas Naogeorgs Tragoedia nova Pammachius (1538).48 Vom Typus her handelt es sich beim Pammachius um ein Antichristdrama,49 wobei Pammachius, umgeben von Teufeln als Kardinälen und das Papsttum als Institution verkörpernd, der Antichrist selbst ist.50 Die Handlung bietet einen Ausschnitt aus der Heilsgeschichte: Satan wird freigelassen, das Christentum im römischen Reich zur Staatsreligion erhoben. Wichtige Stationen der Papstgeschichte werden dargestellt, etwa die Inthronisierung des Papsttums als weltliche Macht und der Investiturstreit. Veritas und Parrhesia (Redefreiheit) werden von der Erde verbannt. Im vierten Akt feiert der Papst mit seinen Teufeln ein rauschendes Fest. Veritas, mit Christus vom Himmel auf die Erde blickend, entdeckt eine Stadt an der Elbe – Wittenberg: Ja recht/ schaw jenst der Elb ein Stat dort leit/ An ihrer grös zweymal so lang als breit/ Gegn Niedergang [= Osten] ein Schlos steht inn der Stadt/ Ein Fürst zu Sachssen die erbawet hat[.]51

Dort wohnt Theophilus, niemand anders als Martin Luther, und die Nachricht von seinem Auftreten schlägt in das rauschende Fest des Papstes wie eine Bombe ein. Man beschließt, nachdem man sich vom Schock erholt hat, gegen die Reformation zu kämpfen. Der fünfte Akt nun würde eigentlich das Jüngste Gericht enthalten: Ne iam expectetis, spectatores optimi, Ut quintus huic addatur actus fabulae, Suo quem Christus olim est acturus die.

Günstige Herrn euch all ich warnen wil/ Ir wolt nicht warten biß zu disem Spil Der Füffte handel wie sich sunst gebürt/ Das Spiel aus machen wird mit herligkeit/52

47 Zur Bewertung des Theaters im Luthertum des 16. Jahrhunderts vgl. Detlef Metz: Das protestantische Drama. Evangelisches geistliches Theater in der Reformationszeit und im konfessionellen Zeitalter. Köln u. a. 2013, S. 102–219 sowie Schmidt (Anm. 7), S. 229–248. 48 Zit. nach: Thomas Naogeorg: Sämtliche Werke. Hg. von Hans-Gert Roloff. Bd. 1: Dramen I: Tragoedia nova Pammachius nebst der deutschen Übersetzung von Johann Tyrolff. Berlin, New York 1975. 49 Aichele (Anm. 11), S. 62–66. 50 Zur polemischen Tradition, in der das Stück steht, vgl. Ingvild Richardsen: Antichrist-Polemik in der Zeit der Reformation und der Glaubenskämpfe bis Anfang des 17. Jahrhunderts: Argumentation, Form und Funktion. Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 157–162. 51 Naogeorg (Anm. 48), S. 419. 52 Ebd., S. 452 f.

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Das Jüngste Gericht wird auf der Bühne nicht dargestellt, es kann nicht dargestellt werden, weil es erst noch kommen wird. Stattdessen leitet die Tragoedia über in die Realität (ut videtur in praesentia) hin zu den gegenwärtigen, sichtbaren Ereignissen, dem Kampf des Papstes gegen die Reformation, den Angriffen der Türken usw. – das wird so weiter gehen, bis eben zum Jüngsten Tag. Erst dann wird Gott durch die Ankunft seines Sohnes diese Tragödie beenden: […] nisi Deus istius Tragoediae Finem fecit adventu Filii sui. Suos qui ex mundo tollat, ut aurum ex stercore, Et impios perpetuis tradat ignibus, Quod fabulae totius erit καταστροφή.

Es mach denn dises Lermans Gott ein endt/ Wenn er seinn Son die Welt zu richten sendt Das er die seinen selbs ausleß und klaub/ Wie man das Goldt scheidt von dem kot und staub/ Die bösen werff inns fewr hinein/ Welchs dises Spiels das rechte Endt wird sein.53

Der fünfte Akt fehlt also, das Jüngste Gericht kann auf der Bühne nicht dargestellt werden. Gleichwohl unterläßt es Naogeorg nicht, das Ende der Welt mit den neuen, der Poetik des Aristoteles54 entnommenen poetologischen Spezialbegriffen zu beschreiben, die nur in der lateinischen Fassung enthalten sind: „tragoedia“, „fabula“ (im Sinne von mythos) und „katastrophé“. Das Jüngste Gericht bleibt damit auf der Bühne als Schauspiel ausgespart, wird aber gleichwohl, ganz im Sinne Tertullians, als Tragödie auf der Bühne evoziert. Damit gelingt Naogeorg die Umsetzung eines Paradoxons: Er befolgt das Theaterverbot Tertullians, indem er ein Theaterstück schreibt. Er vermag das, weil die Aufführungsbedingungen des Theaters im 16. Jahrhundert ihm dabei zuarbeiten.

Abbildungsnachweis Abb. 1 und 2: © Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Abb. 3–7: © Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz

53 Ebd., S. 454 f. 54 Naogeorg dürfte wohl über die 1531 in Basel erschienene Aristoteles-Ausgabe des Erasmus von Rotterdam mit der Poetik des Stagiriten bekannt geworden sein.

Marc Föcking

Vor Gericht. Geistliches Spiel und Angstmanagement in Paolo Bozzis Rappresentatione del Giudicio universale (1596)

Hält man sich die wimmelnde Personenvielfalt frühneuzeitlicher Darstellungen des Jüngsten Gerichts wie Michelangelos Giudizio universale (1536–1541) in der Sixtinischen Kapelle oder Tintorettos gleichnamiges Monumentalgemälde in der venezianischen Chiesa della Madonna dell’Orto (1562/63) vor Augen, kann man sich kaum ein für die frühneuzeitliche italienische Theaterbühne ungeeigneteres Sujet vorstellen: Das gewaltige Personenaufgebot, die räumliche wie zeitliche Entgrenzung, der fehlende tragische Nukleus und die Absenz dramatischer Handlungsführung widersprechen den Versuchen der Restaurierung antiker Dramenpraxis und -poetik seit dem späten 15. Jahrhundert so gründlich, dass sich ein textuelles Analogon zu Michelangelo oder Tintoretto schwer denken lässt. Es ist kein Wunder, dass Rolf Lohse in seiner Studie Renaissancedrama und humanistische Poetik in Italien (2015) unter den geistlichen „tragedie“, „comedie“ und „tragicomedie“ lediglich solche biblischer oder hagiographischer Thematik nennt, keine einzige aber, die das Jüngste Gericht inszeniert.1 Dennoch gibt es italienische Schauspiele des Jüngsten Gerichts im 16. Jahrhundert, wenn auch nicht als „tragedia“, sondern als auf den ersten Blick traditionelle Sacra rappresentazione, die sich jedoch Ende des 16. Jahrhunderts der rinascimentalen Theateravantgarde und ihrer klassischen Modelle nicht ganz entziehen kann: Der Reiz von Paolo Bozzis Rappresentatione del Giudicio universale (Verona 1596) besteht nicht nur darin, dass sie seit gut vierhundert Jahren fast unbeachtet in den Bibliotheken und dann auch im digitalen Heuhaufen des Internets geruht hat, sondern auch darin, dass es die Tradition der Sacra rappresentazione mit diversen literarischen wie theologisch-konfessionellen

1 Rolf Lohse: Renaissancedrama und humanistische Poetik in Italien. Paderborn 2015 (Humanistische Bibliothek Reihe 1, 64), S. 645–677.

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Innovationen zu einer zeittypischen Dramatisierung des Jüngsten Gerichts am Ende des italienischen 16. Jahrhunderts zusammenzieht.

I. Paolo Bozzi – Literat, Komponist, Geistlicher Der Autor Paolo Bozzi ist heute so unbekannt wie sein Gerichtsdrama,2 selbst seine Lebensdaten (ca. 1550–1628) sind nicht gesichert. Dabei war er in der Literatur- und Musikszene zwischen Verona und Venedig nicht ganz unbedeutend: Er hat als Komponist mehrere Madrigalbücher a cinque und a sei voci (1587, 1599), ein Buch mit Canzonette a tre voci (1591), die Madrigalanthologie Novelli ardori a 4 voci (Venedig 1588), Kompositionen in Anthologien geistlicher Madrigale wie Delle pietosi affetti del molto reverendo Padre Don Angelo Grillo (Venedig 1598) und diverse Motetten in der Anthologie Sacro Sanctae Dei laudes (Venedig 1600) hinterlassen.3 Sein Madrigal „All’ombra d’un bel faggio“ aus der 1592 von Angelo Gardano (1540–1611) unter dem Titel Il Trionfo di Dori herausgegebenen Madrigalsammlung lässt sich in einer Interpretation der King’s Singers von 2015 hören.4 Die Wende von weltlichen zu geistlichen Textvorlagen und musikalischen Gattungen in den 1590er Jahren scheint sich auch in seinem literarischen Œuvre widerzuspiegeln: In den 1580er und 1590er Jahren verfasste Bozzi, der seit 1574 durch den Namenszusatz ‚Don‘ als Geistlicher ausgewiesen wird und als Kaplan und Chorleiter in Bovolone, Mantua und seit 1590 in Venedig wirkte, zwei Tragödien mit antikespezifischem Plot und in renaissance-klassizistischer Tragödienpoetik: La Eutheria tragedia nuova (1588) und Cratasiclea (1591).5 Mit Fillino (1597) bedient er schließlich auch das nach Sannazaro, vor allem nach Torquato Tassos Aminta (1580) und Guarinis Pastor Fido (1590) – die Bozzi als Modelle

2 Es taucht auch in einschlägigen Veröffentlichungen zum europäischen Antichrist- bzw. Gerichtsspiel nicht auf, so nicht in Klaus Aichele: Das Antichristdrama des Mittelalters, der Reformation und der Gegenreformation. Den Haag 1974, obwohl Aichele auch romanische und neulateinische Texte wie Negris Il libero arbitrio, das französische Antichristspiel von Modane oder Stefano Tuccis S. J. Christus Iudex bespricht. Ingvild Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik in der Zeit der Reformation und der Glaubenskämpfe bis Anfang des 17. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. u. a. 2003 (Europäische Hochschulschriften Reihe 1, 1855), interessiert sich eher für den deutschsprachigen Raum und hier vordringlich für die protestantischen Polemiken (mit einigen Ausblicken in die römisch-katholische Apologetik) in Flugschrift- und Predigtform. 3 So nach EDIT 16. Edizioni italiane del XVI secolo (edit16.iccu.sbn.it/, Stand: 16.12.2021) und David Nutter: Bozzi [Bozi, Bozio], Paolo. In: Grove Music Online, via doi.org/10.1093/gmo/ 9781561592630.article.03792 (Stand: 16.12.21). 4 The King’s Singers: Il Trionfo di Dori. Perivale 2015 (Signum Records o. Nr.). 5 Zu Bozzis Cratasiclea vgl. Lohse (Anm. 1), S. 373–380.

Vor Gericht

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nennt6 – immer stärker in Mode kommende Pastoraldrama, das sich mit Ongaro und Marino7 zu einem der treibenden Modelle barocker Genera des Seicento entwickeln wird. Gleichzeitig mit dem Fillino aber vollzieht sich Bozzis Wende zur geistlichen Thematik: Er wählt hier die im Cinquecento zur geistlichen Tragödie parallel laufende traditionelle Gattungsform der Sacra rappresentazione: 1596 erscheint die Rappresentatione del Giudicio universale, 1605 folgt die Rappresentazione di S. Giovanni Battista.8 Und schließlich, weitere fünfzehn Jahre später, ist er bei aszetischer Prosa angekommen: In zwei Ausgaben erscheint 1621 und 1625 die zweibändige Tebaida sacra nella quale con l’occasione del ritorno alle proprie celle di alcuni Padri Eremiti si ragiona di molte e varie virtù, in denen Bozzi die Tendenz der Popularisierung des Anachoretentums auch für (männliche) Laien aufgreift.9 Allerdings scheint sich Bozzi weiterhin im Milieu der venezianischen Literaten und Editoren bewegt zu haben, denn eine 1620 bei Misserini erschienene Ausgabe von Tassos Gerusalemme liberata (Il Goffredo) führt ihn mit seinem geistlichen Titel als Korrektor des Textes („D. Pavlo Bozi corrigeva“).10

II. Geistlicher Karneval, geistliches Spiel Die Rappresentatione del Giudicio universale von 1596 liegt also biographisch wie auch gattungsmäßig an der Schaltstelle zwischen weltlichem und geistlichem Milieu – darauf wird zurückzukommen sein. Die Ausgabe Verona 1596 6 Paolo Bozzi: Fillino. Favola pastorale […]. Appresso Gio. Battista, & Gio. Bernardo Sessa. Venedig 1597, fol. A 2v: „ll quale [Fillino] dalla nobiltà d’Aminta atterrito, & dalla grandezza del Pastor Fido, spaventato non voleva à patto alcuno lasciarsi vedere.“ 7 Zur Modellhaftigkeit des Pastoraldramas im italienischen Barock siehe David Nelting: Frühneuzeitliche Pluralisierung im Spiegel italienischer Bukolik. Tübingen 2007 (Romanica Monacensia 74); Marc Föcking: Endspiele des Allegorischen in Torquato Tassos Gerusalemme liberata und Giovan Battista Marinos Adone. In: Schriftsinn und Epochalität. Zur historischen Prägnanz allegorischer und symbolischer Sinnstiftung. Hg. von Bernhard Huss, David Nelting. Heidelberg 2017 (Germanisch-romanische Monatsschrift, Beihefte 81), S. 343–365 sowie Marc Föcking, Oliver Huck: Ecco Lidia ti lascio. Mimesis, Mythos, Monodie und Modus in Marinos und Monteverdis ‚Misero Alceo‘. In: Das modale System im Spannungsfeld zwischen Theorie und kompositorischer Praxis. Hg. von Jochen Brieger. Hamburg 2013 (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 29), S. 135–160. 8 Vgl. Leone Alacci: Dramaturgia (1666). Venedig 1755, Sp. 508. Keiner dieser Texte erscheint in Nutters Eintrag zu Bozzi, vgl. Nutter (Anm. 3). 9 Siehe Arnold Witte: Hermits in High Society: Private Retreats in Late Seicento Rome. In: Art, Site and Spectacle. Studies in Early Modern Visual Culture. Hg. von David R. Marshall. Victoria 2007, S. 104–119, hier S. 115 (via uva.academia.edu/ArnoldWitte, Stand: 16.12.2021). 10 Vgl. Torquato Tasso: Il Goffredo, Overo Gierusalemme Liberata: Poema Heroico del Sig. Torquato Tasso. Con L’Allegoria universale dell’istesso. Et con gli Argomenti del Signor Oratio Ariosti. Venedig 1620 (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg A/41794).

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(zwei weitere erschienen 1605 in Venedig, eine bei Amadino, eine bei Marco Claseri) ist in Italien in zehn hauptsächlich norditalienischen Bibliotheken (u. a. Verona, Venedig, Mailand und Faenza) vorhanden, was Bozzis Wirkungskreis zwischen Verona und Venedig und auch dem Widmungsträger entspricht: Bozzi richtet seine „dedica“ an den neuen, 1596 eingesetzten Bischof von Padua, Marco II. Cornaro (1557–1625), und das mit der deutlichen Bitte um Unterstützung bei einer möglichen Aufführung, sei doch das reine Lesen des Stückes viel weniger geeignet, die Angst vor der „ira di quel tremendissimo Giudice“ zu wecken als „le cose, che si veggiono“, die „molto più l’animo commuovono, che quelle, che si leggono, & ascoltano“.11 Eine ohne Mäzen organisierte Aufführung hätte, so Bozzi, aber die Möglichkeit von „persone private“ überstiegen, denn diese sei „più tosto opera da Rè“.12 Bozzi hatte also weder ein Lesedrama noch eine Aufführung in einem modesten Schulkontext vor Augen, sondern ein großes, gleichzeitig geistliches wie öffentlich-städtisches Spektakel. Er machte sich vielleicht deswegen besondere Hoffnungen, weil Marco II. Cornaro nach seinem Amtsantritt 1596 in Padua Schritte gegen die „dissoluzione del carnevale“ – so sein Vikar Paolo Gualdo – eingeleitet hatte und mit viel Geld eine Art geistlichen Gegenkarneval mit geistlichem Theater, „musiche, apparati, illuminazioni, sermoni, & indulgenze come usano li padri gesuiti nella città di Roma“ (so wieder Gualdo)13 zu installieren begann. Ob Bozzis Bitte erfolgreich und sein Giudicio universale tatsächlich auf der Bühne zu sehen war, ließ sich allerdings nicht eruieren. Eine Beschränkung auf den gedruckten Text widerspricht jedenfalls Bozzis Intention der Überzeugung durch „cose, che si veggiono“,14 und kann daher für den Autor nur die zweitbeste Rezeptionsform seines Gerichtsdramas und vielleicht Ausgleich für die nicht zustande gekommene Aufführung gewesen sein. Wie kostspielig eine solche Aufführung gewesen wäre, zeigt schon ein Blick auf die dramatis personae: Bozzis zweigeteiltes Stück – Aufstieg und Fall des Antichrist und finales Gericht nach dessen Fall – sieht rund sechzig Einzelrollen mit Sprechanteilen vor; dazu kommen Gruppenauftritte des „popolo“ Jerusalems und vier Chöre (der Propheten, der Sibyllen, der Engel und der Verdamm11 Paolo Bozzi: Rappresentatione del Giudicio universale. Dedicata All’Illustrissimo, & Reverendiss[imo] Monsignor Cornaro Vescovo di Padova. Nella Stamparia di Girolamo Discepolo. Verona 1596, s. p. [2 u. 3 f.] (‚die Angst vor diesem Furcht einflößenden Richter‘, ‚die Dinge, die man sieht, [erschüttern] die Seele sehr viel stärker als die, die man liest oder hört‘). 12 Ebd., s. p. [4] (‚eher das Werk eines Königs‘). 13 Zitiert nach Antonio Lovato: Il vescovo di Padova Marco II Cornaro (1557–1625) e il Theatrum sacrum per il carnevale spirituale. In: Musica e figure 4 (2017), S. 71–97, hier S. 71 (‚Lasterhaftigkeit des Karnevals‘, ‚Musik, Bühnentechnik, Beleuchtungen, Predigten und Ablässe, wie sie die Jesuiten in Rom einsetzen‘). Siehe auch ders., Giulio Cattin: Contributi per la storia della musica sacra a Padova. Padua 1993 (Fonti e ricerche di storia ecclesiastica padovana 24), S. 227. 14 Bozzi, Giudicio (Anm. 11), dedica s. p. [3].

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ten), insgesamt also kaum weniger als einhundert Personen. Das ist, auch wenn Rollen doppelt besetzt würden, selbst für die traditionelle, von Bozzi angezielte Gattung der Sacra rappresentazione viel, bedient aber so schon eines der Charakteristika des italienischen geistlichen Spiels biblischer oder hagiographischer Thematik, das seine Hochzeit im 15. Jahrhundert hatte: Das Personal der Sacre rappresentazioni ist quantitativ nicht begrenzt, weil die Handlung eher in additiv erweiterbarer Szenenfolge und Multiplizierung von Handlungssträngen besteht. Handlungskonzentration und strukturierter Spannungsaufbau sind hier nicht gefragt, die Handlung ist weder zeitlich noch räumlich begrenzt und kann sich über Jahre erstrecken. Die additiv erweiterbaren Szenen laufen im Modus der Rede und Gegenrede ohne Anspruch auf dramatische Steigerungen und zumeist ohne Verkettung der Szenen durch die durchgereichte Präsenz einer der Figuren ab. Die typische Sacra rappresentazione kommt als geistliche Nummernrevue mit didaktischer Zielrichtung daher, die sich rhetorisch-metrisch folglich auf dem Stilniveau des stilus humilis und in der achtversigen Stanzenformen der Ottava Rima bewegt.15 Sacre rappresentazioni fordern lange Aufführungszeiten und sind bisweilen als Zwei- oder Dreiteiler in die paraliturgische Gestaltung mehrerer religiöser Festtage (Weihnachten, Ostern etc.) eingepasst. Referenztext für die Thematik des Jüngsten Gerichts im Modus einer traditionellen Sacra rappresentazione könnte hier die Rappresentazione del di del Giudizio von Antonio Araldi und Feo Belcari vom Ende des 15. Jahrhunderts sein, die eine der seltenen neueren Erwähnungen des Bozzi’schen Giudicio aus dem späten 19. Jahrhundert für dessen direktes Vorbild hält16 – zu Unrecht, wie sich noch zeigen wird. Dass die Gerichts-Thematik mitsamt der Vorgeschichte des Antichrist für Bozzi nach rund achtzig Jahren klassisch orientierter Theaterpraxis und fünfzig Jahren der Diskussion um eine aristotelische Dramenpoetik nur als eigentlich 15 Vgl. die klassische Studie von Alessandro D’Ancona: Origini del teatro italiano. 3 Bde. Turin 1889; Konrad Eisenbichler: From Sacra rappresentazione to Commedia spirituale: Three ‚Prodigal Son‘ Plays. In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 45 (1982), S. 107–113 sowie Paola Ventrone: La sacra rappresentazione fiorentina: Aspetti e problemi. In: Esperienze dello spettacolo religioso nell’Europa del Quattrocento. Hg. von Mario Chiabò, Federico Doglio. Rom 1993, S. 67–99. 16 Vgl. Sacre rappresentazioni dei secoli XIV, XV e XVI. Raccolte e illustrate per cura di Alessandro D’Ancona. Bd. 3. Florenz 1872, S. 499–523. Robert Vischer: Luca Signorelli und die italienische Renaissance. Eine kunsthistorische Monographie. Leipzig 1879, S. 181 f., führt Bozzis Stück direkt auf diese Sacra rappresentazione zurück: „Paolo Bozzi schildert in seiner Rappresentatione del giudicio universale (Verona 1596) mit kräftiger Phantasie das Walten des Antichrist, ehe er das jüngste Gericht hereinbrechen läßt. […] Der letzte Theil, welcher das jüngste Gericht schildert, lehnt sich ziemlich an die früheren Schilderungen Araldi’s und Anderer. Doch ist es wahrscheinlich, dass auch das Walten des Antichrist von (anderen) Vorgängern ähnlich geschildert wurde. […] Eine besondere Rolle spielen in Bozzis Stück aber die Söldner und Capitäne des Antichrist, wie bei Signorelli.“

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inaktuelle Sacra rappresentazione auf die Bühne gebracht werden kann, zeigt, wie sehr sich auch noch gegen Ende des Jahrhunderts die geistlichen Bühnensujets an renaissance-klassizistisch sanktionierten Theaternormen reiben und zur Not auf frühere Theaterformen zurückgreifen müssen. Für Bozzi, der selbst Tragödien nach klassischen Modellen verfasst hat, stellt das eine bewusste Wahl dar: Er bittet den Bischof, angesichts des unmittelbaren didaktisch-religiösen Nutzens des „efficacissimo rimedio […] à preservarci dal peccato“ nicht auf denjenigen zu hören, „che dicesse, ch’ella contra gli insegnamenti d’Aristotile contenga attione di spatio, più lungo non pur d’un giro di Sole, ma di molti anni“.17 Die „precetti di quel valente filosofo“ müssten zwangsläufig dem Sujet geopfert werden, und das sind nicht nur die der Einheit von Zeit und Raum, sondern auch die der Trennung von „tragedia“ und „comedia“18 oder – implizit – die Festlegung auf mögliche menschliche Handlungen, was Futurisches wie das Jüngste Gericht ausschließen würde. Nicht „ignoranza“, sondern strenge Observanz des klassizistisch-aristotelischen Rahmens fordert für Bozzi die Etikettierung als „semplice rappresentatione di cose da dover avvenire nello spatio di molti anni, tutte all’estremo universal Giudicio appartenenti“.19 Und eine „semplice rappresentatione“ scheint die von Bozzi ausgebreitete Handlung tatsächlich zu sein, wenn man Maßstäbe und Inhalte der Antichristund Gerichtsspiele des Hochmittelalters und des 15. Jahrhunderts ansetzt: In den ersten drei Akten folgt Bozzi der seit dem frühen Mittelalter aus einer Reihe von Schriftstellen (u. a. 2Thess 2,2 ff.; Apk 13,11 ff.) und Kirchenvätertexten destillierten,20 in eine Vielzahl von auch italienischen Antichristspielen und -Epen21 eingegangenen Biographie von eschatologischer Funktion, Aufstieg und Fall des aus dem Hause Dan stammenden Antichrist, wie sie schon Adso von Montieren-Der um 950 erzählt: Nach einem Prolog der über die vielfältige Verfolgung klagenden Kirche und einem himmlischen Dialog zwischen Abel, Abraham,

17 Bozzi, Giudicio (Anm. 11), dedica s. p. [2 u. 5] (‚sehr nützlichen Heilmittels, um uns von der Sünde zu bewahren‘, ‚der sagt, dass sie gegen die Lehren des Aristoteles Handlungen enthält, die nicht nur länger als einen Sonnenlauf, sondern als viele Jahre dauern‘). 18 Ebd., s. p. [6]: „[N]ostra intentione non è stata di fare una Tragedia, ò Comedia (non sofferendo ciò il soggetto)“ (‚Unsere Absicht war es nicht, eine Tragödie oder Komödie [was der Gegenstand verbietet] zu schreiben‘). 19 Ebd., s. p. [6] (‚einfache Darstellung von Dingen, die geschehen müssen im Rahmen vieler Jahre, alle dem jüngsten letzten Gericht zugehörig‘). 20 Zur Tradition der Antichrist-Thematik im Neuen Testament, den Apokryphen, den apokalyptischen Texten der Tiburtinischen Sibylle aus dem späten 5. Jahrhundert, der Methodios-Apokalypse und besonders in der Epistel De ortu et tempore Antichristi von Adso von Montier-en-Der (um 950) und im mittelalterlichen Antichrist-Spiel siehe Aichele (Anm. 2), S. 1–50. 21 Vgl. Araldi, Belcari (Anm. 16); Girolamo Puglisi: Il giudizio universale. Poema in lingua siciliana. Palermo 1575 sowie Giudizio universale, overo finale, qual tratta dalla fine del mondo […], con la venuta del Antichristo. Perugia 1578.

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Petrus und Christus, die das Ende der Welt und das Gericht herbeisehnen, schickt Christus den Erzengel Michael in die Hölle, um Luzifer zu entfesseln. Dieser rekrutiert – wie in 2Thess 2,3 als eschatologisches Vorspiel vorgegeben – den Antichrist, hier Saul aus dem Hause Dan, um die Vernichtungsschlacht gegen das Christentum zu schlagen und sich als ‚wahrer‘ Messias der Welt zu bemächtigen. Ausgestattet mit der Kraft, Wunder zu tun, und mit unbegrenzten militärischen und finanziellen Mitteln, zieht der Antichrist unter den apokalyptischen Zeichen der „Mulier amicta Sole“ (Apk 12,1; Bozzi, Giudicio, S. 18) mit seinem Heer nach Jerusalem, wo er mit List die Stadt einnimmt, die Christen blutig verfolgt und die Einwohnerschaft mit Geld, Terror, Lügen und Scheinwundern von seinem Messias-Status zu überzeugen sucht. Der Sieg über Jerusalem soll Ausgangspunkt werden für die Eroberung der Welt, zunächst Äthiopiens (Bozzi, Giudicio, S. 22), dann Griechenlands; schließlich soll „Roma“ eingenommen und bei Widerstand des „Principe Christiano“ vernichet werden (ebd., S. 27). Doch das Scheitern vermeintlicher Totenerweckungen, das Terrorregime des Antichrist und die Hinrichtungen seiner Widersacher unter den Christen (ebd., S. 40) lassen auch die Juden vor seiner Anerkennung als Messias zurückschrecken, weil dessen gnadenlose Grausamkeit keinen „termin […] De l’onesto, e del giusto“ kennt und nicht zu den Ankündigungen der Propheten passt (ebd., S. 36). Nun lässt Christus den Propheten Elia, den Patriarchen Henoch und den Evangelisten Johannes – in denen die beiden namenlosen, vom apokalyptischen Tier verfolgten Zeugen aus Apk 11,3 ff. ihre seit Adsos Erzählung geläufigen Namen (und Ergänzung um Johannes)22 finden – von Raphael aus dem irdischen Paradies holen, um die Bewohner Jerusalems zum Widerstand gegen den Antichrist und zur „vera fede“ (ebd., S. 43) zu Christus zu führen. Nach Niederlagen des Antichrist in theologischen Debatten mit den gefangen genommenen und später hingerichteten Himmelsboten, der scheiternden Totenerweckung und der Himmelfahrt der hingerichteten Elia, Henoch und Johannes beginnt sein Stern genau in der Mitte des Stücks zu sinken: Seine Himmelfahrt misslingt, er stürzt, vom Erzengel Michael durchbohrt, mit der letzten Klage „Haimè, haimè, io moro“ zu Boden (ebd., S. 68). Damit ist genau in der Mitte des dritten Aktes der zweite Teil des Stückes – der des Gerichts – eröffnet, der nach dem handlungsgetriebenen und epischen 22 Zu Elias und Henoch als eschatologischen Heldenfiguren in Antichristspielen zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert siehe Aichele (Anm. 2), S. 174–193, und Carlotta L. Posth: Krisenbewältigung im spätmittelalterlichen Schauspiel: Elias und Enoch als eschatologische Heilsfiguren. DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2017/01/03 (Stand: 16.12.2021). Der hier und in Bozzis theatralen Quellen hinzugefügte Johannes begründet sich möglicherweise durch dessen Identifizierung mit dem Verfasser der Apokalypse, siehe Stephanus Tuccius S. J.: Christus Nascens – Christus Patiens – Christus Iudex. Tragoediae. Edizione, introduzione, traduzione di Mirella Saulini. Rom 2011 (Monumenta historica Societatis Jesu, N. S. 8), S. 183.

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ersten Teil strukturell eher statisch in Blöcken aus Rede und Gegenrede von Anklage und Verteidigung verläuft und intertextuell stärker neutestamentlich unterlegt ist als der erste Teil. Bozzi gestaltet ihn als dramatische Amplifikation der Wiederkunftsrede Christi in Mt 24, erweitert durch die apokalyptischen Untergangsszenarien der notbringenden und die Posaunen blasenden Engel der Apokalypse, allerdings unter Auslassung der monströsen und jede vordigitale Dramaturgie überfordernden apokalyptischen Tiere: Nach dem Tod des Antichrist gießen sieben Engel wie in Apk 16,1 ff. sieben „ampolle“ aus, deren „[v]elenoso licor“ den Menschen die Pest bringt („Come ne le mia man rompono piaghe?“, ebd., S. 72), den Tod der Meerestiere, die Vergiftung der Flüsse, versengende Hitze, Dunkelheit, Dürre und Stürme. Mit der Eklipse der Sonne nach Mt 24,29 und dem Chor der Engel, die den Untergang der gesamten menschliche Kultur in nur einem Tag besingen und auf das kommende und möglicherweise noch viel gravierendere Gericht verweisen, geht der dritte Akt zu Ende: Ahi che quel, che mill’anni E secoli hanno nodrito, Un sol giorno ha finito. Ma voglia Dio, che fine Habbian qui le ruine, E che più acerba sorte Non prepari a mortali eterna morte. Ach, dass das, was tausend Jahre Und Jahrhunderte genährt haben, in einem einzigen Tag sein Ende findet. Aber wolle Gott, dass hier Der Untergang sein Ende hat, und dass das bittere Schicksal den Sterblichen nicht ewigen Tod bereitet. (ebd., S. 78)

Nachdem die Seelen der Toten in ausführlichen – deutlich auf Ez 37,2 sowie 1Thess 4,16 und, mehr noch, auf die farbige Schilderung der Rückkehr der auch von wilden Tieren zerrissenen Toten in ihre Körper aus der apokryphen PetrusApokalypse rekurrierenden23 – Monologen Christi und Posaunensignalen der Engel mit ihren ursprünglichen Körpern ausgestattet und „o sian nel Purgatorio, 23 Vgl. Apokryphen zum Alten und Neuen Testament. Hg. von Alfred Schindler. Zürich 1990, S. 732. Vgl. auch Augustinus: De civitate Dei contra paganos / The city of God against the Pagans. Bd. 7: Books XXI–XXII. Hg. und übersetzt von William M. Green. Cambridge, MA, London 1972 (Loeb classical library 417). Siehe auch Gisbert Greshake: Resurrectio mortuorum im Spannungsfeld von Auferstehung des Leibes und Unsterblichkeit der Seele. In: Ders., Jacob Kremer: Resurrectio mortuorum. Zum theologischen Verständnis der Auferstehung. Darmstadt 1986, S. 168– 276.

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ò ne l’Inferno | O in qual si voglia loco“ (ebd., S. 79) zusammengerufen worden sind, werden die „empi“ von den „giusti“ getrennt. Die Risse gehen hier sogar durch Familien, was Bozzi durch eine Reihe an Trennungsszenen inszeniert (ebd., S. 83 ff.). Dann wird der Gerichtssaal dekoriert: Sieben Engel bringen die einzelnen arma Christi herbei, zum „aspro terror de’ rei“ (ebd., S. 85), weil die Leiden Christi sie nicht zur rechtzeitigen Umkehr bewegt haben. Am Ende des vierten Aktes delegiert der nur hier auftretende „Padre Eterno“ unter Verweis auf Joh 5,22 das Gericht an Christus, das den letzten, fünften Akt einnimmt. Das Gericht über die „buoni“, die für Bozzis Christus mit der Kirche als „cara sposa | Con tutti i suoi fedeli“ (ebd., S. 89) zusammenfallen, wird zu Beginn des fünften Aktes nur sehr kurz inszeniert in Wechselreden zwischen Christus und den Patriarchen (vertreten durch Abraham), den Propheten (Mose), Aposteln (Petrus), Märtyrern (Stephanus), Kirchenvätern/-lehrern und Päpsten (Augustinus), Eremiten (Antonius), Jungfrauen (Maria) und namenlosen, ‚normalen‘ „Confessi et semplici“ ohne „error mortal […]. E se pur fu mortal, lo scancellaste | Con l’aspra penitenza“ (ebd., S. 97). Diese das Alte wie das Neue Testament überwölbende „Chiesa“24 war schon als (einzige allegorische) Sprecherin zu Beginn des Stückes aufgetreten. Bozzis Freispruch der „Pontefici“ und „confessi“ hat hier zwar expliziten konfessionellen Charakter, bleibt aber auch innerhalb der gerade einmal sechs Seiten umfassenden Erhebung der „buoni“ eher diskret, zumal die „pontefici“ hier als Erlöste unter vielen nicht die herausgehobene Position des Papsttums einnehmen, die ihm der Tridentinische Katechismus oder Roberto Bellarmino als stellvertretendes, die Einheit garantierendes Haupt der Kirche zusprechen.25 Wie stark Bozzi weniger auf die Belohnung der ‚Guten‘ als vielmehr auf die Verdammung der ‚Bösen‘ setzt, zeigt das den ganzen fünften Akt einnehmende Strafgericht: Hier heult, wie der „Demonio“ erläutert, jeder, der sich […] di propria voglia Si sottomise al nostro imperio grave. Fece a te [Christus] resistenza, & hebbe a scherno I consigli, le leggi, i documenti, E ciò che a sua salute le porgevi. […] aus eigenem Willen Sich unserer Macht unterwarf: 24 Zu dieser ekklesiologischen Auffassung siehe zeitgenössisch Catechismus ex decreto Concilii Tridentini ad parochos. Turin 1924, S. 93 („Ecclesiam ab antiquissimis temporibus universalem fuisse“), auch Roberto Bellarmino: Streitschriften über die Kampfpunkte des christlichen Glaubens. Übersetzt von Philipp Victor Gumposch. Bd. 3. Augsburg 1843, S. 35: „Dazu kommt ein zweiter Beweis aus göttlicher Auctorität. Gott führte nemlich eine solche Staatsform, wie wir kurz vorher beschrieben, in seiner Kirche sowohl des alten als neuen Testaments ein.“ 25 Vgl. Catechismus (Anm. 24), S. 90.

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Er leistete dir [Christus] Widerstand und missachtete Den Ratschlag, die Gesetze, die Schriften Und das, was du ihm zur Rettung reichtest. (ebd., S. 97 f.)

Der Reihe nach, aber nicht in Dante’scher oder sonstiger moraltheologischer Systematik, verdammen exemplarische Positiv-Gestalten wie Sant’Agata, Sant’Antonio, der Heilige Augustinus oder der Heilige Sebastian die ihnen negativ entsprechenden Gruppen ostentativer und nicht reuiger Sünder: die Undankbaren, die Wollüstigen, die „ricchi e ambitiosi“, die „sprezzatori della parola di Dio“, die „tiranni“ oder die, die sich von den Wundern der Schöpfung nicht zum „Dio delle stelle“ (ebd., S. 103) bekehrt haben. Gegen das naheliegende Modell der Dante’schen Commedia lässt sich Bozzi jede Gelegenheit entgehen, konkrete Bezüge zu zeitgenössischen, historischen, astronomischen, biographischen, institutionellen oder konfessionellen Phänomenen herzustellen, und das ganz im Gegensatz zu Antichrist- oder Gerichtsdramen der Reformation, die, so Aichele, die apokalyptische Legendarik mit der „aktuellen religiösen, sozialen und politischen Wirklichkeit“26 füllten. Unter den „sprezzatori della parola di Dio“ finden sich so nicht etwa ‚Häretiker‘ (Lutheraner, Calvinisten) oder gar konkrete, für häretisch gehaltene Personen wie Luther, Melanchthon, Erasmus, Calvin etc., über die in der italienischen Dichtung des späten Cinque- und frühen Seicento oft und sehr generisch hergezogen wird.27 Die Altes wie Neues Testament umschließende „Chiesa“ klagt im Prolog zwar über Verfolgung, die der Antichrist dann ja tatsächlich ins Werk setzt, aber diese bleibt historisch gänzlich unspezifisch.28 Auch findet sich bei Bozzi nicht die geringste Anspielung auf historische oder zeitgenössische Könige, Kaiser oder Fürsten unter den „tiranni“, auch keine auf konkrete Unheilszeichen wie etwa die apokalyptische Himmelserscheinung par excellence, den Kometen (etwa den von 1577)29 – oder, was zu Beginn des langen Türkenkriegs ab 1593 ebenso 26 Aichele (Anm. 2), S. 161. 27 Siehe etwa Giambattista Marino: La Galeria. Hg. von Marzio Pieri, Alessandra Ruffino. Trient 2005 (Opere di Giambattista Marino 3), S. 162. Hier findet sich das Portrait Luthers in der Abteilung der „Negromanti ed eretici“ (zusammen mit dem Merlins, des Simon Magus und des Julian Apostata), ebenso wie das Calvins, Théodore de Bèzes, Melanchthons, Erasmus’ etc. Alle werden mit einem Schwall von Schimpfworten aus dem Tierreich übergossen (Volpe, Lupo, Corvo, Hiena, Aragna). 28 Vgl. Aichele (Anm. 2), S. 164, der „das katholische Antichristdrama der Neuzeit“ als Texte beschreibt, in denen „Protestanten nur als Häretiker“ und die Kirche als ihr Opfer gesehen werden. Bei Bozzi ist das anders. 29 Zur zeitgenössischen eschatologischen Deutung von Kometen siehe Marion Gindhart: Das Kometenjahr 1618. Antikes und zeitgenössisches Wissen in der frühneuzeitlichen Kometenliteratur des deutschsprachigen Raumes. Wiesbaden 2006 (Wissensliteratur im Mittelalter 44); Andreas Bähr: Der grausame Komet. Himmelszeichen und Weltgeschehen im Dreißigjährigen Krieg.

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nahegelegen hätte, auf „Turchi“ oder „Mahometani“, keine auf die in früheren Giudizio universale-Spielen des 15. Jahrhunderts unter den Verdammten auftauchenden schlechten „chierici“.30 Den „ebrei“ wird die lange verweigerte Anerkennung des Messias von Christus verziehen, nachdem der „sacerdote ebreo Eleazer“ die Bekehrung nach dem Wirken von Enoch und Elias und dem Tod des Antichrist31 ausspricht. Es bleibt aber nicht beim „Perdoniamo a gli Ebrei“ (ebd., S. 69), Christus ehrt die biblischen Patriarchen mit dem Bekenntnis „E prima voi, che del gran sangue Ebreo | Onde anch’io traggo la materna origo, | Sete la base, e’l fondamento vero“ (ebd., S. 93) und sanktioniert damit den das Stück eröffnenden Prologo der schon im biblischen Paradies ihren Anfang nehmenden „Chiesa“. Das ist ein Vielfaches an Philosemitismus, als man in der italienischen Literatur und Politik,32 aber auch der römisch-katholischen Liturgie des späten 16. Jahrhunderts erwarten kann: Die im Römischen Messbuch zu Karfreitag ausgesprochene Mischung aus Beleidigung und Bekehrungsbitte über die „perfidis Judaeis: ut Deus et Dominus noster auferat velamen de cordibus“,33 hat sich in Bozzis theologischer Science-fiction einer finalen Anerkennung Christi als Messias durch die Juden aufgelöst zum Lob des jüdischen ‚mütterlichen Ursprungs‘ („materna origo“) des Christentums. Statt Kleruskritik, Religions- oder Konfessionspolemik zieht Bozzi bühnenwirksame Lamento-Dialoge zwischen Verdammten und Christus oder den Erzengeln in den Vordergrund, die sich an den Wortwechseln zwischen Christus und den ihre Nächsten nicht liebenden „Verfluchten“ aus Mt 25,31–45 (ebd., S. 107) orientieren und in der Insistenz des Geroboamo (Jerobeam), der seine ewige Höllenstrafe über mehrere Seiten herunterhandeln will, so etwas wie eine bittere Komik gewinnen. Vergleichbares wird man in den tragikomischen Lamento-Szenen in den Opern des frühen Seicento finden, etwa im Lamento des seinen eigenen nahen Tod komisch beklagenden Selbstmörders Iro in Monte-

Hamburg 2017 sowie zur frühneuzeitlichen astronomischen Antichrist-Prognostik Stephan Heilen: Konjunktionsprognostik in der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Die Antichrist-Prognose des Johannes von Lübeck (1474) zur Saturn-Jupiter-Konjunktion und ihre frühneuzeitliche Rezeption. BadenBaden 2020 (Saecvla Spiritalia 53). 30 Vgl. Araldi, Belcari (Anm. 16), S. 506. 31 „Quel Giesù […] e d’opere, e di nome | Chiaro, & illustre, fu’l vero Messia […] | Questo Enoch, quello Elia ci fecer chiaro | Prima co’scritti, e profetie celesti“ (‚Dieser Jesus […] ist nach Werken und Namen | hell und berühmt, er war der wahre Messias. […] Henoch und Elias haben uns klare Beweise in Schriften und himmlischen Prophetien gegeben‘). Bozzi, Giudicio (Anm. 11), S. 68. 32 Clemens VIII. (1592–1605) etwa erneuerte die gegen die Juden im Kirchenstaat gerichteten Bullen Pauls IV. und Pius’ V. und verwies die Juden aus den Territorien des Kirchenstaates, ausgenommen Rom, Ancona und Avignon. Siehe Sofia Boesch Gajano, Michele Luzzati (Hg.): Gli ebrei in Italia. In: Quaderni Storici 54 (1983). 33 Das vollständige Römische Meßbuch. Lateinisch und Deutsch. Hg. von Anselm Schott O. S. B. Freiburg i. Br. 1935, S. 392.

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verdis Ritorno di Ulisse in Patria. Nach vergeblichem Diskutieren mit Christus und der Jungfrau Maria bittet Geroboamo: E se pur non ci vuoi degnar del Cielo, Dacci almeno habitar sopra la terra. Und wenn du uns nicht den Himmel zugestehst, lass uns wenigstens auf der Erde wohnen. (ebd., S. 111)

Nachdem Christus das ablehnt: Se trà le fiamme pur sia il nostro albergo, […] Limita almeno il termine e le pene. Wenn denn unser Aufenthalt bei den Flammen sein muss, begrenze doch wenigstens die Dauer und die Qualen. (ebd., S. 111)

Ohne Erfolg, daher ein weiterer Versuch: Concedi almen, ò Rè de l’alto Cielo, Ch’in tante fiamme alcun de’nostri cari Ne consoli […]. Gestehe doch wenigstens zu, oh König des hohen Himmels, Dass wenigstens einer unserer Lieben Uns tröstet. (ebd., S. 111 f.)

Das beantwortet Christus mit sarkastischen Wortspielen und Ironie: „Fia’l fin del fuoco, il non haver mai fine“ (‚Das Ziel [fine] des Feuers ist ja gerade, kein Ende [fine] zu haben‘, ebd., S. 111) oder „Saran vostri compagni i fier Demoni: | Questi mercede havran de’ vostri affanni“ (‚Eure Begleiter werden die wilden Dämonen sein, sie werden Gnade mit euren Leiden haben‘, ebd., S. 112). Es folgen drei abschließende Klagen des Antichrist, Krösus’ und Sardanapals über die korrumpierende Wirkung von Geld und Pomp, letzte Klageschreie der Verdammten, dann tritt der Erzengel Michael die Höllentür mit einem Tritt zu („io co’l piede destro | Calco le porte“, ebd., S. 116), und Bozzis Version von den Letzten Tagen der Menschheit wäre nach – geschätzten – zwei bis drei Stunden Spielzeit zu Ende. Bereits dieser kurze Abriss des Plots macht deutlich, dass es sich bei Bozzis Beteuerung, nur eine „semplice rappresentatione di cose da dover avvenire“ fern der „precetti di quel valente filosofo“ Aristoteles bieten zu wollen, um eine durchsichtige captatio benevolentiae handelt. Bozzi nimmt vielmehr eine Reihe von Aktualisierungen des Modells der Sacra rappresentazione vor – formal-poetologische wie theologische.

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III. Modernisierung der Sacra rappresentazione: Bozzi, das Jesuitentheater und die Aktualität des Antichrist 1. Akteinteilung, die Verwendung eines durchgehenden hohen Stils und von ungereimten Elfsilbern (Endecasillabi sciolti) als Versmaß der italienischen Tragödie, angereichert durch ebenfalls tragödienspezifische Chöre mit entsprechender Metrik gereimter Endecasillabi und Settenari, der Einsatz eines „Prologo“, die Bemühung um ein Minimum an dramatischer Handlungsführung in der Antichrist-Partie und die Zäsur im dritten Akt markieren einen deutlichen Abstand zum schlichten Modell der traditionellen Sacra rappresentazione. Deren Reproduktion war nach den Diskussionen um die aristotelische Poetik und die Suche nach einer Adaptierung biblisch-christlicher Sujets an modifizierte klassische Dramenelemente seit den 1550er Jahren34 kaum mehr möglich, und schon gar nicht für einen Autor mit der Tragödienerfahrung Bozzis. Tatsächlich hat Bozzi das rinascimentale Procedere der Imitatio klassischer Vorbilder so weit verinnerlicht, dass er auch für sein Gerichtsdrama ein entsprechendes lateinisches Vorbild aufbieten kann: Mit dem im Vorwort ohne Titel erwähnten „componimento in lingua latina […] ad imitation di quello, un tale, ma nella nostra materna favella, affine che da tutti esser inteso potesse“ (ebd., s. p. [3]) hat Bozzi einen durchsichtigen Hinweis auf dieses Modell gegeben: Es handelt sich um die Tragoedia sacra Christus Iudex des sizilianischen Jesuiten Stefano Tucci (1540–1597), die den Abschluss der 1569 fertiggestellten Trilogie Christus Nascens, Christus Patiens und Christus Iudex bildete.35 Diese wurde – wiewohl auf Latein – mit großem Erfolg und „per gli accidenti horribili, de’ quali abonda […] gran numero di conversioni“36 1569 in Messina, 1572 unter 34 Vgl. Marc Föcking: Christo si è fermato a Napoli. Renaissance und Reformation im Neapel des 16. Jahrhunderts (Giovanni Domenico di Lega, Morte di Christo, Napoli 1549). In: Romanistisches Jahrbuch 70 (2019), S. 86–117; ders.: Tra Aristotele e Valdés. La Morte di Christo di Giovan Domenico di Lega (1549). In: Dulcis Alebat Parthenope. Memorie dell’antico e forme del moderno all’ombra dell’Accademia Pontaniana. Hg. von Giuseppe Germano, Marc Deramaix. Neapel 2020 (Latinae humanitatis itinera nova 5), S. 287–301. 35 Siehe Tuccius, Christus (Anm. 22). Vgl. Mirella Saulini: Il teatro di un gesuita siciliano. Stefano Tucci S. J. Rom 2002 (La fenice dei teatri 15); dies.: Tra Erasmo e Cicerone. L’eclettismo oratorio di Stefano Tucci S. J. In: Archivum historicum Societatis Iesu 78 (2009), S. 141–221; Jean-Marie Valentin: Le drame de martyr européen et le Trauerspiel. Caussin, Masen, Stefonio, Galluzzi, Gryphius. In: Ders.: L’école, la ville, la cour. Pratiques sociales, enjeux poétologiques et répertoires du théâtre dans l’Empire au XVIIe siècle. Paris 2004 (Germanistique 5), S. 419–460. 36 Stefano Tucci S. J.: Il Christo Giudice. Tragedia sacra […] tradotta da Antonio Cutrone. Rom 1698, Al benigno lettore s. p. Zur enormen Affekt-Wirkung von Tuccis Christus Iudex schreibt noch 1737 Emmanuele Aguilera: „ut vix ulla sit praeclara Europae civitas, in qua non fuerit exhibita, magno semper fletu, atque terrore spectantium“ (Provinciae Siculae Societatis Jesu Ortus, et Res Gestae. Ab Anno 1546 ad Annum 1611. Bd. 1. Palermo 1737, S. 178). Zu den diversen Übersetzungen Tuccis ins Italienische, Polnische oder Kroatische siehe Tuccius, Christus (Anm. 22),

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Anwesenheit Papst Gregors XIII. und des Kardinalkollegiums in Rom und noch einmal 1574 am dortigen Collegio Germanico aufgeführt.37 Dort muss Bozzi sie gesehen und sich ein Manuskript beschafft haben, denn Tuccis Christus Iudex erschien im Druck erst 1673.38 Bei näherem Hinsehen ist Bozzis Giudicio universale eine recht enge, aber vielfach ergänzte und an die Verhältnisse in Padua adaptierte Übertragung von Tuccis Christus Iudex in der römischen Fassung:39 Das lässt sich bereits daran ablesen, dass Bozzi den poetologischen Prolog aus Tuccis Messineser Fassung nicht kennt und sofort mit der Apostrophe der „ecclesia“ aus der römischen Fassung einsetzt, er aber andererseits auch den Prologus der römischen Fassung an die „patres, purpura illustris cohors“ – Papst Gregor XIII. und die Kardinäle – streichen musste.40 Dass Bozzi die auf das Lateinische festgelegte Poetik des Jesuitentheaters auf die Volkssprache überträgt, ist alles andere als trivial, denn er übernimmt damit nicht nur die dramatis personae, Struktur und Handlung vom Prolog der Chiesa über Aufstieg und Fall des Antichristen bis zum finalen Fußtritt des Erzengels Michael, sondern auch die in der Sacra rappresentazione unüblichen, annähernd wörtlichen Schrifttexte mitsamt ihren Quellenangaben in den Marginalien. Da sich diese über Seiten erstrecken – etwa die schon erwähnte dramatisierte Fassung von Mt 25,31–46 –, umgeht sein Giudicio universale das seit Jahrhundertmitte geltende formelle Verbot auch partieller volkssprachlicher Bibelübersetzungen, ganz ähnlich wie frühere volkssprachliche Christusdramen.41 Doch anders als Tucci, der das nach humanistischer wie aristotelischer Lesart eigentlich nicht tragödientaugliche Gerichtssujet dennoch „tragoedia“ nennt und das mit einer an Giraldi Cinzio angelehnten ‚modernistischen‘ Formel mit der Neuheit des Sujets begründet,42 nähert Bozzi in strengerer (aristotelischerer) Auslegung der Tragödie sein Stück wieder der traditionellen Sacra rappresentazione an.

S. XXII f., A.8 S. Unter den Rezeptionen im deutschen Sprachraum ragt eine Grazer Fassung 1589 mit von Orlando di Lasso vertonten Chorpartien heraus, siehe Barbara Eichner: Abermals vom Antichrist. Orlando di Lassos Theaterchöre und die Musikdramaturgie der frühen Jesuitenbühne. In: Musik in Bayern 84 (2019), S. 32–54. 37 Tuccius, Christus (Anm. 22), S. XLVII. 38 Stefano Tucci: Christus Iudex Tragoedia P. Stephani Tuccii e Societate Iesu. Rom 1673. 39 Zu den Unterschieden der Fassungen siehe Mirella Saulini: Un nuovo manoscritto del Christus Iudex del P. Stefano Tucci S. J. La ‚Versione‘ Messinese e la ‚Versione‘ Romana. In: Giornale Storico della Letteratura Italiana 176 (1999), S. 196–221. 40 Bozzi, Giudicio (Anm. 11), S. 1–3; Tuccius, Christus (Anm. 22), S. 148–152 und S. 270 f. 41 Föcking, Christo (Anm. 34), S. 203–205. 42 Tuccius, Christus (Anm. 22), S. 148: „Cur nova Musa novas nequeat sibi condere leges? | quis petat in rebus iura vetusta novis.“ Vgl. Giraldi Cinzio: Orbecche. In: Il teatro italiano II. La tragedia del Cinquecento I. Hg. von Marco Ariani. Turin 1977 (Gli struzzi 145, 1), S. 180: „Che da nuova materia e nuovi nomi/ nasca nuova tragedia“.

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2. Mit dieser Biblifizierung des Spiels geht einher, dass Tucci und Bozzi das Antichrist- und Gerichtsgeschehen so weit wie möglich auf ihre v. a. neutestamentlichen Quellen zurückführen und das kirchlich nicht autorisierte Legendarische ebenso ausschließen wie historische und zeithistorische Bezüge: Auch das Auftreten des Antichrist als notwendiges Präludium des Gerichts ist rein futurisch. Dabei hätten sich reichlich Möglichkeiten geboten, die Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts auch unter Katholiken virulente Überzeugung, der Antichrist und seine Vorboten seien schon aufgetreten – etwa in Gestalt der Türken oder Luthers43 – und das letzte Zeitalter sei angebrochen, in das Stück einzuschreiben. Hatte Tucci in seiner Messineser Fassung Luther als Endpunkt einer Reihe prominenter Verdammter von Alexander d. Gr., Cäsar, Krösus, Sardanapal, Achilles und Mohammed aufgeboten, so fehlen in der römischen Fassung Mohammed und Luther.44 Dem folgt Bozzi, der sich wie Tuccis römische Fassung dem Import der Apokalypse in die eigene Gegenwart widersetzt, indem er den Antichrist von allen zeitgenössischen Identifizierungen freihält. Einer Gleichsetzung mit den Türken wird sogar explizit widersprochen: Der Antichrist nimmt Jerusalem mit der Kriegslist ein, er sei ein vom „fiero Rè de Turchi“ gesandter „Capitan“ (ebd., S. 21) und folglich keine Gefahr für die – wie Tucci und Bozzi auch für die ferne Zukunft annehmen – seit 1516 unter osmanischer Herrschaft stehende Stadt Jerusalem. Dem Zuschauer wird so bedeutet: Der Antichrist ist nicht identisch mit den Osmanen, mit Mohammed oder irgendeiner Gestalt, religiösen oder konfessionellen Gruppe der Gegenwart, er existiert nur im Futur. Zeichen für die Terminierung des Jüngsten Gerichts gibt es in den Theaterstücken nicht. Was Tucci und Bozzi hier auf die Bühne bringen, entspricht dem Ergebnis der Argumentation, die Tuccis Ordensbruder Roberto Bellarmino S. J. zeitgleich mit anderer Zielrichtung im dritten Buch seiner Disputationes de controversiis christianae fidei adversus hujus temporis haereticos (Rom 1581) entfaltet: Um die protestantische Identifizierung des Papsttums mit dem Antichrist – Bellarmino bezieht sich dabei u. a. auf Schriften Luthers, Calvins, Matthias Flacius Illyricus’, Heinrich Bullingers oder David Chyträus’ – zu entkräften, formuliert er in enger Auslegung der auf den Antichrist verweisenden einschlägigen Schrift- und Kirchenvätertexte: „Der Antichrist ist noch nicht gekommen“.45 In dieser Argu-

43 Vgl. Georg Schmidt: Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. München 2018, S. 17. 44 Tuccius, Christus (Anm. 22), S. 268; Tuccius, Christus Iudex (Anm. 38), S. 96–98. 45 Zu ganz anders gelagerten Abwehrstrategien der protestantischen Identifikation des Papsttums mit dem Antichristen bei katholischen Apologeten seit den 1570er Jahren, die die Identifizierung einfach auf Luther und andere Reformatoren übertrugen, siehe Richardsen-Friedrich (Anm. 2), S. 244–253. Da sie Bellarminos Diskussion der Antichrist-Thematik übergeht (S. 256), entgeht

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mentation spielen auch die bei Bozzi als eschatologische Figuren auftretenden Elia und Henoch für Bellarminos Beweisführung ihre Rolle: Da diese am Ende der Zeiten die Juden zum Messias Christus bekehren, kann das Weltende noch nicht gekommen sein, da die Juden nachweislich noch nicht bekehrt seien.46 Gegen die „irrtümliche Meinung“ einiger Katholiken, die glaubten, „das Ende der Welt sei näher, als es wirklich der Fall war“,47 oder dass Mohammed der Antichrist sei,48 wie auch gegen die Auffassung, das Papsttum sei der Antichrist, schließt Bellarmino: Die richtige Ansicht ist also die, daß [der Antichrist] noch nicht angefangen zu herrschen und noch nicht gekommen sei, aber kommen und herrschen werde gegen das Ende der Welt, von deren Ausgang man die Zeit auf keine Weise wissen kann.49

Denn dieses Wissen stehe, wie Bellarmino mit Augustinus und unter Verweis auf Apk 1,7 schreibt, „nur dem Vater in seiner Macht“ zu.50

IV. Zur Positivität des timor servilis bei Tucci und Bozzi Tuccis und Bozzis Tilgung jeglicher Konfessionspolemik, zu der das Antichristund Gerichtssujet zuhauf Gelegenheit geboten hätte, wird zu einer ostentativen Leerstelle, die ihrerseits antiprotestantische Implikate aufweist, wenn man sie vor dem Hintergrund der kontroverstheologisch-jesuitischen Abwehr einer mit dem Papsttum identifizierten Antichrist- und Gerichts-Naherwartung betrachtet. Gleichzeitig schafft diese Leerstelle Freiraum für eine rein aszetisch-meditative Anlage der auf die Bühne gebrachten zukünftigen Belohnungen und, mehr noch, Verdammungen: Wenn Bozzi in der Widmung an den Paduaner Bischof Marco II. Cornaro die Betrachtung der Bühnenhandlung mit einer Meditation des „animo […] così audace, e così poco della sua salute curante“, der „meditando attentamente questo misterio“ (ebd., s. p. [1]), identifiziert, greift er einerihr die Pointe, dass dieser im Gegensatz zu anderen katholischen Apologeten das ‚Antichristblame game‘ überhaupt nicht mitspielt. 46 Bellarmino, Streitschriften (Anm. 24), Bd. 3, S. 461. Tuccis und Bozzis Versetzung der alttestamentlichen Patriarchen unter die Erlösten und die Freisprechung der Juden durch Christus verdankt sich dieser futurisch-retrospektiven Perspektive. In der noch weitergehenden Positivierung des Judentums setzt Bozzi eigene Akzente: Während es Tucci in beiden Fassungen bei Christi Apostrophierung seiner eigenen jüdischen Herkunft belässt („O patres quorum est Hebraea propago | unde mihi genus est saeclorum ex ordine ductum“, Tuccius, Christus [Anm. 22], S. 238), weitet Bozzi das zur Anerkennung jüdischer „materna origo […] la base, e’l fondamento vero“ des Christentums aus (Bozzi, Giudicio [Anm. 11], S. 93). 47 Bellarmino, Streitschriften (Anm. 24), Bd. 3, S. 440. 48 Ebd., S. 448. 49 Ebd., S. 450. 50 Ebd., S. 442.

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seits auf die ersten Meditationsschritte der ignatianischen Exercitia zurück: Hier soll die Imagination der Hölle in der fünften Übung der ersten Woche sicherstellen, dass, wenn „ich je wegen meiner Fehler der Liebe meines ewigen Herrn vergessen sollte“, doch „wenigstens die Furcht vor der Strafe mir dazu verhelfe, nicht in eine Sünde zu fallen“.51 Ignatius zeichnet so die Furcht vor der Strafe als zwar weniger perfekte Form des Weges zur Liebe Gottes, aber doch als geeignet zur Sündenvermeidung aus. So ist auch die durch das multimediale Bühnenspektakel erweckte Furcht vor der Strafe und der Verdammung für Bozzi gerechtfertigt als „efficacissimo rimedio […] a preservarci dal peccato“ (ebd., s. p. [1]). Beleg für diese Effizienz ist für Bozzi der multiple Bekehrungserfolg von Tuccis Christus Iudex, den er durch seine volkssprachliche, einem breiteren Publikum verständliche italienische Version noch steigern möchte. Für ihn, für den Jesuiten Tucci und den großen zeitgenössischen jesuitischen Theologen Bellarmino resultiert dieser „santissimo timore“ nicht aus einer (im Stück selbst ja negierten) Naherwartung des universellen Gerichts. Diese Negation mindert die Angst vor diesem nicht, ganz im Gegenteil: Denn nachdem das Kommen des Jüngsten Gerichts von einem vermeintlichen ‚Wissen‘ um seine Terminierung in der eigenen Gegenwart abgekoppelt worden ist, wird die Ohnmacht des Einzelnen angesichts des nur Gott vorbehaltenen Wissens um die Ausrufung des Gerichts gesteigert, die Angst wird diffuser. Und da Tucci und Bozzi die im Gericht Verdammten entkonkretisieren, entsteht ein Vakuum, das das Publikum aus der Angst vor der Strafwürdigkeit der eigenen Sünden nur mit sich selbst füllen kann. Aber diese Angst ist theatertypisch eine Angst im Experimentalstatus, eine Angst vor einem in der Bühnenfiktion repräsentierten Gericht, das der Zuschauer gleichzeitig aus der Betrachter- wie der Teilnehmerperspektive wahrnehmen soll, um sein Leben hernach so zu ändern, dass er beim tatsächlichen Jüngsten Gericht von der Verdammung ausgenommen wird. Oder wie es im Vorwort einer italienischen Übersetzung des Christus Iudex von 1698 heißt: Der Leser oder Betrachter des Stückes soll „tutti gli avveniamenti, de’quali un giorno, se non di tutti, di parte almeno sarai spettatore“, gläubig betrachten.52 Bei Tucci und Bozzi findet sich so dieselbe Rechtfertigung der attritio inszeniert, die Ignatius in seiner Höllenmeditation der contritio voranstellt und die Bellarmino in seiner Predigt De quattuor novissimis gegen die „Lutherischen Ketzereyen“ als Motivation für das Abschwören eines sündhaften Lebens verteidigt. In einer deutschen Übersetzung von 1616 heißt es: 51 Ignatius von Loyola: Das Exerzitienbuch des Hl. Ignatius von Loyola. Erklärt und in Betrachtungen vorgelegt von Moritz Mischler S. J. Freiburg i. Br. 1928, S. 112. 52 Il Christo Giudice. Tragedia sacra […] opera del P. Stefano Tucci […] tradotta dal verso latino nell’Italiano da Antonio Cutrona Siracusano. […] Per Domenico Ant. Ercole. Rom 1698, Al benigno lettore, s. p. [1].

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[S]o bedünckt mich doch der aller schädlichst und ärgste zuseyn/ wann sie [scil. die Lutheraner] den Menschen auß jhren Hertzen die Forcht so auß Betrachtung deß strengen Gerichts vnnd höllischer Pein entspringt/ benemmen und sagen daß die Forcht den Menschen zum Gleisner vnd straffwürdig mache. Dann dise jrrige Meynung allen erstlich den Weg zum Heyl verschleust/ ohn deß doch die Forcht des Herrn ein anfang der Weißheit ist/ vnnd viel mehr auß Forcht der Straff/ als Hoffnung der Belohnung zum guten getrieben vnd vom bösen abgehalten werden.53

Die Verteidigung der Funktion der attritio macht auch in Bellarminos Kontroversschrift wichtige Teile des elften Bandes zur Buße aus und führt zur Konklusion im siebzehnten Abschnitt: Unter den vier Arten der Furcht ist die erste eine instinktive, ‚natürliche‘ Leidenschaft, sie ist lebenserhaltend und moralisch neutral. Die zweite, die „weltlich Furcht“, aus der man aus Angst vor Strafe gegenüber Gott sündigt, ist rein negativ. Die dritte Furcht ist die positivste: die vor der Strafe, „welche Gott den Sündern androht, aber mit der Furcht vor der Beleidigung Gottes so verknüpft, daß zwar der Mensch heftig die Strafe fürchtet, mehr jedoch die Beleidigung Gottes als jene Strafe“.54 Die vierte rangiert in der Wertigkeit darunter. Sie ist der eigentliche timor servilis, in „welcher nemlich der Sünder den strafenden Gott so fürchtet, daß er, blos um der Strafe zu entfliehen, vor der Begehung von Sünden sich hütet“.55 Um letztere dreht sich für Bellarmino der ganze Streit, da Luther sie als eine, „welche den Menschen zu Heuchlern machte“, verurteile, während sie für das Tridentinum „gut und nützlich und […] von Gott erweckt“56 sei, was Bellarmino mit Texten aus dem Alten und Neuen Testament und der Kirchenväter ausführlich zu belegen sucht. Weniger die Hoffnung auf die unverdiente Erlösung suchen Tucci und Bozzi zu wecken, als vielmehr diese konfessionell markierte Angst vor einer bei mangelhafter Lebensführung verdienten, auf der Bühne präsentierten Verdammung. Daher interessieren sie sich quantitativ wie auch qualitativ-dramatisch viel mehr für die mit dem Antichrist beginnende Reihe der „rei“, für ihre Dialoge untereinander, ihre Lamenti, ihre Versuche, die Strafe herunterzuhandeln, als für die eher statischen „buoni“. Die Verdammten selbst gestalten sie als ‚Jedermänner‘ und ‚Jederfrauen‘, als Erwachsene, als Kinder, als Mütter und Töchter, Väter und Söhne, Wucherer, Ehebrecherinnen, Lüstlinge, Ehrgeizige, Reiche, als die, die weder durch das Buch der Offenbarung noch durch das Buch der Natur zur 53 Roberto Bellarmino: Die Ander Predig/ Vom Jüngsten Gericht. Am Ersten Sontag deß Aduents, in: Postill/ Oder Außlegungh mehrentheyls Episteln vnd Evangelien/ so auff Son- und Feyertagen in der Christlichen Catholischen Kirchen geprediget werden. […] Alle für etlichen Jahren gehalten zu Löven/ von […] Roberto Bellarmino, […] durch […] M. Philippum Kissing […] auß dem Latein ins Teutsch versetzt/ vnd in Druck außgeben. Köln 1616, S. 366–375, hier S. 366. 54 Bellarmino, Streitschriften (Anm. 24), Bd. 11, S. 283. 55 Ebd., S. 284. 56 Ebd.

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Einsicht gekommen sind. Sie sind Containerfiguren für das die eigenen Lebenssituationen und Fehler reflektierende Publikum und eine eben solche Leserschaft. Die für jeden italienischen Autor als Modell präsente Commedia Dantes mit ihren biographisch-historisch fixierten Persönlichkeiten bleibt naheliegenderweise völlig unbeachtet, weil diese ja den Eindruck erwecken könnte: Die Hölle ist schon voll und die Sünder sind die anderen. Die Angst, die das Stück erweckt, liegt mithin auch weniger darin, zu wenig geglaubt und zu wenig (Christus) geliebt, als vielmehr zu wenig gehorcht und zu wenig Gutes getan zu haben. So weist Christus die Verantwortung für die Verdammung der Sünder mit dem Hinweis auf den Regelbruch – nicht auf deren Glaubensarmut – weit von sich: Render de’ conto al gran giudice giusto; E voi le leggi mie rompere osaste? Mè abbandonar, e’l fier Satan seguire? Forse quest’è mio error? quest’è mia colpa? Nò, ch’io vi diedi leggi, e riti, e norme, Che del ben far vi dimostrar la via. Du musst vor dem großen Richter Rechenschaft ablegen; Und ihr wagt es, meine Gesetze zu brechen? Mich zu verlassen und dem wilden Satan zu folgen? Ist das etwa mein Fehler? Ist das meine Schuld? Nein, ich gab euch Gesetze und Riten und Regeln, die euch den Weg zum Tun des Guten zeigen sollten. (ebd., S. 106)

Das Gericht, das Tucci, Bozzi und Bellarmino aus der Naherwartung des faktisch schon Geschehenden herausgeholt haben, wird in seiner Aktualität für das Publikum zwar depotenziert. Aber durch die zur Identifikation zwingende Containerfunktion der auf der Bühne verdammten Jedermänner und Jederfrauen wird es umso stärker in das tägliche Leben und seine Entscheidungssituationen hereingeholt: Das Partikulargericht nach dem Tod eines jeden Einzelnen wird mit dem auf der Bühne repräsentierten universellen Gericht zusammengedacht und damit eine der an die Prediger gerichteten Forderungen des Römischen Katechismus in die Katechese durch geistliches Theater überführt: Haec sunt, quae pastores fidelis populi auribus saepissime inculcare debent. Nam huius articuli veritas, fide concepta, maximam vim habet ad frenandas pravas animi cupiditates, atque a peccatis homines abstrahendos.57

So wird bewerkstelligt, was Bozzi in seinem Vorwort intendiert: Durch die Angst vor den auf der Bühne vergegenwärtigten schrecklichen Posaunen der Apoka57 Catechismus (Anm. 24), S. 77.

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lypse und des Jüngsten Gerichts soll das „preservarci dal peccato“ im Hier und Jetzt der Lebenswelt und als Versicherung im individuellen Partikulargericht erreicht werden. Bellarmino formuliert diese Fusion mit einem Hieronymus zugeschriebenen, aber von Dionysius Carthusianus stammenden Diktum als tägliches, die Angst vor beiden Gerichten verschränkendes Lebensmotto: Diß ist die Posaun/ deren Klang der H. Hieronymus gehört und geforcht im Essen/ Trincken und allen Wercken. […] Dann wird die Erd/ wie Hieronymus sagt/ vom Posaunenschall erschrecken […].58

Und für die, deren Phantasie für dieses tägliche Gericht in allen Werken nicht reicht, haben Tucci und Bozzi ihre Gerichtsdramen geschrieben.

58 Bellarmino, Vom Jüngsten Gericht (Anm. 53), S. 371. Nach Dionysius Carthusianus: De quatuor hominis novissimis. In: Ders.: Opera omnia in unum corpus digesta ad fidem editionum Coloniensium, cura et labore monachorum sacri ordinis Cartusiensis, favente Pont. Max. Leone XIII. Opera minora IX. Tournai 1912, S. 516: „Quoties diem illum considero, toto corpore contremisco. Sive enim comedo, sive bibo, sive aliud aliquid facio, semper videtur mihi tuba terribilis sonare in auribus meis: Surgete, mortui, venite ad iudicium“, vgl. zum Zitat Hans-Henrik Krumacher: De Quatuor Novissimis. Über ein traditionelles theologisches Thema bei Andreas Gryphius. In: Respublica Guelpherbytana. Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissance- und Barockforschung. Festschrift für Paul Raabe. Hg. von August Buck, Martin Bircher. Amsterdam 1987 (Chloe 6), S. 499–578.

Oliver Huck

„Tuba mirum spargens sonum“/„Posaunen wird man hören gehen“. Der Klang des Jüngsten Gerichts in der Frühen Neuzeit∗

Wencel Scherffer von Scherffenstein erblickte 1652 in der stetigen Vervollkommnung der Musik ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Ende der Zeiten herannahte:1 Und weil die Music itzt auf höchster staffel schwebt/ auf ihr vollkommen-seyn zum EngelChore strebt/ (denn höher sie kaum steigt/) so schließ’ Jch alle Plage auf Erden bald ein end’/ und daß es nah’ am Tage/ der gäntzlich zum Beschluß’ ernennt ist alle Pein/ der ewger Freuden wirdt ein lieber anfang seyn.

Die Denkfigur, die hier skizziert wird, geht von der Vorstellung von einer unendlichen Vollkommenheit der Musik der Engel2 aus, die im Himmel vor und nach dem Ende der Zeiten erklingt. Unabhängig vom Stand der Ars musica und seiner historischen und eschatologischen Deutung wird damit ein für jedwede musikalische Auseinandersetzung mit dem Jüngsten Gericht bedeutsames ästhetisches Moment benannt: Die Transzendenz der Musik der Engel und ihre kompositorische Antizipation. Ein etwa zeitgleich mit Scherffensteins Text entstandenes Beispiel hierfür ist Domenico Mazzocchis Dialogo dell’Apocalisse (ca. 1630/40, gedruckt 1664), der diesen auf der Textgrundlage von Apk 15,2–4 und 19,6 in Verbindung mit Jes 49,13 mit einem entsprechend der überlieferten Zahl ∗

Ich danke Estéban Hernández-Castello für die Erstellung des Notensatzes der Notenbeispiele. 1 Wencel Scherffer von Scherffenstein: Geist und weltliche Gedichte Erster Teil. Brieg 1652, S. 765, vgl. dazu Bernhard Jahn: ,Encomium musicae‘ und ,musica historia‘. In: Daphnis 30 (2001), S. 491–511. 2 Zur kompositorischen Gestaltung der Musik der Engel vgl. auch Oliver Huck: The music of the angels in fourteenth- and early fifteenth-century music. In: Musica disciplina 53 (2003–2008), S. 99–119; Oliver Huck: Die Musik der Engel. Musik und Musikanschauung im Mittelalter. In: Deutsches Dante Jahrbuch 84 (2009), S. 25–38 und Janine Droese: Die Musik der Engel in ihrer Bedeutung für Musik und Musikanschauung des 13. bis 16. Jahrhunderts. Hildesheim u. a. 2020 (Musica mensurabilis 10).

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der Engelschöre neunstimmigen doppelchörigen Satz der ersten beiden Verse des Responsoriums Laetentur caeli beschließt.3 Der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts neu ausgeprägte Stile rappresentativo bot jedoch nicht nur die Möglichkeit einer plastischen klanglichen Darstellung der Engelsmusik, sondern auch des dieser vorangehenden Jüngsten Gerichts. Im Oratorium, wo diese Stilmittel aufgegriffen wurden, spielte das Jüngste Gericht als Stoff zunächst eine untergeordnete Rolle.4 Neben den katholischen Oratorien aus dem 17. Jahrhundert – Giacomo Carissimis Iudicium extremum (Rom, Mitte 17. Jh.)5 und Giuseppe Cavallos Il giudizio universale (Neapel 1681),6 dem Sepolcro Il libro con sette sigili von Antonio Draghi (Wien 1694)7 sowie der Histoire sacrée Extremum iudicium Dei von Marc-Antoine Charpentier (Paris 1680er Jahre)8 – sind im 18. Jahrhundert mit Georg Riedels Die geistreiche geheimte Offenbarung des heiligen und hocherleuchteten Evangelisten Johannes (Königsberg 1734)9 und Georg Philipp Tele-

3 Vgl. Domenico Mazzocchi: Sacrae concertationes. Hg. von Wolfgang Witzenmann. Köln 1957 (Concentus musicus 3), S. 164–186, vgl. dazu Wolfgang Witzenmann: Domenico Mazzocchi 1592–1665. Köln, Wien 1970, S. 104–106. Vgl. auch die beiden weitgehend textgleichen Kompositionen Stabant angeli von Angelo Berardi (1669) und Vidi turbam magnam (1632) von Giovanni Battista Rocchigiani in: Angelo Berardi: Sacri concentus op. 6. Bologna 1669 (RISM B 1970) und Giovanni Battista Rocchigiani: Dialogorum concentuum op. 7. Rom 1632 (RISM 16321), vgl. dazu Frits Noske: Saints and sinners. The Latin musical dialogue in the seventeenth century. Oxford 1992, S. 85–86. 4 Vgl. Ulrich Konrad: Apocalypsis cum figuris musices. Musikalische Annährungen an die Offenbarung des Johannes. In: Apokalypse. Hg. von Carmen Ottner. Wien, München 1999 (Studien zu Franz Schmidt 13), S. 31–48 und Markus Grassl: Das Jüngste Gericht im 17. und 18. Jahrhundert. In: Ebd., S. 79–93. Das Dietrich Buxtehude zugeschriebene Wacht! Euch zum Streit gefasset macht ist weder mit der Lübecker Abendmusik Das allerschröcklichste und allererfreulichste nemlich Ende der Zeit identisch, noch ein Oratorium über das Jüngste Gericht, vgl. dazu zuletzt Irmgard Scheitler: Wacht! Euch zum Streit gefasset macht im Licht musikdramatischer Werke seiner Zeit. In: Dietrich Buxtehude. Text – Kontext – Rezeption. Hg. von Wolfgang Sandberger, Volker Scherliess. Kassel u. a. 2011, S. 188–202. Zu Musik im Schauspiel vgl. etwa Orlando di Lassos Musik für das Jesuitendrama Die Ankunft Christi als Richter am jüngsten Tage (Graz 1589), vgl. dazu Franz Körndle: „ad te perenne haudium“. Lassos Musik zum „Vltimum Judicium“. In: Die Musikforschung 53 (2000), S. 68–70. 5 Vgl. Giacomo Carissimi: Iudicium extremum. Hg. von Lino Bianchi. Rom 1956 (Istituto italiano per la storia della musica. Monumenti III/4). 6 Biblioteca statale Oratoriana dei Girolamini di Napoli, AM CO 457/76, vgl. dazu Warren Kirkendale: Emilio de’ Cavallieri, Gentiluomo Romano. Florenz 2001 (Historiae musicae cultores 86), S. 282. 7 Österreichische Nationalbibliothek Wien, Mus. Hs. 18.943, vgl. dazu Grassl (Anm. 4), S. 84–86. 8 Vgl. Marc Antoine Charpentier: Judith sive Bethulia liberata (H. 391), Historia Esther (H. 396), Filius prodigus (H. 399), Extremum Dei judicium (H. 401). Hg. von Jean Duron. Versailles 2005 (Histoires sacrées 4), S. 137–180. 9 Vgl. Hermann Güttler: Königsberger Musikkultur im 18. Jahrhundert. Königsberg 1925, S. 72– 77. Die Partitur ist seit 1945 verloren, zwei Seiten sind reproduziert ebd., Tafel 10 nach S. 88.

„Tuba mirum spargens sonum“/„Posaunen wird man hören gehen“

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manns Der Tag des Gerichts (Hamburg 1762)10 jedoch auch protestantische Kompositionen zu verzeichnen, deren Zahl gegen Ende des 18. und vor allem im frühen 19. Jahrhundert zunimmt.11 Seinen primären Ort in der Musik12 hat das Jüngste Gericht jedoch in der Sequenz Dies irae, die einerseits, wenn auch nicht überall und zu jeder Zeit, Teil des Formulars der Totenmesse war13 und deren Melodie andererseits kontextunabhängig als musikalisches Zitat für das Jüngste Gericht stehen kann: 14

Notenbeispiel 1: Anfang der Sequenz Dies irae.

Dies irae ist eine fälschlich Thomas von Celano zugeschriebene Sequenz,15 die ihre liturgische Bedeutung in der Frühen Neuzeit vor allem dadurch erlangte, dass sie auf dem Konzil von Trient als eine von lediglich vier Sequenzen autorisiert wurde. Erst 1570 wurde sie in das Missale romanum aufgenommen, ihre Verwendung war jedoch freigestellt. Ursprünglich ein Reimgebet, das nur die Strophen 1–10 und 12–17 umfasste, wurde „das aus persönlicher religiöser Betroffenheit entstandene Gedicht eines großen Dichters nachträglich für die rituelle Verwendung in der kirchlichen Totenliturgie bearbeitet“16 wie Fidel Rädle formuliert und dabei um die Strophen 11 und 18 f. erweitert. Die ersten sechs Strophen beschwören das Bild des Weltgerichts, in den folgenden Strophen bezieht der nun aus der Ich-Perspektive schreibende Dichter das Jüngste Gericht, an dem die Entscheidung über Heil oder Verdammnis fällt, auf seine eigene 10 Vgl. Georg Philipp Telemann: Der Tag des Gerichts. Hg. von Max Schneider. Leipzig 1907 (Denkmäler deutscher Tonkunst 28). 11 Vgl. Konrad (Anm. 4), S. 42 f. 12 Zur Apokalypse in der Musik allgemein vgl. Raymond Dittrich: Musik zum Ende der Zeiten. Aspekte der Eschatologie in der Musikgeschichte. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 69 (2000), S. 70–96; Meinrad Walter: Wie klingt die Apokalypse? Kleiner Überblick mit kirchenmusikalischen Impulsen. In: Musik und Kirche 80 (2010), S. 316–319 sowie Rudolf Flotzinger: Dies irae, Requiem und Apokalypse. In: Apokalypse (Anm. 4), S. 49–59. 13 Zu Vertonungen vgl. Robert Chase: Dies irae – a guide to requiem music. Lanham 2003; die Übersicht über die Requiemdrucke spanischer (bis 1650) bzw. italienischer Komponisten (zwischen 1560 und 1650) in: Owen Rees: The requiem of Tomás Luis de Victoria. Cambridge 2019, S. 82 und 237–240 sowie Dagny Wegner: Requiemvertonungen in Frankreich zwischen 1670 und 1850. Diss. Univ. Hamburg 2006. 14 Kees Vellekoop: Dies irae dies illa. Studien zur Frühgeschichte einer Sequenz. Bilthoven 1978, S. 62. Vgl. auch die Varianten in Graduale de sanctis. Rom 1614 [Editio Medicea], S. 293–296. 15 Zur Textgeschichte vgl. Vellekoop (Anm. 14) und Fidel Rädle: Dies irae. In: Im Angesicht des Todes. Bd. 1. Hg. von Hansjakob Becker u. a. St. Ottilien 1987, S. 331–340. 16 Rädle (Anm. 15), S. 335.

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Existenz. In der liturgischen Bearbeitung bittet der Sünder in der elften Strophe „auf einmal um das Geschenk der Vergebung […] bereits vor dem Tag der Rechenschaft“ und adressiert damit die „sakramentale Vollmacht, dem Gläubigen die Gnade des Sündenerlasses zu vermitteln.“17 In den polyphonen Requiem-Zyklen18 ist die Sequenz Dies irae erstmals zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Antoine Brumels möglicherweise in Ferrara geschriebener vierstimmiger Missa pro defunctis (1516)19 zu finden. In der Folge, vor allem nach dem Konzil von Trient, wird die Sequenz auch in den ebenfalls vierstimmigen Requien von Jacobus de Kerle (1562),20 Constanzo Porta (1578),21 Giammateo Asola (1580)22 und Giovanni Anerio (1614),23 in den fünfstimmigen Requien von Porta (1578)24 und Lodovico Viadana (op. 15, 1604)25 sowie im sechsstimmigen Requiem von Vincenzo Ruffo (1574)26 vertont. In allen diesen Kompositionen, die ausnahmslos in Italien entstanden sind, werden die Strophen alternatim polyphon und choraliter vorgetragen, bei Brumel, de Kerle, Ruffo und in der vierstimmigen Missa mortuorum von Porta sind die ungeraden Strophen mehrstimmig gesetzt, in der fünfstimmigen Missa mortuorum von Porta sowie bei Asola und Anerio die geraden; die Sequenzmelodie wird dabei jeweils als Cantus firmus beibehalten. Das Prinzip des antiphonalen Vortrags kommt auch dort zum Tragen, wo ab dem 17. Jahrhundert die gesamte Sequenz mehrstimmig vertont wird, so in dem doppelchörigen, achtstimmigen

17 Ebd., S. 339. 18 Vgl. Chase (Anm. 13) sowie Werner Jaksch: H. I. F. Biber, Requiem à 15. München, Salzburg 1977 (Beiträge zur Musikforschung 5), S. 131–135. 19 Vgl. Antoine Brumel: Opera omnia 4. Hg. von Barton Hudson (Corpus mensurabilis musicae 54), S. 65–79. 20 Vgl. Jacobus de Kerle: Missa pro defunctis. In: Trésor musical. Musique réligieuse. Bd. 22. Hg. von Robert-Julien van Maldeghem. Brüssel 1886. 21 Vgl. Constanzo Porta: Missa mortuorum. In: Ders.: Missa ducalis trium chorum cum tredecim vocibus, Missa Da Pacem cum octo vocibus, Missa mortuorum cum quatuor vocibus. Hg. von Syri Cisilino. Padua 1964 (Opera omnia 10), S. 133–147. 22 Vgl. Giammateo Asola: Missa pro defunctis. In: Selectus novus missarum. Hg. von Carl Proske. Regensburg 1853 (Musica divina 1/1), S. 258–288. 23 Vgl. Giovanni Anerio: Missa pro defunctis. In: The Italian school for 4 voices. Hg. von Anthony Petti. London 1966. 24 Vgl. Constanzo Porta: Missa mortuorum. In: Ders.: Missarum liber primus, pars secunda 1578. Hg. von Syri Cisilino. Padua 1969 (Opera omnia 9), S. 19–47. 25 Vgl. die Spartierung von Wim Looyestijn ‹www.cpdl.org/wiki/index.php/Missa_Defunctorum_(Requiem)_(Ludovico_da_Viadana)› (letzter Zugriff 31.10.2020). 26 Vgl. dazu Lewis Lockwood: The counter-reformation and the masses of Vincenzo Ruffo. Wien 1972 (Studi di musica Veneta 2), S. 221–223, der de Kerle als Modell für Ruffos sechstimmige (im Dies irae fünfstimmige) Missa mortuorum benennt.

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Requiem von Orazio Vecchi (1607),27 wo ab „Pie Jesu“ die beiden Chöre zusammengeführt werden.28 Bereits seit dem 16. Jahrhundert gibt es auch selbständige Vertonungen des Dies irae,29 vor dem Tridentinum eine vierstimmige von Arnold von Bruck,30 nach dem Tridentinum dann u. a. eine sechsstimmige von Francesco Soriano (1619) und eine achtstimmig doppelchörige von Steffano Bernardi.31 Zu vermuten ist, dass diese Kompositionen für die liturgische Verwendung in Totenmessen geschrieben wurden, auch wenn der Aufführungskontext und der Anlass hier nicht mehr zu ermitteln sind. Erst im 17. Jahrhundert wird das Jüngste Gericht im Dies irae auch klanglich durch Instrumente ins Bild gesetzt. Dabei wird der Text der Sequenz ohne Bindung an deren Melodie neu vertont. Das früheste Requiem, das obligate Instrumente verwendet, war 1621 eine heute verlorene Kollektivkomposition von Claudio Monteverdi, Giovanni Battista Grillo und Francesco Usper für das Begräbnis von Herzog Cosimo II. von Toskana, zu der Monteverdi u. a. das Dies irae beigetragen hatte.32 In Italien setzte sich die Komposition des Requiems mit Instrumenten jedoch im 17. Jahrhundert nicht durch, diese wurde hingegen vor allem in Wien, Salzburg,33 Prag und nach der Konversion Augusts des Starken auch in Dresden34 gepflegt. In den Wiener Requien von Christoph Strauss (1631)35 und Johann Caspar Kerll (1669)36 sowie in den Salzburger Requien von

27 Vgl. Orazio Vecchi: Missa pro defunctis. In: Selectus novus missarum. Hg. von Carl Proske. Regensburg 1861 (Musica divina 8/1), S. 583–631. 28 In der Folge entstehen in Italien noch zahlreiche weitere rein vokale Kompositionen im alten Stil, so etwa von Giuseppe Ottavio Pitoni (1688), Francesco Cavalli (1675) und Antonio Lotti, vgl. Giuseppe Ottavio Pitoni: Missa pro defunctis. In: Selectus novus missarum (Anm. 27), S. 289– 350; Francesco Cavalli: Missa pro defunctis. Hg. von Francesco Bussi. Mailand 1978 sowie Antonio Lotti: Messen. Hg. von Hermann Müller. Leipzig 1930 (Denkmäler deutscher Tonkunst 60), S. 119–133. 29 Vgl. Julia de Clerck: Le Dies irae indépendent, du XVIe au XVIIIe siècle. In: Revue des archéologues et historiens d’art de Louvain 13 (1980), S. 108–126 sowie Chase (Anm. 13), S. 509–525. 30 Vgl. Arnold von Bruck: Sämtliche lateinische Motetten und andere unedierte Werke. Hg. von Othmar Wessely. Graz 1961 (Denkmäler der Tonkunst in Österreich 99), S. 30–45. 31 Vgl. Steffano Bernardi: Kirchenwerke. Hg. von Karl August Rosenthal. Wien 1929 (Denkmäler der Tonkunst in Österreich 69), S. 36–44. 32 Vgl. The letters of Claudio Monteverdi. Hg. von Denis Stevens. London, Boston 1980, S. 234– 236. 33 Vgl. Beatrice Ebel: Die Salzburger Requiemtradition im 18. Jahrhundert. Diss. LMU München 1997. 34 Vgl. Wolfram Hader: Die Requiem-Vertonungen in der Dresdner Hofkirchenmusik von 1720 bis 1764. Tutzing 2001 (Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft 22). 35 Vgl. Christoph Strauss: Requiem. In: Drei Requien für Soli, Chor und Orchester aus dem 17. Jahrhundert. Wien 1923 (Denkmäler der Tonkunst in Österreich 59), S. 1–40. 36 Vgl. Johann Caspar Kerll: Requiem. In: Drei Requien (Anm. 35), S. 73–99.

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Heinrich Ignaz Franz Biber (à 5 und à 15, nach 1690 bzw. 1692)37 und in dem in Prag komponierten Requiem von Adam Václav Michna z Otradovic (1652)38 ist es vor allem die Furcht, die sich durch das Zittern („Quantus tremor est futurus“39) bemerkbar macht, die durch Tonmalerei mit Tonrepetitionen dargestellt wird. Der Text der Sequenz bot jedoch auch einen rein musikalischen Anknüpfungspunkt. Die dritte Strophe der Sequenz benennt eine „tuba“, eine Bezeichnung, die in der Biblia Vulgata für verschiedene hebräische und griechische Instrumentennamen (Schofar, Hasosra und Salpinx) unterschiedslos verwendet wird:40 Tuba mirum spargens sonum per sepulcra regionum, coget omnes ante thronum.

Der Text nimmt aus der Johannes-Apokalypse zwar die Szenerie vor dem Thron auf (Apk 20,11 f.), die „tuba“ ist jedoch nur bedingt mit den in der Apokalypse erwähnten „tubae“ in Verbindung zu bringen – hier wird die laute Stimme lediglich mit der „tuba“ verglichen (Apk 1,10), letztere erklingt aber nicht, und den Engeln werden sieben „tubae“ gegeben (Apk 8,6–8), auch diese erklingen jedoch nicht.41 Vielmehr handelt es sich um die in Mt 24,31 (vgl. auch 1Thess 4,16) erwähnte „tuba“:42 „et mittet angelos suos cum tuba et voce magna“, ihr Klang ruft die Toten zum Gericht (1Kor 15,52). Während seit Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem KV 626 (1791) die Posaune für die klangliche Präsenz der „tuba“ sorgt,43 ist dies zuvor keineswegs zwingend der Fall, was neben der Frage der jeweiligen Verfügbarkeit von Posaunisten, die etwa in Italien im 18. Jahrhundert nicht gegeben war,44 auch mit der Geschichte der musikalischen Terminologie zusammenhängt. Michael Praetorius unterscheidet 1619 im zweiten Band seines Syntagma musicum zwischen der „Tuba, ein Trommeten“ und der „Buccina seu Trombone, die Posaune“45 und auch Johann Walter definiert in seinem Musikalischen Lexikon 1732 die 37 Vgl. Heinrich Ignaz Franz Biber: Requiem. In: Drei Requien (Anm. 35), S. 41–72 bzw. Jaksch (Anm. 18), Beilage. 38 Vgl. Adam Václav Michna z Otradovic: Sacra et litaniae VI: Missa pro defunctis. Prag 2007 (Compositiones 11). 39 Graduale de sanctis (Anm. 14), S. 294. 40 Ebd., zur „tuba“ vgl. Reinhold Hammerstein: Die Musik der Engel. Bern 21990, S. 205. 41 Zu den Tubaengeln vgl. Droese (Anm. 2), S. 125–139 und Hammerstein (Anm. 40), S. 205–214. 42 Vgl. Vellekoop (Anm. 14), S. 104. 43 Vgl. Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem. Hg. von Leopold Nowak. Kassel u. a. 1965 (Neue Ausgabe sämtlicher Werke I/1/Abt. 2/1), T. 1–18 im Tuba mirum, vgl. dazu auch Gernot Gruber: Die apokalyptischen Posaunen. In: Apokalypse (Anm. 4), S. 72–78. 44 Vgl. David M. Guion: The trombone. Its history and music 1697–1811. New York u. a. 1988, S. 161. 45 Michael Praetorius: Syntagma musicum. Bd. 2. Wolfenbüttel 1619, S. 2.

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„Tuba“ als Trompete, hingegen die „Tuba ductilis“ bzw. „Tuba major“ als Posaune bzw. Quart-Posaune.46 Heinrich Christoph Koch bleibt in seinem Musikalischen Lexikon 1802 unspezifisch und bezeichnet die Tuba als „eine Art von Trompete, die schon bey den Aegyptiern gebräuchlich gewesen ist, und von dem Osiris soll erfunden worden seyn. Man weiß heut zu Tage nicht mehr, wie dieses uralte Jnstrument eigentlich beschaffen gewesen“47. Bei Kerll wird durch die Verwendung von Tönen aus der Obertonreihe eine nicht instrumentenspezifische, für alle Naturtoninstrumente gleichermaßen charakteristische Idiomatik der „tuba“ durch die Streicher erzeugt, sie evoziert ein Signal, das das Jüngste Gericht ankündigt (T. 26–28):48

Notenbeispiel 2: Johann Caspar Kerll: Requiem, Beginn des „Tuba mirum“ im Dies irae.

Vergleichbare Ausprägungen der klanglichen Vergegenwärtigung des Jüngsten Gerichts komponieren in der gleichen Zeit auch Carissimi49 und Charpentier50 in ihren Oratorien. Die älteste Komposition, in der ein Blechblasinstrument im Tuba mirum solistisch erklingt, ist das Dies irae von Pietro della Valle (vor 1652), der vor der Strophe „Tuba mirum“ eine solistische „tromba di guerra“ verwendet, die ein sechstaktiges Signal ohne Begleitung spielt:51

46 Johann Walter: Musikalisches Lexikon oder musikalische Bibliothek. Leipzig 1732, S. 621. 47 Heinrich Christoph Koch: Musikalisches Lexikon. Frankfurt a. M. 1802, Sp. 1608. 48 Kerll (Anm. 36), S. 79. In der Weiterführung geht der Tonvorrat jedoch über die Obertonreihe auf G hinaus. 49 Vgl. Carissimi (Anm. 5), T. 105–110. 50 Vgl. Charpentier, Histoires sacrées (Anm. 8), S. 150, „bruit des trompettes“ T. 140–155 und erneut vor T. 169. 51 Bayerische Staatsbibliothek München, Mus. ms. 4418.

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Notenbeispiel 3: Pietro della Valle: Dies irae, Trompetensolo vor „Tuba mirum“.

Bei Michna z Otradovic ist es dann erstmals eine solistische Posaune, die das Jüngste Gericht ankündigt:52

Notenbeispiel 4: Adam Václav Michna z Otradovic: Missa pro defunctis, Beginn des „Tuba mirum“.

In Bibers 15-stimmigem Requiem wird die „tuba“ dann durch zwei tiefe Trompeten („Trombe basse“) und drei Posaunen vergegenwärtigt (T. 34–42). Das von den Trompeten intonierte Signal wird von den Bässen des Chores in Imitation aufgenommen, entsprechend Mt 24,31 ertönt der Ruf zum Gericht „cum tuba et voce magna“:53

52 Adam Václav Michna z Otradovic (Anm. 38). 53 Jaksch (Anm. 18), Beilage. Johann Ernst Eberlin verwendet lediglich in drei (N. 6–8) seiner zehn Requien Posaunen im Tuba mirum, in Nr. 7 zudem auch Trompeten, vgl. Ebel (Anm. 33), S. 129– 132.

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Notenbeispiel 5: Heinrich Ignaz Franz Biber: Requiem à 15, Sequenz, T. 34–42.

Doch keineswegs alle Kompositionen verwenden in der Folge ein Blechblasinstrument zur Vergegenwärtigung der „tuba“. Dies gilt insbesondere für die separaten Vertonungen des Dies irae. So verzichten etwa die in Italien entstandenen Kompositionen von Giovanni Legrenzi (Dies irae op. 9 1667)54 und Johann Christian Bach (1757),55 der zur Zeit der Komposition des Dies irae von der lutherischen zur römisch-katholischen Konfession konvertierte, darauf. Auch die in Paris entstandenen Kompositionen, Charpentiers Prose des morts (1671/72),56 Jean-Battiste Lullys Dies irae (1683)57 und Michel-Richard de La-

54 Vgl. Giovanni Legrenzi: Prosa pro mortuis. Hg. von Julia de Clerck. Leuven 1981 (Publications d’Histoire de l’Art et d’Archéologie de l’Université Catholique de Louvain 24). 55 Johann Christian Bach: Requiem. Hg. von James Bastian. Mainz 1972 (Accademia musicalis 20) besetzt zwar zwei Hörner, jedoch ohne spezifische „tuba“-Idiomatik. 56 Vgl. Marc Antoine Charpentier: Miserere des Jésuites, Dies Irae. Hg. von Roger Blanchard. Paris 1984, S. 110–191, hier S. 117. 57 Vgl. Jean-Battiste Lully: Les Motets II. Hg. von Henry Prunières. New York 1971 (Œuvres completes 10), S. 211–261.

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landes Dies irae (1690),58 kommen durchweg ohne den Klang der „tuba“ aus, lediglich in Charpentiers Messe des Morts (Paris 1695)59 werden Trompeten im instrumentalen Vorspiel zum Tuba mirum durch die Streicher imitiert. Am Dresdner Hof wurden zwar in einigen, aber keineswegs in allen Requien Trompeten besetzt. Antonio Lotti verwendet eine solistische Trompete in seinem Requiem F-Dur.60 Jan Dismas Zelenka besetzt nur in einem seiner vier Requien zwei Trompeten, im Requiem D-Dur (ZMV 46, 1733),61 ebenso Johann Adolph Hasse in seinem Requiem C-Dur (1763)62 und Johann David Heinichen drei Trompeten in seinem Requiem C-Dur (1724?). Durchweg werden die Trompeten hier mit signalhafter Wirkung eingesetzt:63

Notenbeispiel 6: Johann David Heinichen: Requiem C-Dur, Beginn des „Tuba mirum“.

58 Vgl. Chase (Anm. 13), S. 515. 59 Vgl. Marc Antoine Charpentier: Messes à 4 voix et orchestre. Hg. von Catherine Cessac. Versailles 1997 (Messes 2), S. 149–194, hier S. 165. 60 Vgl. Hader (Anm. 34), S. 163 sowie Antonio Lotti: Dies irae. München 2014. 61 Vgl. Hader (Anm. 34), S. 247–248 und Jan Dismas Zelenka: Requiem D-Dur ZWV 46. Hg. von David Erler. Wiesbaden 2018, Sequentia, T. 31–90, daneben in der Sequenz Trompeten nur zu Beginn und am Ende. In dem 1721 komponierten Requiem d-Moll (ZWV 48) wird im Tuba mirum ein Chalumeau solistisch verwendet, vgl. Jan Dismas Zelenka: Requiem d-Moll. Hg. von Vratislav Belsky. Prag 1997 (Musica antiqua Bohemica II/14). 62 Vgl. Hader (Anm. 34), S. 255 sowies David James Wilson: The masses of Johann Adolf Hasse. Diss. Univ. Illinois 1973, S. 257–370. 63 Vgl. Hader (Anm. 34), S. 148 f.

