Das Inverted Classroom Model: Begleitband zur ersten deutschen ICM-Konferenz 9783486716641, 9783486716528

Der Inverted Classroom ist eine seit vielen Jahren bekannte Lehr- und Lernmethode, die in jüngster Zeit durch die Möglic

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Das Inverted Classroom Model: Begleitband zur ersten deutschen ICM-Konferenz
 9783486716641, 9783486716528

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Grußwort
Die Autoren
I. Grundlagen und Varianten
1. Das Inverted Classroom Model
2. Der „Flipped“ Classroom
3. Videoerstellung für und Erfahrungen mit dem ICM