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In Bezug auf die Verwendung von Trompeten ist zu bedenken, dass diese nicht in das Belieben kompositorischer Verfügungsgewalt gestellt war, da Trompeter nicht Teil der Kapellen, sondern herrschaftliches Signum von Fürsten oder Städten waren.64 So war das Dresdner Trompeterkorps mit 12 Hoftrompetern das größte im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, da der Kurfürst als Erzmarschall der Patron der Trompeter war. Die am 19. Februar 1749 veröffentlichte päpstliche Enzyklika Annus qui reglementierte zudem die Verwendung von Instrumenten in der Kirchenmusik und untersagte den Gebrauch von „cornua venatoria“ sowie „tubas“ explizit.65 Die Umsetzung dieses Verbots erfolgte jedoch in den einzelnen Territorien auf unterschiedliche Weise. In Österreich etwa waren Pauken und Trompeten laut Hofreskript des Kaisers ab 1754 verboten und bis 1767 wurde dieses Verbot auch befolgt.66 Anschließend wurden hier jedoch wieder „tubae“ verwendet, so etwa in Johann Michael Haydns Missa pro defunctis (Salzburg 1771)67 und auch in Mozarts Requiem. In Wien war die Verwendung von Trompeten im Tuba mirum bereits vor Annus qui durch eine Besetzung mit Posaunen abgelöst worden.68 In Johann Joseph Fux’ Requiem K51–53 (1720), das zunächst für die Exequien der Kaiserinwitwe Eleonore komponiert, später aber u. a. auch bei jenen Karls VI. 1740 erklang, ist es eine konzertierende Posaune, die bereits vor dem Beginn des Textabschnitts solistisch erklingt und dann mit dem Alt in Imitation geführt wird (T. 21–66): 69

64 Vgl. Detlef Altenburg: Untersuchungen zur Geschichte der Trompete im Zeitalter der Clarinblaskunst (1500–1800). Regensburg 1973 (Kölner Beiträge zur Musikforschung 75). 65 Vgl. Karl Gustav Fellerer: Die Enzyklika „Anuus qui“ des Papstes Benedikt XIV. In: Handbuch der Katholischen Kirchenmusik. Bd. 2. Hg. von Karl Gustav Fellerer. Kassel u. a. 1976, S. 149– 152, hier S. 150. 66 Vgl. Thomas Hochradner: Zentrum und Peripherie. Überlegungen zur spätbarocken Musikpflege in den habsburgischen Ländern. In: Der Fürst und sein Volk. Hg. von Pierre Béhar, Herbert Schneider. St. Ingbert 2004, S. 173–196, hier S. 178. 67 Vgl. Johann Michael Haydn: Missa pro defunctis. Hg. von Charles H. Sherman. Mainz 1969 (Accademia musicale 8). 68 Vgl. zu den solennen Requiem-Kompositionen und ihren Anlässen auch Friedrich W. Riedel: Kirchenmusik am Hofe Karls VI. (1711–1740). München, Salzburg 1977 (Studien zur Landesund Sozialgeschichte der Musik 1), S. 181–184, der neben den im Folgenden genannten für die Verwendung von Trompeten die früheren Requien von Antonio Bertali (1654) und Johann Heinrich Schmelzer/Leopold I. (1676) nennt. 69 Vgl. Johann Joseph Fux: Requiem K51–53. Hg. von Klaus Winkler. Graz 1992 (Sämtliche Werke I/7).

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Notenbeispiel 7: Johann Joseph Fux: Requiem K 51–53, Sequenz, T. 21–26 und 33–37.

Auffällig ist hier und auch in sämtlichen anderen eingesehenen, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Komponisten am Wiener Hof geschriebenen Requien, dass im Tuba mirum ein langsames Tempo gewählt wird und die „tuba“ darin gerade nicht die Schrecken des Jüngsten Gerichts heraufbeschwört.70 Von einer admonitio an den kaiserlichen Wiener Hof kann hier keine Rede sein. Vielmehr ist die Textur darauf angelegt, Hoffnung und Trost im Angesicht des Jüngsten Gerichts zu spenden. So ist in Georg Reutters Requiem, das 1753 ebenfalls eine solistische Posaune verwendet (T. 40 ff.), eine klare Differenzierung in der Verwendung der Posaunen einerseits und der ebenfalls besetzten Trompeten andererseits zu erkennen. Die Trompeten erklingen im Dies irae an all jenen Textstellen, in denen vom Tag des Zorns und des Gerichts sowie vom strafenden Richter die Rede ist, die Posaunen hingegen an jenen Stellen, wo von Hoffnung auf Gnade, Milde und Erbarmen im Angesicht der Reue und Zerknir70 Dies gilt auch für Antonio Caldaras Requiem, vgl. Antonio Caldara: Dies irae. Hg. von István Homolya. Kassel u. a. 1978, S. 5–7. Dieses Dies irae ist Teil eines in Prag (Rytířský řád křižovníků s červenou hvězdou, hudební sbírka, XXXVI B 145) aufbewahrten Requiems, möglicherweise hängt die von Fux und Reutter abweichende Verwendung von zwei Trompeten anstatt Posaunen damit zusammen, dass es für Prag komponiert wurde.

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schung die Rede ist, und eine solistische Posaune dort, wo die „tuba“ im Text explizit benannt ist.71 Eine solche auf die Hoffnung auf Gnade hin ausgerichtete Interpretation kommt der protestantischen Deutung des Jüngsten Gerichts nahe. Diese kommt bereits in Titeln von Predigtsammlungen wie Heinrich Nösels 1659 gedruckter Tuba Iudicii, Das ist: Des lieben Jüngsten Tages Gerichts-Posaune72 zum Ausdruck, in der sich die im Luthertum seit der Mitte des 16. Jahrhunderts gängig gewordene Rede vom ‚lieben Jüngsten Tag‘ manifestiert,73 zumal wenn man sie mit der um 1700 nach der Konversion des Autors Adam Ignaz Stobaeus gedruckten Abhandlung Die letzte erschröckliche Gerichts-Posaun74 vergleicht. Auch wenn es in der Folge von Luthers kategorischer Ablehnung der Totenmessen75 wie auch des Dies irae76 keine protestantischen Vertonungen der Missa pro 71 Vgl. Georg Reutter d. J.: Kirchenwerke. Hg. von Norbert Hofer. Wien 1952 (Denkmäler der Tonkunst in Österreich 88), S. 58–90, Trompeten in T. 6–10 („Dies irae, dies illa“), 31–35 („cuncta stricte discussurus“), 129–142 (Strophe 6 „Judex ergo […] nil intultum remanebit“), Posaunen neben dem Tuba mirum in T. 169–180 (Strophe 8 „Rex tremendae […] fons pietatis“), 181–199 (Strophe 9), 247–301 (Strophe 17 und 18) sowie das Tutti in T. 217– 223 (Strophe 11 „Juste judex“) und 302–334 (Strophe 19). Während die Doppelung in der elften Strophe durchaus als Verschränkung von Angst vor Strafe und Hoffnung auf Milde zu verstehen ist, dürfte sie in der letzten Strophe primär der abschließenden Klangwirkung geschuldet sein. 72 Heinrich Nössel: Tuba Iudicii, Das ist: Des lieben Jüngsten Tages Gerichts-Posaune. Schleswig 1659. 73 Vgl. z. B. Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel. Bd. 9, S. 175, Z. 17. Vgl. hierzu den Beitrag von Johann Anselm Steiger in vorliegendem Band sowie Frank Alexander Kurzmann: Die Rede vom Jüngsten Gericht in den Konfessionen der Frühen Neuzeit. Berlin, Boston 2019 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 141), S. 32–34. Vgl. ferner Johannes Schilling: Der liebe Jüngste Tag. Endzeiterwartung um 1500. In: Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen u. a. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 155), S. 15–26, bes. S. 26. Auffällig häufig begegnet die Rede vom ‚lieben Jüngsten Tag‘ in Johann Rists Texten. Vgl. z. B. Johann Rist, Michael Jacobi: Neue Musikalische Kreuz-, Trost-, Lob- und Dank-Schule (1659). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Oliver Huck und Esteban Hernández Castelló. Berlin u. a. 2019 (Neudrucke Deutscher Literaturwerke NF 97), S. 12, Z. 8, sowie Johann Rist, Thomas Selle: Neue Musikalische Fest-Andachten (1655). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Oliver Huck und Esteban Hernández Castelló. Berlin u. a. 2020 (Neudrucke Deutscher Literaturwerke NF 100), S. 34, Z. 25. 74 Adam Ignaz Stobaeus: Die letzte erschröckliche Gerichtsposaun. O. O. u. J. [1700]. 75 Vgl. Martin Luther: Vom mißbrauch der Messen. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. 73 Bde. Weimar 1883–2009 (fortan zit. Luther, WA mit Angabe von Bd.-, Seiten- und ggf. Zeilenzahlen), hier Luther, WA 8,482–563. 76 Vgl. Martin Luther: Vorrede zur Sammlung der Begräbnislieder (1542): „DEm nach haben wir in unsern Kirchen die Bepstlichen Grewel, als Vigilien, Seelmessen, Begengnis, Fegefewr und alles ander Gauckelwerck, fur die Todten getrieben, abgethan und rein ausgefegt. Und wollen unser Kirchen nicht mehr lassen Klagheuser oder Leidestete sein“ (WA 35,478,26–29). Vgl. auch die kontroverstheologische Diskussion aus der Sicht der Kirchenmusik bei Rüdiger Bartelmus: Theologische Klangrede. Zürich 1998, S. 223–235.

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defunctis gibt, so ist doch zumindest eine – heute verlorene – Komposition, ein Dies irae des Hamburger Kantors Erasmus Sartorius, zu verzeichnen.77 Das Dies irae des Protestanten Johann Rosenmüller dürfte hingegen nicht für Leipzig oder Wolfenbüttel, sondern für Venedig oder den seit 1666 katholischen Hof in Hannover bestimmt gewesen sein.78 Das protestantische Pendant zur katholischen Sequenz ist das von Bartholomäus Ringwaldt bearbeitete Lied Es ist gewisslich an der Zeit,79 in dessen zweiter Strophe mit „Posaunen wird man hören gan | an aller Werlet ende“80 der „tuba“-Topos in der von Luther gewählten Übersetzung aufgerufen wird:81

Notenbeispiel 8: Anfang des Liedes ‚Es ist gewisslich an der Zeit‘.

Das Lied erfuhr jedoch nur wenige mehrstimmige Bearbeitungen. Abgesehen von Kantionalsätzen wie jenen von Seth Calvisius82 und Michael Praetorius in den Musae sioniae83 gibt es nur wenige Bearbeitungen des Textes als geistliches Konzert.84 In Kantaten wird der Choral sowohl in solchen zum Ende des Kir77 Vgl. Max Seiffert: Die Chorbibliothek der St. Michaels Schule in Lüneburg zu Joh. Seb. Bach’s Zeit. In: Sammelbände der internationalen Musikgesellschaft 9 (1907/08), S. 593–621, hier S. 616. 78 Vgl. Johann Rosenmüller: Dies irae. Hg. von Josef Floßdorf, Manfred Borchert. Wolfenbüttel 2003. Die Besetzung sieht keine Blechblasinstrumente vor, obwohl Rosenmüller Posaunist war. 79 Das deutsche Kirchenlied. Abt. 3: Die Melodien aus gedruckten Quellen bis 1680. Hg. von Joachim Stalmann. Kassel u. a. 1993–2010, verzeichnet mehrere Melodiefassungen, so von Georg Weber (158808) Ee7A, Seth Calvisius (159704) Ee7B und erneut Eisleben (159806) Ee7C, die alle auf der Melodie von Nun freut euch liebe Christen gmein (Ee7) basieren. 80 Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhundert. Bd. 4. Leipzig 1874, S. 344. 81 Das deutsche Kirchenlied (Anm. 79), Bd. III/3 (Notenband), S. 235. 82 Vgl. Seth Calvisius: Harmonia cantionum ecclesiasticarum. Hg. von Franz Ferdinand Kaern-Biederstedt. Wilhelmshaven 2015 (Quellenkataloge zur Musikgeschichte 63B), S. 167. 83 Vgl. Michael Praetorius: Musae sioniae op. 9. Hg. von Friedrich Blume. Wolfenbüttel, Berlin 1929 (Gesamtausgabe 9), Nr. 108, 112 und 114. 84 Vgl. Diane Parr Walker, Paul Walker: German sacred polyphonic vocal music between Schütz and Bach. Michigan 1992, so zwei von Wolfgang Carl Briegel zum 26. (bzw. 25.) Sonntag nach Trinitatis in dessen Sammlungen Musicalischer Lebens-Brunn (1680, Nr. 64), vgl. Wolfgang Carl Briegel: Es ist gewisslich an der Zeit. Hg. von Eberhard Hofmann. Ditzingen 1994 bzw. Dritter

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chenjahres als auch für den zweiten Advent zentral einbezogen wie etwa mehrfach bei Telemann (TWV I.509 und 511 bzw. I.301 und I.510).85 Nur in TWV 1:510 sind zwei Trompeten besetzt, die im Duett „So stoßt dann an, ihr tönenden Posaunen schallt zum Gericht“ konzertieren.86 Allen anderen ist gemeinsam, dass der „Posaunen“-Topos nicht durch Blechblasinstrumente klanglich ins Bild gesetzt wird. Grund dafür dürfte sein, dass hier weder die zweite Strophe des Liedes gesungen wird noch die drohende Ankündigung des Jüngsten Gerichts durch die „Posaunen“ Gegenstand der musikalisch-theologischen Konzeption ist. Im Gegensatz dazu liegt genau diese Strophe seiner Kantate Posaunen wird man hören gehen (TWV 1:1223) für den 26. Sonntag nach Trinitatis zugrunde, in der Telemann entsprechend in der Bassarie Nr. 2 „Was hör ich für prächtige Stimmen erschallen“, die das Nahen des Jüngsten Tages ankündigt, eine signalhafte Trompete besetzt.87 Bedeutender als die Adaptation der textlichen Beschreibung des Jüngsten Gerichts ist die Rezeption ihrer musikalischen Vergegenwärtigung in protestantischen Kompositionen. In seinem Oratorium Seliges Erwägen (1722) besetzt Telemann in der Arie des Jesus Nr. 23 „Wenn die Gerichtsposaune schallt“ ein Corno da caccia,88 da in einem Passionsoratorium Trompeten nicht üblich sind:89

und letzter Theil Evangelischer Gespräch (1681, Nr. 26), vgl. die Sparte von Friedrich Noack ‹tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/Mus-Ms-115› (letzter Zugriff 9.11.2020), S. 253–259. 85 Vgl. Werner Menke: Thematisches Verzeichnis der Vokalwerke von Georg Philipp Telemann. Bd. 1. Frankfurt a. M. 21988, S. 49, vgl. auch TWV I.301 in Georg Philipp Telemann: Geistliches Singen und Spielen. Hg. von Ute Pötzsch-Seban. Kassel u. a. 2004 (Musikalische Werke 39), S. 203–222 und die Edition von Peter Young von TWV 1:509 ‹imslp.org/wiki/Special:ImagefromIndex/585104/qruu› (letzter Zugriff 31.10.2020). 86 Singakademie zu Berlin, Notenarchiv SA 620, vgl. Die Telemann Sammlung aus dem Archiv der Sing-Akademie zu Berlin. Hg. von Axel Fischer, Matthias Kornemann. München 2003 (Musikhandschriften der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz. Teil 2: Die Georg Philipp Telemann-Sammlung. Supplement II), Mikrofiche Nr. 069. 87 Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt a. M., Ff. Mus. 1307, vgl. ‹sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/telemann/content/structure/10541085› (letzter Zugriff 1.11.2020). 88 Auch in der Kantate Des wütenden Meeres betäubendes Brausen (TWV 1:327a) besetzt Telemann zur Imitation der Posaunen in der Arie Nr. 3 „Ertönet bald herrlich, ihr letzten Posaunen“ ein Corno da Caccia, hier mit signalhafter Textur, vgl. Menke (Anm. 85), S. 30 f. sowie die Edition von Peter Young ‹imslp.org/wiki/Special:ImagefromIndex/489671/qruu› (letzter Zugriff 22.11. 2020). Die gleiche Arie wird in der Kantate Ertönet bald herrlich, ihr letzten Posaunen für den zweiten Advent (TWV 1:476) wieder aufgegriffen, hier wird die Hornstimme jedoch der Trompete übertragen, vgl. Niranjan Martin Wijewickrema: Der Gebrauch der Trompete in den gedruckten Kantatenjahrgängen Georg Philipp Telemanns. Diss. HfM Karlsruhe 2014, S. 144 f. und Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt a. M., Ff. Mus. 971 ‹sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/telemann/content/pageview/10403778› (letzter Zugriff 4.11.2020). 89 Georg Philipp Telemann: Seliges Erwägen. Hg. von Ute Poetzsch. Kassel u. a. 2001 (Musikalische Werke 33), S. 77–87.

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Notenbeispiel 9: Georg Philipp Telemann: Seliges Erwägen, Arie Nr. 23, T. 23–26.

Dass Telemann hier und auch in seinem Oratorium Der Tag des Gerichts (1762) keine Posaunen verwendet,90 liegt an den Hamburger Aufführungsbedingungen. Schon Johann Mattheson berichtet 1713, dass in Hamburg die Posaunen „ausser in Kirchen-Sachen und Solennitäten sehr wenig gebraucht werden“91. In Der Tag des Gerichts sind zwar Trompeten besetzt, dennoch wird in der dritten Betrachtung das „Feldgeschrei“ des „Engels der Rache“, dessen „Trompete“ im

90 Vgl. jedoch die in Frankfurt aufgeführte Kantate Jesu, wirst du bald erscheinen (TWV 1:988) für den 26. Sonntag nach Trinitatis, in der im ersten Satz drei Posaunen und ein Zink auf den Text „Jesu wirst du bald erscheinen, da die Auserwählten die Posaune hören gehn“ antworten, vgl. Georg Philipp Telemann: Jesu, wirst du bald erscheinen. Hg. von Arno Paduch. Frankfurt a. M. 2004 (Frankfurter Telemann-Ausgaben 39). Colla parte werden die Posaunen ohne unmittelbaren textlichen Bezug geführt in Erhöre mich, wenn ich rufe (TWV 1:459) in Georg Philipp Telemann: Concerten-Jahrgang. Hg. von Maik Richter. Kassel u. a. 2015 (Musikalische Werke 51), S. 3–24. Im Gegensatz dazu wird die im Text genannte Posaune – abgesehen von TWV 1:988 – dort, wo sie nicht primär die Posaune des Jüngsten Gerichts ist, mit Trompeten vertont, vgl. neben TWV 1:1223 (s. o.) das einleitende Dictum in Gott fähret auf mit Jauchzen (TWV 1:642) für Himmelfahrt in: Telemann: Concerten-Jahrgang, S. 27–32, gleiches gilt für Werfet Panier auf im Lande (TWV 1:1580), vgl. auch Simon Rettelbach: Trompeten, Hörner und Klarinetten in der in Frankfurt am Main überlieferten „Ordentlichen Kirchenmusik“ Georg Philipp Telemanns. Tutzing 2008 (Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft 35), S. 94. 91 Johann Mattheson: Das neu-eröffnete Orchestre. Hamburg 1713, S. 267. Vgl. dazu auch Jürgen Neubacher: Georg Philipp Telemanns Hamburger Kirchenmusik und ihre Aufführungsbedingungen (1721–1767). Hildesheim u. a. 22012 (Magdeburger Telemann-Studien 20).

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Text explizit benannt wird (Accompagnato „Ich sehe, Gott!“, T. 11–22), durch ein einzelnes signalhaftes Horn klanglich vergegenwärtigt:92

Notenbeispiel 10: Georg Philipp Telemann: Der Tag des Gerichts, Accompagnato „Ich sehe Gott!“, T. 9–14.

Ein Horn ist auch im darauf folgenden Arioso des Erzengels „So spricht der Herr“ besetzt. Wenn kurz darauf die „Posaunen“ des Jüngsten Gerichts benannt werden, sind drei Hörner zu hören (Rezitativ „Nun dränget sich der Kreis“, T. 13–16), deren Klang sich mit dem Donnergrollen in der Bassstimme verbindet:93

92 Telemann, Der Tag des Gerichts (Anm. 10). 93 Ebd.

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Notenbeispiel 11: Georg Philipp Telemann: Der Tag des Gerichts, Rezitativ „Nun dränget sich der Kreis“, T. 13–19.

Telemann führt hier, entsprechend den begrenzten Möglichkeiten, die das Accompagnato-Rezitativ im Vergleich zur Arie bietet, das klangliche Bild der Gerichtsposaune nicht aus, sondern deutet es nur kurz an. Auch Hasse setzt in seinem Requiem Es-Dur (1763) zwei Hörner. Diese gegenüber den anderen Dresdner Requien abweichende Besetzung ist angesichts der Tatsache, dass er im gleichen Jahr in seinem Requiem C-Dur Trompeten besetzte, weder mit den Besetzungsmöglichkeiten in Dresden zu erklären, noch mit der Stellung der Verstorbenen, für deren Exequien sie komponiert wurden, da sowohl Kurfürst Friedrich August II. (C-Dur) als auch Kurfürst Friedrich Christian (Es-Dur) Regenten waren.94 Letzterer hatte jedoch aufgrund der finanziellen Lage des Hofes Hasse und seine Frau Faustina Bordoni ent94 Wolfgang Horn: „Requiem“ und „Vivat Rex“. Bemerkungen zum Charakter der Dresdner „Requiem zum Herrschertod“ von Jan Dismas Zelenka (1733) und Johann Adolf Hasse (1763). In: Tod und Musik im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Günter Fleischhauer. Michaelstein 2001 (Michaelsteiner Konferenzberichte 59), S. 157–176, hebt als Grund für den „hellen“ Charakter dieser beiden Requien die Kontinuität der Herrscherfolge hervor, gleiches wäre auch für Hasses Requiem Es-Dur in Anschlag zu bringen.

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lassen, und es ist damit keineswegs auszuschließen, dass Hasse, der die Hörner im Dies irae nur im Tuba mirum-Abschnitt verwendet, dem verstorbenen Herrscher die klanglichen Herrschaftsinsignien bewusst entzog. Ebenso ist jedoch denkbar, dass Hasse die Partie für den Dresdner Hornisten Anton Joseph Hampel schrieb, der die Spieltechnik des Horns in entscheidender Weise weiterentwickelt hatte: 95

Notenbeispiel 12: Johann Adolf Hasse: Requiem Es-Dur, Beginn des „Tuba mirum“. 95 Johann Adolph Hasse: Requiem Es-Dur. Hg. von Wolfram Hader. Stuttgart 2005.

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Eine dramatische Zuspitzung, die nicht durch außermusikalische Assoziationen mit fanfarenartigen klanglichen Signalen sekundär hervorgerufen wird, sondern unmittelbar auskomponiert ist, erfährt die „tuba“ des Jüngsten Gerichts in Hasses Requiem C-Dur. Der umfangreiche Satz beginnt mit einem Unisono der Streicher und Oboen, das die nach dem Jüngsten Gericht verheißene unio mystica der zum ewigen Leben Auferstandenen mit Christus zu symbolisieren vermag. In diese Textur sind die Trompeten durch eine echoartige Imitation des Oktavsprungs zu Beginn, die metrisch gegen den Takt verschoben ist, eingebunden (T. 1–4). Auch die folgende, signalhafte Textur (T. 5–8) wird unisono ausgeführt, hier sind es am Ende die Streicher, die die Tonrepetitionen der Trompeten in Imitation als Echo aufnehmen (T. 8–9). Der Chorsatz wird im Folgenden (T. 11 ff.) in diesen Satz integriert:96

96 Wilson (Anm. 62), S. 284 f.

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Notenbeispiel 13: Johann Adolf Hasse: Requiem C-Dur, „Tuba mirum“ T. 11–18.

Ebenso wie Hasse in seinen beiden Requien vergegenwärtigt auch Johann Sebastian Bach das Jüngste Gericht auf gänzlich unterschiedliche Weise musikalisch in den Accompagnato-Rezitativen in zwei seiner Kantaten. Im Rezitativ Nr. 4 der Kantate Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott (BWV 127) für Estomihi erklingt lediglich ein Trompetensignal nach den Worten „Wenn einstens die Posaunen schallen“; durchgehend behält bei der folgenden Beschreibung des Jüngsten Gerichts die Trompete diese Rolle bei: 97

97 Johann Sebastian Bach: Kantaten zum Sonntag Estomihi. Hg. von Christoph Wolff. Kassel u. a. 1992 (Sämtliche Werke I/8,1), S. 142.

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Notenbeispiel 14: Johann Sebastian Bach: Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott, Beginn des Rezitativs Nr. 4.

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Die gleiche Rolle kommt der Trompete auch in der Arie Nr. 8 „Wacht auf, wacht auf, verlorne Schafe“ der Kantate O Ewigkeit du Donnerwort (BWV 20) zum 1. Sonntag nach Trinitatis zu.98 Im Rezitativ Nr. 9 der Kantate Wachet! Betet! Betet! Wachet! (BWV 70) für den 26. Sonntag nach Trinitatis, das mit den Worten „Ach, soll nicht dieser große Tag, der Welt Verfall und der Posaunenschall“ beginnt, intoniert die Trompete hingegen den Choral Es ist gewisslich an der Zeit:99

98 Vgl. Johann Sebastian Bach: Kantaten zum Trinitatisfest und zum 1. Sonntag nach Trinitatis. Hg. von Alfred Dürr. Kassel u. a. 1967 (Sämtliche Werke I/15), S. 169–173. 99 Johann Sebastian Bach: Kantaten zum 24.–27. Sonntag nach Trinitatis. Hg. von Alfred Dürr. Kassel u. a. 1968 (Sämtliche Werke I/27), S. 141–143.

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Notenbeispiel 15: Johann Sebastian Bach: Wachet! Betet! Betet! Wachet!, Beginn des Rezitativs Nr. 9.

Statt einer klanglichen „Posaunen“-Topik wie in BWV 127 macht das Choralzitat damit die Hoffnung auf Jesu Christi Wiederkehr am Jüngsten Tag erfahrbar, wie sie am Ende des Liedes formuliert ist: „Kom doch, kom, doch, du Richter gross, vnd mach vns in der genaden loß von allem vbel!“100

100 Wackernagel (Anm. 80), Bd. 4, S. 345, Textfassung von Bartholomäus Ringwald.

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„Posaunen tösen! Donner sprechen! | Nun will er segnen, er will rächen!“. Vom doppelten Ausgang des Jüngsten Gerichts in Christian Wilhelm Alers’ Singgedicht Der Tag des Gerichts in der Vertonung Georg Philipp Telemanns

1. Einleitung: Das Thema des Jüngsten Gerichts im frühneuzeitlichen Oratorium und im Hamburg des 18. Jahrhunderts Die biblischen Prophezeiungen und Visionen von Weltende, Jüngstem Gericht und ewigem Leben werden wie kein anderes Ereignis der christlichen Heilsgeschichte von musikalischen Imaginationen begleitet.1 Die apokalyptischen Posaunen der Engel und der Gesang der himmlischen Chöre sind wesentliche Elemente des endzeitlichen Geschehens. Eschatologische Sujets, insbesondere die Darstellung des Jüngsten Gerichts, eignen sich folglich als hervorragende Quelle kompositorischer Inspiration. Dennoch wurden sie in der Musikgeschichte – abgesehen von der Vielzahl an Vertonungen einzelner biblischer Verse und des Dies irae – vergleichsweise selten genutzt.2 Besonders überrascht es, dass die im 17. Jahrhundert aufkommenden neuen musikalisch-expressiven Möglichkeiten hinsichtlich Affektdarstellung und Theatralisierung, etwa in Oratorium und Oper, nur zögerlich auf den Stoff des Jüngsten Gerichts angewandt wurden.3 In dieser Zeit finden sich nur wenige prominente Beispiele im katholischen Raum, etwa Giacomo Carissimis Oratorium Judicium extremum (um 1650) und Marc-

1 Vgl. Apk 8; Mt 24,31; 1Thess 4,16; 1Kor 15,52. 2 Vgl. Ulrich Konrad: Apocalypsis cum figuris musices. Musikalische Annäherungen an die Offenbarung des Johannes. In: Apokalypse. Symposion 1999. Hg. von Carmen Ottner. Wien 2001 (Studien zu Franz Schmidt 13), S. 31–48, hier S. 32–35. Zu den Vertonungen einzelner biblischer Verse apokalyptischen Inhalts vgl. Meinrad Walter: Wie klingt die Apokalypse? Kleiner Überblick mit kirchenmusikalischen Impulsen. In: Musik und Kirche 80 (2010), S. 316–319. 3 Vgl. Konrad (Anm. 2), S. 35.

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Antoine Charpentiers gleichnamiges Weltgerichtsoratorium (1681).4 Auf protestantischer Seite liegt erst mit Christian Wilhelm Alers’ Singgedicht Der Tag des Gerichts, das von Georg Philipp Telemann vertont und 1762 im Hamburger Konzertsaal „Auf dem Kamp“ uraufgeführt wurde, eine bedeutende musiktheatrale Auseinandersetzung mit der Gerichtsthematik vor.5 Dieses Werk hat in der bisherigen Oratorien- und Telemannforschung jedoch noch wenig Aufmerksamkeit erfahren, obwohl eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem literarisch-musikalisch artikulierten Verständnis des Jüngsten Gerichts vor dem Hintergrund zeit- und kulturgeschichtlicher sowie dichtungs- und musikästhetischer Kontexte überaus lohnenswert ist. Die Thematik des Jüngsten Gerichtes besaß im Hamburg des mittleren 18. Jahrhunderts in zweierlei Hinsicht besondere Aktualität: Zum einen erschütterten die damals unlängst geschehenen Naturkatastrophen und ihre Folgen – 1755 das Erdbeben in Lissabon und, spezifisch auf die Hansestadt bezogen, 1750 der Brand der Michaeliskirche nach einem Blitzeinschlag – das in der Aufklärung gefestigte Weltbild einer guten Schöpfung. Sie führten entweder zu fundamentalen Glaubenszweifeln an Gottes Allmacht und Gerechtigkeit oder zu noch stärkerer Gottesfurcht, da die zerstörerischen Naturgewalten als Strafe Gottes für begangene Sünden gedeutet wurden.6 Der Blick auf den Jüngsten Tag, die Möglichkeit der ewigen Verdammnis, war dabei sehr präsent, wie beispielsweise die Texte zur Einweihungsmusik der wiedererrichteten Michaeliskirche zeigen, die 1762, also im selben Jahr wie Telemanns Der Tag des Gerichts, in einem großen kirchlich-zeremoniellen Akt erklang.7 Zum anderen wurde explizit den Anhängern der Radikalaufklärung, den sogenannten Freigeistern, mit Straf4 Vgl. Markus Grassl: Das Jüngste Gericht im 17. und 18. Jahrhundert. In: Apokalypse (Anm. 2), S. 80–86. 5 Das Dieterich Buxtehude zugeschriebene Oratorium Wacht! Euch zum Streit gefasset macht wurde 1939 von Willy Maxton zwar unter dem Titel Das jüngste Gericht publiziert, doch wird in diesem Werk nicht das biblisch prophezeite Gericht auf die Bühne gestellt, sondern vielmehr die Konsequenz von gottesfürchtigem Leben auf der einen und gottlosem Leben auf der anderen Seite am Jüngsten Tag reflektiert. Vgl. Grassl (Anm. 4), S. 79. 6 Vgl. Markus Rathey: Von Gerichtsposaunen und Erdbeben. Telemanns und Bachs Kompositionen nach Texten von Christian Wilhelm Alers. In: Impulse – Transformationen – Kontraste. Georg Philipp Telemann und Carl Philipp Emanuel Bach. Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz, Magdeburg, 17. und 18. März 2014, anlässlich der 22. Magdeburger Telemann-Festtage. Hg. von Carsten Lange, Brit Reipsch, Ralph-Jürgen Reipsch. Hildesheim u. a. 2018 (Telemann-Konferenzberichte 20), S. 193–213, hier S. 199 f. sowie Markus Rathey: Carl Philipp Emanuel Bachs Donnerode. Zur politischen Funktion des ‚Erhabenen‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Archiv für Musikwissenschaft 66 (2000), S. 286–305, hier S. 287– 289. 7 Vgl. Wolfgang Hirschmann: Vorwort. In: Georg Philipp Telemann: Musiken zu Kircheneinweihungen II. Hg. von Wolfgang Hirschmann. Kassel u. a. 2017 (Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke 56), S. XIII f.

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gericht und Hölle gedroht, besaßen sie aus der Sicht der orthodox-lutherischen Hamburger Geistlichkeit doch von Grund auf eine gottverachtende Lebenseinstellung.8 Um die Jahrhundertmitte verschärften sich in der Hansestadt die religiösen Spannungen zwischen den Anhängern des traditionellen Glaubens, den Verfechtern der zeitgenössischen Aufklärungstheologie und den Nonkonformisten.9 Darüber hinaus war das Jüngste Gericht in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein in literatur- und musikästhetischer Hinsicht außerordentlich attraktives Sujet, da sich in diesem Stoff wie in keinem anderen die zeitgenössische Ästhetik des Erhabenen10 verwirklichen ließ. So zeichneten sich Stoffe mit der Thematik der Erhabenheit im Verständnis des 18. Jahrhunderts durch die Ausrichtung auf übersinnliche, höhere Mächte aus, die beispielsweise in der Anschauung der Größe und Gewalt der Natur fassbar wurden und im betrachtenden Subjekt Gefühle der Erschütterung und Überwältigung auszulösen vermochten.11 Gottes 8 Vgl. Bernhard Jahn: Dichtung im Spannungsverhältnis von Radikalaufklärung und lutherischer Orthodoxie. Beobachtungen am Beispiel einiger von Telemann vertonter Texte aus den 1740er bis 60er Jahren, S. 1–4, erscheint in: Musik und Dichtung. Tradition und Innovation in Telemanns Vokalwerk. Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz, Magdeburg, 12. und 13. März 2018 (Telemann-Konferenzberichte 22). Hg. von Carsten Lange, Brit Reipsch. Hildesheim u. a., voraussichtlich 2022. Ich danke Prof. Dr. Bernhard Jahn für die Bereitstellung des Vortragsmanuskripts. 9 Zu den religiösen Spannungen in Hamburg im 18. Jahrhundert vgl. Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona. Teil 2. Hamburg 1982, S. 452–483. 10 Vgl. Jörg Heininger: Art. Erhaben. In: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 2. Hg. von Karlheinz Barck u. a. Stuttgart u. a. 2002, S. 275–310, hier S. 275–291; Achim Geisenhanslüke: Art. Erhaben. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff. Stuttgart, Weimar 32007, S. 204; den Abschnitt zum „Erhabenen“ in Sven Aage Jørgensen, Klaus Bohnen, Per Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, Frühe Klassik. 1740–1789. München 1990 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 6), S. 117 f. sowie Johann Georg Sulzer: Art. Erhaben. In: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig 1771, S. 341–349. Zur Umsetzung der Ästhetik des Erhabenen in der Musik des 18. Jahrhunderts am Beispiel konkreter Kompositionen vgl. Laurenz Lütteken: Das Monologische in der Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785. Tübingen 1998 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 24), S. 118–190; ders.: Sprachverlust und Sprachfindung. Die Donnerode und Telemanns Spätwerk. In: Studien zur Musikgeschichte. Eine Festschrift für Ludwig Finscher. Hg. von Annegrit Laubenthal. Kassel u. a. 1995, S. 206–221; Kathrin Kirsch: Dramaturgien des Erhabenen: Telemanns „Donner-Ode“ und Carl Philipp Emanuel Bachs „Morgengesang am Schöpfungsfeste“. In: Impulse (Anm. 6), S. 89–111; Wolfgang Hirschmann: Zweimal Heilig – Bach in Hamburg und das Vorbild Telemanns. In: C. P. E. Bach und Hamburg. Generationenfolgen in der Musik. Hg. von Tobias Janz, Kathrin Kirsch, Ivana Rentsch. Hildesheim u. a. 2017 (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft 97), S. 85–97 sowie Wolfgang Hirschmann: Sublime strokes. Händels Kompositionswissenschaft und die Ästhetik des Erhabenen. In: Händels „Messiah“. Zum Verhältnis von Aufklärung, Religion und Wissen im 18. Jahrhundert. Hg. von dems. Halle/S. 2011 (Kleine Schriften des IZEA 3), S. 17–41. 11 Vgl. u. a. Sulzer, Erhaben (Anm. 10), S. 341–345 sowie Geisenhanslüke (Anm. 10), S. 204.

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letztgültiges Urteil über ewiges Heil oder ewige Verdammnis ließ sich daher als die größte Manifestation seiner Erhabenheit begreifen.12 Auch hinsichtlich des gehobenen Sprachstils, den transzendenzbezogene Stoffe erforderten,13 müssen die biblischen Reden von den Letzten Dingen als erhaben empfunden worden sein. In Alers’ und Telemanns Der Tag des Gerichts werden sowohl die hier skizzierten zeitgenössischen theologischen als auch die ästhetischen Kontexte unmittelbar greifbar. Zudem lässt sich beobachten, dass Dichter und Komponist gleichermaßen auf eine spezifisch christliche Darstellung der zeitlos gültigen Grundfrage menschlicher Existenz fokussierten. Im vorliegenden Beitrag soll untersucht werden, in welcher Weise Oratorientext und -vertonung das Jüngste Gericht in seiner damaligen Aktualität einerseits und seiner überzeitlichen Gültigkeit andererseits zum Ausdruck bringen. Besonderes Augenmerk liegt auf der Frage, wie theologische und ästhetische Dimensionen im Werk zusammengeführt werden, vor allem bezüglich des Erhabenen, das in diesem Oratorium sowohl ästhetisches Mittel als auch religiöse Botschaft ist. Dem Zusammenhang von Ästhetik und Religion ist in Der Tag des Gerichts ferner auch deshalb erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken, weil das Oratorium nicht in der Kirche, sondern im Konzertsaal aufgeführt wurde, in welchem die religiöse Botschaft ebenso wie die künstlerische Ausdrucksweise anders gewichtet wurden als im liturgischen Kontext. Schließlich stellt sich die Frage, wie Telemann auf erhabene Wirkung zielende Kompositionstechniken, die er bereits in seiner Kirchenund Konzertmusik – etwa im Heilig-Chor der Kircheneinweihungsmusik von 1747 und in der Donnerode – erprobt hatte,14 in Der Tag des Gerichts mit den musikdramaturgischen Anforderungen der zeitgenössischen lyrisch-empfindsamen Oratorienästhetik15 verband.

12 Zum zeitgenössischen Verständnis des Erhabenen als einer „ästhetisch-religiöse[n] Mischkategorie“ vgl. Martin Fritz: Ausdruck des Erhabenen. Konturen einer musikästhetischen Leitidee des 18. Jahrhunderts. In: Ausdruck in der Musik. Theorien und Formationen. Hg. von Jürgen Stolzenberg. München 2021, S. 168–212, hier S. 175 f. passim. 13 Vgl. Sulzer, Erhaben (Anm. 10), S. 344. 14 Vgl. Hirschmann, Zweimal Heilig (Anm. 10); Lütteken, Sprachverlust (Anm. 10) sowie Kirsch (Anm. 10). 15 Johann Georg Sulzer definiert das Oratorium als „lyrisches […] Drama“. Vgl. Sulzer: Art. Oratorium. In: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig 1774, S. 852–854.

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2. Heil und Verdammung in Christian Wilhelm Alers’ Singgedicht Der Tag des Gerichts Christian Wilhelm Alers (1737–1806), Telemanns ehemaliger Schüler am Hamburger Johanneum und später Pastor in Rellingen und Uetersen,16 war ein gefragter Dichter geistlicher sowie weltlicher Lyrik. Er schrieb sowohl für Telemann als auch für dessen Nachfolger als Hamburger Musikdirektor, Carl Philipp Emanuel Bach, Libretti zur Vertonung.17 Alers’ Singgedicht Der Tag des Gerichts entstand vermutlich während seines Theologiestudiums in Helmstedt (1759–1762). Es gehört zu einer Serie dichterischer Bearbeitungen der jüdischchristlichen Heilsgeschichte von der Offenbarung der Zehn Gebote an Mose über Jesu Geburt, Leiden, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt bis hin zum Lobpreis der Engel in Ewigkeit,18 von denen mit Ausnahme von Der Tag des Gerichts aber keine Vertonungen bekannt sind. In Alers’ Libretto lässt sich die oben dargestellte Verbindung des überzeitlichen Menschheitsthemas mit einer zeitgenössischen Atheismus-Kritik direkt nachweisen. Dabei tritt der Dichter als Vertreter einer gemäßigten Aufklärungstheologie für eine Synthese von Glaube bzw. Offenbarungsreligion und Vernunft ein. Das Sujet des Jüngsten Gerichts wird folglich für fundamentale Religionsdebatten funktionalisiert. Dieser Fokus auf das Schicksal Ungläubiger am Jüngsten Tag bezeichnet dennoch nur eine Dimension des Werkes. Ebenso gewichtig stellt Alers die Heilsperspektive, die Erlösung und den Eintritt der gläubigen Gemeinschaft in das ewige Leben und die Teilhabe am endzeitlichen Lobpreis nach dem Gericht heraus. Mag man darin zwar auch ein Mittel der Bekehrung der ‚Frevler‘ sehen, so entspricht die Verheißung an die Gläubigen doch zuallererst dem lutherischen Verständnis des „lieben Jüngsten Tages“19 und macht deutlich, dass die eschatologische Rede nicht nur Drohbotschaft, sondern vielmehr auch Frohe Botschaft ist. Darin liegt eine von den zeitgenössischen Tendenzen unabhängige theologische Aussage.

16 Art. Alers (Christian Wilhelm). In: Lexicon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart, Bd. 1. Hg. von Hans Schröder. Hamburg 1851, S. 45. 17 Vgl. Rathey (Anm. 6), S. 194. 18 Christian Wilhelm Alers: Der Tag Gottes auf Sinai, oder Die Gesetzgebung; Anbethungs-Lied der morgenländischen Weisen zu den Füßen Jesu; Scenen aus dem Leiden Jesu; Jesus, der Auferstandene; Der erhöhte Jesus; Der Tag des Gerichts; Die Engelheere. In: Ders.: Gedichte der Religion, dem Vaterlande und der Freundschaft gesungen. Bd. 1. Hamburg 1786, S. 24–79. 19 Vgl. hierzu den Beitrag von Johann Anselm Steiger in vorliegendem Band sowie Wolf-Dieter Hauschild: Art. Apokalyptik. V. Kirchengeschichtlich. In: Religion in Geschichte und Gegenwart4 1 (1998), Sp. 595 f., hier Sp. 595.

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Der Tag des Gerichts gliedert sich in vier Betrachtungen bzw. Gesänge.20 Die traditionelle Zweiteiligkeit des Oratoriums wird hier wie auch in den anderen Dichtungen von Alers aufgegeben, was zudem für zeitgenössische Werke der Gattung nicht untypisch war.21 Die erste Betrachtung fungiert als Prolog und stellt einen theologischen Disput zwischen den Allegorien Unglaube, Vernunft, Religion und Spötter dar. Derartige allegorische Streitgespräche hatten im Oratorium lange Tradition; neu aber ist in diesem Werk die Rollendisposition im Sinne der zeitgenössischen Aufklärungstheologie: So steht die Vernunft auf der Seite der Religion und entkräftet mit rationalen Argumenten den Standpunkt des Unglaubens, die Vorstellungen von Weltende und Weltgericht seien Aberglaube und von der Religion zur Disziplinierung des Volkes, „des Pöbels Wut zu zähmen“,22 geschaffen, indem sie an die Vergänglichkeit irdischen Lebens erinnert. Weiterhin wirft sie dem Unglauben lasterhaftes Leben vor.23 Alers verwendet hier eine die Geschichte des Christentums durchziehende, im Kontext der Epikureismus-Kritik stehende stereotype Gleichsetzung von Unglaube und unmoralischem Leben.24 Der Spötter pointiert die Freigeist-Kritik, indem er den 20 Im Folgenden wird nach dem Textdruck zitiert, der auf dem Stimmsatz D-B Mus. ms. 21701 basiert: Georg Philipp Telemann: Der Tag des Gerichts. Ein Singgedicht in vier Betrachtungen von Christian Wilhelm Alers. TWV 6:8. Textdruck. Mit einem Nachwort von Wolfgang Hobohm. Magdeburg 2004. Die autographe Fassung ist nicht erhalten. Vgl. Max Schneider: Revisions-Bericht. In: Georg Philipp Telemann: Der Tag des Gerichts. Ein Singgedicht in vier Betrachtungen von Christian Wilhelm Alers. // Ino. Kantate von Karl Wilhelm Ramler. Hg. von Max Schneider (1908), in Neuaufl. hg. u. krit. rev. von Hans Joachim Moser. Wiesbaden, Graz 1958 (Denkmäler deutscher Tonkunst I, 28), S. LXXV–LXXIX, hier S. LXXV. Schneider hatte noch den Textdruck der Uraufführung vorliegen (vgl. ebd., S. LIX), diese Quelle lässt sich aber nicht mehr ausfindig machen und muss daher als verschollen gelten. Spätere Drucke des Librettos (vgl. Unterhaltungen. Bd. 3, 5. Stück. Hg. von Daniel Schiebeler, Johann Joachim Eschenburg. Hamburg 1767, S. 375–389 sowie Alers [Anm. 18], S. 65–77) unterscheiden sich von der vertonten Fassung deutlich. 21 Die Oratoriendichtungen von Karl Wilhelm Ramler und Justus Friedrich Wilhelm Zachariä weichen beispielsweise von der traditionellen Zweiteiligkeit ab. 22 Telemann, Der Tag des Gerichts (Anm. 20), S. 5, Rez. 3 (Der Unglaube), V. 1. Diese Argumentation folgt einer breit rezipierten religionskritischen Schrift des späten 17. Jahrhunderts: Anonymus [Johann Joachim Müller]: De imposturis religionum (De tribus impostoribus). Von den Betrügereyen der Religionen. Dokumente. Krit. hg. u. komm. von Winfried Schäfer. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999 (Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung I, 6). 23 Telemann, Der Tag des Gerichts (Anm. 20), S. 5 f., Rez. 5, V. 6 ff. 24 Vgl. Jahn (Anm. 8), S. 4, sowie Dorothee Kimmich: Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge. Darmstadt 1993. Auf die Beziehung von Atheismus und Epikureismus im zeitgenössischen Kontext weist ferner die christliche apologetische Schrift des Hamburger Professors am Hamburger Akademischen Gymnasium Johann Albert Fabricius: Delectus argumentorum et syllabus scriptorum, qui veritatem religionis Christianae adversus Atheos, Epicureos, Deistas, sive naturalistas, Idolatras, Judaeos et Muhammedanos, lucabrationibus suis asserverunt. Hamburg 1725. Noch deutlicher als bei Alers findet sich der Vorwurf des lasterhaften Lebens Ungläubiger in der Oratoriendichtung des Braunschweiger Literaten Justus Friedrich Wilhelm Zachariä: Die Pilgrime auf Golgatha. Braunschweig 1756, D-W: Textb. 595.

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Ungläubigen gar ihr menschliches Wesen abspricht.25 Religion und Chor der Gläubigen führen schließlich das aus christlicher Sicht nach wie vor gewichtigste, nämlich biblisch-offenbarungstheologische Argument ins Feld, indem sie auf den dort prophezeiten doppelten Ausgang des Jüngsten Gerichts verweisen, das ewige Heil der Gläubigen und die ewige Verdammung der Ungläubigen: Ein Tag der Schrecken bricht herein, von Gnade voll und schwer von Pein, zum Fluche dem, der Gott geflucht, und seinen Gläubigen zum Heile. (Religion, Rez. 9)

An jeder der geweinten Zähren wird deine Gnade sich verklären, wird Gott Jehova herrlich sein, und an der Laster grausem Heulen, die dann gestraft zum Abgrund eilen, wird Gott Jehova herrlich sein. (Chor der Gläubigen, Chor 10)

Die inhaltlich-dramaturgische Besonderheit der Dichtung besteht darin, dass die auf die Zukunft gerichtete, stark von den damaligen aktuellen Religionsdebatten beeinflusste Prophezeiung der Verdammung Ungläubiger in den folgenden Betrachtungen gegenwärtiges Geschehen wird. In der zweiten Betrachtung werden Weltuntergang und Parusie Christi, in der dritten Betrachtung die Auferweckung der Toten und die Seligpreisung bzw. Verdammung der Auferweckten durch Christus und in der vierten Betrachtung der ewige Lobgesang im Himmel inszeniert. Dieser Aufbau ist sowohl theologisch als auch dramaturgisch effektiv: Die Antwort Gottes auf den Religionsspott des Unglaubens folgt so überraschend und unmittelbar, als wolle Alers den Zuhörern Jesu Worte in Bezug auf seine Wiederkunft „Darumb wachet/ (seyd allezeit bereit/) denn ihr wisset weder Tag noch Stunde/ in welcher deß Menschen Sohn kommen wird“ (Mt 25,13)26 mahnend in Erinnerung rufen. Prolog und Weltgerichtsgeschehen sind überdies durch den Unglauben, der in der dritten Betrachtung zu den durch Christus Verdammten gehört, direkt verbunden. Frappierend ist die ausweglose Situation des Unglaubens bzw. der Ungläubigen: Für Umkehr und Buße ist es zu spät, das Urteil Gottes ist gefällt. So bleibt dem Chor der Laster, der voller Verzweiflung das Gerichtsurteil Christi erwartet (Chor 22), nur ein einziges Wehklagen, denn jegliche Bitte um Gnade, Barmherzigkeit und Milde wäre nun ver-

Vgl. Maryam Haiawi: Das Oratorium als konfessionelles Bekenntnis? Interkonfessioneller Austausch von Oratorien im 18. Jahrhundert. Diss. phil. Hamburg 2021, noch nicht veröffentlicht, S. 369–380. 25 Telemann, Der Tag des Gerichts (Anm. 20), S. 6, Arie 6 (Der Spötter), V. 1–6: „Jetzt weiß ich’s, überkluge Köpfe, | warum kein Spott, kein bittres Lachen | euch besser konnte machen. | Es täuscht mich eu’r Gesicht. | Ihr menschenähnliche Geschöpfe | seid Menschen selbst noch lange nicht.“ 26 Zitiert nach: Biblia, Das ist: Die gantze H. Schrifft, Altes und Newes Testaments Teutsch, D. Martin Luthers. Nürnberg 1641.

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geblich. Im Kontrast zu dieser äußersten Härte des göttlichen Gerichtsurteils stehen die Seligpreisungen der „treuen Knechte“27 Jesu. Alers gründet die Darstellungen des Weltgerichts auf die biblischen Prophetien und paraphrasiert oder zitiert Verse aus den Evangelien (v. a. Mt 25,31 ff.), der Offenbarung des Johannes, den Paulus- und Petrusbriefen und den Psalmen, die auf den Jüngsten Tag Bezug nehmen.28 Außerdem integriert er liturgische Texte wie Sanctus und Te Deum in die Dichtung, um den himmlischen Gottesdienst zu inszenieren. Der Rekurs auf Bibel und Liturgie dient dazu, der Botschaft des Librettos eine allgemeingültige Bedeutung zukommen zu lassen. Darüber hinaus verleihen die erhabenen biblischen Darstellungen von Apokalypse und Endzeit eine der Größe des Stoffes angemessene Redeweise. An dieser orientiert Alers seinen zuweilen von feierlicher Deklamation gekennzeichneten Dichtungsstil, der zudem Impulse und Einflüsse von Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias aufweist. Auf subjektive Einfühlung, wie es die Konvention des zeitgenössischen lyrisch-empfindsamen Oratoriums einfordert,29 ist seine Dichtung aber nicht ausgerichtet. Die im Werk auftretenden Personen sind nicht als Individuen konzipiert und dienen nicht als emotionale Identifikationsfiguren. Vielmehr geht es Alers um einen objektivierten Blick auf das endzeitliche Geschehen.

3. Der doppelte Ausgang des Jüngsten Gerichts in Georg Philipp Telemanns Vertonung Die Analyse von Telemanns Der Tag des Gerichts30 widmet sich vornehmlich den Fragen, wie der Komponist die in der Dichtung dargestellte, überzeitlich gültige unauflösbare Spannung vom doppelten Ausgang des Jüngsten Gerichts zum Klingen bringt, wie stark die Musik der in Alers’ Dichtung artikulierten historisch aktuellen Atheismus-Kritik nachgeht und ob bzw. inwiefern die Komposition eine dem Inhalt und der Dichtungsweise analoge Ausdrucksform des Erhabenen erkennen lässt. Ferner sind musikdramaturgische Aspekte der Gattung ‚Oratorium‘ miteinzubeziehen. Schließlich sollen auf der Grundlage des herausgearbeiteten Wort-Ton-Verhältnisses und innermusikalischer Kompositionsstrategien die theologische sowie ästhetische Zielsetzung des im Konzert aufgeführten Oratoriums umrissen werden.

27 Telemann, Der Tag des Gerichts (Anm. 20), S. 11, Arie 19 (Jesus), V. 3. 28 Vgl. Wolfgang Hobohm: Nachwort. In: Telemann, Der Tag des Gerichts (Anm. 20), S. 17–26, hier S. 21. 29 Vgl. Sulzer, Oratorium (Anm. 15), S. 852–854. 30 Für die Analyse wird die kritische Edition von 1958 (vgl. Anm. 20) verwendet.

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3.1. Erste Betrachtung: Allegorischer Disput von Unglaube, Vernunft, Religion und Spötter

Das Oratorium wird durch einen feierlichen Instrumentalsatz eröffnet, der in der zweiteiligen Form der französischen Ouvertüre (Grave und Fugato) komponiert ist. Hervorstechend ist, dass die würdevoll-schreitende, punktierte Bewegung des ersten Teils zweimal unvermittelt von einer majestätisch-prächtigen Trompeten-Fanfare mit aufsteigendem Dreiklang und Tonrepetitionen (T. 5 ff., 12 ff.) unterbrochen wird. Auf inhaltlicher Ebene handelt es sich offensichtlich um die Vorwegnahme der Gerichtsposaunen (vgl. Betrachtung 3). Dieser überraschende und die Zuhörerschaft gleichsam aufrüttelnde Trompeteneinsatz zielt wirkungsästhetisch auf Erhabenheit, denn durch den imposant inszenierten musikalischen Kontrast ist eine Erschütterung der Zuhörerschaft intendiert.31 Das folgende Fugato, im Ansatz eine Doppelfuge, ist demgegenüber von ungeheurer Leichtigkeit und Verspieltheit geprägt, der synkopierte Themenkopf treibt die Bewegung fortwährend an. An ein Weltgerichtsoratorium ist beim Vernehmen dieser Musik nicht zu denken, vielmehr wird hier schon eine Brücke zur letzten Betrachtung, dem himmlischen Lobpreis geschlagen. Der sich anschließende Chor der Gläubigen, ein nicht minder von feierlicher und dynamischer Bewegung gekennzeichneter Satz, verbindet den jubilierenden Gestus allerdings mit einem belehrenden Tonfall. Nach dem homophonen Beginn des Verses „Der Herr kommt mit vielen tausend Heiligen“ erscheinen die Worte „Gericht zu halten“ imitativ aufgelockert (T. 20 ff.), wodurch das Wort „Gericht“ oftmals wiederholt wird. Des Weiteren wird der Verweis, dass über alle Menschen Gericht gehalten wird, mit Koloraturen hervorgehoben (vgl. T. 25 f., 33 ff., 39 ff.). Das allegorische Streitgespräch gestaltet Telemann mit konventionellen, aus dem barocken Oratorium bekannten Stilmitteln. Besonderes Augenmerk richtet er auf eine ironisierende Darstellung von Unglauben und Spötter. Die äußerst bizarr wirkende Stimmführung und rhythmische Gestalt der Arie des Unglaubens (Arie 4) etwa – extreme Lagenwechsel in den Violinen, Triolen im Dialog mit synkopisch einsetzenden Zweiunddreißigstel-Figuren – dienen offensichtlich dazu, musikalisch den ironischen Unterton der Arie des Unglaubens nachzuvollziehen oder aber mittels der sperrig anmutenden Faktur ein distanziertes Verhältnis zum Inhalt der Verse zu verdeutlichen, um den Irrtum des Unglaubens zu entlarven: Dessen Ironie wirkt durch die musikalische Überzeichnung 31 Zur erhabenen Wirkung von klanglichen oder satztechnischen Kontrasten vgl. Hirschmann, Sublime strokes (Anm. 10), S. 29–32 sowie Kirsch (Anm. 10), S. 98. Zur musikalischen Prachtentfaltung als Ausdruck des Majestätisch-Erhabenen im religiösen Kontext vgl. Fritz (Anm. 12), S. 188 f.

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absurd, die Musik nimmt seine Worte nicht ernst. Auch der Arie des Spötters verleiht Telemann einen bissigen, spitzen Unterton. Bereits die Vortragsbezeichnung „Munter“ im ¾-Takt und die synkopisch einsetzenden Oberstimmen bereiten auf die Spottverse vor; Instrumentalritornell und Tenor lassen jegliche Kantabilität vermissen, vielmehr widersetzen sich ihre aus Repetitionen und Motivfetzen bestehenden Phrasen einer melodischen Formung. Rhetorisch wirkungsvoll hebt Telemann die Anfangsworte des Spötters „Jetzt weiß ich’s“ hervor, indem sie unbegleitet in betont einfach wirkendem absteigenden F-DurDreiklang (T. 16 f.) erklingen. Auffällig sind ferner das kurze Melisma bei „Lachen“ (T. 21, 39), die Betonung auf „täuschen“ durch das hohe f2 (vgl. T. 25 f.) und Koloraturen (T. 27 ff.), welche die die Ungläubigen demütigende Auffassung des Spötters unterstreichen, dass sie keine Menschen seien. Die Arie der Vernunft (Arie 8) ist als typische Sturm- und Meeresarie komponiert: Virtuose, mitreißende Repetitions- und Skalenfiguren in den Instrumenten und ein deklamierender Gesangsstil charakterisieren den Satz. Die Bildhaftigkeit der Verse wird tonmalerisch umgesetzt: So erklingt das Wanken und Fallen der Gebirge bis hin zur „untersten Tiefe“ im melodischen Abstieg über jeweils eine Oktave (vgl. T. 22 ff.); im B-Teil, der in b-Moll als gleichnamige Molltonika zur Grundtonart B-Dur harmonisch hervorgehoben wird, lässt Telemann die Erde mit entfesselt wirkenden Repetitionen in den Streichern „krachen“ (T. 75 ff.) und schließlich in die Tiefe, „ins traurige Grab“ versinken (T. 85 ff.). Der Komponist verwendet folglich eine für Oper und Oratorium der Barockzeit übliche tonmalerische Darstellung unterhaltsamen Charakters. Eine Verinnerlichung des von der Vernunft heraufbeschworenen apokalyptischen Naturgeschehens ist nicht intendiert. Genauso wenig bezweckt dieser Kompositionsstil, das Erhabene der Naturgewalten nachzuempfinden. Bis zu diesem Moment des Werkes wägt sich die Zuhörerschaft also in sicherer, gewohnter Distanz zum Bühnengeschehen. Der abschließende Chor der Gläubigen öffnet hingegen eine neue, auf den weiteren Verlauf der Handlung ausgerichtete Perspektive (Abb. 1). Der schwungvolle Beginn im 6∕8-Takt ist Ausdruck des Jauchzens, doch schon im fünften Takt gerät die Bewegung ins Stocken: Die Worte „dann wird dein majestät’scher Name“ deklamiert der Chor in gesetzten Vierteln und prägnanter Keilartikulation, der tänzerische Schwung wird damit vollends ausgebremst, durch die gleichförmige Viertelbewegung verliert der Zuhörer zudem jegliches Taktempfinden. Das unvermittelt Statische des Chores hat einen erhabenen Gestus32 und zieht die Zuhörerschaft in den Bann. Im Fokus stehen die durch die Vorstellung des majestätischen Gottes ausgelösten Gefühle des Schauers und 32 Zur erhabenen Wirkung von statischer Klanglichkeit vgl. Lütteken, Sprachverlust (Anm. 10), S. 220 f. sowie Hirschmann, Zweimal Heilig (Anm. 10), S. 89 f.

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Abb. 1: Georg Philipp Telemann: Der Tag des Gerichts, Chor 10, T. 1–16.

der Ehrfurcht. Nur für wenige Takte wird die anfängliche Bewegung wiederaufgenommen, bevor die Musik bei dem Wort „herrlich“ die Zuhörerschaft erneut ins Staunen versetzt, hier durch den linearen Aufstieg über der Silbe „herr-“, bei dem jeder Ton durch einen Triller akzentuiert wird und der sich durch den imitatorischen Einsatz der Stimmen verdichtet (vgl. T. 11 ff.). Diejenigen Verse, die vom doppelten Ausgang des Jüngsten Gerichts singen, werden solistisch vorge-

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tragen. Die Gegenüberstellung von hohen Stimmen (S, A, T) in aufwärtsstrebender, diatonischer Bewegung zu tiefen Stimmen (A, T, B) in abwärtsgehender, chromatischer Linienführung stellt eine musikalisch-strukturelle Analogie zur Heilsprophezeiung bzw. Unheilsankündigung dar (vgl. T. 31 ff., 47 ff.). Die Vertonung der ersten Betrachtung zeigt bereits, dass Telemann irdisches und endzeitliches Geschehen stilistisch voneinander abgrenzt. Dabei ist der allegorische Disput im bekannten opernhaften Stil gehalten, während die herausgestellten Momente des Erhabenen die eschatologische Perspektive andeuten.

3.2. Zweite Betrachtung: Die Wiederkunft Christi und das Ende der Welt

Die zweite Betrachtung vollzieht den zeitlichen Sprung hin zum Jüngsten Tag bzw. zu den diesen einleitenden apokalyptischen Geschehnissen, dem Vergehen der Erde (Apk 21,1) und der Wiederkunft Christi (Apk 22,12). Den Auftakt der Betrachtung bildet Christi Parusie, die Telemann mit einem plastisch gezeichneten Chorsatz ankündigt, der über eine rein bildhafte Darstellung aber hinausgeht (Nr. 11). Der bewegte Streichersatz mit Repetitionen, aufwirbelnden Drehfiguren, Skalen und Dreiklangsbrechungen erzeugt eine unruhige, angespannte und erwartungsvolle Stimmung, wobei der unvermittelte Einsatz der zweiten Violinen (T. 3) den Zuhörer aufschrecken lässt. Die imitativen Vokaleinsätze „Es rauscht“ (T. 6 ff.) sowie die nachfolgenden repetitiven Partien in der Art eines Sprechgesanges, welche die geräuschhaften Anteile der Artikulation von Versen wie „so rasseln stark rollende Wagen“ und „auf Blitzen getragen“ onomatopoetisch hervorheben (T. 11 ff.), deuten eine klangliche Imagination der Ankunft Christi an. Gleichwohl liegt der Fokus mehr auf dem inneren Erleben als auf der imaginierten Geräuschkulisse. Besonders wirkungsvoll gestaltet Telemann die Antwort auf die rhetorische Frage, wer da mit rollenden, klirrenden Wagen kommt, indem er die Bewegung für den Ausruf „Es ist Jesus!“ mit einer rhetorischen Pause unterbricht und in langsamer Bewegung in Vierteln und Halben fortfährt. Wieder ist es der plötzliche Bewegungskontrast, der in Staunen versetzt, noch bevor die Gewissheit über die Ankunft Christi ausgesprochen wird. Bemerkenswert sind außerdem die Harmonisierungen der Stelle mit Septvorhalt und Auflösung (T. 15) bzw. Sextakkord in weiter Lage (T. 32), die jeweils einen weichen, warmen, geradezu sehnsuchtsvollen Klang erzeugen. Ergriffene Freude und Erleichterung drängen die gespannte Atmosphäre des Satzes folglich kurzzeitig in den Hintergrund. Hierin liegt eine deutliche Interpretation des Komponisten, die Ankunft Christi aus der Perspektive der Gläubigen nicht als Moment der Furcht und des Schreckens darzustellen (Abb. 2). Auch die

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Abb. 2: Georg Philipp Telemann: Der Tag des Gerichts, Chor 11, T. 10–16.

Christus tragenden Blitze sind lediglich sanfte Wellen (T. 34 ff.) und das Zerreißen der Welten wird in der ersten Violine nur angedeutet (T. 45); das Ende der Welt manifestiert sich im Absterben der Musik, erneut in der Entschleunigung der Bewegung (T. 46 f.) und im ‚Ausblenden‘ der Stimmen am Schluss. Alers’ sich unmittelbar anschließendes Weltuntergangsszenario „Da sind sie, der Verwüstung Zeichen“ (Rez. 12) nutzt Telemann allerdings dazu, es als Accompagnato-Satz detailliert mit tonmalerisch-figurativen und harmonischen Mitteln auszugestalten. Beinahe jedes der apokalyptischen Bilder erfährt eine musikalische Darstellung: So wird das Auflösen der süßen Sphärenharmonie in „rauhen Mißklang“ mittels eines überraschenden dissonanten Akkords (T. 11– 13) versinnbildlicht, Zweiunddreißigstel-Tremoli zeichnen die vom Sturm aufgepeitschten Wolken nach (T. 14 f.), das Ächzen der Erde wird mit einem unvermittelten Septsprung von d nach c1 dargestellt, der aus seiner Bahn geworfene Mond wird durch Synkopen und Chromatik (T. 27 f.) illustriert und Zweiunddreißigstel-Girlanden der Violinen sowie repetitive Bewegungen von Viola und Bass beschreiben auf tonmalerische Weise die schäumenden Fluten und tobenden Wellen (T. 28–37). Es handelt sich um eine konventionelle tonmalerische, dabei von der Andacht sehr ergriffene Beschreibung der apokalyptischen Ereignisse. Einige wenige Momente verdeutlichen aber auch die Wirkung des Schreckensszenarios auf das Subjekt: Für Alers’ Verse „Noch nie empfund’ne Schauer füllen | mit unausstehlich herbem Schmerz | der Sterblichen beklomm’nes Herz“

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unterbricht Telemann die wilden Figurationen und begleitet die Worte schlicht mit Halteakkorden (vgl. T. 8 ff.). Insgesamt lässt sich beobachten, dass Telemanns musikalische Darstellung des Weltchaos in einem für die damalige Zuhörerschaft ästhetisch gewohnten Rahmen musiktheatraler Inszenierung verbleibt.33 Die nachfolgende Arie der Andacht „Da kreuzen verzehrende Blitze“ (Arie 13) setzt das apokalyptische Szenario mit Bezug auf Apk 16,18 fort. Die Andacht erscheint in Telemanns Vertonung nicht unmittelbar in das Geschehen involviert, denn die Vortragsanweisungen „Trotzig“ und „Allegro deciso“ sowie der 6∕4-Takt bewirken eine Festigkeit des Ausdrucks. Diese Art, das Geschehen in Distanz zur Zuhörerschaft zu rücken, hat den Effekt, dass es nicht mehr nur als furchtbar und schaurig verstanden wird, sondern als objektives Zeichen der Allmacht Gottes am Ende der Zeiten.34 Im B-Teil allerdings geht Telemann dem Bild des „rasenden Sturmwindes“ nach (vgl. die Repetitionen in den Streichern, T. 42 ff.), um die Drohgebärde zu veranschaulichen. Die abschließende Partie der Figur Glaube wechselt von der das Geschehen beschreibenden Ebene hin zu einer die Ereignisse deutenden Ebene, dies sowohl in Bezug auf die Gottlosen (vgl. Rez. 14) als auch auf sich selbst (vgl. Arioso 15). Das Rezitativ ist Mahnung an die Ungläubigen, wobei Telemann – wohl vornehmlich aus Gründen der musikalischen Ausgewogenheit und der Gattungsästhetik35 – auf Tonmalerei verzichtet. Das Arioso trifft die Zuhörerschaft unerwartet: Nachdem der Glaube den Gottlosen das Höllenfeuer prophezeit hat, verlässt er die apokalyptische Szene und „schwingt sich empor“ in himmlische Sphären. Sich seines Heils gewiss, wird ihm bereits der Blick in den Himmel und auf Christus eröffnet, wodurch ein Gefühl der Seligkeit heraufbeschworen wird. Dieses Moment der Transzendierung schlägt die Brücke zu den weiteren Betrachtungen. Telemann setzt die verklärte Szene mit einem luftig-zarten Gesang der Allegorie Glaube im 6∕8-Takt um. Die in Dreiklängen aufsteigende Melodieführung sowohl in der Vokalstimme als auch in den Streichern versinnbildlicht 33 Hierin zeigt sich das für das Musikverständnis des 18. Jahrhunderts typische „Spannungsverhältnis zwischen wirkungsvoller Realistik der musikalischen Darstellung und dem Kunstcharakter der Musik, der nicht preisgegeben werden darf“. Hartmut Schick: Geordnetes Chaos. Zur musikalischen Darstellung von Naturkatastrophen im 18. und 19. Jahrhundert. In: AngstBilderSchauLust. Katastrophenerfahrungen in Kunst, Musik und Theater. Hg. von Jürgen Schläder, Regina Wohlfarth. Berlin 2007, S. 105–124, hier S. 108. 34 Es besteht eine grundsätzliche Differenz zwischen dem objektiven Erhabenen, das dem fokussierten Gegenstand selbst musikalische Gestalt verleiht, und dem subjektiven Erhabenen, das den Gemütszustand des innerlich bewegten Hörers schildert. Vgl. Fritz (Anm. 12), S. 190. 35 Der maßvolle Umgang mit Formen musikalischer Bildlichkeit und Tonmalerei als Mitteln der Textausdeutung war eine Forderung der zeitgenössischen Musikästhetik. Vgl. Sulzer: Art. Gemähld. In: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig 1771, S. 455 f., hier S. 455.

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den ersehnten Aufstieg der gläubigen Seele in den Himmel. Ihr Wunsch wird in der Musik schon Realität.

3.3. Dritte Betrachtung: Auferweckung der Toten und Gericht

Die dritte Betrachtung beschreibt die Gerichtsankündigung durch den Erzengel und Christi Richtersprüche. Darüber hinaus lässt Alers die Seliggesprochenen und Verdammten zu Wort kommen. Der Beginn der dritten Betrachtung wird von der Klangsymbolik des Jüngsten Gerichts dominiert, die Alers in seiner Dichtung explizit benennt: die Auferweckung der Toten durch Posaune bzw. Trompete36 (Rez. 16) und die Eröffnung des Gerichts durch Posaunen- und Donnerklang (Rez. 18).37 Telemann bedient sich traditioneller Mittel, um eine musikalische Signalwirkung zu erzeugen: Fanfaren erklingen in Repetitionen und Dreiklangsmotiven, dabei greift Telemann auf Hörner zurück.38 Die bereits in der Einleitung des Werkes – dort in den Trompetenstimmen – ertönenden Fanfaren lassen sich im Rückblick folglich als ‚Motto‘ verstehen und fungieren zudem einheitsstiftend für die Gesamtdramaturgie des Werkes. Auffällig ist, dass Telemann allein auf die Signalwirkung der Bläserklänge und weiterer biblisch bezeugter Klänge wie der Stimme Gottes abhebt, nicht aber auf eine klangliche Vergegenwärtigung von Feldgeschrei (Rez. 16, T. 19 f.: „sein [Gottes] Ton ist Feldgeschrei“), „tösendem Posaunenklang“ (Rez. 18, T. 14), geschweige denn auf eine musiktheatrale Darstellung der mit der Szene assoziierten existenziellen Dramatik.39 Die Auferweckung der Toten und die Ankündigung des Gerichtsbeginns erklingen vielmehr in feierlicher Schlichtheit und in erhabenem, würdevollem Ernst. Die klaren musikalischen Strukturen sowie die Sparsamkeit der Mittel demonstrieren, dass das endzeitliche Geschehen ganz in Gottes Händen liegt und nach seinem Plan verläuft. Die Szene erweist sich gerade in ihrer Schlichtheit als jeglichem irdischen Fassungsvermögen enthoben (Abb. 3).40

36 Telemann, Der Tag des Gerichts (Anm. 20), S. 10, Rez. 16 (Die Andacht), V. 6 ff. 37 Telemann, Der Tag des Gerichts (Anm. 20), S. 11, Rez. 18 (Die Andacht), V. 11 f.: „Posaunen tösen! Donner sprechen! | Nun will er segnen, er will rächen!“ 38 Zur Darstellung der biblischen Posaunen mit zeitgenössischen Instrumenten vgl. den Beitrag von Oliver Huck im vorliegenden Band. 39 Zu fragen wäre, ob sich Telemann in dieser zurückhaltenden Inszenierung der apokalyptischen Vorgänge von anderen Weltgerichtsoratorien und Vertonungen des Requiems unterscheidet. Vgl. hierzu Huck im vorliegenden Band. 40 Zur Simplizität als Ausdrucksmittel der Erhabenheit vgl. Hirschmann, Zweimal Heilig (Anm. 10), S. 90; Lütteken, Sprachverlust (Anm. 10), S. 219–220 sowie Fritz (Anm. 12), S. 191.

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Abb. 3: Georg Philipp Telemann: Der Tag des Gerichts, Rez. 18, T. 13–19.

Im Zentrum der Weltgerichtsszene stehen die Richtersprüche Christi. Telemann gestaltet sie gegensätzlich, hält sie aber kurz und verzichtet auf übermäßige Theatralik. Auffällig ist die in zeitgenössischen Oratorien seltene Nähe zu Tanzsätzen, hier Menuett und Sarabande, welche die besondere Stellung der Sätze unterstreicht.41 Die Arien verklanglichen nicht nur die gegensätzlichen Urteilssprüche als solche, sondern auch die darin zum Ausdruck kommenden konträren Gott-Mensch-Beziehungen. Für die Gläubigen ist das Gericht Heilszusage, der vollendete Beweis der Liebe Gottes,42 den Ungläubigen hingegen 41 Raymond Dittrich: Musik zum Ende der Zeiten. Aspekte der Eschatologie in der Musikgeschichte. In: Endzeiten – Wendezeiten? Chiliasmus in Kirche und Theologie. 4. Symposium der deutschen Territorialgeschichtskirchenvereine, Rothenburg o. d. Tauber, 25. bis 27. Juli 1999. Nürnberg 2000 (Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 69 = Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte 4), S. 70–96, hier S. 80. 42 Darin offenbart sich die lutherische Überzeugung, dass die an Christus Glaubenden bereits gerichtet, das heißt errettet sind: Der „Christus-Glaube ist bereits heilvoll vollzogenes Gericht (Joh 5,24) […]“. Gerhard Sauter: Art. Jüngstes Gericht. II. Dogmatisch. In: Religion in Geschichte und Gegenwart4 4 (2001), Sp. 711 f., hier Sp. 711.

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wird die endgültige Ablehnung als Antwort auf ihre Gottesferne besiegelt. Während der Komponist dem Gottessohn für die Seligsprechung der Gläubigen (Arie 19) eine warme, innige, den Menschen erstaunlich zugewandte Stimme verleiht, wie die melodiöse und durch die solistische Oboe unterstützte Melodieführung nahelegt, erfolgt die Verurteilung der Gottlosen (Arie 24) in einer äußerst streng, distanziert und heroisch wirkenden Deklamation, die durch den punktierten Rhythmus und das in der Vokalmusik des 18. Jahrhunderts für Gravität und Ernst stehende Sarabanden-Metrum43 verstärkt wird (Abb. 4). Das in Arie 19 vermittelte Christus-Bild, das sich in keiner Weise mit seinem gewaltigen Erscheinen in der zweiten Betrachtung zusammendenken lässt, hat an dieser Stelle etwas ungemein Tröstliches und Hoffnungsvolles. Der erhabene Duktus der Verurteilungsarie hingegen erschüttert und verängstigt in ihrer offensiven Ablehnung der Ungläubigen – vgl. etwa die oftmalige Wiederholung „hinweg!“ –, handelt es sich hier doch um die letztgültige Festlegung auf ein Leben im Himmel oder in der Hölle. Diesen Effekt strebt Telemann in seiner Inszenierung der Szene folglich bewusst an und zeigt darin eine deutliche kritische Positionierung zu den von Alers polemisch angegriffenen Freigeistern. Alers lässt auch die zu Richtenden bzw. Gerichteten in Chören zu Wort kommen. Er differenziert die Chorsätze nicht nur im Ausdruck, sondern auch in ihrer grundlegenden Gestalt. Bei dem Chor der Laster, der kurz vor der Verurteilung durch Christus erklingt, handelt es sich um einen Klagechor. Die traditionell mit negativen Konnotationen verbundene Tonart f-Moll44 ist möglicherweise auch als Symbol der Gottesferne der Frevler zu verstehen, ist sie doch weit entfernt von der Grundtonart D-Dur des Oratoriums. Charakteristisch für den Chor ist der durchweg seufzende Gestus, wobei Telemann für die wehklagenden, stöhnenden Ausrufe „Ach! Hülfe! Weh uns! Rat!“ auf jegliche melodische Formung verzichtet und diese in synkopisch aufsteigende Harmoniefolgen setzt (T. 1–14). Auch die folgenden Verse „Ihr Hügel, ihr Berge, stürzt über uns her“ (T. 16 ff.) sind mit Quart-, Quint- und Oktavsprüngen sowie Repetitionen mehr dem Rufen und Schreien nachempfundene Deklamation als Gesang. Die Modulation nach b-Moll bei den Worten „Ersäuf uns“ (T. 25 ff.) markiert den äußersten Tiefpunkt des Chorsatzes. Der Chor wird zudem von zwei höchst aufgewühlten, angesichts der nun gewissen Verdammung verzweifelten Secco-Rezitativen des Unglaubens umrahmt (Rez. 21, 23). Dass der Unglaube an dieser

43 Vgl. Rainer Gstrein: Art. Sarabande. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart2: Allgemeine Enzyklopädie der Musik 8 (1998), Sp. 991–1002, hier Sp. 996. 44 Vgl. Dittrich (Anm. 41), S. 79 sowie Wolfgang Auhagen: Tonartencharakteristik und Affektenlehre in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Telemann, der musikalische Maler. TelemannKompositionen im Notenarchiv der Sing-Akademie zu Berlin. Hg. von Carsten Lange, Brit Reipsch. Hildesheim 2010 (Telemann-Konferenzberichte 15), S. 50–55, hier S. 53.

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Abb. 4: Georg Philipp Telemann: Der Tag des Gerichts, Arie 24 Jesus „Hinweg von meinem Angesichte“, T. 1–11.

Stelle des Oratoriums noch einmal eine Stimme erhält, hat einen besonders erschütternden Effekt. Denn sein anfänglich artikulierter, heiter-ironischer Spott (vgl. Prolog) verkehrt sich nun ins völlige Gegenteil: Hoffnungslos ruft er sich und seine Genossen zur Flucht auf; Telemann stellt seine Verzweiflung durch die sechsmalige Aufforderung „Flieht“ heraus (Rez. 21, T. 3 f.). Die „zerschmet-

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ternde“, „Donnerkeilen gleichende“ Richterstimme Christi, die er vernimmt, wird vom Komponisten überdies durch plötzlich einsetzende, eine erschütternde Wirkung hervorrufende Streicherkaskaden illustriert (Rez. 23, T. 6 f.). Einen Gegensatz zu den verzweifelten Klagen der Ungläubigen bildet die Antwort der gläubigen Gemeinde auf ihre Seligsprechung, die Alers bereits als Lobgesang inszeniert, indem er Verse aus dem an Christus gerichteten zweiten Abschnitt des Te Deum in Martin Luthers deutscher Übersetzung „Herr Gott, dich loben wir“45 zitiert. Es ist der einzige als „Choral“ bezeichnete Satz in diesem Werk. Grundsätzlich spielten Choräle in der zeitgenössischen protestantischen Oratorienpraxis, auch im Konzert, noch immer eine Rolle, auch wenn sie tendenziell einen weniger großen Raum einnahmen als in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.46 Beim Te Deum handelt es sich jedoch nicht um den Typus des reformatorischen Kirchenlieds, den man üblicherweise in Oratorien integrierte, etwa als Antwort der Gemeinde auf eine dargestellte biblische Szene, als Reflexion und persönliche Aneignung des Geschehens. Die von Alers intendierte Gewichtigkeit des Te Deum ist als viel tief- und übergreifender zu verstehen, handelte es sich hierbei doch um einen der ältesten christlichen liturgischen Lobpreis- und Huldigungsgesänge, dem seit frühester Zeit der Rang des Glaubensbekenntnisses zukam.47 Das Verständnis des Te Deum als eines zeitlos wahren und allgemeingültigen Gesangs bestand auch nach der Reformation konfessionsübergreifend. Luther schätzte den Lobgesang ganz besonders als Gott lobenden und den Glauben bekennenden Gesang.48 Er schuf daher eine deutsche Paraphrase, die als Wechselgesang nach der Vorlage der altkirchlichen Melodie in eines der ersten reformatorischen Gesangbücher, das Klug’sche Gesangbuch von 1529, integriert wurde.49 Sie war die Basis für eine bis weit ins 18. Jahrhundert anhaltende Pflege des Te Deum im Luthertum, auch in Hamburg, wie die überlieferten Quellen zu zeitgenössischen Hamburger Gottesdiensten und Fest-

45 Telemann, Der Tag des Gerichts (Anm. 20), S. 11, Chor 20 (Chor der Gläubigen). 46 In protestantischen Oratorien des frühen und mittleren 18. Jahrhunderts bildeten Choräle einen wesentlichen Bestandteil. Sie waren ein Medium konfessioneller Selbstvergewisserung und stifteten konfessionelle Identität. 47 Hans Christian Drömann: Art. 191 Herr Gott, dich loben wir (Te Deum). In: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch 24. Hg. von Gerhard Hahn, Jürgen Henkys. Göttingen 2013 (Handbuch zum evangelischen Gesangbuch 3), S. 107–115, hier S. 108. 48 Vgl. ebd., S. 108 f. sowie Karl Christian Thust: Art. 191 Herr Gott, dich loben wir (Te Deum). In: Ders.: Die Lieder des Evangelischen Gesangbuchs: Kommentar zu Entstehung, Text und Musik. Bd. 1. Kassel 2012, S. 337–340, hier S. 337. 49 Da von der Erstausgabe von 1529 kein Exemplar erhalten ist, gilt als erste Quelle die Ausgabe von 1533: Martin Luther: Geistliche lieder auffs new gebessert zu Wittemberg. Faks.-Druck nach dem einzigen erhaltenen Exemplar (2. Aufl.) der Lutherhalle zu Wittenberg 1533. Erg. und hg. von Konrad Ameln. Kassel 1954, S. 52–59.

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musiken vielfach belegen.50 Ein prominentes, in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Oratorium Der Tag des Gerichts stehendes Beispiel war die oben erwähnte Festmusik zur Wiedereinweihung der Michaeliskirche 1762.51 Den Zuhörern des Oratorienkonzerts mag die Melodie des Te Deum, die Telemann für die von Alers zitierten Verse verwendete, folglich bekannt gewesen sein. Dennoch war es vermutlich eine Überraschung, den altehrwürdigen Choral im Oratorienkonzert aufgeführt zu hören und damit die Imitation liturgischer Praxis auf der Konzertbühne zu erleben. Allerdings verfremdet Telemann die übliche Faktur des Gesanges, indem er den im liturgischen Kontext zwischen Schola und Gemeinde praktizierten Wechselgesang auflöst und damit musikalisch-strukturell vereinfacht: Die alternierenden Melodieteile werden zu einem vierstimmigen Chor vereint und erklingen zudem viermal in jeweils unterschiedlichen, zwischen modalen und dur-moll-tonalen Wendungen changierenden Harmonisierungen. Zwar bietet die modale Melodie nur eingeschränkte Möglichkeiten einer der Tonsprache des Werkes angepassten Harmonisierung, doch geht es Telemann offensichtlich darum, ältere und zeitgenössische Klanglichkeit zu verschränken, wie die stetig leicht variierten Harmonisierungen der gleichbleibenden Melodie zeigen (Abb. 5).52 Über die textlich-musikalisch liturgischen Verweise hinaus erzeugt die Verbindung von stilisiert archaischen Klängen, gleichförmigem Rhythmus und melodisch-repetitivem Element im betriebsamen musikalischen Gesamtzusammenhang des Werkes ein Gefühl von Zeit-, Bewegungs- und Schwerelosigkeit. Der Choral ist dem ihn umgebenden musikalischen Geschehen völlig entrückt und vermag die Dimension von Ewigkeit in erhabenem Duktus zu antizipieren.

50 Vgl. Jürgen Neubacher: Georg Philipp Telemanns Hamburger Kirchenmusik und ihre Aufführungsbedingungen (1721–1767). Organisationsstrukturen, Musiker, Besetzungspraktiken. Hildesheim u. a. 22012 (Magdeburger Telemann-Studien 20), S. 68 f. sowie Joachim Kremer: Das norddeutsche Kantorat im 18. Jahrhundert. Kassel 1995 (Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 43), S. 162 f. 51 Vgl. Hirschmann, Vorwort (Anm. 7), S. XII–XVII. 52 In der Einweihungsmusik von 1762 komponiert Telemann die betreffende Stelle des in Gänze erklingenden „Herr Gott dich loben wir“ immer in derselben Harmonisierung. Vgl. Telemann: Musik zur Einweihung der Großen St. Michaeliskirche in Hamburg 1762, TVWV 2:12. In: Ders.: Musiken zu Kircheneinweihungen II (Anm. 7), 16. Choral, S. 288–306.

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3.4. Vierte Betrachtung: Der Lobgesang im Himmel

Abb. 5: Georg Philipp Telemann: Der Tag des Gerichts, Choral 20 „Du Ehren König Jesu Christ“, T. 1–26.

Der inhaltliche Höhepunkt des Werkes ist nicht das Weltgericht selbst, wie es der Titel suggeriert, sondern der ewige Lobgesang der Engel im Himmel, in den die Erretteten nun in Ewigkeit einzustimmen vermögen. Neben diesen kollektiven Glaubensbekundungen erhalten die erretteten Seelen in drei Solo-Ariosi den Raum (Nr. 27, 29, 31), ihre individuelle Heilserfahrung des ewigen Lebens zum Ausdruck zu bringen. Es handelt sich hierbei um höchst intime, lyrische Sätze in verklärtem Ton. Telemann komponiert sie in tänzerischen Metren und bewegten Tempi, unterlegt ihren Worten schlichte, gefühlvolle oder auch freudig-expressive Melodien. Die solistisch geführten Instrumente wie Gambe (Arioso 27), Violinen (Arioso 29) und Oboe und Fagott (Arioso 31) verstärken die verklärte Aura. Bei den Chören ist zu unterscheiden zwischen den quasi-liturgischen „Heilig“-Akklamationen und den imposanten Jubelchören. Die „Heilig“-Chöre schaffen, ähnlich wie der Te-Deum-Choral, eine dem Irdischen entrückte, sphärische und transzendente Atmosphäre. Das „Heilig“ bzw. Sanctus ist neben dem

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Gloria der prototypische Engelsgesang, in den die Gläubigen in jeder Messfeier einzustimmen und an der himmlischen Liturgie teilzunehmen vermögen.53 Daneben sind „Heilig“-Akklamationen auch im Te Deum enthalten. Daraus erklärt sich, dass Telemann für die „Heilig“-Rufe (Chor 26, 28, 30) erneut auf Melodieteile des Te Deum zurückgreift. Die schlichten Harmonisierungen mit Grundund Sextakkorden erzeugen wiederum eine altertümliche Klanglichkeit, insbesondere die plagale Schlusswendung. Telemann verstärkt zusätzlich den schwebenden Charakter dieses Teils, indem er die Kadenz e-h im Bass durch die Harmonisierung des zweitletzten Tons der Melodie in G statt e um eine Zählzeit hinauszögert und den Plagalschluss über einen Halteton h1 in der Oberstimme setzt. Des Weiteren bilden die homophonen, ganztaktigen Fortschreitungen der Chorstimmen in zwei Sätzen den Überchor zu einem solistischen Bass, der in der Funktion des Johannes Verse aus der Offenbarung zitiert (Chor 26: Apk 12,10; Chor 30: Apk 5,12). Durch die musikalische Synchronität der beiden in der Dichtung getrennten Textteile erscheint die von Alers intendierte inhaltlich-liturgische Verdichtung folglich noch konzentrierter (Abb. 6). Die Gewichtigkeit der Chöre unterstreicht Telemann ferner, indem er die Vokalstimmen durch das Collaparte-Spiel der Oboen und Hörner unterstützt und im dritten „Heilig“-Chor (Chor 30) für die letzte Akklamation als klangliche Steigerung zusätzlich Pauken und Trompeten hinzuzieht. Schließlich fällt für die Gesamtwirkung dieser Stellen die im Vergleich zum üblichen Te-Deum-Gesang äußerst verlangsamte, sphärisch anmutende Bewegung ins Gewicht. Von einer ästhetischen Verselbständigung des Chorgesangs kann aufgrund der liturgischen Fundierung des Te Deum sowie des biblischen Ursprungs der „Heilig“-Akklamationen (vgl. Jes 6,3; Apk 4,8) aber nicht die Rede sein. Vielmehr wird der Gesang selbst transzendiert, um den erhabenen Inhalt angemessen auszudrücken.54 Die kompositorische Strategie, einen „Heilig“-Chor derart flächig und statisch zu vertonen, lässt sich überdies schon in Telemanns Festmusik zur Einweihung der Kirche St. Gertrud 1747 beobachten; dort handelt es sich allerdings um eine melodisch-harmonische Neufassung der Akklamation.55 Die liturgischen Zitate und Bezugnahmen stellen im Rahmen von Telemanns Oratorienschaffen eine Besonderheit dar. Sie sind in Alers’ Dichtung angelegt und werden vom Komponisten konsequent in eine Musiksprache integriert, die 53 Vgl. Reinhold Hammerstein: Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters. Bern 21990, S. 36–38. 54 Eine für erhabene Stoffe angemessene Kompositionsweise fordert z. B. Johann Adolph Scheibe (vgl. Critischer Musicus, 1737). Vgl. Fritz (Anm. 12), S. 185. 55 Vgl. Georg Philipp Telemann: Musik zur Einweihung der Heiligen Dreieinigkeitskirche in St. Georg 1747 TVWV 2:6. In: Ders.: Musiken zu Kircheneinweihungen. Hg. von Wolfgang Hirschmann. Kassel u. a. 2004 (Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke 35), Vor der Predigt, 1. Coro (Dictum), S. 165–169 sowie Hirschmann, Zweimal Heilig (Anm. 10), S. 88 f.

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Abb. 6: Georg Philipp Telemann: Der Tag des Gerichts, Arioso und Chor 30 (Johannes und Chor der Seligen), T. 17–24.

sich mit der zeitgenössischen ästhetischen Kategorie des Erhabenen nicht nur fassen lässt,56 sondern diese zur Bedingung hat, um musikalisch die himmlische Liturgie zu antizipieren. Eine derartige musikalisch-liturgische Entgrenzung ließ sich mit der zeitgenössischen kirchenmusikalischen Klangsprache, mit gemischt homophon-polyphonen Chören, Fugen oder kontrapunktischen Sätzen im stile antico nicht erreichen. Wohl aber konnten auch solche Chöre durch klangliche Überwältigung eine erhabene Wirkung entfalten, wie Telemanns grandiose, prachtvolle Rahmensätze der vierten Betrachtung zeigen. Trompeten und Pauken unterstützen den triumphalen, feierlich-beschwingten, zugleich ehrwürdigen und weit über das Irdische hinausweisenden Lobpreis und Jubel des Chors der Engel und Auserwählten (Chor 25), des Chors der Seligen (Chor 32) und der Chöre der Himmlischen (Chor 34). Der erste Chor der vierten Betrachtung (Chor 25), der zum gemeinsamen Lobgesang im „harmonischen Chor“ aufruft, zeichnet sich durch äußerste Beschwingtheit im 2∕4-Takt aus. Die erhebende, jubilierende „Schallet“-Figur durchzieht fast den ganzen Satz. Des Weiteren stechen die Unisono-Passagen hervor (vgl. T. 21 ff., T. 56 ff.), die offensichtlich auf das una voce des Engelsgesangs verweisen.57 Auch im zweitletzten Chor, dem Chor der Seligen (Chor 32), finden sich derartige Unisono-Partien (vgl. T. 15 f.). 56 Für Johann Friedrich Reichardt war der schlichte und langsam fortschreitende Choralgesang Inbegriff des Erhabenen. Vgl. Fritz (Anm. 12), S. 187 f. 57 Hammerstein (Anm. 53), S. 44–47.

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Dieser Satz erhält bereits durch die imposante „Amen“-Fuge eine Schlusswirkung (vgl. T. 31 ff.), die einzige Fuge dieses Werkes, der Telemann zudem mit einem Zitat aus Händels Halleluja-Chor aus dem Messias (vgl. T. 46) einen besonderen Höhepunkt verleiht. Als letzte Steigerungsmöglichkeit behält sich der Komponist, auf der Grundlage der Dichtung, den mehrchörigen Engelsgesang vor. Mit Worten aus Ps 118,16 („Die Rechte des Herrn ist erhöhet!“) besingen die Chöre im Tutti refrainartig die Herrlichkeit Gottes58 und rufen zum ewigen Musizieren vor Gottes Angesicht und im Himmel auf .59 Dieser Lobpreis hat gar etwas Heiter-Unbekümmertes und besticht durch einen leichtfüßig-tänzerischen Gestus. Dass Gottes Herrlichkeit nicht nur in der Seligpreisung der Gläubigen offenbar geworden ist, sondern auch in der Verdammung der Frevler, drücken die solistisch erklingenden Verse aus. Doch trüben sie den euphorischen, hochgestimmten Gesamtduktus der Musik kaum ein.

4. Fazit: Das Erhabene als Himmelsschau im Oratorienkonzert Telemann verdeutlicht die existenzielle Spannung, die das Sujet des Jüngsten Gerichts in sich trägt und von Alers extensiv ausgestaltet wird, durch musikdramaturgische und -stilistische Kontraste, die zum einen auf das Gerichtsgeschehen selbst ausgerichtet sind, zum anderen die grundsätzliche Andersartigkeit von noch irdisch-weltlichem Geschehen und dem Anbruch der Ewigkeit verdeutlichen. Telemann geht der Drastik des Textes aber nicht in allen Details nach, etwa hinsichtlich tonmalerischer Gestaltungsweisen. Dies hat zum einen musikdramaturgische und gattungsästhetische Gründe,60 zum anderen scheint es aber auch darum zu gehen, durch eine ausgewogene und nicht überzeichnete Theatralik die harte Anklage gegen die Ungläubigen zu objektivieren. Dem Komponisten ist primär nicht an einer Schreckensmusik zur Einschüchterung der Freigeister gelegen, sondern an einer allgemeingültigen, auf das Zukünftige ausgerichteten Glaubensaussage, die Heilszusage und Verdammung beinhaltet und sowohl in jener Zeit aktuell ist als auch zeitlose Gültigkeit beansprucht. Auch wenn Telemann den Unglauben im Prolog musikalisch ironisiert, ihn und die Ungläubigen in der dritten Betrachtung mit einer doch unbarmherzig wirkenden Musik (vgl. Jesus-Arie) aburteilt und ihre Klage wirkungsvoll nach den musikdramaturgischen Konventionen des Oratoriums in Szene setzt, scheint 58 Telemann, Der Tag des Gerichts (Anm. 20), S. 15, Chor 34 (Chöre der Himmlischen), V. 1–2, 11 f., 21 f. 59 Telemann, Der Tag des Gerichts (Anm. 20), S. 15, Chor 34 (Chöre der Himmlischen), V. 13: „Posaunet vor dem Sieger her!“, V. 19 f.: „Und singt dem neu bevölkerten Himmel | die ewigen Hymnen vor.“ 60 S. o. Anm. 35.

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sein musikalisches Hauptaugenmerk doch darauf zu liegen, für die alles übersteigende Vision von Himmel und Erlösung eine musikalische Sprache der Überhöhung und Transzendierung zu kreieren, um die Musik der himmlischen Kirche zu antizipieren. Der erhabene Stoff, die biblische Schau auf das ewige Leben, animiert Telemann zu einem auf verschiedenen Ebenen erschütternden und überwältigenden Klanggemälde. Der gemeinsame Lobpreis in festlichen Chören, der quasi-liturgische Gesang und die persönlichen Bekenntnisse werden musikalisch ausdifferenziert. Im Blick auf das Gesamtwerk liegt das musikalische Schwergewicht folglich auf jenen Passagen, welche die Heilsbotschaft des Jüngsten Gerichts nahebringen. Gerade die Musik, mitsamt ihren grandiosen und intimen Momenten, erzeugt das Gefühl, über jeden Glaubenszweifel erhaben zu sein. Sie versteht sich als Glaubensstärkung der ‚treuen Knechte‘ Jesu, die im Zeitalter der Aufklärung möglicherweise einer besonderen religiösen Rückversicherung bedurften. Mit dem musikalisch Erhabenen verfolgt Telemann somit eine religiöse Botschaft. Im Hinblick auf den Konzertkontext mag man zwar eine ästhetische Verselbständigung der Stilmittel nicht ausschließen, doch sind die liturgischen Implikationen des Werkes so prominent, dass Ästhetik und Religion nicht gegeneinander aufzuwerten sind, sondern verbunden werden. Die Anklänge an Te Deum und Sanctus haben Lobpreis- und Bekenntnisfunktion in Bezug auf die Gläubigen, zudem sind sie implizit an die Ungläubigen als Mahnung zur Umkehr adressiert. Mit dem Versuch, die zukünftige, unvorstellbare Musik des Himmels hörbar zu machen, stand Telemann in einer langen, liturgisch-kirchenmusikalischen Tradition. Derartige Musik aber in den Konzertsaal zu bringen, dürfte in jener Zeit etwas Neues gewesen sein und die Zuhörerschaft überwältigt und erschüttert haben. Zudem sprengte dieser Ansatz sowohl die Normen des dramatischen als auch des lyrisch-empfindsamen Oratoriums. Tendenziell orientierte sich Telemann stärker am dramatischen Typus, was auch durch die handlungsorientierte Dichtung bedingt war.61 Diesen konventionellen Ausdrucksmitteln ordnete er aber eine dezidiert an den Themenkreis des Jüngsten Gerichts und des ewigen Lebens gebundene Ebene über. Es wäre eine lohnenswerte Aufgabe zukünftiger Forschung, zu untersuchen, inwieweit Telemann mit einer derart differenzierten Inszenierung dieser existenziellen Thematik Impulse für die in den folgenden Jahrzehnten so populär werdenden Weltgerichtsoratorien setzte.62

61 Lyrisch-empfindsame Momente ergeben sich in Dichtung und Musik nur punktuell, so etwa, wenn es um die individuellen Heilserfahrungen der Seligen geht. 62 Zu nennen sind u. a. Johann Christoph Kuhnau: Weltgericht (1784), Hardenack Otto Zinck: Weltgericht (um 1780), Antonio Salieri: Le jugement dernier (1787), Joseph Eybler: Die letzten Dinge (1810), Louis Spohr: Das jüngste Gericht (1812), Friedrich Schneider: Weltgericht (1820) und Louis Spohr: Die letzten Dinge (1826).

Constantin Cremer

„Wo ist die Verheißung seiner Zukunfft?“ (2Petr 3,4). Überlegungen zum frühneuzeitlichen Verständnis des Jüngsten Gerichts anhand von Texten Erhard Erhardts und Martin Luthers

Fragt man nach der Erwartung des Jüngsten Gerichts, so wird man zunächst mit Blick auf die Gegenwart zu einem etwas ambivalenten Urteil kommen. Während es gerade im Zusammenhang der Corona-Pandemie in evangelikalen Kreisen zu einem Wiederaufleben apokalyptischer Endzeiterwartungen gekommen ist, spielt diese in den evangelischen Landeskirchen kaum noch eine Rolle. So unterscheidet Johannes Wischmeyer, Referent für Studien- und Reformfragen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), in einem Online-Artikel zum religiösen Umgang mit der Corona-Pandemie die öffentliche Kommunikation des kirchlichen ‚Mainstreams‘ deutlich von der Verkündigungspraxis kleinerer Freikirchen.1 Wie vorläufige Analysen von Online-Predigten während der Zeit des ersten Lockdowns im März und April 2020 zeigten, sei die landeskirchliche Verkündigung überwiegend auf den seelsorgerlichen Zuspruch ausgerichtet gewesen. Im Zentrum hätten dabei Ideen von Gemeinschaft und gesellschaftlicher Solidarität gestanden sowie der Wunsch, dem Menschen in der Krise religiösen Beistand zu leisten.2 Biblische oder dogmatische Deutungsmuster, bei denen die Pandemie im übergeordneten Sinn als Ausdruck des Zorns oder der Strafe Got1 Vgl. Johannes Wischmeyer: Umgang der Religionen mit der Corona-Krise. Evangelische Kirchen und ihr Umfeld. Online abrufbar unter: www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/schwerpunkte/epidemien/04_thema_verschwoerung.html (abgerufen am 27.9.2021). In etwas veränderter Form ist dieser Artikel auch im Deutschen Pfarrerblatt erschienen. Vgl. ders.: Die evangelische Kirche in der Corona-Krise. In: Deutsches Pfarrerblatt 9 (2020). Online als PDF abrufbar unter: www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/aktuelle-beitraege?tx_pvpfarrerblatt_pi1%5 Baction%5D=print&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bcontroller%5D=Item&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5 Bitem%5D=5055&cHash=b419bce937fed90065587a88c10f52ac (abgerufen am 27.9.2021). 2 „Seit Beginn der Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das öffentliche Leben in Deutschland stand der seelsorgerliche Zuspruch im Zentrum der öffentlichen Kommunikation kirchlicher Repräsentanten auf allen Ebenen. Die Versuche religiöser Sinngebung konzentrierten sich überwiegend auf das glaubende Subjekt mit seiner Erfahrung von Vereinsamung und Verlust der Handlungsmacht.“ Wischmeyer (Anm. 1), S. 1.

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tes, gar als Vorläuferin der Endzeit und des Jüngsten Gerichts zu verstehen wäre, waren somit kaum von Bedeutung und nur an den konservativsten Rändern der Landeskirchen oder im evangelikalen Spektrum greifbar.3 Dieser Befund dürfte sich sachlich mit den Ergebnissen decken, welche die Umfragen großer Meinungsforschungsinstitute seit Jahren liefern. Nimmt die Bedeutung von Glaube und Religion gesamtgesellschaftlich ohnehin seit Jahrzehnten ab, so verändert sich auch die Bindung an traditionelle, biblische Glaubensinhalte.4 In einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) vom Jahr 2012 gaben nur noch 30 % der Befragten in Westdeutschland an, an die Auferstehung der Toten oder das Reich Gottes zu glauben, nur noch 21 % glaubten an das Jüngste Gericht.5 Wie zuletzt eine Spiegel-Umfrage vom März 2019 zeigte, gilt dieser Bedeutungsverlust aber nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch für die noch existierenden Kirchenmitglieder. So waren es nur 3 Für das evangelikale Spektrum unterscheidet Wischmeyer zwischen zwei Deutungsansätzen. Dabei bestehe eine „extreme Deutung“ darin, die Pandemie in den Ablauf der Endzeitereignisse einzuordnen, während eine zweite (etwas mildere) Deutung darauf ziele, in der Krise eine „göttlich verursachte oder zugelassene Katastrophe“ zu sehen. Die Mehrheit der Freikirchen habe sich jedoch von dieser extremen Form apokalyptischer Deutung distanziert. Vgl. Wischmeyer (Anm. 1), S. 2. Schon während der ersten Monate der Pandemie kam es dabei auch zur Kritik an der landeskirchlichen Verkündigungspraxis, die als zu belanglos angesehen wurde. Vgl. Hartmut Löwe: Das Schweigen der Bischöfe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 16.5.2020. Online abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/politik/warum-schweigen-die-evangelischen-bischoefe-zu-corona-16771983.html (abgerufen am 27.9.2021) sowie Johann Anselm Steiger: Beitrag zu: Virus kontra Freiheit. Professoren der Uni Hamburg schreiben über Einschränkungen unseres Lebens und unserer Grundrechte. Teil eins. In: Hamburger Abendblatt 11.– 13.4.2020, S. 10. Online abrufbar unter: www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereich-sowi/professuren/niesen/ueber-uns/aktuelles/corona-0420.html (abgerufen am 27.9.2021). Die hier angestoßene Kritik aufgreifend und resümierend s. den Artikel von Reinhard Bingener: Welchen Anteil hat Gott am Übel in der Welt? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 11.6.2020. Online abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/was-hat-gott-aus-sicht-der-kirchenmit-corona-zu-tun-16804657.html (abgerufen am 27.9.2021). 4 Vgl. hier einleitend: Christian Zwingmann, Helfried Moosbrugger, Dirk Frank: Der gemeinsame Glaube der Christen. Empirische Analysen zum Apostolischen Glaubensbekenntnis. In: Religiosität. Messverfahren und Studien zu Gesundheit und Lebensbewältigung. Hg. von Christian Zwingmann, Helfried Moosbrugger. Münster i. W. 2004, S. 107–130, hier S. 107–109. 5 www.ifd-allensbach.de/fileadmin/kurzberichte_dokumentationen/September12_Christentum_ 01.pdf (abgerufen am 27.9.2021). Auf die schwindende Bedeutung von Kirche und einem institutionell gebundenen Glauben hat in jüngster Vergangenheit auch eine Studien des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD (kurz SI) aufmerksam gemacht. In einer Untersuchung zur Lebens- und Glaubenswelt junger Menschen (im Alter von 19–27 Jahren) gaben nur 19 % der Befragten an, religiös oder sehr religiös zu sein. In seinem Resümee spricht einer der Autoren der Studie, Gerhard Wegner, von der vielleicht ersten „postchristlichen“ Generation (vgl. Ulf Endewardt, Gerhard Wegner: Was mein Leben bestimmt? Ich! Lebens- und Glaubenswelten junger Menschen heute. In: SI-Aktuell. Hannover 2018, S. 36. Online als PDF abrufbar unter: https://www.siekd.de/wp-content/uploads/2018/11/Broschuere-Was-mein-Leben-bestimmt.pdf ?fbclid=IwAR2mX_O9BT8hlTNm0uJcL5EzqYiEQihxauPkjFQJSb3GaXe5PizuPn7F7BE (abgerufen am 27.9.2021).

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14 % der befragten Protestanten, die noch an eine Hölle als Ort der Verdammnis glaubten, bei den Katholiken waren es 19 %.6 Freilich sind Meinungsumfragen mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, weil nicht in jedem Fall deutlich wird, was mit dem Erfragten inhaltlich konkret gemeint ist.7 Dennoch dürften sie auf die Vermittlungs- und Aneignungsschwierigkeiten verweisen, welche heutzutage mit der biblischen Rede vom Jüngsten Tag und der Endzeit offensichtlich einhergehen. Die Vorstellung, dass Christus wiederkommen wird, „zu richten die Lebenden und die Toten“,8 wie es das Apostolische Glaubensbekenntnis formuliert, ist nicht nur zutiefst zweifelhaft geworden, sondern selbst unter Christinnen und Christen schon lange nicht mehr mehrheitsfähig. Es versteht sich von selbst, dass dieser Bedeutungsverlust auch vor den Türen katholischer und evangelischer Fakultäten nicht Halt gemacht hat oder hier unbemerkt geblieben ist. So sieht bspw. der ehemalige Bischof von Basel, Kardinal Kurt Koch, die apokalyptische Rede von Weltende und Endgericht gegenwärtig einer doppelten Zwiespältigkeit ausgesetzt.9 Auf der einen Seite bleibe die Rede von Gericht und Wiederkunft Christi zwar durch die Liturgie präsent, auf der anderen Seite sei

6 fowid.de/meldung/christlicher-glaube-deutschland-2019 (abgerufen am 27.9.2021). 7 Hinzu kommt die Möglichkeit, dass die erfragten Themen und Inhalte vom Fragesteller selbst interpretierend verändert werden. Dies dürfte im Beitrag von Christian Zwingmann, Helfried Moosbrugger und Dirk Frank der Fall gewesen sein, dem eine eigene Umfrage unter aktiven Kirchenmitgliedern zugrunde liegt. Vgl. Zwingmann, Moosbrugger, Frank (Anm. 4), S. 109–113. So wurden von den genannten Autoren im Jahr 1993 in zwölf katholischen und sieben evangelischen Kirchengemeinden Erhebungen durchgeführt, wobei nach der Zustimmung zum Apostolischen Glaubensbekenntnis (sowohl in seiner Gesamtheit als auch in neunzehn Einzelaussagen) gefragt wurde (vgl. ebd., S. 113). Wie die abgedruckten Tabellen zeigen, wurde dabei die Frage nach dem Bekenntnis zu Gott als Vater im ersten Teil des Glaubensbekenntnisses mit der Klammerbemerkung „(der Menschen)“ versehen (vgl. ebd., S. 116, 119, 122). Dadurch dürfte dem Befragten suggeriert worden sein, dass sich das Bekenntnis zu Gott als Vater auf einen schöpfungstheologischen Sachverhalt bezieht, seine Zustimmung oder Ablehnung also in diesem Punkt erfragt wird. Blickt man jedoch auf die neutestamentliche Rede von der Vaterschaft Gottes, so wird man die Klammerbemerkung „(der Menschen)“ als eigene (thematische) Engführung der Fragesteller bezeichnen müssen. Denn weder spielt die Verbindung von Schöpfung und Vaterschaft Gottes in der Bibel eine signifikante Rolle, noch ist die Aussage im Credo ohne weiteres auf diese Verbindung hin auslegbar. Im Sinne des Neuen Testaments hätte wohl eher nach der Zustimmung gefragt werden müssen, ob Gott der Vater Jesu Christi sei. Vgl. zur Rede von der Vaterschaft Gottes in der Bibel: Reinhard Feldmeier, Hermann Spieckermann: Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre. Tübingen 22017 (Topoi Biblischer Theologie 1), S. 66–68, hier Anm. 52. Zum historischen Verständnis dieses Teils des Apostolikums vgl. Frederick Ercolo Vokes: Art. Apostolisches Glaubensbekenntnis. I. Alte Kirche und Mittelalter. In: Theologische Realenzyklopädie 3 (1978), S. 528,35–554,25, hier S. 545,35–546,20. 8 Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Quellen und Materialien. Hg. von Irene Dingel. Bd. 1. Göttingen 2014, S. 11, 39–41. Im Folgenden zitiert als BSELK. 9 Vgl. Bischof Kurt Koch: Auch ein Problem der Zeit. Christliche Eschatologie im Kreuzfeuer der Apokalyptik. In: Internationale Katholische Zeitschrift „Communio“ 28 (1999), S. 492–513, hier S. 493.

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diese dem durchschnittlichen Christen aber fremd und unverständlich geworden und dies ausgerechnet zu einer Zeit, in der die Welt fundamental durch nukleare, ökologische und ökonomische Katastrophen bedroht sei.10 Gewissermaßen selbst in einer Art Endzeit lebend, habe der moderne Mensch die Vorstellung von der Endzeit verloren. Die Lösungs- und Antwortversuche, welche evangelische und katholische Theologinnen und Theologen angesichts dieser Situation entwickelt haben, sind äußerst facettenreich und sollen hier nicht umfassend Gegenstand sein. Eine erste Durchsicht einiger neuerer Artikel und Aufsätze lässt dabei jedoch auf eine gewisse Tendenz schließen.11 So wird die biblische Rede vom Jüngsten Tag immer wieder als ein zu überwindendes Mythologumenon aufgefasst, welches lediglich auf modifizierte Weise beibehalten werden könne. In diesem Sinne spricht der bereits erwähnte Kardinal Koch von den „anachronistisch gewordenen Welt- und Zeit-Vorstellungen“12 der biblischen Apokalyptik, die man ausscheiden müsse, um zu einer gegenwartsrelevanten Vorstellung vom Endgericht zu gelangen.13 Konkret bedeutet dies zumeist die Preisgabe der Vorstellung vom Jüngsten Tag als eines Straf- und Verdammungsgerichts und den Hinweis auf die positiven, ja befreienden Potenziale einer Hoffnung auf Gott als eines letzten und wirklich unabhängigen Weltenrichters. Angesichts der Erfahrung, dass Schuld und Verbrechen zu Lebzeiten oftmals ungestraft blieben, mache das Bekenntnis zur Wiederkunft Christi Mut und Hoffnung, dass es auch nach dem Tod eines Menschen zu einer Wiederherstellung intakter Beziehungen und Verhältnisse (zwischen Tätern und Opfern) kommen könne. In diesem Sinne konstatiert etwa der katholische Priester und Theologe Gotthard Fuchs: Was also meint die Hoffnung auf Christi Wiederkunft? Angesprochen wird die Sehnsucht, dass endlich allen Menschen, ja aller Kreatur Gerechtigkeit widerfährt – den Opfern (und Tätern!), allen Mitspielern im Drama der Geschichte. Alles möge wieder aufgerichtet und

10 Vgl. Koch (Anm. 9), S. 494. 11 Ich beziehe mich im Folgenden auf einige Beiträge aus den Sammelbänden: Wolfgang Vögele, Richard Schenk (Hg.): Aktuelle Apokalyptik! Rehburg-Loccum 2000 (Loccumer Protokolle 20/99); Heinrich Bedford-Strohm (Hg.).: „… und das Leben der zukünftigen Welt“. Von Auferstehung und Jüngstem Gericht. Neukirchen-Vluyn 2007; Union evangelischer Kirchen – Theologischer Ausschuss (Hg.): Unsere Hoffnung auf das ewige Leben. 2. Aufl. Neukirchen-Vluyn 2008; Norbert Copray (Hg.): Baustelle Christentum. Glaube und Theologie auf dem Prüfstand. Ostfildern 2009 sowie Uwe Swarat, Thomas Söding (Hg.): Gemeinsame Hoffnung – über den Tod hinaus. Eschatologie im ökumenischen Gespräch. Freiburg i. Br. 2013 (Quaestiones Disputatae 257). 12 Koch (Anm. 9), S. 494. 13 Vgl. ebd., S. 504.

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wieder hergerichtet werden, was im Laufe der Zeit und im Gang der Geschichte verletzt, verdrängt oder zerstört wurde.14

Und im ähnlichen Sinne heißt es beim reformierten Theologen Jürgen Moltmann: Gottes Gerechtigkeit ist eine schöpferische Gerechtigkeit. Die Opfer von Sünde und Gewalt werden durch sie aufgerichtet, geheilt und ins Leben gebracht. Die Täter der Sünde und der Gewalt werden eine zurechtbringende, transformierende Gerechtigkeit erfahren. Sie werden verwandelt, indem sie zusammen mit ihren Opfern erlöst werden. Sie werden durch den gekreuzigten Christus gerettet, der ihnen zusammen mit ihren Opfern begegnen wird. Sie werden ihren Untaten ‚absterben‘, um zusammen mit ihren Opfern zu einem neuen Leben ‚wiedergeboren‘ zu werden. Dieser Sieg der göttlichen Gerechtigkeit führt […] in den großen Versöhnungstag Gottes auf dieser Erde.15

In dieser Art vom Jüngsten Gericht zu sprechen, – so viel dürfte durch die hier zitierten Aussagen deutlich sein – bedeutet folglich, nicht mehr länger über die ewige Seligkeit der Frommen und die ewige Verdammnis der Gottlosen zu reden. In diesem Zusammenhang werden in den neueren Darstellungen oftmals auch logische Einwände gegen die Vorstellung eines Straf- und Verdammungsgerichts vorgebracht. So wird etwa die Annahme eines Richtergottes in dem hier zitierten Aufsatz Moltmanns als unbiblisch, ja als unchristlich bezeichnet, weil sie das Vertrauen in die Liebe und Treue Gottes zu seinen Geschöpfen zerstöre.16 Auch der evangelische Theologe Volker Stümke sieht im Glauben an einen ewigen Himmel und eine ewige Hölle einen gefährlichen Dualismus, der kaum mit 14 Gotthard Fuchs: „Zu richten die Lebenden und die Toten?“ In: Baustelle Christentum. Glaube und Theologie auf dem Prüfstand. Hg. von Norbert Copray. Ostfildern 2009, S. 105–110, hier S. 106. 15 Jürgen Moltmann: Gott will verwandeln. In: Baustelle Christentum. Glaube und Theologie auf dem Prüfstand. Hg. von Norbert Copray. Ostfildern 2009, S. 146–148, hier S. 147. Die Auffassung, dass das Jüngste Gericht ein Versöhnungsgericht sei, in welchem das Leben jedes Einzelnen zurechtgebracht werde, hat Moltmann in verschiedenen Beiträgen geäußert. Vgl. etwa Jürgen Moltmann: Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie. Gütersloh 1995, S. 262–284 sowie ders.: Sonne der Gerechtigkeit. Das Evangelium vom Gericht und der Neuschöpfung aller Dinge. In: „… und das Leben der zukünftigen Welt“. Von Auferstehung und Jüngstem Gericht. Hg. von Heinrich Bedford-Strohm. Neukirchen-Vluyn 2007, S. 30–47, hier S. 37. In ähnlicher Weise verfährt auch Michael Beintker: „Gericht meint […] ein Doppeltes. Einerseits bedeutet es Abbruch und Vernichtung: Jegliche Schuld, jedes Böse wird gerichtet und verworfen. Richten bedeutet aber auch ein Zurechtbringen: Menschen werden durch Gottes Gericht ‚zurechtgebracht‘ und so zur eschatologischen Gemeinschaft mit Christus befreit.“ Ders.: Gottes Urteil über unser Leben. Das Jüngste Gericht als Stunde der Wahrheit. In: Gemeinsame Hoffnung – über den Tod hinaus. Eschatologie im ökumenischen Gespräch. Hg. von Uwe Swarat, Thomas Söding. Freiburg 2013 (Quaestiones Disputatae 257), S. 91–108, hier S. 101. Vgl. dazu ferner Michael Beintker: Ewigkeit und Gericht. In: Die Christenlehre. Zeitschrift für den katechetischen Dienst 40 (1987), S. 293– 299, hier S. 295. 16 „Die Vorstellung vom vernichtenden Strafgericht ist ein extrem gottloses Bild.“ Moltmann (Anm. 15), S. 146.

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der Einheit des Gottesgedankens vereinbar sei: „Wie kann Paulus behaupten, daß Gott am Ende ‚alles in allem‘ sein werde (1. Kor 15,28), wenn es neben ihm eine Hölle geben wird?“17 Blickt man vor diesem Hintergrund auf die Rede vom Jüngsten Gericht in der Frühen Neuzeit, so begegnet einem ein völlig anderes Bild. Wie nicht zuletzt die Dissertation von Frank Kurzmann gezeigt hat, ist die Vorstellung von Endzeit und Endgericht dabei zunächst konfessionsübergreifend weit verbreitet.18 Im kurzen Vergleich mit der Gegenwart zeigen sich dabei zwei charakteristische Abweichungen. Zum einen hat der frühneuzeitliche Theologe und Prediger im Wesentlichen keine Probleme damit, die tragischen Ereignisse seiner Zeit, wie Seuchen, Kriege oder Hungersnöte mit Gottes Zorn und Gerichtshandeln in Verbindung zu bringen. Die biblischen Deutungsmuster, nach welchen Gott die Menschheit auch mit irdischen Mitteln straft (man vgl. nur die alttestamentliche 17 Vgl. Volker Stümke: Das Jüngste Gericht – Apokalyptischer Mythos oder unverzichtbarer Bestandteil evangelischer Dogmatik? In: Aktuelle Apokalyptik! Hg. von Wolfgang Vögele, Richard Schenk. Rehburg-Loccum 2000 (Loccumer Protokolle 20), S. 119–138, hier S. 138, Anm. 62. Es sei jedoch festgehalten, dass Stümke in dem hier zitierten Aufsatz viel differenzierter argumentiert, als Moltmann dies in seinem Beitrag tut. So verwirft Stümke die Vorstellung vom Richtergott nicht einfach als „unbiblisch“ und verweist darüber hinaus auf Probleme, welche mit der Rede von einer universalen Versöhnung verbunden sind: „Gegen die Allversöhnung kann man einwenden, […] hier trete eine Nivellierung der Unterschiede gelebten Lebens ein, die eine Gleichgültigkeit Gottes gegenüber den Werken des Menschen impliziert.“ Ebd., S. 137, Anm. 62. Die logische Problematik, die mit der Vorstellung einer ewigen Hölle verbunden ist, findet sich nicht nur bei Stümke, sondern auch in einem Aufsatz von Michael Beintker: „Der Gedanke an eine ewige Hölle ist mit dem Gedanken der Ewigkeit Gottes nicht zu vereinbaren, weil damit die Ewigkeit des Bösen, das gerade aufhören soll, festgeschrieben und ein heimlicher Dualismus in die Eschatologie implantiert wird.“ Ders. (Anm. 15), S. 108. 18 „Die Erwartung, dass Jesus Christus am Weltende, dem Jüngsten Tag, zurückkehren (Parusie Christi) und das Jüngste Gericht halten sowie das Urteil über die Lebenden und die Toten, welche zuvor auferstehen und im Anschluss an das Gericht in die himmlische Seligkeit eingehen oder ewige Höllenqualen erleiden werden, sprechen wird, ist zentraler Teil des christlichen Glaubens und verbindet grundsätzlich lutherische, reformierte und römisch-katholische Christen.“ Frank Alexander Kurzmann: Die Rede vom Jüngsten Gericht in den Konfessionen der Frühen Neuzeit. Berlin. Berlin u.a. 2019 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 141), S. 1. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die zahlreichen mentalitätsgeschichtlichen Studien zum Mittelalter und der Frühen Neuzeit, welche die Furcht vor dem Gericht und der Hölle beinahe zur Epochensignatur erklären: „Typisch für das Mittelalter im Gegensatz zur Antike und zur Moderne sind kollektive Ängste und Hoffnungen, die von der Religion hervorgerufen wurden oder sich jedenfalls in religiösen Kategorien manifestieren. So herrschte in der ganzen Epoche eine außerordentliche Angst vor dem Schicksal nach dem Tode, wie auch eine intensive Hoffnung darauf, zu den wenigen Erwählten zu gehören.“ Peter Dinzelbacher: Art. Ängste und Hoffnungen. Mittelalter. In: Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Hg. von Peter Dinzelbacher. Stuttgart 22008 (Körners Taschenausgabe 469), S. 326–336, hier S. 328. Ferner: Peter Dinzelbacher: Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung. Mentalitätsgeschichte und Ikonographie. Paderborn u. a. 1996, S. 251–260 sowie Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14.–18. Jahrhunderts. Bd. 1. Reinbeck bei Hamburg 1985 (Rororo, Kulturen und Ideen 7919).

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Weisheitsliteratur), sind hier in reger Anwendung.19 Zweitens wird die Rede vom Jüngsten Gericht in der Frühen Neuzeit in aller Gegenständlichkeit vertreten, d. h. es wird tatsächlich mit ewigen Jenseitsstrafen gerechnet. Der Versuch unter dem Jüngsten Tag eine Art allgemeine Versöhnung aller Menschen zu verstehen, wird dabei schon in den Bekenntnistexten der drei großen Konfessionen zurückgewiesen. So heißt es auf Grundlage der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse im XVII. Artikel der Confessio Augustana (1530): Auch wirt geleret, das unser Herr Jesus Christus am jungsten tag kommen wirt, zurichten und alle toden aufferwecken, den glaubigen und auserwehlten ewigs leben und ewige freud geben, die gottlosen menschen aber und die teufel in die hell und ewig straf verdammen.20

Auch in der Confessio Helvetica posterior (1566) heißt es im XI. Artikel („De Jesu Christo, vero Deo et homine, unico mundi salvatore“): „Damnamus eos, qui senserunt, et daemonas et impios omnes aliquando servandos et poenarum finem futurum.“21 Für den römisch-katholischen Bereich sei hier nur auf die Entscheidungen im Trienter Konzil verwiesen, in denen ein klares Bekenntnis zu den altkirchlichen Symbola stattfindet, die vom Ausgang des Gerichts in Himmel und Hölle sprechen.22 Angesichts dieser Unterschiede, die sich cum grano salis zwischen der heutigen und der traditionell-kirchlichen oder konfessionellen Vorstellung vom Jüngsten Gericht finden, möchte ich mich im Folgenden der Frage widmen, was konkret mit der Erwartung eines solchen Strafgerichts in frühneuzeitlichen

19 Als Beispiel sei hier nur auf eine Aussage Luthers verwiesen, in welcher er das Leid seiner Zeit einerseits als Strafe für die Sünden (das Papsttum) deutet, andererseits darin die gottgewollte Übung für den Glaubenden erblickt. Beides lässt sich problemlos mit biblischen Vorstellungen vom göttlichen Gerichtshandeln verbinden (vgl. etwa Ps 39,12; Ps 118,18; Thren 3,42 f. passim). Bei Luther heißt es: „Vulgus, ut supra dixi, hoc tempore querulatur de variis incommodis annonae, pestilitatis, bellorum etc. ac verum est, sunt ea plura et frequentiora, quam superioribus annis. Sed (ut nihil etiam dicam de peccatis et summa ingratitudine, quae Deum ad poenas provocat) meminerint pii, fieri hoc ad tentationem credentium […].“ Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. 73 Bde. Weimar 1883–2009 (im Folgenden zitiert als WA mit Angabe von Bd.-, Seiten- und Zeilenzahlen), hier WA 42,469,8–13. Im Rahmen der Tagung wurde das frühneuzeitliche Verständnis von Gottes irdischen Strafen eindrücklich im Vortrag von Ruth Slenczka präsentiert. Der Vortrag war mit einem virtuellen Rundgang durch die Sonderausstellung Pest. Eine Seuche verändert die Welt verbunden und lieferte reiches Anschauungsmaterial für den religiösen Umgang mit der Krankheit (Dauer der Ausstellung 20.08.2021–20.02.2022). 20 BSELK, S. 83, 38–84, 2. 21 Reformierte Bekenntnisschriften. Hg. von Andreas Mühling, Peter Opitz. Bd. 2/2: 1562–1569. Neukirchen-Vluyn 2009, S. 295, 8 f. 22 Vgl. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. 44. Aufl. Hg. von Heinrich Denzinger, Peter Hünermann. Freiburg i. Br. u. a. 2014, Nr. 1500. Verwiesen sei hier zudem auf die Arbeit von Frank Kurzmann, der die „Bekenntnisse gegen Allversöhnung“ in einem eigenen Abschnitt behandelt und hierbei auch auf den historischen Hintergrund der reformatorischen Bekenntnisbildungen eingeht. Vgl. Kurzmann (Anm. 18), S. 66–98.

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Quellen verbunden werden konnte. Genauer möchte ich dabei auf zwei Dinge hinweisen, die aus heutiger Perspektive möglicherweise etwas überraschend wirken. Erstens: In den Quellen, welche eine traditionelle Sicht der Apokalyptik mit Himmel und Hölle vertreten, wird nicht nur über die Furcht vor der Verdammnis, sondern auch über ihr Gegenteil, die Furchtlosigkeit, das Gefühl der Sicherheit nachgedacht und reflektiert. Zweitens: In frühneuzeitlichen Quellen werden ähnliche Aneignungs- und Vermittlungsprobleme aufgegriffen, die heutzutage mit der Rede von Gottes Strafe und Gericht verbunden sind und soeben skizziert wurden. Dabei wird es vor allem um die Frage nach der logischen Vereinbarkeit von göttlicher Liebe und göttlichem Zorn, von universaler Gnade und ewiger Verdammnis gehen. Ich setze mich dabei zunächst mit einer Predigt auseinander, die von dem lutherischen Pastor Erhard Erhardt (1708– 1765) stammt (1.), ehe ich mich in einem Ausblick mit Luthers Genesisvorlesung befasse (2.).

1. Das Jüngste Gericht in einer Predigt des lutherischen Pastors Erhard Erhardt Der in Jena und Umgebung lebende Pastor Erhardt hielt die zu besprechende Predigt am 2. Adventssonntag des Jahres 1759.23 Wie es scheint, ist sie noch im selben Jahr unter dem Titel Eine erbauliche Betrachtung über den Jüngsten Tag, und das Jüngste Gericht vor Bekehrte und Unbekehrte als Einzeldruck erschienen.24 Die Worte des Titels stammen dabei von Erhardt selbst, der in seiner

23 Soweit ich sehe, taucht die Person Erhardts samt dieser Predigt in der Untersuchung von Frank Kurzmann nicht auf. Zu Erhardt sind biographische Daten nur spärlich überliefert: Erhardt wurde 1708 in Langenau bei Ulm geboren, woraufhin er in Jena studierte. Seit 1744 war er Pfarrer in Wenigenjena und Camsdorf, ab 1758 Konsistorialrat und Doktor der Theologie. Vgl. Erhardt, Erhard: Indexeintrag. In: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/ pnd10534 39695.html (abgerufen am 27.9.2021). Ferner: Art. Erhardt (Erhard). In: Johann Georg Meusel (Hg.): Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. Bd. 3. Leipzig 1804, S. 151 f. Vgl. auch: Art. Erhard, (Erhard). In: Johann Christoph Adelung (Hg.): Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinen Gelehrten-Lexico. Bd. 2. Leipzig 1787, S. 912. Da es sich hier also um einen Autor des 18. Jahrhunderts handelt, dürfte die Predigt Erhardts nicht zuletzt ein Zeugnis für die theologische Pluralität der Aufklärungszeit sein (vgl. dazu den Beitrag von Matthias Pohlig in vorliegendem Band). 24 Erhard Erhardt: Eine erbauliche Betrachtung über den Jüngsten Tag, und das Jüngste Gericht vor Bekehrte und Unbekehrte, Am 2. Sonntage des Advents 1759. Über das gewöhnliche Evangelium Luc. 21. Cap. v. 25–36 angestellt. Online abrufbar unter: www.google.de/books/edition/Eine_ erbauliche_Betrachtung_%C3%BCber_den_j/NSNNAAAAcAAJ?hl=de&gbpv=1&dq=eine+erbauliche+Betrachtung&printsec=frontcover (abgerufen am 27.9.2021). Im Folgenden zitiert als EE für ‚Erhard Erhardt‘ mit Seitenzahl.

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Predigt erklärt, er wolle „zum allgemeinen Nutzen für unsere Seelen“25 den Jüngsten Tag und das Jüngste Gericht einer erbaulichen Betrachtung unterziehen. Als Grundlage hierfür dient die Endzeitrede Jesu in Lk 21,25–36, wobei sich Erhardt vorrangig auf Vers 33 konzentriert. Jesus spricht: „Himel vnd Erden vergehen/ Aber meine Wort vergehen nicht.“26 Wie sich dieses Bibelwort zu Erhardts Ausführungen über den Jüngsten Tag konkret verhält, wird sich an späterer Stelle zeigen. Zunächst ist es wichtig, darauf zu achten, was für Erhardt zu einer erbaulichen Betrachtung des Endgerichts gehört. So beginnt er seine Ausführungen weder mit der Beschreibung ewiger Himmelsfreuden noch mit der Androhung ewiger Höllenstrafen. Vielmehr scheint er bei seiner Gemeinde (seinen Hörern) weder mit der Freude noch mit der Furcht vor dem Jüngsten Tag irgendwie zu rechnen. In diesem Sinne stellt er im exordium seiner Predigt („Eingang“ genannt) das Gefühl der Gleichgültigkeit, ja der Sicherheit ins Zentrum, wobei er besonders auf dessen schärfste Form, die Leugnung des Jüngsten Gerichts, abhebt. Dabei kommt es ihm darauf an, die Gemeinde vor solch einem „schädlichen Gift“27 zu warnen und zu schützen. Was hier für die Vorrede gilt, gilt dann auch für die Predigt im Ganzen, die aus zwei Argumentationsgängen besteht („Abhandlungen“ genannt).28 So zielt die erste Abhandlung darauf, die Gewissheit des Jüngsten Tages mit Argumenten zu demonstrieren, während die zweite Abhandlung die Dramatik dieses Tages (in Himmel und Hölle) zu vergegenwärtigen sucht. Das Anliegen im „Eingang“ ist dabei dasselbe wie in den „Abhandlungen“. Immer geht es darum, gegen das Gefühl der Gleichgültigkeit sowie gegen den (daraus erwachsenden) Spott vorzugehen, wenngleich dies mit unterschiedlichen Mitteln geschieht. Die Absicht, der Gemeinde den Ernst des Jüngsten Tages vor Augen zu stellen, wird dabei im „Eingang“ auf besondere Weise intoniert. So greift Erhardt das Gefühl der Gleichgültigkeit und Sicherheit auf und führt es einer theologischen Betrachtung zu. Diese werden dabei zunächst mit den biblischen Motiven von Verstockung und Verblendung zusammengebracht (vgl. etwa 2Kor 4,3 f.). So sei es ein „so listiger als wichtiger Kunstgriff des Satans“,29 wenn er die Menschen dazu verleite, wenig oder gar nicht an ihren Tod oder den Jüngsten Tag zu denken. Gewissermaßen gehöre es zu seinem Spiel, seiner Strategie, die Menschen in Sünde und Verdammnis zu führen, 25 EE, S. 6. 26 Hier wird (wie in allen folgenden Bibelzitaten) die letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe wiedergegeben: D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Hg. von Hans Volz. Darmstadt 1972. 27 EE, S. 5. 28 Der „Eingang“ findet sich auf den Seiten 3 f.; die erste Abhandlung, die wiederum in drei Teile zerfällt (A, B, C) auf den Seiten 5–12; die zweite Abhandlung, die zwei Teile besitzt (I,2), auf den Seiten 12–16. 29 EE, S. 3.

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wenn er ihnen den Gedanken an das Jüngste Gericht aus dem Herzen und Gewissen nehme. Fällt aber diese Betrachtung [des Jüngsten Gerichts] weg: so ist der Sünde Thür und Thor geöffnet; der Satan hat gewonnen Spiel. Es trifft sodenn ein, was die christliche Kirche singt: von einer Sünde führet er, zur andern immer hin und her, bis endlich in die Hölle.30

Dementsprechend sieht Erhardt in der Furcht vor dem Endgericht nichts per se Negatives. Vielmehr weist er nachdrücklich auf ihren Nutzen hin, wenn er betont, das „Andenken der letzten Dinge“31 sei dem Herzen des Sünders wie der Blitz den Augen oder der Donner den Ohren. Wie der Donner den Menschen aufhorchen lässt und dazu führt, dass er auf seinem Wege umkehrt, um Schutz vor dem nahenden Gewitter zu suchen, so ziehe auch der Schrecken vor dem Jüngsten Gericht den Menschen „von mancher Sünde zurück“.32 Anders als es im Umfeld der bürgerlichen Aufklärung der Fall war, ist die Furchtlosigkeit für Erhardt also kein Fortschritt an sich.33 Den Jüngsten Tag ganz und gar nicht zu fürchten, bedeutet dem Teufel und seinem Spiel gefangen zu bleiben. In dieser Logik ist es nicht so sehr die Furcht, sondern die völlige Furchtlosigkeit, die es zu fürchten gilt. Dabei kennt Erhardt jedoch noch eine Steigerung. Diese besteht darin, dass der Satan den Menschen so sehr verzaubert („bestricket“34), dass er die Gewissheit des Jüngsten Tages selbst in Zweifel zieht, gar verleugnet und verspottet. Gegen diese gesteigerte Form der Furchtlosigkeit, die Spott und Verleugnung heißt, dürfte dann besonders die erste Abhandlung gerichtet sein, welche mit Argumenten die Gewissheit des Endgerichts zu belegen versucht. Bevor Erhardt zu seiner ersten Abhandlung kommt, ist aber zu beachten, was er über den Spott im „Eingang“ sagt. So hält er zunächst fest, dass die Leugnung des Jüngsten Gerichts so alt ist wie der christliche Glaube, die christliche Predigt selbst. Schon Paulus auf dem Areopag in Athen habe bei seiner Predigt über das Weltgericht und die Auferstehung (Apg 17,30 f.) mit Spöttern zu tun gehabt (Apg 17,32).35 Schlimmer als die Tatsache, dass die Heiden Griechenlands der

30 EE, S. 4. 31 EE, S. 3. 32 Ebd. 33 Auf dieses Anliegen der bürgerlichen Aufklärung verweist vor allem Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1987, S. 6–8. 34 EE, S. 4. 35 Interessanterweise bezieht Erhardt den Spott in Apg 17,32 auf die Aussage vom Weltgericht statt – wie es der Text nahelegt – auf die Auferstehung. Damit unterscheidet er sich u.a. von der Interlinearkommentierung der sog. Kurfürstenbibel (1641). Vgl. Biblia, Das ist: die gantze Heilige Schrifft, Deutsch, D: Mart: Luth: Mit ChurSächsischen Privilegio. Gedruckt vnd verlegt zu Nürnberg durch Wolfgang Endter, Jm Jahr 1641, Bd. 3, S. 175. Online abrufbar unter: https://digitale.bibliothek.uni-halle.de/vd17/content/pageview/8545439 (zuletzt abgerufen am 27.9.2021).

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Botschaft vom Kommen des Endgerichts nicht glaubten, sei es jedoch, wenn sich die Leugnung des Gerichts unter Christen verbreite. Wir dürfen [= müssen] nicht nach Athen gehen, und daselbst Spötter des Jüngsten Tages und Gerichts aufsuchen. Wir finden leider! auch dergleichen Leute unter den Christen, die darüber spotten und lachen. Denen Heiden zu Athen kann man es so sehr nicht verdenken, daß ihnen diese Lehre lächerlich vorgekommen ist. Aber, wenn sogenannte Christen, die doch das Licht der Offenbarung haben, auf solche Thorheiten gerathen, das ist unverantwortlich, unerträglich.36

In diesem Zusammenhang ist es interessant, wie Erhardt seine eigene Gegenwartserfahrung mit der biblischen Überlieferung verbindet. Ist der Spott so alt wie die Bibel selbst, so haben auch die Ansichten und Argumente der Spötter für Erhardt immer die gleiche Gestalt. Dabei rekurriert er insbesondere auf 2Petr 3,3 f., wenn er das Alter und den Bestand der Welt als einen (erwartbaren) Einwand nennt: Weil die Welt schon so lange bestehe und der Jüngste Tag bisher ausgeblieben sei, könne die Predigt vom Weltgericht nicht glaubhaft sein, müsse es sich um eine bloß menschliche Erfindung handeln: Es ist immer, sprechen solche SatansEngel, vom Jüngsten Tag und Gericht gepredigt worden, und soll noch was draus werden. Es ist eine Fabel, da man die Kinder mit schröcket; ein Pophans für die Einfalt; die Welt wird wohl immerhin auf dem Fleck stehen bleiben, wo sie so viel 1000 Jahre gestanden hat. Man lese zu Hauß nach das 3 Cap. der 2 Epistel Petri [2Petr 3,3 f.].37

Ist mit diesem Einwand der Horizont aufgespannt, vor welchem Erhardt seine erbauliche Betrachtung des Jüngsten Tages vorträgt, so ist nun seine Predigt im Einzelnen zu analysieren. Hierbei ist besonders zu fragen, wie er auf die Erfahrung von Furchtlosigkeit, Spott und Verleugnung argumentativ reagiert und welche Bedeutung dabei dem Wort Jesu zukommt: „Himel vnd Erden vergehen/ Aber meine Wort vergehen nicht“ (Mt 24,35).

1.1. Die erste Abhandlung

Erhardt bringt drei Argumente, welche für das Kommen des Jüngsten Tages sprechen sollen. Während die ersten beiden Argumente (mehr oder weniger) mit der menschlichen Erfahrung operieren, ist lediglich das dritte Argument rein biblisch-theologischer Art. So beginnt Erhardt seine Ausführungen mit einem Eingangsgebet und einer kurzen Rekapitulation der klassischen, lutheri-

36 EE, S. 4. 37 Ebd.

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schen Vorstellung von Tod und Gericht.38 Danach ist das Jüngste Gericht gleichsam zweigeteilt, insofern es ein (individuelles) Gericht über die Seele beim Sterben und ein (kollektives) Gericht über alle Menschen am Ende der Welt geben wird. Entscheidend ist dabei, dass sich die Seele nach dem Tod des Menschen bereits im Himmel oder in der Hölle befindet und am Jüngsten Tag (bei der Auferstehung) wieder mit ihrem Leib vereinigt. Erst dann wird der Mensch ganz und gar (mit Leib und Seele) das Urteil hören und vollständig entweder im Himmel oder in der Hölle sein: Eines jeden Menschen sein SterbeTag, ist auch sein Jüngster Tag, der Seele nach. […] Jn diesem besondern Gerichte wird einer jeden Seele der Ort von GOtt angewiesen, wo sie ewig bleiben soll. Entweder in dem Ort, wo ihr ewig wohl seyn wird, im Himmel; oder, wo ihr ewig wehe seyn wird, in der Hölle. Wenn aber jener grosse GerichtsTag hereinbrechen, und wie ein FallStrick kommen wird über alle die auf Erden wohnen; alsdenn werden die todten Leiber auferstehen, und jeder mit seiner Seele wieder, und auf ewig vereinigt werden. Das ist das allgemeine WeltGericht.39

Die Vorstellung, dass sich die Seele beim Sterben vom Leib trennt, um am Jüngsten Tag für die Ewigkeit wieder mit ihm vereinigt zu werden, findet sich auch in lutherischen Kirchenliedern, die noch heute gebräuchlich sind.40 Interessanterweise spielt diese Differenzierung im Gerichtsgedanken für die Predigt selbst keine Rolle mehr. Vielmehr geht es Erhardt nach dieser Rekapitulation einzig um das „allgemeine WeltGericht“41 und die biblische Auffassung, dass sich der Mensch vor Gott verantworten muss. Dies wird gleich zu Beginn deutlich, wenn Erhardt 2Kor 5,10 als dictum probans des Endgerichts zitiert: „Wir müssen alle offenbar werden vor dem RichterStuhl Christi, auf daß ein ieglicher empfahe nach dem er gehandelt hat bey Leibes Leben, es sey gut oder bös.“42 Um für das Kommen dieses allgemeinen Weltgerichts zu argumentieren und die Spötter zu widerlegen, führt Erhardt – wie erwähnt – drei Argumente an. Dabei dürfte das 38 Die Aussagen Erhardts stimmen hier i. W. mit denen in Leonhart Hütters weit verbreitetem Compendium überein. Vgl. Leonhart Hütter: Compendium locorum theologicorum ex Scripturis Sacris et Libro Concordiae, lateinisch – deutsch – englisch. Kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort sowie einer Bibliographie sämtlicher Drucke des Compendium versehen von Johann Anselm Steiger. 2 Teilbde. Stuttgart-Bad Cannstatt 2006 (Doctrina et Pietas Abt. II, Bd. 3), S. 579–609. 39 EE, S. 7. 40 Man werfe etwa einen Blick in Johann Heermanns O Gott, du frommer Gott oder Martin Schallings Herzlich lieb hab ich dich, o Herr. Vgl. Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche. 4. Aufl. Kiel 2007 (im Folgenden zitiert als EG mit Nummer und Strophe) hier Nr. 495, 7 f. und Nr. 397, 3. Dieser Hinweis verdankt sich Jonathan Rehr, der auf diese lutherischen Lieder während der Tagung hinwies (vgl. dazu auch den Beitrag von Piotr Kociumbas in diesem Band). 41 EE, S. 7. 42 Ebd.

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erste Argument dem heutigen Theologen gar nicht so fremd sein. Denn ähnlich wie in gegenwärtigen Publikationen nachlesbar, weist auch Erhardt auf die Notwendigkeit des Jüngsten Tages als einer letzten richterlichen Instanz hin. Weil es in der Welt erfahrungsgemäß einen „ungleichen Zustand der Frommen und Gottlosen“43 gebe, müsse ein endzeitlicher Ausgleich erfolgen. Das Unrecht, welches Menschen in der Welt widerfährt und oft genug übersehen wird, muss angesichts von Gottes Gerechtigkeit gestraft werden. Deshalb werde der Jüngste Tag kommen. Weltliche Richter übersehen manches, theils aus MenschenGunst, theils aus MenschenFurcht; theils durch Verblendung des Geldes. Das alte Sprüchwort wird noch manchmal neu: Kleine Diebe henkt man, grosse läßt man lauffen. Jst GOtt gerecht, ist er wahrhaftig; so muß ein Tag, ein Gericht bevorstehen.44

Es ist jedoch wichtig, im Unterschied zu gegenwärtigen Publikationen eine Sache festzuhalten: Für Erhardt geht es am Jüngsten Tage nicht primär um die soziale Dimension des Unrechts, um eine (universale) Herstellung sozialer Gerechtigkeit oder gar um eine „Durchkreuzung des Täter-Opfer-Syndroms“.45 Vielmehr schaut er – dem biblischen Verständnis folgend – die soziale und geistliche Dimension des Unrechts zusammen, nach welchem die Sünde des Menschen nicht nur Gott, sondern auch den Mitmenschen, ganz besonders aber den Glaubenden trifft.46 Es geht also hierbei nicht zuletzt um das Unrecht, welches dem Menschen infolge seines Glaubens widerfährt, um die Feindschaft und Verfolgung, die der Gerechte seitens seiner gottlosen Umwelt erleiden muss. Durch die Hervorhebung dieses biblischen Zusammenhangs besteht an dieser Stelle eine große Differenz zwischen der Predigt Erhardts und der heutigen Rede vom Endgericht. So spricht Erhardt (anders als etwa Moltmann) nie abstrakt über Opfer und Täter, sondern stets im geistlichen Sinn über Fromme und Gottlose, Gerechte und Ungerechte, deren Leben auf Erden geradezu gegensätzlich verläuft. Hierher gehören seine Hinweise auf Geschichten wie diejenige vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,19–31) als auch Zitate und Anspielungen auf Psalmen, die an das Leiden des Gerechten in der Welt und das Wohlergehen des Gottlosen erinnern. Der Gerechte muß viel leiden [Ps 34,20]; der Gottlose schwimmt in Strömen der Wollust, und hat in allen Stücken was sein Herz wünschet [Ps 73,12]. Nun aber bedenke man das Wort des wahrhaftigen Zeugen JEsu Christi im heutigen Evangelio. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht. Zwey Worte muß demnach Christus 43 EE, S. 8. 44 EE, S. 9. 45 So in dem bereits zitierten Aufsatz von Fuchs (Anm. 14), S. 109. 46 Man vergleiche nur die zahlreichen Stellen in den Klage- und Bußpsalmen (Ps 6,9–11; 10,15–18; 17,8–10; 38,20 passim).

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nothwendig wahrmachen. Sie stehen beyde Luc. 6. Wehe euch, die ihr hie lachet. Denn ihr werdet dort weinen und heulen v. 25. Das andere ist, seelig seyd ihr, die ihr hie weinet. Dann ihr werdet dort lachen v. 21. Die Hand des Höchsten kann, und wird also alles ändern. Was folgt? dieses. Es wird ein Tag kommen, da Gott einem jeden lohnen wird nach seinen Werken; nemlich Preiß und Ehre und unvergängliches Wesen, denen, die mit Gedult in guten Werken trachten nach dem ewigen Leben: aber dem Ungerechten Ungnade und Zorn, Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen die da böses thun. Röm. 2, v. 6 bis 9.47

Wie nicht zuletzt die Zitation aus dem Römerbrief verdeutlicht, stehen Recht und Unrecht für Erhardt in einem geistlichen Zusammenhang, der mit der Hinkehr (bzw. Abkehr) von Gott und dem ewigen Leben zu tun hat. Insofern der Jüngste Tag daher das soziale Unrecht aufdecken und strafen wird, wird er damit zugleich das geistliche Unrecht des Unglaubens offenbar machen, aus welchem sich – theologisch betrachtet – alle sozialen Verfehlungen ergeben haben („ein fauler Bawm/ bringet arge Früchte“ Mt 7,17). Das unschuldige Opfer ist somit für Erhardt nicht einfach Jedermann, sondern der leidende Gerechte, wie es sich auch beim schuldigen Täter konkret um den Gottlosen handelt. Die Verachtung und Lieblosigkeit, mit welcher er Gott gegenüber agiert, wirkt sich dabei auch auf seine Mitmenschen, besonders aber auf die Frommen aus (vgl. etwa Ps 94,1–10). Für Erhardts Rede vom Endgericht ist daraus bereits ein wichtiger Sachverhalt zu entnehmen: Das Jüngste Gericht hat es mit der Wahrhaftigkeit Gottes zu tun, der in seinem Wort versprochen hat, dass er für den Gerechten/den Glaubenden sorgen will („Befelh dem HERRN deine wege/ vnd hoffe auff jn/ Er wirds wol machen“ Ps 37,5). Dementsprechend geht es am Jüngsten Tag darum, dass das Vertrauen gerechtfertigt wird, welches der Fromme auf das Wort seines Herrn gesetzt hat: Jst GOtt gerecht, ist er wahrhaftig; so muß ein Tag, ein Gericht bevorstehen. Da das Wort eines erleuchteten Davids eintrifft, Psalm 35 [recte: Ps 37,6]. GOtt wird deine Gerechtigkeit hervor bringen, wie das Licht, und dein Recht wie den Mittag.48

Für das Versprechen, dass Gott am Jüngsten Tag für sein Wort eintreten und den Glauben an ihn unwiderlegbar rechtfertigen wird, bildet eben jenes Wort Jesu das Pfand und Vorzeichen: „Himel vnd Erden vergehen/ Aber meine Wort vergehen nicht.“ Steht für Erhardt beim Jüngsten Gericht also die Wahrhaftigkeit Gottes (seiner Verheißung) auf dem Spiel, so ist klar, dass sich dies auch auf seine Drohung bezieht. Nicht nur in seinem Verheißungswort, sondern ebenso in seinem Drohwort wird sich Gott für gerecht erklären und dem jetzt leidenden Menschen, der auf ihn hofft (dem Frommen), zu seinem Recht ver-

47 EE, S. 8. 48 EE, S. 9.

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helfen. Der Gottlose, der sich in diesem Leben zu Lasten Gottes und des Nächsten stolz und unbarmherzig verhalten hat, wird dabei seine gerechte Strafe empfangen: „Wehe euch, die ihr hie lachet. Denn ihr werdet dort weinen und heulen.“49 Das Lachen steht hier für die Verachtung und den Spott, den der Glaubende seitens der Welt ertragen musste.50 Von der Thematisierung dieser gleichsam doppelten Wahrhaftigkeit wird dann die zweite Abhandlung geprägt sein, welche die Dramatik des Jüngsten Tages (in Himmel und Hölle) zu vergegenwärtigen sucht. Zunächst ist jedoch auf das zweite Argument zu blicken.

1.2. Das Gewissen

Erhardt versucht, seine Rede von der Wahrhaftigkeit Gottes mit einem Hinweis auf das menschliche Gewissen zu plausibilisieren. In diesem Sinne wendet er sich direkt an die Spötter, wobei es ihm weniger um das Gewissen selbst als vielmehr um den Kampf geht, der sich in ihm abspielt. Dessen Unruhe und Zerrissenheit sollen hier gewissermaßen als Zeugen des Jüngsten Tages dienen. Wichtig ist dabei zu beachten, dass Erhardt das Phänomen des Gewissenskampfes vor dem Hintergrund des biblischen Zeugnisses interpretiert. Insbesondere spielt die Stelle Röm 2,14–16 eine Rolle, in welcher die Gedanken des Herzens (und Gewissens) von Paulus auf die natürliche Gesetzeserkenntnis bezogen werden. Obwohl die Heiden (anders als die Juden) das göttliche Gesetz (die Tora) nicht am Sinai empfangen haben, ist ihnen Gott als Gesetzgeber durchaus vertraut, sind ihnen die Gebote bewusst. Dafür ist der Gewissenskampf schon für den Apostel Ausweis und Zeugnis (Röm 2,15).51 An diese Argumentation knüpft Erhardt an, wenn er die Spötter auf ihr Gewissen hin anspricht: Fragt euer Gewissen, ihr Spötter, das wird euch lehren, ob ein Jüngstes Gericht an der Welt Ende seyn werde, oder nicht. Warum fürchtet sich ein Mensch, wenn er böses thut? und ist im Gegentheil vergnügt und freudig, wenn er gutes gethan hat? Kömmts nicht daher? (ich rede mit Paulo Röm. 2, Cap. v. 14. 15.) weil sie ihnen selbst ein Gesetz sind; damit, daß sie beweisen, des Gesetzes Werk sey geschrieben in ihren Herzen. […] Das Gewissen erkennt also einen Gesetzgeber; einen Richter; einen Rächer über die, so böses thun. Wer siehet

49 EE, S. 8. 50 So auch in der Interlinearkommentierung der Kurfürstenbibel (Anm. 35), S. 78. 51 „Gott hat den Heiden das, was das Mose-Gesetz fordert, als Norm ins Herz geschrieben. Sie haben nicht das heilige Buch des Gesetzes, aber die Schrift steht in ihren Herzen. Davon zeugt nicht nur ihr Tun, sondern außerdem ihr Gewissen, das nach der Tat sagt: das war recht, das war unrecht.“ Paul Althaus: Der Brief an die Römer. Göttingen 61949 (Das Neue Testament Deutsch 6), S. 21.

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nicht auch hier, daß Jesu Wort eintreffe. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht.52

Die Zerrissenheit des Gewissens dient Erhardt somit im doppelten Sinne als Beleg. Zum einen spricht sie für die Kenntnis Gottes als eines höheren Gesetzgebers und Richters, vor dessen (noch ausstehendem) Urteil man sich fürchtet. Zum anderen spricht sie für die Wahrheit der göttlichen Worte und Gebote, die sich gerade in der Gewissensnot bemerkbar macht: Wären Gottes Worte nicht wahr, müsste der Mensch nicht vor Gott Rechenschaft ablegen, würde es keinen Gewissenskampf geben. Der Mensch bestätigt somit unwillkürlich selbst, was Jesus in seinem Wort vorhält: „meine Worte vergehen nicht“, der Jüngste Tag wird kommen und der Mensch zur Verantwortung für sein Handeln (und Glauben) gezogen werden. Dabei ist sich Erhardt durchaus bewusst, dass die Unruhe im Gewissen auf unterschiedliche Arten erklärt werden kann. So begegnet er selbst einem „scheinbaren Einwurf“.53 Dieser besteht in der Annahme, die „Unruhe des Gewissens käme theils her von der Erziehung; theils von der Furcht, die Uebelthat möchte offenbar werden.“54 Beide Aspekte versucht Erhardt mit der Erfahrung zu widerlegen. So sei es nicht glaubhaft, dass das Gewissen ein bloßes Erbe der Erziehung sei, gelinge es dem Menschen doch nicht, dieses (wie andere „Vorurtheile der Jugend“55) abzulegen. Ganz gleich, wie sich der Mensch zu seiner Kindheit und Jugend verhalte, von der innerlichen Instanz des Gewissens könne er nicht frei werden („Man kanns nicht, wenns auch mancher gern wollte“).56 Der andere Aspekt „die Furcht vor dem offenbar werden“57 könne aber ebenso wenig zutreffen. Denn wie die Erfahrung zeige, sei die Gewissenspein auch bei denen vorhanden, die ihr Unrecht ganz und gar im Verborgenen verübt hätten, sich also mangels Zeugen über das ‚Offenbarwerden‘ gar nicht zu fürchten bräuchten. In diesem Sinne weist Erhardt auf den Mörder hin, der sich freiwillig seiner Verurteilung stellt, obwohl die Justiz seiner nicht habhaft wurde. Ein Mörder, ein anderer Missethäter, entflieht dem Arm des weltlichen Richters. Er ist an einem sichern Ort, und weit entlegen. Nichts destoweniger, (wie wir viele hundert Exempel haben) muß er aus Zwang seines Gewissens zurück gehen; bey dem Richter sich angeben; und um Urthel [= Urteil] und Recht bitten. Woher kömmt das? kömmt es nicht vom Gewissen?58

52 EE, S. 10. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Ebd.

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Auch die Beobachtungen, welche Erhardt beim Sterben eines Menschen gemacht hat, führt er als ein weiteres Argument für die Wahrheit des Jüngsten Gerichtes an. So könne man oftmals studieren, wie ein Mensch, der „in gesunden Tagen wenig Werks von der Religion gemacht“59 habe, im Sterben eine „ganz andere Sprache“60 von sich gebe. Die Unruhe, die ein „ruchloser Mensch“61 in der Todesstunde an den Tag lege, zeige daher, dass „[auch] sie [die Spötter] ein göttliches Gerichte fürchten.“62 Trotz dieser deutlichen Anzeichen und Warnungen, die in der Erfahrung bereitlägen (Gewissenskampf und Sterbensnot), seien die Gottlosen und Verächter jedoch unbelehrbar: „Doch welcher Spötter überlegt dieses? Sie wollen, sie müssen erst mit Schaden klug werden.“63 Dabei weist Erhardt den Hörer seiner Predigt noch auf einen wichtigen Punkt hin. So warnt er diesen in Anknüpfung an die Noah-Erzählung (Gen 6–9) davor, die Verzögerung des Endgerichts für irgendeinen Beweis zu halten. Nur weil sich der Jüngste Tag hinauszögert, bedeutet dies nicht, dass es ihn nicht gibt oder er ganz und gar ausbleibt. Die spöttische Frage „Wo ist die Verheißung seiner Zukunfft?“, die bereits im 2. Petrusbrief erscheint (2Petr 3,4) und hier im Hintergrund steht, wird mit dem Hinweis auf die Sintflut beantwortet.64 In Übereinstimmung mit der frühneuzeitlichen Auslegungstradition sieht Erhardt dabei in Noah einen „Prediger der Gerechtigkeit“ (2Petr 2,5), der die Flut als Strafe Gottes angekündigt und die Menschen zur Buße gerufen habe. Ähnlich wie der Prediger heute sei aber auch der Patriarch damals für seine Botschaft verspottet und verlacht worden, da diese nach biblischer Zeitrechnung erst nach 120 Jahren eintraf.65 Wenn aber schon zwischen der Ankündigung der Flut in Gen 6,13 und dem Eintreffen derselben in Gen 7,10–12 hundertzwanzig Jahre liegen konnten, dann könne sich auch – so das Argument – die Wiederkunft Christi verzögern, ohne deshalb unglaubwürdig zu werden. Eingedenk dieser biblischen Geschichte solle sich der Mensch also niemals sicher fühlen, sondern das Zeugnis seines Gewissens ernst nehmen und Buße tun: Hundert und Zwanzig Jahr mußte Noah sich verspotten lassen wegen der Predigt von der Sündfluth. Aber ich meyne ja wohl die Sündfluth kam doch, und jene nahmen ein Ende 59 Ebd. 60 EE, S. 11. 61 EE, S. 10. 62 EE, S. 11. 63 Ebd. 64 Das Gericht durch die Sintflut, welche die Welt untergehen ließ, ist dabei schon im Neuen Testament Typus und Vorbild für das Feuergericht, welches mit der Wiederkunft Christi einhergehen wird (vgl. Lk 17,26 f.; Mt 24,37 f. par.; 2Petr 2,5; 3,5–7). 65 So auch im Zeitregister der sog. Kurfürstenbibel (1641), welches den Bau der Arche in das 1536ste Jahr der Welt datiert, die Flut in das 1656ste Jahr: „Noah hat umb diese Zeit [1536] angefangen auf Göttlichem Befehl Busse zu predigen/ und den Kasten zu bawen/ nemlich 120. Jahr vor der Sündflut […].“ Anm. 35, fol. (t)(t)(t)(t)r.

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mit Schrecken. Und so wird es auch denen gehen, die den innerlichen scharfen Richter und Zeugen des Jüngsten Gerichts, das Gewissen, an Nagel hängen und verachten.66

1.3. Das dritte Argument: Die Vielzahl der biblischen Belege

Nach den beiden vorangegangenen Beweisgängen, die sich (mehr oder weniger) auf den natürlichen Erfahrungsschatz konzentrierten, ist das dritte Argument Erhardts rein biblisch-theologischer Art. Hierbei geht es gewissermaßen um die verschiedensten Gerichtsankündigungen der Bibel, die für Erhardt miteinander harmonieren: „So viel biblische Bücher: so viel haben wir auch bey nahe Weissagungen von dem Jüngsten Tag und Jüngsten Gericht.“67 Wichtig ist, dass die von Erhardt in diesem Zusammenhang zitierten Aussagen aus dem Alten und Neuen Testament (etwa Jud 14 f.; Gen 18,25; Dtn 32,35 u. a.) in sachlicher Hinsicht miteinander übereinstimmen. So würden sie alle (kanonübergreifend) auf das „allgemeine WeltGericht“68 am Ende der Zeiten verweisen: Die Propheten alten Testaments; Jesus, der aus des Vaters Schooß gekommen, und allen Rath Gottes geoffenbaret hat; seine Jünger und Apostel; die Engel bey der Himmelfahrt Christi Act. I, v. II. sind allzumal Herolde des letzten Tags und des grossen Gerichts.69

Im Unterschied zu heutigen Theologinnen und Theologen rechnet Erhardt daher nicht mit verschiedenen oder gar widersprüchlichen Gerichtsvorstellungen innerhalb der biblischen Bücher.70 Vielmehr geht Erhardt von einer göttlichen Inspiration der Schrift aus, weshalb diese mit einer Stimme (unisono) den einzigen und wahren Gerichtswillen Gottes verkündigt.71 Die Wahrhaftigkeit des Schriftwortes sieht er dabei von der Wahrhaftigkeit des Autors (also Gottes) abhängig. Weil Gott selbst die Wahrheit sei, müsse auch das von ihm inspirierte Wort wahr sein und wahr werden: Jst nun GOtt die Wahrheit; Soll Himmel und Erde vergehen, aber seine Worte nicht: so müssen nothwendig alle diese und andere Sprüche der Bibel unfehlbar eintreffen. Dann 66 EE, S. 11. 67 Ebd. 68 EE, S. 7. 69 EE, S. 12. 70 In diesem Sinne rechnet etwa Moltmann damit, dass sowohl ein Strafgericht (mit dem Ausgang in Himmel und Hölle) als auch ein allgemeines Versöhnungsgericht biblisch belegbar seien. Vgl. Jürgen Moltmann: Das Kommen Gottes. Eine christliche Eschatologie. Gütersloh 1995, S. 268– 273. 71 Erhardt bezieht sich hier auf den locus classicus in 2Petr 1,21: „Nun haben alle Männer Gottes geredet und geschrieben, getrieben von dem heiligen Geist.“ EE, S. 12. Die Auffassung von der divina inspiratio der Heiligen Schrift war Gemeingut der lutherischen Orthodoxie. Vgl. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Dargestellt und aus den Quellen belegt. Hg. von Horst Georg Pöhlmann. Gütersloh 91979, S. 40–47.

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GOtt ist nicht ein Mensch, daß er lüge; noch ein MenschenKind, daß ihn etwas gereue. Sollte GOtt etwas sagen, und nicht thun? sollte er etwas reden, und nicht halten? Nimmermehr kann dieß geschehen 4 Buch Mose 23,19.72

Hier zeigt sich nochmals deutlich, was bereits an früherer Stelle sichtbar wurde: Bei der Rede vom Jüngsten Gericht geht es Erhardt nicht primär um die Herstellung von Gerechtigkeit oder gar um ein Versöhnungsgeschehen. Der Jüngste Tag steht bei ihm ganz im Zeichen der Wahrhaftigkeit Gottes, seiner Zusagen und Drohungen: „Sollte GOtt etwas sagen, und nicht thun? sollte er etwas reden, und nicht halten?“73 Wird sich an jenem Tag die Wahrheit des göttlichen Wortes endgültig offenbaren, so werden auch Annahme und Ablehnung desselben (Glauben und Unglauben) aufgedeckt und voneinander geschieden. Auch hier wird sich in letzter Konsequenz bewahrheiten, was Gott durch den Mund seiner Apostel und Propheten verkündigen ließ: „Wer aber nicht gleubet/ der ist schon gerichtet“ (Joh 3,18). „Wer böse ist/ bleibet nicht fur dir“ (Ps 5,5). Eben dieser Ernst ist für den zweiten Teil der Predigt charakteristisch.

1.4. Die zweite Abhandlung

Ist für Erhardt das Kommen des Jüngsten Gerichts durch die drei oben skizzierten Argumente hinreichend belegt,74 so geht es ihm nun darum, die Hörer seiner Predigt mit dem Ausgang desselben zu konfrontieren. Im Anschluss an die lutherische Bekenntnistradition (s. o.) ist dabei sowohl von der Hölle als auch vom Himmel die Rede. In diesem Sinne führt Erhardt nicht nur den Schrecken für die Gottlosen vor Augen, sondern konzentriert sich auch auf das fröhliche Moment dieses Tages für die „begnadigte[n] Seelen“.75 Während die Botschaft vom Endgericht für den Gottlosen angesichts der ewigen Verdammnis „Furcht und Schrecken“76 bereithalte, sei sie den Frommen „Freude und Trost“.77 Grund dafür ist die Tatsache, dass dem Gerechten, der auf Erden unter den Bedingungen der eigenen wie der fremden Sünde zu leiden hat, an jenem Tag Befreiung und Erlösung widerfahren soll. Erhardt kann hier auf viele Motive und Erzählungen der Bibel zurückgreifen, die für ihn das Ergehen des Frommen in der Welt

72 EE, S. 12. 73 Ebd. 74 „Sehet da Geliebte! das ist der Beweiß für die Gewißheit des Jüngsten Tags, und des allgemeinen Gerichts.“ Ebd. 75 EE, S. 13. 76 Ebd. 77 Ebd. Hier steht sicherlich Luthers Rede vom ‚lieben Jüngsten Tag‘ im Hintergrund. Vgl. dazu Kurzmann (Anm. 18), S. 32–34 sowie Johann Anselm Steigers Beitrag in vorliegendem Band.

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stellvertretend repräsentieren. So spricht er die „GOtt geheiligte[n] Seelen“78 mit den Worten an: Dann gesetzt, die Welt sey euch ein Sodom, darinnen eure Seele, wie Loths gerechte Seele, gequälet wird, durch allerhand ärgerliche Greuel, die da vorgehen [Gen 19,9]. Wisset, es ist die Stunde, da ihr freudig mit Paulo könnet ausruffen: Der HErr wird mich bald erlösen von allen Uebel und mir aushelffen zu seinem Himmlischen Reich 2. Tim. 4, v. [18] gesetzt, die Welt sey euch ein Babel, da ihr an den Wassern der Trübsal sitzen, und eure Harfen an die Weiden hängen müsset [Ps 137,1–2]. Wisset, es kommt die Zeit, da euer Weinen wird in Freude verkehret werden; in eine solche Freude, die euch nimmermehr iemand nehmen kann. Joh 16,22.79

Was schon im ersten Argument der ersten Abhandlung zu sehen war, kommt hier nochmals zur Sprache: Der Jüngste Tag wird den Elenden und Geplagten, die infolge ihres Glaubens Unrecht erleiden, zum Recht verhelfen. Ihr Warten und Hoffen auf den Herrn wird nicht vergeblich sein. Dementsprechend mahnt Erhardt die frommen Seelen auch beim Glauben und in der „Liebe gegen GOtt, und den Nächsten“80 zu verharren, sich von Verfolgung, Schmerz und Schmach nicht irritieren zu lassen. Dabei schließt er seine Mahnungen ab, indem er die neunte Strophe von Johann Heermanns Passionslied Herzliebster Jesu (EG 81,9) mit einer Aussage aus dem Buch Hiob kombiniert. Die Verwandlung von Trauer in Freude, von Schande in Herrlichkeit, von Tod in Leben will im Gefolge des Glaubens geduldig erhofft und erwartet werden: Eure Losung bleibe also veste: bis daß mein Ende kommt will ich nicht weichen von meiner Frömmigkeit. Hiob 27, v. 5. Jch werde dir zu Ehren, mein Jesu!, alles wagen, kein Creutz nicht achten, keine Schmach, noch Plagen. Nicht soll Verfolgung, nichts von Todtes Schmerzen, mir gehen zu Herzen.81

Im deutlichen Gegensatz zur Freude, die dem Frommen durch das Endgericht widerfahren wird, steht das Ergehen der Gottlosen und Sünder. Gewissermaßen findet hier eine Art Umkehrung statt: Geht der Glaubende durch das (zeitliche) Leiden in die (ewige) Herrlichkeit, so geht der Gottlose durch die (zeitliche) Herrlichkeit ins (ewige) Leiden. Wichtig ist dabei jedoch, dass nicht moralische Kriterien im Gericht entscheidend sind. Kriterium dafür, ob ein Mensch vor dem Richterstuhl Christi bestehen kann oder nicht, ist für Erhardt allein Christus selbst. Geht also der Gottlose im Gericht verloren, dann nicht deshalb, weil er unmoralisch gehandelt, sondern weil er Christus (sein Wort und Sakrament) verachtet hat. An jenem Tag wird eben nicht der Lohn für irgendwelche

78 EE, S. 3. 79 EE, S. 14. 80 Ebd. 81 Ebd.

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menschlichen Werke ausgeteilt, sondern Glauben und Unglauben werden (mit all ihren Folgen) offenbar: Hilf ewiger GOtt! wie werden die unbusfertigen Sünder in Angst und Schrecken gerathen, wenn JEsus der gerechte Richter sich offenbaren und zu ihnen sprechen wird: Jch bin JEsus, dessen Wort, dessen Verdienst ihr verachtet habt. Jch bin JEsus, den ihr mit euren bösen Leben geschändet habt. Jch bin JEsus, dessen Leib und Blut ihr im Sacrament gering geschätzet. Jch bin JEsus, den ihr verfolget habt in meinen Gliedern. Jch bin JEsus, dessen Gericht ihr bezweifelt und verspottet habt. Zu spat werdet ihr so denn rufen: Jst keine Rettung? keine Erlösung mehr? O ihr Berge fallet über uns [Hos 10,8]!82

Die Tatsache, dass sich der Ausgang des Gerichts an Christus (als dem Richter) entscheiden wird, hat nun zunächst Folgen für die Art und Weise, wie Erhardt die Sünder anspricht. So fordert er diese nicht vorrangig dazu auf, gute Werke zu tun. Weil der Mensch am Jüngsten Tag nicht aufgrund seiner selbst, sondern allein aufgrund der Person und des Werkes Christi besteht, ist es Erhardt hier primär um die Erkenntnis der Sünde und die Annahme des Evangeliums zu tun. Erst danach können (und sollen) die rechtschaffenen „Früchte der Buße“83 folgen. Unter Anspielung auf die sechste Strophe des Bußliedes So wahr ich lebe, spricht dein Gott (EG 234,6) sowie Jesu eigener Verkündigung (Mk 1,14 f.) ruft Erhardt den Gottlosen zu: Ey, so eilet und errettet eure Seelen, ihr Sünder! ietzt ist es noch Zeit, ehe Morgen kommt kanns ändern sich [EG 234,6]. Euch sagt der Heyland im Evangelio: Hütet euch, daß eure Herzen nicht beschweret werden mit Fressen und Sauffen und mit Sorgen der Nahrung, und komme dieser Tag schnell über euch etc. [Lk 21,34]. Demnach thut Busse, bereuet eure Sünden; Glaubet aber auch an das Evangelium, das uns JEsum vorhält, als die Versöhnung für der ganzen Welt Sünde [Mk 1,14 f.]. Thut endlich auch rechtschaffene Früchte der Busse. Das ist, lebt züchtig, oder mäßig, gerecht, und gottseelig in dieser Welt. So ist euch geholfen.84

Dass Christus selbst das einzige Kriterium für den Ausgang des Gerichtes darstellt, dürfte noch einen anderen Effekt haben. So findet sich in der gesamten Predigt keine Spur von Überheblichkeit oder gar Schadenfreude. Dass dem Sünder am Ende der Zeiten die ewige Verdammnis droht, wird für Erhardt also nicht zum Anlass, stolz oder selbstsicher zu werden. Vielmehr dominiert das Wissen, dass auch der Fromme durch niemand anderen als durch Christus gerettet werden kann. Sinngemäß gilt hier die Aussage, die schon Paulus aus dem Alten Testament zitiert: „Wer sich rhümet/ der rhüme sich des HERRN“ (1Kor 1,31). Der Glaube an den Herrn führt hier also zu Demut und tiefster Anteilnahme. In diesem Sinne hat Erhardts Rhetorik wenig mit einer Drohung als 82 EE, S. 15. 83 EE, S. 16. 84 Ebd.

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vielmehr mit einer flehentlichen Bitte gemein. Zwar kündigt er den Unbußfertigen das Kommen des Jüngsten Tages als „Tag der Angst“85 an, spricht aber sogleich darauf den Wunsch aus, die Sünder mögen zur Buße finden: „Jch wünsche, daß es noch auf euren SterbeBette heilsam geschehe; damit der Richter euer in der Ewigkeit schonen könne!“86 Besonders eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang der Schluss der Predigt. Denn anders als man es vom bisherigen Verlauf und dem Aufbau der Gedanken erwarten könnte, macht Erhardt im letzten Satz zwischen Bekehrten und Unbekehrten keinen Unterschied. Auch hier scheint die paulinische Überzeugung durch, dass vor Gott alle Menschen gleich sind – sowohl mit Blick auf die Sünde, die sie in die Verdammnis führt, als auch mit Blick auf die Gnade, die sie retten will (Röm 3,22–24). Dementsprechend fasst Erhardt Sünder und Fromme zusammen, wenn er mit der sog. Gnadenformel (Ex 34,6 f.) betend vor Gott tritt und am Ende folgende Bitte formuliert: HErr, HErr barmherzig, gnädig und von grosser Gnade und Treu [Ex 34,6 f.], laß doch keinen von uns kommen ins Gericht, so das erschreckliche Urtheil spricht: Weichet von mir ihr Uebelthäter [Lk 13,27]. Amen!87

Der Schluss der Predigt gibt mit Blick auf die eingangs skizzierten Positionen der Gegenwart zwei Dinge zu beachten. Erstens: Die Rede von Sünde, Hölle und Verdammnis steht bei Erhardt gerade nicht (wie bei Moltmann) der Rede von Gottes Liebe und Treue im Weg. Vielmehr bildet sie den Horizont, vor welchem allererst angemessen von Gottes Liebe gesprochen werden kann. Das Wissen um das Verdammungsgericht ist bei Erhardt unumgänglich, wenn es um die Liebe Gottes, die Vergebung in Christus, gehen soll.88 In etwas abgeschwächter Weise (nämlich meist ohne direkte Rede von der Hölle) wird die Bedeutung der Gerichtsvorstellung für die Gnade auch von heutigen Theologinnen und Theologen betont: „Denn wovor müsste Christus uns retten, wenn der allein ‚liebe‘ Gott uns ohnehin alles nachsähe?“89 Zweitens: Die Feststellung, dass es Frommen 85 EE, S. 14. 86 Ebd. 87 EE, S. 16. Dieser Schlusssatz bildet mit dem Eingangsgebet eine Art Rahmen. So macht Erhardt auch beim Beginn der Predigt zwischen Sündern und Frommen keinen Unterschied, schließt vielmehr alle ins Gebet ein: „Jn unserer letzten Noth, am Jüngsten Gericht, hilf uns allen lieber HErr und GOtt, Amen.“ EE, S. 7. 88 In diesem Sinne zeigt sich (mindestens indirekt) eine große Nähe zwischen der Predigt Erhardts und der Theologie des Johannesevangeliums sowie der johanneischen Briefliteratur (vgl. etwa Joh 3,16; 1Joh 4,9 f.). 89 Corinna Dahlgrün: Von Auferstehung und Gericht predigen. In: „… und das Leben der zukünftigen Welt“. Von Auferstehung und Jüngstem Gericht. Hg. von Heinrich Bedford-Strohm. Neukirchen-Vluyn 2007, S. 77–89, hier S. 84. In ganz ähnlicher Weise findet sich dieser Gedanke auch bei Michael Beintker, der (wie Corinna Dahlgrün) die aktuelle „Gerichtsvergessenheit“ vieler Predigten kritisiert: „Wie die Rechtfertigungsbotschaft ohne ihren forensischen Kontext der

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und Sündern im Endgericht unterschiedlich ergehen wird (Himmel/Hölle), führt bei Erhardt nicht zu einer unbarmherzigen Unterscheidung der Menschheit in Böse und Gute. Einen Moralismus oder gar einen Triumphalismus der Glaubenden (über die Verdammten) sucht man hier vergebens. Vielmehr ist bei Erhardt eine tiefe Demut erkennbar, in welcher er sich mit den Sündern solidarisch weiß und welche besonders im Schlusssatz zum Ausdruck kommt. Eben weil vor Gott kein Lebendiger gerecht ist (Ps 143,2), kann – für Bekehrte und Unbekehrte – allein Christus die Rettung sein. Zwar geht es auch für Erhardt am Jüngsten Tag um die menschlichen Werke, um Recht und Unrecht, doch wird die Frage nach den Werken nicht (wie etwa bei Michael Beintker) von der Frage nach dem Glauben an Christus getrennt. Tritt der Mensch am Jüngsten Tag „mit der Summe der von ihm ins Dasein gegebenen Liebe (wie mit der Bilanz seines Versagens) vor seinen eschatologischen Richter“,90 so wird für Erhardt offenbar werden, wem seine Liebe wirklich galt, ob in ihr der Glaube oder der Unglaube am Werke war. Da Glaube und Moral (resp. Unglaube und Unmoral) jedoch keineswegs identisch sind, es vielmehr auch ein moralisches Leben im Unglauben gibt,91 wird man davor warnen müssen, jedes Zeichen der Liebe, jede Form der Zuwendung von vornherein als für das Himmelreich bedeutsam zu halten. Gerade aus rechtfertigungstheologischen Gründen sollte hier eine Trennung von Glaube und Liebe vermieden werden, die darauf hinausläuft, menschlichen Liebeswerken abstrakt (d. h. ohne Bezug zum Glauben) eine Bedeutung für den Jüngsten Tag beizumessen.92 Diese Warnung scheint mir vor allem deshalb angebracht, weil sie hilft, die Rede vom Jüngsten Gericht vor einem moralistischen Denken zu bewahren. Die Gnade Christi, auf die es im Endgericht einzig ankommen wird, darf nicht unterminiert werden, auch dann nicht, wenn man (nachvollziehbarerweise) die vom Menschen geübte Liebe würdigen will. Um Unverbindlichkeit und damit dem Missverständnis der ‚billigen Gnade‘ ausgeliefert wird, so wird die eschatologische Verkündigung ohne das Tribunal Jesu Christi zur Ansage eines billigen ‚Ende gut – alles gut‘ verflachen.“ Beintker, Gottes Urteil (Anm. 15), S. 93. Freilich ist der Wert des Gerichtsgedankens bei Beintker nicht zwingend mit der Beibehaltung einer traditionellen Apokalyptik (Himmel/Hölle) verbunden. Im Unterschied zu Erhardt wäre bei Beintker also auch dann vom Jüngsten Gericht die Rede, wenn vom Versöhnungsgericht (also von der Allversöhnung) geredet würde. 90 Beintker, Gottes Urteil (Anm. 15), S. 96. 91 Vgl. hier nur Luthers Ausführungen zu der „speciosissima religio“ der Babylonier, aus welcher Abraham von Gott befreit und gerufen wurde (Gen 12,1): WA 42,437,10–35. 92 So Beintker: „Jedes Zeichen der Liebe, jede Zuwendung, jede Form der tätigen Phantasie für den Mitmenschen ist hier [am Jüngsten Tag/im Himmelreich] bedeutsam. Zwischen ihnen und dem Reich Gottes als vollendeter Realität der Liebe gibt es eine verborgene Kontinuität.“ Beintker, Gottes Urteil (Anm. 15), S. 96. Die Ansicht, dass die menschlichen Liebeswerke (als solche) für das Jüngste Gericht/die Ewigkeit bedeutsam sind, wird auch im Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen in der EKD vertreten. Vgl. Unsere Hoffnung auf das ewige Leben. 2. Aufl. Neukirchen-Vluyn 2008, S. 94–97.

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eine werkgerechte Verkürzung an dieser Stelle zu verhindern, müsste man wohl (im Sinne Erhardts) konstatieren: In Gottes Reich bringt der Mensch nicht seine Liebestaten ein (so Beintker),93 sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist, bringt den von sich aus lieblosen Menschen in das Reich Gottes. Insofern es also am Jüngsten Tag zu einer Offenbarung von Glaube und Unglaube (samt ihren Werken) kommen wird, werden auch die Taten der Liebe (als Taten des Glaubens!) offenbart und gewürdigt. Da sich der Glaube – lutherisch gedacht – für den Menschen jedoch sub contraria specie vollzieht, wird der Jüngste Tag für eine Art Überraschungsmoment sorgen. Mit Blick auf die Glaubenden drückt sich dieses in der Weltgerichtsrede Jesu (Mt 25,31–46) in Gestalt der verwunderten Frage aus (Mt 25,37): „HErr/ Wenn haben wir dich hungerig gesehen/ vnd haben dich gespeiset? Oder durstig/ vnd haben dich getrenckt?“94

2. Ausblick: Das Jüngste Gericht in Luthers Genesisvorlesung Dass die Texte der Genesis für die Thematik des Jüngsten Gerichts durchaus eine Rolle spielen, wurde bereits in der Predigt Erhardts sichtbar. So bezog sich Erhardt nicht nur auf das Ergehen Lots in der Geschichte des Untergangs von Sodom und Gomorra (Gen 18–19),95 sondern auch auf die Sintflut-Erzählung sowie die Rolle Noahs (Gen 6–9).96 Angesichts dieser Beobachtung soll es im Folgenden darum gehen, einen Blick in Luthers Genesisvorlesung zu werfen, welche er (mit einigen Unterbrechungen) über zehn Jahre lang gehalten hat (1535–1545).97 Eingedenk der Fülle des hier zu findenden Stoffes, kann es sich aber nur um eine schlaglichtartige Beschäftigung handeln, die sich auf wenige, ausgewählte Passagen bezieht. Dabei soll es nicht vorrangig um die Frage gehen, wie Luther die einzelne Bibelstelle (oder ihren Kontext) konkret interpretiert 93 Vgl. Beintker, Gottes Urteil (Anm. 15), S. 96. 94 Dass die Gerechten in der Weltgerichtsrede nicht einfach aufgrund ihrer Taten gerecht sind, es also auch hier nicht um eine Art ‚Lebensbilanz‘ geht, ergibt sich bereits aus der Anrede Christi, in welcher vom Erbe gesprochen wird: „Kompt her jr gesegneten meines Vaters/ ererbet das Reich/ das euch bereitet ist von anbegin der welt“ (Mt 25,34). Vgl. zum neutestamentlichen Verständnis von Erbe/erben, bei welchem es i. W. um das Empfangen der Verheißung geht: Johann Eichler: Art. Erbe/Anteil. In: Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament 1 (1997), S. 342–346, hier S. 344. Diesen wertvollen Hinweis verdanke ich meinem Freund und ehemaligen Kollegen Jonathan Rehr. Insofern dürfte es nur in eingeschränkter Weise zutreffen, wenn Beintker konstatiert, dass „Kultus und Andacht und […] Frömmigkeit in diesem Gleichnis keinerlei Erwähnung finden.“ Beintker, Gottes Urteil (Anm. 15), S. 95. 95 Vgl. EE, S. 13. 96 Vgl. EE, S. 11. 97 Für die näheren zeitlichen Umstände der Vorlesung sei verwiesen auf: Hans-Ulrich Delius: Die Quellen von Martin Luthers Genesisvorlesungen. München 1992 (Beiträge zur evangelischen Theologie 111), S. 7–13.

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oder wie er sich mit seiner Interpretation von anderen Exegeten unterscheidet. Vielmehr liegt der Fokus darauf, was sich aus der jeweiligen Interpretation für die Rede vom Jüngsten Gericht ergibt. Was ist also zu lernen, wenn man Luthers Genesisauslegung auf die Thematik des Jüngsten Gerichts hin befragt?

2.1. Die Noah-Geschichte

Kam Erhardt in seiner ersten Abhandlung auf den Patriarchen Noah als „Prediger der Gerechtigkeit“ (2Petr 2,5) zu sprechen, so taucht dieser Aspekt auch in Luthers Genesisauslegung auf. Auch Luther geht davon aus, dass Noah wider die Bosheit der Welt gepredigt, die Menschen zur Buße gerufen und vor der kommenden Sintflut (als Gericht) gewarnt hat.98 Ähnlich wie bei Erhardt kommen in diesem Zusammenhang der Spott und die Verachtung zur Sprache, welche Noah aufgrund seines Glaubens sowie seiner Lehre widerfuhren.99 An mehreren Stellen und auf unterschiedliche Weise verbindet Luther das Ergehen Noahs, sein Leiden und seine Predigt, daraufhin mit seiner eigenen Gegenwart: „Eadem enim, quae ipsi Noah acciderunt, nobis quoque accidunt.“100 Wie Noah die Welt wegen ihrer Gottlosigkeit anklagte und angesichts des Flutgerichts zur Umkehr rief, so fordert auch die Kirche der Reformation die „Papistae“101 dazu auf, die falsche Lehre und die Gotteslästerungen („sacrilegia“102) zu unterlassen.103 Auch dabei spielt die Ankündigung eines Gerichts, in diesem Fall des Jüngsten Gerichts, eine Rolle. Statt sich aber zu bekehren, würden diese ihre Sünden leugnen, sich mit dem Namen der Kirche schmücken und die rechte Kirche (vera ecclesia) verfolgen.104 Daher bleibe den Frommen – so Luther – nichts anderes übrig, als (wie Noah) auf den Tag des Gerichts zu warten, der die Mahnungen sowie den rechten Glauben (die rechte Lehre) ins Recht setzen werde. Adversarii nostri tribuunt sibi nomen populi Dei, cultum, gratiam et omnia, Contra nobis tribuunt omnia diabolica. Cum igitur eos blasphemiae arguimus ac dicimus Satanae Ecclesiam esse, saeviunt in nos omni genere crudelitatis. Ploramus igitur cum Noah et commendamus causam Domino, Sicut etiam Christus in cruce facit (Quid enim aliud facia-

98 99 100 101 102 103 104

Vgl. insbesondere WA 42,301,39–302,7. „Non igitur dubium est, quin generatio prava infensissime eum [Noah] oderit et varie exercuerit, insultantes ei […]“ (WA 42,300,23–25). WA 42,299,28 f. WA 42,299,11. WA 42,306,35. Vgl. WA 42,305,33–37. Vgl. WA 42,297,33 f.

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mus?) et expectamus, dum Deus iudicium faciat in terra et ostendat se reliquias timentium se amare et multitudinem impoenitentium peccatorum odisse […].105

Wie das Zitat zeigt, fasst Luther an dieser Stelle – parallel zu Erhardt – das Endgericht im Sinne eines Offenbarungsgeschehens auf, an welchem Glauben und Unglauben endgültig sichtbar und voneinander geschieden werden. Wichtig ist im Zusammenhang seiner Sintflut-Auslegung jedoch noch eine andere Sache. Die Rede ist davon, wie die „impii“106 zu Noahs Zeiten (Luther zufolge) mit seiner Gerichtspredigt umgingen. So hätten sich diese nicht nur selbst für fromm und gerecht gehalten,107 sondern auch logische Einwände gegen das Flutgericht erhoben. Besonders interessant ist es, wenn Luther hier den Spöttern ganz ähnliche Argumente in den Mund legt, wie sie auch in gegenwärtiger Literatur vertreten werden. In diesem Sinne taucht der Einwand auf, dass eine derartige kosmologische Strafe (wie die Sintflut) mit Gottes Barmherzigkeit nicht vereinbar sei, ihn geradezu zu einem grausamen Tyrannen mache. „Nam dicere, quod Deus totum Mundum sit perditurus Diluvio, hoc dixerunt perinde esse, ac si dicas Deum non misericordem, non Patrem, sed Tyrannum crudelem esse.“108 Diesen Einwand greift Luther an späterer Stelle nochmals auf, wobei er ihn verstärkt, indem er nun die völlige (logische) Unvereinbarkeit der Gerichtsbotschaft Noahs mit dem bisherigen Willen Gottes herausstreicht. Hatte Gott nicht die Welt geschaffen und seine Schöpfung als „sehr gut“ angesehen (Gen 1,31)?109 Hatte er nicht den Tieren und Menschen seinen Segen gegeben, sie zur Mehrung aufgerufen (Gen 1,28) sowie im Paradies eine ihm wohlgefällige Ordnung eingesetzt?110 Würde man Gott nicht zu einem Unbeständigen und Wankelmütigen machen, wenn man davon ausginge, dass er dies alles vernichten wollte?111 Dass Luther diese Einwände und Anfragen, die stark an die eingangs erwähnten Aussagen bei Jürgen Moltmann oder Volker Stümke erinnern, im Sinne einer oratio ficta den Zweiflern und Spöttern in den Mund legt, zeigt bereits sein Vorgehen. Die logischen Widersprüche, die der Gerichts- und Verdammungsgedanke im Menschen auslöst, werden weder ausgeblendet noch einseitig aufgelöst. Vielmehr werden sie theologisch reflektiert und in die Rede vom Gericht integriert, eine Rede, die Luther stets für widersprüchlich hält, wenn es um die Beurteilung durch die natürliche Vernunft des Menschen geht. So kommt der Reformator zu dem Schluss, dass der Mensch qua Vernunft und Erfahrung den 105 106 107 108 109 110 111

WA 42,299,29–36. WA 42,283,14. Vgl. WA 42,303,20–25. WA 42,299,18–20. Vgl. WA 42,307,8 f. Vgl. WA 42,307,9–13. „Nam statuere, quod Deus creaturam suam penitus sit deleturus, an non est Deum facere inconstantem et mutabilem?“ (WA 42,307,30 f.)

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Zorn Gottes (bspw. im Rahmen der Sintflut-Erzählung) nie glauben oder verstehen könne: „Non potest autem hanc iram ratio credere et intelligere perfecte.“112 „Grandiora igitur haec sunt, quam ut possint ratione humana intelligi aut comprehendi.“113 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es für Luther bei der Rede von Gottes Strafgericht immer der Erleuchtung und Offenbarung des Heiligen Geistes bedarf. Wenn der Heilige Geist nicht hinzukommt, bleibt die Gerichtsbotschaft zu widersprüchlich, als dass sie geglaubt werden kann. Dann bleibt der Mensch von den Gegenargumenten und Einwänden überwunden: „Nisi igitur Spiritus sancti illuminatio accedat, impossibile est hominem hoc Argumento non vinci.“114 Auch hierfür ist Noah das Beispiel. Sein Warten auf die kommende Sintflut, seine Trübsal über die Unbußfertigkeit der Menschen und seine mahnende Gerichtspredigt stammen nicht von ihm, sondern sind durch den Geist gewirkt. Dies macht Luther vor allem in seiner Auslegung von Gen 6,6b deutlich („vnd es [die Bosheit der Menschen] bekümert jn [Gott] in seinem Hertzen“). Dabei kommt es Luther zunächst darauf an, hervorzuheben, dass die Heilige Schrift nicht über das göttliche Wesen als solches spreche. Der Vers beziehe sich nicht darauf, dass Gott ein Herz habe oder bekümmert sei, vielmehr sei vom Patriarchen Noah, seinem Herzen und seiner Trauer, die Rede. Est autem intelligenda haec phrasis secundum Scripturae consuetudinem. Non est cogitandum, quod Deus habeat cor, aut dolere possit. Sed cum spiritus Noah, Lamech et Methusalah contristatur, Ipse Deus contristari dicitur.115

Der Grund dafür, dass Noahs Traurigkeit in der Bibel mit Gottes eigener Traurigkeit identifiziert wird, liege darin, dass dieser Affekt nicht von Noah selbst käme. In diesem Sinne bringt der Heilige Geist allererst die Traurigkeit in Noah hervor, indem er ihm den Zorn Gottes (sowie sein kommendes Gericht) über die Sünde offenbart. Es handelt sich also im Sinne von 2Kor 7,10116 um einen von Gott bewirkten Affekt, welcher mit dem Glauben an die Gerichtsbotschaft einhergeht. Insofern in diesem Geschehen der göttliche Geist der eigentliche Urheber ist, kann Noahs Affekt auch als Gottes Affekt bezeichnet werden.

112 113 114 115 116

WA 42,307,7. WA 42,307,36–38. WA 42,307,29 f. WA 42,296,38–41. Vgl. Johann Anselm Steiger: Melancholie, Diätetik und Trost. Konzepte der Melancholie-Therapie im 16. und 17. Jahrhundert. Heidelberg 1996, S. 11 und 17.

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Nos […] consistemus, […] quod scilicet Noah et alii Patres summo dolore affecti sunt, cum eis hanc iram revelavit Spiritus. Hi gemitus inenarrabiles optimorum hominum tribuuntur ideo ipsi Deo, quia proficiscuntur ex eius Spiritu.117

Ist die Einsicht in den Zorn Gottes (und sein Gericht) demnach durch den Heiligen Geist gewirkt, so ist klar, dass es sich hierbei um eine unverfügbare Gabe handelt. Der Ernst des Gerichts und die Furcht vor dem göttlichen Zorn sind (geistlich verstanden!) für den natürlichen Menschen weder selbstverständlich noch herstellbar. Dementsprechend betont Luther, dass auch Noah (ohne die revelatio spiritus sancti) nicht hätte begreifen können, wie groß Gottes Wut tatsächlich gewesen ist.118 Dass es sich bei der biblischen Rede von Strafe, Gericht und Verdammnis also um einen Gegenstand handelt, dessen Wahrheit im unverfügbaren Glauben offenbart und angeeignet werden will, kommt auch noch an einer anderen Stelle von Luthers Genesisauslegung zur Sprache. Diese soll abschließend betrachtet werden.

2.2. Die Abraham-Geschichte

Es ist die Rede von Luthers Auslegung von Gen 12,2a – eines Halbverses, der die Zusage der Volkwerdung an Abraham enthält.119 Nachdem Gott dem Patriarchen den Befehl gegeben hat, seine Heimat zu verlassen und in das Land ziehen, welches er ihm zeigen will (Gen 12,1), heißt es zu Beginn von Vers 2: „Vnd ich [Gott] wil dich [Abraham] zum grossen Volck machen.“ Für unseren Zusammenhang ist an Luthers Auslegung vor allem wichtig, wie er die Verheißung der Volkwerdung mit Blick auf den Glauben Abrahams interpretiert. So geht er ausführlich auf die Widersprüche und Fragen ein, die sich in Abrahams Vernunft angesichts seiner konkreten Lebensumstände einstellen mussten: Hatte Gott nicht gerade befohlen, die Heimat zu verlassen?120 Wäre es Gott nicht leichter, Abraham ein großes Volk in seinem eigenen Vaterland (bei Verwandten und Freunden) zu schenken, statt unter unbekannten Leuten in der Fremde?121 War der Erzvater darüber hinaus nicht ohnehin zu alt und hatte er nicht eine un-

117 WA 42,297,8–11. In derselben Weise interpretiert Luther auch das Motiv der Reue in Gen 6,6 („Da rewet es jn [Gott]/ das er die Menschen gemacht hatte auff Erden“): WA 42,293,14–19. 118 „Hic sensus fuit in Noah et aliis Patribus ex Spiritu sancto revelante, alioqui acquievissent in cogitationibus illis gaudii et iudicassent secundum promissionem illam priorem, quod Deus delectetur in omnibus operibus suis. Neutiquam cogitassent tantam Dei iram esse, ut non solum humanum genus omne, sed etiam omnia animantia coeli et terrae perditurus sit, quae tamen constat nihil peccasse: imo terram quoque“ (WA 42,298,18–23). 119 Die Auslegung findet sich in: WA 42,442,21–445,7. 120 Vgl. WA 42,442,30 f. 121 Vgl. WA 42,442,32–35.

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fruchtbare Ehefrau (Gen 11,30)?122 Angesichts der Fülle solcher logischen Probleme und Bedenken kommt Luther zu dem Schluss, der Erzvater habe nichts von der Zusage Gottes erkennen können, vielmehr seien mehr als genug Gründe vorhanden gewesen, den Worten Gottes zu misstrauen.123 Dass Abraham dann doch (entgegen solcher Widerstände) an die göttliche Zusage glaubte, führt er dementsprechend nicht auf dessen eigenes Vermögen, sondern auf die große Kraft des Heiligen Geistes zurück, der in Abraham tätig gewesen sei. Magna igitur et excellens Spiritus sancti virtus in Abraha fuit, quod impossibilia, incredibilia, incompraehensibilia ista potuit animo complecti, et ea inspicere, quasi vera, et iam praesentia essent. Praesertim cum iam accederet ad senectam. Nam fuit annorum LXXV. Sara autem decennio minor, et quidem sterilis erat.124

Die logische Unvereinbarkeit der Mehrungszusage mit der konkreten Lebenssituation Abrahams (einerseits) sowie der Hinweis auf die Wirkung des Heiligen Geistes (andererseits) lassen bereits gewisse Strukturparallelen zu Luthers Noah-Auslegung und der dortigen Gerichtsthematik erkennen. Wie die Mehrungszusage für Abraham (ohne den Heiligen Geist) im direkten Widerspruch zu seinem hohen Alter stehen musste und nicht glaubhaft war, so stand die Gerichtsankündigung für Noah (ohne den Geist) in einem Widerspruch zu Gottes Güte und zu seinem Schöpfersein. In beiden Fällen stellt also der Heilige Geist das Medium dar, welches für die Erkenntnis der Wahrheit des göttlichen Wortes (sei es als Mehrungszusage/sei es als Gerichtsbotschaft) notwendig ist. Im Zusammenhang seiner Auslegung von Gen 12,2a kommt Luther selbst auf diesen Konnex zu sprechen, wenn er am Schluss seiner Ausführungen auf den Jüngsten Tag (novissimus dies) eingeht.125 Dabei strebt er einen Vergleich zwischen dem großen Glauben Abrahams und dem eigenen Unglauben an: „Cum hac tanta fide conferamus nostram infidelitatem.“126 Als Vergleichspunkt wählt Luther die biblische Botschaft vom Jüngsten Gericht und der Wiederkunft Christi, wobei der entscheidende Unterschied zwischen Abraham und Luther (sowie seinen Hörern) darin liegt, dass der Erzvater die ihm verheißenen, aber unsichtbaren Dinge mit festem Glauben („certa fide“127) angenommen hat. Scimus Christum in novissimo die venturum, et pessundaturum omnes hostes suos: Turcam, Iudaeos, Pontificem, Cardinales, Episcopos, et quicquid est impiorum, qui verbum aut persequuntur, aut superbe vel contemnunt, vel negligunt. Scimus quoque Christum

122 Vgl. WA 42,443,1 f. 123 „Abraham igitur nihil horum vidit, imo etiam caussas abunde habuit, ne crederet, si carnem voluisset sequi, habuit enim sterile Matrimonium […]“ (WA 42,444,16 f.). 124 WA 42,442,36–443,2. 125 Vgl. WA 42,444,23–31. 126 WA 42,444,23. 127 WA 42,444,34.

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interim affuturum Ecclesiae, et conservaturum sanam doctrinam et veros cultus. Sed si haec, quae scimus, certo crederemus, putasne fieri posse, ut nos ulla perturbaret calamitas? putasne oborituram animis securitatem, quam in nobis sentimus, ac si certi essemus, mille annis abesse diem Domini? Si igitur credimus: profecto infirma nostra fides est, et vere sumus ὀλιγόπιστοι neque ullo modo cum sancto Abraha possumus conferri, qui invisibilia ista amplectitur certa fide, ac si iam teneret manibus ac palparet.128

Das Zitat macht auf vier Dinge aufmerksam, die sich zum Teil mit der Predigt Erhardts verbinden. So ist Luther (erstens) das Gefühl der Sicherheit (securitas) keineswegs fremd, durch welches dem Menschen der Ernst des Jüngsten Gerichts verborgen bleibt. Wie der Kontext zeigt, sieht Luther in diesem Gefühl (zweitens) den Unglauben hervortreten, der bei Erhardt mit der Verblendung durch den Teufel zu tun hatte. Drittens weiß auch Luther um die befreiende, ja fröhliche Wirkung, die der Jüngste Tag für den Menschen bereithält, wo er ihn im festen Glauben an Christus (als seinen Retter) ergreifen kann („Sed si haec, quae scimus, certo crederemus, putasne fieri posse, ut nos ulla perturbaret calamitas?“129). Und zuletzt unterscheidet Luther (viertens) zwischen der äußeren Bezeugung der Wiederkunft Christi („scimus“130) und der inneren Überzeugung dieses Geschehens („credimus“131). Obwohl die äußere Bezeugung (gemeint sind Heilige Schrift und kirchliches Bekenntnis) klar vom Kommen des Jüngsten Gerichts redet und auch Luther diese kennt, bleibt der Glaube daran spärlich. Die Gewissheit des Jüngsten Tages ist hier also – wie bei Erhardt – von einer äußeren Bewahrheitung abhängig, die in Gott (seinem Geist) selbst liegt und seitens des Menschen nur erbeten werden kann. Angesichts dieser Unverfügbarkeit des Gerichtsglaubens dürften sich also Luthers Ausführungen an dieser Stelle mit jenem Gebet verbinden lassen, mit welchem Erhardt die Vorrede seiner Predigt beginnt: HErr JEsu! Du Richter der Lebendigen und der Todten: Laß uns doch den Jüngsten Tag, und das Jüngste Gericht niemals aus dem Sinne kommen.132

128 129 130 131 132

WA 42,444,23–33. WA 42,444,29 f. WA 42,444,23.26. WA 42,444,32. EE, S. 3.

Frank Alexander Kurzmann

Einweihen in Erwartung des Jüngsten Tages. Betrachtungen zur Thematik des Letzten Gerichts in frühneuzeitlichen Einweihungspredigten

1. Der Fall Daniel Klesch(s) An1 einem Abend des Jahres 1697 kam – glaubt man der drastischen Schilderung in den Unschuldigen Nachrichten (1714) – in Berlin der verarmte ehemalige lutherische Superintendent Daniel Klesch (geb. 1624) auf dem Weg zu seiner schlichten Kammer zu Tode, als er bei Dunkelheit die Treppe hinunterstürzte.2 In den Jahren vor seinem Tod hatte Klesch in Erwartung des baldigen Weltendes bzw. des Eintreffens apokalyptischer Prophezeiungen eine Reihe von Schriften veröffentlicht, die ihn, so könnte man sagen, zu Fall gebracht hatten, denn diese enthielten u. a. aus der Lektüre der Johannesoffenbarung gewonnene Weissagungen, die seine eigenkonfessionellen Kritiker als heterodox erachteten:3 Noch 1683 war Klesch Superintendent von Heldrungen4 geworden, aller-

1 Vorliegende Studie ist ein Teilergebnis des DFG-Projekts Theologie und Intermedialität frühneuzeitlicher Einweihungspredigten: Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 408023088. 2 Vgl. Valentin Ernst Löscher (Hg.): Unschuldige Nachrichten Von Alten und Neuen Theologischen Sachen […]. Zweyte Ordnung […]. Leipzig 1714, S. 263–265, bes. S. 265; Karl F. Otto, Jr., Jonathan P. Clark: Introduction. A Short History of the Klesch Family. In: Bibliographia Kleschiana. The Writings of a Baroque Family. Hg. von dens. Columbia, SC 1996 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), S. x–xxi, hier S. xx f. Zu Klesch vgl. einleitend etwa Jochen Bepler: Art. Klesch, Daniel. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Bd. 6. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. 2., vollständig überarbeitete Aufl. Berlin, New York 2009, S. 478–480. 3 Vgl. z. B. Daniel Klesch: […] Wieder-Hall und Gegenschall Einer bekanten OffenbahrungsStimme […]. O. O. 1692. Zu Kleschs Erwartung des Weltendes vgl. etwa Otto, Clark (Anm. 2), S. xix. 4 Heldrungen liegt in Thüringen und ist ein geschichtsträchtiger Ort. Nach der Schlacht bei Frankenhausen wurde Thomas Müntzer hier im Jahr 1525 bald vor seinem Tod gefangen gehalten, verhört und gefoltert. Vgl. Hans-Jürgen Goertz: Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der

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dings verstand er sich zunehmend als spiritualistisch-apokalyptischer Prophet, was zu innerkonfessionellen Auseinandersetzungen führte.5 In seiner Bestia Bicornis von 1686 deutet er u. a. das in Apk 13,11–18 genannte Tier mit zwei Hörnern auf Frankreich (und Navarra) – noch regiert von dem für den römischen Katholizismus eintretenden Monarchen Ludwig XIV. – und datiert den Fall der Bestie auf das Jahr 1720, während er demgegenüber den Schwedenkönig Karl XI. und Christian V. von Dänemark als zentrale Kräfte eines erneuerten, wahrhaftigen Luthertums ansieht.6 Für sein lutherisches Umfeld war Klesch bald nicht mehr als Superintendent tragbar; 1690 musste er dieses Amt aufgeben.7 Die Grenze der binnenkonfessionellen Elastizität war in seinem Fall erreicht. Doch die konfessionelle Selbst- und Fremdverortung divergierten voneinander. Denn Klesch selbst, der sich nun (wohl in Anspielung auf Apk 3,7) auch Kleis, also Schlüssel, nannte,8 sah sich sehr wohl und überhaupt eigentlich als rechter Erbe Luthers und sprach zugleich seinerseits der von ihm im Anschluss an Apk 3,16 als ‚lau‘ disqualifizierten Amtskirche ab, das wahre Luthertum zu repräsentieren, wie etwa aus seinem 1692 veröffentlichten Wieder-Hall hervorgeht.9

1.1. Konfessionelle Positionierung und Plädoyers für lutherische Exulanten

Die Erfahrung, sich um seiner Glaubensüberzeugungen willen auf die Flucht begeben zu müssen, prägte Kleschs Leben. Unter Leopold I. war in seiner Heimat, der Zips, der Druck auf die Protestanten angestiegen, 1673 wurde der lutherische Kirchenmann zunächst inhaftiert.10 Später ins deutsche Exil geflohen, warb er, u. a. in sog. Gast-Predigten, die er in verschiedenen lutherischen Städten vortrug, für eine gelingende Integration geflüchteter Glaubensgenossen und verband dies gelegentlich mit eschatologischen Aussagen, ohne dabei (zu stark) von Zeiten. Eine Biographie. Völlig überarbeitete und teilweise neu geschriebene Neuausg. München 2015, S. 212 f. 5 Vgl. Bepler (Anm. 2), S. 479; Otto, Clark (Anm. 2), S. xviii–xx. 6 Vgl. Daniel Klesch: […] BESTIA BICORNIS, Apocalypticè detecta […]. Merseburg 1686, schon S. 1–12; 40–61; 108–110 u. ö. Vgl. weiter auch Otto, Clark (Anm. 2), S. xix. 7 Vgl. ebd., S. xx. 8 Vgl. etwa Klesch, Wieder-Hall (Anm. 3), S. [1]; 17; Otto, Clark (Anm. 2), S. xx. 9 Vgl. Klesch, Wieder-Hall (Anm. 3), S. 4; 39–42 u. ö. Zu früherer Kritik Kleschs an ‚seinen‘ Lutheranern vgl. Alexander Schunka: Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Hamburg, Münster i. W. 2006 (Pluralisierung & Autorität 7), S. 228 f. 10 Vgl. Otto, Clark (Anm. 2), S. xi–xiii; Schunka (Anm. 9), S. 26 f.; 226–229; ders.: Türken taufen in Thüringen. Muslime und lutherische Geistlichkeit im Erfurt des 17. Jahrhunderts. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 73 = NF 20 (2012), S. 160– 184, hier S. 171.

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gängigen lutherischen Lehrmeinungen abzuweichen.11 Nicht selten tritt in seinen Texten auch die durch die persönlichen Erfahrungen geprägte geradezu existenzielle Ablehnung des römischen Katholizismus zutage.12 In einer 1675 in Leipzig gehaltenen Gastpredigt etwa tritt er vehement gegen eine Nivellierung konfessioneller Positionen auf und fordert klare Abgrenzung gegenüber anderen Konfessionen.13 In diesem Kontext äußert Klesch die Befürchtung, dass die konfessionelle Verwässerung derart überhand nehmen könnte, dass „des Menschen Sohn/ wenn er kommen wird/ fast keinen Glauben; das ist/ keine richtige Glaubens-Bekäntniß wird finden auf Erden.“14 Gleichwohl ersehnt er die zweite Parusie Christi im Folgenden geradezu und wünscht, „daß doch der HERR JEsus bald käme“,15 sieht er den Tag des Gerichts doch als Tag des Triumphs über die dem wahren Glauben feindlichen Mächte an.16 In einer anderen Gastpredigt, die er 1676 im Hamburger Dom hielt, dankt er dafür, freundlich aufgenommen und unterstützt worden zu sein: Mit Blick auf diese Unterstützung spielt Klesch auf die in Mt 25,35 f. angeführten Werke der Barmherzigkeit an, welche der Richter im Letzten Gericht den frommen Wohltätern gnädig vergelten wird; der beherbergte Gast-Prediger präsentiert sich so selbst als eines jener geringsten Geschwister Christi, von denen in der matthäischen ‚Urteilsbegründung‘ (V. 40) die Rede ist.17

1.2. Die Einweihung der Schlosskapelle zu Schwanik in Erwartung des Jüngsten Tages

Einige Jahre vor seiner Flucht hatte der karpatendeutsche Theologe bei einer mit dem orthodoxen Luthertum noch gänzlich konformen Feierlichkeit mitgewirkt, nämlich bei der Einweihung der Schlosskirche zu Schwanik in der Zips (heute: 11 Vgl. Otto, Clark (Anm. 2), S. xiii–xv. Vgl. z. B. Daniel Klesch: HOMAGIUM SACRUM, PALMARIUM RATIONIS STATUS MYSTICAE AXIOMA […]. Hamburg 1676. 12 Vgl. etwa Otto, Clark (Anm. 2), S. xiii. 13 Vgl. Daniel Klesch: POST-SEMENTIS EVANGELICA GRANORUM QVINQVE SACRORUM […]. Leipzig 1675, fol. C 3v–4v. Vgl. weiter ebd., fol. B 3r–v; D 2r–v. 14 Ebd., fol. C 4r. 15 Ebd. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. Klesch, HOMAGIUM (Anm. 11), Titelblatt ohne Foliierung; S. 3 f. Analog dazu formuliert Klesch in seiner Elend-Klage von 1682 später, dass jene, welche die lutherischen Exulanten vernachlässigten, wenn nicht gar verspotteten, „bedencken wolten/ daß sie diese Schmach […] dem HErrn Christo angethan/ und was sie uns versaget/ zugleich unserm Heylande versaget haben; der am Jüngsten Tage sprechen wird zu ihnen/ […] Was ihr nicht gethan habt einem unter diesen Geringsten/ das habt ihr mir nicht gethan.“ Ders.: Weh- und demühtige Elend-Klage Derer aus dem Königreich Ungarn von Anno 1670. biß 1674. Jn denen jüngsten Verfolg[u]ngen unschuldig Vertriebenen […]. O. O. 1682, S. 5. Vgl. schon ebd., S. 3–5.

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Spišský Štiavnik, Slowakei). Seine Überzeugung, dass der Jüngste Tag den Glaubenden heilvoll sei, schlägt sich auch in dem von ihm verfassten Bericht über die Abläufe der Einweihung am 24. November 1669 nieder.18 In einem einleitenden Abschnitt gedenkt der gekrönte Dichter Klesch,19 der sich in jener Schrift rühmt, Catharina Regina von Greiffenberg binnen nur eines Monats die deutsche Dichtkunst gelehrt zu haben,20 zunächst zahlreicher Glaubensgenossen, denen er als aufrechten Bekennern des Luthertums verheißt, am Jüngsten Tage zur Rechten des Richters zu stehen (vgl. Mt 25,32–34) und das ewige Leben zu erlangen.21 Im weiteren Verlauf folgen dann jedoch Bußaufrufe;22 Klesch warnt die allzu ‚sicheren‘ Adressaten in der Zips vor göttlicher Strafe, auch in Form weiterer Vormärsche der Türken.23 Dabei verweist er auf seinen Namensvetter, den Propheten Daniel,24 in dessen Worten er seine Befürchtung begründet sieht, nämlich in Dan 7,21 f. (vgl. Apk 13,7): „Denn er sahe das Horn streiten wieder die heiligen/ und behielt den Sieg wider Sie/ biß der Alte kam und Gericht hielt“.25 Klesch hofft also auch hier auf das Letzte Gericht und insistiert zugleich darauf, dass erst der Jüngste Tag die Befreiung von den bis dahin andauernden Bedrängungen der wahren Christen bringen werde.26 Vor diesem Hintergrund grenzt er sich dann auch gegen jene ab, die (vermeintliche) Sicherheit und Frieden prophezeien, mithin gegen millenaristische bzw. spiritualistische Weissagungen.27 Im Anschluss an den biblischen locus classicus Apg 1,7 betont Klesch,

18 Von diesem Ereignis schreibt Klesch in einem lateinischen Text sowie in einem weiteren Bericht in deutscher Sprache, vgl. ders.: […] SOLENNITAS INAVGVRATIONIS TEMPLI […]. Bartfeld 1670; ders.: Historischer Bericht […] Mit was für […] Anstallten DAS EJNWEJHVNGS-FEST Bey der Neu-erbauten Schloß-Kirchen zu Schaweneck […] verrichtet […]. Bartfeld 1670. Zum Datum der Einweihungsfeier vgl. ebd., S. [1]; 15. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die letztgenannte Schrift. 19 Klesch, der 1649 zum gekrönten Dichter avancierte, trug in der Deutschgesinnten Genossenschaft den Namen ‚der Huldende‘, in der Fruchtbringenden Gesellschaft hieß er ‚der Kräftigste‘, in der Neuen geistlich-fruchtbringenden Jesus-Gesellschaft kannte man ihn als ‚den Kriechenden‘. Vgl. Bepler (Anm. 2), S. 478 f.; Otto, Clark (Anm. 2), S. xv–xviii; Karl F. Otto, Jr.: Daniel Klesch und die Deutschgesinneten. In: Brückenschläge. Eine barocke Festgabe für Ferdinand van Ingen. Hg. von Martin Bircher, Guillaume van Gemert. Amsterdam, Atlanta, GA 1995 (Chloe 23), S. 233–243; Jochen Bepler: Ein Bruchstück des Erzschreins der Fruchtbringenden Gesellschaft in Bonn. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 11,1 (1984), S. 120–125. 20 Vgl. Klesch, Bericht (Anm. 18), S. 4. 21 Vgl. ebd., S. 3–7, bes. S. 4. Vgl. weiter ebd., S. 7–13. 22 Dabei zieht Klesch u. a. das biblische Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30) heran. Vgl. ebd., S. 8 f. 23 Vgl. ebd., S. 13 f. 24 Vgl. dazu und zu Kleschs prophetischem Anspruch auch Otto, Clark (Anm. 2), S. xviii f. 25 Ebd., S. 14. 26 Vgl. ebd., S. 14 f. 27 Vgl. ebd., S. 14. Zur hier angekündigten Darlegung einer „Daniels meinung“ und „Warnung“ (ebd.) vgl. m. E. auch später Daniel Klesch: Jm Nahmen JEsu/ des Alten der Tage. Dan. VII, 9. 13.

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dass das Wissen um den genauen Zeitpunkt des Weltendes den Menschen nicht verfügbar sei, und ruft zugleich zu geistlicher Wachsamkeit auf.28 Das Bewusstsein, dass es mit der Welt jederzeit und bald zu Ende gehen kann, stellt für ihn hier indes keinen Widerspruch dazu dar, den (kirchlichen) Alltag in geordneten Bahnen zu gestalten.29 Auch im Horizont des nahenden Jüngsten Gerichts bleibt es, so Klesch, angeraten, Gotteshäuser zu errichten und einzuweihen: Vnterdessen aber wollen wir doch nicht unterlassen fromm zu seyn/ Kirchen zu bauen/ gutes zu thun/ […]/ ein jedweder in seinem Beruff […] fort zu fahren/ gute anordnung zu machen in Kirchen und Schul-wesen […] als wenn die Welt noch so lang stehen solte.30

Die Einweihung der Schlosskirche wird dafür zum konkreten Exempel.31 Anschließend berichtet Klesch von seinem Erleben der Einweihungsabläufe.32 Beteiligt waren mehrere Geistliche, Klesch selbst wirkte liturgisch mit.33 Insgesamt wurden während des Einweihungsgottesdienstes – in Entsprechung zu den drei Personen der Trinität34 – drei Predigten gehalten; die erste beispielsweise hielt Johann Fontanus über Joh 17,11.35

22. Abermahliger/ wehmütiger […] Zuruff und Treuhertzige Warnungs-Anrede […]. O. O. [1695]. 28 Vgl. Klesch, Bericht (Anm. 18), S. 14 f. Zur Betonung der Unverfügbarkeit des Wissens über den genauen Zeitpunkt des Weltendes (im Anschluss an Apg 1,7) und den Aufruf zur geistlichen Wachsamkeit in der Frühen Neuzeit vgl. Frank Alexander Kurzmann: Die Rede vom Jüngsten Gericht in den Konfessionen der Frühen Neuzeit. Berlin, Boston 2019 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 141), S. 129, Anm. 915 sowie S. 148 f.; 151; 181; 188 u. ö. 29 Wo diese Einschätzung nicht geteilt wurde, konnte es in der Tat zu Unruhen und sozialen bzw. ökonomischen Problemen kommen, vgl. ebd., S. 160–163. 30 Klesch, Bericht (Anm. 18), S. 15. Vgl. ebd., S. 14 f. 31 Vgl. ebd., S. 15. 32 Vgl. ebd., S. 15–19. 33 Vgl. ebd., bes. S. 17. 34 Vgl. auch schon ebd., S. [1]. 35 Vgl. ebd., S. 15–18, bes. S. 17. Zu den drei Predigten notiert Klesch hier: Zunächst „ist […] Ioh. Fontanus Sen. auff die Cantzel getreten/ und hat den Spruch Joh XVII. 11 erkläret: Heiliger Vater/ Erhalte sie bey deinem Nahmen. Vnd hat hiermit die neu-erbauete Schloß-kirche/ nicht denen heiligen Vätern/ oder verstorbenen Heiligen; sondern dem ewigen himmlischen Vater/ […] als der ersten Person/ der […] Drey-Einigkeit consecriret. […] Diesemnach ist der andere Prediger […] Mart. Machner, Sen. in St. Andrasch auffgetreten/ und hat auß dem Spruch Exodi XVII, 15. beydes Kirch und Altar [!] dem Sohne GOttes/ als der andern Person in der heiligen DreyEinigkeit zugeeignet. […] Der dritte Prediger […] Con. S. Kravvianensis trat hernach auff/ und that eine schöne außführliche Predigt/ und dedicirte dieß näuerbaute Gottes-hauß/ dem Heiligen Geiste“. Ebd., S. 17. Vgl. auch Johann Samuel Klein: Nachrichten von den Lebensumständen und Schriften Evangelischer Prediger in allen Gemeinen des Königreiches Ungarn. Bd. 1. Leipzig, Ofen 1789, S. 157–170, hier S. 165 f., Anm. 154.

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2. Die Rede vom Jüngsten Gericht in frühneuzeitlichen Einweihungspredigten Solche Kasualpredigten, die in der Frühen Neuzeit anlässlich von Einweihungen bzw. Wiedereinweihungen von Kirchen, Altären, Kanzeln, Orgeln, Glocken usw. gehalten und gedruckt wurden, sind – insbesondere aus lutherischen Milieus – in großer Zahl überkommen und erfuhren in jüngerer Zeit seitens verschiedener historisch arbeitender wissenschaftlicher Disziplinen verstärkt Beachtung.36 Einige frühere Studien richteten den Fokus dabei etwa auf Aspekte der negativen Interkonfessionalität bzw. der konfessionellen Profilierung im Kontext von Kircheneinweihungen in gemischtkonfessionellen Gebieten.37 Eine Themenstellung, die bisher noch nicht eigens erforscht wurde, ist die Frage, ob bzw. inwiefern in frühneuzeitlichen Einweihungspredigten vom Jüngsten Gericht die Rede ist. Daher möchte ich im Folgenden einige Beispiele dafür vorstellen, wie frühneuzeitliche Prediger das Weltende bzw. das Letzte Gericht im Horizont der Einweihung thematisieren.

2.1. Stiftergedenken

Sehr häufig gedenken die Prediger in ihren Einweihungspredigten der Geldgeberinnen und Geldgeber, durch deren Spenden die jeweiligen Kirchen, Prinzipalien usw. (mit-)finanziert werden konnten.38 Das Jüngste Gericht kann im Horizont des Stiftergedenkens dann dergestalt zur Sprache kommen, dass der

36 Nur exemplarisch seien einige der Publikationen erwähnt: Vgl. Rudolf Leeb: Die Heiligkeit des reformatorischen Kirchenraums oder: Was ist heilig? Über Sakralität im Protestantismus. In: Protestantischer Kirchenbau der Frühen Neuzeit in Europa. Grundlagen und neue Forschungskonzepte – Protestant Church Architecture in Early Modern Europe. Fundamentals and New Research Approaches. Hg. von Jan Harasimowicz. Regensburg 2015, S. 37–48; Lucinde Braun: Die Orgelpredigt. Überlegungen zu einer Gattung zwischen Musik und Theologie. In: Archiv für Musikwissenschaft 71, 4 (2014), S. 247–281; Philip Hahn: The Reformation of the Soundscape: Bell-ringing in Early Modern Lutheran Germany. In: German History 33, 4 (2015), S. 525–545. An dieser Stelle sei außerdem auf das DFG-Projekt Deutsche Orgelpredigtdrucke zwischen 1600 und 1800 – Katalogisierung, Texterfassung, Auswertung unter Leitung von Katelijne Schiltz hingewiesen, vgl. das dazugehörige Portal ‹orgelpredigt.ur.de› (letzter Zugriff 22.12.2021). 37 Vgl. z. B. Vera Isaiasz: „Architectonica Sacra“. Feier und Semantik städtischer Kirchweihen im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Stadt und Religion in der frühen Neuzeit. Soziale Ordnungen und ihre Repräsentationen. Hg. von ders. u. a. Frankfurt a. M., New York 2007 (Eigene und fremde Welten 4), S. 125–146; Rosa Micus: Die Dreieinigkeitskirche Regensburg als „Programmbau“ der Freien Reichsstadt Regensburg. In: das münster 67, 1 (2014), S. 50–63. 38 Vgl. dazu etwa auch Klaus Raschzok: Lutherischer Kirchenbau und Kirchenraum im Zeitalter des Absolutismus. Dargestellt am Beispiel des Markgraftums Brandenburg-Ansbach 1672–1791. Bd. 1. Frankfurt a. M. u. a. 1988 (Europäische Hochschulschriften 23; 328,1), S. 106–109; 460 f.

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heilvolle Ausgang des Gerichts fokussiert und den frommen Finanziers der Jüngste Tag als Tag der Auszahlung des Gnadenlohns verheißen wird: So parallelisiert etwa Johann Bleymüller in einer der Beschreibung der Gestaltung der Kanzel gewidmeten Passage seiner Kircheinweihungspredigt von 1651 das Vorgehen, „der Herren Fundatoren […] Namen“39 im Kirchenraum zu kommemorieren, mit dem biblischen Bild der Aufzeichnung von Namen der wahren Christen in einem Buch des Lebens (vgl. Apk 3,5 u. ö.).40 Damit wird der Glaubenseinsicht Ausdruck verliehen, dass Gott die Seinen nicht in Vergessenheit geraten lassen, sondern am Jüngsten Tag gewiss identifizieren und ins himmlische Jerusalem einlassen wird. Zudem spielt Bleymüller an dieser Stelle darauf an, dass den Adressierten kürzlich, nämlich am 26. Sonntag nach Trinitatis, die Auslegung von Mt 25,31–46 zu Gehör gebracht worden war und verbindet die Rede vom Buch des Lebens mit dem von ihm amplifizierten Ruf Christi aus Mt 25,34: [Es] sind auch aller frommen und Christgläubigen Namen im Himmel ein- und aufgezeichnet in das Buch des Lebens[/] dermahleins wird Christus solche mit Namen nennen und sagen: Kom her du Gesegneter/ Kom her du Gesegnete/ Ey du frommer getreuer Knecht: Kommet her/ ererbet das Reich/ das euch bereitet ist von anbeginn der Welt.41

Zugleich besteht der Prediger darauf, dass die Stifter eben aus Gnade solchen Lohn empfangen werden,42 woran, so Bleymüller, eine Inschrift im Kirchenraum mit Worten aus 1Chr 29,14 f. erinnere: „Von dir HErr ist alles kommen/ und von deiner Hand haben wir dirs wieder geben/ denn wir sind Frembdlinge und Gäste.“43 Diese Worte aus König Davids letztem Gebet, welches in Form von Stifterinschriften an frühneuzeitlichen Artefakten in Sakralräumen recht häufig begegnet,44 sollen ihren Lesern Bleymüller zufolge ins Gedächtnis rufen, dass der weltliche Reichtum eine Gabe Gottes ist, die zugleich die Verantwortung zum Geben mit sich bringt.45

39 Johann Bleymüller: DOMUS DEI ET PORTA COELI Rodevvischensis, Sive Inferioris Aurobachii. […]. Dresden [1651], fol. D 3r. Zur Kanzel vgl. ebd., fol. C 3v–D 4r. 40 Vgl. ebd., fol. D 3r–v. 41 Ebd., fol. D 3v. Ein ähnlicher Gedanke mit Einbeziehung der Rede vom Buch des Lebens findet sich übrigens bei Klesch, Bericht (Anm. 18), S. 4. 42 Vgl. Bleymüller (Anm. 39), fol. D 3v–4r. 43 Ebd., fol. D 3v. 44 Vgl. zur Zitation von 1Chr 29,17 bzw. 17 f. Johann Anselm Steiger: Gedächtnisorte der Reformation. Sakrale Kunst im Norden (16. bis 18. Jahrhundert). 2 Bde. Regensburg 2016, S. 445; 863; 889. 45 Dabei verweist der Autor auch auf Hebr 13,16 und 2Kor 9,7. Vgl. fol. D 3v–4r. Zur Thematik des Gnadenlohns vgl. Bleymüller (Anm. 39), auch Kurzmann (Anm. 28), S. 29–31; 107; 230.

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2.2. Spendenwunsch und Gerichtsparänese

Wie schon anklang, sind auch Spendenwünsche in den frühneuzeitlichen Einweihungspredigten freilich keine Seltenheit; Helwig Garth beispielsweise ruft in einer Predigt, die er einige Tage nach der Einweihung der Prager Salvatorkirche (1614) hielt, zu finanzieller Freigebigkeit für kirchliche Zwecke auf und verheißt den göttlichen Gnadenlohn u. a. unter Berufung auf Mt 25,40: Ja/ am Jüngsten Tage wil er solche Gut- vnd Wolhtat/ seinen lieben Kirchen vnd deroselben Dienern/ wie auch allen frommen vnd gleubigen Christen/ erzeiget/ für aller Welt rühmen vnd preisen/ vnd zu jhren Wolthetern sagen: Was jhr gethan habt einem aus den Geringsten der meinen/ das habt jhr mir gethan […].46

Matthäus Hedler variiert diesen Gedanken in seiner Orgelweihpredigt von 1647, indem er speziell auf die Förderungen geistlicher Musik eingeht: Ey hernacher/ hernacher/ jhr Regenten auff Erden/ ehret den Herrn von ewren Gut/ stifftet und richtet an in ewern Kirchen und Gotteshäusern eine schöne Choral- Figural- und Instrumental-Music/ so wird euch der Herr wieder ehren/ 1. Sam. 2. [V. 30] und euch segnen/ daß jhr keinen Mangel haben solt/ an irgend einem Gut/ nach seiner Verheissung/ […] und am lieben Jüngsten Tag/ solt jhr von Jesu hören/ das fröliche Venite, und nicht das trawrige Abite, Matt 25. [V. 34.41] […].47

Eine Kircheinweihungspredigt, die auch Klesch nachweislich rezipierte, stammt aus der Feder Abraham Bogners, der diese 1613 anlässlich der Einweihung der Schlosskirche in Spitz (Niederösterreich) hielt.48 Darin nimmt – ähnlich wie etwa in Christoph Dörffels Orgelweihpredigt von 165149 – die Gerichts-Paränese eine nicht unwesentliche Stellung ein: Bogner ruft zum einen die Wohlhabenden auf, für den Kirchenbau zu spenden, und nimmt zum anderen auch die Ärmeren in die Pflicht, ihren Möglichkeiten entsprechend freigebig zu sein.50 46 Helwig Garth: GlückwündschungsPredigt […]. In: Ders., David Lipach: Christliche Einweyhung vnd Glückwündschung: Der Newen Evangelischen deutschen Kirchen zum SALVATOR, Jn […] Prag in Böheimb […]. Freiberg 1615, S. 55–85, hier S. 80. Vgl. ebd., S. 79 f. Zu Anlass und Rahmen vgl. schon das Titelblatt des Gesamtwerks (fol. A 1r). 47 Matthäus Hedler: Kostbare Bosische Orgel […]. Zwickau 1647, fol. [E 2v], ‹orgelpredigt.ur.de/E000096› (letzter Zugriff 22.12.2021). Heinrich Keltz schreibt in seiner Orgel-Freude von 1739, er wolle gar am Jüngsten Tage selbst noch einmal seine Aussagen über die Großzügigkeit des Orgel-Stifters wiederholen, die er in der Predigt auf Erden schon vorlegt. Vgl. Heinrich Keltz: Die Billige Orgel-Freude […]. Danzig 1739, [S. 34], ‹orgelpredigt.ur.de/E000041› (letzter Zugriff 22.12.2021). 48 Vgl. Abraham Bogner: ENCAENIA Spizensium Evangelica. […]. Wittenberg 1615, schon fol. A 1r. Klesch bezieht sich in seinem Einweihungsbericht eingangs auf diese Predigt, vgl. Klesch, Bericht (Anm. 18), S. [2] f. 49 Vgl. Christoph Dörffel: ORGANORUM ET NUNDINARUM Consecratio. […]. Hof 1651, etwa fol. C 1v; C 2v; D 3r–v. 50 Vgl. Bogner (Anm. 48), S. 13 f.

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Die Geizigen, die für Gott und Gotteshaus „ja wohl nicht 10. Dahler“51 übrighätten, warnt der Prediger vor dem kommenden Tag des Jüngsten Gerichts.52 Besonders eindringlich schildert er im Anschluss an Jes 66,24 bzw. Mk 9,43–48 und mit einer amplificatio von Lk 13,27 den Urteilsspruch über jene, die zuvor in irgendeiner Weise Kirchenraub begingen: [W]ie viel mehr werden sich die KirchenRäuber entsetzen müssen/ wenn sie diese Stim GOttes hören werden/ weichet von mir/ jhr Vbelthäter/ Jch kenne euch nicht/ jhr habt mir nichts zu ehren angewendet/ sondern vielmehr meine KirchenGüter genommen/ weichet von mir in das ewige hellische Fewer/ da ewr Wurmb nicht wird auffhören zufressen/ noch das Fewer zubrennen/ welches weren wird nicht hundert/ nicht tausend/ noch hundert mahl hundert tausend Jahr/ sondern in Ewigkeit/ ohne alles auffhören.53

Die an Kirchbauprojekten beteiligten Handwerker und Künstler ruft Bogner dazu auf, ihre Arbeiten beflissen und gewissenhaft auszuführen.54 Er mag konkrete Fälle vor Augen gehabt haben, wenn er etwa über solche Handwerker klagt, welche Hammer/ Hacken/ oder Hobel/ so bald der Vhrhammer schlegt/ aus faulheit fallen lassen/ oder vnter der Arbeit weg gehen/ mit dem schein/ dieses oder jenes zuverrichten/ vnter dessen sich aber in die Zechhäuser setzen/ vnd hernach/ wann es zum außzalen kompt/ den vollen Lohn einnehmen […].55

Auch ihnen droht der Prediger mit dem verdammlichen Urteil als ihrem vollen Lohn im göttlichen Gericht.56 Ermahnungen, die speziell an die Obrigkeit gerichtet sind, formulieren etwa Matthaeus Chytraeus (auch: Häfner) zum Anlass der Einweihung der Bayreuther Stadtkirche im Jahr 1614,57 sowie Hofdiakon Johann Georg Hoffmann anlässlich der Einweihung der Kapelle von Schloss Neu-Augustusburg bei Weißenfels 1682.58 Hoffmann kritisiert hier Intrigen und andere (geradezu hölli51 Ebd., S. 15. 52 Vgl. ebd., S. 14 f. 53 Ebd., S. 16. Vgl. weiter ebd., S. 14–17. 54 Vgl. ebd., S. 29 f. Vgl. auch die entsprechenden Ratschläge an die Obrigkeit ebd., S. 18–20. 55 Ebd., S. [30]. Vgl. ebd., S. 29 f. 56 Vgl. ebd., S. [30]. 57 Vgl. Matthaeus Chytraeus: Beschluß- vnd Buß- Das ist: Dritte vnd letzte Predigt/ Gehalten […] Bey der […] Einweyhung/ des Newerbawten […] GOtteshauses zu Beyreuth. In: Ders., Christoph Schleupner, Heinrich Hain: Vnterschiedliche Predigten/ Bey […] EJnweyhung der […] Kirchen/ vnd des […] Altars zu Bayreuth […]. Leipzig 1616, S. 67–102, hier etwa S. 81–94, bes. S. 93 f. Er predigte am Nachmittag des Einweihungstages, vgl. ebd., S. 67. Vgl. zu dieser Predigt auch Hans Peetz: Einweihung der Stadtkirche Heilig Dreifaltigkeit am 1. Advent 1614. In: Auf den Tag. 400 Jahre Stadtkirche Heilig Dreifaltigkeit Bayreuth. Hg. von dems. Bayreuth 2014, S. 20–39, hier S. 36–39. Zur Einweihung der Kirche 1614 vgl. weiter ebd., S. 20–39. 58 Vgl. Johann Georg Hoffmann: […] PROMONTORIUM LEUCOPETRAEUM, Das Durchlauchtige Vorgebierge Jener frohen Ewigkeit Jn dieser betrübten Eitelkeit […]. Weißenfels [1682].

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sche) Missstände bei Hofe.59 Seine Ermahnungen an die Höfischen gehen einher mit der Ankündigung des Letzten Gerichts; dabei spricht Hoffmann mit Bezug auf den für frühneuzeitliche Einweihungspredigten klassischen Bibelvers Gen 28,1760 geradewegs zu den Adressierten: [D]encke/ in was vor Stande oder Zustande du zu Hofe lebest/ alle Morgen: Wie heilig ist diese Stete! Und ich habe sie verunheiliget? Ach! wie viel haben sich gestern schlaffen gelegt/ die nicht ehe wieder erwachen werden/ als biß Christus JEsus zum schrecklichen Gerichte ruffen wird.61

Gleichwohl versichert Hoffmann auch, dass den (adligen) Sündern die rettende Buße und Umkehr noch möglich sind und ihr Richter kein anderer ist als der, der von Gott im verdammlichen Gericht auf Golgatha gerichtet wurde und die bußfertigen Glaubenden als derjenige, der ihre Sünden auf sich nahm, nicht verdammen werde.62

2.3. Die Klänge des Jüngsten Tages

In Predigten, welche der Einweihung einer oder mehrerer Glocken gewidmet sind, stellen die Prediger oftmals Überlegungen dazu an, wie das Jüngste Gericht klingen wird.63 Um die Klänge des Jüngsten Tages zu beschreiben, bedienen sich etwa Andreas Christoph Schubart und Johannes Pontanus in ihren Glockenpredigten biblischer Texte wie 1Thess 4,16 bzw. 4,16 f. und amplifizieren die darin entworfenen Schilderungen, indem sie der Umschreibung der eschatischen

Enthalten in: Johannes Andreas Olearius: […] Incomparabile Consecrationis ORACULUM […]. Weißenfels [1682], fol. O* 3r–Z* 4v. Zu dieser Predigt, den Akteuren und der betreffenden Einweihung vgl. auch Andreas Lindner: Hofgeistlichkeit und höfische Gesellschaft. Zu den Einweihungspredigten der Weißenfelser Schloßkirche 1682. In: Weißenfels als Ort literarischer und künstlerischer Kultur im Barockzeitalter. Vorträge eines interdisziplinären Kolloquiums vom 8.– 10. Oktober 1992 in Weißenfels, Sachsen/Anhalt. Hg. von Roswitha Jacobsen. Amsterdam, Atlanta, GA 1994 (Chloe 18), S. 133–164, zu Hoffmanns Predigt bes. S. 150–160. 59 Vgl. Hoffmann (Anm. 58), fol. S* 2v–4r; U* 2v–4r u. ö.; Lindner (Anm. 58), S. 153–159. 60 Vgl. nur exemplarisch Bleymüller (Anm. 39), fol. E 2r; Marcin Wisłocki: Porta Coeli. Zum Verständnis lutherischer Kirchen und ihrer Ausstattung im Licht der Schriften von pommerschen Geistlichen des 16.–17. Jahrhunderts. In: Protestantischer Kirchenbau der Frühen Neuzeit in Europa. Grundlagen und neue Forschungskonzepte – Protestant Church Architecture in Early Modern Europe. Fundamentals and New Research Approaches. Hg. von Jan Harasimowicz. Regensburg 2015, S. 49–58, schon S. 49–51. 61 Hoffmann (Anm. 58), fol. S* 3v. Vgl. auch Lindner (Anm. 58), S. 155 f. 62 Vgl. Hoffmann (Anm. 58), fol. U* 4r–X* 1v. Vgl. weiter ebd., fol. X* 1v–2v; Lindner (Anm. 58), S. 157. 63 Zu den Klängen des Jüngsten Gerichts vgl. auch die Beiträge von Maryam Haiawi und Oliver Huck im vorliegenden Band.

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Klangwelt das Glockenläuten hinzufügen; irdische Glocken werden damit zu Vorboten des Letzten Gerichts.64 So heißt es bei Pontanus, die Glaubenden werden […] durchs gedöne der grossen Glocken/ erinnert der grossen Donnerglocken/ die/ am Jüngsten tage/ erschallen wird/ wann der HERR Christus/ mit der stimm des ErtzEngels/ vnd mit der Posaun GOttes/ hernider kommen wird/ vom Himmel/ wie Paulus sagt/ 1. Thess. 4. [V. 16.] Vnd/ mit seiner Stimme/ die Todten wird aufferwecken/ wie er spricht Johan am 5. [V. 28] […],65

sodass die Toten ausnahmslos „werden müssen herfür gehen/ vnd/ von des HERREN Christi Himlischen Cantzel […] das Endvrtheil anhören“.66 Ähnlich rückt auch Christoph Pyrlaeus in seiner Glockenpredigt die Geräuschkulisse am Weltende in den Fokus und führt zudem etwa das Brausen der Gewässer an, von dem in Lk 21,25 die Rede ist.67 Gleichwohl sei hier erwähnt, dass Glocken in den betreffenden Texten sehr wohl auch zu Sinnbildern avancieren können – wenn beispielsweise der Gussvorgang wie bei Schubart als Verweis auf die consummatio mundi gedeutet wird.68 Wie Philipp Hahn festgestellt hat, ist wiederum die paränetische Rede von den Letzten Dingen – mit Blick auf das Memento mori und das einst eingeläutete Jüngste Gericht – in verschiedenen Glockenweihpredigten zu finden.69 So droht der Ulmer Superintendent Conrad Dieterich in einer der Glockenthematik gewidmeten Predigt zum Jubiläum der Kirchweihe des Ulmer Münsters den Gottvergessenen, sie werde „der Glockenschall am Jüngsten Tag […] anknallen vnd in Abgrun[d] der Höllen hinein verdammen“,70 wo man „den elenden Klapperklang vnd Heülgesang der verlornen vnnd verdampten/ von Ewigkeit zu Ewigkeit […] hören“71 werde.72 Ähnlich wie Dieterich leitet etwa Gabriel Hanitzsch die Glaubenden in seiner Glockenpredigt von 1713 dazu an, den Stundenschlag der Glocke als Meditationshilfe zu gebrauchen und sich von dem so angezeigten Fortschreiten der Zeit an die Sterblichkeit, den Tod und das zukünftige Gericht

64 Vgl. Andreas Christoph Schubart: CHALCOSCOPIA Hieroglyphico-Anagogica […]. Jena [1662], fol. C 2r–v. 65 Johannes Pontanus: Einweihung Der Newen Grösten Glock/ zu Königsbergk/ in der NewMarck. Frankfurt a. d. O. 1608, fol. C 1r. 66 Ebd., fol. C 1v. Vgl. ebd., fol. C 1r–v. 67 Vgl. Christoph Pyrlaeus: Christliche EinweihungsPredigt/ Der Zwo Newen Glocken zu Paussa […]. Jena [1650], fol. C 4v. Vgl. weiter ebd., fol. A 2r–v. 68 Vgl. Schubart (Anm. 64), fol. D 1r. 69 Vgl. Hahn (Anm. 36), S. 542 sowie die Beispiele ebd., S. 542, Anm. 111. 70 Conrad Dieterich: Vlmische GlockenPredigt […]. Ulm 1625, S. 50. Vgl. zum Anlass schon ebd., S. [1]. 71 Ebd., S. 50. 72 Vgl. ebd., S. 47–50.

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gemahnen zu lassen.73 Vergleichbare Aussagen finden sich, wie Christian Schmidt gezeigt hat, in geistlichen Uhrentexten.74 So verwundert es nicht, dass Hanitzsch seine Ausführungen (intermedial) veranschaulicht, indem er die Beschreibung einer astronomischen Uhr wiedergibt, welche laut Hanitzsch’ Quelle von Michael Hirschfelder für die Hauptkirche in Sorau (heute Żary, Polen) geschaffen worden war, aber schon 1684 zerstört wurde; genauer gesagt die Beschreibung eines laut Bericht zur Uhr gehörigen Figurenspiels, dessen Ablauf hier in eine Narration überführt wird:75 Zum ersten, zweiten und dritten geschlagenen Viertel einer Stunde kamen je verschiedene Figuren zum Vorschein, zunächst ein Junge, dann ein Jüngling, dann ein Soldat; ihnen allen näherte sich der personifizierte Tod, dem von einem Christusfigürchen, so der Bericht, Einhalt geboten wurde.76 Die Viertel der Stunde spiegeln hier vier Phasen des menschlichen Alters bzw. Lebens; dementsprechend schlecht ist es schließlich um den Greis bestellt, der mit dem letzten Viertel die alte Stunde beendet: Nachdem nun die Stunde aus/ und es 4. Vierthel schlagen solte/ welches allemahl eine Cymbel-Music anmeldete/ kam ein alter Mann/ […] und mit dem […] Aextlein/ so er kaum vermochte auffzuheben/ schlug er […] nach einander an vier Glöcklein/ sodann kam der Todt eilends auch hinter ihm her/ der HERR JESUS aber verbarg sich/ und ließ vom Todte den alten Greiß herein schleppen […].77

Gleichwohl ist Hanitzsch weit davon entfernt, den frommen Glaubenden das Sterben oder das Letzte Gericht als unheilvoll zu präsentieren; vielmehr erklärt er den Tod für sie, denen die „Todten- oder Grabe-Glocken“78 als „Ehren-

73 Vgl. ebd., S. 47–49; Gabriel Hanitzsch: Naundorffische Glocken-Predigt […]. Dresden 1713, S. 50 f.; Hahn (Anm. 36), S. 538; 542. 74 Vgl. Christian Schmidt: Geistliche Uhren. Technologie, Heilsgeschichte und Letzte Dinge in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen ‚Horologium‘-Tradition. In: Die Zeit der letzten Dinge. Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Julia Weitbrecht, Andreas Bihrer, Timo Felber. Göttingen 2020 (Encomia Deutsch 6), S. 195–223, hier S. 195 f. u. ö. Zu geistlichen Uhren im Horizont der Gerichtsthematik vgl. auch den Beitrag von Leonid Malec im vorliegenden Band. 75 Vgl. Hanitzsch (Anm. 73), S. 58 f. Dem Passus bei Hanitzsch liegt folgender Text zugrunde, den Hanitzsch als Quelle nennt (vgl. ebd., S. 59, Anm. 92): Johann Samuel Magnus: Historische Beschreibung Der Hoch-Reichs-Gräfflichen Promnitzschen Residentz-Stadt SORAU […]. Leipzig, [Jena] 1710, S. 76–79. Vgl. zu Hirschfelders Uhr und der Zerstörung 1684 ebd. Zu Hanitzsch’ Zitat vgl. ebd., S. 77 f. Magnus wiederum verweist (vgl. ebd., S. 79–93) ohne Nennung des Titels auf folgende lateinische Vorlage und zitiert daraus: Joachim Garcaeus: AUTOMATI, Sive HOROLOGII PROMNITIANI CELEBRIS, IN INCLVTA SORAVIA, BREVISSIMA DESCRIptio […]. Frankfurt a. M. 1605 [1. Aufl. ebd. 1604]. Ich gebe die Beschreibung des Artefakts im Folgenden nach Hanitzsch’ Predigt wieder und zitiere daraus. 76 Vgl. Hanitzsch (Anm. 73), S. 58. 77 Ebd., S. 58 f. 78 Ebd., S. 54.

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Glocken“79 klingen, zu einem Schlaf, aus dem die letzte Posaune die Schlummernden am Jüngsten Tag wecken werde, während das verdammliche Gericht für sie keine Rolle spielen werde.80 Dazu fügt sich ferner, dass Schubart von den diversen Theologumena, die er in seiner Glockenpredigt summarisch behandelt, ausgerechnet die ewige Verdammnis auslässt.81

2.4. Weiteres und Ausblicke

Die Liste der Beispiele lässt sich erweitern. So begegnet im Kontext der Einweihung etwa – mit Verweis darauf, einst vor dem himmlischen Richter stehen zu müssen – die Forderung an Geistliche, ihrer Fürsorgepflicht gegenüber der ihnen anbefohlenen Gemeinde nachzukommen.82 Die Hoffnung auf die baldige Parusie, den letzten Advent Christi, kann überdies verschränkt werden mit der Verortung am Anfang des Kirchenjahres, im Advent: So schlägt Chytraeus einen heilsgeschichtlichen Bogen von Christi Geburt und Wirken in Niedrigkeit bis zu seiner Wiederkunft in Herrlichkeit.83 Der römisch-katholische Theologe Johann Carl Geyer beginnt seine Kanzelweihpredigt von 1724 mit einer kurzen Auslegung der Worte „Sihe ich mache alles neu“84 aus Apk 21,5, die er als einschlägig für die Einweihungs- bzw. Kirchweih-Thematik benennt.85 Dabei hält Geyer eingangs fest, dass den „neue[n] Himmel/ den die Heilige beziehen/ […] die Verdambte mit dem Rucken werden ansehen müssen!“86 In seine anschließende ekklesiologische Auslegung des Verses mischt sich indes eine deutlich antijudaistische Haltung.87 Bei der Einweihung der Bayreuther Schlosskirche 1758 ist es Johann Christian Schmidt vor dem Hintergrund der Zerstörung des Vorgängerbaus durch Feuer darum zu tun, die Adressaten zu ehrfürchtiger Haltung gegenüber Gott anzuhalten und den Ernst der göttlichen Gerechtigkeit nicht zu verharmlosen, denn Gott straft, so Schmidt, nicht allein in der Zeit, sondern wird einst ein Gericht nach den Werken halten.88 79 Ebd. 80 Vgl. ebd. 81 Vgl. Schubart (Anm. 64), fol. B 4v–C 2v. 82 Vgl. etwa Christian Parnemann: Jessnische Cantzel-Weyhe. In: Ders.: Consecrationum Qvaternio […]. Wittenberg 1663, S. 5–24, hier S. 9 f. 83 Vgl. Chytraeus (Anm. 57), S. 96–99; 102. 84 Johann Carl Geyer: WeYhe NeY-ErbaVter CantzeL […] ZV ThIernstaIn. Krems [1724], fol. A 1r. Zum Anlass vgl. schon ebd., Titelblatt ohne Foliierung. 85 Vgl. ebd., fol. A 1r–v. 86 Ebd., fol. A 1r. 87 Vgl. ebd., fol. A 1r–v. 88 Vgl. Johann Christian Schmidt: Predigt, Bey dem Einweihungsfeste der neuerbauten Hochfürstlichen Schloßkirche […]. Bayreuth [1758], etwa S. 10 f. Vgl. dazu bzw. zu Anlass und Hinter-

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Der folgende Fall aus dem Jahr 1608 sei nur am Rande erwähnt, da es sich nicht um eine Einweihungsrede handelt, sondern um eine Predigt, die der scheidende Freudenstädter Pfarrer Andreas Veringer vor seinem Wechsel nach Stuttgart hielt.89 Veringer war der erste Pastor an der nicht lange zuvor erbauten Kirche zu Freudenstadt gewesen und es war ihm darum zu tun, die Architektur des Gotteshauses und die darin befindlichen Artefakte in seinem Text vorzustellen und den Glaubenden Deutungsmöglichkeiten an die Hand zu geben.90 Zu den Details, die der Autor hervorhebt, gehören etwa die inzwischen nicht mehr vorhandenen Emporenbilder. Indem er hierbei auch Bildpaare zusammenstellt bzw. behandelt, ergeben sich diverse Typologien:91 Die Darstellung des Urteils Salomos (vgl. 1Kön 3,16–28) beispielsweise wird hier zur Präfiguration – anders gesagt: zur Verheißung – des ebenfalls ins Bild gesetzten Letzten Gerichts, der gerecht-richtende König Salomo mithin zum Typos Christi.92 Akzentverschiebungen gegenüber den vorher vorgestellten Predigten zeigen sich dann in einer im Jahre 1800 von dem reformierten Pfarrer Georg David Kaibel gehaltenen Rede, die in einer Sammlung von Texten zur Einweihung des wiedererrichteten Kirchengebäudes der deutsch-reformierten Gemeinde in Mannheim enthalten ist.93 Zuvor hatten die Reformierten nach der Zerstörung ihres Gotteshauses zeitweise die lutherische Kirche mitnutzen dürfen.94 Entsprechend dankbar und herzlich schreibt Kaibel in seiner Abschieds-Rede über die Lutheraner und ist bestrebt, das die evangelischen Konfessionen Verbindende herauszustellen.95 Dabei wendet er sich auch der Eschatologie zu und bezeichnet es als gemeinsame Überzeugung von Reformierten und Lutheranern, alle „Schrekbilder einer dunklen fürchterlichen Zukunft“96 überwunden zu haben.97 Zwar spricht er noch von einem kommenden „Aerndtetag […], wo jedem grund auch den Auftakt des einleitenden Gebets ebd., S. [3] sowie schon die Informationen ebd., S. [1]. 89 Vgl. Andreas Veringer: Ein Christliche Predig/ Von der newerbawten Kirchen zur Frewden-Statt […]. Stuttgart 1608, fol. [1]r. 90 Vgl. schon ebd., fol. 2r–v; 3v–4r. 91 Vgl. ebd., fol. 14r–16r. 92 Vgl. ebd., fol. 15v. Vgl. zur Darstellung des Urteils Salomos weiterführend den Beitrag von Ricarda Höffler im vorliegenden Band. 93 Vgl. Georg David Kaibel: Rede beim Abschiede der Deutsch-Reformirten Gemeinde aus der Ev. Lutherischen Kirche. […]. In: Ders.: Zwei Reden bei Gelegenheit der Ersten Gottesverehrung in der wieder erbauten Kirche der Deutsch-Reformirten Gemeinde in Mannheim. [Mannheim] 1800, S. 41–63. In: Ders., Karl Ludwig Julius Paniel, Johann Ludwig Erb: Predigten in der wieder erbauten Deutsch-Reformirten Kirche zu Mannheim […]. Mannheim 1800, S. [III]–63. Zum Anlass vgl. schon das Titelblatt des Gesamtwerkes (S. [I]). 94 Vgl. schon den Vorbericht in: Kaibel, Zwei Reden (Anm. 93), S. IX–XVI, hier S. XIII f. 95 Vgl. schon Kaibel, Rede (Anm. 93), S. 43–55. 96 Ebd., S. 55. 97 Vgl. ebd.

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nach seinem Werthe vergolten wird“,98 an dem auch jene Christen, „die Gott in Christo nach einer andern Weise verehren“,99 reichlichen Lohn empfangen können.100 Und doch entschärft er die Schrecken der Letzten Dinge, wenn er es zur von Lutheranern und Reformierten geteilten Auffassung erklärt, „daß […] das fürchterlichste, was uns bevorstehet, der Tod, nur das Ende unsers hiesigen Werkes sei – nur unsern sichtbaren Theil […] dem Staube wiedergebe“,101 während „unser Geist zu seinem ersten Ursprunge wiederkehre“102 – und dort im schlimmsten Falle durch „das peinigende Gefühl seiner Selbstvernachlässigung“103 leiden werde.104

3. Schluss Wiewohl die Gerichtsthematik gewiss nicht in allen frühneuzeitlichen Einweihungspredigten eine zentrale Rolle spielt, erweist sie sich doch als wichtiger Bestandteil von Theologie und Frömmigkeit der hier vorgestellten Prediger und begegnet, zugeschnitten auf die verschiedenen menschlichen Sinne, in durchaus vielfältigen Kontexten und Nuancen. Kommen wir abschließend noch einmal zurück auf Daniel Klesch. Der Fall des ausgewiesenen Lutheraners und Endzeitpropheten mag – wie dies z. B. in durchaus vergleichbarer Weise auch mit Blick auf Johann Arndt105 der Fall ist – daran erinnern, dass binnenkonfessionelle Grenzlinien bzw. Identitäten in Fremd- und Selbstwahrnehmung nicht deckungsgleich sein müssen. Bei der Einweihung der Schlosskirche zu Schwanik hielt Klesch zwar keine Predigt, dafür aber eine lateinische Rede im Anschluss an den Gottesdienst, in der er u. a. für die Möglichkeit dankte, gemeinsam mit den versammelten Geistlichen an dem feierlichen Ereignis mitzuwirken.106 Seine auch der Diskussion strittiger kirchenrechtlicher Themen gewidmeten Ausführungen107 fanden jedoch ein vorzeitiges Ende: „Jch muste aber“, schreibt Klesch, „abbrechen und die Rede abkürtzen/ weil indessen die Taffel mit Speisen voll angetragen 98 99 100 101 102 103 104 105

Ebd., S. 58. Ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 57 f. Ebd., S. 55. Ebd. Ebd., S. 55 f. Vgl. ebd., S. 55–57. Zu Arndt vgl. Thomas Illg: Ein anderer Mensch werden. Johann Arndts Verständnis der imitatio Christi als Anleitung zu einem wahren Christentum. Göttingen 2011 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 44). 106 Vgl. Klesch, Bericht (Anm. 18), S. 18 f. 107 Vgl. ebd., S. 18.

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worden/ und die Hoff-Leüthe einigen unlust/ ob meiner Oration bezeugeten/ und sich mit blossen Worten nicht abspeisen lassen wolten.“108 Die kirchenhistorische Forschung täte nun indes gut daran, Daniel Klesch nicht das Wort abzuschneiden, sondern sich im Gegenteil verstärkt mit dem einzigartigen Theologen und wortgewandten Dichter sowie mit seinen (Schlüssel-)Texten zu befassen, in denen noch vieles zu entdecken ist – nicht nur mit Blick auf die Eschatologie und das Einweihen von Kirchen in Erwartung des Jüngsten Tages.

108 Ebd., S. 18 f.

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„Wacht auff ihr Todten/ kompt herfür Und zum Gerichte wallet.“ Das Jüngste Gericht im Spiegel des im Königlichen Preußen gesungenen geistlichen Liedrepertoires

1. Einleitung Die Feststellung, dass das Theologumenon des Jüngsten Gerichts und die damit einhergehenden Topoi die Grundlage für zahlreiche geistliche Lieder der Frühen Neuzeit im deutschen Sprachraum bilden, kann nicht sonderlich überraschen: In einer turbulenten, von Krieg, Hungersnot, Pest und Tod geprägten Epoche stellten Gesänge als wichtiges Medium der Katechese eine zentrale, nicht selten auch der Erbauung dienende Wissensquelle in der Frage nach den Letzten Dingen dar. Einige von ihnen haben als Kirchenlieder ihren festen Platz in den Gesangbüchern gefunden, so etwa Ihr lieben Christen, freut euch nun von Erasmus Alberus (EG 6) oder Es ist gewisslich an der Zeit eines Bartholomäus Ringwaldt (EG 149), um nur zwei Lieder zu nennen, die auch heute noch gesungen werden.1 Das geistliche Liedgut, das dem iudicium extremum gewidmet ist, fand auch Aufnahme in diejenigen Liedersammlungen, die im deutschsprachigen Königlichen Preußen (auch als Preußen königlich-polnischen Anteils bezeichnet), das vom 15. bis zum 18. Jahrhundert einen integralen Bestandteil der polnischen

1 Siehe etwa die Kommentare Heike Wennemuths und Daniela Wissemann-Garbes zu: 149. Es ist gewisslich an der Zeit. In: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch. Heft 11. Hg. von Gerhard Hahn, Jürgen Henkys. Göttingen 2005 (Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch 3), S. 92–95 und S. 95 f. Zum Repertoire von Kirchenliedern, welche das Jüngste Gericht thematisieren, siehe u. a. Lukas Lorbeer: Die Sterbe- und Ewigkeitslieder in deutschen lutherischen Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts. Göttingen 2012 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 104), S. 61 und passim; Anne Smets: Das Endgericht in der Endzeitrede Mt 24–25 und im Evangelischen Gesangbuch. Tübingen 2015 (Mainzer Hymnologische Studien 27) sowie Frank Alexander Kurzmann: Die Rede vom Jüngsten Gericht in den Konfessionen der Frühen Neuzeit. Berlin, Boston 2019 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 14), S. 211–232.

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Krone ausmachte,2 veröffentlicht wurden. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, erstmals das sich auf das Jüngste Gericht konzentrierende geistliche Liedrepertoire zu beleuchten, das in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in ausgewählten Großstädten des polnischen Königlichen Preußens entstand und/oder gesungen wurde: Das hinsichtlich der Gerichtsthematik analytisch und komparatistisch bisher unerforschte Quellenmaterial umfasst zwei Sammlungen, von denen die eine die Frucht der dichterisch-tonkünstlerischen Zusammenarbeit eines Pastors und eines Organisten innerhalb der Danziger Stadtmauern ist, während die andere das Ergebnis der Sammeltätigkeit eines in Elbing wirkenden Musikers darstellt. Im Folgenden werden sowohl die als Originalkompositionen zu betrachtenden Gesänge als auch die im ganzen Gebiet des deutschsprachigen Protestantismus gängigen Lieder vorgestellt: Im Falle der ersten Gruppe werden insbesondere intertextuelle und intermediale Aspekte in den Blick genommen (etwa unter Berücksichtigung der Wort-Ton-Relationen), um aufzuzeigen, wie sich die Thematik des Jüngsten Gerichts in den für Danziger Jugendliche geschaffenen Stücken manifestiert und welche Bedeutung dabei dem geistlichen Gesang zugeschrieben wird. Die zweite Sammlung wiederum wird auf die Beziehungen des in der Gesangbuchrubrik „Vom Jüngsten Tag und Auferstehung“ verorteten Repertoires zur bildenden Kunst sowie auf die innere Logik befragt, die sich aus der Anordnung der Lieder innerhalb der Rubrik ergibt. Dabei ist auch zu untersuchen, welche von ihnen eine Migration des hymnologischen Repertoires aus anderen Gebieten des deutschen Sprachraums zu erkennen geben.

2. Johann Maukischs und Thomas Strutius’ Danziger Lieder zum 24. bis 27. Sonntag nach Trinitatis Das heute im nördlichen Teil Polens gelegene Danzig bildete neben Elbing und Thorn eine der wichtigsten bürgerlichen Hansemetropolen im Preußen königlich-polnischen Anteils. 1656 wurde hier bei David Friedrich Rhete eine umfangreiche Liedersammlung unter dem Titel Lobsingende Hertzens-Andacht Vber die Evangelia […]3 veröffentlicht, deren dichterische Schicht aus der Feder 2 Siehe hierzu weiterführend etwa Karin Friedrich: The Other Prussia. Royal Prussia, Poland and Liberty, 1569–1772. Cambridge 2000 (Cambridge Studies in Early Modern History), S. 20–29. 3 Vgl. Johann Maukisch [Dichter], Thomas Strutius [Komponist]: Lobsingende Hertzens-Andacht Vber die Evangelia/ Welche des Sontages/ und an den Haupt-Festen in der Gemeine GOttes erklaret werden. Da aus ieglichen Evangeliis die Fürnehmste Haupt-Lehre kurtzlich heraus gezogen/ und mit lauter Schriffts Worten also durchgeführet wird daß man klare Sprache von allen Glaubens Artickeln haben/ und dieselben der lieben Jugend mit Singen und Spielen in dem Herren beybringen kann wie solches der vorgesetzte Nachricht/ und zum Beschluß folgende Einrichtung augenscheinlich zeiget. Mit Consens der Wol Edelen und Hoch weisen Herren SCHOL-

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Johann Maukischs (1617–1669) stammte, der in den Jahren 1651 bis 1669 Rektor des Danziger Gymnasiums und Pastor der gymnasialen Trinitatiskirche war.4 Für die Vertonung zeichnete Thomas Strutius (1621–1678) verantwortlich, der aus Preußisch Stargard gebürtige Organist des besagten Gotteshauses.5 Die Sammlung, die 75 vor allem vierstimmige Lieder umfasst, richtete sich an die Schüler des Gymnasiums und war jahrzehntelang die Hauptquelle des musikalischen Repertoires, das nach dem liturgischen Kalender in Schulgottesdiensten aufgeführt wurde. Die konzeptionelle Vielschichtigkeit des Werkes wird bereits aus dem Vorund Nachwort ersichtlich, die traktatartigen Charakter haben: Anders als in vielen anderen zeitgenössischen Liedersammlungen (wie etwa denen Johann Rists6), wurde demnach jedes in der Sammlung vorhandene Lied mit mehreren Dutzend Verweisen auf die Heilige Schrift versehen.7 Auf dieser Grundlage wurden die Gymnasiasten – ermutigt durch ihre Eltern, die ihnen dafür wiederum ein kleines Geschenk in Aussicht gestellt hatten – dazu angehalten, in einem Bibelexemplar all jene Passagen farbig zu markieren, die in einem für den aktuellen Sonn- bzw. Feiertag gedachten Lied enthalten waren.8 Dabei ist zu betonen, dass diese Passus mitunter Kernstellen umfassten, d. h. Verse, die in den zeitgenössischen Drucken der Lutherbibel typographisch hervorgehoben waren, worauf zurückzukommen sein wird. Die mehrstimmige Notation der Lieder diente der musikalischen Bildung der Gymnasiasten, die sich idealerweise im Zuge der musikalischen Gestaltung der Schulgottesdienste auszuzahlen vermochte. Den Gesängen sind Anmerkungen vorangestellt, zu welcher Melodie eines populären Kirchenliedes sie alternativ aufgeführt werden konnten, worauf auch der Beginn von Maukischs Texten hindeutet, der mit den Anfangsworten jeweils auf das Incipit einer seinerzeit bekannten Hymne rekurriert.9 Diese Maßnahme war für diejenigen Eltern ge-

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ARCHEN/ auffgerichtet. Danzig: David Friedrich Rhete 1656 (Polnische Akademie der Wissenschaften – Danziger Bibliothek De 2529 8° [1]). Vgl. [Friedrich] Schwarz: Art. Maukisch, Johann. In: Altpreußische Biographie. Bd. 2. Hg. von Christian Krollmann u. a. Marburg (Lahn) 1967, S. 427. Zu Strutius siehe weiterführend Danuta Popinigis: In Zusammenarbeit mit dem Rektor – Musik von Thomas Strutius für das Danziger Gymnasium. In: Universität und Musik im Ostseeraum. Hg. von Ekkehard Ochs u. a. Berlin 2009 (Greifswalder Beiträge zur Musikwissenschaft 17), S. 48–51. Vgl. etwa Johann Rist, Thomas Selle: Sabbahtische Seelenlust (1651). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Oliver Huck und Esteban Hernández Castelló. Berlin, Boston 2018 (Neudrucke deutscher Literaturwerke NF 92). Vgl. Maukisch, Strutius (Anm. 3), fol. )b( 8r, S. 601 f. Vgl. ebd., S. 599. Exemplarisch genannt seien hier etwa Maukischs Epiphaniaslied Der wunderschöne Jacobsstern, das seine melodische Alternative dem Lied Wie schön leuchtet der Morgenstern verdankt, sowie

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dacht, welche die Musiknotation nicht lesen konnten und die in der Sammlung enthaltenen Lieder zu Hause mit ihren Kindern singen wollten; primärer Aufführungsort war jedoch die Danziger Kirche St. Trinitatis, wobei die einzelnen Strophen nacheinander abwechselnd „anfänglich auff dem öbern Chor [= dem Lettner]/ hernachmals unten auff drei unterschiedlichen Partheyen [der Kirche] gesungen“10 wurden. Da die meistbegehrten Schulsänger Diskantisten waren, bot man talentierten Jungen aus armen Familien die Möglichkeit, im Austausch für das Musizieren in Gottesdiensten und bei Schulfesten kostenlos am Gymnasium zu studieren, was auch dazu dienen sollte, diejenigen Gymnasiasten an öffentliche Auftritte zu gewöhnen, die sich u. a. in der Homiletik übten und später einmal Geistliche werden wollten.11 Besonders für diese Schüler waren Exemplare der Heiligen Schrift mit hervorgehobenen Bibelstellen, die während der Liedlektüre farbig markiert werden sollten, ausgesprochen nützlich.12 Innerhalb der genannten Sammlung sind u. a. auch vier Gesänge zu finden, die an den letzten vier Sonntagen des Kirchenjahres 1655/56, d. h. vom 24. bis 27. Sonntag nach Trinitatis, aufgeführt wurden. Gerade zu dieser Zeit befasste sich die evangelisch-lutherische Kirche – auch im mehrheitlich lutherischen Danzig – der Perikopenreihe entsprechend schwerpunktmäßig mit eschatologischen Fragen, darunter auch mit dem Jüngsten Gericht.13 Die an jenen Sonntagen im Gottesdienst gelesenen Evangeliumsperikopen werden denn auch in den genannten Liedern aufgegriffen, auf die im Folgenden näher einzugehen ist. Im Mittelpunkt des Liedes zum 24. Sonntag nach Trinitatis (Nr. LXXII) steht die Thematik der allgemeinen Auferstehung, welche der Überschrift zufolge („Vorbild der allgemeinen Auferstehung/ Wie solches uns bey der Aufferweckung des Jairi Töchterleins […] gezeigt worden“14) durch die in den synoptischen Evangelien geschilderte „Auferweckung des Jairi Töchterleins“ veranschaulicht wird (vgl. Mt 9,18–26; Mk 5,22–43; Lk 8,41–56). Als Kontrapunkt dazu wird ein Ausschnitt aus dem zweiten Petrusbrief (2Petr 3,11 f.) angeführt, in dem die Frage nach der Bereitschaft für das Kommen des Herrn gestellt wird. der Passionsgesang O Trawrigkeit! Jetzt ist es Zeit, dem O Traurigkeit, o Herzeleid melodisch zugrunde liegt. Vgl. ebd., S. 86 und S. 267. 10 Ebd., S. 603. 11 Vgl. ebd., fol. )b( 5v, S. 605. 12 Mehr zu der Sammlung siehe Piotr Kociumbas: Kancjonały luterańskiego Gdańska 1587–1810. Studium nad źródłami lokalnej niemieckiej pieśni kościelnej. Warszawa 2017 (Reformacja w Rzeczpospolitej i Europie Środkowo-Wschodniej 6), S. 291–295; ders.: Hymnologische Quellen als Wissensschatz zur Musizierkunst im Danzig des 17. Jahrhunderts. In: Musica Baltica. Music-making in Baltic cities. Various kinds, places, repertoire, performers, instruments. Hg. von Danuta Popinigis u. a. Gdańsk 2015, S. 109–122, hier S. 114–119, sowie Popinigis (Anm. 5), S. 53 f. 13 Vgl. Kurzmann (Anm. 1), S. 100. 14 Maukisch, Strutius (Anm. 3), S. 560.

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Innerhalb der zehn siebenzeiligen jambischen Liedstrophen sind 52 Fußnoten mit 67 Bibelverweisen15 zu verzeichnen, wobei loci mit eschatologischer Prägung aus dem Buch Hiob (Hiob 19,25–26), Jesaja (Jes 26,19), Daniel (Dan 12,2), dem Evangelium nach Johannes (Joh 5,24; Joh 5,28–29; Joh 11,43), dem ersten Korintherbrief (1Kor 15,36.54), dem ersten Petrusbrief (1Petr 1,8) und der Apokalypse (Apk 14,7; Apk 20,13) stammen. Die Bibelpassagen, auf die verwiesen wurde, liefern in den meisten Fällen – und dies wird anhand ausgewählter Beispiele zu diskutieren sein – einen inhaltlichen und/oder exegetischen Mehrwert. Das o. g. Lied beginnt mit der Beschreibung der Ankündigung des göttlichen Gerichts und seines doppelten Ausgangs („[Joh 5,28] Die Stunde/ [Dan 12,2] so bringt Ruhm und Hohn/ | [1Petr 1,8] Freud’ und Leid ist verhanden“16), der die Auferstehung aller Toten folgen wird: sowohl der Frommen als auch „des bösen Haufes“, sowohl derjenigen, die „in der Erden Staub“ lägen, als auch derjenigen, die vom wilden Meer geraubt würden: 1. [Tit 2,13] DEs Grossen [Gen 18,25; Apg 10,42] Richters Stimme mir Jn meinen Ohren hallet: [Jes 26,19] Wacht auff ihr Todten/ [Joh 11,43; Ps 90,3] kompt herfür Und zum [Joh 5,28–29; Apk 14,7] Gerichte wallet; [Joh 5,29] Zum Leben stehn die Frommen auff/ [Lk 23,30; Apk 6,16] Es rufft und schreyt der böse Hauff/ Jhr Hügel auff uns fallet.17 […] 3. [Jes 26,19; Dan 12,2] Was lieget in der Erden Staub/ [Ez 37,10] Wird fühlen neues Leben. Das wilde [Apk 20,13] Meer auch seinen Raub Wird müssen wieder geben. [Jes 5,14; Apk 20,13] Die Hölle sperrt auff ihren Schlund/ Man hört [Joh 5,28] des MenschenSohnes Mund/ [Apk 6,17] Wer kan ihm widerstreben?18

Besonders hervorzuheben ist im Blick auf diese Passage, dass Subjekt und Objekt direkt in den ersten vier Verszeilen der Anfangsstrophe ineinanderfließen: Die singenden Gymnasiasten sind demnach nicht nur diejenigen, welche die Stimme des Richters wahrnehmen, sondern auch diejenigen, welche diese Stimme

15 Die Bibelverweise auf lutherische Kernstellen werden im vorliegenden Beitrag kursiviert. Vgl. hierzu etwa: Biblia Das ist/ Die gantze heilige Schrifft/ Deudsch. D. Mart. Luth. Wittenberg: Lorenz Säuberlich 1610 (ULB Halle/S. Alv. Nl 364 2°). 16 Maukisch, Strutius (Anm. 3), S. 565. Die in eckigen Klammern stehenden Bibelverweise sind im Original in den Fußnoten zu finden. 17 Ebd., S. 564 f. 18 Ebd., S. 565.

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performativ übernehmen. Diese bemerkenswerte Konstellation weckt auf diesem Wege – bedenken wir das Sujet – wohl nicht zufällig Assoziationen mit der Rezeptionsstruktur der Apokalypse, in der Johannes die von zahlreichen Klängen begleitete Vision (vgl. etwa Apk 1,10.15) nicht nur empfängt, sondern auch an seine Leser weitergibt (vgl. Apk 1,1 f.). Dem Gesang der Kinder, die aus göttlicher Sicht privilegiert sind (vgl. Mt 10,14 f.; Mt 18,2–5) und als Lehrmeister des Glaubens in den Vordergrund gerückt werden, wird hier nun eine verkündigende, das Wort Gottes vermittelnde Bedeutung zugeschrieben. Dabei zielt der in der dritten Verszeile der ersten Strophe vorhandene Verweis auf Jes 26,19 darauf ab, das zuvörderst neutestamentlich belegte Theologumenon der Auferstehung der Toten in den alttestamentlichen Kontext zu setzen. Die für die dritte Strophe charakteristische Bibelstelle aus dem Evangelium nach Johannes (Joh 5,28) hingegen präzisiert, dass es sich im Falle des „MenschenSohnes“ um Christus handelt.19 Wie nun in den folgenden Strophen betont wird, könne niemand der zum Jüngsten Gericht rufenden Stimme des Menschensohns widerstehen, mit deren Kraft Christus auch die Tochter des Jairus auferweckt habe. Mit dieser Feststellung wird die das Wort Gottes verkündigende Bedeutung des geistlichen Gesangs konkretisiert: Durch die Vermittlung der Worte Christi, welche die Toten auferwecken können („Tálitha Kumi“), wird deutlich, dass die Bedeutung des Gesangs darin besteht, das Wort Gottes zu verkünden, welches das ewige Leben schenkt. Aufgrund derselben Kraft werde jeder in der Lage sein, seine toten Familienmitglieder wieder lebendig zu sehen, da Christus als „der starcke Held“20 den Tod besiegt habe. Und wie Christus die Flötenspieler aus dem Haus des Jairus vertrieben habe, so seien die Christen dazu verpflichtet, die Zweifel, die ihnen die Vernunft einflüstere, zu beseitigen. Hier tritt abermals deutlich der medienreflexive Charakter des Liedes zutage, insofern der geistliche Gesang in letzter Konsequenz dazu dient, die „Pfeiffer“ zu verjagen, die Zweifel an der Auferstehung verbreiten und es ihrerseits mit Musik zu tun haben. Gegen sie – d. h. gegen die Vernunft des sündigen, d. h. (noch) nicht glaubenden Menschen – ist folglich anzusingen:

19 Vgl. in diesem Kontext auch Apk 1,10–13: Hier nimmt Johannes die Vision zuerst auditiv („vnd hörete hinder mir eine grosse stimme/ als einer Posaunen“), dann auch visuell wahr („VNd ich wand mich vmb/ zu sehen nach der Stim/ die mit mir redet. Vnd als ich mich wand/ sahe ich […]“). Erst erfolgt also das Hören, dann das Sehen, was deutlich mit der verkündigenden Rolle des geistlichen Gesangs in Zusammenhang steht. 20 Vgl. Johann Anselm Steiger: Der ‚zweigestammte Held‘ Christus und seine heroischen Nachfolger in geistlicher Lyrik, Predigt und Ikonographie der Frühen Neuzeit. In: Christus als Held und seine heroische Nachfolge. Zur imitatio Christi in der Frühen Neuzeit. Hg. von Achim Aurnhammer, Johann Anselm Steiger. Berlin u. a. 2020 (Frühe Neuzeit 235), S. 149–215.

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7. [2Kor 10,5] Zwar die Vernunfft wil solches nicht Nach ihrer [1Kor 15,36] Narrheit gläuben/ Wenn sie dem Wort zu wieder spricht. [Mt 9,23.25] So mustu bald vertreiben Waß wieder Jesu Mund Sie pfeifft Der Glaube Gottes Wort ergreifft/ [Jes 40,8; 1Petr 1,25] So Ewig wahr muß bleiben.21

Dabei kommt dem Glauben eine zentrale Rolle zu, sei dieser doch dazu aufgefordert, „Gottes Wort [ständig zu] ergreiff[en]“. In den letzten drei Strophen bekennen sich die Singenden und Hörenden – zwar kollektiv im mehrstimmigen Gesang, aber doch sehr persönlich – zum Glauben an die allgemeine Auferstehung (mithin das universale Gericht), bitten um Beständigkeit im Glauben („Laß mich nicht meinen Glaubens [2Tim 4,7] Lauff | Durch Satans List verschertzen“22) und sehnen sich nach dem Tode, durch den Christus als Bräutigam jeden Einzelnen dem diesseitigen Leiden entreiße („[Apg 7,59] Nimm meinen Geist in deine Hand | Und [Ps 91,15] reiß mich aus dem Leiden“23) und es ihm ermögliche, „in steter HimmelsFrewden“ zu sein. Als Alternativmelodie für dieses Lied wird die der Hymne Es ist gewisslich an der Zeit („Kan auch gesungen werden Jm Thon: Es ist gewißlich an der Zeit/ etc.“24) aus der Feder Bartholomäus Ringwaldts vorgeschlagen, die in damaligen Gesangbüchern in den Rubriken „Vom Jüngsten Tag und Auferstehung“ ihren Platz hatte.25 Im vergleichenden Blick fällt auf, dass manche Inhalte des Ringwaldt’schen Textes (Beschreibung der Auferstehung der Toten zum Gericht; Schlussbitten an Christus in den drei letzten Strophen) in Maukischs Lied miteingespeist wurden. Auch die Passage aus 2Petr 3,11–12, die dem Danziger Text vorangestellt ist, wurde bei Ringwaldt fragmentarisch in die erste Strophe miteinbezogen. Die vierstimmig angelegte Originalfassung (Abb. 1) ist vom Kantionalsatz dominiert, wobei der auf die Auferstehung der Toten bezogene Passus in der Anfangsstrophe durch die in der Diskantstimme emporsteigende Tonfolge innerhalb einer Oktave (Takte 6–8) zum Ausdruck gebracht wird. Dem Lied zum 25. Sonntag nach Trinitatis (Nr. LXXIII) ist die Überschrift vorangestellt: „Christliches Auffmercken/ Daß der liebe Jüngste Tag nun nicht ferne müsse seyn/ weil die Zeichen/ so vor dem Jüngsten Tage haben vorgehen sollen/ allbereit erfüllet worden. Wie der HErr CHristus uns solches bey der

21 Maukisch, Strutius (Anm. 3), S. 566 f. 22 Ebd., S. 567. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 560. 25 Vgl. etwa Lorbeer (Anm. 1), S. 110, S. 125 sowie S. 159.

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Abb. 1: Johann Maukisch [Dichter], Thomas Strutius [Komponist]: Lobsingende Hertzens-Andacht […]. Danzig 1656 (Polnische Akademie der Wissenschaften – Danziger Bibliothek De 2529 8° [1]), Nr. LXXII, moderne Partitur des Liedes (Fragment).

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Verwüstung der Stadt Jerusalem vorgebildet.“26 Die Grundlage des Liedes bilden also die Evangelienabschnitte nach Mt 24,15–22, Mk 13,14–23 und Lk 21,20–24, welche die Zeichen der nahenden Endzeit beschreiben, unterstützt durch eine Passage aus dem Römerbrief (Röm 8,22 f.), in der das Seufzen über die Trübsal des Diesseits, das Warten der Gläubigen auf „des Leibes Erlösung“ sowie die Sehnsucht der ganzen Schöpfung nach der Offenbarung der Herrlichkeit Gottes bei der Parusie zum Tragen kommen. Die Aussage des Epistelfragments steht dabei in Einklang mit dem in der Überschrift aufgegriffenen Topos des ‚lieben Jüngsten Tages‘, der auf Martin Luther zurückgeht: Dem Reformator zufolge soll und darf sich der wahrhaft Glaubende, der in der Welt Leiden empfindet, dem Weltgericht am Jüngsten Tag – und folglich der Wiederkehr Christi – regelrecht entgegensehnen.27 Die neun jambischen Liedstrophen zu je neun Verszeilen werden mit fünfzig Fußnoten zu 54 Bibelstellen untermauert, wobei die eschatologischen Passagen in erster Linie im Evangelium nach Johannes (Joh 6,40), dem zweiten Petrusbrief (2Petr 3,3) und dem zweiten Thessalonicherbrief (2Thess 2,3.9) ihre Quellen haben. Das Lied beginnt mit einer Bitte an Christus um Befreiung von dem durch Sünde und Leid geprägten Diesseits sowie um das Kommen des Jüngsten Gerichts: 1. ACh [Apk 22,20] Jesu laß anblicken/ [Joh 6,40] Des Jüngsten Tages Licht! [Jes 41,14; Lk 12,32] Dein Häufflein zu [Apg 3,20] erquicken Mit deinem Angesicht. [Röm 8,22] Die Creatur sich sehnt und bangt/ [Röm 8,21] Nach ihrer Freyheit sie verlangt/ Und [Röm 8,23; Joh 10,27] was ist von den Deinen Muß seufftzen/ wimmern/ weinen. [Tit 2,13] Wird JEsus nicht erscheinen?28

Der Verweis auf Joh 6,40 erinnert die Rezipienten daran, dass das Licht des Jüngsten Tages erst nach der Auferweckung der Toten erblickt werden wird. Auf die in der letzten Verszeile eingefügte interrogatio, mit welcher der Dichter die baldige zweite Ankunft Christi erhofft, bekommt der Leser bzw. Sänger – mithilfe des Verweises auf Tit 2,13 – eine bejahende Antwort. Als Synonym für einen sündigen Ort beschwört der Danziger poeta doctus nun Jerusalem herauf, über das Jesus weinte und dessen Zerstörung er prophezeite (vgl. Lk 19,41–44).

26 Maukisch, Strutius (Anm. 3), S. 568. 27 Vgl. Kurzmann (Anm. 1), S. 33 sowie den Beitrag von Johann Anselm Steiger in vorliegendem Band. 28 Maukisch, Strutius (Anm. 3), S. 572 f.

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In der fünften Strophe dürfte sich Maukisch nun auf die aktuellen Ereignisse des Winters 1655/56 bezogen haben: Während des polnisch-schwedischen Krieges 1655–1660 (in der polnischen Geschichtsschreibung als schwedische ‚Sintflut‘ bekannt) gerieten zwei der drei preußischen Großstädte – Thorn und Elbing – unter schwedische Herrschaft,29 was er als Zeichen der Endzeit und des nahenden Zorngerichts Gottes deutet: 5. [Bar 4,21] Jhr Kinder GOttes ziehet/ [Mt 24,21] Die Trübsal bricht ietzt an. [Mt 24,17] Vnd auff die Berge fliehet/ Lauff wer nur lauffen kan. [Mt 24,20] Mit Seufftzen ewren GOtt ersucht/ Jm Winter fällt sehr schwer die Flucht; Doch hat GOtt schon gezehlet/ [Mt 24,22] Die er selbst hat erwehlet/ [Lk 21,18] Ein Härlein ihm nicht fehlet.30

Die Tatsache, dass Danzig immer noch unbesiegt geblieben war, interpretiert Maukisch als letzte Chance der Bekehrung der sündigen („Das Volck wil stets mit Rauffen/ | Mit Huren/ Fressen/ Sauffen | [1Petr 4,4] Jns wüste Wesen lauffen“31), von tätiger Nächstenliebe freien („Der Christen Lieb [Mt 24,12] erkaltet | [Jer 9,4–5] Ein Bruder offt betreugt“32) und vom Antichristen beherrschten Mottlau-Metropole („[2Thess 2,3] Es ist schon offenbaret | Mit Macht der Antichrist/ | So seinen Stuel bewahret | Durch manchen Trug [2Thess 2,9; 1Tim 4,2] und List“33), die er mit Jerusalem gleichsetzt. Das Motiv der consummatio mundi („Es wird verwüstet Hoff und Herd/ | [Ez 21,10; Mt 24,7] Und blincket stets das KriegesSchwerd; | [Lk 21,26] Der Himmel sich beweget/ | [Lk 21,25] Das Meer die Wellen reget“34) sollte nun die ortsansässigen Bürger affektiv ermahnen (movere), den Glauben erneut tätig zu bekennen. Geprägt ist die letzte Strophe von der Bitte um das baldige Kommen des Reiches Gottes sowie – und hier tritt abermals der medienreflexive Charakter der Lieder Maukischs zutage – um die Möglichkeit, den auf Erden nur temporär währenden Gesang dereinst ewig fortsetzen und Gott unmittelbar singend loben zu dürfen, mithin an der Freude der Erlösten teilzuhaben:

29 Vgl. Józef Włodarski: Losy polityczne (1626–1772). In: Historia Elbląga. Bd. II/2. Hg. von Andrzej Groth. Gdańsk 1997, S. 30 f. 30 Maukisch, Strutius (Anm. 3), S. 574. 31 Ebd., S. 575. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd.

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9. Nun [Apk 22,20] Jesu laß uns sehen [Mt 26,64] Jn Wolcken deinen Sitz/ Laß ihn nur bald ergehen/ [Mt 24,27] Vnd leuchten wie der Blitz. [Röm 8,21.23] Nach dir der Kinder Gottes Schaar/ [Mt 24,28] Wie Adler schauet immerdar. Sie wil sich gerne schwingen/ [1Thess 4,17] Und durch die Wolcken dringen [Apk 7,10] Des Richters Lob zu singen.35

Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die am Lettner der Trinitatiskirche befindliche Orgel, die Merten Friese im Jahre 1618 geschaffen hatte: Diese ist mit Skulpturen musizierender Engel geschmückt und macht so den Topos des himmlischen Musizierens anschaulich. Der Lettner markiert überdies traditionell eine ‚Schwelle‘, mithin den Eingang zur Freude der Erlösten im himmlischen Jerusalem, wie er in spätmittelalterlichen Darstellungen des Jüngsten Gerichts zu sehen ist, so etwa bei Hans Memling (s. u.), der diese ‚Schwellenfunktion‘ einer Kirchenfassade zuschrieb, die gleichzeitig an einen gotischen Lettner gemahnt – und von einem eben solchen aus sangen auch die Danziger Schüler. Hervorzuheben ist dabei, dass die im vorliegenden Lied besungene Naherwartung des Jüngsten Tages wie auch das deutlich zum Tragen kommende Endzeitbewusstsein – in der literarischen Schicht schlägt sich dies etwa im Gebrauch der Präsensform sowie in den auf die Gegenwart bzw. nahe Zukunft bezogenen Temporaldverbien wie „ietzt“ und „bald“ nieder – für das barocke Luthertum charakteristisch sind.36

35 Ebd., S. 575 f. 36 Vgl. hierzu Volker Leppin: Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618. Gütersloh 1999 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 69); Matthias Pohlig: Exegese und Historiographie. Lutherische Apokalypsekommentare als Kirchengeschichtsschreibung (1530–1618). In: Frühneuzeitliche Konfessionskulturen. Hg. von Thomas Kaufmann u. a. Gütersloh 2008 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 207), S. 289–317, hier S. 291 und passim sowie Kurzmann (Anm. 1), S. 9 f. und S. 163. In diesem Zusammenhang sei auf ein Maukisch-Strutius-Lied hingewiesen, das am 17. November 1655, mithin im ersten Jahr der schwedischen ‚Sintflut‘, während der im Danziger Gymnasium angeordneten öffentlichen Betstunde „umb die Abwendung der schweren KriegesLast“ von Schülern gesungen wurde. Das innerhalb des Horizonts der drohenden Kampfhandlungen präsente Krisenbewusstsein kommt hier zur Sprache in Erwartung des – in Ps 9,20 genannten – göttlichen Gerichts, das dem von Gottlosen (i. e. nicht in der Nächstenliebe Tätigen) verursachten Kriegsleiden ein Ende setzen wird („Ach Vater weil der Christe nicht | Sein BruderHertz lässt finden/ | So komm du selber ins Gericht/ | Vnd heiß den Krieg verschwinden.“). Johann Maukisch [Dichter], Thomas Strutius [Komponist]: Geistliche Sing- und Bet-Stunde/ Morgens und Abends/ Vor Tische und nach Tische/ Jn Frieden und Kriege/ Jn Pest- und HungersNoth/ Jn Leben und Sterben zu halten. Danzig: David Friedrich Rhete 1657, S. 28 (Polnische Akademie der Wissenschaften – Danziger Bibliothek De 2529 8° [2]).

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Die Alternativmelodie für diesen Gesang stellt diejenige des Liedes Herr Gott bzw. Ach Gott, tu dich erbarmen mit dem Text Thomas Müntzers37 („Kan gesungen werden Jm Thon: Ach GOtt thue dich erbarmen“38) dar, das abermals in den zeitgenössischen Gesangbuchrubriken „Vom Jüngsten Tag und Auferstehung“ zu finden ist.39 Wie schon im Falle des Liedes zum vorhergehenden Sonntag und seiner vorgeschlagenen Alternativmelodie zu beobachten, so fanden auch hier manche Inhalte der Müntzer’schen Dichtung Eingang in Maukischs Poesie, so etwa der Anfangsseufzer „Ach“, die Klage über die verdorbene, sündige Welt und die Reflexion der aus diesem Grunde verdienten Strafe Gottes beim Jüngsten Gericht, die an Gott gerichtete Bitte um Erbarmen, die 1Petr 4,3 entnommenen Motive der ‚Sauferei und Fresserei‘ sowie das Motiv des Lobgesangs in der letzten Strophe. Die vierstimmige musikalische Schicht aus Strutius’ Feder (Abb. 2) ist vom Kantionalsatz gekennzeichnet. Die minimae cum punctibus additionibus u. a. auf den Schlüsselwörtern „Ach JEsu“ und „seuftzen“ unterstreichen den klagenden und flehenden Charakter der Komposition. Das nächste, für den 26. Sonntag nach Trinitatis bestimmte Lied (Nr. LXXIV) rückt das Jüngste Gericht und dessen Ablauf nach Mt 25,31–46 in den Mittelpunkt, worauf die vorangestellte Überschrift zusätzlich aufmerksam macht: „Der grosse Richter-Stuel/ Des Menschen Sohnes JEsu Christi/ vor welchen alle Geschlechte auff Erden erscheinen werden/ und ihr richtigen Vrtheil anhören müssen.“40 Die Überschrift wird durch einen Auszug aus der Rede des Paulus auf dem Areopag (Apg 17,30 f.) untermauert, in welcher der Apostel auf Christus als denjenigen verweist, durch den Gott den Erdkreis gerecht richten wird. Der Gesang besteht aus dreizehn vierzeiligen trochäischen Strophen mit insgesamt 43 Fußnoten zu 55 Bibelstellen, wobei die eschatologischen Belege hauptsächlich dem Buch Jesaja (Jes 66,24), Daniel (Dan 7,9; Dan 7,27), Joel (Joel 3,16), dem Psalter (Ps 16,11), den vier Evangelien (Mt 13,42–43.50; Mt 19,28; Mt 22,13; Mt 24,15.30; Mk 13,26; Lk 21,27; Joh 5,28 f.), den beiden Thessalonicherbriefen (1Thess 4,17; 2Thess 1,9 f.) und der Apokalypse (Apk 1,7; 7,9; 10,1–3; 14,14–16; 15,2; 20,12; 22,4) entnommen wurden. Hier belegen und visualisieren sie insbesondere das Vorkommen der von Maukisch verwendeten Begriffe und Phraseologismen in der Bibel und damit gleichzeitig die Verankerung des Liedes in der Heiligen Schrift.

37 Vgl. Lorbeer (Anm. 1), S. 718. In der Frühen Neuzeit wurde das Lied Erasmus Alberus zugeschrieben. 38 Maukisch, Strutius (Anm. 3), S. 568. 39 Vgl. etwa Lorbeer (Anm. 1), S. 110 sowie S. 159. 40 Maukisch, Strutius (Anm. 3), S. 576.

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Abb. 2: Johann Maukisch [Dichter], Thomas Strutius [Komponist]: Lobsingende Hertzens-Andacht […]. Danzig 1656 (Polnische Akademie der Wissenschaften – Danziger Bibliothek De 2529 8° [1]), Nr. LXXIII, moderne Partitur des Liedes (Fragment).

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Die literarische Ebene ruft die berühmte mittelalterliche Dies irae-Sequenz in Erinnerung: In den ersten Strophen wird uns eine Vision des Jüngsten Tages als Zorngericht dargeboten, dessen Richter „in den Wolcken“ sitze, während „sein Stuel von Fewers-Flammen“ blitze. Unter den verzweifelten Schreien der ungläubigen Völker, die „verachte[n] solchen Bund[/] | Den gemacht sein [= Gottes] Mund“, erschalle die Stimme des Richters, vor dem „die gantze Welt erbeben“ müsse. Dank des in der dritten Strophe präsenten Verweises auf Jer 31,33 wird präzisiert, dass es sich hier um den im Alten Testament verheißenen „neuen Bund“ mit Christus als dessen Vermittler handelt: 1. [Mt 24,15] MErcket auf! Es wird [Joh 5,25.28] die Stunde kommen/ [Apk 20,12] Da GOtt selbst zu richten vorgenommen Denn [Apg 17,31] er hat gesetzt den Mann/ Der recht richten kan. 2. [Mt 24,30; Mk 13,26; Lk 21,27; Apk 14,14–16] Unser HErr/ wird in den Wolcken sitzen Und sein [Dan 7,9] Stuel von Fewers-Flammen blitzen/ Seine grosse [Mt 24,30; Mk 13,26] Herrligkeit Leuchtet weit und breit. 3. [2Thess 1,10] Wenn er wird in solcher Macht erscheinen/ [Apk 1,7] Wird vor ihm die Schaar der Völcker weinen/ Die verachtet [Ps 50,16] solchen Bund[/] Den [Jer 31,33] gemacht sein Mund. 4. Er wird selbst [Apk 10,1–3] die grossen Stimm erheben/ [Joel 3,16] Für der muß die gantze Welt erbeben/ Und [Apk 1,7] anschauen Gottes Sohn [Mt 19,28] Der sitzt auf den Thron.41

Des Weiteren werden die in gebundener Rede gefassten Worte Christi aus Mt 25 aufgegriffen, wo die Folgen des Tuns oder Nichttuns von opera misericordiae hervorgehoben werden, die als tätige Nächstenliebe ohne Eigennutz die Früchte des wahren Glaubens darstellen (mithin im und aus dem Glauben heraus getan werden42). Das göttliche Gericht nach den so verstandenen (Liebes-)Werken ist doch entscheidend für dessen Ausgang – ohne diese kann der Mensch vor dem Richtenden nicht bestehen: 6. [Mt 25,35] Jhr habt mich gekleidet/ und gespeiset/ Daß die Welt [Mt 5,16] des Glaubens Licht gepreiset. [Mt 13,43] Was den Brüdern gebet ihr/

41 Ebd., S. 579 f. 42 Vgl. Kurzmann (Anm. 1), S. 23; Ole Modalsli: Das Gericht nach den Werken. Ein Beitrag zu Luthers Lehre vom Gesetz. Göttingen 1963 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 13), S. 24 und S. 81 sowie den Beitrag von Johann Anselm Steiger im vorliegenden Band.

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Das rech ich für mir. 7. [Mt 25,21.46] Gehet ein zur Himmels Freud und Wonne/ [Mt 13,43] Leuchtet dort gleich wie die helle Sonne; [Apk 22,4] Schauet an mein Angesicht [Ps 16,11; Ps 36,10] Jn dem Frewden Licht. 8. Aber ihr/ ihr schwartzen Höllenbrände [Mt 25,41.46] Gehet hin/ ins TeuffelsMacht und Hände. Jn die rothe Feuers Glut Zu des Teuffels Brut. 9. Denn die Schuld hab ich euch lang geborget/ Als ihr nicht [1Joh 3,17; Jak 2,15] die Brüder habt versorget; [Mt 25,45] Was den Brüdern ist versagt/ Wird von mir geklagt:43

Die Beschreibung des doppelten Ausgangs des Jüngsten Gerichts, mithin der endlosen Qualen der Verdammten und der ewigen Freude der Erlösten bei den Tönen ewig währender himmlischer Musik – die ihren Anfang im irdisch-temporären Lobgesang der wahrhaft Glaubenden findet! – mündet in eine Bitte an Christus um Hilfe bei der Überwindung jener Hindernisse, die dem Gläubigen auf dem Weg zur Erlösung und zur ewigen Glückseligkeit begegnen. Es ist denkbar, dass der Passus, der die Ewigkeit der Höllenqual doppelt betont („[Mt 25,46; 2Thess 1,9; Jud 7; Jes 66,24] Ewig/ Ewig wird da seyn | Noth/ Todt/ Quaal und Pein“44), gegen die in Danzig immer noch aktiven Sozinianer gerichtet ist, welche die Auffassung vertraten, es werde zur annihilatio der Verdammten kommen.45 Die Alternativmelodie, zu der das Lied gesungen werden kann, entstammt der von Michael Weiße gedichteten Hymne Es wird schier der letzte Tag herkommen („Kan gesungen werden im Thon: Es wird schier der letzte Tag herkommen“46) und gehört wiederum zum Repertoire der Kirchenlieder, die das Jüngste Gericht thematisieren.47 Bemerkenswert ist, dass die erste Verszeile des Maukisch-Textes lexikalisch auf den ersten Vers der genannten Hymne Bezug nimmt („MErcket auf! Es wird die Stunde kommen“ vs. „Es wird schier der letzte Tag herkommen“), was denjenigen, die mit der Notenschrift nicht vertraut waren, helfen sollte, mühelos die richtige Alternativmelodie zuzuordnen. Dabei ist 43 Maukisch, Strutius (Anm. 3), S. 580 f. 44 Ebd., S. 581. 45 Vgl. Sławomir Kościelak: Gdańsk XVI–XVIII wieku – bezpieczna przystań dla religijnych uchodźców? Z dziejów koegzystencji międzywyznaniowej w epoce nowożytnej. In: Studia Historica Gedanensia 5 (2014), S. 196–216, hier S. 204. Siehe auch Kurzmann (Anm. 1), S. 92. 46 Maukisch, Strutius (Anm. 3), S. 576. 47 Vgl. etwa Lorbeer (Anm. 1), S. 60, S. 81, S. 139 sowie S. 159.

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auch in diesem Fall zu beobachten, dass manche Inhalte von Weißes Text – die Nachdichtung von Christi Worten an die Glaubenden und Gottlosen aus Mt 25,31–46 sowie die in der letzten Strophe vorhandene Schlussbitte an Christus, in Zukunft die Erlösung genießen zu können – in Maukischs Lied miteinbezogen wurden. Die Originalkomposition ist für vier Stimmen vorgesehen (Abb. 3) und vom Kantionalsatz geprägt. Die in den drei ersten Takten der Diskantstimme emporsteigende Tonfolge innerhalb einer Oktave scheint die – bei Gottlosen Angst und Schrecken hervorrufenden – Posaunen, die den Beginn des Jüngsten Gerichts verkünden, musikalisch darzustellen, was im Einklang mit der appellativen Anfangspassage „MErcket auf! Es wird die Stunde kommen“ steht. Das letzte der hier vorzustellenden Lieder aus Maukischs Feder (und das letzte in der vorliegenden Sammlung) war für den 27. Sonntag nach Trinitatis bestimmt (Nr. LXXV), der seinerzeit zugleich der letzte Sonntag des Kirchenjahres war. Die an diesem Tag gelesene Perikope stammt ebenfalls aus dem 25. Kapitel des Evangeliums nach Matthäus (Mt 25,1–13) und enthält das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen, was bereits in der Liedüberschrift reflektiert wird, die auch den o. g. Topos des lieben Jüngsten Tages miteinbezieht: „Wachendes Vnd sehnendes Auge/ Einer gläubigen Seele/ Welche sich täglich zur Zukunfft des lieben Jüngsten Tages bereitet/ und mit den klugen Jungfrauen ihre Lampen schmücket/ daß des Glaubens Liecht leuchten/ und sie würdiglich ihren Seelen Bräutigamb Christum Jesum empfangen möge.“48 Die Sehnsucht der christlichen glaubenden Seele nach dem Jüngsten Tag ist als Leitmotiv des Textes zu betrachten. Dem Lied wurde kein Passus aus den Apostelschriften vorangestellt. Den vierzehn sechszeiligen trochäischen Strophen liegen 45 Fußnoten mit ebenso vielen Verweisen auf die Heilige Schrift zugrunde, wobei diejenigen mit eschatologischer Prägung hauptsächlich aus Jesaja (Jes 25,7; Jes 65,14), den Evangelien nach Matthäus (Mt 25,21.34) und Johannes (Joh 6,54), den beiden Thessalonicherbriefen (1Thess 4,17; 1Thess 5,2; 2Thess 1,10) und der Apokalypse (Apk 19,7; Apk 21,3) stammen. In den ersten Strophen ruft die gläubige Seele sehnsüchtig Christus als ihren Bräutigam dazu auf, wieder auf die Erde zu kommen. Mithilfe von Hld 5,6 und Ps 45,3 gibt Maukisch zu erkennen, dass die alttestamentlichen Schriften durch die Braut- und Hochzeitsmetaphorik auf das Verhältnis zwischen Christus und der Gemeinde (hier: der gläubigen Seele) verweisen, was zusätzlich durch die Bezugnahme auf die Johannesoffenbarung (in der neunten Strophe: „[Apk 19,7] Zu der Hochzeit gehet ein“49) hervorgehoben wird:

48 Maukisch, Strutius (Anm. 3), S. 582. 49 Ebd., S. 586.

„Wacht auff ihr Todten/ kompt herfür Und zum Gerichte wallet.“

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Abb. 3: Johann Maukisch [Dichter], Thomas Strutius [Komponist]: Lobsingende Hertzens-Andacht […]. Danzig 1656 (Polnische Akademie der Wissenschaften – Danziger Bibliothek De 2529 8° [1]), Nr. LXXIV, moderne Partitur des Liedes (Fragment).

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1. [Hld 5,6] MEine Seele stehnet/ Sich [Apk 22,16–17.20] nach JEsu [Röm 8,23] sehnet. Komm du [Ps 45,3] schönster Menschen Sohn! Komm [Phil 3,20] von deinem Himmels-Thron! Komm wie du bestimmet! Meine Liebe glimmet.50

Unter Verwendung von Motiven aus dem o. g. Gleichnis appelliert die Seele an andere Seelen (will sagen: rufen mithin die Singenden einander dazu auf), wie die klugen Jungfrauen in Mt 25 mit brennenden Lampen zu wachen. Auf die an Christus gerichtete Bitte, im Glauben gestärkt zu werden, folgt die Aufforderung, dem Bräutigam entgegenzugehen, der die treuen und gläubigen Seelen zur ewigen Freude im Himmel einlädt. Die übrigen, deren Glaubenslicht „verloschen ist“, sind hingegen – zur Freude Satans – zur ewigen Verdammnis verurteilt. Die abschließende Ermahnung zur Wachsamkeit schließt mit der Ankündigung, dass Christus bei der Parusie freudig empfangen werde: 13. Höll und Teuffel lachet. [Mt 25,13] Darumb Kinder wachet; Denn ihr wisset nicht die Zeit/ [2Thess 1,10] Wenn mit grosser Herrligkeit JEsus wird den Seinen [1Thess 4,17] Jn der Lufft erscheinen.51

Die Erwähnung der „Herrligkeit“ sollte alle Leser bzw. Sänger des Liedes daran erinnern, dass die erste Ankunft Jesu in Niedrigkeit geschah, während die zweite in triumphaler Majestät erfolgen wird.52 Die Alternativmelodie entstammt dem ebenfalls von Michael Weiße geschriebenen Lied Menschenkind, merk eben („Kan gesungen werden Jm Thon: Menschen Kind merck eben“53), das, im Gegensatz zu den vorangegangenen Beispielen, zu den Adventsliedern gehört. Dies korrespondiert natürlich mit dem adventlichen Postulat der Erwartung der Parusie. Es sei darauf hingewiesen, dass abermals manche Inhalte von Weißes Text – etwa das Motiv des vom himmlischen Thron kommenden Christus, das Motiv der Belohnung der Glaubenden und der Bestrafung der Gottlosen sowie die Schlussbitte an Christus um sein baldiges Kommen – von Maukisch aufgegriffen wurden. Wie schon im Falle der drei zuvor vorgestellten Gesänge, so konzipierte Strutius auch hier die Originalkomposition für vier Stimmen (Abb. 4), die 50 Ebd., S. 584. 51 Ebd., S. 587. 52 Darauf macht auch Kurzmann in seiner Analyse von Bartholomäus Ringwaldts Lied Es ist gewisslich an der Zeit aufmerksam. Vgl. Kurzmann (Anm. 1), S. 211 f. 53 Maukisch, Strutius (Anm. 3), S. 582.

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Abb. 4: Johann Maukisch [Dichter], Thomas Strutius [Komponist]: Lobsingende Hertzens-Andacht […]. Danzig 1656 (Polnische Akademie der Wissenschaften – Danziger Bibliothek De 2529 8° [1]), Nr. LXXV, moderne Partitur des Liedes (Fragment).

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erneut vom Kantionalsatz geprägt ist. Der punktierte Rhythmus, der die musikalische Schicht des Liedes bestimmt, scheint auf das Schlüsselwort der ersten Verszeile, i. e. das Verb ‚stehnen‘ (= stöhnen, ächzen, seufzen54) zurückzugehen. Im Blick auf die dichterisch-musikalische Inszenierung des Jüngsten Gerichts lässt sich aus dem Danziger Repertoire schließen, dass die vertonten Texte mittels zahlreicher, auch auf die eschatologische Thematik bezogener Bibelverweise in die Heilige Schrift eingebettet werden. Die für den Kantionalsatz typische ‚Rohheit‘ bzw. Schmucklosigkeit der musikalischen Gestaltung entspricht dem Ernst des diskutierten Theologumenons, während die Vertonung, welche die Schlüsselwörter der Texte tonmalerisch abbildet, den intermedialen Charakter der Kompositionen zu erkennen gibt.

3. Die in Elbing gesungenen Lieder über das Jüngste Gericht im Spiegel von Peter Sohrens Gesangbuch In der evangelisch-lutherischen Fronleichnamskirche zu Elbing – neben Danzig und Thorn eine der drei preußischen Großstädte – hatte Peter Sohren (gest. vor 1693), Organist an St. Trinitatis und Sohn eines reformierten Pfarrers, von 1665 an das Amt des Kantors, Organisten und Lehrers inne. Von seinem Vater in Musik und Theologie unterrichtet, hatte Sohren in beiden Kirchen mit orthodox-lutherischen Pfarrern zu tun, die in einer Stadt, die in der heutigen Geschichtsschreibung als die „am stärksten lutheranisierte“55 in ganz Polen-Litauen gilt, zu keiner Annäherung an die Reformierten bereit waren.56 Sohren war sehr aktiv auf dem Gebiet der Komposition von Melodien für geistliche Lieder, was sich in der Veröffentlichung zahlreicher Ausgaben, später dann auch Überarbeitungen der Sammlung Praxis Pietatis Melica Johann Crügers niederschlug. Die von Sohren signierte Erstausgabe erschien 1668 in Frankfurt am Main und enthält fast ein Viertel der von ihm stammenden Melodien.57 54 Vgl. Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 19. Leipzig 1957 (Reprint München 1984), Sp. 185 f. 55 Wojciech Zawadzki: Luterańska hegemonia wyznaniowa w nowożytnym Elblągu. In: Dysydenci czy decydenci? Protestanci w obu częściach Prus i Koronie w XVI–XVIII wieku. Hg. von Wojciech Zawadzki. Elbląg 2018, S. 171–180, hier S. 180. 56 Vgl. Georg Bießecker: Art. Sohren, Peter. In: Wer ist wer im Gesangbuch? Hg. von Wolfgang Herbst. Göttingen 22001, S. 302; Danuta Popinigis, Art. Sohren, Peter. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart Online. Hg. von Laurenz Lütteken. Kassel u. a. 2016 ff., zuerst veröffentlicht 2006, online veröffentlicht 2016, www.mgg-online.com/mgg/stable/401121 (30.12.2021). 57 Vgl. Johann Crüger: Neu zugerichtete Praxis Pietatis Melica: Das ist: Ubung der Gottseligkeit Jn Christlichen und trostreichen Gesängen Herrn D. Mart. Lutheri fürnemlich/ wie auch anderer seiner getreuen Nachfolger/ und reiner Evangelischer Lehr/ Bekenner. Ordentlich zusammen gebracht/ Und zur Beförderung des sowol Kirchen- als Privat-Gottesdiensts/ mit bißhero gebräuch-

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1683 veröffentlichte Sohren unter seinem Namen ein lutherisches Gesangbuch mit dem Titel Musicalischer Vorschmack Der Jauchtzenden Seelen im ewigen Leben, das – vermutlich aufgrund mangelnder Gunst der örtlichen lutherischen Geistlichkeit – nicht in Elbing, sondern in Hamburg „in Verlegung Hinrich Völckers“ herausgegeben und in Ratzeburg bei Niclas Nissen gedruckt wurde.58 Die dem Hamburger Magistrat gewidmete Sammlung von über 1100 Liedtexten enthält zahlreiche Vertonungen für Diskant und Bass, darunter 242 Kompositionen von Sohren selbst.59 Unter Bezugnahme auf die Praxis Pietatis Melica begründet er die Veröffentlichung des neuen Werkes in seiner Vorrede An den günstigen Leser wie folgt: Daß ich vor zehen und mehr Jahren ein vollständiges Gesang-Buch von 888 Liedern bestehende/ zum Druck übergeben/ ist unverborgen; Wann aber im selbigem die Melodien so gar tunckel/ daß ich selbsten ihrer mich nicht gebrauchen kan/ und immittelst so viel mehr herrliche schöne Texte mir zu handen kommen/ als habe ich Fleiß angewendet ein neues Werck zuverfertigen/ welches denn auch durch die Gnade GOttes mir gelungen/ daß ich es mit Eilffhundert und siebenzehn vollkommenen/ so wol alten als neuen Liedern verfertiget/ der ungezweiffelten Zuversicht lebende/ daß es von Gottliebenden Hertzen mit Freuden angenommen werde werden.60

Sohrens Bedürfnis, neuere Texte aufzunehmen, neue Melodien zu komponieren und ältere zu überarbeiten, ging mit dem Wunsch einher, seinen Ehrgeiz zu befriedigen und seinen Namen bekannt zu machen, insbesondere angesichts dessen, dass man ihm vorgeworfen hatte, aus Crügers Sammlung Kapital zu schlagen: Wollte mich aber jemand hierinnen einer unrechtmässigen That beschuldigen/ daß ich dieses an einen andern Orth und nicht wo voriges im Verlag gegeben/ dem sey unverhallichen und vielen schönen neuen Melodeyen/ neben darzu gehörigen Fundament verfertigt. Auch über vorige Editiones mit etlichen hundert schönen trostreichen Gesängen vermehret und verbessert Von Peter Sohren Bestalten Schul- und Rechenmeister der Christlichen Gemeine zum H. Leichnam/ in Königlicher Stadt Elbing in Preussen. Frankfurt a. M.: Balthasar Christoph Wust 1668 (HAB Tl 47). Vgl. auch Bießecker (Anm. 56), S. 302. 58 Vgl. Peter Sohren: Musicalischer Vorschmack/ Der Jauchtzenden Seelen im ewigen Leben. Das ist: Neu-außgefärtigtes/ vollständiges und mit Fleiß durchsehenes nützliches Evangelisch-Lutherisches Gesang-Buch/ Darinnen Herrn D. Lutheri und aller anderer Geistreichen Gottseligen so wol Alten als Neuen Lehrer/ wolgesetzte Gesänge/ an der Zahl über 1100. Texten/ in richtiger Ordnung befindlich/ und mit Discant und Bass überzeichnet. Allen christlichen Hertzen zu sonderm Gebrauch/ in Freud und Traurigkeit/ in der Kirchen und zu Hause/ sich damit auffzurichten/ zu Gut/ mit allem Fleiß verfasset/ neben dreyen nützlichen Registern/ einem Anhang Festund Sonntäglichen Collecten, durchs gantze Jahr/ und einem schönen Gebet-Buch/ Ans Licht gegeben auch mit 32. Schrifftmässigen Sinnen-Bildern bezieret. Hamburg, Ratzeburg: Hinrich Völcker, Niclas Nissen 1683 (BSB München Liturg. 1374 g). Vgl. auch Bießecker (Anm. 56), S. 302 sowie Lorbeer (Anm. 1), S. 89–96. 59 Vgl. Bießecker (Anm. 56), S. 302. 60 Sohren, Musicalischer Vorschmack (Anm. 58), fol. a 6r–v.

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ten/ daß ich vielfältige Uhrsachen dazu habe/ denn ich mein Lebetag des Sinnes nicht gewesen/ eines andern Vermehrer seiner Arbeit zu seyn/ zudem/ da es zum andernmahl herauskommen/ ungeachtet es vorigem gleich/ mit meinem Nahmen im Titel-Blad unterleget/ so nennet man es doch nicht meine/ sondern Krügeri Arbeit/ etc. des übrigen geschweige ich anjetzo gern. Nun es mag jenes in GOttes Nahmen Krügers-Gesang-Buch bleiben/ ich wil mich so fern dessen nicht mehr annehmen; Dieses aber sol Sohrens seyn […].61

Die in Elbing konzipierte Sammlung stellt eine aufschlussreiche Quelle hinsichtlich des im polnischen Königlichen Preußen bekannten und womöglich auch in der Elbinger Fronleichnamskirche unter dem Kantorat Sohrens aufgeführten Liedrepertoires dar. Das für unseren Kontext relevante Repertoire findet sich in der Rubrik „Vom Jüngsten Tag und Auferstehung“, der eines der – wie es auf dem Titelblatt heißt – „32. schrifftmässigen Sinnen-Bildern zu Ergetzung des Gemüths“ vorangestellt ist. Auf dem anonymen, dem Jüngsten Tag gewidmeten 30. Kupferstich (Abb. 5) werden die soeben auferstandenen Toten direkt von Engeln (im Falle der erlösten Gläubigen) und Teufeln (im Falle der verdammten Ungläubigen) in Empfang genommen. Nach gerichtsbezogenen Motiven und dem urteilssprechenden Gottessohn allerdings sucht man hier vergebens.62 Womöglich wollte man dadurch Assoziationen mit der für die römisch-katholische Theologie charakteristischen Vorstellung des iudicium extremum vermeiden, derzufolge jeder Mensch verpflichtet sein werde, vor dem richtenden Christus Rechenschaft über seine guten – die unverdienbare göttliche Rechtfertigungsgnade mehrenden und das ewige Leben erlangenden – Werke abzulegen. Unter die Darstellung wurde eine explicatio in einem jambischen Tristichon gesetzt: So balt der Jüngste Tag einfällt/ Bringt alle Todten her, die Welt, Und Jeden, seinem Theil hinstelt.63

Die Tatsache, dass die Aufmerksamkeit des Lesers auf den für die evangelische Theologie wichtigen Aspekt des doppelten Ausgangs des Jüngsten Gerichts nebst der Auferstehung der Toten gelenkt wird, hat durchaus Konsequenzen für die Rezeption der Lieder, die auf diesen Kupferstich folgen: Die Gesänge sind demnach in erster Linie als persuasive Texte zu betrachten, die dazu anregen,

61 Ebd., fol. a 6v. 62 Auch in der malerischen Darstellung der Eschata (darunter des Jüngsten Gerichts), die auf dem Epitaph für Johannes Hutzing (1585) in der Danziger Kirche St. Johannis zu sehen ist, tritt der Menschensohn nicht auf. Dennoch werde hier, so Johann Anselm Steiger, das fehlende Bildmotiv durch ein einschlägiges Bibelzitat (Röm 14,10) ersetzt. Vgl. Johann Anselm Steiger: Gedächtnisorte der Reformation. Sakrale Kunst im Norden (16.–18. Jahrhundert). Bd. 1 (A–K). Regensburg 2016, S. 215 f. 63 Sohren, Musicalischer Vorschmack (Anm. 58), S. 1332.

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Abb. 5: Peter Sohren: Musicalischer Vorschmack/ Der Jauchtzenden Seelen im ewigen Leben. […]. Hamburg, Ratzeburg 1683 (SUB Hamburg Scrin. A/1602), Kupferstich neben S. 1332.

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den Glauben tätig zu bekennen, insofern der Mensch beim Gericht entweder für ewig erlöst oder aber verdammt erklärt werden wird. In diesem Zusammenhang wird ebenfalls deutlich markiert, dass der für Katholiken geltende ‚Mittelweg‘, mithin die Hoffnung auf die vorübergehende Läuterung der Seele im Fegefeuer, wo die lässlichen Sündenstrafen mit Hilfe der Gebete der Hinterbliebenen abgebüßt werden können, illusorisch sei. Die sich dem Kupferstich anschließende Rubrik „Vom Jüngsten Tag und Aufferstehung“ umfasst fünfzehn Gesänge (Nr. 1050–1064), von denen sieben dem Reformationsjahrhundert entstammen: Michael Weißes Es wird schier der letzte Tag herkommen (Nr. 1050, hier den Waldensern zugeschrieben), Erasmus Alberus’ Gott hat das Evangelium gegeben, dass wir werden fromm und Ihr lieben Christen, freut euch nun (Nr. 1051 und 1052), Thomas Müntzers Ach Gott, tu dich erbarmen (Nr. 1053), zwei Fassungen des Liedes Es ist gewisslich an der Zeit von Bartholomäus Ringwaldt (Nr. 1054 und 1055) sowie das anonyme64 Wacht auf, ihr Christen alle, wacht auf mit ganzem Fleiß (Nr. 1056). In die Zeit des Dreißigjährigen Krieges im weiteren Sinne reihen sich ein: Johann Rists Lasst ab von Sünden alle, lasst ab und zweifelt nicht (Nr. 1057), Paul Gerhardts Die Zeit ist nunmehr nah (Nr. 1058), das anonyme Es sind die Zeichen nunmehr da (Nr. 1059), Johann Heermanns Lieder Wenn des Menschen Sohn wird wiederkommen (Nr. 1060), Höret, o ihr Kinder Gottes, höret und Wollt ihr euch nun, o ihr fromme Christen (Nrn. 1061 und 1062), Christoph Runges Herr Christ, der Jüngste Tag nun nicht weit mehr sein mag (Nr. 1063) sowie Johann Olearius’ Komm, Herr Jesu, lass mich sehen endlich deinen Freudentag (Nr. 1064). Die Reihenfolge der Gesänge ist durch eine innere Logik gekennzeichnet bzw. weist eine wohldurchdachte Struktur auf, die bereits an den Incipiten selbst abzulesen ist: Nach einer Erinnerung an das bevorstehende Jüngste Gericht (Nr. 1050) wird die Bedeutung des Evangeliums als Wegweiser zum gottgefälligen Wandel und damit zur Erlösung betont (Nr. 1051 und 1052). Nach dem Hinweis auf die Notwendigkeit, Gott um Erbarmen zu bitten, und auf die Sündhaftigkeit eines jeden Menschen (Nr. 1053) wird darauf aufmerksam gemacht, dass die baldige Ankunft des Jüngsten Gerichts unausweichlich ist (Nr. 1054 und 1055), was ständige Wachsamkeit erfordert (Nr. 1056). Nach einer Ermahnung zum Verzicht auf ein sündiges Leben (Nr. 1057) werden in den folgenden Hymnen das Bevorstehen des Jüngsten Tages (Nr. 1058 und 1059) und sodann sein Verlauf (Nr. 1060–1062) thematisiert. Im Zentrum der letzten beiden Lieder (Nr. 1063 und 1064) steht das Motiv des lieben Jüngsten Tags, mithin die Sehnsucht eines wahren Christen nach der Begegnung mit Christus und die Aussicht auf die Freude über die Aufnahme in die Gemeinschaft der Erlösten. In der dar-

64 Vgl. Lorbeer (Anm. 1), S. 60, S. 77 sowie S. 91.

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gestellten Ordnung lässt sich eine Parallele zur Reihenfolge der Maukisch-Lieder erkennen: Auch hier folgen auf die Erinnerung an das bevorstehende Jüngste Gericht (Nr. LXII) eine Ermahnung zur Umkehr (Nr. LXIII), eine Beschreibung des Ablaufs des Jüngsten Tages (Nr. LXIV) und ein Aufruf zur Bereitschaft für die Begegnung mit dem geliebten und ersehnten Bräutigam (Nr. LXV). In zwei Fällen ist die Musiknotation angegeben: Die musikalische Ebene des Rist’schen Liedes wurde fälschlich mit den Initialen J. S. versehen,65 tatsächlich ist sie jedoch identisch mit einem Stück aus Rists Sammlung Neue Himmlische Lieder (Lüneburg 1651),66 das Jacob Praetorius (1586–1651), Organist an St. Petri in Hamburg,67 komponiert hatte. Sohren könnte hier Johann Schop gemeint haben, der Rists Himmlische Lieder von 1641/42 vertont hatte.68 Die Musiknotation von Heermanns Lied Höret, o ihr Kinder Gottes, höret wurde mit ähnlichen Initialen – J. S. – versehen,69 aber auch hier haben wir es mit einer Ungenauigkeit zu tun: Die Musik schrieb Johann Crüger (1598–1662), Kantor an St. Nicolai in Berlin,70 und die gleiche Melodie ist in der Praxis Pietatis Melica, etwa in der Ausgabe von 1653, zu finden.71 In diesem Kontext ist zu unterstreichen, dass die letztgenannten Gesänge die Migration des hymnologischen Repertoires aus anderen Gebieten des deutschen Sprachraums ins Königliche Preußen bezeugen.

65 Siehe Sohren, Musicalischer Vorschmack (Anm. 58), S. 1343. 66 Vgl. Johann Rist: Neue Himmlische Lieder (1651). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Musik von Andreas Hammerschmidt, Michael Jacobi, Jacob Kortkamp, Petrus Meier, Hinrich Pape, Jacob Praetorius, Heinrich Scheidemann, Sigmund Theophil Staden. Kritische Edition der Notentexte von Konrad Küster. Berlin 2013, S. 291 f. 67 Vgl. Lothar Hoffmann-Erbrecht, Michael Belotti: Art. Praetorius (Organisten), Jacob (II). In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart Online. Hg. von Laurenz Lütteken. Kassel u. a. 2016 ff., zuerst veröffentlicht 2005, online veröffentlicht 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/ 371199 (30.12.2021). 68 Vgl. Johann Rist, Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Kritische Edition des Notentextes von Konrad Küster. Mit einer Einführung von Inge Mager. Berlin 2012. 69 Sohren, Musicalischer Vorschmack (Anm. 58), S. 1351. 70 Vgl. Christian Bunners: Art. Crüger, Johann. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart Online. Hg. von Laurenz Lütteken. Kassel u. a. 2016 ff., zuerst veröffentlicht 2001, online veröffentlicht 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/21473 (30.12.2021). 71 Johann Crüger: Praxis Pietatis Melica. Das ist: Vbung der Gottseligkeit in christlichen und trostreichen Gesängen/ Herrn D. Martini Lutheri fürnemlich/ wie auch anderer vornehmer und gelehrter Leute: Ordentlich zusammen gebracht/ vnd/ über vorige Edition/ mit gar vielen schönen/ neuen Gesängen (derer ingesamt 500) vermehret: Auch zu Beforderung des so wol Kirchen- als Privat-Gottesdienstes/ mit beygesetzten Melodeyen/ nebest dazu gehörigem Fundament/ verfertiget. Berlin: Christoph Runge 1653, S. 929, Nr. 489 (Bayerische Staatsbibliothek München Res Liturg. 1374 a).

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4. Fazit Bilanzierend ist festzustellen, dass die im Königlichen Preußen wirkenden Autoren keine Lieder über das Jüngste Gericht schufen, die sich in der genannten Region und in weiteren Gebieten des deutschsprachigen Protestantismus besonderer Beliebtheit erfreuten. Zwar fanden viele von Maukischs Gesängen Eingang in zahlreiche regionale und überregionale Gesangbücher,72 doch die vier im vorliegenden Beitrag diskutierten Lieder über das Jüngste Gericht gehören zu der Gruppe von Stücken, die offenbar ausschließlich im Umfeld des örtlichen Akademischen Gymnasiums gesungen wurden. Diese Beobachtung ist nicht unerheblich: Das Studieren und Singen dieser Texte in Kombination mit dem Auffinden relevanter Bibelstellen ermöglichte es den jüngeren Gymnasiasten, grundlegende Informationen über die Letzten Dinge (Eschata, novissima) zu sammeln und die damit zusammenhängenden lutherischen Lehrinhalte (u. a. der doppelte Ausgang des Jüngsten Gerichts, der wahre Glaube als conditio sine qua non der Erlösung, die als Glaubensfrucht angesehene tätige Nächstenliebe) zu erwerben, auch und besonders im Spiegel aktueller Geschehnisse. Dem geistlichen Gesang – der die für die vier letzten Sonntage des Kirchenjahres üblichen eschatologischen Perikopeninhalte zuerst wahrnimmt, um sie dann performativ zu übernehmen und der Gemeinde zu Gehör zu bringen – wurde im Falle der hier vorgestellten Lieder eine verkündigend-mahnende Bedeutung zugeschrieben. Die inhaltliche Glaubwürdigkeit und das intertextuelle Potential der geistlichen, gesungenen Dichtung wird dabei zusätzlich anhand der Verweise auf einschlägige und relevante Bibelstellen (mitunter auf Kernstellen der Lutherbibel) anschaulich belegt. Auf diesem Wege führten die Lieder in die eschatologische Thematik ein, die sich bereits aus der Perikopenordnung (d. h. den vier letzten Sonntagen des Kirchenjahres) ergab und auch in Predigten traktiert wurde. Durch die Anhäufung biblischer Bezüge stellte Maukisch einen bemerkenswerten Katalog an Bibelstellen zusammen, welche die novissima in den Fokus rücken: Hieraus konnten gerade jene Gymnasiasten einen exegetischen Mehrwert schöpfen, die später einmal Geistliche werden wollten. In diesem Zusammenhang sei nochmals betont, dass Maukischs Gesänge auch inhaltlich mit jenen populären Kirchenliedern in Beziehung stehen, nach deren Melodien seine Lieder alternativ gesungen werden konnten, sollte die Notation für die Gymnasiasten oder aber ihre Eltern nicht lesbar sein. Die von Strutius komponierte musikalische Ebene der Stücke ist gleichwohl durchaus programmatisch: Mittels ihres strengen, jedoch durch das Wort-Ton-Verhältnis

72 Hierzu ausführlicher Kociumbas, Kancjonały (Anm. 12), S. 352–354.

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geprägten Kantionalsatzes ohne Verzierungen und kontrapunktische Elemente lenkt sie die Aufmerksamkeit der Leser bzw. Sänger geschickt auf das Gewicht der eschatologischen Thematik, zuvörderst auf die Tragweite des wahren Glaubens, der zum einen die einzige Garantie darstellt, am Jüngsten Tag der ewigen Verdammnis zu entgehen, zum anderen die tröstliche Heilsgewissheit der Glaubenden fördert. Gerade diese Gewissheit war, neben der Sehnsucht nach Frieden und Überwindung der Feinde, in einer von Auseinandersetzungen mit der schwedischen ‚Sintflut‘ geprägten Zeit von besonderer Relevanz. Insbesondere bei den jüngeren Schülern könnte die Wahrnehmung all dieser Inhalte durch die Vertrautheit mit der berühmten malerischen Darstellung des Jüngsten Gerichts von der Hand Hans Memlings verstärkt worden sein, die damals zwar nicht in der gymnasialen Kirche St. Trinitatis, sondern in der Danziger Hauptkirche St. Marien hing, jedoch einem jeden damaligen Danziger bekannt gewesen sein dürfte. Die in Elbing konzipierte Sohren-Sammlung wiederum zeigt, dass die Dichter des 17. Jahrhunderts – insbesondere jene, die um die Zeit des Dreißigjährigen Krieges tätig waren und deren Lieder man in Kirchen und Häusern im Gebiet des deutschsprachigen Protestantismus sang – das Theologumenon des iudicium extremum aufgriffen und ihr Schaffen ebenfalls im Preußen königlichpolnischen Anteils bekannt war. Der Kupferstich, welcher der Rubrik „Vom Jüngsten Tag und Auferstehung“ vorangestellt ist, ist dabei darauf ausgerichtet, die in den hier enthaltenen (einer inneren Logik nach geordneten) Liedern präsenten Lehrinhalte vom doppelten Ausgang des Jüngsten Gerichts nach der Auferstehung aller Toten anschaulich als eine für Lutheraner verbindliche Wahrheit darzustellen. An der Spitze der Beliebtheitsskala stand zu jener Zeit jedoch immer noch das bewährte eschatologische Liedrepertoire aus dem Reformationsjahrhundert, was nicht nur die Sohren-Sammlung, sondern auch die u. a. in Danzig und Thorn erschienenen offiziellen Gesangbücher aus dem frühen 18. Jahrhundert belegen.73

73 Vgl. Thornisches Gesang-Buch/ Nebst einigen/ Besonders Thornischen Kirchen-Gebeten/ auff Christliche Verordnung Eines Wol-Edlen Hoch-Weisen Raths/ Von Einem Ehrwürdigen Ministerio Außgefertiget. Thorn: Johann Nicolai 1716, S. 596–604, Nr. 389–393 (C. K. Norwid-Bibliothek Elbing Pol.8.I.22): Ach Gott, tu dich erbarmen, Nr. 389; Es ist gewisslich an der Zeit, Nr. 390; Gott hat das Evangelium gegeben, Nr. 391; Wachet auf, ruft uns die Stimme, Nr. 393, also vier von fünf in der Rubrik „Vom Jüngsten Gericht und Aufferstehung der Todten“ vorhandenen Liedern. Vgl. auch Dantziger Gesang-Buch, Welches/ auff E. Hoch-Edlen Raths daselbst Verordnung/ zur Beförderung der Kirchen- und Hauß-Andacht/ aus Lutheri und anderer bewehrten Autorum geistreichen Liedern zusammengetragen und eingeführet worden. Danzig: [Johann Zacharias Stolle] 1719, S. 1195–1214, Nr. 403–408 (Polnische Akademie der Wissenschaften – Danziger Bibliothek Od 15201 8°): Wacht auf, ihr Christen alle, wacht auf mit ganzem Fleiß, Nr. 403; Es wird schier der letzte Tag herkommen, Nr. 404; Gott hat das Evangelium gegeben, Nr. 405;

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Abbildungsnachweis Abb. 5: © SUB Hamburg.

Ach Gott, tu dich erbarmen, Nr. 406; Es ist gewisslich an der Zeit, Nr. 407; Wachet auf, ruft uns die Stimme, Nr. 408, also alle in der Rubrik „Vom Jüngsten Gericht“ vorhandenen Gesänge.

Judith Lipperheide

Vorbereitung auf das Jüngste Gericht. Individuelle Bekehrung und kollektive Erfahrung in der Maison de retraite der Jesuiten in Frankreich im 17. Jahrhundert

1. Einleitung Fragte man Père Vincent Huby S. J. (1608–1693), warum man sich in die Maison de retraite zurückziehen sollte, würde er wohl antworten: Nicht dorthin zu gehen, wäre verhängnisvoll, da man sich nicht an den Ort begeben hätte, an den Gott uns gerufen habe, um zu unseren Herzen zu sprechen und uns auf den Weg der Rettung zu bringen. Die „Feigheit“1 wäre für die ganze Welt beim Jüngsten Gericht sichtbar. Entschlösse man sich aber zur Retraite, würde man beim Endgericht vor aller Welt in Ruhm und Glanz erstrahlen.2 Die Jesuiten sahen in der Retraite die Möglichkeit zu einer grundlegenden Transformation, die zum Ziel hatte, beim Jüngsten Gericht zu den Erwählten zu gehören. Um dieses Ziel zu erlangen, war es nach Huby hilfreich, „que l’on s’y mettre en même état, que si le dernier jour de la retraite devait être le dernier de notre vie.“3 Der achttägige Rückzug war damit als ‚Training‘ für die Gläubigen konzipiert, um für das Jüngste Gericht vorbereitet zu sein. Im Folgenden werden die jesuitischen Praktiken der Endzeitvorbereitung während der achttägigen Aufenthalte in der Maison de retraite untersucht. Dabei stehen die Bildmedien und ihre Verbindung mit akustischen Elementen im Mittelpunkt der Betrachtung: Neben zahlreichen images de piété, die an verschiedenen Orten im Haus und im Garten Stationen zur Meditation über Christi 1 „Que si nous voulons étendre nos pensées jusqu’au jugement universel, notre lâcheté y sera exposée à la vue de tout le monde […].“ Vincent Huby: Traité de la Retraite utile à tous et nécessaire à plusieurs. Hg. von Henri Watrigant. Enghien 1929 (Collection de la Bibliothèque des Exercices de Saint Ignace 63), S. 24. – Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – GRK 2008 – 242138915. Ich möchte mich bei Johann Anselm Steiger und allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung für den anregenden Austausch bedanken. Die Gespräche über die Quellen mit Sophie Rüth und Frank Kurzmann haben mir viele Impulse gegeben. Insbesondere möchte ich mich bei Andreea Badea bedanken sowie bei Markus Friedrich und Marc Föcking für die kritische Lektüre des Textes. Für die redaktionelle Überarbeitung und den weiterführenden Austausch danke ich Ricarda Höffler. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 39 f.

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Leben markierten, setzten die Patres auch sogenannte images morales ein.4 Inspiriert durch die in den bretonischen Missionen eingesetzten taolennoù, entwarf Père Huby diese images morales als zwölfteilige Bilderserie, durch welche die Inhalte der Retraite vermittelt wurden.5 Gedruckt wurden diese Bilder in Paris bei Pierre Gallays und fanden so ihre Verbreitung auch in den anderen Maisons de retraite außerhalb der Bretagne.6 In Hubys Augen machten diese tableaux die Wahrheiten, die der Orden vermitteln wollte, spürbar: Dadurch übten sie einen viel stärkeren Eindruck auf die Exerzitanten aus als das bloße verkündete Wort.7 Ihren Einsatz fanden die images morales nach dem Mittagessen. Huby betont die anregende Wirkung der Bilder zu dieser Tageszeit, die Phase der récréation. Die Bilder wurden stets in der Gruppe betrachtet, wobei der Direktor diesen Prozess mit Erläuterungen und Erklärungen lenkend begleitete. So leistete man in den Häusern einen wichtigen Beitrag zur Etablierung einer typisch jesuiti-

4 Jean-Joseph Piltière: L’histoire de la Première de toutes les Maisons Publiques de Retraite, Fondée en L’Année 1660 dans La Ville de Vennes en Bretagne Par Monsieur Louis Eudo de Kerlivio. Bibliothèque Mazarin, Ms 3264, S. 62. Piltière war ein Zeitgenosse Hubys und ein halbes Jahr vor dessen Tode in der Maison de retraite in Vannes. Einige Jahre später musste er diese aufgrund interner Unstimmigkeiten verlassen und ging nach La Flèche. Er kehrte ein weiteres Mal nach Vannes zurück und verfasste die Chronik. 5 Der bretonische Begriff taolennou bzw. taolennoù ist mit dem französischen Wort tableau bzw. tableaux zu übersetzen. Der Missionar Michel le Nobletz (1577–1652) nutzte die Bilder, um die Inhalte der Missionen vermitteln zu können. Dabei bediente er sich v. a. maritimer und bretonischer Motive. Sein Nachfolger, ein Zeitgenosse Vincent Hubys, Julien Maunoir S. J. (1606–1683), führte die Tradition fort. Allgemein zu taolennoù in den bretonischen Missionen und für die Analyse der images morales einschlägig: Anne Sauvy: Le Miroir du Cœur. Quatre siècles d’images savantes et populaires. Paris 1989. Vgl. auch Cédric Choplin: Les taolennoù, une pédagogie de la mission en Basse-Bretagne du XVIIe au XXe siècle. In: Images et diffusion du christianisme. Expressions graphiques en contexte missionnaire XVIe–XXe siècle. Hg. von Jean Pirotte, Caroline Sappia, Olivier Servais. Paris 2012, S. 91–106. 6 Vgl. Vanessa Selbach: Religion. In: A Kingdom of Images. French Prints in the Age of Louis XIV, 1660–1715. Hg. von Peter Fuhring u. a. Los Angeles 2015, S. 206–231, hier S. 225. Heute sind nur noch wenige Exemplare der Bilder erhalten, auch existiert keine zusammenhängende Serie aus einer Maison de retraite mehr. Die Bibliothèque Municipal Lyon besitzt elf der zwölf Bilder. An dieser Stelle möchte ich mich bei Benjamin Ravier-Mazzocco und seinen Kolleginnen und Kollegen für die Hilfe bei der Recherche und Bereitstellung der Reproduktionen bedanken. 7 „L’usage de ces Tableaux est fort utile, parce qu’ils rendent comme sensibles les veritez qu’on veut faire connoître, et l’impression s’en fait bien plus facilement et plus fortement, que si on les entendoit seulement.“ Vincent Huby: La Retraite de Vennes, ou la façon dont la Retraite des Hommes se fait dans Vennes, sous la conduite des Pères Jésuites, & les grands biens, que Dieu opère par elle. Hg. von Paul Debuchy. Enghien 1907 (Collection de la Bibliothèque des Exercices de Saint Ignace 11), S. 22. Im Titel ist die Schreibweise Vennes [!] verwendet, anknüpfend an die lateinische Bezeichnung Venetiae. In diesem Aufsatz wird die Schreibweise der Quelle beibehalten.

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schen „audio-visual culture“.8 Neben den images morales, den mündlichen Erläuterungen und der Meditationsliteratur machten Lieder und Rosenkranzgebete die Retraite zu einem multimedialen Ereignis. Mittels dieser „missionary tools“9 wurden innere Bilder erzeugt,10 weshalb geradezu von „Wechselwirkungen zwischen inneren und äußeren, zwischen mentalen, sprachlichen und visuellen Bildern“11 gesprochen werden kann. Daher soll im Folgenden, anknüpfend an die methodischen Ansätze Birgit Emichs, gefragt werden, inwiefern die intermedialen Bezüge und Medienkombinationen zur Bedeutungskonstitution beitrugen.12 Im ersten Teil des Beitrags werde ich der Frage nachgehen, wie der achttägige Rückzug aufgebaut war, um als Vorbereitung auf das Jüngste Gericht dienen zu können; der Ablauf der Retraite wird anhand der images morales nachvollzogen. Die konsekutive Darstellung dient dazu, die Rolle des Jüngsten Gerichts im Programm analysieren zu können. Dem Aufbau der Retraite folgend, richtet sich der Fokus im zweiten und dritten Teil darauf, wie das Jüngste Gericht als individuelles wie auch als kollektives Ereignis während der Retraite antizipiert wurde: Dabei wird der Blick am Beispiel des siebten Tages auf den Zusammenhang zwischen individuellem Tod und Jüngstem Gericht gerichtet, wobei vertieft auf die Medienkombinationen einzugehen ist. Zunächst sei jedoch kurz der Untersuchungsgegenstand der Maison de retraite umrissen, der im Folgenden im Zentrum steht: Ab 1663 entwickelte sich auf Initiative des Jesuitenordens eine Form des Rückzugs in der Gruppe, die retraite commune, in speziell dafür etablierten Maisons de retraite. Zwischen 1663 und 1760 entstanden zahlreiche solcher Häuser in ganz Frankreich. Für diese Frömmigkeitspraxis wurden die Exerzitien des Ordensgründers Ignatius von Loyola modifiziert und in Gruppen praktiziert: Die übliche vierzigtägige Dauer wurde auf acht Tage verkürzt, um den Rückzug mit den Pflichten der Menschen 8 Ralph Dekoninck: The Founding of a Jesuit Imagery. In: Between Theory and Practice, between Rome and Antwerp. In: The Acquaviva Projects: Claudio Acquaviva’s Generalate (1581–1615) and the Emergence of Modern Catholicism. Hg. von Pierre-Antoine Fabre, Flavio Rurale. Boston 2017, S. 331–346, hier S. 337. 9 Silvia Mostaccio: Shaping the Spiritual Exercises. The Maisons des retraites in Brittany during the Seventeenth Century as a Gendered Pastoral Tool. In: Journal of Jesuit Studies 2,4 (2015), S. 659–684, hier S. 660. 10 Die Imagination und das innere Betrachten verschiedener Szenen der Passion Christi waren zentrale Bestandteile der ignatianischen Exerzitienpraxis. Durch detaillierte Meditationsanleitungen waren die Exerzitanten dazu angehalten, sich die inneren Bilder möglichst genau und lebhaft vorzustellen. Es gibt eine Vielzahl von Forschungsbeiträgen zu Meditation und Bild der Jesuiten im 16. und 17. Jahrhundert. Für einen Forschungsüberblick vgl. Evonne Levy: Early Modern Jesuit Arts and Jesuit Visual Culture. In: Journal of Jesuit Studies 1,1 (2014), S. 66–87. 11 Birgit Emich: Bildlichkeit und Intermedialität in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische Forschung 35,1 (2008), S. 31–56, hier S. 35. 12 Vgl. ebd., S. 36 f.

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im Alltag vereinbar zu machen. Die Kombination verschiedener Frömmigkeitspraktiken machte die Maison de retraite zudem zu einem multimedialen Phänomen, das mit sozialer Heterogenität einherging (s. u.).13 Das erste Haus dieser Art wurde in Vannes von P. Vincent Huby gemeinsam mit dem Vikar Monsieur Louis Eudo de Kerlivio (1621–1685) gegründet. Als die Institution 1663 etabliert worden war, fanden sich zwanzig Exerzitanten pro retraite commune ein. Die Möglichkeit, hieran teilzunehmen, bestand zweimal im Monat. Aufgrund der hohen Nachfrage wurden die Gruppen größer und die Jesuiten boten vermehrt Übungen an. 1670 wurden 1000 Teilnehmer verzeichnet, zwei Jahre später sogar schon 1400. 1676 gab es bereits 2100 Teilnehmer.14 Die Gründung der Häuser erfolgte aus lokalen Initiativen heraus und in enger Zusammenarbeit mit dem weltlichen Klerus. Die Ordenszentrale in Rom befürwortete die Gründung neuer Häuser, jedoch überließ sie, wie auch im Falle anderer jesuitischer Institutionen, die aktive Gestaltung den lokalen Akteuren. In seinem 1678 erstmals erschienenen Werk La Retraite de Vennes gibt Huby einen Einblick in den Ablauf und die Struktur der Retraite.15 Demnach begann die Retraite am Dienstagabend und dauerte bis zum Mittwochmittag der darauffolgenden Woche. Die Exerzitanten wurden nach ihrem Eintreffen durch das Haus geführt und nach sozialem Stand auf die Schlafsäle aufgeteilt. Anschließend gestand man ihnen zu, ihren Erledigungen in der Stadt nachzugehen, wonach sie in das Haus zurückkehrten und ihre Exerzitien aufnahmen. Die Tage begannen um fünf Uhr in der Früh und endeten um neun Uhr abends. Sie gliederten sich in eine festgelegte Abfolge von Gebeten, Meditationen und weiteren Frömmigkeitspraktiken.

2. Vorbereitung auf das Jüngste Gericht Papst Alexander VII. bestimmte 1657 in seiner Bulle Cum sicut nobis, dass all denjenigen, die eine Form von Retraite in den Häusern der Jesuiten machten, ein Generalablass gewährt werde.16 Die Aussicht auf einen solchen dürfte die

13 Vgl. Huby, La Retraite de Vennes (Anm. 7), S. 22. 14 Vgl. Annuae Litterae Provinciae Franciae ad Annum 1676, Archives Jésuites de France (Vanves), A 668. 15 Vgl. Huby, La Retraite de Vennes (Anm. 7), S. 19–28. 16 Die Bulle bezog sich schon auf das Vorgängermodell der Maisons de retraite, die sogenannten Asceterii. Hierbei handelte es sich um abgetrennte Bereiche in den Kollegien oder Noviziaten, in die sich Kleriker und Laien einzeln aus der Welt zurückziehen konnten, um die spirituellen Exerzitien zu praktizieren. Begleitet wurden sie dabei von einem dazu abgestellten Jesuiten der jeweiligen Einrichtung. Vgl. Cum sicut nobis (12. Oktober 1657). Magnum Bullarium Romanum: A Beato Leone Magno Usque Ad S. D. N. Benedictum XIII. Opus Absolutissimum, Laertii

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Attraktivität dieser Frömmigkeitspraxis enorm gesteigert haben, gehörte doch das Sammeln von guten Werken und Ablässen im katholischen Verständnis zu den Voraussetzungen für das individuelle Seelenheil und die Verkürzung der Zeit im Fegefeuer.17 Insbesondere die Jesuiten waren für ihre „globale Heilsökonomie“18 bekannt. Auch im Falle der Frömmigkeitspraxis der Retraite hatte das akribische Aufzählen und Hochrechnen von frommen Übungen einen hohen Stellenwert, wie es der von Jean-Joseph Piltière S. J. (1655–1739) entworfenen Tabelle über die Maison de retraite in Vannes zu entnehmen ist: In der Zeit von Dienstagmittag bis Mittwochmittag der darauffolgenden Woche könne man demnach insgesamt 74 Übungen resp. gute Werke ansammeln.19 Dabei ging es jedoch um mehr als ‚nur‘ um die Verkürzung der Zeit im Fegefeuer: Weder Vincent Huby noch Louis le Valois (1639–1700), der Direktor des Pariser Hauses, betrachteten den Ablass als einziges Ziel ihrer Bestrebungen.20 Vielmehr verfolgten sie einen holistischen Ansatz, der für die Exerzitanten eine tiefgreifende Wandlung von einem lasterhaften zu einem frommen Leben in der Welt vorsah. Die Struktur der Retraite orientierte sich an zwei Leitlinien, „l’une générale et l’autre particulière“.21 La fin générale der Retraite sei, „sein Leben zu reformieren, und sich mit seinem ganzen Herzen Gott hinzuwenden“.22 La fin particulière dagegen war tagesabhängig und spezifisch: So unterschied Huby während seiner Entretien am ersten Abend zwischen l’intention particulière – bezogen auf den jeweiligen Zustand der Seele, die begangenen Sünden oder die Suche nach dem Platz in der Welt – und l’intention générale, i. e. Gottes Willen zu folgen und ernsthaft an seinem (dem eigenen) Heil zu arbeiten.23 Regelrecht darauf programmiert, sowohl die individuelle Positionierung in der Welt als auch die kollektive Dimension immer im Blick zu haben, begannen die Exerzitanten ihren achttägigen Rückzug.

Cherubini, Praestantissimi Iurisconsulti Romani, a D. Angelo Maria Cherubino Monacho Cassinensi […]. 6: Ab Alexandro VII. ad Clementem X. Luxemburg 1727, S. 59. 17 Vgl. Arnold Angenendt u. a.: Gezählte Frömmigkeit. In: Frühmittelalterliche Studien 29,1 (1995), S. 1–71. 18 Markus Friedrich: Der Lange Arm Roms? Globale Verwaltung und Kommunikation im Jesuitenorden 1540–1773. Frankfurt a. M. 2011, S. 373. 19 Piltière differenziert dabei ganz genau die einzelnen Frömmigkeitspraktiken und listet sie auf. Vgl. Piltière (Anm. 4), S. 77. 20 Huby erwähnt den Ablass nur beiläufig am Rande seiner Ausführungen; vgl. Huby, La Retraite de Vennes (Anm. 7), S. 27. Louis le Valois wird deutlicher und betont, dass die Aussicht auf Indulgenz nicht als Gesetz zu verstehen sei. Vgl. Louis le Valois: Lettres sur la nécéssité de la retraite écrites à divers Personnes. Paris 1682, Préface f. XVII. 21 Piltière (Anm. 4), S. 127. 22 Ebd., S. 77. 23 Vgl. ebd.

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Der Ursprung der Retraite, die spirituellen Exerzitien des Ignatius, war insbesondere in den ersten Tagen deutlich sichtbar. Im Fundamentum, dem Ausgangspunkt der spirituellen Exerzitien bei Ignatius, heißt es: „Der Mensch ist geschaffen, um Gott unseren Herrn zu loben, ihm Ehrfurcht zu erweisen und ihm zu dienen […].“24 Huby greift auf das Motiv der „Geschöpflichkeit“25 am ersten Tag in der Maison de retraite zurück. So drehte sich am ersten Mittwoch alles um die Frage nach der eigenen Existenz: „La Fin Particulière, Mes frères, à laquelles vous devez penser sérieusement durant toute ce premier Jour de vostre Retraite, c’est pourquoy vous esté créés.“26 In den ersten vierten Tagen ging es darum, sich mit dem Zustand der eigenen Seele vertraut zu machen. Die images morales sollten die Exerzitanten in diesem Zuge zur Selbsterkenntnis anregen: Die Funktion der Bilder bestand darin, „les choses morales et spirituelles“ durch „des choses sensibles, et visibles“ zu erklären.27 Acht der zwölf tableaux sind als Herz-Kopf-Darstellungen konzipiert,28 wobei der Kopf das Äußere repräsentiert, während das Herz das Innere der Seele bezeichnet. Die Bilder dienten als ‚Spiegel‘, die „naturellement“ die Menschen in der Welt „en quelque état qu’ils soient“ wiedergaben, um so „les choses spirituelles, qui nous sont cachées“, greifbar zu machen.29 Die images morales wurden aber nicht nur dazu genutzt, den gegenwärtigen Seelenzustand der Betrachter zu demonstrieren; vielmehr boten sie zugleich Beispiele, wie der angestrebte Wandel vollzogen werden konnte, weswegen ihnen auch eine „handlungsmodellierende“30 Funktion zugeschrieben werden kann: „On y trouvera de quoy 24 Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen. Übersetzt und kommentiert von Peter Knauer. Regensburg 2015, S. 38. 25 Kommentar von Peter Knauer, in: Ebd., Anm. 12. 26 Piltière (Anm. 4), S. 145. 27 Ebd., S. 161. 28 Exemplarisch ist in Abb. 1 das Bild des zweiten Tages zu sehen. Zu Herz-Kopf-Darstellungen allgemein vgl. Sauvy (Anm. 5) sowie Frédéric Cousinié: Images et Méditation au XVIIe siècle. Rennes 2007 (Collection „Arts&Société“). In diesen acht Darstellungen finden sich wiederkehrende Symbole, die jeweils an das Tagesziel leicht verändert dargestellt wurden: Der Stern im Herzen symbolisiert den Glauben und das Auge stellt das Denken dar, durch das eine Selbstbetrachtung möglich ist. Für diese Interpretation vgl. Sauvy (Anm. 5), S. 20. 29 Piltière (Anm. 4), S. 145. Allgemein zum Motiv des Spiegels vgl. Sauvy (Anm. 5) sowie Ralph Dekoninck: Ad Imaginem. Statuts, functions et usages de l’image dans la littérature spirituelle jésuite du XVIIe siècle. Genf 2005 (Travaux du Grand Siècle 21). Besonders hinweisen möchte ich auch auf das Promotionsprojekt von Martin Kindermann mit dem Arbeitstitel „Spiegel-Reflexion(en) im konfessionellen Spannungsfeld des 16. und 17. Jahrhunderts“, das derzeit im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs 2008 „Interkonfessionalität in der Frühen Neuzeit“ bearbeitet wird. 30 Markus Friedrich: Beispielgeschichten in den jesuitischen Litterae annuae. Überlegungen zur Gestaltung und Funktion einer vernachlässigten Literaturgattung. In: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Hg. von Jens Ruchatz u. a. Berlin 2007 (LiteraturForschung 4), S. 143–166, hier S. 152.

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s’exercer dans la vie purgative, qui consiste à se purifier des pechez. Dans la vie illumminative qui s’applique à la pratique des bonnes oeuvres, et à l’acquisition des vertus: Et dans la vie unitive, qui s’occupe en l’amour de Dieu et en l’union avec Dieu.“31 Am ersten Tag wurde eine Art ‚Bestandsaufnahme‘ durchgeführt. Die Exerzitanten setzten sich in den Meditationen, Gebeten und während der Bildbetrachtung mit dem sündhaften Zustand ihrer Seele und den daraus resultierenden Folgen für das Seelenheil auseinander.32 Das Herz ist hier mit dem Teufel und den in Tiergestalt dargestellten sieben Kapitalsünden gefüllt. Haare und Bart des Mannes sind nach der zeitgenössischen Mode frisiert. Beim Dargestellten handelt es sich daher offensichtlich um einen weltzugewandten, vielleicht sogar höfischen Mondain. Der zweite Tag der Retraite, der Donnerstag, stand im Zeichen der Wandlung (Abb. 1).33 Dieser Übergangszustand wird in der image morale durch eine durchlässige Membran des Herzens dargestellt. Während die Teufel aus dem Herzen ausziehen, halten der Schutzengel mit dem Richtschwert in der rechten und einem Totenkopf in der linken Hand sowie der durch die Taube symbolisierte Heilige Geist Einzug in das Herz. In den entsprechenden Erläuterungen bei Piltière wird ausführlich beschrieben, wie dieser Zustand der attritio durch die Erinnerung an den Tod, der als „la première des quatres fins de l’homme […], qui nous touche de plus prés […]“,34 erscheint, herbeigeführt werden kann. Das Erscheinungsbild des Mannes hat sich gegenüber der ersten image morale verändert: Weder Haare noch Bart sind noch nach der Mode frisiert. Der Mann hält die Augen niedergeschlagen und der Stern des Glaubens ist einfach, aber klar. Da es sich nun aber bei der attritio um „un amour imparfait“35 handelte, lag der Fokus des folgenden Tages, des Freitags, auf der contritio (Abb. 2).36 Damit

31 Piltière (Anm. 4), S. 161. 32 Die Bildunterschrift lautet: „L’estat d’un homme dans le peché et qui n’y pense pas, au contraire pense à toutes autres choses qui se presentent à ses yeux.“ Siehe Kat. Ausst. Canivets et images populaires. Hommage à Gabriel Magnien (Lyon, Bibliothèque municipale, 26.11.1969– 10.1.1970). Hg. von der Bibliothèque municipale Lyon. Lyon 1969, S. 2 f., Kat. Nr. 5. Im Folgenden werden nur noch die Bildunterschriften der Bilder zitiert. Die image morale des ersten Tages befindet sich nicht in der Serie aus der Bibliothèque municipale de Lyon. Vgl. für das erste Bild: Bibliothèque nationale de France, Est., Hennin 5468, format 4. Vgl. Abb. 7 (S. 317) für einen Eindruck, wie die erste image morale gestaltet ist. 33 „L’estat d’un homme qui pense sérieusement au mauvais estat de sa Conscience, et qui commence a en estre touché.“ 34 Piltière (Anm. 4), S. 327. Zu den quattuor novissimae gehören Tod, Gericht, Himmel und Hölle. 35 Ebd., S. 328. 36 „L’estat d’un homme vivement penetré du regret de ses pechés et de douleur d’avoir offence Dieu.“

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Abb. 1: Unbekannter Künstler, nach Vincent Huby, L’estat d’un homme qui pense serieusement au mauvais estat de sa Conscience, et qui commence a en estre touché, bei Pierre Gallays, Paris, nach 1680, Kupferstich, 44 × 58,5 cm, Bibliothèque municipale de Lyon, non coté.

wurde ein weiterer Schritt in Richtung umfänglicher Transformation gegangen. Der Zustand der contritio ist im Bild dadurch gekennzeichnet, dass der Heilige Geist in Gestalt der Taube im Herzen dargestellt wird, eingerahmt von einem Lichtkranz und vor einem Hintergrund von Flammen und Tränen, die die durch

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Abb. 2: Unbekannter Künstler, nach Vincent Huby, L’estat d’un homme vivement penetré du regret de ses pechés et de douleur d’avoir offence Dieu, bei Pierre Gallays, Paris, nach 1680, Kupferstich, 44 × 58,5 cm, Bibliothèque municipale de Lyon, non coté.

den Heiligen Geist hervorgerufene Bewegung ausdrücken.37 Der Stern des Glaubens strahlt, der Blick ist nach innen gerichtet und über die Wangen des Mannes 37 Die images morales spiegeln die tridentinischen Vorstellungen der contritio wider: „[…] et Spiritus sancti impulsum, non adhuc quidem inhabitantis, sed tantum moventis […].“ Concilium Tridentinum, Sess. XIV De poenitentia II–V, 25. November 1551. In: Dekrete der Ökumenischen Konzilien. Bd. 3. Hg. von Josef Wohlmuth. Paderborn u. a. 2002, S. 705.

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laufen Tränen, die den Zustand der echten Reue verdeutlichen.38 Der Schutzengel trägt in dieser image morale das Kruzifix und das Buch des Gewissens, dessen Seiten jedoch schon leer sind. Dadurch wird die Praxis der Retraite bildlich aufgegriffen, denn so, wie die Figur im Bild die Augen vor dem Kruzifix niederschlägt, so sollten auch die Exerzitanten vor dem Kreuz den Zustand der contritio erleben.39 Des Weiteren gehörte zur Praxis der Retraite auch, dass die Exerzitanten, wenn möglich, ihre Sünden detailliert aufschrieben, was durch das Buch des Gewissens symbolisiert wird: Über die eigenen Sünden zu schreiben bzw. sich an sie zu erinnern, war ein Akt der Wiederherstellung des Selbst.40 Der vierte Tag markierte nicht nur die Halbzeit der Retraite, sondern auch einen Wendepunkt. Lag der Fokus in den vorherigen Tagen auf der Vergangenheit und dem derzeitigen Seelenzustand, so richtete man am Samstag den Blick in die Zukunft: „[…] nous expliquerons le bon propos, qui regarde l’avenir.“41 Im Zentrum stand die Frage, wie man verhindern könne, erneut zu sündigen, womit der dritte Aspekt der contritio behandelt wurde: „Cum proposito non peccando de caetero.“42 Mit der Neuausrichtung auf die Zukunft war auch ein äußerlicher Wandel verbunden: Vergleicht man das Gesicht der image morale des Samstags (Abb. 3) mit dem des guten Beispiels vom Sonntag (Abb. 4), so fällt auf, dass sich das Aussehen änderte: von einem unrasierten, unfrisierten Büßer zu einem gepflegten Mann. Damit verbunden war eine tatsächlich vollzogene Praxis in der Maison de retraite, wie aus dem Tagesprogramm ersichtlich wird: Samstags kam ein Barbier ins Haus, um das äußere Erscheinungsbild der bis dahin unrasiert gebliebenen Exerzitanten wieder in eine gewisse Ordnung zu bringen. Dieser äußerliche Wandel war Ausdruck einer innerlichen Wiederherstellung, die durch die Bußpraxis vollzogen wurde, waren doch die Tage der contritio zudem die Tage, an denen in der Maison de retraite die Beichte abgenommen wurde.43 In der image morale wird die Bußpraxis durch die im Herzen dargestellten arma Christi symbolisiert: Das Herz wird von einem Kruzifix ausgefüllt, umrahmt von den einzelnen Marterwerkzeugen. Darüber leuchtet in einem 38 „[…] nécessaire pour la validité de la douleur parfaite […].“ Piltière (Anm. 4), S. 342. Allgemein zur Bedeutung der Tränen in jesuitischer Frömmigkeit vgl. u. a. Orsolya Száraz: Tears and Weeping on Jesuit Missions in Seventeenth Century. In: Archivum historicum Societatis Iesu 86,171 (2017), S. 7–47. 39 „Mettez vous souvent devant vôtre Crucifix […].“ Piltière (Anm. 4), S. 341. 40 Michelle Molina: To Overcome Oneself. The Jesuit Ethic and Spirit of Global Expansion 1520– 1767. Berkeley 2013, S. 48. 41 Piltière (Anm. 4), S. 339. 42 Concilium Tridentinum, Sess. XIV (Anm. 37), S. 705. 43 Aufgrund der hohen Teilnehmerzahlen musste die Beichte über mehrere Tage verteilt werden. Die teilnehmenden Kleriker wurden zudem hinzugezogen, damit alle Exerzitanten beichten konnten. Ein durchaus erwünschter Nebeneffekt war, dass die Priester auf diesem Wege noch einmal unterwiesen werden konnten, wie die Beichte abzunehmen war.

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Abb. 3: Unbekannter Künstler, nach Vincent Huby, L’estat d’un homme qui faict Penitence et qui en pratique les œuvres qui sont les Prieres les Aumones et les Jeunes, bei Pierre Gallays, Paris, nach 1680, Kupferstich, 44 × 58,5 cm, Bibliothèque municipale de Lyon, non coté.

Strahlenkranz der Heilige Geist. Der Schutzengel trägt in seiner linken Hand einen Palmwedel, um den Sieg über den sündhaften Zustand darzustellen. Mit seiner linken Hand weist er auf ein Banner mit Schriftzug: Der Verweis auf Lk 13,5 ermahnte die (lesefähigen) Betrachter zur Buße.44 44 „Si vous ne faites pas pénitence, vous périrez tous.“ Auf dem anderen Banner steht: „Il faut que les vaincus deviennent victorieux.“ Sauvy (Anm. 5), S. 23, sieht hierin eine Ableitung von Röm 12,21.

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Die Bußpraxis in der Maison de retraite wurde also bewusst über mehrere Tage ausgedehnt, um eine besonders tiefgreifende Veränderung zu bewirken. Deshalb verwehrte man den Exerzitanten oftmals eine direkt an die Beichte anschließende Absolution: „Afin mesme de donner plus de temps pour concevoir cette vive douleur, et faire ces résolutions, quoyqu’on se soit déja confessé, on diffère cependant, au moins jusqu’au lendemain, à donner l’absolution.“45 Eine Besonderheit der vierten image morale ist die Gestaltung des Hintergrundes, die explizit die handlungsmodellierende Funktion des Bildes betont: Im Unterschied zu den vorherigen Bildern ist der Hintergrund als ‚Sakrallandschaft‘ gestaltet; hierbei handelt es sich um eine hügelige Landschaft mit einem für die Bretagne typischen sogenannten Kalvarienberg, respektive Wegkreuz. Der Betrachterstandpunkt ist auf einem Weg situiert, der hin zur Kapelle führt.46 Der Betrachter wird damit jedoch nicht nur auf die Notwendigkeit von Pilgerreisen und des regelmäßigen Gottesdienstbesuchs hingewiesen, sondern auch auf „[…] les trois principales démarches nécessaires au salut“:47 Der Wasserkrug und das trockene Brot bezeichnen die Askese, der offene Beutel die Nächstenliebe und der Rosenkranz sowie die Gebetbücher das regelmäßige Gebet. Die Landschaftsdarstellung mit den Symbolen der Gnadengaben dürfte die Exerzitanten an ihre alltägliche Welt, in der sie lebten, erinnert haben. So bot diese Darstellung auch einen Richtwert für die Umsetzung der guten Vorsätze im Alltag.48 Damit wurden also der Blick über die Zeit in der Maison de Retraite hinaus geweitet und eine konkrete Vorstellung vermittelt, wie die Transformation, die während der Retraite erreicht werden sollte, nachhaltig auch im Alltag Bestand haben könne. Die Jesuiten legten den Fokus auf die Nächstenliebe; sie gingen davon aus, dass diese im Alltag am einfachsten umzusetzen war. Bei der Nächstenliebe unterschieden sie die „aumônes spirituelles“ von den „aumônes corporelles“.49 Unter letzteren verstand man alle Arten von Armenfürsorge, Krankenpflege und Aufnahme von Pilgern. Vor allen Dingen aber müsse man denjenigen zu essen und trinken geben, die Hunger und Durst litten, werde Gott diesen direkt auf 45 Piltière (Anm. 4), S. 24. 46 Vgl. Sauvy (Anm. 5), S. 23. Es ist gut möglich, dass diese Szene auf das in der Bretagne stark praktizierte Pilgerwesen hindeutet. Zur Bretagne als Sacred Landscape siehe Elizabeth Tingle: The Sacred Space of Julien Maunoir: The Re-Christianising of the Landscape in Seventeenth-century Brittany. In: Sacred Space in Early Modern Europe. Hg. von Will Coster, Andrew Spicer. Cambridge 2005, S. 237–258. 47 Sauvy (Anm. 5), S. 23. 48 Die Vorbildfunktion des vierten Bildes wird auch in den Erläuterungen bei Piltière besonders betont. Siehe Piltière (Anm. 4), S. 357: „[M]ais pour éviter le malheur […] faisons comme celui que voilà dans ce Tableau: Que ce fait là nôtre modèle, et pratiquons comme lui les oeuvres de la pénitence.“ 49 Piltière (Anm. 4), S. 360.

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den Körper bezogenen Almosen doch am Tag des Jüngsten Gerichts die größte Beachtung schenken. Ausgehend von Mt 25,43, gehörte man entweder zu den Menschen, die geholfen, oder aber zu denen, die es nicht getan hatten.50 Damit entwarf man ein einfaches, aber klares Konzept für die Exerzitanten: Die mit Blick auf das Jüngste Gericht antizipierte Aufteilung in Gut oder Böse gab die Struktur für die zweite Hälfte der Retraite vor. Das Jüngste Gericht bildete dabei, auch wenn dessen Zeitpunkt ungewiss war, einen festen Bezugspunkt in der Zukunft, von dem rückwirkend der vage Zeitraum des Kommenden in eine Ordnung gebracht wurde. Diese Ordnung durchzog die Praxis in den letzten vier Tagen. Ab Sonntag wurden immer zwei images morales an die Flügeltür des Gemeinschaftssaals angeheftet. Entgegen traditioneller Darstellungsgepflogenheiten wird in den von Piltière überlieferten Erläuterungen zu den Bildern angeführt, dass der gute und erstrebenswerte Zustand auf der linken Seite einem schlechten und zu überwindenden Zustand auf der rechten gegenüberstand. Es wurde also erst das positive Beispiel vermittelt, um daran anknüpfend den Exerzitanten die schweren Folgen eines Abfalls vom guten Weg für das Seelenheil nahezubringen. So ist auf dem linken Bild (Abb. 4) zum Sonntag der Zustand eines Mannes zu sehen, der von seinen Sünden gereinigt und dessen Herz mit der Liebe zu Gott ausgefüllt ist; sein Blick ist gesenkt und nach innen gerichtet.51 Auf dem Gegenbild52 ist der Zustand nachlassender Kontemplation zu erkennen (Abb. 5): Zwar sind im Herzen noch das Kreuz, einige Marterwerkzeuge und Tränen der Buße zu finden, doch blickt ein Auge des Mannes bereits wieder offen in die Welt und auch der modisch frisierte Schnurrbart deutet auf eine neuerliche, stärkere Verweltlichung hin. Um das Herz herum haben sich erneut Teufel versammelt, die der Schutzengel noch in die Flucht zu schlagen versucht. Die beiden images morales des Montags steigern die dargestellten Zustände des Vortages im Positiven wie im Negativen. In dem Bild, das auf der guten, linken Seite hing, ist ein Mann dargestellt, der trotz der weltlichen Verlockungen gute Vorsätze und die Liebe zu Christus in einem dickwandigen Herzen trägt, womit diese image morale die Beharrlichkeit symbolisiert (Abb. 6).53 Die Bibelverse nach Mt 10,22 und 2Tim 2,5, die durch den Schutzengel auf zwei Bannern präsentiert werden, erinnern die Betrachter daran, das Jüngste Gericht im Blick 50 Vgl. ebd. 51 „L’estat d’un homme qui s’estant purgé de ses peches et s’addonne a la praticque des vertus, et a l’amour de dieu.“ Im Herzen sind Gottvater, der Heilige Geist und Christus als trinitarische Einheit dargestellt. Es zeigt sich also, dass der Heilige Geist nicht mehr nur den Sünder bewegt, sondern nach der Buße auch im Herzen wohnt (vgl. Anm. 37). 52 „L’estat d’un homme qui ayant quitté ses pechés se relache de ses bonnes resolutions et se laisse vaincre par les tentations du diable du monde, et de la chair.“ 53 „L’estat du cœur d’un homme qui persevere dans la fuitte du mal et dans la pratique du bien.“

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Abb. 4: Unbekannter Künstler, nach Vincent Huby, L’estat d’un homme qui s’estant purgé de ses peches s’addonne a la pratique des vertus, et a l’amour de dieu, bei Pierre Gallays, Paris, nach 1680, Kupferstich, 44 × 58,5 cm, Bibliothèque municipale de Lyon, non coté.

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Abb. 5: Unbekannter Künstler, nach Vincent Huby, L’estat d’un homme qui ayant quitté ses pechés se relache de ses bonnes resolution et se laisse vaincre par les tentations du diable, du monde, et de la chair, bei Pierre Gallays, Paris, nach 1680, Kupferstich, 44 × 58,5 cm, Bibliothèque municipale de Lyon, non coté.

zu haben und sein Handeln in der Welt danach auszurichten. Diese eingeforderte Ausrichtung auf den Jüngsten Tag spiegelt sich auch im Herzen wider: Hier wird, wie schon im Falle des Samstages, der Zusammenhang von guten Taten und Jüngstem Gericht deutlich betont. Auf zwei Bannern stehen zum einen eine französische Übersetzung des Namens Michael – „Qui est-ce qui est comme Dieu“ – und zum anderen ein Auszug aus Röm 8,35: „Qui nous separera de la charité de Jésus-Christ“.54 Diese Bezüge waren als Anregung zu verstehen, sich wie der Erzengel Michael gegen den Teufel zu stellen und wie Paulus voller Mut und Zuversicht auf die Liebe Gottes zu setzen. Das Bild auf der rechten Seite stellt nicht mehr nur den Zustand des relâchement dar, sondern thematisiert den kompletten Rückfall (Abb. 7). Die Rückkehr zum Ausgangszustand wird besonders daran deutlich, dass diese image morale dem Bild vom ersten Tag der Retraite sehr ähnelt: Die Teufel haben wieder Einzug im Herzen gehalten und der Schutzengel sowie der Heilige Geist entfernen sich von dem Mann, dessen Haar und Bart wieder wie die eines Mondain aussehen. Anhand dieser images morales einschließlich ihrer Erläuterungen sollten die Exerzitanten erfahren, wie es wäre, zu denjenigen zu gehören, die die Nächstenliebe

54 Vgl. Sauvy (Anm. 5), S. 34.

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Abb. 6: Unbekannter Künstler, nach Vincent Huby, L’estat du cœur d’un homme qui perservere dans la fuitte du mal et dans la pratique du bien, bei Pierre Gallays, Paris, nach 1680, Stich, Kupferstich, 44 × 58,5 cm, Bibliothèque municipale de Lyon, non coté.

Abb. 7: Unbekannter Künstler, nach Vincent Huby, L’estat d’un homme dans le quel le Diable estant rentré victorieux avec 7. autres diables, ils y etablissent leur demeure, darunter: Et fiunt Novissima peiora prioribus, Lucae XI, bei Pierre Gallays, Paris, nach 1680, Kupferstich, 44 × 58,5 cm, Bibliothèque municipale de Lyon, non coté.

praktizierten, oder aber zu denjenigen, bei denen sich die Teufel wieder einfanden. Aufbauend auf die ignatianische Exerzitienpraxis, bei der „die Imagination […] zu realen sinnlichen Erfahrungen [führte]“,55 verstärkte die Betrachtung der materiellen images morales „ces processus de projection et d’identificaiton entre spectateurs et personnages représentés“.56 Auf diesem Wege also war es den Exerzitanten möglich, die einzelnen in den Bildern dargestellten Zustände zu durchleben, ohne dass dies unmittelbar Konsequenzen für ihr Seelenheil hatte. Ab dem vierten Tag wurde die Thematik des Jüngsten Gerichts intensiviert: Es wurde ein Zeitraum geschaffen, der den ungewissen Zeitpunkt des Jüngsten Gerichts erfahrbar machte. Man stellte diesem unausweichlichen und dennoch ungewissen Ende der Welt eine zeitliche Ordnung entgegen, innerhalb deren mit dem Ende der achttägigen Retraite auch das Weltgericht näher rückte. Der Bilderzyklus sollte dem Unbekannten mit Struktur und System entgegentreten und so auf das Ungewisse im Jüngsten Gericht vorbereiten. Die generierten Erlebnisse können folglich als Prolepse eines noch

55 Markus Friedrich: Die Jesuiten. Aufstieg, Niedergang, Neubeginn. München 2016, S. 85. 56 Cousinié (Anm. 28), S. 58.

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nicht eingetretenen Ereignisses verstanden werden und waren somit Transformation und Prophylaxe zugleich.

3. Der individuelle Tod und das Jüngste Gericht Dass Hubys Aufforderung, die Zeit in der Maison de retraite so zu leben, als seien es die letzten acht Tage,57 durchaus einen realen Bezug haben konnte, zeigt das Beispiel eines Priesters aus der Diözese Léon.58 Am 8. September 1691, einem Samstag, starb der Abbé Allain in der Maison de retraite in Quimper im dritten Zimmer im unteren Flur, direkt neben der Kapelle. In dieser wollte er auch begraben werden und verfügte in seinem Testament die entsprechende Zahlung.59 Im Testament ist auch vermerkt, dass der Abbé fünfzehn Livres für jährliches Gedenken sowohl bei der Retraite als auch in seiner Pfarrei sowie weitere neunzig Livres für zweihundert Messen vorgesehen hatte. Ob es sich hierbei um Fürbitten für das nach dem Tod direkt anstehende Partikulargericht oder doch um eine „long-term intercession“60 mit Blick auf das Jüngste Gericht handelte, geht aus diesem Fallbeispiel zwar nicht eindeutig hervor; es wird allerdings deutlich, dass die Maison de retraite durchaus auch ein Ort war, an den man sich zum Sterben – bzw. genauer: zum guten Sterben – begab.61 In seinem Werk Retraite de Vennes forderte Huby die Leser sogar dazu auf, kurz vor dem Tod ins Haus zu kommen.62 Dabei verstanden die Jesuiten die individuelle Todesstunde und das kollektive Weltgericht nicht als zwei getrennte, sondern als zusammenhängende und aufeinander folgende Sinnzusammenhänge.63 In einem Lied, das die Exerzitanten während ihrer Zeit im Haus lernten und gemeinsam sangen, offenbart sich die Beziehung zwischen individuellem Tod und Jüngstem Gericht: „Je veux vivre et mourir tel qu’au grand jugement, je reçoive loyer et non pas châtiment.“64

57 Vgl. Anm. 3. 58 Archives départementales du Finistère, D 7, Collège de Quimper, unpag. 59 Zogen sich Sterbende in eine Maison de retraite zurück, durfte die Institution auf Spenden hoffen. So war es auch in diesem Fall. Diese Art von Einnahmen war wichtig für das Bestehen der Institution. 60 Elizabeth Tingle: Purgatory and Piety in Brittany 1480–1720. New York 2017 (Catholic Christendom, 1300–1700 o. Nr.), S. 93–96. 61 Catherine Marle hat anhand von Testamenten verschiedene Formen von Messstiftungen analysiert und im Hinblick auf Partikulargericht und Jüngstes Gericht kategorisiert. Vgl. dies.: Le salut par les messes. Les Valenciennois devant la mort à la fin du XVIIe siècle. In: Revue du Nord 79,319 (1997), S. 45–67. 62 Vgl. Huby, La Retraite de Vennes (Anm. 7), S. 6. 63 Vgl. Marle (Anm. 61), S. 46. 64 Huby, Traité de la Retraite (Anm. 1), S. 59.

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Wie genau aber sah die jesuitische Vorstellung vom Sterben im Angesicht des Jüngsten Gerichts aus und wie wurde diese in der Maison de retraite vermittelt? Die Bildunterschriften der images morales des siebten Tages kündigen den Betrachtenden bereits an, dass sie sich an diesem Tag mit dem schlechten (Abb. 8) und dem guten Tod (Abb. 9) sowie dem jugement de Dieu beschäftigen würden.65 Anders als in den Tagen zuvor, begann die Bildbetrachtung am Dienstag demnach mit dem Bild des schlechten Todes auf der linken Seite. Der Sterbende liegt mit vor Schreck aufgerissenen Augen und angestrengter Miene im Bett, während sich zu seiner Linken Ankou, die bretonische Personifikation des Todes, in Begleitung diverser Dämonen positioniert hat.66 Der Teufel hält ihm frohlockend sein Sündenbuch vor und deutet mit dem rechten Zeigefinger auf die letzte eingetragene Sünde, die Reuelosigkeit (Impenitence). Vor dem Bett auf dem Boden zeugen einzelne Symbole von einem ausschweifenden Leben.67 Der luxuriöse Baldachin schafft einen Raum für das Böse und markiert bildintern eine horizontal verlaufende Grenze. Darüber öffnet sich in der rechten oberen Bildecke der Himmel, aus dem sich Christus herabbeugt. Aus dessen Mund geht ein Bibelvers hervor, der allerdings an dem vom Baldachin erschaffenen Raum des Schlechten abzuprallen scheint: „Retire toy de moy maudit et vat en au feu Eternel“ (vgl. Mt 25,41). Christi Botschaft erreicht den Sünder aber nicht mehr, zumal die Inschrift auf dem Kopf steht und für ihn somit nicht lesbar ist. Auch für die Betrachter war die Abweisung nicht auf den ersten Blick zu entziffern, da eine Zurückweisung durch Christus kategorisch ausgeschlossen werden musste. Der Schutzengel, der am Kopfende des Bettes steht, lässt das Buch der guten Taten, dessen Seiten leer geblieben sind, zu Boden gleiten. Er wendet sich vom Sterbenden ab und deutet mit der Hand auf die gegenüberliegende image morale. Zusätzlich fordert zu seinen Füßen eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger den Betrachter dazu auf, sich der Leserichtung folgend dem Gegenbild zuzuwenden. Am rechten Bildrand sind die Flammen der Hölle verortet, welche als Nahtstelle fungieren, die dieses Bild mit der zweiten für diesen Tag gedachten image morale verknüpft: Bedenkt man die Aufhängung der beiden Bilder an zwei Flügeln einer Tür (s. o.), so ergibt sich durch diese innerbildlichen Verbindungselemente ein großes Gesamtbild. Die Hölle, die am rechten Bildrand

65 Nach Marle (Anm. 61), S. 48, ist der Begriff „jugement de Dieu“ mit „jugement individuel“ gleichzusetzen. 66 „L’estat miserable d’un Pecheur a l’heure de la mort au Jugement de Dieu.“ Allgemein zur Bedeutung des Todes in der bretonischen Kultur vgl. Alain Croix: Les bretons, la mort et dieu de 1600 à nos jours. Paris 1984 (Passion de l’histoire o. Nr.). 67 „Goldmünzen, Karaffe mit Wein, frivoles Buch, Feder der eitlen Schriften […]“, Sauvy (Anm. 5), S. 34.

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Abb. 8: Unbekannter Künstler, nach Vincent Huby, L’estat miserable d’un Pecheur a l’heure de la mort au Jugement de Dieu, bei Pierre Gallays, Paris, nach 1680, Kupferstich, 44 × 58,5 cm, Bibliothèque municipale de Lyon, non coté.

situiert ist, wird in der zweiten image morale, die den guten Tod darstellt, am linken Bildrand angedeutet.68 Im Bild, das dem guten Tod gewidmet ist, blickt der Sterbende, ein Kruzifix auf der Brust und begleitet von seinem Schutzengel, demütig und ruhig gen 68 Vgl. Abb. 8 und 9.

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Abb. 9: Unbekannter Künstler, nach Vincent Huby, L’estat heureux d’un homme de bien a l’heure de la mort au Jugement de Dieu, bei Pierre Gallays, Paris, nach 1680, Kupferstich, 44 × 58,5 cm, Bibliothèque municipale de Lyon, non coté.

Himmel.69 Der Schutzengel hebt, mit der Linken auf den Sterbenden deutend, ein beschriebenes Blatt, auf dem die guten Taten des Sterbenden vermerkt sind, zu Christus empor. Letzterer erscheint dem Dahinscheidenden schwebend auf einer Wolke; zu seinen Füßen knien Maria, ein Engel und zwei Heilige als 69 „L’estat heureux d’un homme de bien a l’heure de la mort au Jugement de Dieu.“

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Fürsprecher. Aus dem Munde Christi gehen die einladenden Worte aus Mt 25,34 hervor, die klar als Verweis auf das Jüngste Gericht zu verstehen sind: „Venez bien aymé de mon Père“. Sie bilden das positive Gegenstück zu Mt 25,41 (s. o.). Gemeinsam mit den ausgestreckten Armen des Schutzengels bildet das Zitat eine diagonale Verbindungslinie zwischen Christus und dem Sterbenden, wobei das Blatt mit den guten Werken als Konnex dient zwischen dem qua Bibelvers aufgerufenen Jüngsten Gericht und demjenigen, dessen letzte Stunde gekommen ist – ein Ensemble, das auf die Kopplung der Aufnahme in das Reich der Seligen an die guten Werke verweist. Während der ‚gute‘ Sterbende zu den Auserwählten gehört und der Himmel sich ihm öffnet, bleibt dem Sünder eine direkte Verbindung zu Christus verwehrt. Verstärkt wird diese Abschirmung und Isolierung des sündigen Sterbenden durch eine kleine, aber entscheidende Änderung in der Botschaft: Der in Mt 25,41 formulierte Imperativ, im biblischen Text im Plural, wurde hier in den Singular übertragen. So richtet sich Christi Ansprache dezidiert an den Sterbenden als Einzelperson und nicht mehr an eine Gruppe von Seligen oder Verdammten. Basierend auf „le caractère christologique du jugement“70 des Neuen Testaments, spiegelt diese image morale eine dualistische „Ich-Du-Beziehung“71 zwischen Christus als aktivem Richter und dem Exerzitanten. In der älteren Forschung zu Tod und Gerichtsvorstellungen wird für das 17. Jahrhundert eine Tendenz zur „individualization of mortality“72 festgestellt, was jedoch in jüngerer Zeit zunehmend hinterfragt wurde. So relativiert etwa Elizabeth Tingle den Ansatz Pierre Chaunus, „that in practice, it [= the Last Judgment] was downplayed“, und betont stattdessen, dass das Jüngste Gericht stets „a central theological tenet of Catholicism“ geblieben sei.73 In der bretonischen Frömmigkeit der Frühen Neuzeit ist ein Spannungsverhältnis zwischen traditionellen kollektiven Weltgerichtsvorstellungen und neuen Diskursen zum Partikulargericht zu beobachten.74 Es wurde von den Exerzitanten erwartet, dass sie sich als Gruppe mit dem guten Tod identifizierten, sollte doch der positive Ausgang des Jüng70 Pierre Adnès: Art. Jugement. In: Dictionnaire de Spiritualité ascétique et mystique. Doctrine et histoire. Bd. 8. Hg. von Marcel Viller u. a. Paris 1974, Sp. 1571–1610, hier Sp. 1574. 71 Marian Füssel: Societas Jesu und Illuminatenorden. Strukturelle Homologien und historische Aneignungen. In: Zeitschrift für Internationale Freimaurerforschung 10 (2003), S. 1–36, hier S. 21. 72 Tingle, Purgatory and Piety (Anm. 60), S. 3. Tingle verweist insbesondere auf die Werke Philippe Ariès’ und Pierre Chaunus. Zudem weist sie darauf hin, dass sich die Ergebnisse Chaunus und Vanessa Hardings auf urbane Räume und große Städte wie Paris beziehen. Vgl. Philippe Ariès: The Hour of our Death. New York 1981; Pierre Chaunu: La mort à Paris. 16e, 17e, 18e siècles. Paris 1978 sowie Vanessa Harding: The Dead and the Living in Paris and London, 1500–1670. Cambridge 2002. 73 Tingle, Purgatory and Piety (Anm. 60), S. 53. 74 Vgl. ebd.

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sten Gerichts als kollektive Erfahrung stattfinden. Während geteiltes Glück anzustreben war, bot die visuelle Komposition keinen Platz für geteiltes Leid; in der drohenden Hölle wird auf das isolierte Du rekurriert, die Einladung zur Seligkeit hingegen wurde im Plural ausgesprochen. In diesem Sinne war die gemeinsame Praxis zentrales Element der Retraite und als solche die Voraussetzung dafür, dass die Exerzitanten das Jüngste Gericht proleptisch als kollektives Ereignis erfahren konnten.

4. ‚Generalprobe‘ für das Jüngste Gericht Ausführlich und mit einem apologetischen Grundton führt Huby in seinen Werken aus, warum die Retraite in standesübergreifenden Gruppen ein Vorteil gegenüber anderen Modellen sei. Demnach habe die Erfahrung gezeigt, „que plus l’Auditoire est grand et nombreux, plus il émeut celuy qui leur parle, et plus le nombre est grand, et plus aussi s’excitent-ils les uns les autres par leurs exemples“.75 Die Vorstellung von der öffentlichen Dimension des Jüngsten Gerichts hatte eine disziplinierende Wirkung auf das Handeln des Einzelnen, wie auch im Catechismus Romanus (1566) betont wird: „[…] wenn an demselben Tage und an Einem Orte zugleich alle Menschen vor Gottes Richterstuhl stehen werden, damit ein Jeder, im Angesichte aller Menschen aller Jahrhunderte, erfahre, was über ihn beschlossen und abgeurteilt worden ist.“76 Huby intensiviert die Botschaft des Katechismus, indem er die Leser seines Traité de la Retraite ausdrücklich darauf aufmerksam macht, welche Schande oder Ruhm es dem Einzelnen brachte, wenn die anderen zu Zeugen des Urteils würden.77 Doch wie genau machten die Jesuiten das Jüngste Gericht für die Exerzitanten als ein kollektives Ereignis erfahrbar? Der kleine, textliche Verweis auf das Jüngste Gericht auf den Bannern in den images morales hat nur wenig gemein mit den üblichen apokalyptischen Bildmotiven der Frühen Neuzeit, die den Betrachtern direkt beim ersten Blick die Dramatik des Weltgerichts vor Augen führten. Die Höllenszenen am Bildrand und Ankou dürften bei den Betrachtern zwar Angst hervorgerufen haben, waren

75 Huby, La Retraite de Vennes (Anm. 7), S. 9. 76 Dt. Übersetzung zit. nach Römischer Katechismus. Nach dem Beschlusse des Conciliums von Trient und auf Befehl des Pabstes Pius V. herausgegeben. Übersetzt von Franz Rechenmacher. Passau 1839, S. 85. Das Verhältnis von Partikulargericht und Jüngstem Gericht wird im achten Kapitel des Catechismus Romanus behandelt. Zur Verbreitung des Catechismus Romanus in Frankreich bzw. in der Bretagne vgl. u. a. Tingle, Purgatory and Piety (Anm. 60), S. 66 f. sowie Jean-François Courouau: L’imprimé religieux en langue bretonne (1526–1660). In: Annales de Bretagne et des Pays de l’Ouest 115,3 (2008), S. 57–79. 77 Vgl. Anm. 1.

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aber sicher kein „heilsamer Schock“.78 Die Jesuiten in der Maison de retraite verfolgten einen anderen Ansatz, stand doch das Motiv des Jüngsten Gerichts am Ende eines siebentägigen Prozesses: Um dem Anliegen einer Vorbereitungszeit auf das Weltgericht gerecht zu werden, schien ein einzelner Schockmoment nicht hinreichend zu sein, denn es ging nicht darum, einen timor servilis hervorzurufen, da die darauf aufbauende Reueform der attritio (s. o.) eine ‚unperfekte Liebe‘ war, die es zu überwinden galt. Aus Sicht der Jesuiten war die contritio „besser und wirkungsvoller […] und damit wiederum der timor filialis“.79 Es ging somit nicht um eine Bekehrung aus bloßer Angst vor dem Gericht, sondern darum, das Jüngste Gericht als Gruppe gemeinsam zu imaginieren und zu durchleben. Dafür wurde die Thematik des Weltgerichts in eine kollektive, multimediale Praxis eingebettet, wodurch die Exerzitanten nicht nur Betrachter, sondern Teilnehmer waren, sodass der siebte Tag der Retraite als eine Art ‚Generalprobe‘ verstanden werden kann. Die Praxis begann bereits beim Mittagessen, während dessen der Lektor entsprechende Texte vorlas. Neben den einschlägigen Stellen aus dem Matthäusevangelium, die die Exerzitanten anschließend im Bildmedium wiederfanden, standen auf der Leseliste zudem einzelne Kapitel aus dem Werk La trompette du ciel des Oratorianers Antoine Yvan.80 Yvan betont besonders den Zusammenhang zwischen contritio und der Liebe Gottes: „Si vous desirez, que Dieu oublie vos pechez, gemissez par une vraye contrition d’avoir offensé ce Dieu d’amour, il vous promet, qu’il vous les pardonnera, & qu’il vous aimera […].“81 Derart eingestimmt auf das Motiv des Jüngsten Gerichts, betraten alle Exerzitanten die salle commune, um den Ausführungen des Direktors zu den Bildern zu folgen. Bevor die Erläuterungen begannen, stimmte der Lektor noch spirituelle Lieder an.82 Das vierzehnstrophige Lied Du péché et de nos fins dernières stammt vermutlich von Huby selbst und stimmte die Gläubigen klanglich auf die visuelle

78 Marc Venard: Das Zeitalter der Vernunft (1620/30–1750). Freiburg i. Br. u. a. 1998 (Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur 9), S. 318. So beschreibt bspw. der Biograph Julien Maunoirs, wie dieser die Gläubigen mit den Motiven von Hölle und Jüngstem Gericht erschreckt habe. Vgl. Dominique Deslandres: Des ouvriers formidables à l’enfer. Épistémè et missions jésuites au XVIIe siècle. In: Mélanges de l’École française de Rome. Italie et Méditerranée 111,1 (1999), S. 251–276, hier S. 266. 79 Ulrich Barton: Heilsamer Schrecken. Die Angst im mittelalterlichen Weltgerichtsspiel. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 140,4 (2011), S. 476–500, hier S. 485. 80 Vgl. Piltière (Anm. 4), S. 267. Von Luis de Granada sollte das elfte Kapitel des zweiten Buches gelesen werden. Beim Werk Antoine Yvans stand das Kapitel zur Furcht vor Gott im Mittelpunkt. 81 Antoine Yvan: La trompette du Ciel qui reveille les Pécheurs et qui les excite à se convertir. Lyon 1743, S. 161 f. 82 Vgl. Piltière (Anm. 4), S. 267.

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Erfahrung ein.83 Entsprechend weist es auch intermediale Bezüge zu den images morales auf. So spiegeln sich das neunte und das zehnte Bild, die sich mit dem Jüngsten Gericht befassen, in der neunten und zehnten Strophe: Quelle honte aux méchants! Pour les bons quelle gloire! Ceux-là d’avoir perdu, ceux-ci eu la victoire. O vertu! ô péché! Quels succès différents, Vertu dans les plaisirs, péché dans les tournements; Qu’on ne me parle plus des plaisirs de la terre, Mon cœur désabusé leur déclare la guerre Je veux vivre et mourir tel qu’au grand jugement, je reçoive loyer et non pas châtiment. O trompette du ciel dont le son effroyable, sera jusqu’aux plus saints un son si redoutable, fais-moi ouir ce son, et si fort et si clair, qu’il chasse loin de moi le désir de pécher

Auf inhaltlicher Ebene wird der Bezug zwischen dem Medium Lied und dem des Bildes durch den Verweis auf die Gleichzeitigkeit von Todesstunde und Jüngstem Gericht deutlich.84 Bild und Gesang gehörten für die Societas Jesu eng zusammen; letzterer transportierte zudem den Klang des Jüngsten Gerichts. Aus den Missionen, bspw. aus der Region Neapel, ist bekannt, dass die Jesuiten lautstark Trompeten blasen ließen, um besonders effektiv an das Jüngste Gericht zu erinnern und die entsprechenden Erläuterungen zu vertonen.85 Die Vertonung des Jüngsten Gerichts wurde in der Maison de retraite durch das gemeinsame Singen erreicht, wobei sprachliche Bilder im Liedtext auf den Klang der Trom-

83 Zu welcher Melodie das Lied gesungen wurde, ist nicht überliefert. Es liegt jedoch nahe, dass es sich um eine bereits bekannte Melodie, möglicherweise auch profanen Ursprungs, handelte. Im Falle von Julien Maunoirs Lied „Var ar fin diveza eux à map den“ wurde auf die Melodie von Claude Le Jeunes Werk „La guerre“ zurückgegriffen. Ob dies als eine konfessionelle Umdeutung der Melodie des reformierten Komponisten verstanden werden kann oder ob stärker das von Maunoir bevorzugte Motiv des Krieges bei der Auswahl im Vordergrund stand, muss an dieser Stelle offen bleiben. Vgl. Céline Drèze: Entre dévotion et combat. Le cantique spirituel chez les auteurs jésuites de la province gallo-belge aux XVIIe et XVIIIe siècle. In: Revue de la Société liégeoise de musicologie 27 (2008), S. 67–119, hier S. 78; Deslandres (Anm. 78), S. 266 sowie Julien Maunoir: Cantiquou spirituel da beza canet et catechismou, ha lechiou all gant an christenien. Quimper 1642, S. 16. 84 Vgl. zu Wechselwirkungen von Bild und Musik u. a. Rolf Reichardt: Gesungene Bilder – gemalte Lieder. Wechselbeziehungen zwischen französischen Chansons und Druckgraphik vom Ancien Régime zum 19. Jahrhundert. In: Chanson und Vaudeville. Gesellschaftliches Singen und unterhaltende Kommunikation im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. von Herbert Schneider. St. Ingbert 1999, S. 71–135. 85 Vgl. Száraz (Anm. 38), S. 36.

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peten verwiesen.86 Geistliche Lieder und das gemeinsame Singen derselben waren bei den Jesuiten beliebte Methoden zur Vermittlung von Glaubensinhalten: Neben der didaktischen und mnemotechnischen Funktion eröffnete die Praxis des Singens auch eine „collective and public dimension“.87 Mit diesem gemeinschaftlichen auditiven Erleben des Jüngsten Gerichts in Liedform wurde der Nährboden für die Aufnahme der images morales bereitet. Das auch bei Ignatius wichtige sinnliche ‚Nachspüren‘ der Hölle griff Huby auf, indem er von seinen Exerzitanten erwartete, sich vollkommen in den dargestellten Sünder hineinzuversetzen.88 Mehr noch, sie sollten „peu à peu“89 mitsterben und die körperlichen Veränderungen durchleiden, „s’intégrait, par identification et inclusion“90: Zuerst sollten sie die Kraft in den Armen verlieren, am ganzen Körper kalten Schweiß spüren, fühlen, wie ihre Glieder immer steifer würden, bevor sich ihr Gesicht verändere, die Kehle eng und das Atmen immer weniger und schwieriger werde.91 So sollten die Exerzitanten den Tod des Sünders wahrnehmen. Die Sünde ging mit dem körperlichen Verfall einher und machte im Rahmen dieser proleptischen Praktiken den schlechten Tod aus. Deshalb sollten die Exerzitanten stets darauf bedacht sein, so zu leben, wie sie sterben wollten.92 Die Rückkehr aus diesem Einfühlen in den Tod geschah wie die Hinführung durch gemeinsamen Gesang. Die Kombination aus kollektiver Erfahrung als Gruppe und individueller Bezugnahme auf die Todesstunde intensivierte die Auseinandersetzung mit dem schlechten Tod. Damit förderten die Jesuiten einerseits eine auf Gemeinschaft angelegte Frömmigkeit, wie sie auch in den zahlreichen Bruderschaften zu finden ist. Andererseits betonten sie ausdrücklich die individuelle und private Auslebung von Frömmigkeit. Durch die Kombination verschiedener Medien fanden sie also eine Möglichkeit, die traditionellen Inhalte des Jüngsten Gerichts mit dem Bedürfnis nach einer individuellen Beziehung mit Christus zu vereinen. Diese multimediale Vermittlung machte es den Exerzitanten möglich, das dereinst eintretende Jüngste Gericht schon im Hier und Jetzt ‚durchzuspielen‘ und 86 Zu Trompeten als Merkmal des Jüngsten Gerichts auch Dionysius Cartusianus: De quatuor hominis novissimis. Köln 1693, S. 309: „Quoties diem illum considero, toto corpore contremisco. Sive enim comedo, sive bibo, sive aliud aliquid facio, semper videtur mihi tuba illi terribilis insonate auribus meis. Surgite mortui, venite ad judicium.“ Vgl. auch die Ausführungen und Anmerkungen in Hans-Henrik Krummacher: Lyra. Studien zur Theorie und Geschichte der Lyrik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin 2013, S. 461 f. 87 Daniele Filippi: A Sound Doctrine: Early Modern Jesuits and the Singing of the Catechism. In: Early Music History 34 (2015), S. 1–43, hier S. 4. 88 Vgl. Friedrich, Jesuiten (Anm. 55), S. 76. 89 Piltière (Anm. 4), S. 404. 90 Cousinié (Anm. 28), S. 58. 91 Vgl. Piltière (Anm. 4), S. 404. 92 Vgl. ebd., S. 414.

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zu üben. Wie ein Regisseur nach der Generalprobe erteilte der Direktor zum Ende der Erläuterungen Hinweise zur Verbesserung und ermahnte die Exerzitanten, dass es noch nicht zu spät sei, die Qualität des eigenen Endes zu beeinflussen: Passend dazu kam kurz darauf der Buchhändler ins Haus, um ihnen die entsprechende Erbauungsliteratur, die images morales sowie die Lieder und Kruzifixe für ein frommes Leben in der Welt zu verkaufen.

5. Fazit Die Jesuiten verstanden die Retraite als Anleitung für die Ausrichtung des Lebens auf das individuelle sowie allgemeine Gericht. Aus diesem Grunde war die Zeit in der Maison de retraite so strukturiert, dass sie als Vorbereitung auf den Tod wie auch das Jüngste Gericht diente. Die individuelle Bekehrung und das gemeinschaftliche Heil waren miteinander verknüpft und bedingten sich wechselseitig. Anhand der Kombinationen verschiedener Medien in der Retraite lässt sich nachvollziehen, wie die Jesuiten das Jüngste Gericht in der religiösen Praxis der kollektiven Exerzitien in der Maison de retraite auffassten und systematisch übten. Diese konsequente Ausrichtung der Lebensführung auf das Jüngste Gericht hin wurde emotional verankert: Insbesondere in den letzten beiden Tagen der Retraite wurde die sinnliche Erfahrbarkeit gesteigert, indem verstärkt auf die Exerzitanten als Gruppe Bezug genommen wurde und durch den Einsatz von Medien Emotionen aktiviert wurden. Kurz bevor die Exerzitanten die Maison de retraite verließen, zeigte der Direktor ihnen die letzten beiden images morales.93 Bei diesen handelte es sich um Darstellungen der Hölle sowie des Paradieses, wobei die jeweiligen Erläuterungen in einer besonderen „manière pathétique“94 vorgetragen wurden. Zum Abschied umarmten sich die Teilnehmer und die Patres, „presque tous les larmes aux yeux“.95 Die in den sieben vorherigen Tagen systematisch erarbeitete ‚Konversion‘ wurde zum Ende der Retraite hin affektiv verankert und die Exerzitanten traten emotionalisiert vor die Tür zurück in die Welt.

93 „Petit craion de l’estat mal heureux et eternel d’un Damné“; „Petit craion de l’estat bienheureux et eternel d’un homme qui est sauvé“. 94 Piltière (Anm. 4), S. 295. 95 Ebd.

Leonid Malec

Das Ende immer im Blick. Uhren und die Zeitgestaltung bis zur letzten Stunde

Das Jüngste Gericht liegt als heilsgeschichtliches Ereignis zwar in der Zukunft, hatte allerdings, da sein unausweichliches Kommen den Menschen in der Bibel bereits detailliert offenbart worden war, in der Regel einen maßgeblichen Einfluss auf das Leben von Christ:innen.1 Es reichte in ihre Gegenwart hinein und prägte, vermittelt durch verschiedene Medien, den Alltag, das Handeln und die Frömmigkeit der Menschen. Gleichzeitig beeinflusste die Gegenwart aber auch den jeweils zeitgenössischen Blick auf das Jüngste Gericht: Abhängig von Krisen, der konfessionellen Zugehörigkeit bzw. der Selbstverortung und der subjektiven Einstellung, warteten die Menschen mal voller Angst, mal mit Freude auf ein baldiges oder aber ein in weiter Ferne liegendes Gericht. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, zu fragen, welchen Einfluss die Gegenwart des 17. Jahrhunderts auf die Wahrnehmung des Jüngsten Gerichts und den alltäglichen Umgang mit diesem hatte. Im Fokus steht dabei eine konkrete zeitgenössische Entwicklung, nämlich die Etablierung des mechanistischen Weltund Menschenbildes.2 Die Idee vom ‚Menschen als Maschine‘ war zwar noch umstritten, doch setzte sich das Denken über den menschlichen Körper mithilfe maschineller Vergleiche zunehmend durch, wie etwa William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs und seine Beschreibung des Herzens als ‚Pumpe‘ bele-

1 Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – 242138915/GRK 2008. Ich danke Hanna Böge, Prof. Dr. Margit Kern, Amalie Hänsch, Sanja Hilscher, Dr. Ricarda Höffler, Dr. Julia Kloss-Weber, Sophie Rüth und Lisa Thumm für zahlreiche Anregungen. 2 Auch wenn der Vergleich zwischen Uhr und Kosmos viel älter ist und im 17. Jahrhundert auch andere Welt- und Menschenbilder existieren, herrscht Konsens in der Forschung, dass das mechanistische Welt- und Menschenbild im Laufe des 17. Jahrhunderts besondere Prominenz und Dominanz erlangte. Vgl. hierzu Bernd Remmele: Die Entstehung des Maschinenparadigmas. Technologischer Hintergrund und kategoriale Voraussetzungen. Opladen 2003 (Theorie des sozialen und kulturellen Wandels 3); Jessica Riskin: The Restless Clock. A History of the CenturiesLong Argument over What Makes Living Things Tick. Chicago, London 2016.

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gen.3 Ein eindrückliches visuelles Beispiel, mit dem sich diese Entwicklung ebenfalls veranschaulichen lässt, ist das kleine Gemälde Dame mit einer Uhr von Caspar Netscher (Abb. 1): Die junge Bildprotagonistin greift mit ihrer rechten Hand unter die pelzbesetzte Jacke an ihr Herz, während sie sich mit der linken eine kleine, geöffnete Taschenuhr ans Ohr hält.4 Der dabei stattfindende akustische und taktile Wahrnehmungsvorgang wird besonders akzentuiert, indem alle äußeren Einflüsse im Bildraum auf ein Minimum reduziert werden. Die Frau sitzt offenbar am Abend oder in der Nacht in einem kaum definierten dunklen Raum; andere Personen oder Geräuschquellen fehlen gänzlich. Ihr dabei ins Unbestimmte gerichteter Blick zeigt allerdings eindrücklich, dass es im Bild nicht nur um die Darstellung sinnlicher Wahrnehmung geht, sondern verweist auf die geistige Versenkung und den Denkprozess der Bildprotagonistin: Sie fühlt den eigenen Herzschlag, hört die Bewegung der Uhrwerkshemmung, setzt beide im Geiste parallel und erkennt offenbar eine Ähnlichkeit.5 Wie blickten nun die Zeitgenoss:innen dieser von Netscher dargestellten jungen Frau, die ebenfalls die Ähnlichkeit zwischen der Mechanik der Uhr und sich selbst erkannt hatten, auf das Jüngste Gericht und wie gestalteten sie vor dem Hintergrund dieses neuen Wissens ihre alltägliche Frömmigkeit?6 3 Vgl. zum Blutkreislauf Jonathan Miller: Die Pumpe. Harvey und der Blutkreislauf. In: Kat. Ausst. Blut. Kunst – Macht – Politik – Pathologie (Frankfurt a. M., Museum für Angewandte Kunst / Schirn Kunsthalle, 11.11.2001–27.1.2002). Hg. von James M. Bradburne. München u. a. 2001, S. 101–109. 4 Vgl. zu dem Gemälde John Ingamells: The Wallace Collection. Catalogue of Pictures. Bd. IV: Dutch and Flemish. London 1992, S. 240–241; Marjorie E. Wieseman: Caspar Netscher and Late Seventeenth-Century Dutch Painting. Doornspijk 2002, S. 192 sowie Stephen Duffy, Jo Hedley: The Wallace Collection’s Pictures. A Complete Catalogue. London 2004, S. 298. 5 Die Darstellung der Frau entzieht sich einer eindeutigen Interpretation. Allerdings wird das Gemälde in der Forschung bisher aufgrund der Kombination der Uhr und einer erloschenen Kerze, die sich auf dem Tisch neben der Frau befindet, im Kontext der Vanitas- und der Liebes-Thematik verortet. Vgl. Ingamells (Anm. 4), S. 240 sowie Duffy, Hedley (Anm. 4), S. 298. 6 Der Aufsatz knüpft an die Arbeiten Jörg Jochen Berns’ und Christian Schmidts zum Motiv der Uhr sowie zur Nutzung von Uhren in der frühneuzeitlichen Frömmigkeit an. So ist Berns bisher am ausführlichsten auf die Mechanisierungstendenzen in der Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts eingegangen, die im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen werden. Vgl. insbesondere Jörg Jochen Berns: „Vergleichung eines Vhrwercks, vnd eines frommen andächtigen Menschens“. Zum Verhältnis von Mystik und Mechanik bei Spee. In: Friedrich von Spee. Dichter, Theologe und Bekämpfer der Hexenprozesse. Hg. von Italo Michele Battafarano. Gardolo di Trento 1988 (Apollo 1), S. 101–206; ders.: Sakralautomaten. Automatisierungstendenzen in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Frömmigkeitskultur. In: Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Grubmüller, Markus Stock. Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 17), S. 197–222; ders.: Harsdörffers Technikandacht. Zum Zusammenhang von Naturwissenschaft, Erbauung und Poesie in den „Sonntagsandachten“ und „Erquickstunden“. In: Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. von Doris Gerstl. Nürnberg 2005 (Schriftenreihe der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg 10), S. 22–38. Schmidt hat sich hingegen jüngst mit Andachtstexten befasst, die sich in ihrem Aufbau

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Abb. 1: Caspar Netscher, Dame mit einer Uhr, Öl auf Holz, 15,5 × 13,6 cm, um 1669, London, Wallace Collection.

an den Stunden der Uhr orientieren, und ist dabei auf Zusammenhänge zwischen der Uhrnutzung in der Andacht und eschatologischen Zeitdimensionen eingegangen. Vgl. Christian Schmidt: Geistliche Uhren. Technologie, Heilsgeschichte und Letzte Dinge in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen ‚Horologium‘-Tradition. In: Die Zeit der letzten Dinge. Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Julia Weitbrecht, Andreas Bihrer, Timo Felber. Göttingen 2020 (Encomia Deutsch 6), S. 195–223. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Perspektiven von Berns und Schmidt anhand von zwei Objektanalysen zusammenzuführen.

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1. Mit dem Buch der Natur am Herzen – Blättern in der Buchuhr der Natur Ein Objekt, an dem sich diese Fragen exemplarisch diskutieren lassen, ist eine buchförmige Räderuhr, die sich heute im Besitz des Germanischen Nationalmuseums befindet (Abb. 2).7 Aufgrund der Öse im oberen Buchschnittbereich und der geringen Größe – sie ist nur 6 cm breit und 10 cm hoch – ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie direkt am Körper, genauer: an einer Kette um den Hals getragen werden sollte, es sich hier also um eine buchförmige Halsuhr handelt.8 Physisch befand sie sich somit in unmittelbarer Nähe zu ihren Träger:innen, regte diese akustisch immer wieder zur visuellen, haptischen und vor allem mentalen Beschäftigung mit sich an und prägte somit besonders eindringlich die Zeitwahrnehmung und -nutzung. Dem Einfluss, den diese Beschäftigung sowie die teilweise bewusste, teilweise unbewusste Wahrnehmung der Uhr auf ihre Träger:innen haben sollten, soll im Folgenden in einer detaillierte Analyse des Objekts nachgegangen werden. Zunächst gilt es allerdings, die Semantik der Buchform zu beleuchten: Objekte, die wie diese Halsuhr durch ihre Form und teilweise auch durch ihre Funktion Bücher imitieren, waren in der materiellen Kultur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit in verschiedenen Bereichen – vom Anhänger bis zum Trinkgefäß – weit verbreitet.9 Im Falle von Uhren hatte diese spezifische Formwahl besonders weitreichende Konsequenzen für die Deutung.10 So scheint es 7 Das Scharnier des hinteren Buchuhrdeckels ist zu einem unbekannten Zeitpunkt abgebrochen und der Uhrzeiger des zentralen Ziffernblatts fehlt. In der Forschung wurde die Halsuhr bisher nicht behandelt. Sie wird lediglich in Bezug auf den Uhrmacher Michael Bommel kurz erwähnt; siehe Heinrich Lunardi: 900 Jahre Nürnberg. 600 Jahre Nürnberger Uhren. Wien 1974, S. 171 f. Außerdem taucht sie in einer Zusammenstellung buchförmiger Räderuhren auf, siehe Klaus Maurice, Christian Pfeiffer-Belli: Manieristisches Kunstgewerbe. In: Alte Uhren 3 (1983), S. 217– 231, hier Nr. 12. 8 Es ist nicht auszuschließen, dass diese und ähnliche buchförmige Uhren, die Ösen im oberen Buchschnittbereich haben, wie Gürtel- bzw. Beutelbücher getragen wurden. Da keine der erhaltenen Uhren die für Gürtelbücher üblichen Buchbeutelbezüge oder Lederlappen am Buchunterschnitt besitzen oder formal rezipieren, scheint diese Trageweise allerdings nicht die primär intendierte gewesen zu sein. 9 Grundlegende Gedanken zu verschiedenen buchförmigen Objekten finden sich bei Kurt Köster: Bücher, die keine sind. Über Buchverfremdungen, besonders im 16. und 17. Jahrhundert. In: Buchhandelsgeschichte. Beilage zum Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe 98 (7.12.1979), S. B177–B202. Zahlreiche kurze Einzeluntersuchungen zu verschiedenen buchförmigen Objekten, einen Forschungsüberblick zum Thema sowie eine ausführliche Bibliografie bieten außerdem Philippe Cordez, Julia Saviello (Hg.): Fünfzig Objekte in Buchform. Vom Reliquiar zur Laptoptasche. Emsdetten, Berlin 2020. 10 Zu buchförmigen Räderuhren wurde bisher nur sehr wenig geschrieben: Abseits kurzer Erwähnungen in Überblickswerken zur Geschichte der Uhr finden sich knappe Beschreibungen – allerdings ohne weiterführende Deutungen – mehrerer buchförmiger Räderuhren bei Köster

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Abb. 2: Michael Bommel, Halsuhr in Buchform (urspr. Zustand vor dem Auseinanderbrechen der Uhr), Messing und Stahl (graviert, vergoldet und bemalt), 5,8 × 9,8 × 1,9 cm (geschlossen), um 1630, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum.

naheliegend, dass viele der buchförmigen Uhren eng verwandt sind mit Objekten und Praktiken aus dem Bereich der privaten Frömmigkeit. Denn viele größere Buchuhren ähneln aufgrund ihrer Form, des Formats und ihrer Bildausstattung kleinen Gebets-, Andachts- und Stundenbüchern.11 Kleinere Buch(Anm. 9), S. B191–B193. Drei auf die Mechanik und technische Aspekte fokussierte kurze Katalogbeiträge bietet außerdem Klaus Maurices Standardwerk der Uhrgeschichte; siehe Klaus Maurice: Die deutsche Räderuhr. Zur Kunst und Technik des mechanischen Zeitmessers im deutschen Sprachraum. Bd. 2: Katalog und Tafeln. München 1976, Kat. Nr. 471–473. Maurice publizierte außerdem gemeinsam mit Christian Pfeiffer-Belli eine Zusammenstellung mehrerer Buchuhren samt kurzer Katalogbeiträge, vgl. ders., Pfeiffer-Belli (Anm. 7). Den bisher umfangreichsten Beitrag lieferte allerdings Susanne Thürigen mit einem Katalogbeitrag zu einer buchförmigen Tischuhr aus dem Mailänder Museo Poldi Pezzoli; vgl. Susanne Thürigen: Tischuhr. In: Cordez, Saviello (Anm. 9), S. 43–45. Ein Kapitel in Thürigens noch unpublizierter Dissertation wird sich ebenfalls mit buchförmigen Tischuhren beschäftigen. Vgl. dies.: Turm, Spiegel, Buch. Astronomische Tischuhren in Süddeutschland zwischen 1450 und 1650. Berlin, Boston vsl. Sept. 2022 (Object Studies in Art History 6). 11 Zu nennen wären hier die kleine, um 1600 durch David Haisermann geschaffene Buchuhr aus der Eremitage in St. Petersburg (Inv.-Nr. Э-11076) oder die zeitgleich entstandene Buchuhr aus dem Musée national de la Renaissance in Écouen (Inv.-Nr. E.Cl.14893). Als mögliche Inspiration

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uhren, die wie diejenige im Germanischen Nationalmuseum vermutlich als Anhänger getragen wurden, wecken vor allem durch ihre Nutzung zusätzlich Assoziationen an buchförmige Reliquienanhänger, Phylakterien oder Amulette.12 Anstatt jedoch Reliquien, Sakramentalien oder geistliche Bilder, d. h. heilfördernde Medien, zu beinhalten, umschlossen die Halsuhren einen nicht direkt mit ‚Heiligkeit‘ assoziierten, allerdings ebenfalls wertvollen Inhalt, nämlich das komplexe mechanische Uhrwerk, über dessen Potenziale für Andacht und Frömmigkeit noch zu sprechen sein wird. Wichtiger als die Ähnlichkeit mit Andachtsbüchern und buchförmigen Anhängern war für die zeitgenössische Deutung von Buchuhren aber höchstwahrscheinlich die Vorstellung von der doppelten Offenbarung Gottes. Denn dass die Uhr, bei der es sich um ein kleines Modell bzw. um ein Abbild des von Gott geschaffenen Kosmos handelt,13 hier die Form eines Buches annimmt, dürfte, anders als bei anderen buchförmigen Objekten, nicht nur als Verweis auf das Medium Buch an sich verstanden worden sein. Stattdessen weckte dies vermutlich ganz konkret Assoziationen an die seit Augustinus gebräuchliche Metapher vom ‚Buch der Natur‘ (liber naturae), sprich: der Vorstellung, dass sich Gott den Menschen neben der Heiligen Schrift auch in der Natur offenbart.14 Die ‚Lekfür buchförmige Räderuhren benennt Thürigen, Tischuhr (Anm. 10), S. 44, die im 16. Jahrhundert belegte Praxis, Sonnenuhren in die Deckel von Stundenbüchern einzulassen, um die Bestimmung der Zeitpunkte für den Vollzug der Tagzeitenliturgie zu erleichtern. Bei manchen größeren Buchuhren wird der Bezug zum Stundenbuch sogar explizit durch die Bildausstattung formuliert, bspw. im Falle eines Buchuhrgehäuses im Landesmuseum Württemberg (unbekannter Künstler, Uhrgehäuse in Buchform, zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, Bronze feuervergoldet und graviert, 15 × 13 × 5,7 cm, Stuttgart, Landesmuseum Württemberg, Inv. Nr. WLM 1968-371). Hier finden sich auf den Außen- und Innenseiten der Buchdeckel Szenen aus der Heilsgeschichte, die von Ornamentbordüren eingefasst sind, wie sie für Miniaturen in Stundenbüchern charakteristisch sind. Die Handhabung dieser Buchuhr hätte bei den Besitzer:innen sicherlich Assoziationen geweckt, durch ein Stundenbuch zu blättern. Anders als ein klassisches Stundenbuch ruft ein solches mechanisches ‚Stundenbuch‘ seine Besitzer:innen allerdings nicht zu den kanonischen Horen, sondern zu jeder einzelnen Stunde des Tages zur Andacht und zum Gebet und überschreibt damit nicht nur bestimmte Momente, sondern die gesamte Uhrzeit mit Gedanken an den Frömmigkeitsvollzug. 12 Vgl. zu diesen Objekttypen Köster (Anm. 9), S. B178–B181 sowie Romina Ebenhöch, Silke Tammen: Wearing Devotional Books. Book-Shaped Miniature Pendants (Fifteenth to Sixteenth Centuries). In: Clothing Sacred Scriptures. Book Art and Book Religion in Christian, Islamic and Jewish Cultures. Hg. von David Ganz, Barbara Schellewald. Berlin, Boston 2019 (Manuscripta Biblica 2), S. 171–186. 13 Vgl. zur Vorstellung von der Uhr als Modell des Universums Otto Mayr: Die Uhr als Symbol für Ordnung, Autorität und Determinismus. In: Kat. Ausst. Die Welt als Uhr. Deutsche Uhren und Automaten (München, Bayerisches Nationalmuseum, 15.4.–30.9.1980, Washington, D.C., National Museum of History and Technology, 13.11.1980–15.2.1981). Hg. von Klaus Maurice, Otto Mayr. München, Berlin 1980, S. 1–9, hier S. 2–4. 14 Vgl. zur Weltbuchmetaphorik Erich Rothacker: Das „Buch der Natur“. Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte. Bonn 1979; Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt.

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türe‘ dieses Buchs in Form der Betrachtung und Erforschung der Natur sowie des Kosmos etablierte sich zunehmend seit dem späten 16. Jahrhundert als religiöse Praxis, die zum Ziel hatte, in die Natur eingeschriebene heilsgeschichtliche Tatsachen zu entschlüsseln.15 Buchförmige Uhren transformieren die zu erforschende Schöpfung samt der darin enthaltenen Offenbarung zu einem physisch handhabbaren Buch, in dem Menschen nicht nur im metaphorischen, sondern auch im ganz wörtlichen Sinne blättern, ‚lesen‘ und damit Ausschau nach Gott halten konnten. Für diese Deutung spricht auch das ikonografische Programm der buchförmigen Halsuhr im Germanischen Nationalmuseum: Schlugen Besitzer:innen ihren Deckel auf, blickten sie auf ein Titelblatt, das sich aus insgesamt fünf Ziffernblättern zusammensetzt (Abb. 3). Das größte und in der Mitte gelegene dient der Anzeige der Stunden des Tages. Um dieses herum befinden sich vier dem griechischen Buchstaben X (Chi) entsprechend angeordnete kalendarische Anzeigen, die zusätzlich den Wochentag, das Datum, den Monat und die Mondphase angeben. Die Anordnung in X(Chi)-Form16 sowie die kleinen geflügelten Engelsköpfe, die die fünf Anzeigen in den Ecken einfassen, legen nahe, dass es auf diesem Buchuhr-Titelblatt nicht nur um eine einfache Zeit- und Kalenderangabe geht, sondern um nicht weniger als die Visualisierung der Ordnung innerhalb der göttlichen Schöpfung. Dieses abstrahierte Bild des Makrokosmos wird auf dem Titelblatt um mehrere Elemente erweitert: Das zentrale Ziffernblatt wird rechts und links flankiert von Adam und Eva. Ihre Nacktheit, die um sie herum angedeuteten Pflanzen sowie die Schlange zu Evas Füßen verorten die Stammeltern noch im Paradies. Evas Griff an die verbotene Frucht sowie Adams Armhaltung veranschaulichen allerdings, dass beide im Begriff sind, den Sündenfall zu begehen, infolgedessen sie aus dem Paradies vertrieben werden. Die sündhafte Welt als der Ort, an dem die Nachkommen Adams und Evas ihr Dasein fristen, wird im Zentrum des Ziffernblatts in Form einer zeitgenössischen Stadt repräsentiert, die stellvertretend

Frankfurt a. M. 1981 sowie Ruth Groh: Art. Buch der Natur. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 2. Stuttgart, Weimar 2005, Sp. 478–485. 15 Vgl. Anne-Charlott Trepp: Von der Glückseligkeit alles zu wissen. Die Erforschung der Natur als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M., New York 2009, S. 26–60. 16 Vgl. für den Bezug des griechischen Buchstabens X (Chi) zum christlichen, vom Himmelskreuz geprägten Kosmosbild etwa Otto Karl Werckmeister: Die Bedeutung der „Chi“-Initialseite im Book of Kells. In: Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr. Bd. 2. Hg. von Victor H. Elbern. Düsseldorf 1964. S. 687–710.

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Abb. 3: Michael Bommel, Halsuhr, Zustand mit geöffnetem Vorderdeckel.

für die Gegenwart der Buchuhr-Besitzer:innen steht.17 Der heute nicht mehr erhaltene Uhrzeiger, der ursprünglich ständig über der Stadtansicht auf und ab wanderte, charakterisierte diese abseits des Paradieses gelegene weltliche Sphäre als einen Raum, der infolge des Sündenfalls ständiger Mutabilität und Geschichtlichkeit unterworfen ist. Als drittes ergänzendes Bildelement des Buchuhr-Titelblatts findet sich oberhalb des zentralen Ziffernblatts ein zwei Posaunen blasender geflügelter Engelskopf, der die Endzeit und, damit einhergehend, das Jüngste Gericht ankündigt. Der Klang seiner Posaunen richtet sich dabei direkt und mahnend an Adam und Eva als Stellvertreter bzw. Stellvertreterin der gesamten Menschheit. Gleichzeitig können sich aber auch die Buchuhr-Besitzer:innen direkt angesprochen fühlen, wenn mitbedacht wird, dass diese Klangevokation aufgrund ihrer Anbringung auf einer Uhr die Wahrnehmung der stündlich erklingenden Uhrglocke mit einer endzeitlichen Konnotation über-

17 Mehrere vor der Stadtmauer dargestellte Figuren könnten als ein anrückendes oder die Stadt belagerndes Heer gedeutet werden, womit die Welt als von Konflikten geprägt charakterisiert würde. Aufgrund der geringen Größe der Darstellung ist eine eindeutige Identifizierung der Personen und ihrer Handlungen aber nur bedingt möglich.

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schreibt.18 So semantisiert, ist jedes Stundensignal für die Besitzer:innen dieser Uhr nicht nur eine Zeitangabe, sondern auch eine Erinnerung an das zukünftige Jüngste Gericht. Die Uhr zeigte somit nicht nur die aktuelle Stunde an, sondern verwies auch immer auf die letzte und thematisierte damit das Zustreben der Zeit auf die postapokalyptische Ewigkeit. In ihrer Gesamtheit bietet die geöffnete Buchuhr auf ihrem Titelblatt somit in komprimierter Form ein Bild der christlichen Heilsgeschichte, die innerhalb der göttlichen Schöpfung und zwischen zwei historischen Großereignissen – dem Sündenfall und dem Jüngsten Gericht – verläuft, und präsentiert jedem Menschen, der auf sie blickt, sein Eingespanntsein in den Lauf der Welt.19 Hierbei belässt es die Buchuhr allerdings nicht, sondern lieferte ihren Besitzer:innen für den Umgang mit ihrer Gegenwart resp. für die Zeit bis zum Jüngsten Gericht mehrere Bilder, die betrachtet und zur Andacht genutzt werden konnten: Direkt auf den Außendeckeln – und damit immer sichtbar – finden sich Darstellungen der Schaustellung Christi (Ecce Homo) (Abb. 4) und der Mater dolorosa (Abb. 5), die aufgrund der identisch ausgestalteten Räume, in denen Christus und Maria verortet werden, sowie der gleichen Sitzposition als Pendants betrachtet werden müssen. Vergleichbare Gegenüberstellungen des leidenden Christus und der mitleidenden Maria waren seit dem Spätmittelalter sowohl in Bild- als auch in Textmedien fest etabliert. In der Regel dienten sie dazu, die Muttergottes samt ihren Emotionen angesichts des Leidens ihres Sohnes zu einer bildinternen Identifikationsfigur und somit zum Vorbild für die compassio zu machen, während Christus ausdrücklich als Gegenstand der Betrachtung in den Fokus rückte.20 Genauso ist diese Kombination auch hier zu verstehen. Hing die Uhr richtig herum an einer Kette um den Hals – also der üblichen Buchnutzung entsprechend mit dem Buchrücken nach (von uns Betrachtenden aus gesehen) links –, trugen die Besitzer:innen das Bild der Schmerzensmutter als Identifikationsfigur vor sich her, wobei das Schwert, das sich in Marias Brust 18 Diese Deutung ist besonders naheliegend, da das Jüngste Gericht hier nicht in extenso dargestellt, sondern auf einen plötzlich eintretenden, lauten Klang reduziert wird. Die Klangevokation und deren Charakterisierung als ‚plötzlich‘ und ‚heftig‘ geschehen dabei nicht nur durch die Darstellung der beiden Instrumente, sondern auch durch die expressiv, d. h. offenbar mit Wucht vom Engelskopf in alle Richtungen ausgehenden Strahlen. 19 Der Maskaron unterhalb des Zifferblatts ist dem Engelskopf antithetisch entgegengesetzt, sodass es naheliegend erscheint, diesen nicht nur als einen dekorativen Raumfüller, sondern als eine abstrahierte Teufelsdarstellung zu deuten. Da sich die Darstellung aber einer eindeutigen Interpretation entzieht, wird sie nicht in die Analyse einbezogen. 20 Vgl. für die Rolle von Assistenzfiguren allgemein sowie von Maria im Speziellen bei der compassio etwa Heike Schlie: Exzentrische Kreuzigungen um 1500. Zur Erfindung eines bildlichen Affektraums. In: Golgatha in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit. Hg. von Johann Anselm Steiger, Ulrich Heinen. Berlin, New York 2010 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 113), S. 63–91, hier S. 68–82.

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Abb. 4: Michael Bommel, Halsuhr, Detail: Ecce Homo.

bohrt, auf das Herz als den Ort der compassio verweist. Der leidende Christus, das eigentliche Objekt der Passionsbetrachtung, lag hingegen direkt am Herzen der Buchuhr-Träger:innen und befand sich somit in unmittelbarer Nähe zu jenem Ort, an dem Christus einkehren bzw. an dem dieses Bild verinnerlicht werden sollte. Diese Verinnerlichung wurde, neben der signifikanten Nähe zum Herzen, auch durch die Buchform der Uhr nahegelegt: So, wie der Inhalt eines Buches von den Leser:innen ‚aufgenommen‘ und ‚verinnerlicht‘ werden muss, so gilt es auch, den Inhalt dieses Buches in sich und sein Herz aufzunehmen.21 Zusätzlich regt die technische Umsetzung des Bildes die Verinnerlichung an. Da es als Gravur auf Metall ausgeführt ist, werden hier unmittelbar Assoziationen an frühneuzeitliche Drucktechniken wach: Die Buchuhr-Träger:innen konnten imaginieren, dass sich das Bild des leidenden Christus auf ihrem Herzen abdruckt bzw. in dieses eingeprägt wird, ähnlich wie eine Druckplatte ein Bild mechanisch auf einen Bogen Papier drucken würde.22 21 Zur Überlegung, dass buchförmige Anhänger explizit eine Verinnerlichung im Herzen ihrer Träger:innen zum Ziel haben, siehe Ebenhöch, Tammen (Anm. 12), besonders S. 172–174. 22 Entscheidend für eine solche Imagination durch die Träger:innen war natürlich die Kenntnis der in der frühneuzeitlichen Frömmigkeit populären Vorstellung von der Einbildung von Bildern oder Texten in das Herz der Gläubigen, indem sie entweder ins Herz gemalt oder aber geschrieben werden. Vgl. für das Motiv des Herzens als Leinwand Steffen Zierholz: Francisco Zurbaráns „Christus am Kreuz mit einem Maler“ als Metapher der Christusverähnlichung. In: 21. Inquiries into Art, History, and the Visual 1 (2020), S. 61–96. Die Vorstellungen über die Verinnerlichung

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Abb. 5: Michael Bommel, Halsuhr, Detail: Mater dolorosa.

Diese Verinnerlichung der äußeren Bilder, die durch das Objekt nahegelegt wird, gibt Aufschluss über die intendierte Funktion der Buchuhr im Rahmen der alltäglichen praxis pietatis. Selbstverständlich wäre die Betrachtung dieser Bilder noch ein möglicher Bestandteil der Nutzung – wahrscheinlicher ist allerdings, dass der Blick auf die äußeren Bilder durch ihre Verinnerlichung bis zu einem gewissen Grad obsolet wurde. Die Buchuhr wäre dann allerdings nicht schlechthin ‚überflüssig‘. Vielmehr käme ihr eine mnemonische Funktion zu, ist es doch naheliegend, dass die Buchuhr-Träger:innen bei jedem Signal der Uhr an die äußeren Bilder erinnert und zum Aufrufen der inneren Bilder bewegt wurden.23 Das heißt, dass die Andachts- und Gebetspraxis der Träger:innen idealerweise an die Signale der Uhr gekoppelt war und somit jede der 24 Stundenangaben des Tages das menschliche Herz zu Betrachtung und Meditation des

von Bildern gingen so weit, dass in den Herzen frommer Frauen bei der Obduktion angeblich eingeprägte Bildwerke gefunden wurden. Vgl. David Ganz: Gemalte Geheimnisse. Die Stigmatisierung Katharinas von Siena und ihre (Rück-)Übertragung ins Bild. In: Medialität des Heils im späten Mittelalter. Hg. von Carla Dauven-van Knippenberg, Cornelia Herberichs, Christian Kiening. Zürich 2009 (Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen 10), S. 83–110, hier S. 86 f. 23 Vgl. zur Deutung der Uhr als eines mnemotechnischen Apparats Berns, Sakralautomat (Anm. 6), S. 205–207.

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Abb. 6: Michael Bommel, Halsuhr, Zustand mit geöffnetem Rückdeckel.

Leidens Christi aufzurufen vermochte. Jedes akustische Signal der Uhr regte somit dazu an, sich in das eigene Herz ‚zurückzuziehen‘ und sich dort um die Zwiesprache mit Gott zu bemühen. Dies gilt in abgeschwächter Form auch für ein drittes Bild der Buchuhr, das sich im hinteren Deckel befindet (Abb. 6). Blätterten die Besitzer:innen an das Ende des aus zwei Ansichten bestehenden Inneren der Buchuhr oder wollten sie – und dies war regelmäßig notwendig – das hinten liegende Uhrwerk aufziehen, blickten sie auf eine Darstellung des dornengekrönten Haupts Christi, das sie, ähnlich wie das Ecce Homo-Bild auf der Außenseite, zum intimen Zwiegespräch mit dem leidenden Erlöser anregte. Das Antlitz Christi, das mit seiner Frontalität und porträthaften Darstellung in der Tradition der Vera Ikon steht, wurde hier mit Sicherheit aber nicht nur aufgrund seines Bezugs zur biblischen historia der Passion platziert. Denn Darstellungen des ‚wahren Bildes‘ Christi und verwandte Bildtypen wurden für gewöhnlich auch auf die eschatologische Schau des himmlischen Antlitzes Christi bezogen, d. h. mit der Schau Gottes, der visio facialis, assoziiert, die die Erlösten am Jüngsten Tag erwartet.24 Dass gerade 24 Vgl. Heike Schlie: Vera Ikon im Medienverbund. Die Wirksamkeit der Sakramente und die Wirkung der Bilder. In: Dauven-van Knippenberg, Herberichs, Kiening (Anm. 22), S. 61–82, hier S. 70–78 sowie Peter K. Klein: From the Heavenly to the Trivial. Vision and Visual Perception in Early and High Medieval Apocalypse Illustration. In: The Holy Face and the Paradox of

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dieses Bild auf die letzte Seite und damit an den Schluss der Buchuhr gesetzt wurde, die auf ihrem Titelblatt die Heilsgeschichte in verkürzter Form wiedergibt, ist daher nur konsequent, wird damit doch der unveränderliche Zustand am Ende der Heilsgeschichte visualisiert, nämlich die Schau Gottes in der postapokalyptischen Ewigkeit. Die Qualität dieser zukünftigen Schau wird neben dem direkten Blick, den Christus aus dem Bild heraus auf uns Betrachter:innen richtet, in besonderem Maße auch durch die technische Umsetzung des Bildes verdeutlicht: Da das Antlitz Christi im Gegensatz zu den anderen Bildern der Buchuhr nicht als monochrome Gravur, sondern als gemaltes Bild ausgeführt wurde, wirkt der Erlöser besonders präsent und ruft damit das Bibelwort nach 1Kor 13,12 auf: „Wir sehen jtzt durch einen Spiegel in einem tunckeln wort/ Denn aber von angesicht zu angesichte.“25 Obwohl sich die drei bisher besprochenen Bilder technisch unterscheiden, fällt an ihnen doch eine deutliche Gemeinsamkeit auf, nämlich dass sie alle durch die Suggestion von Zeitlosigkeit geprägt sind: Das Haupt Christi schwebt losgelöst von Körper und konkreter Historie vor einem dunklen Hintergrund; im Falle Mariens fiel die Wahl nicht auf die narrative Darstellung der Schmerzen der Muttergottes bspw. nach der Kreuzabnahme in Form der Beweinung, sondern auf die zeitlich nicht festgelegte Darstellung der Mater dolorosa. Selbst die historische Szene der Schaustellung Christi wird hier gewissermaßen enthistorisiert bzw. entzeitlicht, da Christus nicht von Häschern umgeben ist und auch nicht aktiv verspottet wird. Stattdessen rekurriert die gewählte Darstellungsform, die den sitzenden Christus in Isolation und in einem nicht biblisch fundierten Moment vor oder nach der Verspottung zeigt, auf die Bildtraditionen des Christus in der Rast oder des Schmerzensmanns. Auch diese lösen den Gottessohn aus dem historischen Passionsgeschehen heraus, um überzeitliche Bilder für die intime Andacht zu schaffen. Die Buchuhr, die einem im geöffneten Zustand die Menschheitsgeschichte vom Sündenfall bis zum Jüngsten Gericht sowie das Eingespanntsein der Menschheit in Geschichtlichkeit und Wandel komprimiert vor Augen stellt, bietet mit diesen drei Bildern somit eine Hilfestellung, um sich während der Andacht vom ständigen Lauf der Welt zu befreien, sich in eine überzeitliche Zweisamkeit mit Christus oder Maria zu begeben und vielleicht sogar die post-endzeitliche Ewigkeit zu antizipieren, die frei ist von Hektik und Veränderung. Diese Bilder, die als Andachtsangebote auf einem Zeitmesser angebracht wurden, stehen somit in der Tradition älterer AnRepresentation. Papers from a Colloquium held at the Bibliotheca Hertziana, Rome and the Villa Spelman, Florence, 1996. Hg. von Herbert L. Kessler, Gerhard Wolf. Bologna 1998 (Villa Spelman Colloquia 6), S. 247–278, hier S. 269–278. 25 Bibelstellen werden zitiert nach Martin Luther: Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrifft/ Deudsch/ Auffs new zugericht. Wittenberg 1545.

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dachtspraktiken, die es den Gläubigen ermöglichen sollten, mittels der Bildbetrachtung und spiritueller Übungen zumindest temporär schon im Diesseits den irdischen Verhältnissen zu entkommen und an der „als zeitlose Gegenwart Gottes verstandenen Ewigkeit“26 teilzuhaben. Wichtig zu betonen ist allerdings, dass dieser Fokus auf die Zeitlosigkeit nicht einherging mit einer Abwertung der Uhrzeit an sich, denn die Stundenangaben waren, wie zuvor ausgeführt, ein produktiver Teil der Andachtspraxis, da mit jedem Glockenschlag die verinnerlichten äußeren Bilder in Erinnerung gerufen werden konnten. Der Weg, der dem Menschen mit diesen Bildern gewiesen wird, ist somit nicht notwendigerweise ein Ausweg aus der Zeit per se, sondern aus der Mutabilität der Welt, wie sie auf dem Buchuhrtitelblatt im Zentrum des Ziffernblatts verbildlicht ist. Während die drei bisher besprochenen Bilder die Buchuhr-Besitzer:innen zur Suche und zur Erkenntnis Gottes in ihrem Inneren, d. h. in ihrem Herzen oder der Seele – als deren Sitz das Herz galt – anregten, ermunterten das Buchuhrtitelblatt und das teilweise sichtbare Uhrwerk zur Suche und Erkenntnis Gottes in der Natur bzw. seiner Schöpfung. Das Titelblatt etwa stellt den Betrachter:innen mit seinen Ziffernblättern die Ordnung des Kosmos vor Augen (s. o.) und verweist damit auf die Schöpfung nach „mas/ zal vnd gewicht“ (Sap 11,21) sowie, daraus folgend, auf den für diese Ordnung verantwortlichen Schöpfer. Ähnliches gilt – wiewohl auf den ersten Blick vielleicht weniger offensichtlich – auch für das Uhrwerk. Dieses wurde nicht aus Nachlässigkeit sichtbar gelassen: Der Akanthusblattrahmen, der sich um das Uhrwerk wie um eine Bildfläche legt, sowie die verzierten und fein ausgearbeiteten Einzelteile des Uhrwerks machen deutlich, dass dessen Sichtbarkeit explizit gewollt ist. Die Buchuhr-Besitzer:innen werden durch diese Inszenierung geradezu eingeladen, das Uhrwerk eingehend zu betrachten und zu studieren. Ähnliche Sichtbarmachungen des Uhrwerks finden sich in der Frühen Neuzeit häufig und können als stolze Gesten von Uhrmacher:innen gelesen werden, die die Komplexität ihres Werks vorführen wollten – nicht umsonst findet sich auch im Falle der hier besprochenen Halsuhr in der rechten oberen Ecke die Signatur des Uhrmachers. Im Falle einer Uhr, die sich durch ihre Bildausstattung explizit zum Andachtsmedium erklärt, verstanden Zeitgenoss:innen den Blick auf ein Uhrwerk aber mit Sicherheit nicht nur als selbstbewusste Geste der Künstler:in, war genau dieser Blick in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Theologie und Philosophie doch fest als Denkbild etabliert und erwies sich Jörg Jochen Berns

26 Trude Ehlert: Lebenszeit und Heil. Zwei Beispiele für Zeiterfahrung in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters. In: Zeitkonzeptionen, Zeiterfahrung, Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne. Hg. von ders. Paderborn u. a. 1997, S. 256–273, hier S. 273.

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zufolge beim Nachdenken über Schöpfung und Schöpfer als besonders einbringlich.27 Der vermutlich früheste Blick in und auf die Mechanik einer Uhr findet sich im 12. Jahrhundert bei dem jüdischen Philosophen Maimonides in seinem Führer der Unschlüssigen im Kontext von Überlegungen über die Möglichkeit, vor allem aber Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis im Vergleich zur göttlichen: Hier vergleicht Maimonides Gott mit dem Schöpfer einer Perpetuum mobile-artigen Wasseruhr, dem alle Teile dieser Uhr wie auch ihre vergangenen und zukünftigen Bewegungen a priori bekannt sind. Dieses göttliche Wissen unterscheide sich, so Maimonides, kategorial von dem der Menschen, die als Beobachter:innen eines solchen Mechanismus, der theoretisch unendlich viele Bewegungsvariationen besitzt, unmöglich die gleichen Kenntnisse erlangen könnten wie dessen Schöpfer.28 Ein ähnliches Argument findet sich im elften Kapitel von Nikolaus Cusanus’ De visione Dei (1453), in dem der „Entwurf [conceptus] einer vollkommensten Uhr“ genutzt wird, um über die Schöpfung sowie das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit zu reflektieren.29 Während der Schöpfer – Gott – den Entwurf der Uhr in Gänze kenne, erfahre der Mensch diesen erst und selbstverständlich nur unvollkommen in der zeitlichen Aufeinanderfolge einzelner Bewegungen und Schläge der realisierten Uhr.30 Grundlage für beide Gleichnisse war die im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit weitverbreitete Vorstellung von der Uhr als Analogon des von Gott geschaffenen Kosmos.31 Der Blick auf eine Uhr oder in ihr Räderwerk konnte entsprechend als Metapher für die Kontemplation und Betrachtung der Schöpfung gelesen werden, die dem Erkenntnisgewinn über Gott dienen kann – eines Gottes, der zwar nicht direkt 27 Vgl. Jörg Jochen Berns: Himmelsmaschinen und Höllenmaschinen. Ihre Bedeutung für die Maschinengeschichte und deren Ikonografie in der Frühen Neuzeit und im 20. Jahrhundert. In: Spuren der Avantgarde: Theatrum machinarum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich. Hg. von Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig. Berlin, New York 2008 (Theatrum Scientiarum 4), S. 66–91, hier S. 69; ders., Sakralautomaten (Anm. 6), S. 198 f. sowie Christiane Holm: Art. Uhr. In: Metzler-Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar 2008, S. 456–458, hier S. 456. 28 Vgl. Mose Ben Maimon: Führer der Unschlüssigen. Drittes Buch. Übersetzt und kommentiert von Adolf Weiß, Einl. von Johann Maier. Hamburg 1995 (Philosophische Bibliothek 184c), S. 126–129. 29 Vgl. Nikolaus von Kues: Textauswahl in deutscher Übersetzung. 3. De visione Dei – Das Sehen Gottes. Übersetzt von Helmut Pfeiffer. Trier 31985, S. 40–42. Vgl. dazu auch Donald F. Duclow: Cusanus’ Clock. Time and Eternity in De visione Dei. In: Akten des Forschungskolloquiums in Freising vom 8. bis 11. November 2012. Hg. von Walter Andreas Euler. Trier 2016 (Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 34), S. 135–146, hier S. 138–143. 30 Vgl. Cusanus (Anm. 29), S. 40 f. 31 Vgl. zum Thema der Uhr als Analogon des Kosmos Klaus Maurice: Die deutsche Räderuhr. Zur Kunst und Technik des mechanischen Zeitmessers im deutschen Sprachraum. Bd. 1: Text und Register. München 1976, S. 5–12.

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geschaut werden kann, sich aber in der Ordnung spiegelt, die in der Schöpfung sichtbar ist.32 Von Anfang an stand allerdings fest, dass dieses Wissen im Diesseits immer unvollständig bleiben müsse. Trotz dieses pessimistischen Ausblicks, dem zufolge der Pfad der Erkenntnis zwar eingeschlagen, aber zumindest zu Lebzeiten nicht bis zum Ende beschritten werden kann, bemühten sich Menschen aber immer wieder um den Erkenntnisgewinn aus der Schöpfung.33 Ein eindrückliches visuelles Beispiel dafür liefern Illustrationen zu Heinrich Seuses berühmter Uhr-Vision aus dem um 1330 verfassten Horologium Sapientiae. Im Prolog dieses Werks beschreibt Seuse in Person des Schülers der göttlichen Weisheit, wie ihm seine Meisterin in einer Vision das Horologium Sapientiae anhand einer Uhr offenbart habe.34 In einer 1448 entstandenen Illustration (Brüssel, KBR, Ms. 10981, fol. 4r) dieser Vision wird diese göttliche Offenbarung als Blick in eine seitlich geöffnete Uhr und auf ihr Uhrwerk visualisiert (Abb. 7). Gestisch stellt der hier ins Bild gesetzte Seuse einen Bezug zwischen dem Inneren der Uhr, auf das er mit der Rechten weist, und dem Anfang des geschriebenen Textes her, der sich direkt darunter anschließt und auf den er mit seiner Linken deutet. Der Text des Horologium Sapientiae, in dem sich Seuse um das Aufzeigen eines mystischen Wegs zu Gott bemüht, speist sich somit, so muss diese Geste gelesen werden, aus der durch den Blick ins Uhrwerk gewonnenen Erkenntnis, wobei das Uhrwerk hier wie bei Maimonides und Cusanus stellvertretend für die Schöpfung steht. Genau in dieser Tradition steht auch der Blick ins Uhrwerk der Halsuhr. Während uns auf dem Titelblatt die göttliche Ordnung in mehreren Zifferblättern präsentiert wird, erhalten wir beim Schauen auf das Uhrwerk – bildlich gesprochen – einen Blick ‚hinter die Fassade‘, d. h. in die Schöpfung hinein. Denkt man nicht nur metaphorisch, sondern ganz konkret über das Blicken in dieses Uhrwerk nach, stellt sich allerdings die Frage, wie produktiv dies als Praxis für die Buchuhr-Besitzer:innen im Kontext der alltäglichen Frömmigkeit gewesen sein könnte. Was wäre der geistliche Mehrwert der Betrachtung des Mechanismus? Es lässt sich festhalten, dass dieser Blick auf verschiedene Arten zur Reflexion über Gott motivierte: Ganz grundsätzlich wurden die Betrachtenden besonders durch die Künstlersignatur dazu verleitet, darüber nachzudenken, inwiefern sich in der Kunstfertigkeit des Uhrmachers Michael Bommel, der dieses komplexe Werk geschaffen hatte, die Kunstfertigkeit des Deus artifex bzw. Deus 32 Vgl. Maurice, Räderuhr (Anm. 31), S. 7. 33 Vgl. Irmgard Müsch: Der Blick auf die Natur als Gottesbeweis. Johann Jakob Scheuchzers ‚Kupfer-Bibel‘ (1731–35). In: Wahrnehmung der Natur, Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800. Hg. von Gabriele Dürbeck. Dresden 2001, S. 87–102 sowie Trepp (Anm. 15). 34 Vgl. Heinrich Seuse: Stundenbuch der Weisheit. Das ‚Horologium Sapientiae‘. Übersetzt von Sandra Fenten. Würzburg 2007, S. 2 f.

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Abb. 7: Heinrich Seuse: Horloge de sapience, 1448, Brüssel, Königliche Bibliothek Belgiens, Ms. 10981, fol. 4r.

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faber spiegelt.35 Damit eng verwandt ist der Gedanke an die Uhrmacher-Analogie, die sich schon bei Cicero findet: So, wie die komplexe Ordnung des Uhrwerks die Existenz eines intelligenten Uhrmachers voraussetzt, so setzt auch die Komplexität und Ordnung der Natur und des Kosmos einen intelligenten Schöpfer voraus, bei dem es sich im christlichen Weltbild natürlich um Gott handelt.36 Schließlich können die Buchuhr-Besitzer:innen durch den Blick auf und in dieses kleine Abbild des Kosmos motiviert werden, in die Natur – die in den vegetabilen Formen mancher Uhrwerkteile sogar präsent ist – oder in den Kosmos selbst zu blicken, um sich um die Erforschung und Entschlüsselung der dort sichtbaren Gesetze und Ordnung zu bemühen und somit nach Gott zu forschen.37 Die Begrenztheit der dabei zu erreichenden Erkenntnis bzw. die Feststellung, dass Gott im Diesseits letztlich unerreichbar bleibt, wird in der Halsuhr allerdings durch die Gegenüberstellung des Uhrwerks mit dem Christusporträt unterstrichen. Eine solche Kombination lässt sich als Kommentar zur Verwandtschaft beider Bilder lesen: So, wie das von einem Künstler oder einer Künstlerin gemalte Bild Christi auf ein Acheiropoieton zurückgeht, nämlich auf die nicht von Menschenhand, sondern von Gott geschaffene Vera Ikon, so ist auch das Uhrwerk als Spiegelung der göttlichen Schöpfung eine Art „acheiropoietische Maschine“.38 Vor allem visualisiert die Gegenüberstellung aber deutlich, dass Gott im Uhrwerk bzw. der Schöpfung, für das dieses stellvertretend steht, nur partiell sichtbar wird und erst nach dem Jüngsten Gericht wirklich geschaut werden kann. Die Gegenüberstellung stellt sich deshalb geradezu wie eine Illustration der bereits erwähnten Passage aus 1Kor 13,12 dar, folgt doch auf die Ankündigung der Schau Gottes a facie ad faciem die Aussage: „Jtzt erkenne ichs stücksweise/ Denn aber werde ich erkennen gleich wie ich erkennet bin.“39

35 Vgl. zur Analogie von Gott und Künstler Eyolf Østrem: Deus artifex and Homo creator. Art between the Human and the Divine. In: Creations. Medieval Rituals, the Arts, and the Concept of Creation. Hg. von Sven Rune Havsteen. Turnhout 2007 (Ritus et artes 2), S. 15–48. 36 Vgl. zur Uhrmacher-Analogie Maurice, Räderuhr (Anm. 31), S. 44–47. 37 Dieses Forschen, d. h. Versuche der Entschlüsselung der Natur, fand im 16. und 17. Jahrhundert auch explizit vor dem Hintergrund der apokalyptischen Naherwartung statt. Vgl. Trepp (Anm. 15), S. 60–77. 38 Auf die Verwandtschaft zwischen acheiropoietischen Bildern und der Uhr geht Berns, Himmelsmaschinen (Anm. 6), S. 67, ein. 39 Die Gegenüberstellung thematisiert umgekehrt auch das „absolute Sehen“ (visus absolutus) Gottes, siehe Cusanus (Anm. 29), S. 12. So nutzt Cusanus im selben Werk, in dem er den Entwurf einer Uhr als Denkbild nutzt (s. o.), ein Vera Ikon-ähnliches Gemälde des Antlitzes Christi, um über das Allsehen Gottes zu reflektieren. Vgl. ebd., S. 7–12.

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2. Uhren und ihre Vorbildfunktion für fromme Christ:innen: Johann Feinlers Geistliches Bet-Uhrlein Betrachtete man die buchförmige Halsuhr isoliert von anderen Medien der zeitgenössischen Andachts- und Frömmigkeitskultur, so wären die bisher gemachten Beobachtungen womöglich das Maximum an Interpretation, das sich im Blick auf das Objekt formulieren ließe. Die Buchuhr wurde allerdings innerhalb eines historischen Kontextes hergestellt und genutzt, in dem eine Vielzahl an anderen Medien – etwa die Druckgrafik, Gemälde und geistliche Texte – zeitgleich darum bemüht war, die Uhr für Andacht und Frömmigkeit nutzbar zu machen. Ein Genre dürfte dabei eine besondere Rolle gespielt haben, nämlich die Andachts- und Erbauungsliteratur: Hier hielt die Uhr zwar bereits seit dem 14. und 15. Jahrhundert mit dem zuvor erwähnten Horologium Sapientiae Heinrich Seuses und dem Horologium Devotionis bzw. Zeitglöcklein des Bruder Berthold Einzug;40 wirklich etabliert hat sie sich in der Erbauungsliteratur aber erst seit dem späten 16. Jahrhundert. Insbesondere im frühen 17. Jahrhundert und somit zeitgleich mit der Entstehung der buchförmigen Halsuhr, nimmt die Verwendung der Uhr durch Autor:innen geistlicher Literatur dann konfessionsübergreifend rapide zu. Sie begegnet entweder als Strukturgeberin, indem der Andachtsinhalt und, damit verbunden, oft auch die Andacht selbst der Uhr entsprechend nach den zwölf oder 24 Stunden des Tages gegliedert werden – bei solchen Texten spreche ich von Andachtsuhren41 –, oder aber unter verschiedenen Namen in den Titeln von Andachts- und Erbauungsbüchern, bspw. schlicht als ‚Uhr‘ (‚Vr‘ bzw. ‚Ur‘), ‚Uhrlein‘ (‚Ührlein‘), ‚Uhrwerck‘, ‚Horologium‘ oder ‚Zeiger‘

40 Zu Bruder Bertholds Zeitglöcklein und der Verbreitung des Werks lieferte Sabine Griese den bisher umfangreichsten Beitrag; vgl. dies.: Das Andachtsbuch als symbolische Form. Bertholds „Zeitglöcklein“ und verwandte Texte als Laien-Gebetbücher und -Bilder. In: The Mediation of Symbol in Late Medieval and Early Modern Times. Medien der Symbolik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Rudolf Suntrup, Jan R. Veenstra, Anne M. Bollmann. Frankfurt a. M. u. a. 2005 (Medieval to Early Modern Culture 5), S. 3–36. 41 Andachten, die sich in ihrem Aufbau nach der Uhr richten, wurden in der Forschung bisher unter verschiedenen Namen besprochen. Besonders häufig wird der auch in der Frühen Neuzeit gebräuchliche französische Begriff ‚horloge spirituelle‘ bzw. das deutschsprachige Äquivalent ‚geistliche Uhr‘ genutzt. Abhängig vom Andachtsinhalt finden sich in der Literatur aber auch Begriffe wie ‚Passionshorologium‘ sowie ‚Passions-‘ und ‚Leidensuhr‘. Eine Schwierigkeit dieser bisher üblichen Terminologie liegt darin, dass mit diesen Begriffen in der Regel zwei verwandte Andachtstypen gleichzeitig besprochen werden: nicht nur Andachten nach den Stunden der Uhr, sondern auch Tagzeitentexte, die ihren Inhalt nach den kanonischen Horen gliedern. Aus diesem Grunde habe ich mich entschieden, den Begriff ‚Andachtsuhr‘ zu verwenden. Vgl. zur Geschichte dieser Andachtsform, exemplarischen Untersuchungen einzelner Andachtsuhren sowie für Verweise auf ältere Literatur Schmidt (Anm. 6).

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(‚Seiger‘), oftmals auch in ihrer Funktion als ‚Wecker‘ oder ‚Weck-Uhr‘ oder in Form ihrer Zeitangaben mit den Worten ‚Stunde‘ oder ‚Horae‘. Ein charakteristisches Beispiel für diese Art der Erbauungsliteratur, bei dem sich der mechanische Zeitmesser im Titel, in der Struktur, aber auch auf inhaltlicher Ebene findet, ist das 1675 in Naumburg publizierte Geistliches Bet-Uhrlein des lutherischen Theologen und geistlichen Schriftstellers Johann Feinler.42 Dieses kleine, handliche Andachtsbüchlein ist eine in zwölf Kapitel unterteilte Sammlung von Gebets- und Andachtstexten sowie geistlichen Liedern. Obwohl sich die Anzahl der Kapitel der Vorrede zufolge explizit nach der Zwölfzahl der Stunden der Uhr richtet,43 handelt es sich beim Geistlichen Bet-Uhrlein jedoch nicht um einen klassischen Andachtsuhr-Text.44 Das Wort „Stunde“ bzw. „Stund“ findet sich im Geistlichen Bet-Uhrlein zwar zahlreich, bspw. in jeder Kapitelüberschrift, doch werden damit nicht die Stunden der Uhr, sondern bestimmte Momente bezeichnet, die im Alltag oder im Laufe des Lebens auftreten: Das Buch beginnt in den ersten Kapiteln mit Texten für täglich auftretende Ereignisse, etwa zur „Morgen- und Tag-“ sowie „Abend- und Nacht-Stunde“, bietet sodann erbauliches Material für regelmäßige Anlässe und Momente wie Kirchen-, Gottesdienst-, Fest-, Buß- und Not-Stunden, um schließlich im zwölften Kapitel mit einer Sammlung von Liedern und Gebeten für die „Kranckheit- und Sterbestund“ zu enden. Da diese ‚Stunden‘ gänzlich oder überwiegend unabhängig von den mechanischen, regelmäßigen Stunden der Uhr stattfinden, stellt sich die Frage, wieso Feinler die Uhr dennoch so prominent hervorhebt, indem er sie in den Titel aufnimmt und die Gliederung seines Buchs nach ihr ausrichtet. Sicherlich besteht hier ein Zusammenhang mit der bereits erwähnten Popularität des mecha42 Johann Feinler: Geistliches Bet-Uhrlein/ von zwölf Stunden/ das ist/ Gebet-Buch/ darinnen Zwölfferley Arten andächtiger Gebet/ Seufftzer/ Lieder/ Psalmen/ wie auch am Ende Die Süsse Jesus-Lust in acht geistreichen Liedern über das hohe Lied Salomonis zu befinden / Glaubigen Christen […] zu nützlichem Gebrauch gestellet/ und mit Kupffern gezieret […]. Naumburg 1675 (VD17 23:332546F). Feinlers Geistliches Bet-Uhrlein wird bisher nur einmal in der Sekundärliteratur erwähnt und zwar im Vergleich mit einem geistlichen „Uhrwerck“ Johann Gerhards. Vgl. Johann Anselm Steiger: Johann Gerhard (1582–1637). Studien zu Theologie und Frömmigkeit des Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997 (Doctrina et pietas, Abt. 1, Johann Gerhard-Archiv 1), S. 137. 43 Vgl. Feinler (Anm. 42), fol. A 8v. 44 Das Geistliche Bet-Uhrlein ist zwar kein klassischer Andachtsuhr-Text, enthält aber einen solchen im fünften Kapitel, das Texte und Lieder für die „Fest- und Fasten-Stunde“ bietet: Als Text für die Zeit vom Gründonnerstag auf den Karfreitag findet sich dort ein Passions-Uhrlein als Andachtsangebot, das die Passion Christi vom Letzten Abendmahl bis zur Grablegung den 24 Stunden des Tages entsprechend gliedert. Vgl. Feinler (Anm. 42), S. 335–347. Dass diese Textgattung Feinler nicht fremd war, belegt außerdem eine von ihm geschaffene Andachtsuhr, die ein Jahr vor dem Escheinen des Geistlichen Bet-Uhrleins publiziert wurde, siehe ders.: Krancker Christen Lehr und Trost-ührlein/ Oder Erquick-Stunden […]. Leipzig u. a. 1674 (VD17 7:686312L).

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nischen Zeitmessers in der Andachts- und Erbauungsliteratur – alles Uhrbezogene war im 17. Jahrhundert im Trend.45 Zudem steht Feinler auch in einer älteren Tradition, trägt doch schon Seuses Horologium Sapientiae die Uhr im Titel und hat (möglicherweise den Stunden der Uhr entsprechend) 24 Kapitel, ohne dabei jedoch ein klassischer Andachtsuhr-Text zu sein. Darüber hinaus hat Feinlers Nutzung der Uhr aber auch andere, tiefergehende Gründe, die es im Folgenden durch eine Analyse der grafischen Ausstattung sowie einiger erläuternder Texte herauszuarbeiten gilt. Schlägt man das Büchlein auf, wird man auf dem Titelblatt und dem Frontispiz durch eine Kombination von Bildern in das Werk eingeführt, deren Zusammenhang nicht unmittelbar offensichtlich erscheint (Abb. 8). Auf der Titelseite findet sich direkt oberhalb der Titel- und Verlagsangaben eine Darstellung des Jüngsten Gerichts, die durch eine Wolkenbank in zwei Register aufgeteilt wird. Christus thront als Weltenrichter auf einem Regenbogen und visualisiert mit seiner Armhaltung das Fällen des Urteils. Flankiert wird er von zwei Posaunen blasenden Engeln, die sich mit ihren Instrumenten in die darunterliegende irdische Sphäre hinabbeugen. In einer durch sanfte Hügel geprägten Landschaft treibt dort rechts eine gehörnte Teufelsfigur die Verdammten in den weit aufgerissenen Höllenrachen, während sich links ein Engel schützend vor der Gruppe der Erlösten positioniert hat. Der Umstand, dass sich diese Darstellung des Jüngsten Gerichts direkt auf dem Titelblatt und damit an jener Schwelle befindet, die in das Buch hineinführt, beeinflusst die Perspektive der Buchbesitzer:innen auf den Inhalt des Geistlichen Bet-Uhrleins grundlegend. Denn selbst ein einfaches Morgen- oder Abendgebet findet nun mindestens unterschwellig mit Blick auf die Endzeit statt und wird auf diesem Wege in einen eschatologischen Rahmen eingebettet. Die prominente Position unterstreicht gleichzeitig aber auch die Bedeutung, die diesem zukünftigen Ereignis offenbar in Feinlers Denken zukam. In der Tat benennt er in der Vorrede das nahende Jüngste Gericht sogar explizit als Motivation für die Schaffung des Büchleins: „Also habe ich diese Bet-Uhrlein/ (welches ich gläubigen Christen zu nützlichen Gebrauch in dieser letzten bösen Zeit/ welche gewiß die letzte Stunde ist/ verfertiget)“.46 Das gegenüberliegende Frontispiz lenkt den Blick der Betrachter:innen aus der Zukunft in ihre Gegenwart: In einem Streifen am unteren Bildrand findet sich die Darstellung einer Stadt, die aufgrund der markanten Türme höchstwahrscheinlich als Naumburg – und somit als Publikationsort des Geistlichen 45 Vgl. bspw. die Auflistung von Andachtsuhr-Texten bei Schmidt (Anm. 6), S. 217–223, von denen der überwiegende Teil im 17. Jahrhundert publiziert wurde; siehe auch Berns, Vergleichung (Anm. 6), S. 134–138. 46 Siehe Feinler (Anm. 42), fol. A 8v–9r.

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Abb. 8: Johann Feinler: Geistliches Bet-Uhrlein […]. Naumburg 1675, fol. 1v und 2r: Titelblatt und Frontispiz.

Bet-Uhrleins – identifiziert werden kann.47 Der Bereich darüber ist in der Vertikalen zweigeteilt. Rechts blicken wir auf eine mit Gewicht angetriebene Zimmeruhr, die an einer auf der vordersten Bildebene platzierten Wand befestigt ist. Dabei fällt auf, dass die Uhr seitlich geöffnet ist und dadurch – ähnlich wie die buchförmige Halsuhr im Germanischen Nationalmuseum – den Blick auf ihr Räderwerk ermöglicht. Zusätzlich fallen zwei Inschriften auf der Vorderseite ins 47 Diese Identifikation wird auch dadurch nahegelegt, dass sich die Kartusche mit der Angabe des Verlagsortes auf dem gegenüberliegenden Titelblatt signifikanterweise auf gleicher Höhe befindet wie die Stadtansicht.

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Auge. Die oberhalb des Ziffernblatts verorteten Paulus-Worte „[W]ir wissen die Zeit das die Stunde ist da“ (Röm 13,11) künden in ihrem biblischen Kontext von der nahenden Wiederkunft Christi und werden gefolgt von der Aufforderung, nicht schlafend, d. h. sündig und nachlässig, sondern wach, also „ehrbar leben[d] wie am Tage“ (Röm 13,13), auf die Errettung durch Christus und das kommende Heil zu warten. Der unterhalb des Ziffernblatts platzierte Satz „[W]achet und betet die stund ist hie“ (Mt 26,41.45) gibt die Worte wieder, die Christus im Garten Gethsemane an seine Jünger richtete, und kann in diesem Kontext auf ähnliche Weise gedeutet werden wie das Paulus-Zitat. Derartige Warnungen vor dem baldigen Gericht und damit einhergehende Mahnungen zu Umkehr, Buße und christlichem Handeln sind in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen geistlichen Literatur allgegenwärtig; die von Feinler gewählten Zitatausschnitte geben den Bibeltext aber so wieder, dass durch die Formulierungen „die Stunde ist da“ und „die Stunde ist hie“ das Anbrechen des Jüngsten Tages unmittelbar an die Gegenwart der Betrachter:innen herangeholt wird – Nichthandeln ist somit keine Option. Im Bildfeld links von der Uhr-Darstellung blicken wir auf einen Mann in zeitgenössischer Kleidung, der sich in einer freien, hügeligen Landschaft befindet. Er ist auf sein linkes Knie gesunken, hat die Hände aneinandergelegt und wird uns hier somit offensichtlich beim Verrichten des Gebets oder der Andacht gezeigt. Seine Darstellung als Rückenfigur im Bildvordergrund48 und seine Position direkt am linken Bildrand machen ihn zu einer idealen bildinternen Identifikationsfigur, denn so, wie sich die Betrachter:innen des Frontispizes nach dem Aufschlagen des Buches gerade erst in das Werk ‚hineinbegeben‘, so hat auch er die liminale Grenze zum Buchinhalt anscheinend soeben erst ‚übertreten‘, um dann unmittelbar auf sein Knie zu sinken. Umso erstaunlicher ist, dass innerhalb des Bildraums undefiniert bleibt, worauf sich sein leicht nach oben gewandter Blick richtet, da wir nicht gezeigt bekommen, was er in dem Naturraum, in dem er sich befindet, sieht, und damit im Unklaren darüber gelassen werden, was ihn zum Gebet oder zur Andacht an diesem relativ ungewöhnlichen Ort motiviert hat. Seine Blickrichtung ist allerdings so signifikant, dass sie als Aufforderung gelesen werden muss, sein Schauen über Bild- und Buchgrenzen hinweg in Betracht zu ziehen: Folgen wir seinem Blick, landen wir zuerst im angrenzenden Bildbereich bei der Zimmeruhr. Dass der Mann diese tatsächlich sehen kann, ist mit der innerbildlichen Raumlogik zwar nicht vereinbar, allerdings wird diese auf dem Frontispiz auch gezielt gebrochen, indem die Verbindung zwischen dem Naturraum und der Wand mit Zimmeruhr durch die Hand Gottes hergestellt wird. Diese bricht aus den Wolken oberhalb des Mannes 48 Vgl. zum Motiv und der Funktion der Rückenfigur in der Kunst Margarete Koch: Die Rückenfigur im Bild. Von der Antike bis zu Giotto. Recklinghausen 1965.

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hervor, reicht mit dem Zeigefinger über die Bildmitte hinweg und deutet direkt auf die Uhr. Zusätzlich dazu ist der Blick über den Falz hinweg zu bedenken, denn im aufgeschlagenen Zustand des Büchleins entsteht der Eindruck, als blicke der Mann auf die Darstellung des Jüngsten Gerichts auf der gegenüberliegenden Titelseite – eine Beziehung, die auch durch die karge, hügelige Landschaft nahegelegt wird, die beide Bildräume prägt. Wie schon im Falle der Uhr ein direkter Blick nicht möglich ist, würde die Figur auch das Jüngste Gericht allerdings nicht mit ihren Augen, sondern lediglich im Geiste, d. h. in der Imagination erblicken. Der im Bild undefiniert gelassene Blick des knienden Mannes führt somit zu einer Pluralität an möglichen Deutungen. Sieht er einfach ‚etwas‘ in der Natur, schaut er auf die Uhr, erblickt er das Jüngste Gericht – oder alles davon gleichzeitig? Auf diesen Auftakt, der durch das enge Zusammenspiel von Frontispiz und Titelblatt geprägt ist, folgen im Geistlichen Bet-Uhrlein vierzehn ganzseitige Grafiken, die über das Werk verteilt sind. So wird jedes der zwölf Kapitel durch ein Bild eingeleitet, das verschiedene Personen, mal isoliert und mal als Gruppe, beim Verrichten des Gebets zeigt, wobei das Dargestellte stets mit dem jeweiligen Thema des folgenden Kapitels korrespondiert. Eine dreizehnte Grafik findet sich innerhalb des fünften Kapitels, das der „Fest- und Fasten-Stunde“ gewidmet ist. Hier leitet eine Darstellung des Gekreuzigten samt Adorantin eine längere Sammlung von Passionstexten ein und betont durch diese prominente visuelle Hervorhebung die besondere Stellung, die Feinler der Betrachtung des Leidens Christi einräumt (Abb. 9). Zwischen den Personen, die in diesen dreizehn Bildern beim Gebet und bei der Andacht gezeigt werden, besteht keine direkte Verwandtschaft, da sie sich in unterschiedlich gestalteten Räumen befinden, mal männlichen, mal weiblichen Geschlechts sind und verschiedenen Berufsständen und sozialen Gruppen angehören. Eine auffällige Gemeinsamkeit zwischen den Grafiken besteht allerdings, denn in allen Bildräumen – und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um Wohn-, Kirchen- oder Außenräume handelt – findet sich an der einen oder der anderen Stelle eine prominent ins Bild gesetzte Uhr: In der Grafik zum ersten Kapitel etwa hängt eine große, mit Gewicht angetriebene Wanduhr hinter dem Kruzifix, vor dem ein Mann sein morgendliches Gebet verrichtet (Abb. 10); im Bild des darauffolgenden Kapitels ist eine ähnliche Uhr innerhalb des Schlafzimmers einer bei der Abendandacht gezeigten Frau angebracht (Abb. 11); die Uhr findet sich in der dritten Grafik an der Wand rechts hinter dem Pfarrer (Abb. 12), taucht in der vierten Grafik in Form eines monumentalen Ziffernblatts oberhalb einer Kirchenempore auf (Abb. 13) usw.49 49 In fast allen Grafiken handelt es sich dabei um Räderuhren. Lediglich in der Grafik zum neunten Kapitel („Nahrungs- und Haußhalts-Stund“) findet sich eine Sonnenuhr (Abb. 15).

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Abb. 9: Johann Feinler: Geistliches Bet-Uhrlein […]. Naumburg 1675, S. 331.

Eine Ausnahme von dieser Regel stellt die bisher nicht erwähnte vierzehnte Grafik dar (Abb. 14). Diese steht am Schluss des letzten Kapitels und zugleich am Anfang von acht geistlichen Liedern „[u]ber das Hohe Lied Salomonis […]. Worinnen JEsus sich mit seiner geliebten Braut/ einer gläubigen Seele/ und sie sich wiederum mit demselben ergetzet und belustiget“. An der Scharnierstelle zwischen diesen beiden Texten findet sich die Darstellung einer von der Erde in den Himmel zu Christus emporschwebenden Seele, die nicht nur einer leicht unbeholfen und im Vergleich mit Christus machtlos wirkenden Teufelsfigur

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Abb. 10: Johann Feinler: Geistliches Bet-Uhrlein […]. Naumburg 1675, S. 1.

entkommen ist, sondern offenbar auch der Uhr, denn bemerkenswerterweise fehlt hier der mechanische Zeitmesser im Bild.50 Diese im Vergleich mit den anderen Bildern so auffällige Leerstelle suggeriert eine gewisse Entzeitlichung, die auf zwei Weisen gelesen werden kann, die einander allerdings nicht ausschließen. Betrachtet man die Grafik primär als Abschluss der Gebetstexte und Lieder des zwölften Kapitels, die den Menschen in Krankheit und Tod begleiten sollten, und nimmt man die Anwesenheit von Teufel und Posaunenengel ernst, liegt der Gedanke nahe, dass die Buchbesit50 Es fällt auf, dass genau in dem Bild, in dem die Uhr fehlt, die Sonne und ihre Strahlen sowie die im Kreis darum angeordneten Cherubköpfe in ihrer formalen Anordnung an ein Zifferblatt erinnern. Die Uhr als Abbild des Kosmos wird hier somit durch ein reduziertes Bild der Himmelsphäre samt Engelreigen ersetzt.

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Abb. 11: Johann Feinler: Geistliches Bet-Uhrlein […]. Naumburg 1675, S. 72.

zer:innen dazu aufgerufen waren, sich in die dargestellte Seele hinein zu imaginieren, und zwar konkret in den Moment nach dem Tode. Dies wäre beim Durchleben einer schweren Krankheit bzw. kurz vor dem Eintritt des Todes ein besonders tröstlicher Gedanke, der bei der Überwindung der Todesangst hilfreich sein konnte. Begreift man die Grafik hingegen als Einleitung der sich anschließenden acht Lieder, die bereits durch ihren Titel auf das Hohelied und eine mystisch geprägte sponsus-sponsa-Tradition verweisen,51 kann die dargestellte

51 Vgl. zur Brautmystik und weiterführender Literatur Peter Dinzelbacher: Art. Brautmystik. In: Wörterbuch der Mystik. Stuttgart 1989, S. 71 f. sowie Marianne Heimbach-Steins: Art. Brautsymbolik II: Brautmystik. In: Lexikon für Theologie und Kirche3 2 (1994), Sp. 665 f.

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Abb. 12: Johann Feinler: Geistliches Bet-Uhrlein […]. Naumburg 1675, S. 124.

Szene der Vereinigung der Seele mit Christus selbstverständlich auch als Visualisierung eines besonders intensiven Andachtserlebnisses gedeutet werden. Dargestellt wäre in diesem Fall eine die Ewigkeit vorkostende Zweisamkeit der Seelen der Buchbesitzer:innen mit Christus als Bräutigam, d. h. eine Vereinigung, die, wenn auch eingeschränkt, bereits zu Lebzeiten möglich ist. Unabhängig davon, welche der beiden Lesarten die Buchbesitzer:innen nun präferierten: Wie bei den Bildern der zuvor besprochenen buchförmigen Halsuhr, würde auch hier durch die Entzeitlichung suggeriert, dass Uhr und Uhrzeit sowie die damit assoziierten weltlichen Verhältnisse in der post- oder auch prä-apokalyptischen Zweisamkeit der Seele mit Christus keine Rolle (mehr) spielen.

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Abb. 13: Johann Feinler: Geistliches Bet-Uhrlein […]. Naumburg 1675, S. 247.

Obwohl auf diesem Wege ein zeitloser Zustand und der Weg dorthin aufgezeigt werden, bleibt die Uhr auch im Geistlichen Bet-Uhrlein allgegenwärtig, da der Mensch – wenn man den Bildern im Buch folgt – auf seinem Weg durch den Alltag bis hin zum Tod durchgehend von dem Zeitmesser begleitet wird. Für diese auffällige Omnipräsenz in den Grafiken gibt es mindestens drei Erklärungen: Natürlich können die dargestellten Uhren im traditionellen Sinne als wiederkehrende Erinnerung an die knappe Lebenszeit gedeutet werden, und ver-

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Abb. 14: Johann Feinler: Geistliches Bet-Uhrlein […]. Naumburg 1675, S. 745.

mutlich ist dies als eine Lesart auch intendiert.52 Ein zweiter Grund könnte in der zuvor angesprochenen Vorstellung liegen, der zufolge die Uhr als Analogon des Kosmos bzw. der Schöpfung zu betrachten ist, in der nach Gott geforscht werden kann. Dafür sprechen das gezielt sichtbar gelassene Uhrwerk auf dem

52 Vgl. zur Uhr als Memento Mori-Motiv die Sammlung von Beispielbildern bei Alfred Chapuis: De Horologiis in Arte. L’Horloge et la Montre à travers les Ages, d’après les Documents du Temps. Lausanne 1954, S. 50–71.

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Abb. 15: Johann Feinler: Geistliches Bet-Uhrlein […]. Naumburg 1675, S. 554.

Frontispiz und die bereits erwähnte Tradition, in der der Blick in das Uhrwerk steht. Nahegelegt wird diese Lesart aber auch durch die auffälligen Parallelen vieler Natur- und Tierdarstellungen innerhalb der Grafiken zu vergleichbaren Motiven in der geistlichen Emblematik, in der der Suche nach Gott in seiner Schöpfung eine zentrale Bedeutung beigemessen wird.53 Viel wichtiger ist aller53 Schon der dreiteilige Aufbau der Bildseiten spricht für eine Nähe der Grafiken zur Emblematik. Zwar wird die klassische, oft enigmatische inscriptio hier durch Kapiteltitel ersetzt, die pictura im Zentrum des Blatts und die subscriptio (bestehend aus einem Bibelzitat in einer Kartusche darunter) folgen allerdings dem klassischen Aufbau eines Emblems. Zusätzlich fallen bei den Tier- und

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dings ein dritter Grund, den Feinler sogar explizit benennt. Schon in der Vorrede vergleicht er das Gebet mehrmals mit einer Uhr: So, wie die Uhr einen Kunstmeister habe, der sie erschuf, so habe auch das Gebet seinen Meister, nämlich Christus; wie die Uhr ein Kunststück sei, so sei auch das Gebet ein eben solches, und wie die Uhr einen Antrieb habe, so werde auch das Gebet „gangbar gemacht durch die innerliche Bewegung des Heiligen Geistes“. 54 Um einiges konkreter wird diese Analogie von Uhr und Gebet allerdings erst auf der letzten Seite des Buchs. Dort findet sich nämlich eine „Erklärung des Kupffer-Titulus“, in der Feinler schreibt: Ein künstlich zugerichte Uhr Ist des Gebets Bild und Figur: Die Stücke dessen groß und klein Des Gbets Eigenschafften seyn.55

Hierauf folgt die Konkretisierung: Das Gebet soll geschehen nach dem Bild Der Unruh: Hertzlich. Der Feder: Hurtig. Der Räder: Ordentlich. Des 1. Gewichts: Gläubig. Des 2. Gewichts: Beständig. Der Stricke: Gehorsamlich und demütiglich. Des Glöckleins: Deutlich. Des Hammers: Gedultig. Der Weiser-Tafel: Täglich und stündlich. Des Weisers: Weißlich.56

Es ist somit, folgt man dieser Erklärung, nicht in erster Linie eine Andacht nach den Stunden der Uhr, die durch die wiederholte Verwendung des Uhr-Motivs angeregt werden soll (obwohl die stündliche Andacht explizit erwähnt wird), sondern eine Andacht, in der sich Christ:innen ‚wie eine Uhr‘ zu verhalten haben. Die Uhr und ihre Mechanik werden somit zu einem Vorbild erklärt, das Christ:innen im Gespräch mit Gott zu imitieren haben. Dieser in der „Erklärung des Kupffer-Titulus“ ausformulierten Aufforderung wird auf dem Frontispiz besonderer Nachdruck verliehen, da Gott hier selbst

Naturdarstellungen motivische und inhaltliche Ähnlichkeiten auf. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Emblematik und dem Aspekt des Verweischarakters der Schöpfung etwa Michael Schilling: Imagines mundi. Metaphorische Darstellung der Welt in der Emblematik. Frankfurt a. M. u. a. 1979. 54 Feinler (Anm. 42), fol. A 8r. 55 Ebd., s. p. (Rectoseite der letzten Buchseite). 56 Ebd.

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mit seiner Hand auf die Uhr weist und damit die Vorbildfunktion derselben konstatiert. Diese Geste war für die Buchbesitzer:innen, die mit der „Erklärung“ vertraut waren, demnach nicht nur als Hinweis auf die oberhalb und unterhalb des Ziffernblatts platzierte Mahnung vor dem baldigen Gericht lesbar, sondern auch als direkte göttliche Aufforderung, beim Gebet auf die Uhr zu achten und sie zu imitieren. Der in die Andacht versunkene Mann, der unterhalb der Hand Gottes verortet ist, kann in diesem Sinne als ‚idealer Gläubiger‘ gedeutet werden, der dieser Aufforderung nachkommt. Unterwegs in der Natur und außerhalb einer Stadt, in der die Turmuhren – eine solche ist in der Stadtansicht darunter sogar zu sehen – oder Zimmeruhren die Uhrzeit anzeigen könnten, sinkt er hier ohne äußeren Grund aus einer inneren Regung heraus auf sein Knie und beginnt mit der Andacht. Ähnlich handeln auch einige der Figuren in den nachfolgenden Bildern. In der Grafik zum dritten Kapitel etwa, das Gebetstexte und Lieder für verschiedene Amtsinhaber und Stände („Amts- und Standes-Stunde“) enthält, lassen Bauer, Fürst und Pastor alles ruhen und begeben sich, ohne hierbei auf die Standesunterschiede zu achten, nebeneinander zum gemeinsamen, gleichzeitig vollzogenen Gebet auf die Knie (Abb. 12). Auch in der Grafik zum neunten Kapitel, das den „Nahrungs- und Haußhalts-Stund[en]“ gewidmet ist, wartet der dargestellte Bauer, der gerade mit dem Pflügen des Ackers beschäftigt war, nicht, bis die Arbeit beendet ist, sondern unterbricht seine Tätigkeit mittendrin, um auf dem freien Feld zu beten – die in der Kartusche am unteren Bildrand vermerkte Forderung „ORA et LABORA“ wird von ihm somit unmittelbar umgesetzt, mithin Arbeit und Gebet verbunden (Abb. 15). Aufforderungen, die Uhr bei der Andacht und beim Gebet zu imitieren, wie sie im Geistlichen Bet-Uhrlein formuliert werden, finden sich nicht erst bei Feinler. Berns hat vor allem am Beispiel der ‚Uhr-Kapitel‘ in Friedrich Spees Güldenem Tugendbuch, aber auch anhand von Georg Philipp Harsdörffers Hertzbeweglichen Sonntagsandachten sowie Texten anderer Autoren eindrücklich gezeigt, dass die Automatisierung und Mechanisierung von Andacht und Gebet durch das Imitieren von Uhren – mit dem Ziel, ein „vhrwercklein Gottes“57 zu werden – sowie die damit einhergehende Vorstellung des ‚Gläubigen als Uhr‘ konfessionsübergreifend populäre Motive in der Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts waren.58 In der Regel handele es sich dabei, so Berns, um Versuche, die Beschränkungen des postlapsarischen Körpers zumindest teilweise zu überwinden.59 Ohne Unterbrechung und ohne Einschränkung durch Müdigkeit oder Alltag sollte demnach das Herz bzw. der Herzschlag geistlich genutzt und 57 Friedrich Spee: Güldenes Tvgend-BVch, das ist/ Werck vnnd übung der dreyen Göttlichen Tugenden. deß Glaubens, Hoffnung, vnd Liebe […]. Köln 1649 (VD17 23:638849C), S. 584. 58 Vgl. Berns, Vergleichung (Anm. 6) sowie ders., Technikandacht (Anm. 6). 59 Vgl. Berns, Vergleichung (Anm. 6), S. 106–108 und S. 127–134.

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der Mensch somit in die Lage versetzt werden, Gott engelsgleich zu loben – das unermüdlich gerufene „[h]eilig/ heilig/ heilig“ (Jes 6,3) der Engel wurde dabei zum Vorbild.60 Feinlers Geistliches Bet-Uhrlein steht in der Tradition eben dieser Erbauungsliteratur, wobei in seinem Fall die Aufforderung, sich beim Gebet an einer Uhr zu orientieren, explizit mit dem Verweis auf das Jüngste Gericht geschieht: Auf der Doppelseite aus Frontispiz und Titelblatt wird das Weltende in direkter Nachbarschaft zur Uhr dargestellt; die beiden Bibelzitate auf der Uhr verweisen mit Dringlichkeit auf das baldige Ende, und Feinler selbst schreibt, wie bereits erwähnt, dass seine Überzeugung, in der „Letzten bösen Zeit [zu leben]/ welche gewiß die letzte Stunde ist“, ihn zur Konzipierung des Geistlichen Bet-Uhrleins motivierte.61 Bevor allerdings darauf eingegangen wird, wie dieser enge Bezug von Mechanisierung und Endzeiterwartung bei Feinler zu deuten ist, soll zunächst ein erneuter Blick auf die eingangs behandelte Halsuhr geworfen werden.

3. Imitatio horologii Das in der Andachts- und Erbauungsliteratur formulierte Ideal, wonach sich fromme Christ:innen an einer Uhr und ihrer Mechanik orientieren können oder sollen, weitet das Potential für die Nutzung von Uhren in der alltäglichen Frömmigkeit aus. Wurde die buchförmige Halsuhr von ihren Besitzer:innen, wie vorgesehen, wirklich um den Hals getragen, befanden sich nicht nur die Bilder auf den Buchdeckeln, sondern auch die Mechanik der Uhr nah am eigenen Herzen. Auf den Umstand, dass das zur Mechanik gehörende Schlagwerk mit seinen regelmäßigen Stundenangaben die Herzen der Buchuhr-Träger:innen mit jedem Glockenschlag dazu motiviert haben dürfte, sich in der Andacht nach dem von ihm vorgegebenen Rhythmus zu richten, wurde bereits hingewiesen. Zusätzlich dürfte aber auch die Uhrwerkshemmung signifikant auf die Träger:innen eingewirkt haben. Zumindest akustisch, d. h. in Form des technisch unvermeidbaren Tickens der Uhr, wurden sie nämlich von einem gleichmäßigen und nicht nur stündlich, sondern permanent präsenten Rhythmus durch den Alltag begleitet.62 Dieses Ticken konnte, ähnlich wie die Stundenglocke, natürlich an die äußeren Bilder der Uhr erinnern und deren Aufrufen im Herzen befördern – mit dem 60 Vgl. ebd., S. 104–108. 61 Vgl. Feinler (Anm. 42), fol. A 8v–9r. 62 Für Überlegungen zur Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit der Uhrwerkshemmung vgl. Irmgard Müsch: Mehr als ein Taktgeber. Eine Sound Study der Uhrwerkshemmung. In: Klang – Kontakte. Kommunikation, Konstruktion und Kultur von Klängen. Hg. von Anna Symanczyk, Daniela Wagner, Miriam Wendling. Berlin 2016 (Schriftenreihe der Isa-Lohmann-Siems-Stiftung 9), S. 137–154.

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Ziel, sich nicht nur stündlich, sondern permanent um die Zweisamkeit mit Christus zu bemühen bzw. für diese bereit zu sein.63 Das Ticken konnte möglicherweise aber auch mehr leisten, denn die gleichmäßige Bewegung der Hemmung wurde schon im 14. Jahrhundert auf den Menschen und seinen Herzschlag bezogen: So, wie die Uhr einen regulierenden Mechanismus (die Hemmung) für ihr Funktionieren benötige, bedürften auch der Mensch und sein Körper – so die Idee – der Regulierung in Form der Mäßigung (temperantia) bedürfen.64 Diese Vorbildfunktion behielt die mechanische Regelmäßigkeit der Uhrwerkshemmung auch im 17. Jahrhundert bei,65 was nicht zuletzt durch Feinlers zuvor zitierte Aufforderung belegt wird, dass das Gebet der Unruh entsprechend „Hertzlich“ stattzufinden habe.66 Was aber geschah nun, wenn der Vergleich der Uhrhemmung mit dem menschlichen Herzen nicht nur in Textform formuliert wurde, sondern die Träger:innen der buchförmigen Halsuhr die in der Literatur als vorbildlich beschriebene Bewegung der Hemmung physisch in unmittelbarer Nähe zum eigenen Herzen erlebten?67 Wären sie dann nicht, wie Caspar Netschers eingangs erwähnte Dame mit einer Uhr, dazu motiviert worden, das Ticken mit ihrem Herzschlag in Bezug zu setzen? Und wäre dann nicht auch der Versuch naheliegend gewesen, den eigenen Herzschlag an diese gleichmäßige Ordnung anzugleichen – insbesondere, wenn den Uhrbesitzer:innen zeitgenössische Texte bekannt waren, die eine Imitation der Uhr als Ideal formulierten? Mit diesen Fragen soll nicht suggeriert werden, dass das Herz faktisch mit der Taktfrequenz der Uhrwerkshemmung synchronisiert werden konnte. Vielmehr gilt es die Aufmerksamkeit auf den Umstand zu richten, dass die Buchuhr-Träger:innen physisch mit mehreren gleichmäßigen Rhythmen konfrontiert waren, um deren Verinnerlichung sie sich – ähnlich wie im Falle der äußeren Bilder auf der Uhr (s. o.) – hätten bemühen können. Dabei muss betont werden, dass es sich beim Ticken der Uhr und ihren regelmäßigen Stundenangaben nicht um 63 Vgl. für ähnliche Vorstellungen in Spees Güldenem Tugendbuch die Ausführungen von Berns, Vergleichung (Anm. 6), S. 121–127. 64 Vgl. dazu Maurices Ausführungen über die Verwendung der Uhr in Christine de Pisans Épître d’Othéa sowie Jean Froissarts Gedicht L’Horloge amoureuse; Maurice, Räderuhr (Anm. 31), S. 7–9. 65 Vgl. die Ausführungen zu Friedrich Spee bei Berns, Vergleichung (Anm. 6), S. 104 f.; Holm (Anm. 27), S. 456. 66 Wie Anm. 55. 67 Bereits Berns, Vergleichung (Anm. 6), S. 127, geht davon aus, dass gerade die Erfindung und Verbreitung tragbarer Uhren und die damit einhergehende Wahrnehmbarkeit des Uhrtickens in unmittelbarer Nähe zum Körper die Grundvoraussetzungen waren für die von Spee im Güldenen Tugendbuch ausformulierten erbaulichen Phantasien, denen zufolge der Mensch in der Andacht mit Hilfe seines Herzens uhr- und engelsgleich werden konnte. Erst dieses physische Erleben habe den „Wettstreit von Uhrschlag und Herzschlag“ (ebd.) denkbar gemacht.

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beliebige Rhythmen handelt. Als Modell und Abbild des Kosmos konnte die Uhr mit allen von ihr wahrnehmbar gemachten und erzeugten Ordnungen auf die kosmische Harmonie verweisen. Im Fall der regelmäßigen Bewegung der Uhrwerkshemmung geschah dies über deren Inbezugsetzung mit der Sphärenharmonie bzw. -musik sowie die damit assoziierten und bereits erwähnten „Heilig/ heilig/ heilig“-Rufe (Jes 6,3) der himmlischen Heerscharen.68 Mit der Halsuhr und vergleichbaren Uhren wanderte somit eine Maschine, die sich mit ihren Rhythmen auf eine von Gott geschaffene Ordnung bezog, direkt an den menschlichen Körper. Die intakte Ordnung des Makrokosmos traf damit auf den postlapsarisch in Unordnung befindlichen Mikrokosmos und wirkte auf diesen ein. Die Angleichung an diese Ordnung – ergo der Versuch der Selbstordnung – wäre eine potenzielle Reaktion darauf. Gerade in diesem Kontext lässt sich auch das letzte Bild der buchförmigen Halsuhr deuten, auf das ich bisher noch nicht eingegangen bin. Dem Ziffernblatt ist auf der Innenseite des Vorderdeckels die Darstellung einer Vase gegenübergestellt, aus der eine nicht näher identifizierbare Pflanze symmetrisch herauswächst (Abb. 3). Selbstverständlich kann das Bild einer Blumenvase schlicht als raumfüllende Dekoration gedeutet werden. Da die anderen Bilder der Halsuhr jedoch allesamt als Paare konzipiert und komponiert sind, ist es angebracht, auch die Vase als Pendant zu lesen – und zwar zum gegenüberliegenden Bild des Makrokosmos. Dann drängt sich unmittelbar die Assoziation der ciceronischen Aussage und humanistischen Vorstellung auf, wonach der menschliche Körper als mehr oder minder ‚kerkerartiges Gefäß‘ der Seele zu verstehen sei – eine Vorstellung, die mit dem Satz „Corpus quasi vas“ auf den Punkt gebracht wird.69 Dem Makrokosmos auf dem Titelblatt ist somit ein Bild des Mikrokosmos gegenübergestellt, das aufgrund der Platzierung auf dem Frontispiz (und somit chronologisch vor dem Sündenfall rechts) den ursprünglichen, prälapsarischen Zustand des Menschen visualisiert. In diesem adamischen oder evischen Körper war die Seele – hier verkörpert durch die fantastische Pflanze70 – nicht eingeschlossen, sondern stand in einem harmonischen Bezug zu ihm. Ein solches Bild, das darauf hindeutet, dass der menschliche Körper für die Seele nicht prinzipiell unüberwindbar ist, konnte die Buchuhr-Besitzer:innen dazu anregen und motivieren, über die postlapsarischen Beschränkungen des 68 Vgl. Berns, Vergleichung (Anm. 6), S. 127–134. 69 Vgl. zu diesem Topos insbesondere Ute Davitt Asmus: Corpus Quasi Vas. Beiträge zur Ikonographie der italienischen Renaissance. Berlin 1977 sowie Elke Frietsch: Corpus quasi vas. Ein Motiv im historisch-medialen Wandel. In: Medien der Kunst. Geschlecht, Metapher, Code. Beiträge der 7. Kunsthistorikerinnentagung in Berlin 2002. Hg. von Susanne von Falkenhausen u. a. Marburg 2004, S. 228–241. 70 Vgl. zur Deutung der Pflanze und vegetabiler Elemente im Kontext des Corpus quasi vas-Topos Davitt Asmus (Anm. 69), S. 19 f. sowie Frietsch (Anm. 69), S. 10 f.

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Körpers hinauszuwachsen. Ein möglicher Weg hierfür wäre die Verinnerlichung der im gegenüberliegenden Feld visualisierten göttlichen Ordnung des Makrokosmos, die durch die Halsuhr nicht nur sichtbar, sondern durch Signale und Rhythmen als gleichmäßige Ordnung auch hörbar gemacht wird. Zu betonen ist allerdings, dass die hier angeregte Arbeit am postlapsarischen Körper durch die Angleichung an oder Interaktion mit einer Uhr nicht verspricht, dass die Überwindung des Sündenfalls und seiner Folgen in der Hand des einzelnen Menschen bzw. der Buchuhr-Träger:innen läge – diese konnten sich nicht ins Paradies ‚zurückoptimieren‘. Das Streben nach Selbstordnung bzw. die Imagination derselben fand, und das macht die Halsuhr mit ihrem Bildprogramm unmissverständlich klar, innerhalb einer allumfassenden, von Gott geschaffenen Ordnung und immer mit Blick auf Gott und die endzeitliche Wiederkunft Christi statt.

4. Fazit Beide besprochenen Bücher, sowohl die Halsuhr als auch das Geistliche Bet-Uhrlein, bringen mit ihrem Bildprogramm das Jüngste Gericht gedanklich in die Gegenwart des 17. Jahrhunderts und animieren ihre Besitzer:innen zu einer an der Uhr und ihrer Mechanik ausgerichteten Herangehensweise an die alltägliche Frömmigkeit. Diese Kombination kann vor dem Hintergrund eines spätmittelalterlichen sowie frühneuzeitlichen Zeitverständnissens gedeutet werden, wonach jede Minute, die nicht mit der Sorge um das eigene Heil resp. der Vorbereitung auf das Ende (sowohl des eigenen Lebens als auch der Heilsgeschichte) verbracht wurde, als verschwendet galt.71 So benennt Feinler die Zeitknappheit in der Vorrede explizit – das Jüngste Gericht steht ihm zufolge unmittelbar bevor – und auch das Titelblatt der Halsuhr führt einem die Endlichkeit und Begrenztheit des Diesseits vor Augen. Dieser konstatierten Knappheit der Zeit sowie dem damit möglicherweise einhergehenden stärkeren Druck und der noch größeren Sorge, vor dem Richter nicht zu bestehen, begegnen beide Bücher u. a., indem sie die gesamte Zeit mit Gebet und Andacht füllen und ihren Besitzer:innen die Uhr als Andachts-Hilfsmittel an die Hand geben. Dessen Mechanik wird mit Blick auf das Gericht zu einem idealen Vorbild für Gebet und Andacht erklärt, die Mahnung vor dem Gericht somit nicht einfach mit einem klassischen Aufruf zur Umkehr oder Buße, sondern mit der Imagination einer mechanischen ‚Selbstoptimierung‘ verbunden. Aus der Sorge vor dem baldigen Gericht entwickelt sich das Ideal einer permanenten, regelmäßigen und unermüdlichen, da mechanischen Andacht. Die Nützlichkeit, die der Mechanik in frühneuzeit71 Vgl. zu dieser Deutung der Zeit Ehlert (Anm. 26), S. 264–266.

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lichen Maschinenbüchern immer wieder zugesprochen wird, wie auch ihre Fähigkeit, teilweise mehr sowie kompliziertere Arbeit zu leisten, als es der Mensch in seinem postlapsarischen Zustand vermag,72 würden hier folglich auf geistige Arbeit, d. h. auf das Gebet und die Andacht übertragen.73 Somit hätten Maschinen in der Frühen Neuzeit nicht nur einen Nutzen beim Heben von Gewichten oder der Eroberung feindlicher Städte, sondern auch für den Weg, der den Einzelnen vor den Richterstuhl und (idealerweise) zu Gott führt. Ebenfalls möglich und in diesem Fall sogar wahrscheinlicher ist jedoch eine andere Lesart, die zwar nicht konträr zu der ersten steht, sich aber dennoch durch ihre Perspektive deutlich unterscheidet. Denn zwei Aspekte werfen die Frage auf, ob es beiden Büchern wirklich um eine sorgenvolle Optimierung des eigenen Handelns in der als kurz empfundenen, verbleibenden Zeit geht: So verzichten die Halsuhr und das Geistliche Bet-Uhrlein in ihren Visualisierungen des Jüngsten Gerichts überwiegend auf die Erzeugung von Furcht. Stattdessen legen beide ihren Fokus auf die von allen Christ:innen erhoffte postapokalyptische Zusammenkunft mit dem Erlöser, die prominent in der letzten Grafik des Geistlichen Bet-Uhrleins sowie auf der letzten Buchseite der Halsuhr präsentiert wird. Dies spricht dafür, die von Feinler geforderte und von der Halsuhr angeregte ‚Mechanisierung‘ der Gläubigen durch deren Angleichung an ein Miniaturmodell des Kosmos als ein freudiges Hinstreben auf den post-postlapsarischen Zustand als Erlöste zu deuten. Dies gilt insbesondere, wenn der speziell unter Protestant:innen verbreitete Topos der Erwartung des ‚lieben Jüngsten Tages‘74 bedacht wird, der nicht primär mit Grauen, sondern mit der ersehnten Wiederkunft Christi verbunden wird. Die Besitzer:innen des Geistlichen Bet-Uhrleins und der Halsuhr könnten sich somit nicht aus Furcht und Sorge, sondern aus Vorfreude darum bemüht haben, durch das Imitieren einer Uhr und die eigene ‚Mechanisierung‘ menschliche Makel – etwa Müdigkeit, Ungenauigkeit und Nachlässigkeit – zu überwinden und sich schon im Diesseits dem himmlischen, postapokalyptischen Zustand anzunähern.

72 Vgl. zu frühneuzeitlichen Überlegungen zum Nutzen der Technik beim Umgang mit den Folgen des Sündenfalls Ansgar Stöcklein: Leitbilder der Technik. Biblische Tradition und technischer Fortschritt. München 1979, S. 36–53. 73 Vgl. zur These, dass die Uhr ein Automat sei, „der eine Transformation von Himmelsarbeit in Seelenarbeit erbringen soll“, Berns, Sakralautomaten (Anm. 6), S. 198. 74 Vgl. hierzu den Beitrag von Johann Anselm Steiger in vorliegendem Band.

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Abbildungsnachweise Abb. 1: © Wallace Collection, London/Bridgeman Images. – Abb. 2: © Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg. – Abb. 3–6: © Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg (Arbeitsaufnahmen des Museums). – Abb. 7: © Königliche Bibliothek Belgiens, Brüssel. – Abb. 8–15: © Leonid Malec.

Stefan Michels

Das Jüngste Gericht im poetischen Werk Erdmann Neumeisters (1671–1756) im Spannungsfeld von lutherischer Theologie und galanter Conduite – ein Erkundungsgang

1. Die Sehnsucht zum Ende hin – eine Einstimmung Dass das Jüngste Gericht gewissermaßen eine solenne Durchgangsstufe zum ewigen Heil markiert, eine am Seelenheil der Menschen orientierte Reinigungsschleuse ist oder als solche kulturgeschichtlich wie theologisch gedeutet wurde, zeigen die vielen Darstellungen von Szenen des Jüngsten Tages an Kirchenportalen. Wer sie durchschreitet, wird rigoros an die Bedeutung dieses biblischen Fanals erinnert, auch auf die Alltagsrealität und Plastizität derartiger Szenarien hin, sodass jeder Kirchgang zwangsläufig zur semiotischen Vergegenwärtigung des im Glauben Angenommenen wird – eine innere Bereitung auf die zum heilvollen Durchschreiten jener kathartischen Pforte am Ende des Christenlebens notwendigen Mittel. Die Erwartung des Jüngsten Gerichts hat seit jeher nicht allein, aber insbesondere Literaten, Komponisten und Bildkünstler ermuntert, der Kreativität breiten Raum zu geben. Zugleich steht die Topik des Jüngsten Tags in enger Verbindung mit Erlebnissen von Repression, militärischer Gewalt, Naturkatastrophen und weiterem Unheil. Bilder und Realität, Musik, Poeme und Predigten, jede Form von medialer Repräsentierung des ängstlich Erwarteten bzw. freudig Erhofften bestimmte die Weltwirklichkeit in ihrer Ausprägung als Deutung eben dieser Weltwirklichkeit, und jede Form von Weltwirklichkeit in ihrer gedeuteten Ausformung steuert auf der anderen Seite den kulturellen Diskurs zum Problem der Endzeit. Valide beobachtbar erscheint dabei der Eindruck, dass nach einer liturgisch vorgegebenen ständigen Wiederkehr am Gericht orientierter oder dieses in den Blick nehmender biblischer Perikopen, die sich aus dem Kirchenjahr heraus begründen lässt, das Gericht immer dann Konjunktur

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hatte, wenn es in der Welt arg zuging.1 Zugleich fasziniert die Thematik des Jüngsten Gerichts die Phantasie der Menschen, es zieht sie förmlich an, wenn Katastrophenliteratur die Fragilität des bloß scheinbar stabilen Lebens eindrucksvoll vor Augen führt.2 Katastrophen erschüttern das Selbstbild der Menschheit in regelmäßigen Abständen und haben bereits frühneuzeitliche Diskurse entscheidend geprägt.3 Die Theologie des Luthertums setzte sich mit den ganz verschiedenen und in sich differenzierten auch philosophischen Konzepten zum Umgang mit Katastrophen, worunter auch Kriegshandlungen fallen, immer wieder neu auseinander, wobei die Antworten bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts im Wesentlichen ähnlich blieben.4 Der lutherische Prediger erscheint als Tröster, als Mutmacher und poimenischer Kraftbringer, der lutherische Universitätstheologe als Ausleger der von der Reformation des 16. Jahrhunderts herkommenden theologischen Idee des steten Paradoxes allen Seins zwischen Schicksal und demütiger Annahme desselben als Teil der großen Kosmologie

1 Vgl. Johannes Fried: Dies irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs. München 2016, S. 10–40. 2 Besonders eindrücklich scheint dieses Phänomen in der deutschsprachigen Literatur der 1980er Jahre auf, vgl. Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland. München 1988. Eine mögliche thematische Provenienz-Analyse des Apokalyptischen in der deutschsprachigen Literatur der Nachkriegszeit aus dem Geist der sog. ‚Schauerromantik‘ eröffnet Joanna Jablkowska: Die Tradition von Schauerliteratur in den apokalyptischen Visionen der Nachkriegszeit. In: Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts. Hg. von Hans Esselborn. Würzburg 2003, S. 107–117; vgl. auch Christa Karpenstein-Eßbach: Utopie in der Literatur. In: Die Gegenwart der Utopie. Zeitkritik und Denkwende. Hg. von Julian Nida-Rümelin, Klaus Kufeld. Freiburg i. Br. u. a. 2011, S. 172–182. 3 Anschaulich dargelegt anhand der Diskurse zum Erdbeben von Lissabon zeigt dieses Phänomen Juliane Blank: Katastrophe und Kontingenz in der Literatur. Zufall als Problem der Sinngebung im Diskurs über Lissabon, die Shoah und 9/11. Berlin, Boston 2021 (spectrum Literaturwissenschaft /spectrum Literature 74), bes. S. 63–194. Vgl. zum Kontext von Katastrophe und ‚sozialem Erinnern‘ Oliver Dimbath, Michael Heinlein: Einleitung: Soziale Gedächtnisse der Katastrophe. In: Katastrophen zwischen sozialem Erinnern und Vergessen. Zur Theorie und Empirie sozialer Katastrophengedächtnisse. Hg. von dens. Wiesbaden 2020 (Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen: Memory Studies o. Nr.), S. 1–18. Dass diese Konstellationen des sozialen Katastrophengedächtnisses, das auch im konstruktiven und heilsamen ‚Vergessen‘ von Erlebtem funktioniert, auch für heutige seelsorgliche wie homiletisch-liturgische Zusammenhänge prägend ist, zeigt Gero Waßweiler: Katastrophen und Hoffnung. Riskante Liturgien und ihre Predigten angesichts [von] Krisensituationen. Stuttgart 2019. 4 Vgl. Johann Anselm Steiger: Zu Gott gegen Gott. Oder: Die Kunst, gegen Gott zu glauben. Isaaks Opferung (Gen 22) bei Luther, im Luthertum der Barockzeit, in der Epoche der Aufklärung und im 19. Jahrhundert. In: Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfessionen und Medien der frühen Neuzeit. Hg. von dems., Ulrich Heinen. Berlin u. a. 2006 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 101), S. 185–237; vgl. ders.: Gottes „Bilderbücher“. Die Auslegung der Jona-Erzählung bei Luther und im Luthertum der Barockzeit. In: Der problematische Prophet. Die biblische Jona-Figur in Exegese, Theologie, Literatur und Bildender Kunst. Hg. von dems., Wilhelm Kühlmann. Berlin, Boston 2011, S. 53–88, hier S. 54.

Das Jüngste Gericht im poetischen Werk Erdmann Neumeisters (1671–1756)

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von Gott als planvoll handelndem Schöpfer;5 der lutherische Dichter versucht beide Ebenen zu binden, was dem grundlegenden Ansatz lutherischer Poesie des 17. und 18. Jahrhunderts zwischen Normativität und Ästhetik, zwischen Erbauung und Katechese in nuce entspricht. Gerade in der poetisch bestimmten Synthese von universitär-theologischer Gelehrsamkeit und poimenischer Grundüberzeugung in der Person des geistlich dichtenden lutherischen Theologen zeigt sich nicht das Ende einer scheinbar ‚toten‘ Spät-Orthodoxie,6 sondern der Anfang einer neuen literarischen Öffnung des geistlichen Genres jenseits der ‚klassischen‘ Formen barocker Dichtung.7 Über der Geschichte des Christentums der Frühneuzeit liegt eine gewisse Sehnsucht nach Auflösung schicksalhaft verwobener Lebensfäden und -strukturen am Jüngsten Tag mit seiner alles klärenden, offenbarenden Kraft. In den Theologien Luthers wie des späteren Luthertums begründet sich diese Sehnsucht aus der Klarheit der Überzeugung, dass den wahrhaft Frommen nichts

5 Vgl. Max Josef Suda: Die Ethik Martin Luthers. Göttingen 2006 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 108), S. 93; dass sich diese christliche Haltung nach Luther vor allem in der täglichen Übung des Gebets und im Tun gottgefälliger Werke zeigt, beschreibt Matthias Mikoteit: Theologie und Gebet bei Luther. Untersuchungen zur Psalmenvorlesung 1532–1535. Berlin u. a. 2004 (Theologische Bibliothek Töpelmann 124), S. 269–277. Jakob dient Luther hierbei als besonderes Vorbild im Glauben, „weil er [scil. Jakob] sein Leiden im Vertrauen auf Gott angenommen hat“, Sabine Hiebsch: Figura Ecclesiae. Lea und Rachel in Martin Luthers Genesispredigten. Münster i. W. 2002 (Arbeiten zur Historischen und Systematischen Theologie 5), S. 137. Vgl. auch Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang. Göttingen 1995, S. 256–263. Luther geht es um das Leiden mit Christus in seiner im Christenleben präsenten Daseinsform: „[…] also dass, wenn du ihm [scil. Christus] zusiehst oder zuhörst, dass er etwas tut oder leidet, dass du nicht zweifelst, er selbst, Christus, mit solchem Tun und Leiden sei dein, darauf du dich nicht weniger mögest verlassen, denn als hättest du es getan, ja, als wärest du selber Christus“, Martin Luther, Ein klein Unterricht, WA 10/I,1,11. 6 Vgl. Markus Matthias: Pietismus und Lutherische Orthodoxie. In: Pietismus Handbuch. Hg. von Wolfgang Breul. Tübingen 2021, S. 81–93, hier S. 81 mit Bezug auf Johann Georg Walch: Historische und Theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten Der Evangelisch-Lutherischen Kirchen (1733). Matthias hält noch immer an einem „Erfahrungsdefizit“ orthodoxer ‚Frömmigkeit‘ fest und nutzt dieses als selbstentfaltendes Unterscheidungskriterium zwischen ‚Pietismus‘ und ‚Orthodoxie‘, Matthias (Anm. 6), S. 92; vgl. im Wesentlichen identisch ders.: Pietism and Protestant Orthodoxy. In: A Companion to German Pietism 1660–1800. Leiden 2015 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 55), S. 17–49. 7 Vgl. zu den grundlegenden Strukturen der geistlichen Dichtung des barocken Luthertums am Beispiel Paul Gerhardts Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 2: Konfessionalismus. Tübingen 1987, S. 266–290; zur geistlichen Barockdichtung als eben jener erwähnten Bearbeitung des sozialen Katastrophen- bzw. Krisengedächtnisses ders.: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 4/I: Barock-Humanismus: Krisen-Dichtung. Tübingen 2006; vgl. zur theologiegeschichtlichen Sichtung des barockzeitlich lyrischen Reformprogramms bei Opitz und Gryphius Jan Rohls: Kunst und Religion zwischen Mittelalter und Barock. Berlin, Boston 2021, S. 444–476.

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Böses bevorstehen kann, wenn das Gericht hereinbricht.8 Die aus dieser Überzeugung ableitbare paradoxe Haltung zwischen Angst und Zuversicht bildet eine Grundspannung der Theologie- wie Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Während sich die Bild-, aber auch Altarkunst in lutherischer Prägung einer möglichst plastischen Darstellung dieses Miteinanders von Schrecken und emotionaler Versöhnung zwischen Spätmittelalter und früher Aufklärung intensiv zuwandte, zögerten auch die geistliche Lyrik wie die Musik nicht, die Ereignisse des Jüngsten Tages eindrucksvoll und versöhnlich zugleich vor Augen zu stellen. Der breiten literarischen Grundstimmung der aus Frankreich herkommenden ‚Galanterie‘ folgend,9 sehen sich auch bedeutende Vertreter der christlichen Literaturproduktion in die Verantwortung genommen, das Jüngste Gericht als moralisches Ziel10 der Orientierung vor Augen zu stellen und so die christliche ‚Conduite‘11 auf dieses absehbare Ergebnis hin zu orientieren. Im Pendeln zwischen „lustige[r] Comödie“ und „traurige[r] Tragödie“ findet sich ein christliches Leben grundsätzlich aufgehoben in der Synthese beider Extreme durch den von der Eschatologie her begründeten, heilsstiftenden Glauben an den Welten-

8 Vgl. die Beiträge von Johann Anselm Steiger und Frank Kurzmann in diesem Band; vgl. zu den folgenden Überlegungen auch Frank Kurzmann: Die Rede vom Jüngsten Gericht in den Konfessionen der Frühen Neuzeit. Berlin, Boston 2019 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 141). 9 Vgl. Jörn Steigerwald: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650–1710). Heidelberg 2011 (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 41); vgl. zu den schwer auszumachenden Wurzeln der Galanterie in Frankreich Alain Viala: La Galanterie. Une Mythologie Française. Paris 2019; als epochemachender ‚Klassiker‘ der Forschungsliteratur gilt inzwischen diese Anthologie: Conrad Wiedemann (Hg.): Der galante Stil 1680–1730. Tübingen 1969 (Deutsche Texte 11); zu Benjamin Neukirch als zentralem Vermittler des galanten Stils vgl. Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Studien zur Neukirchschen Sammlung. Bern 1979. In zuletzt benannter Sammlung finden sich auch Werke Erdmann Neumeisters. Es handelt sich um immerhin vier Gedichte des jungen Neumeister; vgl. zu deren Erfassung Benjamin Neukirch: Anthologie Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte, Dritter Theil. Nach dem Erstdruck vom Jahre 1703 mit einer kritischen Einleitung und Lesarten hg. von Angelo George de Capua, Erika Alma Metzger. Tübingen 1970, hier Verfasserverzeichnis, S. XXXI. 10 Vgl. zur moralischen Zielorientierung etwas später verortet Marc Chraplak: B. H. Brockes’ fröhliche Physikotheologie. Poetische Strategien gegen Weltverachtung und religiösen Fanatismus in der Frühaufklärung. Bielefeld 2015; zur theologischen Einordnung dieser Ansätze kurz nach 1700 vgl. Claus-Dieter Osthövener: Aufgeklärte Passion. Barthold Heinrich Brockes als Oratoriendichter. In: Göttinger Händel-Beiträge 19 (2018), S. 49–63; zu Johann Albert Fabricius, einem weiteren Garanten einer an den zeitgenössischen Moralphilosophien arbeitenden Theologie, vgl. Ralph Häfner: Literaturgeschichte und Physikotheologie. Johann Albert Fabricius. In: 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft. Hg. von Johann Anselm Steiger. Berlin 2005 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 95), S. 35–58. 11 Vgl. zur Bedeutung der galanten ‚Conduite‘ generell Dirk Rose: Conduite und Text. Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold. Berlin 2012 (Frühe Neuzeit 167).

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richter Jesus Christus.12 Das eindeutige Ziel muss es sein, auf „diesem irdischen Theatro“13 seine Vorstellung so zu spielen, dass auch ein über das Irdische hinaus anhaltender Applaus für die eigene Vorstellung gesichert wird. Geistlich orientierte Schriftsteller, aber auch ‚galante Pfarrpersonen‘ versuchen um 1700, den breiten Diskurs um eine galante ‚Conduite‘ auch in die christliche Ethik zu überführen, was dann schlüssig erscheint, wenn ‚Ethik‘ im engeren Sinne gefasst in Korrespondenz mit Verhaltenslehren des sittsamen und vornehme Nobilität fördernden Hof- und Bürgerlebens jener Zeit treten kann.14 Insofern steht infrage, ob etwa die lutherische Katechetik um 1700 nicht einmal eher experimentell verstanden im Licht galanter Verhaltens-, Moral- wie Tugendkonzepte zu beleuchten wäre,15 auf das Verhältnis der sog. ‚lutherischen (Spät-)Orthodoxie‘ zu den entsprechenden ethischen Entwicklungen und Paradigmen der Frühaufklärung hin orientiert werden müsste,16 um ein breiteres Panorama dessen zu erhalten, was unter eben jener ‚lutherischen Orthodoxie‘ präziser zu verstehen wäre.17 Überhaupt hat es die gerade in jüngerer Zeit wieder intensiver erforschte Literatur der Galanterie bisher nicht in überzeugendem Maß in den theologischen Deutungshorizont der umbruchbehafteten Zeit um 1700 geschafft, was des Öfteren vonseiten der germanistischen Forschung bemängelt wird. Daniel Fuldas treffende Bemerkung, dass die Zeit zwischen etwa 1680 und 1730 als „fast

12 Johann Christian Barth: Die Galante Ethica oder nach der neuesten Art eingerichtete SittenLehre. Dresden, Leipzig 1748, fol. )(2r–)( 2v. 13 Ebd. 14 Vgl. Gerhard Sauder: ‚Galante Ethica‘ und aufgeklärte Öffentlichkeit in der Gelehrtenrepublik. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution (1680–1789). Hg. von Rolf Grimminger. München 1980, S. 219–238. Sauder appelliert für eine offenere Definition dessen, was innerhalb der Galanterie unter ‚Ethica‘ verstanden werden könne. Diese Offenheit ermöglicht auch die Einfügung theologischer Vorstellungen um 1700 in den durchaus breiter agierenden Diskurs der Galanterie in Deutschland, der auch entsprechende theologische Debatten intensiv forcierte, was weiterhin und tiefergehend zu erforschen wäre. 15 Was im Übrigen auch für die Musik und ganz speziell für die Kantatenkunst gelten würde, vgl. Bernhard Jahn: Moralische Charaktere in der Kantate – Die Kantate als moralische Wochenschrift. In: Die Kantate als Katalysator. Zur Karriere eines musikalisch-literarischen Strukturtyps um und nach 1700. Hg. von Wolfgang Hirschmann, Dirk Rose. Berlin, Boston 2018 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 59), S. 169–180. 16 Vgl. für den Zusammenhang von Galanterie und Frühaufklärung Daniel Fulda: Galanterie als Schlüssel zur Frühaufklärung? In: Galanterie und Frühaufklärung. Hg. von dems. Halle/S. 2009 (Kleine Schriften des IZEA 1/2019), S. 7–11. 17 Vgl. die jüngere Diskussion dieses durchaus nicht unproblematischen Terminus bei Christian V. Witt: Lutherische „Orthodoxie“ als historisches Problem. Leitidee, Konstruktion und Gegenbegriff von Gottfried Arnold bis Ernst Troeltsch. Göttingen 2021 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte 264), bes. S. 273–282; vgl. aber Markus Matthias: Pietismus und Lutherische Orthodoxie. In: Pietismus Handbuch. Hg. von Wolfgang Breul. Tübingen 2021, S. 81– 94, der auf die Relationalität von ‚Kampfbegriffen‘ in der Frühen Neuzeit verweist.

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leer“ oder Zeit des „Übergangs“ aufscheint,18 trifft auch auf die Wahrnehmung der theologiegeschichtlichen Forschung zu, die sich mit Begriffen wie ‚Übergangstheologie‘ nur schwerlich zu helfen scheint.19 Nimmt man jedoch Abstand von allzu schematischen Zuschreibungen, erlebte die lutherische Orthodoxie um 1700 einen erheblichen Aufschwung mit Blick auf die Ausdifferenzierung ihrer Kommunikationsmodi,20 die das altehrwürdige Bild einer sich zunehmend überlebenden Gelehrten-Konfession als überzeichnet und unzutreffend erscheinen lässt.21 Den kulturellen Aufstieg des Luthertums um 1700 und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verdankt dieses u. a. den überragenden Bemühungen geistlicher Dichter des 17. Jahrhunderts, deren führende Köpfe, wie Paul Gerhardt (1607–1676), aber vor allem Johann Rist (1607–1667), in der jüngeren Forschung nun auch von theologischer Seite umfassend gewürdigt werden.22 Dabei scheint mehr und mehr auf, dass es sich bei geistlicher Lyrik des 17. und 18. Jahrhunderts durchaus um Texte mit genuin theologisch-inhaltlicher Aussagekraft handelt; dass es also um alternative Formen theologischer Mitteilung

18 Fulda (Anm. 16), S. 8. 19 Vgl. für den Eingang dieser eher unscharfen theologischen Bestimmung in das Lehrbuchwissen der jüngeren Zeit Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung – Ein Kompendium. Göttingen 2009, § 18, S. 96–104. 20 Vgl. etwa die sich im Passionsoratorium spiegelnde Entwicklung einer eigenen musikalischen Gattung zur Veranschaulichung biblischer Inhalte und deren Beschreibung bei Kurt von Fischer: Die Passion. Musik zwischen Kunst und Kirche. Kassel 1997, hier S. 97 f.; zur Kantate als dramatisierter theologischer Sprachform vgl. Irmgard Scheitler: Die Kantate als dramatischer Text. Gedanken über die Entstehung der Kantatenform. In: Die Kantate als Katalysator. Zur Karriere eines musikalisch-literarischen Strukturtyps um und nach 1700. Hg. von Wolfgang Hirschmann, Dirk Rose. Berlin, Boston 2018 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 59), S. 13–34. 21 Vgl. Hans Emil Weber: Die analytische Methode der lutherischen Orthodoxie. Naumburg 1907. Die Idee, dass die ‚lutherische Orthodoxie‘ auch wesentliche Beiträge zu Erbauung und Frömmigkeit lieferte, wurde erst spät in den breiteren Forschungskontext integriert, vgl. den Sammelband Udo Sträter (Hg.): Pietas in der Lutherischen Orthodoxie. Wittenberg 1998 (Wittenberger Symposium zur Erforschung der Lutherischen Orthodoxie 2). Vereinzelte, monographische Studien trugen seit den 1980er Jahren zur steten Aushöhlung der althergebrachten Annahmen von einer straff dogmatisch organisierten lutherischen Orthodoxie bei, vgl. exemplarisch Norbert Haag: Predigt und Gesellschaft. Die lutherische Orthodoxie in Ulm (1640–1740). Mainz 1992 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte 145). Erst die Arbeiten Johann Anselm Steigers erweiterten den Horizont der Forschung um die wesentlichen kulturgeschichtlichen und -theologischen Aspekte des frühneuzeitlichen Luthertums insbesondere in seiner lutherisch-orthodoxen Lesart, vgl. nur Johann Anselm Steiger: Bibelauslegung durch Bilder. Zur sakralen Intermedialität im 16. bis 18. Jahrhundert. Regensburg 2018 (Kunst und Konfession in der Frühen Neuzeit 2). Auf diesem Weg erweist sich die Erforschung der lutherischen Orthodoxie als interdisziplinäre, nicht allein theologische Herausforderung. 22 Vgl. neben den Beiträgen im Sammelband Johann Anselm Steiger, Bernhard Jahn (Hg.): Johann Rist (1607–1667). Profil und Netzwerke eines Pastors, Dichters und Gelehrten. Berlin 2015 (Frühe Neuzeit 195) auch Steigers umfassende Editionen des geistlichen Werks Johann Rists.

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geht, die mit diesen und anderen, neuen Textformen23 eben, vor Augen stehen. Die Geschichte des Kirchenliedes scheint diese These zu stützen,24 obgleich aus methodischer Sicht anzumerken ist, dass geistliche Lyrik und Kirchenlied unter Umständen zwei verschiedene Aussagemodi lutherischer Theologie um 1700 sein konnten. Zugleich wurden sie zum Ausdruck der binnenkonfessionellen Vielfalt des in der Forschung auf im Wesentlichen zwischen ‚Pietismus‘ und ‚Orthodoxie‘ versäulten Blöcke reduzierten und in seiner Polymorphie marginalisierten Luthertums. Theologen, Pastoren und Lyriker wie Erdmann Neumeister sind ohne die Diagnose eines sprachlich variierenden theologischen Denkens im Luthertum kaum von theologiegeschichtlicher Bedeutung; denn Neumeisters Beitrag lag nicht in einem revolutionär neuen System lutherischer Denkungsart als vielmehr darin, in seinem Bemühen um katechetisch orientierte Vermittlung lutherischer Glaubensinhalte neue Formen der Sprachlichkeit zu erproben, die mittelfristig einen erheblichen Einschlag in die Kulturgeschichte zeitigen konnten. Seine Geistlichen Cantaten gehören zu den einflussreichsten lyrischen Texten des Luthertums nach 170025 und wurden in mehrfacher Auflage immer wieder gedruckt und nicht weniger oft Gegenstand musikalischer Umsetzung in liturgischer Absicht.26 Helmut Krausse vermutete gar, dass „die Zahl der nach dem Vorbild Neumeisters gedichteten Kantatentexte […] in die Tausende“ gehe.27 Neumeisters Kantatendichtungen wurden 23 Vgl. hier nur exemplarisch Hunolds theoretische Erwägungen zur Bedeutung der Kantate als geistliche Gattung: Christian Friedrich Hunold: Theatralische, Galante und Geistliche Gedichte. Hamburg 1706, Vorrede: „Weil vor diesmahl meine Poetische Gedancken meist auf Theatralische und geistliche Sachen gerichtet/ so weiß den Anfang nicht besser als von Cantaten zu machen“. 24 Vgl. Andreas Marti: Kirchenlied und Gesangbuch. Einführung in die Hymnologie. Göttingen 2021, bes. Kap. 3 (‚Historische Hymnologie‘). 25 Vgl. zur Relativierung dieser These Michael Maul: Leipziger Inspirationsquellen für Erdmann Neumeisters „Geistliche Cantaten“. In: Die Kantate als Katalysator. Zur Karriere eines musikalisch-literarischen Strukturtyps um und nach 1700. Hg. von Wolfgang Hirschmann, Dirk Rose. Berlin, Boston 2018 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 59), S. 50–74. 26 Vgl. Wolfgang Miersemann: Erdmann Neumeisters „Vorbericht“ zu seinen „Geistlichen CANTATEN“ von 1704. Ein literatur- und musikprogrammatisches „Meister-Stück“. In: Erdmann Neumeister (1671–1756). Wegbereiter der evangelischen Kirchenkantate. Hg. von Henrike Rucker. Rudolstadt 2000 (Weißenfelser Kulturtraditionen 2), S. 51–74; vgl. zudem Ute Poetzsch: Die Kirchenmusik von Georg Philipp Telemann und Erdmann Neumeister. Zur Geschichte der protestantischen Kirchenkantate in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Beeskow 2006 (Schriften zur mitteldeutschen Musikgeschichte 13). 27 Helmut K. Krausse: Erdmann Neumeister und die Kantatentexte Johann Sebastian Bachs. In: Bach-Jahrbuch 72 (1986), S. 7–31, hier S. 8. Zur mit dem Werk Neumeisters verbundenen Problematik innerhalb der Forschung vgl. Wolfgang Miersemann: Erdmann Neumeisters Geistliche CANTATEN von 1702 und die Anfänge einer Kantatendichtung in „ungezwungenen teutschen Versen“. Forschungserträge und offene Fragen. In: Die Kantate als Katalysator. Zur Karriere eines musikalisch-literarischen Strukturtyps um und nach 1700. Hg. von Wolfgang Hirschmann, Dirk Rose. Berlin, Boston 2018 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 59), S. 74–98.

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von den berühmtesten Kantoren und Komponisten seiner Tage vertont und zählen – neben dem Kirchenliedgut und der einschlägigen Erbauungsliteratur – in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu den am stärksten rezipierten geistlichen Texten.28 Die Problematik einer monokausalen Verengung der theologischen Vielfalt des Luthertums um 1700 zeigt sich auch an der schwachen kirchenhistorischen Aufmerksamkeit, die bislang Erdmann Neumeister zuteil wurde, der seit der verheerenden Diagnose Johannes Wallmanns, Neumeisters im Kern rein polemische und antipietistische Werke eigneten sich für eine tiefergehende theologische Analyse nicht,29 noch kein rechtes und überzeugendes Gegenprogramm entgegengestellt werden konnte. Zweifelsfrei gehört Neumeister zu den scharfzüngigsten Kontroverstheologen seiner Zeit, der keinen Hehl daraus machte, dass er wenig von pietistischer Lehre, vom Katholizismus, dem Judentum oder dem ärgsten Feind des Christentums, dem Synkretismus, wie er die Bemühungen um eine Union zwischen Lutheranern und Calvinisten abfällig bezeichnete, hielt. Vor vorschnellen Urteilen, gar den ‚Charakter‘ des Hamburger Predigers betreffend, ist allerdings auch auf der Grundlage der neueren Methodendebatten in der historischen Forschung überhaupt zu warnen.30 Im Kontext seiner Bemühungen um Vielfalt im theologischen Ausdruck, aber auch um Abgrenzung und Positionierung einer reinen lutherischen Lehre von den letzten Dingen steht Neumeisters Eschatologie. Die Entfaltung seiner Vorstellungen vom Jüngsten Gericht im Kontext dieser eschatologischen Verortung ist in einer breiten Textvielfalt dokumentiert, der hier nur in groben Zügen 28 Vgl. nur Poetzsch, Kirchenmusik (Anm. 26); vgl. zur theologischen Sprachfähigkeit von Kirchenmusik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dies.: Telemann als Prediger. Zum Verhältnis von Kirchenmusik und Predigt. In: Telemann und die Kirchenmusik. Bericht über die internationale wissenschaftliche Konferenz in Magdeburg (15. bis 17. März 2006) anlässlich der 18. Magdeburger Telemann-Festtage. Hg. von Carsten Lange. Hildesheim 2011, S. 61–75; vgl. zudem Christiane Jungius: Telemanns Frankfurter Kantatenzyklen. Kassel 2008 (Schweizer Beiträge zur Musikforschung 12). 29 Vgl. die Ausführungen bei Johannes Wallmann: Erdmann Neumeister. Der letzte orthodoxe Gegner des Pietismus. In: Ders.: Pietismus-Studien. Tübingen 2008 (Gesammelte Aufsätze 2), S. 202–210; jüngst in gewisser Weise erneut unterstützt von Stefan Michel: Mandate gegen den Pietismus. Zum Versuch der rechtlichen Ausgrenzung einer protestantischen Gruppe ab 1690 und ihre Systematisierung durch Erdmann Neumeister. In: An den Rand gedrängt – den Rand gewählt. Marginalisierungsstrategien in der Frühen Neuzeit. Hg. von Henning P. Jürgens, Christian V. Witt. Leipzig 2021 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der lutherischen Orthodoxie 41), S. 207–222. 30 Vgl. Max von Waldberg: Erdmann Neumeister. Versuch einer Charakteristik. In: Germanischromanische Monatsschrift 2 (1910), S. 115–123. Der Versuch von Waldbergs, eine monographische Studie zu Neumeister zu verfertigen, ist in seinem im Universitätsarchiv Heidelberg verwahrten Nachlass dokumentiert. Dort finden sich sechs kleine Hefte mit archivalischen Notizen und Literaturbelegen sowie dem Titel des geplanten Projektes (Erdmann Neumeister. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur am Anfange des 18. Jahrhunderts) und einer möglichen Disposition des Werkes, vgl. Heid. Hs 3789, Notizheft II.

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nachgegangen werden kann.31 Diese gattungsmäßige Bandbreite reicht von Predigten (vor allem zum zweiten Adventssonntag) über Streitschriften in Auseinandersetzung mit dem ‚Terminismus‘ und dem ‚Chiliasmus‘ bis hin zu Kantatentexten. Besonders im Hinblick auf letztere Gattung steht immer wieder erneut zur Debatte, wie innovativ Neumeisters Beitrag in der Sache eigentlich gewesen sei.32 Im Folgenden soll am Beispiel der Varianz in der Rede Neumeisters vom Jüngsten Gericht gezeigt werden, wie eine in ihrem Wesenskern der lutherischen Tradition folgende Theologie aufgrund der Wahl ihrer Aussagemodi zu einem hochinnovativen Impuls führen kann, der Generationen von Theologen, Dichtern und Musikern intensiv beschäftigen sollte. Dabei wird Neumeisters Rede vom Jüngsten Gericht im Kontext seiner Eschatologie zu verorten sein (2.), die auf den Schultern der lutherisch-orthodoxen Eschatologie zum Stehen kommt (2.1), aufgrund der Dramatisierung und Theatralisierung wie Intensivierung lutherischer Schriftauslegung nach 1700 zu neuen Sprachformen finden konnte (2.2) und so schließlich in der Polyvalenz ihrer Redegattungen greifbar werden kann (2.3). Ein Fazit bildet den Abschluss dieser knappen Unternehmung (3.).

2. Grundbedingungen der Eschatologie Erdmann Neumeisters – die theologiegeschichtliche Ebene Ich, der Magister Erdmann Neumeister, Pastor und Adjunkt zu Bibra, zum Hof-Diaconus berufen, mit der Konkordienformel rechtschaffen vertraut, hinreichend ermahnt, der Wahrheit gewiß, von keinem Zweifel angekränkelt, von keinem als dem klaren Verständnis [der Heiligen Schrift] erfüllt, das die Worte hergeben, nicht verstrickt in vorgefaßte oder verborgene Meinungen, habe die Unterschrift frei geleistet, aufrichtig, ohne einen Vorbehalt im Sinn zu haben, und habe zugleich Frömmigkeit gegen Gott, Ehrerbietung und Gehorsam gegen meine Oberen, Sorgfalt im Gebet, Strebsamkeit in den Studien, Treue in der Amtsführung, Wachsamkeit, Fleiß, Redlichkeit im Leben, Einigkeit mit meinen Kollegen und meinen Hörern feierlich versprochen. Am 25. April 1704.33

Der Pastor Erdmann Neumeister wusste um seine theologische Abkunft; wusste um die Traditionen, denen er sich verpflichtet fühlte und zu deren Verteidigung er in immer neuem Schwung dem jeweiligen Widersacher angepasst Anlauf nahm und keine Mühen zu scheuen schien. Obschon Neumeister zu den prominentesten, präsentesten und bekanntesten Vertretern der lutherischen Orthodoxie um 1700 gehört, ist er weiten Kreisen der kirchenhistorischen For31 Vgl. demnächst mehr und ausführlicher auch zu Fragen der Eschatologie im Rahmen meiner entstehenden Habilitationsschrift zur ‚Poeto-Theologie‘ Erdmann Neumeisters. 32 Vgl. Maul (Anm. 25), S. 50. 33 Register der Hofdiakone zu Weißenfels, SLB Dresden: Miscr. Dresd. App. 1704, S. 11.

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schung eher ein Unbekannter. Dabei findet sich in seiner Person, seinem Tun wie Predigen nach seiner Auffassung verwahrt,34 was Luthers Theologie in ihrem Wesenskern ausmachte und was schließlich die lutherische Bekenntnisbildung formen konnte. Neumeisters Präsenz in der Öffentlichkeit seiner Zeit verdankte sich dieser – auch in Publikationen greifbaren – Bemühung um den Erhalt der reinen Lehre angesichts einer Unzahl von häretischen Herausforderungen, denen er sich seinerzeit gegenüber sah. Doch beschränkt sich seine Bedeutung nicht auf Formen lutherischer Apologetik, sondern weitet sich in den breiten poetologischen Diskurs jener Zeit um 1700, welche die germanistische Forschung in jüngerer Zeit wieder intensiver beschäftigt und die aufs Engste verbunden ist mit dem Phänomen der ‚Galanterie‘, das auch Neumeister mit theoretischen Schriften,35 aber auch frühen Poemen bediente.36 Neumeisters frühe, durchaus erotisierende Ausflüge in das Reich der galanten Lyrik37 in der Lesart, die Christian Thomasius dem Diskurs um die Madame de Scudéry38 entnommen hat,39 finden ihren prominenten Niederschlag in der hochberühmten Gedichtsammlung Benjamin Neukirchs,40 die 1695 erschien, also im selben Jahr wie Neumeisters erste poetologische Abhandlung De Poetis Germanicis.41 Bereits diese erste Publikation sorgte für einen handfesten, gar in Leipzigs Politik Wellen schlagenden Streit 34 Vgl. Jörg Baur: Luther und seine klassischen Erben. Theologische Aufsätze und Forschungen. Tübingen 1993. 35 Hier nur exemplarisch, weil herausragend weit verbreitet und häufig nachgedruckt Erdmann Neumeister, Christian Friedrich Hunold: Die Allerneueste Art Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Hamburg 1707, hier zitiert nach der Ausgabe Hamburg 1717. 36 Vgl. zur Frivolität des jungen Neumeister als stilistisches Mittel erster Wahl Manfred Beetz: Von der galanten Poesie zur Rokokolyrik. Zur Umorientierung erotischer und anthropologischer Konzepte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Literatur und Kultur des Rokoko. Hg. von Matthias Luserke, Reiner Marx, Reiner Wild. Göttingen 2001, S. 33–62, hier S. 37, mit einem maßgeblichen Beispiel, Neumeisters ‚Von weibern‘. 37 Vgl. nur zur ‚Cantata von der rechten Liebe‘, die Neumeister um 1697 abgefasst haben muss, Bertolt Over: Liebeskonzeptionen in der italienischen und deutschen Kantate. In: Hirschmann, Rose (Anm. 15), S. 110–133, hier S. 123. 38 Vgl. Nicole Aronson: Mademoiselle de Scudéry. Ou le Voyage au Pays du Tendre. Paris 1986; vgl. Franziska Meier: Baldassare Castiglione und Madeleine de Scudéry oder das Verhaltenskonzept der Galanterie im Vergleich mit dem idealen Hofmann. In: Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der frühen Neuzeit. Hg. von Ruth Florack, Rüdiger Singer. Berlin, Boston 2012 (Frühe Neuzeit 171), S. 149–177; vgl. Renate Kroll: Femme poète. Madeleine de Scudéry und die ‚poésie précieuse‘. Tübingen 1996 (mimesis 23). 39 Vgl. vor allem im Hinblick auf Thomasius’ epochemachende Schrift Von der Nachahmung der Franzosen Steigerwald (Anm. 9), S. 224–246. 40 Benjamin Neukirch: Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte. Hg. von Angelo George da Capua u. a. 7 Bde. Tübingen 1965–1991; vgl. Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Studien zur Neukirchschen Sammlung. Bern u. a. 1971. 41 Erdmann Neumeister: De Poetis Germanicis (1695). Hg. von Franz Heiduk. Bern u. a. 1978.

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mit einem der von Neumeister in seiner Sammlung ‚traktierten‘ Poeten, Johann Georg Albinus d. J. (1659–1714). Dem Delinquens defensus42 Albinus’ musste Neumeister eine eigene Streitschrift entgegensetzen, was er auch prompt tat. Ebenfalls noch 1695 erschien seine Abgenöthigte Defensions-Schrifft wider L. Joh. Georgii Albinii Schmäh-Schrifft,43 die ein breites Echo fand und Neumeister als Literaturkritiker bekannt werden ließ. Neumeister hatte sich bis 1695 und in der Zeit danach als Kenner der deutschsprachigen Poesie erwiesen und schlug nach der Bekleidung einer Poetik-Professur an der Universität Leipzig eine Laufbahn als Pastor ein, die in Bibra begann und ihn über Weißenfels und Sorau schließlich nach Hamburg führen sollte, seinem ganz eigenen Basislager für sein umfassendes theologisches Wirken. Dabei suchte der junge Poetologe und Pastor nicht allein den kämpferischen Diskurs mit anderen Poeten, die seiner Meinung nach abgeschmackt waren und die Mode der Zeit nicht mehr im Blick hatten oder niemals gehabt hatten, wie er über einen der bedeutendsten lutherischen geistlichen Dichter des 17. Jahrhunderts, Johann Rist, beinahe schon abfällig urteilt: Und obgleich von vielen viel Lob auf ihn gehäuft wird, wird man, wenn man alles gerecht abwägt, deutlich merken, daß die Sache sich weitaus anders verhält, da weder Reinheit des Stils noch Harmonie des Aufbaus noch schließlich Schwung und Kraft überall seine Verse erfüllen, auch nicht in geistlichen Oden, die man doch allgemein in den Himmel hinein lobt: für uns steht unveränderlich fest, daß gerade die besten davon den Betrachtungen der alten Kirchenväter, und unter ihnen besonders des heiligen Augustinus, Leben und Atem verdanken. Mehr über Rist im Augenblick anzufügen, scheuen wir uns mit Recht.44

Die breite Präsenz der Lyrik Rists45 im kulturellen Gedächtnis des Luthertums schien Neumeister ungerechtfertigt, weil weder Stil noch Anmut noch theologische Bedeutung diese Verehrung rechtfertigten. Den Brustton der Selbstüberzeugung legte Neumeister auch nicht ab, als er sich in der Funktion eines lutherischen Geistlichen und sogar Sorauer Superintendenten intensiver mit dem Pietismus auseinanderzusetzen begann, nachdem er dieser neuen geistlichen Erscheinung bereits während seiner Studienjahre in Leipzig begegnet sein muss. In Sorau hatten pietistische Vertreter, wie Johann Georg Böse (1662–1700), tiefe Spuren hinterlassen, die das Grafenhaus von Promnitz, Neumeisters eigentliche Dienstherren in Sorau, nachhaltig beeindrucken sollten.46 Bereits zur Zeit der Superintendentur Abraham Rothes (1633–1699), eines lautstarken Verfechters

42 Johann Georg Albinus: Delinquens defensus. Der vertheidigte Missethäter. Erfurt 1695. 43 Cölln 1695. 44 Heiduk (Anm. 41), S. 228 f. 45 Vgl. Steiger/Jahn (Anm. 22). 46 Vgl. Hans Petri: Der Pietismus in Sorau Niederlausitz. In: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 9/10 (1913), S. 126–203, zum sog. Terministischen Streit vgl. bes. S. 131–156.

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lutherischer Orthodoxie in Sorau, der seit 1664 knapp 35 Jahre amtete, drangen ‚pietistische Tendenzen‘ in die Grafschaft Sorau ein, die sich vor allem im Abhalten außergottesdienstlicher, aber öffentlicher Betstunden zeigten.47 Neben Johann Fritzsche wurde vor allem Johann Georg Böse der bedeutendste Vertreter des Pietismus in Sorau, bis Johann Wilhelm Petersen auftrat und Neumeisters Hauptkontrahent wurde. Böse beschäftigte sich theologisch intensiv mit einem Diskurs, den der in Oschatz wirkende Diakon Johann Jacobi mit seinem 1688 erschienenen Traktat Versäumte Buße losgetreten hatte und der aufgrund seiner auch seelsorglichen Bedeutung bald schon in aller Munde war. Darin diagnostizierte Jacobi die lasche Buß- und Beichtpraxis dieser Zeit, denn es sei „eine hochgefährliche Sache auf Seiten der Sünder!“, wenn man die Buße nicht länger ernst nähme. Denn genau so sei es, „wie es der Satan will haben“, denn dieser wisse genau, „Spate Buß ist selten eine wahre Buße […]“.48 Die Angst, besser: die poimenische Sorge des vor allem pietistischen Predigers davor, dass seine Gemeinde den richtigen Zeitpunkt zu Buße und echter Umkehr im Leben versäumt haben könnte, ist der Forschung als ‚Terminismus-Streit‘ bekannt.49 Diese erbitterte Kontroverse erstreckte sich in den Jahren von etwa 1697 bis ca. 1710 und schwelte noch, als Neumeister 1705 seine Amtsgeschäfte in Sorau aufnahm. Begriff und Streitpunkt schwebten um eine Formulierung, die auch Philipp Jakob Spener (1635–1705) regelmäßig verwendete, wenn er vom ‚terminus peremptorius‘ im durchaus juristischen Sinne sprach. Dabei handelt es sich um eine richterlich angesetzte Frist für das Erscheinen der Prozessparteien vor Gericht (‚citatio peremtoria‘).50 Das eigentlich theologische Thema ist ein auf die Eschatologie hin gestricktes soteriologisches, indem die Protagonisten des mehrere hundert Streitschriften umfassenden Diskurses die Frage nach der Bußleistung des Menschen für dessen Heil immer wieder thematisieren und zu unterschiedlichen Gewichtungen kommen.51 Die besondere Brisanz dieses Themas

47 Vgl. Johann Samuel Magnus: Historische Beschreibung der Hoch-Reichs-Gräfflichen Promnitzischen Residentz-Stadt Sorau in Niederlausitz. Leipzig 1710, S. 246. 48 Johann Jacobi: Versäumte Buße. Denen Sterblichen zum ewigen besten fleißig zu bedencken. o. O. 1688, fol. A 4v. 49 Vgl. bereits Friedrich Hermann Hesse: Der terministische Streit. Ein Bild theologischen Lebens aus den Gränzjahren des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Gießen 1877; vgl. summierend Martin Gierl: Kontroversen und Kritik. In: Breul (Anm. 6), S. 494–502, hier S. 499. 50 Vgl. Philipp Jakob Spener: Theologische Bedencken, 7. Capitel. Hg. von Dietrich Blaufuß. Hildesheim, Zürich, New York 1999, S. 517–521, bes. S. 519; vgl. für weitere Nachweise Hesse (Anm. 49), S. 83. Spener hatte sich bereits in einer Predigt zum Terminismus-Problem mit der Begrifflichkeit auseinandergesetzt, vgl. Philipp Jakob Spener: Das Gericht der Verstockung/ In einer Buß-Predigt […] vorgetragen. Frankfurt a. M. 1701, S. 37 f. 51 Vgl. Andreas Gößner: Der terministische Streit. Vorgeschichte, Verlauf und Bedeutung eines theologischen Konflikts an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Tübingen 2011 (Beiträge zur historischen Theologie 159), S. 14.

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sowie seine öffentliche Bedeutung liegt wohl vor allem darin begründet, dass es sich um ein Schnittstellenthema zwischen dogmatischer Lehrbildung und poimenisch-homiletischer Praxis handelt, das hohe Relevanz für das individuelle Glaubensempfinden mit sich bringt und viele Menschen beschäftigt hat. Dass diese Thematik stets im Horizont eschatologischer Fragestellungen bedacht und traktiert wurde, zeigt beispielsweise deren Rekurrenz in den Leichenpredigten dieser Zeit.52 Neumeister, der sich zeitlebens nicht allein als Wahrer der reinen Lehre aus einer ihr innewohnenden eigenen Begründungsdynamik der Selbsterhaltung, sondern aus seelsorglichem Interesse engagierte, trafen diese und andere Zusammenhänge schwer. Johann Jacobi indes gab seiner Sorge um das Seelenheil der Gemeinde Raum, indem er energisch davor warnte, den richtigen Bußtermin zu verpassen: Ein jeder solte gedencken: Ach wie viel tausend-tausend-Tausend haben schon vor uns die Buße versäumet! wie viel werden wohl dieses Jahr/ diesen Monat/ diese Woche/ diesen Tag in Sünden gestorben seyn/ von denen allen mit einander nicht ein einziger kann errettet werden/ ob gleich alle Potentaten ihre Macht zusammen setzten. Ist es ein großes/ wenn mancher eine Sache/ die etliche tausend betrifft/ versäumet! Ist es noch grössers/ wenn man den Feind lässet so starck werden/ daß er uns um die Freiheit bringet! so ist es das allergrößte/ wen[n] der armen Seelen Wohlfahrt versäumet wird.53

Johann Georg Böse, der eigentliche Protagonist des Sorauer Arms im ‚terministischen Streit‘ kannte die Predigten Johann Jacobis offenbar gut, wie viele Referenzen auf das Werk des Oschatzer Diakons nahelegen. Ob Böse Jacobi als Prediger auch wirklich gehört hat, wie Grünberg vermutet,54 muss dahingestellt bleiben. Bei alledem bestehe, so zunächst Jacobi und dann auch Böse,55 immer die akute Gefahr, dass die Seligkeit der Glaubenden in ernsthafte Gefährdung geraten könne. Der Boden, auf dem Neumeister seine seelsorgliche Tätigkeit in Sorau aufbauen musste, war alles andere als fest; vielmehr erlebte er eine Gemeinde, der es zunehmend schwerfiel, sich auf die reine Gnade Gottes zu verlassen, sodass Neumeisters theologisches Profil und seine Konzentration auf die gnadentheologischen Aspekte lutherischer Theologie vor diesem Hintergrund 52 Vgl. Peter Assion: Sterben nach tradierten Mustern. Leichenpredigten als Quelle für die volkskundliche Brauchtumsforschung. In: Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften. Bd. 3. Hg. von Rudolf Lenz. Köln u. a. 1984, S. 227–247; vgl. für den pietistischen Kontext Hans Schneider: Die pietistische Leichenpredigt. In: Lenz (Anm. 52), S. 37–64. 53 Jacobi (Anm. 48), fol. A 6v. 54 Vgl. Reinhold Grünberg (Hg.): Sächsisches Pfarrerbuch. Bd. 2. Freiberg/Sachsen 1940, S. 393; vgl. Gößner (Anm. 51), S. 39 mit Anm. 32. 55 Böse betont im Rahmen seiner Hauptschrift zum Terminismus, dass er sich in seinen Ausführungen auf Jacobis Ansätze stützt, vgl. Johann Georg Böse: Terminus peremptorius Salutis Humanae. Frankfurt a. M. 1698, z. B. fol. 3v–4r.

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nachvollziehbar erscheinen. Die erhöhte Wachsamkeit, die Böse von seiner Gemeinde gefordert hatte,56 bewirkte eher eine breite Unsicherheit, der Neumeister in immer neuen Anläufen entgegenzuwirken suchte. Während der Terminismus-Konflikt in den lutherischen Hochburgen in Leipzig, Rostock und Wittenberg immer größere Bedeutung erlangte und sich die argumentative Lage zu Ungunsten der pietistischen Vertreter wandelte, schienen die Entwicklungen in Sorau völlig unbeeindruckt von der theologischen Großwetterlage. Dort kam es, „beinahe ungerührt von der publizistischen Eskalation und in bemerkenswertem Kontrast zu ihr“ dazu, dass „ein allmählicher Übergang von orthodoxen zu pietistischen Ansichten“ vonstattenging.57 Die Söhne des Grafenhauses von Promnitz wurden immer stärker in der genauen Kenntnis der Heiligen Schrift unterwiesen und stellten die Weisungen der Bibel in das Zentrum ihres frommen Strebens und Handelns.58 Einzelne Persönlichkeiten der gräflichen Familie, zum Beispiel Heinrich von Promnitz, ließen sich auch theologisch und dogmatisch unterweisen, erstaunlicherweise anhand des orthodoxen Kompendiums Leonhart Hütters (1563–1616).59 Anlässlich von Todesfällen von Mitgliedern der Grafenfamilie von Promnitz wurde der Kampf zwischen einer orthodoxen und einer pietistischen Vorstellung dessen, was man unter Eschatologie zu verstehen hatte, weiter ausgetragen. Den Tod Heinrichs von Promnitz machte sich der orthodoxe Superintendent Ludwig Lucius zueigen, indem er das fromme Sterben Henrichs und dessen bis zuletzt kräftige Bußfertigkeit und -bereitschaft in der Leichenpredigt unterstrich und betonte, dass er mit dem sterbenden Heinrich an dessen Sterbebett eschatologische Diskussionen geführt habe.60 Überhaupt war die Sorauer Kanzel – und nicht allein diese – einer der Hauptaustragungsorte des theologischen Streits zwischen Orthodoxen und Pietisten. Auch Neumeister pflegte diese Tradition, wobei viele seiner eschatologischen Vorstellungen, auch speziell zu Fragen des Jüngsten Gerichts, in Predigten abgehandelt werden, die in gedruckter Form der Gemeinde zur erbaulichen, vor allem aber rechtgläubigen Lektüre anempfohlen waren. 56 Vgl. Böse (Anm. 55), S. 112–145. Böse stärkt seine Argumentation mit Belegstellen aus der Heiligen Schrift: Jes 55; Joh 7,33 f.; 12,35 f.; Phil 2,12 f.; Hebr 3,7; 12,15 f.; Mt 24,42; 25,13 und Ps 15,22. 57 Gößner (Anm. 51), S. 97, obwohl Gößners Grenzziehungen zwischen dem, was er unter ‚orthodox‘ und was er unter ‚pietistisch‘ versteht, erstaunlich statisch wirken, vgl. ebd., S. 2–11. Zur deutlich dynamischeren Wahrnehmung der beiden frömmigkeitsgeschichtlichen Konstellationen vgl. Wolfgang Breul: Pietismusforschung seit 1970. In: Ders. (Anm. 6), S. 26–41. 58 Vgl. Magnus (Anm. 47), S. 321–331, der diese Entwicklung an eindrücklichen gräflichen Sterbeszenen vor Augen führt. 59 Leonhart Hütter: Compendium locorum theologicorum. Hg. von Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt 2006 (Doctrina et pietas, Abt. 2: Varia, Bd. 3). 60 Vgl. Ludwig Lucius: Einer gläubigen Seele Bester Schatz und Höchstes Gut. Wittenberg 1701, S. 2; zu den letzten Lebenstagen Heinrichs von Promnitz vgl. ebd., S. 57–60.

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Die intensive persönliche Frömmigkeit der Grafenfamilie von Promnitz sorgte mehr und mehr „für ein behutsames Eindringen pietistischer Impulse“61 bis hin zur Einladung Johann Wilhelm Petersens nach Sorau. In diese Konstellation hinein tritt Neumeister sein Amt als Superintendent in Sorau an und genau diese Erfahrungen prägten ihn zutiefst. Auf dieser Grundlage versteht sich sein Insistieren auf eine klassisch-lutherische Eschatologie und eine theologisch vollkommen konforme Vorstellung des Jüngsten Gerichts. Eine besonders auffällige Vorliebe für das Thema des Jüngsten Gerichts wie der Eschatologie überhaupt schien Neumeister nicht gehabt zu haben, im Gegensatz zu lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts, wie etwa Daniel Lüdemann.62 Dennoch lohnt es, die diesbezüglich einschlägigen Quellen vor dem oben skizzierten Horizont der Abwehr des Terminismus, später auch des Chiliasmus erneut zu vergegenwärtigen, zumal sich Neumeisters Auseinandersetzung mit diesen Themenbereichen nicht in Form der Predigt erschöpft, sondern seine lyrische Fortsetzung in ausgewählten Kantaten und poetischen Oratorien findet. Zweifelsfrei bildet die Ablehnung des Sorauer Terminismus einen wichtigen Ausgangspunkt von Neumeisters Insistieren auf der überkommenen Eschatologie des Luthertums.63 Zeitlebens wird er sich an die grundlegenden Weisungen der Vorstellungen Luthers und des Luthertums vom Jüngsten Gericht halten und bloß sprachlich polyvalent umsetzen, was theologisch einheitlich aufscheint: Das Jüngste Gericht als Durchgang, den es zu durchschreiten gilt; und dass man hoffnungsvoll passieren kann, wenn man dies im Vertrauen auf die Gnade des Herrn tut.

3. Grundbedingungen der Eschatologie Neumeisters – die poetotheologische Ebene Neumeisters Sprachformen und -gattungen sind so vielfältig wie die Themen, die er über sein langes Leben hinweg bearbeitet hat. Es gibt nahezu keinen zeitgenössischen Konflikt, zu dem sich Neumeister nicht in irgendeiner Form öffentlich geäußert hätte. Im Hinblick auf das Jüngste Gericht und seine Verarbeitung und Verbildlichung in Form von Sprache, Bildkunst und Musik steht Neumeister auf einem breiten Fundament der lutherischen Frömmigkeitsgeschich61 Gößner (Anm. 51), S. 100. 62 Vgl. Kurzmann (Anm. 8), S. 100 f. 63 Vgl. als Überblick Erhard Kurz: Protestantische Eschatologie von der Reformation bis zur Aufklärung. Freiburg i. Br., Basel, Wien 1980 (Handbuch der Dogmengeschichte 4), bes. S. 43–67; vgl. Ulrich Asendorf: Art. Eschatologie VII: Reformations- und Neuzeit. In: Theologische Realenzyklopädie online, https://www.degruyter.com/database/TRE/entry/tre.10_254_11/html (25.07.2022).

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te, denn die Vorstellungen vom Jüngsten Gericht haben das Luthertum als von der Reformation her durchgehend eschatologisch aufgeladen schon immer beschäftigt. Auch im Bereich der Poesie finden sich namhafte Beispiele lutherischer Prediger, die sich diesem Stoff gestellt haben, lange bevor Neumeister die Feder ergriff. In erster Linie bewegten sich derartige lyrische Texte im klassischreformatorischen Kontext von Gesetz und Evangelium, wenn sie zum einen das Grauen und den Schrecken des Jüngsten Gerichts plastisch vor Augen stellen, zum andern aber auf die Aufhebung des Schreckens und des Grauens in das gnadenhafte und gerechte Handeln Christi am Jüngsten Tag zielen.64 Auch wohnt derartigen Texten immer der Charakter des Katechetisch-lehrhaften an,65 den gerade Neumeister intensiv pflegt, wenn er seine geistlichen Gedichte als Summe seiner sonntäglichen Predigtarbeit versteht.66 Dabei erscheint die bildgewaltige Vorstellungswelt, die der Dichter Neumeister, aber mehr noch Simon Dach (1605–1659) vor Augen stellt, als Rezeption der biblischen Text- und Bildwelten,67 als Applikation oder gar Auslegung derselben im engeren Rahmen. Diese Form der Anwendung biblischer Vorstellungswelten verdeutlicht, mit welcher Vielfalt die Forschung rechnen muss, wenn sie von ‚orthodoxer Theologie‘ um 1700 im engeren Sinne spricht. Dabei ist jede lyrisch-theologische Ausformung an die Moden wie Regeln der je aktuellen poetologischen Strömungen gebunden, weshalb die Untersuchung einer poetologischen Theologie, wie jene Neumeisters, zunächst von einer Darstellung der leitenden poetologischen Interessen und Neigungen dieser Zeit auszugehen hat. In Neumeisters Fall fließen beide Seiten zusammen, denn er war selbst als poetologischer Theoretiker auf dem Buchmarkt vertreten; seine geistlichen Dichtungen sind im Wesentlichen Ergebnisse einer längerfristigen Beschäftigung mit der Poesie wie der Poetik seiner Tage. Bereits zeitgenössisch betrachtete man Neumeisters Tun in eben jenem Spannungsfeld zwischen seinen poetischen Neigungen, die, wie oben gezeigt wurde, den Moden der literarischen Galanterie zu folgen beabsichtigten auf der einen Seite und seiner Funktion als lutherischer Amtsgeistlicher auf der

64 Vgl. Hans-Henrik Krummacher: Der junge Gryphius und die Tradition. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern. München 1976, S. 484–487. Gerade Gryphius’ eschatologischen Lyrica können, wie Johann Anselm Steiger überzeugend hervorhebt, als Inbegriff lutherischer Poeto-Theologie gelten, vgl. Johann Anselm Steiger: Schule des Sterbens. Die „Kirchhofgedanken“ des Andreas Gryphius (1616–1664) als poetologische Theologie im Vollzug. Heidelberg 2000. 65 Vgl. Kurzmann (Anm. 8), S. 209. 66 Vgl. Neumeister, Geistliche Cantaten (Anm. 111). 67 Vgl. Johann Anselm Steiger: Simon Dachs geistliche Dichtung und die Poiesis des himmlischen Jerusalem. In: Simon Dach (1605–1659) – Werk und Nachwirken. Hg. von Axel E. Walter. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 126), S. 363–395, hier S. 378–385.

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anderen Seite.68 1707 hatte Christian Friedrich Hunold, eine der schillerndsten Gestalten der deutschsprachigen Galanterie um 1700,69 Neumeisters poetologische Vorlesung, die er in den 1690er Jahren an der Universität Leipzig gehalten hatte, unter dem Titel Die Allerneueste Art Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen,70 herausgegeben und Neumeister so als galanten Poetologen in seiner Zeit bekannt gemacht.71 Das Berühmtwerden und das Berühmtsein Neumeisters gründete zwar nicht auf dem großen Bekanntheitsgrad Hunolds, wurde aber von diesem mit Sicherheit weiter befördert, z. B. indem Hunold deutlich machte, dass in Neumeisters Poetologie ein Programm entfaltet war, das die nächsten Generationen von Lyrikern prägen sollte und bereits viele, Hunold eingeschlossen, geprägt hatte.72 Neumeisters hohe Berühmtheit bereits zu Lebzeiten wird durch den Erfolg seiner Poetologie, der Allerneuesten Art, untermauert, die bis 1742 in immerhin sieben Auflagen erscheinen konnte, was sie zu einer der „erfolgreichsten galanten Poetiken“ überhaupt werden ließ.73 Neben Hunolds Vorrede auf Neumeisters Poetologie ist dessen Vorbereitung ein literaturhistorisch bahnbrechender Text, auf dessen Fundament auch andere große poetologische Entwürfe zu stehen kommen sollten, wenn zum Beispiel Benjamin Neukirch seine 1724 erschienenen Anfangs-Gründe zur reinen teutschen Poesie74 offenbar auf den literarischen Regeln Neumeisters aufbaute.75 Dass es sich 68 Vgl. Dieter Merzbacher: Ob ein Poete wohl ein Superintendens seyn könne? Erdmann Neumeisters Kantatendichtungen im Spiegel seiner Poetik. In: Erdmann Neumeister (1671–1756). Wegbereiter der evangelischen Kirchenkantate. Hg. von Henrike Rucker. Rudolstadt 2000 (Weißenfelser Kulturtraditionen 2), S. 75–95. 69 Vgl. die Beiträge in Cornelia Hobohm (Hg.): Menantes. Ein Dichterleben zwischen Barock und Aufklärung. Bucha 2006; zur Verbindung von Galanterie und Aufklärung überhaupt vgl. Daniel Fulda: Galanterie als Schlüssel zur Frühaufklärung?. In: Galanterie und Frühaufklärung. Hg. von Daniel Fulda. Halle/S. 2009 (Kleine Schriften des IZEA 1/2009), S. 7–11. Die Verbindung von galanter Stilistik inkl. dem galanten ‚Programm‘ mit der Aufklärung in ihren Frühformen zeigt sich auch im Werk Barthold Heinrich Brockes’, vgl. Volker Wels: Brockes als galanter Dichter. Zur stilgeschichtlichen Verortung des „Irdischen Vergnügens in Gott“. In: Brockes-Lektüren. Ästhetik – Religion – Politik. Hg. von Mark-Georg Dehrmann, Friederike Felicitas Günther. Bern 2020 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik N.F. 32), S. 103–121. 70 S. Anm. 35. 71 Vgl. Ute-Maria Viswanathan: Die Poetik Erdmann Neumeisters und ihre Beziehung zur barocken und galanten Dichtungslehre. Pittsburgh 1989; vgl. Steigerwald (Anm. 9), Kap. IV.A, S. 341– 376; vgl. Helmut K. Krausse: „Die unverbotne Lust“. Erdmann Neumeister und die galante Poesie. In: Daphnis 9 (1980), S. 133–161; vgl. Dirk Niefanger: Romane als Verhaltenslehren. Zur galanten Poetik von Christian Thomasius und Erdmann Neumeister. In: Florack/Singer (Anm. 38), S. 355–376. 72 Vgl. Ulrich Wendland: Die Theoretiker und Theorien der sogen. galanten Stilepoche und die deutsche Sprache. Ein Beitrag zur Erkenntnis der Sprachreformbestrebungen vor Gottsched. Greifswald 1930, Diss. masch. 73 Wels (Anm. 69), S. 110. 74 Halle 1724. 75 Vgl. Wels (Anm. 69), S. 112.

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bei Neumeisters Hinführung zum poetologischen Vorlesungsstoff eher um eine tatsächliche ‚Vorbereitung‘ als eine klassische Einleitung handelt, wird dadurch nahegelegt, dass Neumeister bewusst auf breite historische Diskurse zur jüngeren Literaturgeschichte verzichtet, da solche „viel zu weitläuffig“ wären und er lieber direkt zum Kern des Problems vorstoßen wolle.76 Ein Verweis auf Daniel Georg Morhof (1639–1691) und seinen Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie77 genügt Neumeister hier vollends. Ebenso wenig verdunkelt Neumeister seine sein Leben lang währende Einstellung, dass die Poesie die höchste aller (sprachlich-verbalen) Ausdrucksformen sei, da sie göttlichen Ursprungs sei und im Wesentlichen „die Quintessenz einer Sprache in einem Verse oder Carmine“ einfangen könne.78 Alles poetische Bemühen aber ziele immer auf „Affection“, völlig gleich, ob es darum gehe, das Herz einer Frau für sich zu gewinnen oder aber sein eigenes Herz auf das Göttliche hin auszurichten.79 Und dies, die poetische Öffnung des Selbst hin zum Anderen oder zu Gott, ist eine Gabe, eine Berufung, die man nicht erlernen könne. Denn für Neumeister steht vollkommen fest, „daß die Poeten gebohren/ und nicht gemacht werden“.80 Lernen muss der so unter dem Stern der Minerva geborene und gesegnete Poet81 allerdings „gewisse Regeln/ welche sich aber selbst nach der Art und Beschaffenheit der Sprache und Poesie richten müssen“.82 Nach Neumeister ‚macht‘ man zwar keinen Poeten, man ‚macht‘ aber durchaus das poetische Handwerk und er, der Poetologe, möchte den jungen Poeten lehren, „Teutsche Verse machen zu lernen“.83 Neumeister bezieht offenbar nicht allein sein theologisches Fundament, sondern in gewisser Weise den selbst empfundenen Auftrag, der Poesie etwas Neues abzugewinnen, auf die Reformbestrebungen der Reformation im 16. Jahrhundert, wenn er festgehalten wissen will: „Zur Zeit der Reformation, wie alle Künste/ so wurde auch die Poesie reformiret“.84 Vor allem war es dann natürlich Martin Opitz (1597–1639), der das Werk der Reformation im poetologischen Sinne weiterführte, indem er die Bedeutung der deutschen Sprache für die Poesie stärker und prägender hervorhob als dies bisher der Fall gewesen

76 Neumeister/Hunold (Anm. 35), S. 1. 77 Kiel 1682. 78 Vgl. Neumeister/Hunold (Anm. 35), S. 1. 79 Vgl. ebd., S. 2. 80 Ebd., S. 5. 81 Vgl. ebd., S. 2. 82 Ebd., S. 5. 83 Ebd. 84 Ebd., S. 6; vgl. zu Hans Sachs, den Neumeister ebd., S. 5 etwas pejorativ erwähnt, Manfred Dutschke: „… was ein Singer soll singen“. Untersuchung zur Reformationsdichtung des Meistersängers Hans Sachs (1494–1576). Frankfurt a. M. 1985 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 865).

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war.85 Der durchaus in einem didaktischen Sinn gedachte Konnex von Theorie (‚Regel‘) und Praxis (‚Exempel‘)86 bringt die heutige Forschung in die komfortable Situation, bereits in Neumeisters poetologischem Collegium, das er wohl irgendwann zwischen 1695 und 1697 abgehalten hat, eigene Gedichte des jungen Galanten aufzufinden, die er für Unterrichtszwecke ersann. Dass Neumeister „wenig fremde Arbeit borgen“ will, soll aber den Lesern nicht seine eigene Poesie als „Canonisch und infallibel“ präsentieren, sondern soll zeigen, dass ein Poet, ähnlich wie ein Baumeister, der ein Haus und keine Hütte bauen will, ein eigenständiges und solides Fundament seiner Tätigkeit braucht.87 Aufschlussreich ist Neumeisters Vorsicht im Hinblick auf seine Liebeslyrik, die er als Exempel seiner Poetologie immer wieder eingestreut hat. Bereits in den 1690er Jahren ging es ihm darum, weder ein „scandalum“ noch eine Provokation formulieren zu wollen, sondern die Liebe – durchaus auch im erotisierenden Sinn – als Grundbedingung des poetischen Tuns überhaupt, des galanten poetischen Tuns insbesondere zu charakterisieren.88 In der Tat blieb die galante Dichtung auch zu keiner Zeit unkritisiert, wie vor allem spätere Beispiele wie jenes Justus Friedrich Wilhelm Zachariaes zeigen, der in seinem Spottgedicht Der Renommiste kein gutes Haar an der Galanterie lässt.89 Hinzu tritt die in der Forschung bisher nicht geklärte Frage, zu welchem Zeitpunkt sich Neumeister eigentlich für den Pfarrberuf entschied oder zumindest eine solche Karriere in die engere Wahl zog. Offenbar sah er sich bereits mit seinem seit etwa 1700 einsetzenden Kantatenwerk dazu verpflichtet, eher moralische als weiterhin erotisierende Elemente der Galanterie zu kolportieren,90 was durchaus der wohl leitenden Grundintention galanter Dichtung in ihrer deutschsprachigen Rezeption, näm-

85 Vgl. Neumeister/Hunold (Anm. 35), S. 6; vgl. zu Opitz’ Reformwerk den grundlegenden Vortrag von Wilhelm Kühlmann: Martin Opitz. Deutsche Literatur und deutsche Nation. Heidelberg 2 2001; zur theologischen Verortung vgl. Johann Anselm Steiger: „Diß Donnerwort heißt Ewigkeit“. Lyrisch-eschatologische Strategien gegen die Prokrastination bei Martin Opitz und Johann Rist und deren interkonfessionelle Tragweite. In: Martin Opitz (1597–1639). Autorschaft, Konstellationen, Netzwerke. Hg. von Stefanie Arend, Johann Anselm Steiger. Berlin, New York 2020 (Frühe Neuzeit 230), S. 203–220; zum Reformprogramm auch in geistlicher Hinsicht vgl. Klaus Garber: Der Reformator und der Aufklärer Martin Opitz (1597–1639). Humanist im Zeitalter der Krisis. Berlin, Boston 2018. 86 Vgl. Neumeister/Hunold (Anm. 35), S. 8. 87 Vgl. ebd., S. 8 f. 88 Vgl. ebd., S. 9. 89 Vgl. den Abdruck des Gedichtes samt Einleitung bei Ruth Florack (Hg.): Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur. Stuttgart, Weimar 2001, S. 324–342. 90 Vgl. Over (Anm. 37), S. 129.

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lich galante ‚Conduite‘ lehren zu wollen,91 entspricht.92 Im Kern aber ist es für die galante Dichtungstheorie selbst kein Problem – und offenbar zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht für Neumeister –, dass „manchmal Exempel von LiebesSachen mit unterlauffen“.93 Es überrascht daher auch nicht, dass Neumeister seine Vorrede auf Die Allerneueste Art mit dem schlichten Satz „Ich bin nun so“ endet.94 Neumeister, der die Poesie als etwas von Gott her Kommendes verstand, fühlte sich als berufener Poet, der seine Fähigkeiten später in den Dienst der geistlichen Lyrik stellen sollte. 1705 notiert er in der Vorrede zu seinen Poetischen Oratorien nahezu beiläufig, dass er mit diesen Texten den Anfang seiner geistlich-poetischen Karriere gesetzt hatte. Zugleich reflektiert er über die Ursprünge seiner Poesie überhaupt: Diß sind die allerersten Früchte/ so aus meiner geistlichen Poesie erwachsen. Sind sie nun weder reiff noch wohlschmeckend/ so vergnüge man sich desto mehr an den Kern-Sprüchen der Heiligen Schrifft/ und an der nie genug gepriesenen Composition des virtuosen Herrn Kriegers [scil. Johann Philipp Krieger, 1649–1725]. Ich hatte in meinen StudentenJahren/ wo noch kein Creutz den Psalter-Stimmen lernete/ etliche Stücke zu meiner Ubung auffgesetzet/ und selbige wohlgedachtem Herrn Krieger communiciret/ welcher sie nicht untüchtig schätzte/ der Music zu würdigen.95

Neumeisters Poetische Oratorien erblickten in ihrer Druckfassung erst nach seinen Geistlichen Cantaten das Licht der Welt, sind aber wohl etwas älter als seine Kantatentexte. Neumeister bietet, nach Auskunft seiner ‚Vorrede‘ zu den Poetischen Oratorien, in dieser Sammlung allerdings die erste Textgestalt in unveränderter Weise, da sonst auch die „Composition in eine andere Forme gegossen“ werden müsse, was Neumeister vermeiden möchte, obwohl er seine Texte gerne etwas abgeändert hätte.96 Gattungsgeschichtlich aufschlussreich ist Neumeisters eigene Einordnung seiner Texte, die er bereits mit seiner auffälligen Titelwahl anspricht: Es wird aber diese Art der Gedichte eine Poetische Oratoria genennet/ weil ungebundene und gebundene Rede/ oder Biblische Texte mit Arien/ wo zu Zeiten auch ein Vers aus einem Choral Liede gar leiblich [sic!] mit unterlaufft/ abgewechselt werden/ davon hier den

91 Vgl. Rose (Anm. 11) und ferner Isabelle Stauffer: Verführung zur Galanterie. Benehmen, Körperlichkeit und Gefühlsinszenierungen im literarischen Kulturtransfer 1664–1772. Wiesbaden 2018 (Wolfenbütteler Forschungen 152), bes. die Einleitung, S. 11–36. 92 Vgl. zu Thomasius’ Ansatz in der Sache Steigerwald (Anm. 9), Kap. III, S. 217–340, speziell zur ‚Sittenlehre‘ Kap. III. C, S. 298–334. 93 Neumeister/Hunold (Anm. 35), S. 9. 94 Ebd., S. 10. 95 Erdmann Neumeister: Poetische Oratorien oder Kirchen-Music Von Biblischen Sprüchen und unterlegten Arien. Freiberg 1705, fol. ()4v–()5r. 96 Ebd., fol. ()5v.

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Anfängern der Poesie Modelle genung vor Augen liegen. Sie kommen den Cantaten sehr nahe/ und ist zwischen beyden kein anderer Unterschied/ als daß anstatt des Rezitativs Sprüche genommen werden.97

Der Vorteil der Gattung ‚Oratorium‘ im Vergleich mit der ‚Kantate‘ liegt Neumeister zufolge in dessen Vielstimmigkeit und der breiteren Varianz an Aufführungsmodalitäten: Die Oratorien scheinen aber doch vor jenen [scil. den Kantaten] den Vortheil zu haben/ daß sie nicht eben in ein solo, sondern in viel Stimmen gesetzt werden können/ der geneigte Leser und Hörer vergnüge damit seine Andacht/ und singe und spiele dem Herrn in seinem Hertzen/ wenn er diesen Lob-Opffer Gottes mit beywohnet/ so hat beydes der Componiste und Poete seinen Zweck erreicht.98

Mit seinem Eintritt in das geistliche Amt veränderte sich auch Neumeisters Verständnis dessen, was zu den Aufgabenbereichen der Poesie zu zählen ist. Nicht länger ist die Poesie selbst ein nahezu theophanes Ereignis, sondern ist eine Dienerin und als eine solche dem höchsten Zweck des Gotteslobes und dem edelsten Werk des Poeten (wie auch Musikers), der Erbauung des Nächsten, subordiniert. Im Zentrum steht und bleibt das Wort der Heiligen Schrift, in deren Dienst stehend sich die Poesie einer noch eindrücklicheren Artikulation des in der Schrift Gesagten widmen soll: Es sey aber ferne/ daß die Poesie und Music sich einiges Ruhmes hier unter anmassen sollten/ sondern alle Belustigung der Andacht behalten wohl die Biblischen Texte vor sich/ als etwas eigenes/ und theilen sie der andern Arbeit nur mit/ als die Sonne andern Geschöpffen durch gütige Influentz Licht und Wärme.99

Wenn nun das Wort Gottes selbst bereits über eine derartige Kraft verfügt, dass es aus sich selbst heraus alles erleuchtet und durchsichtig macht, wozu bedarf es dann noch der Ausformung durch Poesie oder Musik? Darauf hat die Bibel selbst eine Antwort, wie Neumeister referiert: Wahr ist es/ daß das Göttliche Wort allemahl mit einer lebendigen Krafft des Heiligen Geistes vereiniget ist. Allein gleichwie der Geist des Herrn durch die Music in dem Propheten Elisa erwecket wurde: So ist auch gewiß/ daß selbige Krafft vermittelst dieser himmlischen Kunst und Englischen Ubung noch einmal so süsse ins Hertze fällt. Und wie hiernächst der Apostel selbst ermahnet/ dem Herrn mit Geistl. Liedern zu dienen: Dergestalt kann es dem lieben Gott nicht mißfällig seyn/ wenn unter die Biblischen Sprüche eine Aria geleget/ und in seinem Heiligthume ihm zu Ehren/ und seiner Gemeine zu erbauender Ergötzung musiciret wird.100

97 Ebd., fol. ()6r. 98 Ebd. 99 Ebd., fol. ()3r. 100 Ebd., fol. ()3v–()4r.

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„Vermittelst“ der Musik, ist das semantische Zauberwort, mit dem Neumeister verdeutlichen will, welche Ebene Poesie und Musik im Geschehen des Glaubensvollzuges finden kann. Es ist eine Ebene der religiösen Kommunikation des von außen Kommenden nach innen, ein Weg in die Verinnerlichung der äußerlich zugesprochenen biblischen Botschaft; eine Form der Applikation biblischer Texte für das eigene Glaubensleben und eine Form emotionaler Stimulanz, die zu einer tieferen Erbauung führen kann. Da der Weg inwärts das Luthertum seit seinen Anfängen im Werk Luthers immer wieder prägte,101 überrascht es wenig, dass nicht nur viel geistliche Musik produziert wurde,102 sondern dass sich auch zahlreiche musiktheologische Texte – insbesondere aus dem 17. Jahrhundert – finden lassen.103 Im Inwärts-Werden des göttlich zugesagten Wortes liegt ein Schlüssel zum Verständnis protestantischer Theologie als transformative Theologie, die der Direktheit des Wortes Gottes zwar gewahr ist, diese Direktheit aber in Form kulturell akzeptierter ‚Codierung‘ – etwa „vermittelst“ Musik – bis ins Herz hinein erlebbar werden lässt. Neumeisters Poeto-Theologie zeigt sich auch im Kontext seiner Beschäftigung mit eschatologischen Themen und Fragen des Jüngsten Gerichts sehr deutlich, wie hier nur angedeutet werden kann. Das Programm einer poeto-theologischen Verschmelzung zeigt sich in seinen Poetischen Oratorien besonders eindrucksvoll. Kirchenjahreszeitlich war es vor allem der zweite Advent, der mit seinen Perikopen zum Endgericht zu einer vertieften Beschäftigung mit den letzten Dingen provozierte. Ausgewählte Texte zum zweiten Advent sollen den oben angestellten grundlegenden Überlegungen als kurze Beispiele der Anschauung zur Seite gestellt werden.

4. Kreuzungspunkt zweiter Advent. Neumeister und das Jüngste Gericht Die biblische Textstelle, auf die Neumeister in seinen Poetische[n] Oratorien Bezug nimmt, steht im Kontext einer Aufforderung zur bußfertigen Grundhaltung angesichts des nahenden Gerichtstages. Apg 17,31 mahnt, dass Gott selbst einen 101 Vgl. Volker Leppin: Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln. München 2016; vgl. ders.: Ruhen in Gott. Geschichte der christlichen Mystik. München 2021, bes. Kap. 11, S. 303– 324; vgl. Wolf-Friedrich Schäufele: Christliche Mystik. Göttingen 2017, bes. Kap. XI, S. 218– 236; vgl. Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland. Bd. 6/1: Verzweigung: Die protestantische Mystik (1500–1650). Freiburg i. Br. u. a. 2017. 102 Vgl. hier nur die Exempel bei Wolfgang Hochstein: Handbuch der Musik des Barock. Bd. 2: Geistliche Vokalmusik des Barock. Lilienthal 2019; zur bereits reformationszeitlichen Hochschätzung der Musik als Medium der Schriftauslegung vgl. Chiara Bertoglio: Reforming Music. Music and the Religious Reformations of the Sixteenth Century. Berlin, Boston 2017. 103 Vgl. Joyce L. Irwin: Neither Voice nor Heart alone. German Lutheran Theology of Music in the Age of the Baroque. New York u. a. 1993 (American University Studies 132).

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Tag gesetzt habe, der zum Gerichtstag bestimmt sei. Ganz im Sinne einer ‚klassisch-lutherischen‘ Haltung, das Gericht in größtmöglicher Vorbereitung zu erwarten, eröffnet Neumeister mit einer entsprechenden Arie: Wach auff/ wach auff/ du sichre Welt! Hebt eure Häupter auff/ ihr Frommen! Der letzte Tag ist angestellt/ Da Gott wird zum Gerichte kommen. Wer weiß/ ob die Minute nicht Das Urtheil allen Menschen spricht.104

Das, was Neumeister schlicht als ‚Ersatz‘ für das Rezitativ als Unterscheidungskriterium zur Kantate betont hat, findet sich im direkten Gefolge der zitierten Arie. Ein biblischer Leitspruch, hier aus 2Kor 5,10, mahnt an, dass das Gericht alle betreffe und es keine Ausnahme geben könne. Neumeister nutzt die Gelegenheit für eine weitere Arie, deren Aussagekern nun darin liegt, den Bogen zu einer Form des ‚Tun-Ergehen-Zusammenhangs‘ zu spannen, wenn er auf Folgendes aufmerksam macht: Daß Gott erbarm! Wer böse hat gehandelt/ Muß in den Pfuhl der bösen Geister gehen. Gott seys gedanckt! Wer gut und fromm gewandelt/ Wird in dem Licht der guten Engel stehn.105

Der dichotomischen Struktur von Strafe und Lohn entsprechend stellt Neumeister ein Schreckens- und ein Gnadenbild in ein direktes Gegenüber. Hier ist die Kunst der Unterscheidung bei den Lesenden und Hörenden evoziert, die als solches einen Wesenskern reformatorischer Theologie ausmacht und gerade auch für Luther von entscheidender Bedeutung war. Dieser Ambiguität folgend steht eine klare Paränese vor Augen, die durchaus im Sinne des Paulus verstanden werden kann, dessen zweitem Brief an die Korinther der biblische Leitspruch zur Arie entnommen war: Ach Menschen/ wandelt doch im Lichte/ Weicht von der finstern Sündenbahn/ Daß euch das strenge Zorngerichte Nicht ewiglich verdammen kan.106

Der Duktus der diesbezüglich einschlägigen lyrischen Texte Neumeisters entspricht durchaus der Dialektik von Gesetz und Evangelium und steht in einer breiten Lehrkontinuität mit dem Luthertum vor Neumeister. Der Mahnung und dem Schrecken folgt die Zusage der Gnade unter der Voraussetzung, dass Gottes 104 Neumeister (Anm. 95), S. )2(. 105 Ebd. 106 Ebd., S. )3(.

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Gebote wirklich ihren Wert im Christenleben behalten haben. Mit antithetischen Bildern wie ‚Licht‘ und ‚Finsternis‘ („finstern Sündenbahn“) verdeutlicht Neumeister die Alternative, die auch bereits Artikel 17 der Confessio Augustana mit der Lehre vom doppelten Ausgang des Jüngsten Gerichts deutlich formuliert hatte und die im Luthertum bekenntnismäßig fixiert war: es führt der Weg ins „Zorngerichte“ oder eben ins Gnadenvolle. Diese semantische Struktur durchzieht Neumeisters Eschatologie wie ein cantus firmus, eröffnet den Adressaten aber im Gegensatz zur Lehrauffassung seiner pietistischen Gegner im ‚Terminismus-Streit‘ einen Raum der Buße, d. h. eine Möglichkeit zur Umkehr zu jedem Zeitpunkt des Lebens. Wichtig bleibt, wachsam zu sein und sich nicht dem sündigen Schlummern hinzugeben. Als Seelsorger wie lutherischer Theologe weiß Neumeister aber zugleich, dass es nicht allein in der Kraft der Christenmenschen liegen kann, die nötige Stufe der Wachsamkeit in der Buße zu erreichen, sondern dass sie dabei auf Gottes Gnade gänzlich angewiesen sind. So folgt den beiden oben dargelegten Blöcken aus biblischem Leitspruch mit Arie ein dritter Block, der mit Lk 21,36 auf die wahre Haltung von aufrechten Christen hinweist, die allezeit der Versuchung widerstehen sollen. Neumeisters dann folgende Arie verweist in durchaus poimenischer Hinsicht auf das nötige Gottvertrauen in dieser Sache: O Jesu, hilf zur selben Zeit Von wegen deiner Wunden/ Daß ich im Buch der Seligkeit Werd eingezeichnet funden. Daran ich denn auch zweifle nicht. Denn du hast ja den Feind gericht Und meine Schuld bezahlet.107

Am Ende steht – und dies ist mit Blick auf Neumeisters poetische Soteriologie von hoher Relevanz – die Bitte des lyrischen Ich um Versöhnung mit Gott, wodurch der zweite Advent zum ‚Kreuzungspunkt‘ des Kirchenjahres avanciert, insofern die Perikopentexte samt ihrem Gerichtsbezug in der Erwartung der Geburt Christi am Weihnachtsfest bereits einen soteriologischen Bogen geschlagen haben. Neumeister greift diesen biblischen Spannungsbogen von der Krippe zum Kreuz auf und nutzt zugleich den erwartenden, offenen und spannungsreichen Charakter des Advents, um die nötige Wachsamkeit bei seiner Gemeinde hervorzurufen. Sich auf Gottes Gnade verlassen zu können, scheint für Neumeister ein bewusster Willensakt zu sein, der, hier folgt er der Theologie Luthers, natürlich auch im Gnadenwillen Christi begründet ist, da dieser ihn im Menschen erst wecken muss. Insofern bleibt das Handlungsvermögen der 107 Ebd.

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menschlichen Mitwirkung an der Erlangung des Heils im Luthertum auch bei Neumeister voluntaristisch erstaunlich unterbestimmt und hinterlässt viele Fragen, auch mit Bezug auf die Fruchtbarmachung ‚guter Werke‘ im Christenleben. Vom ersten Block mit seiner Aufforderung zum Wachsein in einer bloß scheinbar sicheren Welt bis zum letzten Satz des Poems, der die Begleichung der Schuld im Zusammenhang mit den Wunden Jesu im Blick hat, öffnet Neumeister einen geistlichen Erwartungshorizont ganz im Sinne seines poeto-theologischen Programms, das Wort der Schrift plastischer erlebbar werden zu lassen. Die Plastizität aber hinter den bildgewaltigen Monumenten der biblischen Perikopen, etwa und gerade im Bezug auf ein wichtiges Zentrum lutherischer Soteriologie, dem Kreuz Christi, das in alle theologische Bereiche vom christologischen Zentrum her ausstrahlt, liegt in der lutherischen Theologie und ihrer Durchlässigkeit für intermediale Ereigniskonstellationen und Aneignungen.108 Das Mittel der madrigalen Dichtungsform, das Neumeister zum Erreichen dieser Ziele wählt, mag in der Sache nicht neu und auch nicht innovativ sein,109 zeigt sich aber in seiner theologischen Applikation als einzigartig und originell. Das Madrigal habe den entscheidenden Vorteil, so Neumeister in seiner Vorrede zu seinen Geistlichen Cantaten,110 dass es ausgesprochen flexibel ist und so das biblische Wort nicht verbogen werden muss, um in die Verse zu passen.111 Dass Neumeister ganz im Sinne galanter ‚Conduite‘ auch in seinen geistlichen Werken nicht allein auf Erbauung oder Gotteslob, sondern auch auf moralische Integrität innerhalb seiner Gemeinde zielt, zeigt seine Vorstellung davon, was eine geistliche Arie im Wesentlichen leisten solle: Was die Arien belanget/ sollen selbige aus einer/ zum meisten aus zweyen/ sehr selten aus dreyen/ Strophen bestehen/ und allemahl einen affect, oder morale, oder sonst etwas besonderes in sich halten. Und hierzu mag man nach eignen Gefallen ein bequem genus erkiesen. Kan bey einer Aria das so genannte Capo, oder der Anfang derselben/ am Ende in einem vollkommenen Sensu wiederhohlet werden/ läßt es in der Music gar nette.112

108 Vgl. Johann Anselm Steiger: Christus pictor. Der Gekreuzigte auf Golgatha als Bilder schaffendes Bild. Zur Entzifferung der Kreuzigungserzählung bei Luther und im barocken Luthertum sowie deren medientheoretische Implikationen. In: Golgatha in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit. Hg. von Johann Anselm Steiger, Ulrich Heinen. Berlin u. a. 2000 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 113), S. 93–127, hier S. 93; vgl. Kurzmann (Anm. 8), S. 56. 109 So etwas überspitzt Michael Maul: Leipziger Inspirationsquellen für Erdmann Neumeisters Geistliche Cantaten. In: Hirschmann/Rose (Anm. 15), S. 50–73, hier S. 50 f.; vgl. dagegen treffender Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Oratorienlibretti. Von den Anfängen bis 1730. Paderborn u. a. 2005 (Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik 12), hier Kap. 3, S. 129–160; vgl. zudem Poetzsch (Anm. 26), Kap. II, S. 46–70. 110 Hier zitiert nach der Ausgabe Magdeburg 1705; vgl. Miersemann (Anm. 26). 111 Vgl. Erdmann Neumeister: Geistliche Cantaten über alle Sonn- Fest- und Apostel-Tage. Magdeburg 1705, fol. )( 3r–v. 112 Ebd., fol. )( 3v–4r.

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Neumeister steht damit in der Tradition einer affektbetonenden und diese Affektbetonung konstruktiv zum Mittel der Erbauung nutzenden Barock-Tradition, die zur Zeit Neumeisters einen wichtigen Höhepunkt erreicht hatte.113 Neumeister nutzt die Affektivität der sprachlichen Konstellationen auch der biblischen (Vor-)Bilder zudem zur moralischen Erbauung, die nicht allein auf persönliche Frömmigkeit, sondern auch auf einen gottgefälligen Lebenswandel zielen soll. Neumeisters Sorge, dass Predigtamt und Poetendasein nicht so recht kongruent lebbar seien, erwies sich als falsch, da er gerade mit den Mitteln der Poesie und der Affektreizung ungeahnte Erfolge erzielen konnte. Ganz abgesehen davon konnte Neumeister auch gar nicht von der Poesie lassen: Zwar da es Gott gefiel/ mich den unwürdigsten seiner Knechte zum Predigt-Ampte zu beruffen/ schien es/ daß ich diesem studio [scil. der Poesie] gute Nacht geben solte; allein dessen Lieblichkeit hatte mich so eingenommen/ daß ich sie noch nicht vergessen noch lassen konte […].114

Im Kontext seiner Geistlichen Cantaten, aus denen die hier angeführten theoretischen Überlegungen stammen, ist der liturgische Rahmen von Neumeisters Darlegung des Jüngsten Gerichts erneut der zweite Adventssonntag. Im Gegensatz zu den Poetischen Oratorien eröffnet Neumeister in seinen Geistlichen Cantaten direkt mit einem Sinnspruch: Wird mein Jesus nicht bald komen? Daß er über alle Welt Endlich den Gerichts-Tag hält? Ach, das wünschen alle Frommen! Wird mein Jesus nicht bald kommen?

Die rezitativische Form, mit der Neumeister den Anfang seiner Kantate markiert, weist darauf hin, dass er darum bemüht war, außerkirchliche kulturelle Errungenschaften – wie es das Rezitativ für die Oper war – in den liturgischen Gebrauch zu überführen. Das Rezitativ (sowie die von Neumeister frequentierte Form der Da-Capo-Arie) entstammen der Oper.115 Die darin angelegte dramatische Signatur möchte Neumeister auch für den geistlichen Nutzen fruchtbar werden lassen, weiß aber auch um die möglichen Einwände, die einer solchen

113 Vgl. Dagmar Glüxam: „Aus der Seele muß man spielen …“. Über die Affekttheorie in der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts und ihre Auswirkung auf die Interpretation. Wien 2020; vgl. Bruce Haynes, Geoffrey Burgess: The Pathetick Musician. Moving an Audience in the Age of Eloquence. New York 2016, bes. Kap. 1, S. 18–37. 114 Neumeister (Anm. 111), fol. )( 6r. 115 Vgl. Stefan Drees: Vom Sprechen der Instrumente. Zur Geschichte des instrumentalen Rezitativs. Frankfurt a. M. 2007.

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Übertragung entgegengebracht werden könnten.116 Daher kontert er direkt und offensiv im Sinne eines Präventiv-Schlags: Wie eine Kirchen-Music und Opera zusammen stimmeten? Vielleicht wie Christus und Belial? Etwan/ wie Licht und Finsternis? Und demnach hätte man lieber/ werden sie sprechen/ eine andere Arth erwehlen sollen.117

Neumeisters weitere Argumentation spricht für sich selbst: Wiewohl darüber will ich mich rechtfertigen lassen/ wenn man mir erst beantwortet hat: Warumb man nicht andere geistliche Lieder abschaffet/ welche mit Weltlichen und manchmal schändlichen Liedern eben einerley genus versuum haben? Warumb man nicht die Instrumenta Musica zerschlägt/ welche heute sich in der Kirche hören lassen/ und doch wohl gestern bey einer üppigen Weltlust aufwarten müssen?118

Neumeister sieht kein größeres Problem in der Übertragung dieser Dichtkunst auf geistliche Kontexte, da ja der Kontext das ‚Geistliche‘ ausmache, wenn seine Verskunst im gottesdienstlichen Rahmen zu stehen kommt: Ob diese Arth Gedichte/ wenn sie gleich ihr Modell von theatralischen Versen erborget/ nicht dadurch geheiligt/ indem/ daß sie zur Ehre Gottes gewiedmet wird?119

Im Brustton dieser Grundüberzeugung dichtet Neumeister in seinen Geistlichen Cantaten zum zweiten Adventssonntag vom Jüngsten Gericht: Ein Welt-Kind mag An Seel und Leib erschüttern/ Wenns voller Angst und Zittern An diesen Tag Und sein Gerichte denkt. Dargegen wird mein Mund voll Lachen/ Voll Rühmens meine Zunge seyn. Denn da wird Jesus aller Pein/ Die mich auf dieser Welt gekränckt/ Ein ewig-selig Ende machen. Ach daß man doch so roh und sicher lebt/ Und an der schnöden Wollust klebt! Der meiste Theil will Gottes Wort nicht hören/ Noch auf den letzten Tag im Glauben nüchtern seyn. Vielmehr will man sein Hertz beschweren Mit Fressen und mit Sauffen/

116 Vgl. Bernhard Jahn: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740). Tübingen 2005 (Theatron 45), hier Kap. 4, S. 126–169. 117 Neumeister (Anm. 111), fol. )( 7r. 118 Ebd., fol. )( 7r–v. 119 A. a. O., fol. 7v.

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Und flichtet sich den Nahrungs-Sorgen ein. So muss man ja mit vollen Hauffen In die Verdammnis lauffen.120

Die Warnung vor falscher Sicherheit wiederholt Neumeister in den Poetischen Oratorien eindringlich, doch in den Geistlichen Cantaten erweitert er den Kanon des Missverhaltens um eine der Kardinalsünden: die Völlerei und die Sorge um das weltliche Wohlergehen. Nahezu folgerichtig bleibt einem solchen Leben am Ende nur die ewige Verdammnis, fern von Gott, weil dieses Leben die falschen Prioritäten gesetzt hat. In Neumeisters Denken und Dichten verbindet sich auf eine einmalige Weise die Grundsignatur lutherischer Katechetik mit dem galanten Streben nach ‚Conduite‘, die Dirk Rose durchaus auch als „Fromme Conduite“ bezeichnen und auf Neumeisters Kantaten beziehen kann.121 Die entsprechenden Verbindungen hatte die Forschung in den Arbeiten Klaus Conermanns bereits in den 1970er Jahren gezogen und die Kantate, zumal die höfische, in den Kontext des galanten Diskurses gestellt.122 Rose sieht nun die hohe Frequenz an Kantatenjahrgängen über das gesamte Kirchenjahr hinweg in der Zeit um 1700 im Bemühen um eine Verknüpfung galanter Ideale und christlicher Verkündigung begründet,123 was sofort einleuchtet, wenn man die Debatten zur ‚frommen Conduite‘ beachtet. Rose bestimmt Neumeisters ersten großen Kantatenjahrgang, seine Geistlichen Cantaten, dezidiert als Ergebnis dieses Transformationsprozesses, was Neumeisters Kantaten in gewisser Weise zu einer formgeschichtlichen Initialzündung werden lassen. Genau in diesem Rahmen steht auch Neumeisters Dichten vom Jüngsten Gericht in der Kantate zum zweiten Advent. Deren Texte bieten moralische Ermahnung und geistliche Erbauung zugleich und zielen auf eine fromme Conduite, ein gottgefälliges Leben ohne Extreme. Teil dieser christlichen Conduite ist eine Lebenshaltung, die mit Wachsamkeit und Besonnenheit einhergeht, wie das folgende Rezitativ nahelegt: Ach sichrer Mensch/ bedencke doch Dein Heyl noch in der Zeit. Wohl morgen oder heute noch Naht sich die Ewigkeit. In Höll und Himmel theilt sie sich. 120 Ebd., S. )3( f. 121 Vgl. Rose (Anm. 11), S. 388–393. Im Übrigen schlagen solche Bestrebungen auch in protestantischen Adelskreisen Wellen, was sich sogar bei Zinzendorf beobachten lässt, vgl. Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700–2000. Göttingen 2009, S. 11. 122 Vgl. Klaus Conermann: Die Kantate als Gelegenheitsgedicht. Über die Entstehung der höfischen Kantatentexte und ihre Entwicklung zum galanten ‚Singgedicht‘. In: Gelegenheitsdichtung. Hg. von Dorette Forst, Gerhard Knoll. Bremen 1977, S. 69–109. 123 Vgl. Rose (Anm. 11), S. 388.

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Da denn kein Auffschub gilt. Drum/ sichrer Mensch/ besinne dich/ Wohin du fahren wilt.124

Die repetitio ‚sichrer Mensch‘ zeigt all die Ironie, die Neumeister in diese Verse legt. Nichts ist sicher, außer dass ein wacher Geist Schlimmeres verhindern kann. Die darauffolgende reflektierende Arie involviert nun jedes einzelne Gemeindeglied in diesen Denkprozess, indem das Subjekt in die erste Person Singular gesetzt wird: Ich halte mich bereit/ Und suche nur die Ewigkeit/ Vor Gottes Angesichte. Und solte ja die Zeit Zum allgemeinen Welt-Gerichte Noch nicht vorhanden seyn/ So ist mein Wunsch doch eintzig und allein/ Die Augen zuzudrücken/ Und nur die Welt nicht länger anzusehn/ Dort aber Jesum zu erblicken. Ach möchte es bald geschehen.

Ein wirklich frommer Mensch im Sinne ‚frommer Conduite‘ braucht das Gericht nicht zu fürchten, ja, er kann es getrost herbeisehnen, um seinem Ziel, vor Gottes Angesicht zu treten und „Jesum zu erblicken“, näher kommen zu können. Der Wunsch, dass das eigene Leben von nicht allzu langer Dauer sein möge, ist in der Barockzeit Gemeingut; dennoch erscheint dieser Wunsch in Neumeisters hier skizzierter Programmatik ausgesprochen interessant, da die ‚fromme‘ oder ‚christliche Conduite‘ nun auf ein Jenseits zielt, das sich bereits jetzt in einem gottgefälligen Lebenswandel ahnen lässt. Dass der Tod im Schlusstext der Kantate (gemäß Philipper 1,21) als „Gewinn“ bezeichnet werden kann, ist als Bestandteil lutherischer Tradition anzusehen, der zufolge der eigene Tod immer mit der Überwindung des Todes durch Christi Kreuzestod ins Verhältnis zu setzen ist und dessen Wunden das Heilmittel aller Krankheiten und Todesursachen darbieten. Das Jüngste Gericht verliert seinen Schrecken aufgrund der Verkehrung des ewigen Todes in ewiges Leben auf Golgatha, und der Christenmensch ehrt diesen Tod mit einem entsprechenden Lebenswandel, der in steter Wachsamkeit dem Jüngsten Gericht entgegenfiebert, da sich dort erfüllt, was Christus mit seinem Leiden und Sterben verheißen hat. Der zweite Advent ist da christologisch ein mehr als schlüssiger Zeitpunkt für diese heilsgeschichtliche Erwägung und die Zentralstellung der 124 Neumeister (Anm. 111), S. )4(.

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konsequent soteriologisch ausformulierten Christologie in Neumeisters Theologie.

5. Ausblick – nach oben Diese zwei knappen Beispiele sollten das zuvor skizzierte Programm der PoetoTheologie Neumeisters vor dem Hintergrund einer prominenten theologischen Konfliktkonstellation der Neumeister-Zeit (‚Terminismus‘) verdeutlichen. Zu keiner Zeit geht Neumeister direkt auf die Probleme dieses pietistischen Ansatzes ein. Er wählt den Weg der Erbauung zum Rechten und Wahren hin, wie er meint. Neumeister will seine Gemeinde belehren und damit zugleich beschützen vor gefährlichen Irrlehren seiner Tage. Das Jüngste Gericht ist in Neumeisters Denken ein theologischer Allgemeinplatz, eine Konsequenz aus jener konfessionellen Gebundenheit, die Neumeisters Amtseid für den Weißenfelser Hof vergegenwärtigen sollte. Neumeisters Eschatologie unterscheidet sich kaum von Ansätzen anderer Zeitgenossen, wenngleich es einige Spitzen in allen Konfessionen gab, wenn es um die Rede vom Jüngsten Gericht ging. Das Jüngste Gericht fasziniert Menschen bis heute. Das mag daran liegen, dass es eines der großen Rätsel bleiben muss, die versiegelt bleiben, bis Christus kommt, um die Siegel zu brechen; so will es die christliche Tradition. Aus Neumeisters Ansatz lässt sich mitnehmen, dass wenig im Leben selbstverständlich ist und alles in der irdischen Existenz dem Prinzip der Vergänglichkeit unterliegt. Für die Neumeister-Zeit mündete diese Diagnose in die Mahnung, sich nicht allein dem Diesseitigen zu verschreiben, sondern das Leben als Zurüstung auf die Begegnung mit Christus von Angesicht zu Angesicht am Jüngsten Tag zu verstehen. Was diese Wahrnehmung für heutige Christenmenschen bedeutet, entzieht sich dem Urteil des Kirchenhistorikers und fordert ihn als Christ zugleich heraus.

Matthias Pohlig

Das Jüngste Gericht als eine moralische Anstalt betrachtet? Apokalyptische Perspektiven der Aufklärung

Aufklärung und Apokalypse: Das ist aus mehreren Gründen kein einfaches Thema. Erstens ist die Aufklärung (bei aller Differenziertheit ihrer Positionen zur christlichen Religion und bei aller Vorsicht, die man als Historiker gegenüber derartigen Generalisierungen einnehmen muss) relativ desinteressiert an eschatologischen Fragen. Versteht man mit Volker Leppin Apokalyptik relativ eng als „begründete und eindeutig formulierte Erwartung des Endes der ganzen Welt als eines bald hereinbrechenden Ereignisses in Raum und Zeit“,1 dann ist diese ganz sicher kein Zentralthema der Aufklärung.2 Dies gilt in noch einmal höherem Maße für das Motiv des Jüngsten Gerichts.3

1 Volker Leppin: Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618. Gütersloh 1999 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 69), S. 17. – Für kritische Lektüre und eine Reihe inhaltlicher Hinweise danke ich herzlich Franziska Neumann und Johann Anselm Steiger; für Hilfe bei der Literaturbeschaffung und der Formatierung des Aufsatzes danke ich herzlich Marna Schneider und Grischa Nehls. 2 Auf die eher auf einer philosophischen Metaebene geführte Debatte auf den Spuren Löwiths und Blumenbergs, ob die entstehende (auch aufklärerische) Geschichtsphilosophie und Fortschrittsidee ein Derivat oder Säkularisat der christlichen Eschatologie sei, wird natürlich im Folgenden immer wieder angespielt, aber sie steht nicht im Zentrum meines Beitrags, weil sie mit der engeren Thematik des Jüngsten Gerichts nur relativ lose verbunden ist. S. knappe Hinweise bei Matthias Pohlig u. a.: Säkularisierungen im frühneuzeitlichen Europa. Methodische Probleme und empirische Fallstudien. Berlin 2008 (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 41), S. 43– 47; vgl. auch Daniel Weidner: Zur Rhetorik der Säkularisierung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76 (2004), S. 95–132. 3 Nicht als exakter Beleg, sondern nur als Tendenzanzeige kann für diesen Eindruck die Suche im „Google books Ngram Viewer“ dienen, der in verschiedenen umfangreichen Buchkorpora die prozentuale Anzahl des Vorkommens bestimmter Wörter im Verhältnis zu allen anderen Wörtern anzeigt: Es ist relativ deutlich, dass im 18. Jahrhundert im Vergleich zu den zwei vorherigen Jahrhunderten die Erwähnung des Jüngsten Gerichts eher abnimmt. Vgl. https://books.google. com/ngrams/graph?content=j%C3%BCngstes+gericht%2Cj%C3%BCngste+gericht&year_start =1600&year_end=1800&corpus=31&smoothing=3&case_insensitive=true (Zugriff 14.11. 2021).

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Zweitens, und mit dieser thematischen Randposition zusammenhängend: Die Forschung zu Aufklärung und Apokalyptik bzw. Aufklärung und Jüngstem Gericht ist ausgesprochen überschaubar, wenn man sie mit entsprechenden Untersuchungen zu vorherigen Epochen vergleicht. Zum konfessionellen Zeitalter ist jüngst die wichtige Studie von Frank Kurzmann erschienen, die das Terrain erstmals kartiert.4 Eine analoge Arbeit liegt für die Aufklärung nicht vor. Die theologiegeschichtliche Aufklärungsforschung konzentriert sich eher auf andere Themen der Dogmatik, der Exegese oder der Kirchengeschichtsschreibung und geht kaum auf eschatologische Themen ein; entsprechend spielt auch das Jüngste Gericht kaum eine Rolle. Wichtige einzelne theologische und historische Arbeiten existieren selbstverständlich dennoch, und der Hinweis auf diese Arbeiten kann gleichzeitig bereits als Andeutung dienen, welche apokalyptischen Aspekte bzw. welche Dimensionen des Jüngsten Gerichts sowohl die Aufklärer selbst als auch die Forschung interessieren. Die Forschung befasst sich nämlich, wenn überhaupt, dann kaum direkt mit der Frage des Jüngsten Gerichts in der Aufklärung, sondern mit benachbarten Problemen, die auch für den vorliegenden Beitrag einige Bedeutung besitzen: etwa mit dem Themenkomplex der Ewigkeit der Strafen oder der Natur der Hölle. Nicht die ‚Institution‘ des Gerichts selbst oder dessen Ablauf interessiert die Aufklärung (und die Aufklärungsforschung), sondern die Strafen, die es verhängt. Entsprechend finden sich die wichtigsten Hinweise zum Thema ‚Aufklärung und Jüngstes Gericht‘ vor allem in Arbeiten zur Geschichte der Hölle und der Vorstellung von den ewigen Strafen, etwa in der klassischen Studie von D. P. Walker zum „decline of hell“, in Wolfgang Sommers Untersuchung zum gleichen Thema sowie in Heinz Dieter Kittsteiners Arbeiten zum Gewissen und zum Teufel.5 Daneben ist Werner Buschs Untersuchung zur Ästhetisierung und Säkularisierung der Gerichtsvorstellung in der Aufklärung heranzuziehen, der darauf aufmerksam macht, dass das Thema nicht etwa nur theologiegeschichtlich relevant ist, sondern in viele unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche, etwa auch in Kunst und

4 Vgl. Frank Alexander Kurzmann: Die Rede vom Jüngsten Gericht in den Konfessionen der Frühen Neuzeit. Berlin, Boston 2019 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 141). 5 Vgl. Daniel P. Walker: The Decline of Hell. Seventeenth-Century Discussions of Eternal Torment. London 1964; Wolfgang Sommer: Der Untergang der Hölle. Zu den Wandlungen des theologischen Höllenbildes in der lutherischen Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Ders.: Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen 1999 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 74), S. 177–205; Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M. 1995; ders.: Die Abschaffung des Teufels im 18. Jahrhundert. Ein kulturhistorisches Ereignis und seine Folgen. In: Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen. Hg. von Alexander Schuller, Wolfert von Rahden. Berlin 1993 (Acta humaniora o. Nr.), S. 55–92.

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Literatur, ausstrahlt.6 Die jüngere Aufklärungsforschung hat oft die Vielfältigkeit der Beziehungen zwischen Aufklärung und Christentum aufgezeigt. In diesem Sinne darf man vermuten, dass auch die Beziehung zwischen Aufklärung und Apokalyptik aspektreicher ist, als eine Engführung auf das Strafproblem nahelegt. Wenn auch die Frage nach der Natur der Strafen im Zentrum des aufklärerischen Nachdenkens über eschatologische Fragen steht, ist dies doch nicht die einzige Perspektive, die die Aufklärung einnimmt. Das Ziel meines Beitrags ist also nicht, die Marginalität der Apokalyptik und des Jüngsten Gerichts in der Aufklärung und andererseits die Bedeutung des Strafproblems rundheraus in Frage zu stellen. Vielmehr möchte ich zeigen, dass gerade in seiner Randposition das Motiv des Jüngsten Gerichts eine Möglichkeit bietet, die Apokalyptik des 18. Jahrhunderts in differenzierter Weise an die Aufklärung anzuschließen. Dementsprechend versteht sich mein Aufsatz auch als Beitrag zur seit etwa zwanzig Jahren wieder intensiver geführten Debatte über Aufklärung und Religion.7 Meine These lautet: Die vielfältigen impliziten wie expliziten „Umformungen des Christlichen“ und „Säkularisierungen“,8 die das 18. Jahrhundert kennzeichnen, führen im Hinblick auf das Jüngste Gericht zu einer Diskurspluralisierung und -differenzierung. Die Aufklärung nutzt dieses Motiv, wenn auch in quantitativ nicht besonders prominenter Weise, für ganz unterschiedliche Agenden. Insofern ist das Thema „Aufklärung und Jüngstes Gericht“ gut geeignet, um die komplexe und oft widersprüchliche kulturelle Gemengelage des 18. Jahrhunderts zu beleuchten. Die verschiedenen Perspektiven, die die Aufklärung im Hinblick auf das Jüngste Gericht einnimmt, können im Folgenden allerdings jeweils nur ganz kurz skizziert werden und verdienen, dies sei vorab erwähnt, sämtlich weitere Untersuchungen. Mein Beitrag beginnt mit einer kurzen Vorstellung der Apokalyptik des 18. Jahrhunderts und der Forschung dazu. (1.) Der zweite Abschnitt konzentriert sich auf die Frage des Jüngsten Gerichts in der Aufklärungsdiskussion. Auch wenn die Apokalyptik insgesamt an den Rand des Interesses rückte, sind 6 Vgl. Werner Busch: Klingemanns „Nachtwachen von Bonaventura“. Zum Ende des Jüngsten Gerichts in seiner religiösen Bestimmung. In: Zeitschrift für Germanistik NF 27 (2017), S. 454–474. 7 Vgl. nur: Simon Grote: Review-Essay: Religion and Enlightenment. In: Journal of the History of Ideas 75 (2014), S. 137–160; Jonathan Sheehan: Enlightenment, Religion, and the Enigma of Secularization. A Review Essay. In: The American Historical Review 108 (2003), S. 1061–1080; Albrecht Beutel, Volker Leppin (Hg.): Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen „Umformung des Christlichen“. Leipzig 2004 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 14); Albrecht Beutel, Martha Nooke (Hg.): Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie. Münster, 30. März bis 2. April 2014. Tübingen 2016 (Colloquia historica et theologica 2); Ethan H. Shagan: The Birth of Modern Belief. Faith and Judgement from the Middle Ages to the Enlightenment. Princeton, Oxford 2018. 8 Vgl. Beutel, Nooke (Hg.), Religion und Aufklärung (Anm. 7) sowie Pohlig u. a., Säkularisierungen (Anm. 2).

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doch im Sinne einer Pluralisierung und Differenzierung von Diskursen und Zugangsweisen einige prominente Optionen zu beobachten, über das Jüngste Gericht zu sprechen (2.). Ich schließe mit einem Ausblick und einer kurzen Schlussüberlegung (3.).

1. Die christliche Apokalyptik scheint über weite Strecken des 16. und 17. Jahrhunderts noch ein gesellschaftsweit verstehbarer „kultureller Code“ gewesen zu sein.9 Mit dieser Formulierung Thomas Kaufmanns ist gemeint, dass sich die Bildwelt der Apokalypse, egal ob aus der Johannesoffenbarung oder den synoptischen Evangelien stammend, im konfessionellen Zeitalter relativ umstandslos auf politische, soziale oder kulturelle Phänomene anwenden ließ,10 Feindbildkonstruktionen nahelegte und als Strafhorizont im Sinne einer Sozialdisziplinierung hohe Plausibilität besaß11 – ohne dass man von einer eindeutigen und homogenen gelehrten oder populären Naherwartung ausgehen müsste. Die politische und damit auch die publizistische Nutzung bestimmter apokalyptischer Motive – etwa der Antichristfigur – nahm aber bereits im 17. Jahrhundert ab, um im 18. Jahrhundert dann ganz an den Rand zu geraten. Warum der apokalyptische Diskurs schwächer oder unplausibler wurde, kann hier erst einmal auf sich beruhen.12 9 Thomas Kaufmann: Apokalyptik und politisches Denken im lutherischen Protestantismus in der Mitte des 16. Jahrhunderts. In: Ders.: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts. Tübingen 2006, S. 29–66, hier S. 33. 10 Vgl. exemplarisch: Bernard Capp: The Political Dimension of Apocalyptic Thought. In: The Apocalypse in English Renaissance Thought and Literature. Patterns, Antecedents and Repercussions. Hg. von Constantinos A. Patrides, Joseph Wittreich. Manchester 1984, S. 93–124. 11 Vgl. pointiert: Volker Leppin: Stabilisierende Prophetie. Endzeitverkündigung im Dienste der Konfessionalisierung. In: Jahrbuch für biblische Theologie 14 (1999), S. 197–212. 12 Vgl. als Überblick immer noch: Robin Barnes: Images of Hope and Despair: Western Apocalypticism: ca. 1500–1800. In: The Encyclopedia of Apocalypticism. Bd. 2: Apocalypticism in Western History and Culture. Hg. von Bernard McGinn. New York 1998, S. 143–184. S. auch: Achim Landwehr: Die endlose Geschichte vom Ende der Geschichte. Stationen endzeitlichen Denkens seit dem 17. Jahrhundert. In: Geschichte und Gott. XV. Europäischer Kongress für Theologie (14.–18. September 2014 in Berlin). Hg. von Michael Meyer-Blanck. Leipzig 2016, S. 128–156; Hans J. Hillerbrand: Von Polemik zur Verflachung. Zur Problematik des Antichrist-Mythos in Reformation und Gegenreformation. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47 (1995), S. 114–125; Krzysztof Michalski: Kurze Geschichte der Apokalypse und ihrer Verweltlichung. In: Rechtshistorisches Journal 17 (1998), S. 447–461; Markus Meumann: Von der Endzeit zum Säkulum. Zur Neuordnung von Zeithorizonten und Zukunftserwartungen ausgangs des 17. Jahrhunderts. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. Hg. von Sylvia Heudecker, Dirk Niefanger, Jörg Wesche. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 93), S. 100–121; zur besonders prominenten englischen und amerikanischen Apokalyptik und

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Sieht man von der Theologie ab, die zwar teilweise die orthodoxen Modelle des Weltendes tradierte, aber zunehmend weniger im Mittelpunkt gesellschaftlicher Diskurse stand, kann man konstatieren, dass sich das 18. Jahrhundert gerade dort, wo es zukunftsweisend erscheint, kaum für Apokalyptik interessierte. Schon gar nicht neigt es in besonders ausgeprägter Weise der Art von apokalyptischen Bildern zu, die so typisch für die zwei Jahrhunderte davor sind. Martin Papenheim formuliert im Hinblick auf das Frankreich der Aufklärung prägnant: „Der Himmel wird unattraktiv und die Hölle uninteressant.“13 Ähnliches gilt für sämtliche eschatologische Traditionsbestände und viele andere europäische Länder. Auch die Vorstellung eines nahen Jüngsten Gerichts, so muss man wohl mangels präziserer Untersuchungen sagen, ‚verblasst‘ im 18. Jahrhundert zusehends. Um diese wie andere meiner Behauptungen nicht misszuverstehen, ist es aber nötig, immer einen weiteren Sachverhalt mitzudenken: nämlich das relativ lange Fortwirken durchaus orthodoxer Positionen zum Weltende und zum Jüngsten Gericht. Auch im 18. Jahrhundert erschien eine sehr große Zahl z. B. von dogmatischen Auslegungen der Johannesoffenbarung; diese blieb „das beliebteste und am meisten illustrierte Buch der Bibel“.14 Nicht alle dieser Auslegungen und Bilder bewegten sich sehr weit weg von dem, was in den Jahrhunderten zuvor geglaubt und gelehrt worden war, und nicht alle Auslegungen und Bilder waren von der Aufklärung berührt. Schon dieser Umstand macht es nötig, die Aufklärung als „wirkungsmächtigste europäische Bildungsbewegung des 18. Jahrhunderts“15 nicht mit dem 18. Jahrhundert überhaupt zu verwechseln. Die Eigenderen Umformung im 18. Jahrhundert s. z. B. Paul J. Korshin: Queuing and Waiting: The Apocalypse in England, 1660–1750. In: Patrides, Wittreich (Hg.), The Apocalypse (Anm. 10), S. 240– 265; Warren Johnston: Revelation and the Revolution of 1688–1689. In: Historical Journal 48 (2005), S. 351–389; Avihu Zakai: Exile and Kingdom. History and Apocalypse in the Puritan Migration to America. Cambridge 1992 (Cambridge Studies in Early Modern British History o. Nr.); Christopher J. Richman: America as New Jerusalem. In: Word & World 40 (2020), S. 150–161. 13 Martin Papenheim: Die Dialektik der Unsterblichkeit im Frankreich des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 72 (1988), S. 29–43, hier S. 29. 14 Otto Böcher: Apokalyptische Strukturen in der Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 69 (2000), S. 1–18, hier S. 1. Vgl. auch: Bernhard Bach: Das Bild in der Bibel. Bibelillustrationen von der Reformation bis zur Gegenwart. München 1995; Friedhelm Hoffmann: Die Apokalypse in der Kunstgeschichte. In: Apokalypse. Bilder vom Ende der Zeit. Hg. von Richard Loibl. Limburg-Kevelaer 2001, S. 100–125 sowie die Hinweise zum 18. Jahrhundert in: Busch (Anm. 6). 15 Gerrit Walther u. a.: Art. Aufklärung. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 1. Hg. von Friedrich Jaeger. Stuttgart, Weimar 2005, Sp. 791–830, hier Sp. 791; zur jüngst wieder engagiert diskutierten Frage, was Aufklärung ist und was sie nicht ist, s. einführend: Stefanie Stockhorst: Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Göttingen 2013 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa 17); Fania Oz-Salzberger: New Approaches towards a History of the Enlightenment – Can Disparate Perspectives Make a General Picture? In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), S. 171–182.

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logik theologischer Diskurse um 1700 erscheint derart stabil, dass noch relativ lange Interessen und Positionen tradiert werden, die sich von denen des 16. und 17. Jahrhunderts kaum unterschieden. Dies gilt bei eschatologischen Themen zumal für den Protestantismus, der sich – besonders ausgeprägt im Alten Reich und in England – in relativ eindeutiger Weise als apokalypse-affin verstehen lässt. Die katholische Apokalyptik, dies ist oft beschrieben worden, ist die ganze Frühneuzeit über sehr viel weniger prominent;16 daher steht auch in meinem Beitrag der Protestantismus im Vordergrund. Allerdings ist in den überkonfessionellen religiösen Erneuerungsbewegungen um 1700 durchaus eine große Zahl oft als heterodox zu klassifizierender katholischer Positionen zu bemerken. Das neue Interesse für Mystik und Prophetie, das sich um 1700 europaweit feststellen lässt, ist auch katholisch geprägt. Doch wenden sich auch diese durchaus apokalyptischen Prophezeiungen, soweit man sehen kann, kaum direkt der Frage des Jüngsten Gerichts zu; da wo sie es tun, konzentrieren sie sich zuweilen eher auf chiliastische, d. h. hier: innerweltliche Verbesserungsideen.17 Auch die europäischen und außereuropäischen, eher protestantischen Erweckungsbewegungen des späteren 18. Jahrhunderts interessieren sich für eine (oft recht traditionell verstandene) Apokalyptik, sind aber kaum schlicht der Aufklärung zuzuordnen.18 Die Aufklärung wendet sich mit ihrer kritischen, dogmatische Positionen diskursiv auflockernden, pluralen Agenda, in Stil wie Inhalt relativ eindeutig von der orthodoxen Religiosität des konfessionellen Zeitalters, aber auch von diesen heterodoxen religiösen Erneuerungsbewegungen ab.19 Ältere und jüngere Überblicke über die Aufklärungstheologie etwa von Karl Aner oder Albrecht Beutel 16 Vgl. Hinweise zum 16. Jahrhundert bei: Heribert Smolinsky: Deutungen der Zeit im Streit der Konfessionen. Kontroverstheologie, Apokalyptik und Astrologie im 16. Jahrhundert. Heidelberg 2000 (Schriften der Philosophisch-Historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 20) sowie Andreas Pečar, Damien Tricoire: Introduction. Reformations, Prophecy and Eschatology. In: Early Modern Prophecies in Transnational, National and Regional Contexts (3 Bde.). Hg. von Lionel Laborie, Ariel Hessayon. Leiden 2021, Bd. 1, S. 1–22, hier S. 10–12. 17 Vgl. etwa Laborie, Hessayon (Hg.), Early Modern Prophecies (Anm. 16). 18 Als antiaufklärerisch charakterisiert sie die Theologische Realenzyklopädie; s. Günter Lanczkowski u. a.: Art. Apokalyptik/Apokalypsen. In: Theologische Realenzyklopädie Online: Anselm von Laon – Aristoteles/Aristotelismus. Berlin, New York 2010, hier S. 285, https://www.degruyter.com/database/TRE/entry/tre.03_189_41/html (Zugriff 21.11.2021). Diese Charakterisierung ist allerdings abhängig von einer relativ engen Definition von Aufklärung, die in der jüngeren Forschung nicht mehr zwingend vertreten wird. 19 Zum Verhältnis von Pietismus und Aufklärung s. z. B. Hans-Jürgen Schrader: Feindliche Geschwister? Der Pietismus als Widersacher und Weggefährte der Aufklärung. Sachverhalte und Forschungslage. In: Stockhorst (Hg.), Epoche und Projekt (Anm. 15), S. 91–130 sowie – mit einem Fokus auf mediale Transformationen – Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 129).

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zeigen, dass das Weltende und verwandte Themen daher von aufklärerischen Theologen – dies kann man so zuspitzen – fast überhaupt nicht behandelt wurden.20 Aufklärungstheologen gehen statt dessen aus von der „Frage nach der Bestimmung des Menschen, nach seinem Glück und seiner Erfüllung“.21 Diese anthropo- statt theozentrische Schlagseite der Aufklärung führte, wenn überhaupt, zu einer Konzentration auf das individuelle Fortleben der Seele – und eben zu einer Zurückhaltung bei der kollektiv gedachten kosmologischen Vision eines Endes der Welt und des Lebens aller Menschen.22 Neben der Anthropozentrik ist noch ein zweiter Grund namhaft zu machen, der es erlaubt, die Aufklärung als „Anti-Apokalyptik“ zu bezeichnen:23 Die Aufklärung denkt die Geschichte tendenziell nicht mehr heilsgeschichtlich, sondern immanent. Sie entwirft Konzeptionen des menschlichen Fortschritts, der schrittweisen Verbesserung und „Aufklärung“ der menschlichen Lebensverhältnisse. In diesem Sinne steht die Aufklärung in einem komplexen Abhängigkeitsverhältnis zum pietistischen Chiliasmus mit seiner Öffnung der innerweltlichen Zukunft,24 wendet sich aber von den traditionellen apokalyptischen Narrativen ab.25 Vor diesem Hintergrund entstanden im späten 18. Jahrhundert geschichts20 Vgl. Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Hildesheim 1964 (EA 1929); Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 2009. 21 Erhard Kunz: Protestantische Eschatologie. Von der Reformation bis zur Aufklärung. Freiburg u. a. 1980 (Handbuch der Dogmengeschichte, hg. v. Michael Schmaus, Bd. 4: Sakramente, Eschatologie; Fasz. 7c), S. 95. 22 Vgl. den Hinweis Wolf-Friedrich Schäufeles, dass in der Neuzeit generell futurische und kosmologische Aspekte der Eschatologie gegenüber individuellen und präsentischen zurücktreten; s. Wolf-Friedrich Schäufele: Zur Geschichte des Endes der Geschichte. Die Eschatologie als kirchengeschichtlicher Epochenmarker. In: Meyer-Blanck (Hg.), Geschichte und Gott (Anm. 12), S. 96–127, hier S. 115. 23 Jürgen Brokoff, Bernd U. Schipper: Einleitung: Apokalyptik in Antike und Aufklärung. In: Apokalyptik in Antike und Aufklärung. Hg. von dens. Paderborn u. a. 2004 (Studien zu Judentum und Christentum o. Nr.), S. 9–22, hier S. 17. 24 Vgl. Hans Schneider: Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus um 1700. In: Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen u. a. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 155), S. 187–212; Wolfgang Breul: „Hoffnung besserer Zeiten“. Der Wandel der ‚Endzeit‘ im lutherischen Pietismus um 1700. In: Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution. Hg. von Achim Landwehr. Bielefeld 2012 (Mainzer historische Kulturwissenschaften 11), S. 261–282; Ulrich Gäbler: Geschichte, Gegenwart, Zukunft. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. von Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, S. 19–48. 25 Es ist eine vieldiskutierte Frage, ob der vormoderne Zeit-, Zukunfts- und Geschichtshorizont tatsächlich so geschlossen war, wie Reinhart Koselleck annahm, und ob nicht bereits vor der Aufklärung mit einer längeren, offenen Zukunft gerechnet wurde – so dass die Aufklärung möglicherweise weniger die Zukunft öffnete als ihrerseits bereits mit einem offenen Zukunftshorizont operierte. Vgl. einschlägig: Daniel Fulda: Wann begann die ‚offene Zukunft‘? Ein Versuch, die Koselleck’sche Fixierung auf die ‚Sattelzeit‘ zu lösen. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunfts-

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philosophische Konzeptionen eines Fortschritts, einer Verbesserung oder einer ‚Erziehung‘ des Menschengeschlechts, die trotz klarer Strukturanalogien zur Apokalyptik deutlich von den traditionellen Zukunfts- und Weltendemodellen abwichen. Die Gründe dafür, warum die ‚traditionelle‘ Apokalyptik, wenn man sie so nennen will, im 18. Jahrhundert zwar keineswegs verschwand, aber in die Defensive geriet, sind vielfältig. Oft ist unklar, was Henne, was Ei ist; was die Gründe für die evidente Entwertung apokalyptischer Deutungsmuster sind und was deren Folge. Johannes Fried spricht vom „Säurebad der Aufklärung“,26 das an vielen verschiedenen Stellen die hergebrachten Vorstellungen zersetze: Der Glaube an die Wörtlichkeit der biblischen Prophezeiungen geriet im Zuge der entstehenden Bibelkritik in die Kritik. Der Mensch und das diesseitige Leben traten in allerlei theologischen wie nicht-theologischen Zusammenhängen in den Vordergrund.27 Durch neue geologische, paläoontologische, chronologische usw. Ideen und Entdeckungen wurde das biblisch-prophetisch konzipierte Alter der Welt fraglich; die neuen mechanistischen Naturwissenschaften, die die Schöpfung als Maschine reformulierten, stürzten die religiösen Vorstellungen eines nahen Weltendes in Zweifel.28 Auch führte die v. a. in der Physikotheologie vorgetragene optimistische Deutung der Welt und der Natur zu einer Abschwächung apokalyptischer Deutungen.29 Vor diesem Hintergrund bemühten sich viele der prominentesten Positionen zur Zukunft der Erde und der Menschen im 18. Jahrhundert darum, in apologetischer Absicht neueste naturwissenschaftliche Erkenntnisse aus Physik oder erwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. von Wolfgang Breul, Jan Carsten Schnurr. Göttingen 2013 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 59), S. 141–172. 26 Johannes Fried: Dies irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs. München 2016, S. 191. 27 Vgl. Kunz, Protestantische Eschatologie (Anm. 21), S. 94. 28 Vgl. Schäufele, Zur Geschichte des Endes (Anm. 22), S. 123. Natürlich erwies sich die „Weltmaschine“ doch als fragiler, als viele Aufklärer annahmen. In diesem Zusammenhang wird öfter auf das Erdbeben von Lissabon von 1755 verwiesen, das angeblich den aufklärerischen Optimismus erschüttert habe und damit – so könnte man meinen – zu einem grundsätzlichen Wiederaufschwung apokalyptischen Denkens beigetragen habe. Hier wie oft ist die Situation allerdings offenbar verwickelter. Zu den ambivalenten Konsequenzen des Erdbebens für die Aufklärung und die zeitgenössischen Deutungsmuster s. etwa: Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Berlin 2015, S. 616–631; Ulrich Löffler: „Erbauliche Trümmerstadt“? Das Erdbeben von 1755 und die Horizonte seiner Deutung im Protestantismus des 18. Jahrhunderts. In: Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten. Hg. von Manfred JakubowskiTiessen, Hartmut Lehmann. Göttingen 2003, S. 253–274. 29 Vgl. Udo Krolzik: Zeitverständnis im Spiegel der Natur. Wandlungen des Zeitverständnisses und der Naturwahrnehmung um 1700. In: Selbstverständnisse der Moderne. Formationen der Philosophie, Politik, Theologie und Ökonomie. Hg. von Günter Figal, Rolf Peter Sieferle. Stuttgart 1991, S. 42–66; zur Physikotheologie s. jüngst: Ann Blair, Kaspar von Greyerz (Hg.): Physicotheology. Religion and Science in Europe, 1650–1750. Baltimore 2020 (Medicine, Science, and Religion in Historical Context o. Nr.).

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Geologie mit den biblischen Vorhersagen zu harmonisieren. Dies wäre etwa an der breiten und kontroversen Rezeption von Thomas Burnets einflussreicher Theoria Sacra Telluris (1681/1689) abzulesen, die chiliastische Zukunftshoffnungen mit der Frage verband, wie die von ihm angenommene endzeitliche Verbrennung der Erde chemisch-physikalisch eigentlich vonstattengehen werde.30 Auch viele andere Diskussionen des 18. Jahrhunderts folgten diesem Gestus der Harmonisierung von Naturwissenschaft und Theologie – und interessierten sich folglich meistens für Fragen, die eher mit der physischen Zukunft der Erde und des Universums zu tun hatten, nur am Rande aber mit der Zukunft der Menschen und schon gar nicht mit der apokalyptischen Gerichtsvorstellung. Die Zukunft der Welt erschien primär als Problem der Verbindung von Theologie und Naturkunde, viel weniger als theologisch-moralische Frage, welche die Menschen in den Mittelpunkt rückte. Selbst dort, wo apokalyptisch gedacht und spekuliert wurde, stand also anderes im Fokus als die Frage des Jüngsten Gerichts. Insofern verwundert es kaum, wenn der Artikel zum Jüngsten Gericht in der Theologischen Realenzyklopädie die Aufklärung gar nicht erwähnt, sondern vom konfessionellen Zeitalter gleich in die Moderne springt.31

2. Die Aufklärung spielt also keine besonders große Rolle in der Geschichte der Vorstellungen vom Jüngsten Gericht. Umgekehrt ist auch die Diskussion über das Jüngste Gericht im Aufklärungsdiskurs einigermaßen marginal. Wo es aber im 18. Jahrhundert erwähnt wird, kann dies auf semantisch und pragmatisch sehr unterschiedliche Weise geschehen. Ich habe bereits erwähnt, dass sich im theologischen Schrifttum durchaus eine Tendenz zur unveränderten Weitertradierung jahrhundertealter Positionen beobachten lässt. Diese quantitativ vermutlich nicht unerhebliche Option der orthodoxen Tradierung fällt aber bewusst und absichtlich aus dem Aufklärungsspektrum heraus. So bezieht sich etwa der bekannte spätorthodoxe Theologe Johann Melchior Goeze, Hamburger Hauptpastor und religionspolitischer Gegner Lessings, in seiner umfangreichen Erklärung der eschatologischen Lehren affirmativ auf Johann Gerhards Loci theologici von 1610–1622, die Goeze nur ganz leicht modifiziert haben

30 Vgl. Matthias Pohlig: „The greatest of all Events“. Zur Säkularisierung des Weltendes um 1700. In: Ders. u. a., Säkularisierungen (Anm. 2), S. 331–371 (mit Lit.); s. auch Schäufele, Zur Geschichte des Endes (Anm. 22). 31 Klaus Seybold u. a.: Art. Gericht Gottes. In: Theologische Realenzyklopädie Online: Gabler – Gesellschaft/Gesellschaft und Christentum V. Berlin, New York 2010, https://www.degruyter. com/database/TRE/entry/tre.12_459_44/html (Zugriff 21.11.2021).

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will.32 Doch auch Goeze, dies ist in der jüngeren Forschung herausgearbeitet worden, ist als Vertreter der sog. vernünftigen Orthodoxie, die methodologisch stark von der Philosophie Christian Wolffs geprägt ist, von der Aufklärung beeinflusst und führt nicht schlicht eine traditionelle Position fort.33 Insofern ist es nicht ganz leicht, orthodoxe von aufklärerischen Positionierungen zum Jüngsten Gericht eindeutig zu unterscheiden. Klar innerhalb des Aufklärungsspektrums dagegen scheinen bei einer ersten Durchsicht vier Optionen zu liegen, über deren zeitgenössische Prominenz und langfristige Wirkung zu spekulieren aber verfrüht wäre. Das spezifische Gewicht dieser Optionen und auch die Frage, ob es noch weitere gibt, kann ich also vorerst nicht einschätzen, vermute aber, dass sich auf diesem Forschungsfeld eine Vielzahl weiterer Funde machen lassen müssten. Insofern sind die folgenden Bemerkungen eher tentativ und idealtypisch zugespitzt zu verstehen. Die erste Option könnte man mit „Spott und Lachen“ überschreiben. Es ist bekannt, aber im Hinblick auf deren epistemologische Potenziale noch zu wenig erforscht, dass eine der Strategien der Aufklärung ist, sich über andere Positionen lustig zu machen. Spott, Hohn, Lachen, oder technischer: die Ridikülisierung nicht-aufgeklärter Positionen finden sich auch im Hinblick auf eschatologische Fragen, und zwar in religiös durchaus unterschiedlichen Lagern. Oft steht dabei die spöttische Kritik am ‚Aberglauben‘ des Gegenübers im Zentrum. Wenn sich die Aufklärung auch kaum mehr affirmativ für die konfessionell tradierten Formen der Apokalyptik interessierte, dann war doch zumindest der Spott darüber eine für die Aufklärung attraktive Position.34 Die lutherisch-aufgeklärte Position etwa des Berliner Verlegers und Schriftstellers Friedrich Nicolai schlägt sich in den 1770er Jahren in seinem Roman Sebaldus Nothanker 32 Johann Melchior Goeze: Heilsame Betrachtungen des Todes und der Ewigkeit, auf alle Tage des Jahres. Zweyter Theil. Breslau, Leipzig 31763, S. 894. 33 Zur Diskussion über die Positionierung Goezes zur Aufklärung mit weiterer Literatur s.: Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 42016, S. 378 f. sowie: Ernst Peter Wieckenberg, Johan Melchior Goeze. Hamburg 2007 (Hamburger Köpfe o. Nr.); ferner: Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk. Göttingen 2018, S. 310–346. 34 Zu Ridikülisierungsstrategien der Aufklärung generell s.: Daniel Fulda: Die Gefahr des Verlachtwerdens und die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Wissenschaft, Gesellschaft und Lächerlichkeit in der frühen und mittleren Aufklärung. In: „Kann man denn auch nicht lachend sehr ernsthaft sein?“ Sprachen und Spiele des Lachens in der Literatur. Hg. von Daniel Fulda, Antje Roeben, Norbert Wichard. Berlin, New York 2010, S. 175–202; Mark Knights, Adam Morton (Hg.): The Power of Laughter and Satire in Early Modern Britain. Political and Religious Culture, 1500– 1820. Woodbrige 2017; Euan Cameron: Enchanted Europe. Superstition, Reason, and Religion, 1250–1750. New York 2010, S. 298–303; H. C. Erik Midelfort: Exorcism and Enlightenment. Johann Joseph Gassner and the Demons of Eighteenth-Century Germany. New Haven, London 2005, S. 118–142; als konzeptionellen Hintergrund s. auch: Martin Mulsow: Unanständigkeit. Zur Mißachtung und Verteidigung des Decorum in der Gelehrtenrepublik der Frühen Neuzeit. In: Historische Anthropologie 8 (2000), S. 98–118.

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nieder, der eine Satire auch auf den protestantischen Klerus des 18. Jahrhunderts ist und sich u. a. mit der Frage der Auslegbarkeit der Johannesoffenbarung befasst.35 Nicolai interessiert sich sehr für das Thema der Ewigkeit der Höllenstrafen – und lässt bei diesem Thema seinen Protagonisten in ernste Schwierigkeiten mit der lutherischen Orthodoxie geraten. Dieses Thema soll im Folgenden noch einmal aufgegriffen werden, denn es betrifft eine der wichtigsten aufklärerischen Stellungnahmen zum Jüngsten Gericht. Auffällig ist hier zunächst einmal, dass Nicolai deutliche Sympathien für seinen Protagonisten hat, der die Ewigkeit der Höllenstrafen ablehnt – aber selbst dieser wird im Sinne eines generellen Spottes über die obsessive Beschäftigung mit der Apokalypse ironisiert. Die Ridikülisierungsoption arbeitet sich insgesamt, so scheint es, daran ab, dass über zukünftige und jenseitige Ereignisse aus aufklärerischer Sicht kein sicheres Wissen gewonnen werden kann. Auch im atheistischen, materialistischen Kontext der französischen Radikalaufklärung, beim Baron Paul-Henri Thiry d’Holbach, steht diese Linie im Vordergrund: Das Christentum ist für ihn auch wegen seiner metaphysischen Grundlagen und Zukunftsvorstellungen eine absurde und daher lächerliche Lehre. Es ist besonders die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, die Holbach aufs Korn nimmt. Die traditionelle Lehre vom Jüngsten Gericht, so scheint es, ist es kaum mehr wert, gesondert angegriffen zu werden.36 In der radikalen Spätaufklärung bleibt für die gesamte johanneische Offenbarung nur Spott. Johannes sei von der orientalischen „Wahrsagungsseuche“ angesteckt gewesen: „Daß viele Stellen der Bibel, besonders aber die Bilder der Apokalypse, nicht wenigen Menschen die Köpfe verfinstern, ja sogar Verbrechen veranlassen, ist bekannt.“37 Das Jüngste Gericht als solches war also für viele Aufklärer kaum mehr interessant. Doch es eignete sich als Objekt des Spotts und wurde so zum Vehikel einer allgemeineren harschen Aberglaubenskritik, konnte aber als bekanntes Motiv auch genereller eingesetzt werden, um spöttisch Kritik an Dingen zu üben, die eigentlich außerhalb des eschatologischen Themenbereichs lagen: So erschienen im späteren 18. Jahrhundert in England Karikaturen, die sich auf spöttische Weise die Bildwelt der Apokalypse aneigneten, aber nicht als Stel-

35 Vgl. Kristine Hannak: „Heilige Thorheiten“ – Pietismus und Saitre in Nicolais Sebaldus Nothanker (1773–76). In: Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung. Hg. von Stefanie Stockhorst. Göttingen 2013 (Schriften des Frühneuzeitzentrums Potsdam 2), S. 253–273. 36 Paul Thiry d’Holbach: Religionskritische Schriften. Berlin, Weimar 1970, S. 355–370. 37 [Christian Ernst Wünsch]: Horus oder astrognostisches Endurtheil über die Offenbarung Johannis und über die Weissagungen auf den Messias wie auch über Jesum und seine Jünger […]. Ebenezer [d. i. Halle] 1783, S. 34 u. IX. S. dazu: Jürgen von Kempski: Apokalypse, „Horus“ und Wünsch. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47 (1995), S. 304–319.

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lungnahme zu religiösen Zukunftsvorstellungen, sondern schlicht um mittels eines bekannten Motivs politische Kritik zu üben.38 Dies leitet bereits über zur zweiten Option, die mit „Poesie und Ästhetik“ überschrieben werden könnte. Diderots und d’Alemberts Encyclopédie, vielleicht das Monument der Aufklärung, enthält zwar einen Artikel zum „Jugement universel“, doch interessanter- und irritierenderweise beschränkt sich dieser Artikel auf kunsthistorische Probleme. Während etwa das Lemma „Apocalypse“ die drastischen exegetischen Probleme der Johannesoffenbarung schildert und sich um die Frage des Weltendes oder gar des Gerichts gar nicht kümmert,39 stellt der einzige Encyclopédie-Artikel zum Jüngsten Gericht lediglich fest, dass „jugement universel“ in der Malerei „la représentation du jugement dernier prédit dans l’Evangile“ bedeute. Theologische Fragen interessieren den Autor nicht, sondern ausschließlich kunsthistorische bzw. -technische.40 Die meist erstaunlich wenig polemische Diskussion religiöser Themen ist zwar relativ typisch für die Encyclopédie und auch der spezifischen Zensursituation in Frankreich geschuldet.41 Dennoch kann der Encyclopédie-Artikel pars pro toto für die aufgeklärte Tendenz stehen, das Weltende und das Jüngste Gerichts in ästhetischen Spezialdiskursen unterzubringen. Das Jüngste Gericht ist natürlich lange vor dem 18. Jahrhundert und auch im 18. Jahrhundert selbst ein attraktiver Gegenstand vor allem der bildenden Kunst. Dennoch spricht manches dafür, dass es im 18. Jahrhundert teilweise „seiner religiösen Bestimmung“ entkleidet wird, wie Werner Busch formuliert, und zunehmend zur „Metapher“ werden kann – etwa für Katastrophendiskurse oder für eine verinnerlichte Gewissensvorstellung.42 Insofern unterliegt das Jüngste Gericht im Zuge der Aufklärung „einer fortschreitenden Historisierung, Ästhetisierung und Säkularisierung“.43 Diese Tendenzen lassen sich beim Blick auf die Literatur des 18. Jahrhunderts punktuell bestätigen: Schillers Franz Moor hat kurz vor seinem Ende eine Traumvision des Jüngsten Gerichts – eine Szene, die Schiller selbst explizit als Heimsuchung durch in der Kindheit gelernte biblische Schreckensbilder deute-

38 Vgl. die Karikaturen in: Frances Carey (Hg.): The Apocalpyse and the Shape of Things to Come. London 1999, v. a. S. 245–249. 39 Vgl. Art. Apocalypse. In: Encyclopédie, Ou Dictionnaire Raisonné Des Sciences, Des Arts Et Des Métiers. Bd. 1. Paris 1751, S. 527. 40 Vgl. Art. Jugement universel. In: Encyclopédie, Ou Dictionnaire Raisonné Des Sciences, Des Arts Et Des Métiers. Bd. 9. Paris 1765, S. 23. 41 Vgl Ulrike Spindler: Die Encyclopédie. In: https://langzeitarchivierung.bib-bvb.de/wayback/ 20121004142830/http:/www.pompadour.historicum-archiv.net/themen/leben_alltag/encyclope die/1_encyclopedie.html (Zugriff 11.12.2021). 42 Vgl. Busch, Klingemanns „Nachtwachen von Bonaventura“ (Anm. 6), Titel und S. 459. 43 Ebd., S. 455.

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te, die auf sein unterdrücktes Gewissen verweisen könnten.44 In einem frühen Gedicht nutzt wiederum Schiller, mit Rückgriff auf Klopstocks Messias, den Topos vom Jüngsten Gericht, um politische Kritik am Tyrannen zu üben, der sich am Ende der Zeit wird verantworten müssen.45 Doch auch jenseits berühmt gebliebener Dichter, in der populären Alltagspoesie, ist das Jüngste Gericht präsent: Bei einer Recherche in den einschlägigen Datenbanken – etwa der Bielefelder Sammlung von Aufklärungszeitschriften – fällt jedenfalls auf, dass das Suchstichwort „Jüngstes Gericht“ unter anderem auf eine größere Zahl von Gedichten oder in Prosa verfassten, eher literarischen Texten führt. Dies deckt sich mit der Beobachtung, dass dem Jüngsten Tag sowie der apokalyptischen Topik im literarischen – lyrischen und erzählerischen – Œuvre Johann Peter Hebels zentrale Bedeutung zukommen, wodurch von der zeitgenössischen (neologischen) Theologie marginalisierte Themen in transformierter Weise reaktualisiert wurden.46 Zuweilen finden sich Texte, bei denen das religiös Erbauliche und das Poetische ineinander übergehen.47 An anderer Stelle wird auf kuriose Weise en passant die Affinität des Gerichtsthemas zur künstlerischen Verarbeitung hervorgehoben (insofern es um eine Vertonung des Rubens’schen Jüngsten Gerichts geht!), um dann abrupt in Aberglaubenskritik umzuschlagen.48 Der vorherrschende Eindruck insgesamt ist: Es geht bei diesen Poetisierungen nicht in erster Linie um eine dogmatisch konforme Form der Popularisierung (wie man sie etwa in Flugschriften des konfessionellen Zeitalters erwarten würde). Umgekehrt scheint sich die Thematik des Jüngsten Gerichts wegen ihrer drastischen Bildsprache und der Akzentuierung der Affekte gut für empfindsame, präromantische Poesie zu eignen – wobei hier die Grenzen zu einer spätbarocken Affektpoesie fließend zu sein scheinen. Das Jüngste Gericht ist von allen eschatologischen Themen am leichtesten visualisier- und auch poetisierbar. 44 Vgl. Gerd Sautermeister: Die Räuber. Ein Schauspiel (1781). In: Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Matthias Luserke-Jaqui. Stuttgart, Weimar 2011, S. 1–45, hier S. 41 f.; die hier und im Folgenden angedeuteten Interpretationen literarischer Texte sind als impressionistische Hinweise gemeint. Dass eine solche holzschnittartige Einordung dieser Textbelege diesen nicht gerecht wird, ist mir natürlich bewusst. 45 Vgl. Georg Kurscheidt: Die schlimmen Monarchen (1782). In: Ebd., S. 257–259, hier S. 258. S. zu Schiller und dem Problem der Eschatologie auch: Yvonne Nilges: Schiller und das Recht. Göttingen 2012, S. 17–33. 46 Vgl. hierzu Johann Anselm Steiger: Bibel-Sprache, Welt und Jüngster Tag bei Johann Peter Hebel. Erziehung zum Glauben zwischen Überlieferung und Aufklärung. Göttingen 1994 (Arbeiten zur Pastoraltheologie 25). 47 S. z. B. Anon.: Der Sünder am letzten Tage des Jahrs. In: Schweitzersches Museum 3 (1787), 3. Quartal, S. 1122 f.; Anon.: Das jüngste Gericht. Ein Gedicht. In: Mannigfaltigkeiten 1 (1770), S. 531–535; Anon.: Aria. In: Neue Mannigfaltigkeiten 1 (1774), S. 117. 48 Vgl. Anon.: Musikalische Malerei, und Wunderglauben. In: Berlinische Monatsschrift 7 (1786), S. 381 f.

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Insofern – und dies sei als abgekürzte und kaum abgesicherte Deutung gestattet – scheint eine Funktion des Jüngsten Gerichts in der Aufklärungsdiskussion sein Potenzial zu sein, moralisch belehrend, aber gleichzeitig affektiv aufwühlend zu wirken. Das Jüngste Gericht steht für ästhetische Regionen jenseits des Schönen: Für Bereiche, die im 18. Jahrhundert klassisch durch Albrecht von Hallers Alpen-Gedicht oder Immanuel Kants Kategorie des Erhabenen repräsentiert werden.49 Gerade darin – in seiner ästhetischen Reizwirkung – kann also für Aufklärer ein Anlass bestehen, sich mit dem Jüngsten Gericht zu beschäftigen. Insofern ist das Jüngste Gericht auch und vielleicht primär eine künstlerische Herausforderung: Wenn andere das Glück der Grosen, den Ruhm der Eroberer, die Umkehrungen der Staaten, und alle die prächtigen Zurüstungen der menschlichen Macht besingen: so nahe ich mich bis hin an das Ziel der Jahrhunderte, und eröfne den Augen der Sterblichen in der Zukunft eine erstaunliche und schreckliche Scene: ich will ihre Ohren mit den lautschallenden Tönen der Trompete, welche die Nationen versammeln wird, erschüttern, und sie die letzten Seufzer der sterbenden Natur hören lassen […].50

Und wenn Friedrich von Trenck das Gedicht über das Jüngste Gericht aus Edward Youngs populären empfindsamen Night Thoughts übersetzt, weist er in seinem Vorwort vor allem auf die ästhetischen Probleme der Übersetzung, weniger auf die Bedeutung des Themas hin: und hiemit erscheinet mein jüngster Tag in der möglichst fürchterlichen Gestalt, so wie ihn der tiefsinnige Young geschildert hat, aber noch lange nicht so, wie er in seiner Wirklichkeit losbrechen soll.51

Für eine dritte Option, die ich mit „Bibel und Vernunft“ überschreiben würde, kann exemplarisch der Helmsteder Theologieprofessor Johann Ernst Schubert stehen. Schubert befasste sich in für das Aufklärungsjahrhundert außergewöhnlich engagierter Weise mit Fragen der Eschatologie und Apokalyptik. Ihm ging es um eine Komplementarität theologischer und rationaler und/oder naturkundlicher Argumente; dies gilt für sein Werk allgemein, aber eben auch für seine Schrift zum Jüngsten Gericht. Die dritte Option zielt also auf das Verhältnis von Vernunft und biblischer Offenbarung; hierfür ist gerade die Apokalypse und damit auch das Jüngste Gericht ein für die Aufklärer wichtiger Prüfstein. 49 S. instruktiv: Carsten Zelle: Das Erhabene in der deutschen Frühaufklärung. Zum Einfluß der englischen Physikotheologie auf Barthold Heinrich Brockes’ „Irdisches Vergnügen in Gott“. In: arcadia. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 25 (1990), S. 225–240. 50 Anon.: Das jüngste Gericht. In: Moralische Schilderungen der Gröse Gottes und des menschlichen Lebens. Ein Lesebuch für Jedermann. Erlangen 1788, S. 148–165, hier S. 148. 51 Friedrich Freiherr von der Trenck: Des Freih. Fried. von der Trenk sämmtliche Gedichte und Schriften. Bd. 6. Leipzig 1786, S. 98.

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Dass Aufklärer sich für die eschatologischen Spekulationen der christlichen Tradition interessieren, erscheint bemerkenswert. Johann Ernst Schuberts Biograph in der Allgemeinen Deutschen Biographie charakterisiert ihn daher mit Recht als relativ besonders: Mit Vorliebe behandelte S. die Lehre von den letzten Dingen; auch hier suchte er z. B. die Ewigkeit der Höllenstrafen aus der Vernunft zu erweisen. Dabei wollte er jedoch von der Kanzel philosophische Definitionen fern gehalten wissen.52

Offenbar war also das Verhältnis von Theologie und Philosophie ein Zentralproblem von Schuberts intellektuellem Profil.53 Nicht von der Kanzel aus, aber in ausführlichen Schriften präsentierte er sich als Anhänger der wolffianischen Methode. Seine Schriften sind meist mit der Wendung „vernünftige und schriftgemäße Gedanken“ überschrieben; während Christian Wolff seine philosophischen Schriften regelmäßig als „Vernünftige Gedanken“ bezeichnet, ist für Schubert eben diese Kopplung aus „vernünftigen und schriftmäßigen Gedanken“ charakteristisch. Wenn Schubert auch als Theologe in der Anwesenheitskommunikation des Gottesdienstes die Schriftmäßigkeit seiner Gedanken in den Vordergrund rückte und eher in der medialen Distanzkommunikation die Wolffsche Kopplung von Philosophie und geoffenbarter Theologie einsetzte, ist doch an ihm auch ein Streit der Fakultäten ablesbar. So durfte er in Helmstedt ab 1753 nur noch theologische, keine philosophischen Vorlesungen mehr halten. Seine Nähe zur wolffianischen Methode führte, trotz orthodoxester Absichten, immer wieder zu Vorwürfen, er überschreite die Grenzen lutherischer Rechtgläubigkeit.54 Schuberts Schriften zeigen ihn als Anhänger von Wolffs Methode in ihrem streng logischen Aufbau, in der immer wieder zu beobachtenden, extrem kritischen und selbstkritischen Abwägung eigener und fremder Meinungen, in ihrem in Paragraphen fortschreitenden rationalistischen Duktus. 52 Paul Zimmermann: Art. Schubert, Johann Ernst. In: Allgemeine Deutsche Biographie 32 (1891), S. 635–637; Andree Hahmann: Art. Schubert, Johann Ernst. In: The Bloomsbury Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers. Hg. von Heiner F. Klemme, Manfred Kuehn. London u. a. 2016, S. 699 f. 53 Vgl. Art. Schubert, Johann Ernst. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […]. Bd. 35. Leipzig, Halle/S. 1743, Sp. 1311–1315, hier Sp. 1312: „Hier [scil. beim Studium in Jena, M. P.] war er nun fürnehmlich darauf bedacht, sich in der reinen Gottesgelahrtheit fest zu setzen, und weil er nicht wuste, was die Philosophie zu bedeuten hätte, so beschloß er, mit derselben die Zeit nicht zu verderben. Jedoch weil er dieselbe oft rühmen hörte, so gieng er einmal mehr aus Neugierigkeit als Begierde etwas zu lernen in ein Philosophisches Collegium. Er hörte darin Dinge die er vor dem nicht gewußt, und von denen er doch glaubte, daß sie ihm als einem der Gottesgelahrtheit ergebenen nöthig wären, und, als er daher seinen Vorsatz geändert, beschloß er, neben der Theologie alle Theile der Philosophie zu lernen.“ 54 Vgl. Heinrich Doering: Die gelehrten Theologen Deutschlands im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4. Neustadt an der Orla 1835, S. 44.

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Doch am wichtigsten ist vielleicht Schuberts Bemühen um eine Komplementarität theologischer und philosophischer Argumente. Genau wie Wolff, dessen Lehre er über seine philosophischen Lehrer kennengelernt hatte, wollte er die „genaue Übereinstimmung von Natürlicher Theologie und Offenbarungstheologie, von Vernunft und Glauben“ zeigen.55 Analog zu Wolffs theologisch-philosophischem Nachdenken ging es ihm um eine „Versöhnung von Wissenschaft und Religion“, die hinsichtlich ihrer Aussagen im Gleichklang gesehen werden. Was sie unterscheidet, ist ihre Methode: Auf der einen Seite steht die Auslegung der Heiligen Schrift, auf der anderen die rationalistische, im besten Fall mathematische Vorgehensweise. Die Glaubenswahrheiten werden in diesem Doppelzugriff (ähnlich wie dies bei Johann Melchior Goeze der Fall ist) nicht angezweifelt, sondern bis zu einem gewissen Punkt rationalisiert und philosophisch eingeholt; was an ihnen schwer verständlich ist, ist (nur) „super rationem“, nicht „contra rationem“, worin eine vernünftig-orthodoxe Einschränkung zutage tritt, die Luther und die lutherische Orthodoxie so nicht vertraten.56 Wenn auch die Konvergenz von Vernunft und Glauben spätestens seit der Scholastik die christliche Theologie prägt, steigert doch Wolffs aufklärerische Haltung die Ansprüche an die Komplementarität von Vernunft und Glauben „im Rahmen eines umfassenden Rationalisierungs- und Systematisierungsprojekts“.57 Es fällt auf, wie sehr Schubert sich einerseits auf einen rationalistisch-aufgeklärten Gestus einlässt, wie traditionell (im Sinne des frühneuzeitlichen lutherischen Protestantismus) aber andererseits seine Schlüsse sind. Auch in seinen Vernünftigen und schriftmäsigen Gedanken von dem jüngsten Gericht von 1742 geht es ihm darum, Heilige Schrift und Vernunft zu harmonisieren. Schubert nimmt die typisch lutherischen Positionen – ein Partikulargericht im Moment des Todes und ein allgemeines Kollektivgericht am Jüngsten Tag – auf. Das Partikulargericht, das nicht durch einen externen Richter, sondern durch das eigene menschliche Gewissen abgehalten wird, fällt zwar durchaus ein tatsächliches Urteil, das aber gleichzeitig lediglich eine „anwartschaft zur ewigen seligkeit“ ausspricht.58 Die Seelen der Verdammten, so Schubert, würden, durch ihr Gewissen 55 Michael Albrecht: Einleitung. In: Die natürliche Theologie bei Christian Wolff. Hg. von dems. Hamburg 2011 (Aufklärung 23). S. 9–16, hier S. 10. 56 Vgl. Johann Anselm Steiger: Kontrafaktizität und Kontrarationalität des Glaubens in der Theologie Martin Luthers. In: Begriffe, Metaphern und Imaginationen in der Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Hg. von Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase, Dirk Werle. Wiesbaden 2009 (Wolfenbütteler Forschungen 120), S. 223–237. 57 Luigi Cataldi Madonna: Die Vernunft als Grundlage des Glaubens. Zu Christian Wolffs kritischer Theologie. In: Albrecht (Hg.), Wolff (Anm. 55), S. 41–55, hier S. 43. S. auch: Robert Theis: „Ut & scias, & credas, quae simul scire & credi possunt“. Aspekte der Wolffschen Theologie. In: Ebd., S. 17–39. 58 Johann Ernst Schubert: Vernünftige und schriftmäsige Gedanken von dem jüngsten Gericht. Frankfurt a. M. 1742, S. 7.

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genötigt, in diesem Moment noch beginnen, den Glauben finden zu wollen. Aber das könne nicht gelingen, denn die „zeit der gnade und offenbarung“59 sei abgelaufen. Das Kollektivgericht sei, hier ist Schubert ganz orthodox, aber eben auch noch nötig, schon weil Gott aus Gründen der göttlichen Ökonomie keine unsinnigen Veranstaltungen abhalte – ein Eindruck, der sich beim Leser des Textes eher nicht bestätigt. Das Gericht am Jüngsten Tag, vorgestellt mit Zeugen und Beisitzern, die aber nur dem allwissenden Gott als Publikum dienen, ist der endgültige kollektive Gerichtsmoment, der dem „öffentlichen beweis der gerechtigkeit und unschuld gottes“60 dient. Die Höllenstrafen, so Schubert wiederum ganz orthodox und hier Johann Lorenz von Mosheim folgend, seien ewig, weil nur dies der Größe der Beleidigung Gottes durch den Sünder entspreche.61 Die Argumentation Schuberts, so Wolfgang Sommer, zeigt einen Gott, der „Gefangener seines eigenen Gesetzes ist und nach der Art eines beleidigten Herrschers handelt.“62 Während Schubert also, meiner Meinung nach mit mäßigem Erfolg, eine apologetische Harmonisierung von Bibel und Vernunft versucht, ist dieser letzte Punkt doch interessant: Schuberts Gott ist ein beleidigter Herrscher; er hält einen öffentlichen Gerichtstag ab, bei dem es Zeugen gibt, die aber nichts sagen dürfen, und Beschuldigte, die sich aber nicht mehr rechtfertigen dürfen.63 Genau an diese unvollständige Analogie von Jüngstem Tag und weltlicher Gerichtsbarkeit schließt meine vierte Option an, die mit „Gnade und Recht“ überschrieben ist. Denn ein Thema, das die Aufklärer (ob Theologen oder nicht) am Jüngsten Gericht interessiert, sind die Strafen, aber auch die Frage des Richtens, der Gerechtigkeit und der Gnade bzw. der Begnadigung. Ich habe bereits mehrfach – etwa im Hinblick auf Friedrich Nicolai oder den gerade genannten Johann Ernst Schubert – darauf angespielt, dass die Ewigkeit der Höllenstrafen vielleicht das Thema aus dem Motivkreis Jüngstes Gericht ist, das die Aufklärer am meisten umtreibt.64 Schon Pierre Bayle fand, dass die Güte Gottes und die Ewigkeit der Strafen nicht leicht zusammenzubringen sind,65 und in der Diskussion des 18. Jahrhunderts nehmen diejenigen Stimmen zu, die sich zumindest fragen, ob die ewigen Höllenstrafen zu einem gnädigen Gott passen. Selbst dort, wo Teufel und Hölle nicht schlicht verinnerlicht, also zum diesseitigen schlech-

59 Ebd., S. 26. 60 Ebd., S. 60. 61 S. Marcus Twellmann: „Über die Eide“. Zucht und Kritik im Preußen der Aufklärung. München 2010, S. 146. 62 Sommer, Untergang (Anm. 5), S. 198. 63 Schubert, Vernünftige und schriftmäsige Gedanken (Anm. 58), S. 114 f., 122, 175, 202. 64 Vgl. Kunz, Protestantische Eschatologie (Anm. 21), S. 102. 65 Vgl. Twellmann (Anm. 61), S. 146.

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ten Gewissen gemacht werden66 (eine Position, die außerhalb der orthodoxen Theologien gar nicht selten anzutreffen ist), wird also in der Aufklärung, wenn auch durchaus teilweise zaghaft, über die Unendlichkeit der Strafe diskutiert. Dies hat möglicherweise zu tun, hier gibt die theologie- und philosophiehistorische Fachliteratur unterschiedlich zugespitzte Auskünfte, mit einer verstärkten Neurezeption des Origenes und seiner Idee einer Apokatastasis panton.67 Die Abwehr der Apokatasislehre bei Mosheim und Schubert wird aber in der zweiten Jahrhunderthälfte abgeschwächt oder implizit aufgegeben, und die Milde und Begrenztheit göttlicher Strafen wird eine der Aufklärung immer sympathischere Option. Doch nicht nur theologische Umorientierungen führten zu einem neuen Nachdenken über Sinn und Art der Strafen, die beim Jüngsten Gericht verhängt werden. Gleichzeitig bahnte sich nämlich ein neues Nachdenken über das Strafen auch in außereschatologischen und außertheologischen Zusammenhängen an. Das Thema des Strafens ist, anders als das Jüngste Gericht, für die aufklärerische Diskussion relativ zentral. „Das Strafrecht“, bemerkt Barbara Stollberg-Rilinger, „gehörte zu den polarisierenden Themen der zweiten Jahrhunderthälfte; es war einer der Prüfsteine aufgeklärter Gesinnung schlechthin.“68 Insofern überrascht es, dass bisher kaum diskutiert worden ist, ob theologische Ideen zum Jüngsten Gericht und strafrechtliche Diskurse in der Aufklärung ähnlich funktionieren. Denn es wäre ja möglich, dass die aufgeklärte Diskussion über das Jüngste Gericht nicht nur von theologischen Ideen, etwa der Auseinandersetzung mit Origenes, sondern auch von Überlegungen geprägt wird, die aus der Strafrechtsdebatte der Aufklärung stammen. Falls dies zutreffen sollte, müsste man einer Denkrichtung nachgehen, die seit Max Weber und Carl Schmitt einen Zusammenhang zwischen Gesellschaftsform/diesseitiger Strafvorstellung und jenseitiger Strafvorstellung herstellt.69 66 Vgl. Kittsteiner, Abschaffung (Anm. 5), S. 63; ders., Entstehung des modernen Gewissens (Anm. 5), S. 101, 134–150. Zur Debatte über den Teufel im 18. Jahrhundert s. auch: Friedemann Stengel: Leibniz und der Teufel. Zur Leibniz-Rezeption in den Besessenheitsdebatten des 18. Jahrhunderts. In: Theatrum naturae et artium – Leibniz und die Schauplätze der Aufklärung. Hg. von Daniel Fulda, Pirmin Stekeler-Weithofer. Stuttgart, Leipzig 2019, S. 137–165. 67 Vgl. Dirk Fleischer: Strittige Verdammnis. Zur Kontroverse um die Apokatastasislehre in der Frühaufklärung. In: Beutel, Nooke (Hg.), Religion und Aufklärung (Anm. 7), S. 523–538; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Lessings origenistische Eschatologie. In: Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Hg. von Christoph Bultmann, Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit 159), S. 138– 153; genereller: Dieter Breuer: Origenes im 18. Jahrhundert in Deutschland. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 21 (1985), S. 1–30; skeptischer zu einer genuinen Origenes-Rezeption: Kunz, Protestantische Eschatologie (Anm. 21), S. 107. 68 Barbara Stollberg-Rilinger: Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. München 2017, S. 723. 69 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen 5 1985, S. 316; und v. a. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der

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Blickt man auf die Strafrechtsdiskussion der Aufklärung, so ergeben sich zwei Tendenzen: einmal die Milderung der Strafen, andererseits die Frage nach dem Verhältnis von Gesetz und Gnade in dem Sinne, dass der Richter gleichmäßiger und berechenbarer urteilen und strafen soll. Die „strafrechtliche Aufklärung“ strebt also die „Humanisierung“ der Strafen und gleichzeitig Rechtssicherheit für den Einzelnen an. Humanisierung bedeutet hier, dass Folter und Todesstrafe in die Kritik geraten. Das Motiv der Rechtssicherheit zielt dagegen darauf, dass die Gesetze so formuliert und angewendet werden sollen, dass Gnadenakte nicht mehr nötig sind; insofern wird das Gnadenrecht des Monarchen zunehmend als illegitime Willkür empfunden.70 Die Begnadigung, jene Tugend, die man manchmal bei den Regenten für einen Ersatz der Eigenschaften hielt, die ihnen zur Erfüllung aller Pflichten des Thrones mangelten, sollte

Souveränität. Berlin 61993, S. 43: „Denn die Idee des modernen Rechtsstaates setzt sich mit dem Deismus durch, mit einer Theologie und Metaphysik, die das Wunder aus der Welt verweist und die im Begriff des Wunders enthaltene, durch einen unmittelbaren Eingriff eine Ausnahme statuierende Durchbrechung der Naturgesetze ebenso ablehnt wie den unmittelbaren Eingriff des Souveräns in die geltende Rechtsordnung. Der Rationalismus der Aufklärung verwarf den Ausnahmefall in jeder Form.“ S. in diese Richtung auch: Alois Hahn: Unendliches Ende. Höllenvorstellungen in soziologischer Perspektive. In: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hg. von Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1996 (Poetik und Hermeneutik 16), S. 155–182; Michael N. Ebertz: Die Zivilisierung Gottes und die Deinstitutionalisierung der ‚Gnadenanstalt‘. Befunde einer Analyse eschatologischer Predigten. In: Religion und Kultur. Hg. von Jörg Bergmann, Alois Hahn, Thomas Luckmann. Opladen 1993 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 33), S. 92–125. 70 Vgl. Mario A. Cattaneo: Die Strafrechtsphilosophie der deutschen Aufklärung. In: Aufklärung 5 (1991), S. 25–56; Werner Ogris: De sententiis ex plenitudo potestatis. Ein Beitrag zur Geschichte der Kabinettsjustiz vornehmlich des 18. Jahrhunderts. In: Festschrift für Hermann Kruse. Hg. von Sten Gagnér, Hans Schlosser, Wolfgang Wiegand. Köln u. a. 1975, S. 171–187; prägnant: Stollberg-Rilinger, Maria Theresia (Anm. 68), S. 723: „Die Gnadenpraxis wurde keineswegs als Einschränkung der herrscherlichen Allmacht betrachtet, im Gegenteil: Gerade die Gewalt, eine Ausnahme von der Regel zu machen, kennzeichnete nach vormodernem Verständnis die Machtvollkommenheit eines Herrschers. Nach der Ansicht aufgeklärter Justizreformer waren aber gerade diese vielen Ausnahmen anstößig. Ihnen ging es darum, die Strafpraxis nicht nur zweckmäßiger für den Staat, sondern auch zuverlässiger, gleichförmiger und erwartbarer zu machen; dann ließ sich auch auf theatralische Grausamkeit verzichten. Der aufgeklärte Monarch sollte es – wie der gerechte Gott, dessen Ebenbild er war – nicht nötig haben, Ausnahmen zu machen; seine Weisheit sollte sich vielmehr gerade darin erweisen, dass er sich selbst strikt an die Gesetze hielt, die er erlassen hatte.“ Die strafrechtliche Diskussion folgt hier in hohem Maße Beccaria; s. etwa: Cesare Beccaria: Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen. Übers. von Karl Ferdinand Hommel. Breslau 1778, S. 234–237; Hanns Ernst von Globig, Johann Georg Huster: Abhandlung von der Criminal-Gesetzgebung. Eine 1782 von der Ökonomischen Gesellschaft Bern gekrönte Preisschrift. Zürich 1783, z. B. S. 157; dazu: Stephani Schmidt: Die Abhandlung von der Criminal-Gesetzgebung von Hanns Ernst von Globig und Johann Georg Huster. Eine 1782 von der Ökonomischen Gesellschaft Bern gekrönte Preisschrift. Berlin 1990 (Freiburger rechtsgeschichtliche Abhandlungen NF 14), S. 93.

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aus einer vollkommenen Gesetzgebung, wo die Strafen gelinde und die Prozeßformen vernünftig und kurz wären, gänzlich verbannt seyn.71

Versucht man nun, diese beiden Haupttendenzen der aufgeklärten Strafrechtsdiskussion auf das Motiv des Jüngsten Gerichts in der Aufklärung zu beziehen, dann ist das Ergebnis ambivalent. Die Tendenz einer vollkommenen Berechenbarkeit der Strafen durch klar formulierte und angewendete Gesetze und die damit einhergehende Relativierung der Richterrolle ist in der aufgeklärten Diskussion über das Jüngste Gericht kaum zu erkennen, so sehr auch Parallelen zwischen menschlichem und göttlichem Gericht gezogen werden. Insgesamt überwiegt aber theologischer- wie juristischerseits die Unterscheidung zwischen menschlichem und göttlichem Urteilen und auch die Differenzierung zwischen Sünden und Verbrechen72 – eine Unterscheidung, die es dann offenbar doch eher unwahrscheinlich macht, die juristische Diskussion über Rechtssicherheit und Begnadigung allzu eindeutig auf das Jüngste Gericht zu beziehen.73 Das Begnadigungsrecht Gottes wird, anders als im Fall des absoluten Monarchen, nach wie vor nicht als skandalöse Willkür gesehen, sondern der Milde und Größe Gottes zugeschrieben. In Johann David Michaelis’ Dogmatik von 1784 heißt es dementsprechend, auf Gott bezogen: „Durch Drohung der Strafen giebt […] der Gesetzgeber sein Begnadigungsrecht nicht auf, und wird nicht zum Lügner, wenn er es übet.“74 Sieht man also die Berechenbarkeit der Strafe und die geringe Rolle, die dem Gnadenrecht zugeschrieben wird, als maßgebliche strafrechtliche Position der Aufklärung, dann würde dieser Haltung im Kontext der Debatte über das Jüngste Gericht ein eher traditionell argumentierender Theologe wie Schubert entsprechen, für den Gott ein „Gefangener seines eigenen Gesetzes ist“75 – genau wie man sich dies zunehmend von aufgeklärten Fürsten wünschte. Die Tendenz der strafrechtlichen Aufklärung, Recht und Rechtsanwendung von Gnadenideen freizuhalten, wurde im Laufe der aufklärerischen Diskussion über das Jüngste Gericht eher ab- als aufgewertet. Dies hat zu tun mit der Dominanz 71 Beccaria, Des Herren Marquis von Beccaria unsterbliches Werk (Anm. 70), S. 234. 72 Vgl. Johann August Eberhard: Neue Apologie des Sokrates, oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden. Berlin, Stettin 1772, S. 375–383; Hommels Vorrede in: Beccaria, Des Herren Marquis von Beccaria unsterbliches Werk (Anm. 70), S. XXI: „Gottes Gerichte und menschliche Gerichte sind zwei heterogene Dinge, und so schwerlich, wie Wasser und Oel, mit einander zu vermischen, weil ihre Bestandtheile und ihre Quellen verschiedentlich.“ Vgl. auch Cattaneo, Strafrechtsphilosophie (Anm. 70), S. 26. 73 Auch innertheologisch, etwa im Hinblick auf den Begriffsgebrauch der Bibel, wird die Vielzahl von Konnotationen des Gerichtsbegriffs hervorgehoben, von denen das Jüngste Gericht nur eine ist; s. das einflussreiche biblische Wörterbuch des Neologen Wilhelm Abraham Teller: Wörterbuch des Neuen Testaments zur Erklärung der christlichen Lehre. Berlin 1772, S. 199. 74 Johann David Michaelis: Dogmatik. Göttingen 21784, S. 421. Vgl. dazu Kunz, Protestantische Eschatologie (Anm. 21), S. 106 f. 75 Sommer, Untergang (Anm. 5), S. 198.

Das Jüngste Gericht als eine moralische Anstalt betrachtet?

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des zweiten Motivs der strafrechtlichen Aufklärung: der Humanisierung des Strafens. Die Humanisierungsidee der strafrechtlichen Aufklärung, also eine Tendenz zur Milderung von Strafen, findet nämlich durchaus ihre Parallelen in aufgeklärten Konzeptionen des Jüngsten Gerichts – und zwar gerade deswegen, weil göttliches und menschliches Gericht nicht dasselbe sind. Das göttliche Gericht kann und soll, meinen manche Autoren, sogar milder sein als die menschliche Rechtsprechung. Die Diskussion sowohl über das Strafrecht als auch über die Eschatologie richtet sich auf die Frage, was die Strafe überhaupt soll: Dient sie zur Rache, zur Abschreckung anderer oder zur Besserung des Delinquenten? Eine Hauptantwort der aufklärerischen Strafrechtsdiskussion lautet: Die Strafen sollen den Delinquenten daran hindern, weiter Verbrechen zu begehen, und andere vom Verbrechen abschrecken.76 Eine weitere Antwort, die die aufklärerische Strafrechtsdiskussion liefert, ist aber das Lernen aus der Strafe: „Die Besserung des Verbrechers selbst […] wird gewiß durch eine gerechte Strafe meistentheils erlangt“.77 Lassen sich diese Ansichten nun auch auf das Jüngste Gericht übertragen? Die Verhinderung weiterer Verbrechen wie die Abschreckung anderer findet dort schwerlich eine Analogie, weil dieses ja am Ende der Zeit steht und daher weitere Missetaten nicht vorkommen werden. Anders könnte es sich mit der Besserung des Sünders durch die Strafe verhalten. Einschlägig für die theologische Diskussion ist Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates, oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden, erschienen 1772. Eberhard weist hier die Vorstellung zurück, dass die Sünde in erster Linie als Beleidigung des unendlichen Gottes gefasst werden solle, was dann die Unendlichkeit auch der Bestrafung nach sich ziehen müsse.78 Gott wird hier anders gefasst: Nicht als beleidigter und beleidigbarer Gott, als grausamer, eifersüchtiger Rächer, sondern als Manifestation von Güte, Weisheit und „Liebe zur Ordnung“.79 Daher kann sich Gottes Gerechtigkeit nicht als eine strafende Gerechtigkeit äußern, wenn nicht wirkliche Verbrechen vorhanden sind, deren moralisch böse Folgen gehoben werden müssen. Die Vollkommenheit dieser Gerechtigkeit Gottes besteht darin, daß sie die Strafen dem moralischen Zustande des Sünders aufs genaueste anpaßt. […] Die göttlichen Strafen sollen die Gesinnungen des Schuldigen bessern, seine moralischen Urtheile berichtigen, seinen Willen vom Bösen ablenken, und ihn über die Irrthümer seines Herzens belehren.80

76 Vgl. Beccaria, Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk (Anm. 70), S. 58 f. 77 Globig, Huster, Abhandlung von der Criminal-Gesetzgebung (Anm. 70), S. 55. 78 Eberhard, Neue Apologie des Sokrates (Anm. 72), S. 373. 79 Ebd., S. 385. 80 Ebd., S. 393.

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Die Strafe, und hier entspricht Eberhards Vorstellung ganz den Axiomen der strafrechtlichen Aufklärung, soll bessern, sie ist eine „Arzeney“.81 In diesem Sinne, so Eberhard, können die Strafen „ihre ganze strafende Gestalt verlieren“82 und werden, wie innerweltliche Strafen auch, zu Besserungsinstrumenten mit einer begrenzten zeitlichen Dauer: „Strafen müssen sich in dem Reiche Gottes endigen, das ist moralisch nothwendig“.83 Deshalb nimmt Eberhard an, daß alle vernünftige Wesen endlich einmahl zur Glückseligkeit gelangen. Denn nur auf diesem Wege lassen sich die Strafen in dem Reiche Gottes rechtfertigen, nur auf diesem Wege hören sie auf unnütze und absichtslose Qualen zu seyn. Sie werden Zustände, wodurch vernünftige Wesen zu ihrem Glück geführt werden, und passen nicht nur in den Plan des Besten, sondern sind selbst darin unentberlich, eben um deswillen, weil sie den vernünftigen Naturen zuträglich sind, als die schicklichsten Mittel, sie zu ihrem Glück zu führen. Aber alsdann können sie nicht endlos seyn.84

Ohne dies ausführlich zu erläutern, nimmt Eberhard also an, dass die Seele auch nach dem Tod noch lernen kann. Strafen, so Eberhard, haben eine Einfluss auf die menschlichen Gesinnungen: „Warum sollten sie diese Kraft nach dem Tode verloren haben, welche wesentliche Veränderung ist mit dem Geiste des Menschen vorgegangen, daß Strafen zu seiner Besserung gar keine Macht mehr über ihn haben?“85 Dass man auch nach dem Tod die Strafe Gottes noch als pädagogisches Mittel zur „Besserung“ (eine aufklärerische Lieblingsvokabel) verstehen muss, dies ist eine der Pointen Eberhards, die in der aufklärerischen Diskussion besonders anschlussfähig erscheinen.86 Eberhards Buch folgte eine engagierte Diskussion, die sich an der Frage abarbeitete, ob und wie man den Humanisierungsimpuls der aufklärerischen Debatte und die Freiheit und Größe von Gottes Gericht miteinander vermitteln könne. Der Theologe Johann Rudolph Gottlieb Beyer etwa nahm sich die schwierige Aufgabe vor, beide Aspekte – Unendlichkeit der Höllenstrafen und pädagogische Verbesserungspotenziale – miteinander zu verbinden: Wie? wenn man beides, diese Gedanken und jene Aussprüche der Offenbarung, mit einander vereinigen könnte, so vereinigen, daß die Urteile der Bibel ihre volle Kraft behielten, und die mitleidigen Freunde der Verdammten auch die Erfüllung ihrer Wünsche hoffen dürften. Wenn man bewiese, daß die schlechtern Menschen in alle Ewigkeit ohne Aufhören für ihre Uebelthaten gestraft würden, und zugleich zeigte, daß sie bey alle dem, unter

81 Ebd., S. 402. 82 Ebd., S. 406. 83 Ebd., S. 419. 84 Ebd., S. 414 f. 85 Ebd., S. 423. 86 Vgl. Kunz, Protestantische Eschatologie (Anm. 21), S. 104 f.; Aner, Theologie der Lessingzeit (Anm. 20), S. 278 f.; Beutel, Kirchengeschichte (Anm. 20), S. 260.

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gewissen Bedingungen und mit gewißen Einschränkungen, doch viele und große Glückseligkeiten erringen könnten, sollten damit nicht beide Teile zufrieden sein?87

Beyers Lösung läuft letztlich darauf hinaus, dass „die bösen Menschen […] in der Ewigkeit die Folgen ihres unmoralischen Zustandes empfinden müßen“,88 aber keine grausamen Höllenstrafen ertragen. Auch dieser salomonische Versuch läuft also auf eine Humanisierung der Strafen hinaus. Mittelfristig aber bildeten Eberhards Buch und die sich anschließende Diskussion insgesamt eine Zäsur; ab 1800 scheint die Debatte über die Ewigkeit der Höllenstrafen schließlich abgeflaut zu sein.89

3. Die vier vorgestellten Optionen schöpfen sicher nicht aus, was die Aufklärung zum Jüngsten Gericht zu sagen hat. Auch ist offenkundig, dass die vorgestellten Überlegungen sowohl konzeptionell als auch und vor allem empirisch noch weiter ausgearbeitet werden müssten. Die Poetisierung der Apokalypse führt über William Blake in die Romantik.90 Die innerweltlich-moralische Umformung traditioneller Apokalyptik und die Metareflexion auf die Funktionen der Endvorstellung in Kants Das Ende aller Dinge91 würde gleichfalls eine eigene Überlegung verdienen. Ähnliches gilt etwa für die idealistische Umformung eschatologischer Gedanken und für die Verinnerlichung und Abstrahierung des Gerichtsgedankens bei Hegel und anderen Philosophen92 oder für die ambivalente

87 Johann Rudolph Gottlieb Beyer: Ueber die Strafen der Verdammten und deren Dauer. Ein Versuch. Leipzig 1782, S. 7 f. Eine andere prominente Position, diejenige Lessings, stellte sich mit Leibniz gegen Eberhard; s. zum komplexen Hintergrund: Michael Multhammer: Einspruch! Lessings Schrift Leibnitz von den ewigen Strafen als Schauplatz und Arena der Vernunft. In: Theatrum naturae et artium (Anm. 66), S. 166–180; Schmidt-Biggemann, Lessings origenistische Eschatologie (Anm. 67). 88 Beyer, Ueber die Strafen (Anm. 87), S. 91. 89 Vgl. Sommer, Untergang (Anm. 5), S. 204. Wichtige Hinweise zur Diskussion über Eberhards Buch s. etwa in: Friedrich Nicolai: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Kritische Ausgabe. Hg. von Bernd Witte. Stuttgart 1991, Anmerkungen und Anhang. 90 S. zum Themenumkreis: Busch, Klingemanns „Nachtwachen von Bonaventura“ (Anm. 6) sowie die Abbildungen in: Carey, Apocalpyse (Anm. 38), S. 250–269. 91 Vgl. Torsten Hitz: Die Moral auf Theologie angewandt, ist die Religion. Kants Schrift Das Ende aller Dinge im Kontext seiner praktischen Philosophie. In: Brokoff, Schipper (Hg.), Apokalyptik in Antike und Aufklärung (Anm. 23), S. 171–196. 92 Vgl. Peter Cornehl: Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie und Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel und in der Hegelschen Schule. Göttingen 1971; Peter Henrici: Die Säkularisierung der Apokalyptik in der neueren deutschen Philosophie. In: Zeitstruktur und Apokalyptik. Interdisziplinäre Betrachtungen zur Jahrtausendwende. Hg. von Urban Fink, Alfred Schindler. Zürich 1999, S. 181–202.

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Nutzung der Gerichtsmetapher als Deutungsmuster für die Französische Revolution.93 Ausgesprochen wichtig ist in allen diesen Zusammenhängen die bei Schiller so einprägsam formulierte Vorstellung, dass die Weltgeschichte selbst das Weltgericht sei, das Weltgericht die Geschichte also nicht abschließe, sondern gerade in ihr bestehe. Diese Immanentisierung ist zwar in der Aufklärung angelegt, führt aber weit über die inhaltlichen Grenzen dieses Beitrages hinaus.94 Schließen möchte ich mit einem letzten Punkt, der ein weiteres Mal auf die kulturelle Gesamtlage des 18. Jahrhunderts bzw. auf die pluralen Funktionalisierungen des Motivs des Jüngsten Gerichtes zielt. Wolf-Friedrich Schäufele schreibt zurecht: Die eschatologische Enderwartung rührt an den Identitätskern des christlichen Glaubens, ist aber weniger stark dogmatisch festgelegt und stärker von nichtreligiösen zeitgenössischen Wissensbeständen beeinflusst und insofern von höherer historischer Variabilität als andere Lehrgehalte.95

Nun habe ich behauptet, die Apokalyptik sei im konfessionellen Zeitalter ein omnipräsenter kultureller Code gewesen, der alle möglichen Gesellschaftsbereiche durchdrang oder durchdringen konnte. Dies gilt sicher für die Aufklärung nicht mehr. Ganz im Gegenteil ist wohl zu beobachten, dass einerseits das Nachdenken über das Jüngste Gericht stärker einer inzwischen ausdifferenzierten theologischen Diskurssphäre zugeschlagen wird und seine kulturelle Omnipräsenz zurücktritt. Gleichzeitig ist aber auf niedrigerem Niveau durchaus eine auch außertheologische Diskurspluralisierung zu beobachten, die es erlaubt, vom Motiv des Jüngsten Gerichts auf neue Themen und neue Anschlüsse auszugreifen. Spott, Poetisierung, das Nachdenken über das Verhältnis von Vernunft und biblischer Offenbarung und auch die Anlehnung an Strafrechtsdiskurse sind relativ neue und gleichzeitig relativ charakteristische Umgangsweisen, die den Diskurs über das Jüngste Gericht in der Aufklärung prägten.

93 Vgl. Otto Böcher: Die Johannes-Apokalypse im Spiegel politischer Endzeit-Metaphorik des 19. Jahrhunderts. In: Frömmigkeit unter den Bedingungen der Neuzeit. Festschrift für Gustav Adolf Benrath zum 70. Geburtstag. Hg. von Reiner Braun, Wolf-Dietrich Schäufele. Karlsruhe 2001 (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte 6 = Sonderveröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der Evangelischen Landeskirche in Baden 2), S. 267–279. 94 Eberhard Jüngel: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ aus theologischer Perspektive. In: Ders.: Ganz werden. Theologische Erörterungen V. Tübingen 2003, S. 323–344. S. auch: Ulrich Muhlack: Von der „Kriminaluntersuchung“ zum „Weltgericht“ oder Ein „juristisches“ Wort über Rankes Geschichtsschreibung. In: Mord und andere Kleinigkeiten. Ungewöhnliche Kriminalfälle aus sechs Jahrhunderten. Hg. von Andreas Fahrmeir, Sabine Freitag. München 22001, S. 81–94. 95 Schäufele, Zur Geschichte des Endes (Anm. 22), S. 126.

Personenregister

Abel 24, 164 Abraham 42 f., 164, 167, 256, 257 Abraham a Sancta Clara 63 Achilles 173 Adam 22, 335 f. Adso von Montieren-Der 164 Agatha (Heilige) 168 Agnes (Heilige) 48 Aichele, Klaus 168 Alberus, Erasmus 60, 275, 298 Albinus, Johann Georg d. J. 379 Aler, Christian Wilhelm 203, 206– 210, 216, 218, 220, 222 f., 225, 227 Alexander d. Gr. 173 Alexander VII. (Papst) 306 Allain (Abbé) 318 Amadino, Ricciardo 162 Amerbach, Barbara 52 Amerbach, Johann 49, 52 Amman, Jost 105, 107 Ammon, Hieronymus 88 f. Amos 11 Aner, Karl 404 Anerio, Giovanni 182 Angelus Silesius (Johannes Scheffler) 85 Antonius (Heiliger) 167 f. Anzelewsky, Fedja 54 Araldi, Antonio 163 Aristoteles 158, 170 Arndt, Johann 59, 273 Asaph 15 Asola, Giammateo 182 Augustinus, Aurelius 52 f., 56, 167 f., 174

Bach, Carl Philipp Emanuel 207 Bach, Johann Christian 187 Bach, Johann Sebastian 199 f., 202 Barbara von Nikomedien 48, 54 Bayern, Wilhelm V. von 123 Bayle, Pierre 415 Beheim, Hans d. Ä. 31 Beintker, Michael 251 f. Belcari, Feo 163 Belial 395 Bellarmino, Roberto 167, 173–178 Bernandi, Steffano 183 Berns, Jörg Jochen 342, 361 Berthold, der Bruder 347 Beutel, Albrecht 404 Beyer, Johann Rudolph Gottlieb 420 f. Biber, Heinrich Ignaz Franz 184, 187 Blake, William 421 Bleymüller, Johann 265 Böse, Johann Georg 379–381 Bogner, Abraham 266 f. Bollstatter, Konrad 146 Bolswert, Boetius van 78 Bomer, Michael 114 Bommel, Michael 333, 336, 338–340, 344 Bordoni, Faustina 196 Bozzi, Paolo 159–173, 175–178 Braunschweig-Wolfenbüttel, Christian von 122, 138 Bruck, Arnold von 183 Brumel, Antoine 182 Bullinger, Heinrich 173 Burnet, Thomas 407

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Busch, Werner 400 Cäsar, Gaius Julius 173 Calvin, Johannes 168, 173 Calvisius, Seth 192 Carissimi, Giacomo 180, 185, 203 Carty, Carolyn 54 Cavallo, Giuseppe 180 Celano, Thomas von 181 Cerkovnik, Gašper 126 Charpentier, Marc-Antoine 180, 185, 187 f., 204 Chaunus, Pierre 322 Chelidonius, Benedictus 52 Christian V. (König von Dänemark) 260 Chyträus, David 173 Chytraeus, Matthaeus (Häfner) 267, 271 Cicero, Marcus Tullius 346 Cinzio, Giraldi 172 Claseri, Marco 162 Conermann, Klaus 396 Cornaro, Marco II. 162, 174 Cort, Cornelis 130 f. Cramer, Daniel 87 Cranach, Lucas d. Ä. 103 f., 127 Crüger, Johann 294–296, 299 Dach, Simon 384 d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 410 Dan 164 f. Daniel 130–132, 262 Dante Alighieri 154, 168 David 15 f., 20, 26, 48 d’Holbach, Paul-Henri Thiry 409 Diderot, Denis 410 Dieterich, Conrad 269 Dilherr, Johann Michael 90 Dionysius Carthusianus 178 Dörffel, Christoph 266 Dorothea von Caesarea 48

Personenregister

Draghi, Antonio 180 Dürer, Albrecht 29–31, 33 f., 36–42, 44, 46, 48–56 Eberhard, Johann August 419–421 Eike von Repgow 98 f. Eleonore (röm.-dt. Kaiserin) 189 Elia 165, 169, 174 Emich, Birgit 305 Erasmus von Rotterdam, Desiderius 168 Erhardt, Erhard 229, 236–254, 258 Eusebius von Caesarea 87 Eva 335 f. Feinler, Johann 347–351, 353–362, 365 f. Flacius Illyricus, Matthias 173 Fleckenstein, Georg von 138 Fontanus, Johann 263 Freese, Daniel 130 f., 134–136 Fried, Johannes 406 Friese, Merten 285 Fritz, Rolf 112 Fritzsche, Johann 380 Fuchs, Gotthard 232 Fulda, Daniel 373 Fux, Johann Joseph 189 f. Gallay, Pierre 304, 310 f., 313, 316 f., 320 f. Gardano, Angelo 160 Garth, Helwig 266 Gerhard, Johann 74, 407 Gerhardt, Paul 298, 374 Geyer, Johann Carl 271 Gigas, Johannes 58 Goeze, Johann Melchior 407 f., 414 Gregor XIII. (Papst) 172 Greiffenberg, Catharina Regina von 262 Grillo, Giovanni Battista 183 Gronau, Hans d. Ä. 72 f.

Personenregister

Gualdo, Paolo 162 Guarini, Giovanni Battista 160 Hahn, Philipp 269 Haller, Albrecht von 412 Haller, Wilhelm 48 Hampel, Anton Joseph 197 Hanitzsch, Gabriel 269 f. Harsdörffer, Georg Philipp 361 Hartmann, Andreas 143, 154–156 Harvey, William 329 Hasse, Johann Adolph 188, 196–199 Haydn, Johann Michael 189 Hebel, Johann Peter 62, 411 Hedler, Matthäus 266 Heermann, Johann 248, 298 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 421 Heinichen, Johann David 188 Henoch 22, 25, 165, 169, 174 Herberger, Valerius 59 Herberich, Cornelia 146 Herder, Johann Gottfried 62 Hieronymus Stridonensis, Sophronius Eusebius 143, 148, 178 Hiob 79 Hirschfelder, Michael 270 Hirsvogel, Veit d. Ä. 33 f. Hoffmann, Johann Georg 267 f. Holstein-Schaumburg, Ernst zu 136–138 Hosea 11 Howard, Henry 52 Howard, Thomas 52 Huby, Père Vincent 303 f., 306–308, 310 f., 313, 316–318, 320 f., 323 f. Hütter, Leonhart 382 Hugo, Hermann 78–80, 82–85 Hulsen, Esaias van 145 Hunold, Christian Friedrich 385 Ignatius von Loyola 89, 175, 305, 308, 326 Isai 14

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Jacob, Lynn 55 Jacobi, Johann 380 f. Jairus 278, 280 Jakob (Patriarch) 55 Jeremia 11 Jerobeam II. 11, 169 f. Jesaja 11 Jesus Christus passim Joel 147 Johannes (Evangelist) 49, 55, 165, 180, 225, 280, 409 Johannes der Täufer 36, 38–41, 48, 96, 123, 126 Jona 83 Julius, Heinrich 117 Juvenal, Paul d. Ä. 46 Kaibel, Georg David 272 Kant, Immanuel 412, 421 Karl VI. (röm.-dt. Kaiser) 189 Karl XI. (König von Schweden) 260 Katharina von Alexandrien (Heilige) 48 Kaufmann, Thomas 402 Kerle, Jacobus de 182 Kerlivio, Louis Eudo de 306 Kerll, Johann Caspar 183, 185 Kern, Margit 100, 107, 110 Kilian, Lucas 137 Kittsteiner, Heinz Dieter 400 Klesch, Daniel 259–263, 266, 273 f. Klopstock, Friedrich Gottlieb 210 Koberger, Anton 44 Koch, Heinrich Christoph 185 Koch, Kurt 231 f. Konstantin d. Gr. 87 Kraft, Adam 35 Krausse, Helmut 375 Krieger, Johann Philipp 388 Krösus 170, 173 Kulmbach, Hans von 46 Kurzmann, Frank 234, 400

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Lalande, Michel-Ricard de 188 Landauer, Dorothea 48 Landauer, Matthäus 31, 33, 35 f., 40, 48 f., 52–54, 56 Lazarus 43, 55, 74, 241 Legrenzi, Giovanni 187 Leopold I. (röm.-dt. Kaiser) 260 Leppin, Volker 399 Lessing, Gotthold Ephraim 407 Leyser, Polykarp 117 Linke, Hansjürgen 142 Lohse, Rolf 159 Lot 248, 252 Lotti, Antonio 188 Lucius, Ludwig 382 Ludwig XIV. (König von Frankreich) 260 Lüdemann, Daniel 383 Lully, Jean-Baptiste 187 Luther, Martin 57 f., 61–63, 65, 67, 69, 71, 73, 79, 105, 107, 116, 157, 168, 173, 176, 191 f., 222, 229, 236, 252–258, 260, 283, 371, 378, 383, 390, 392 Luzifer 165 Maimonides, Moses 343 f. Mamphrasius, Wolfgang 58 Maria (Mutter Jesu) 33, 36, 38–41, 44, 48, 96, 123, 126, 143, 167, 170, 321, 337, 341 Mattheson, Johann 194 Matthias I. (röm.-dt. Kaiser) 119– 122 Maukisch, Johann 276 f., 281 f., 284, 286 f., 289–293, 299 f. Maxentius, Marcus Aurelius Valerius 87 Mazzocchi, Domenico 179 Meister von Alkmaar 75 f. Melanchthon, Philipp 168 Memling, Hans 69, 285, 301 Mendel, Konrad d. Ä. 31

Personenregister

Mercklin, Philip 114 Merkur 120 Micha 11 Michael (Erzengel) 165, 170, 172, 316 Michaelis, Johann David 418 Michelangelo Buonarroti 159 Mielich, Hans 46, 100, 102 Minerva 120, 386 Möller, Anton d. Ä. 65, 71, 73, 76 Mohammed 173 f. Moller, Herrmann 112–114, 118, 120, 123–128, 132 Moltmann, Jürgen 233, 241, 250, 254 Monteverdi, Claudio 183 Morhof, Daniel Georg 386 Mose 21, 48, 53, 127, 136, 167, 207 Moser, Johann Jacob 62 Mosheim, Johann Lorenz von 415 f. Mozart, Wolfgang Amadeus 184, 189 Müller, Heinrich 74 Müntzer, Thomas 286, 298 Naogeorg, Thomas 143, 157 f. Netscher, Caspar 330 f., 363 Neukirch, Benjamin 378, 385 Neumeister, Erdmann 369, 375–398 Nicolai, Friedrich 408 f., 415 Nicolai, Philipp 59 Nikolaus Cusanus 343 f. Nissen, Niclas 295 Noah 245, 252–257 Nösel, Heinrich 191 Olearius, Johann 298 Opitz, Martin 386 Origenes 416 Otradovic, Adam Václav Michna z 184, 186 Pammachius 157 Panofsky, Erwin 52, 54

Personenregister

Pape, Ambrosius 156 Papenheim, Martin 403 Paulus (Apostel) 53, 55, 105, 127, 136, 142, 234, 238, 243, 248 f., 269, 286, 316, 351, 391 Petersen, Johann Wilhelm 380, 383 Petrus (Apostel) 53, 165–167 Piltière, Jean-Joseph 307, 309, 315 Pirckheimer, Willibald 52 Pontanus, Johannes 268 f. Porta, Constanzo 182 Praetorius, Jacob 299 Praetorius, Michael 184, 192 Prange, Johann 138 Promnitz, Heinrich von 382 Rädle, Fidel 181 Raphael (Engel) 24, 154 f., 165 Ratzke, Malena 156 Reichardt, Julius 138 Reutter, Georg 190 Rhegius, Urbanus 128 f., 133 Rhete, David Friedrich 276 Riedel, Georg 180 Ringwaldt, Bartholomäus 154, 192, 275, 281, 298 Rist, Johann 277, 298 f., 374, 379 Rose, Dirk 396 Rosenmüller, Johann 192 Rothe, Abraham 380 Rubens, Peter Paul 411 Rudolf II. (röm.-dt. Kaiser) 29, 120 Ruffo, Vincenzo 182 Runge, Christoph 298 Sachs, Hans 143, 150 f., 153 Sachsen, Friedrich August II. von 196 Sachsen, Friedrich Christian von 196 Sadeler, Aegidius II. 119–121 Sadeler, Johann I. 123, 125–127, 134 Salomo 112, 123, 127–130, 132–134, 136, 139, 272, 353

427

Sanherib (assyrischer König) 67 Sannazaro, Jacopo 160 Sardanapal 170, 173 Sartorius, Erasmus 192 Sattler, Basilius 116 f., 129 Saul 165 Schäufele, Wolf-Friedrich 422 Schedel, Hartmann 44 f. Schedel, Hermann 44 Scherffer von Scherffenstein, Wencel 179 Schiller, Friedrich von 410, 422 Schmidt, Christian 270 Schmidt, Johann Christian 271 Schmitt, Carl 416 Schnitzer, Claudia 145 Scholz, Hartmut 54 Schongauer, Martin 40 Schop, Johann 299 Schottelius, Justus Georg 144 Schreyer, Sebald 35 Schubart, Andreas Christoph 268 f., 271 Schubert, Johann Ernst 412–416, 418 Schupp, Johann Balthasar 59 Schwartz, Christoph 123, 125 Schwendtner, Isaac 105 f. Schwenter, Pankraz 48 Scriver, Christian 58 Seuse, Heinrich 344 f., 347 Sohren, Peter 294–297, 299, 301 Sommer, Wolfgang 400, 415 Soriano, Francesco 183 Spee, Friedrich 361 Spener, Philipp Jakob 62 f., 380 Staupitz, Johann 52 Steiger, Johann Anselm 135 Stephanus 167 Stobaeus, Adam Ignaz 191 Stollberg-Rilinger, Barbara 416 Strauss, Christoph 183

428

Personenregister

Strutius, Thomas 276 f., 282, 287, 291–293, 300 Stümcke, Volker 233, 254 Susanna 132

Veringer, Andreas 272 Vetterlein, Johann Melchior 58 Viadana, Lodovico 182 Völcker, Hinrich 295

Tasso, Torquato 160 f. Telemann, Georg Philipp 181, 193– 196, 204, 206 f., 210–214, 216– 221, 223–228 Theophilus 157 Tertullianus, Quintus Septimius Florens 141 f., 148, 154, 158 Thomasius, Christian 378 Tigchelaar, Eibert 16 Tingle, Elizabeth 322 Tintoretto, Jacopo 159 Tobias 67 Toskana, Cosimo II. von 183 Trenck, Friedrich von 412 Trivet, Nicholas 52 Troescher, Georg 109, 112 Tucci, Stefano 171–178

Waleys, Thomas 52 Walker, Daniel Pickering 400 Wallmann, Johannes 376 Walther, Johann 60 Walter, Johann 184 Weber, Max 416 Weiße, Michael 289 f., 292, 298 Weyde, Rogier van der 40 Wilder, Georg Christian 31 f., 35 Wischmeyer, Johannes 229 Wolff, Christian 408, 413 f. Wolgemut, Michael 44–47, 95, 97– 100, 110, 126

Usper, Francesco 183

Zachariae, Justus Friedrich Wilhelm 387 Zager, Werner 26 Zapalac, Kristin 105–108, 110 Zelenka, Jan Dismas 188 Zerrenner, Heinrich Gottlieb 62

Valle, Pietro della 185 f. Valois, Louis le 307 Vecchi, Orazio 183

Yadin, Yigael 16 Young, Edward 412 Yvan, Antoine 324

Register der aus der Bibel, den Pseudepigraphen und den Texten vom Toten Meer zitierten Stellen

Altes Testament Gen 1,28: 254 1,31: 254 5,23 f.: 22 6,1–4: 22 6,6b: 255 6,13: 245 6–9: 245 7,10–12: 245 11,30: 257 12,1: 256 12,2a: 256 f. 16,1–16: 13 16,5 f.: 13 18,25: 246, 279 19,9: 248 28,17: 55, 268 Ex 21,18: 17 21,23b–25: 17 28,17: 55 34,6 f.: 250 Num 23,19: 247 Dtn 1,16 f.: 115 16,8: 13 17,8–12: 13

19,17 f.: 13 25,1 f.: 13 32,35: 246 32,36: 21 Ri 11,25: 17 12,2: 17 1Sam 2,30: 266 2Sam 14,17: 132 15,1–6: 13 1Kön 3,1–15: 128 3,16–28: 128, 272 10,18–20: 128 1Chr 29,14 f.: 265 Hi 7,9: 22 10,21: 22 14,13: 79 19,25 f.: 279 27,5: 248

Ps 2,2: 117 5,5: 247 9,8 f.: 130 16,11: 286, 289 19,13: 92 34,20: 241 35: 17 f. 35,1 f.: 17 35,10: 17, 21 35,23 f.: 17 35,27b–28: 17 36,10: 289 37,5: 242 37,6: 242 41,2–4: 73 45,3: 290, 292 50,16: 288 51,3: 92 58,2: 99 73,12: 241 75: 96 82,1: 15 82,2: 15 82,3: 14 f. 82,8: 15 84,4: 53 84,5: 53 90,3: 279 91,15: 281 94,1–10: 242

430

Register der aus der Bibel, den Pseudepigraphen und den Texten vom Toten Meer zitierten Stellen

118,16: 227 127,1: 118 137,1 f.: 248 139,8: 23 143,2: 251 Prv 3,27: 73 8,12: 118 19,17: 73 f. 22,23: 17 23,11: 17 28,13: 91 f. 29,14: 14 31,1–9: 21 31,9: 21

6,3: 225, 364 10,34–11,1: 15 11: 26 11,1–5: 14 11,2: 14 11,3 f.: 26 11,4: 14 11,6: 14 11,6–8: 26 25,7: 290 26,19: 279 f. 40,8: 281 41,14: 283 49,2: 69, 96 49,13: 179 65,14: 290 66,24: 267, 286, 289

Koh 6,10: 20 Hld 5,6: 290, 292 Jes 1: 18 1,17: 17 1,21–28: 17 1,23: 17

Jer 1,14: 11 9,4 f.: 284 31,33: 288 Bar 4,21: 284

Ez 21,10: 284 37,2: 166 37,10: 279 Dan 7,9: 286, 288 7,21 f.: 262 7,27: 286 12,1–3: 23 12,2: 279 13,1–64: 130 f. 13,19–24: 132 13,41: 132 13,45: 132 13,50–61: 130 13,61 f.: 132 Hos 4,1 f.: 13 10,8: 249 Joel 3,16: 286, 288 Am 8,2: 11 9,2: 22

Neues Testament Mt 5,16: 288 7,17: 242 9,18–26: 278 9,23: 281 9,25: 281 10,14 f.: 280 10,22: 315 12,33 f.: 67 13,42 f.: 286 13,43: 288 f.

13,50: 286 18,2–5: 280 19,28: 286, 288 22,13: 286 24,7: 284 24,12: 284 24,15: 286, 288 24,15–22: 283 24,17: 284 24,20: 284 24,21: 284

24,22: 284 24,27: 285 24,28: 285 24,29: 166 24,30: 286, 288 24,31: 184, 186 24,35: 239 25,1–13: 33, 290 25,13: 209, 292 25,21: 289 f. 25,31 ff.: 210

Register der aus der Bibel, den Pseudepigraphen und den Texten vom Toten Meer zitierten Stellen

25,31–45: 169 25,31–46: 63, 67, 76 f., 172, 252, 265, 286, 290 25,32–34: 262 25,34: 265 f., 290, 322 25,35: 288 25,35 f.: 261 25,35–46: 67 25,37: 252 25,37–39: 76 25,40: 73, 76, 266 25,41: 266, 319, 322 25,43: 315 25,45: 289 25,46: 289 26,41: 351 26,45: 351 26,64: 285 Mk 1,14 f.: 249 5,22–43: 278 9,43–48: 267 13,14–23: 283 13,26: 286, 288 Lk 6,21: 242 6,25: 242 8,41–56: 278 12,32: 283 13,5: 313 13,27: 250, 267 16,19–31: 43, 241 16,29: 156 19,41–44: 283 21,18: 284 21,20–24: 283 21,25: 269, 284 21,25–28: 61 21,25–36: 237 21,26: 284

21,27: 286, 288 21,28: 61 21,34: 249 21,36: 392 23,30: 279 Joh 3,18: 247 5,22: 167 5,24: 57, 61, 92 f., 279 5,25: 288 5,28: 269, 279 f., 288 5,28 f.: 279, 286 5,29: 279 6,40: 283 6,54: 290 10,9 f.: 55 10,27: 283 11,43: 279 16,22: 248 17,11: 263 Apg 1,7: 262 3,20: 283 7,59: 281 10,42: 279 17,30 f.: 238, 286 17,31: 288, 390 17,32: 238 Röm 2,6–9: 242 2,14–16: 243 2,15: 243 3,22–24: 250 3,25: 105 3,28: 100 8,21: 283, 285 8,22: 283 8,22 f.: 283 8,23: 283, 285, 292 8,35: 316

431

13,1–7: 116 13,11: 351 13,13: 351 14,23: 103 1Kor 1,31: 249 2,9: 142, 154 13,12: 341, 346 15,28: 234 15,36: 279, 281 15,52: 184 15,54: 279 2Kor 4,3 f.: 237 5,10: 240, 391 7,10: 255 10,5: 281 Phil 1,21: 397 3,20: 292 1Thess 4,14–17: 25 4,16: 166, 184, 268 f. 4,16 f.: 268 4,17: 285 f., 290, 292 5,2: 290 2Thess 1,9: 289 1,9 f.: 286 1,10: 288, 290, 292 2,2 ff.: 164 2,3: 283 f. 2,9: 283 f. 1Tim 2,4: 117 4,2: 284

432

Register der aus der Bibel, den Pseudepigraphen und den Texten vom Toten Meer zitierten Stellen

2Tim 2,5: 315 4,7: 281 4,18: 248 Tit 2,13: 279, 283 1Petr 1,8: 279 1,25: 281 4,3: 286 4,4: 284 2Petr 2,5: 245, 253 3,3: 283 3,3 f.: 239 3,4: 229, 245 3,11 f.: 278 3,11 f.: 281 1Joh 3,17: 289

Jak 2,15: 289 Jud 7: 289 14 f.: 246 Apk 1,1 f.: 280 1,7: 174, 286, 288 1,10: 184, 280 1,15: 280 1,16: 69, 96 3,5: 265 3,7: 260 3,16: 260 4,8: 225 5,12: 225 6,16: 279 6,17: 279 7,9: 286 7,10: 285 8,6–8: 184 10,1–3: 286, 288 11,3 ff.: 165

12,1: 165 12,10: 225 13,7: 262 13,11 ff.: 164 13,11–18: 260 14,7: 279 14,14–16: 286, 288 15,2: 286 15,2–4: 179 16,1 ff.: 166 16,18: 217 19,6: 179 19,7: 290 20,11 f.: 184 20,12: 286, 288 20,13: 279 21,1: 214 21,3: 290 21,5: 271 22,4: 286, 289 22,12: 214 22,16 f.: 292 22,20: 283, 285, 292

Apokryphen und Pseudepigraphen äthHen 1,3 (Griech. I: Codex Panopolitanus): 27 1,3–9: 27 1–36: 21 6–11: 22, 27 10,6: 23 10,12: 24 10,12–13: 23 10,17–11,2: 24 12–16: 22 14,1: 27 14,1 (Griech. I: Codex Panopolitanus): 27

16,1: 23 17–19: 22, 27 18,16: 23 19,1: 23 20–36: 22 22: 20–27 22,1–2: 22, 24 22,3 (Griech. I: Codex Panopolitanus): 22 22,3–4: 23 22,3–7: 22, 25 22,4: 21 22,5–7: 24 22,9–11: 24

22,11: 23 22,12–13: 24 22,13 (Griech. I: Codex Panopolitanus): 25 22,13–14: 22, 25 25,4: 23 25,4–6: 24 72–82: 21 84,4: 23 91: 18 94,9: 23 98,10: 23 99,15: 23

Register der aus der Bibel, den Pseudepigraphen und den Texten vom Toten Meer zitierten Stellen

103,1–104,6: 18 104,5: 23 grBar 10: 23 Jub 5,10: 24

10,5: 24 Sap 6,1: 115 6,3: 115 6,5–7: 115 6,7: 117 11,21: 342

433

syrBar 40,1–3 Tob 1,20 f.: 67 2,3: 67

Handschriften vom Toten Meer 1QM 3,13– 4,17: 19 4,12: 18–19 9,15–16: 20 12,4–5: 19–20 12,5: 18–20 12,14: 16 19,6: 16

4Q205 (4QEnochd ar) 4Q205 1 i 1: 24, 27 4Q205 1 i 1–3: 22, 25

4Q161 (4QpIsaa): 15 4Q161 7–10.18: 15 4Q161 iii 22–29: 15

4Q252 v 3–4: 15

4Q174 i 11: 15 4Q201 (4QEnocha) 4Q201 i 5: 27 4Q204 (4QEnochc) 4Q204 vi 10: 27

4Q206 (4QEnoche ar) 4Q206 2 ii 1–3: 23 4Q206 2 ii 1–7: 22, 25 4Q206 2 ii 2–3: 21, 27

4Q285 (Sefer ha– Milḥamah): 15–16, 20, 25–27 4Q285 Frgm. 1, Z. 3: 20 4Q285 Frgm. 7, Z. 3– 6: 16 4Q285 Frgm. 9, Z. 2: 20

4QInstruction: 18, 26– 27 4Q417 2 i 12: 18 4Q417 5: 19 4Q418 69 ii + 60 4: 18 4Q418 69 ii + 60 4–9: 18–19 4Q418 69 ii + 60 6–7: 18 4Q418 69 ii + 60 7: 20 4Q418 69 ii + 60 7–9: 20 4Q418 69 ii + 60 10: 18 4Q418 69 ii + 60 10– 15: 18–19 11Q16 (11QHymnsb): 16 XQ5 2 (XQ5b) 2–6: 16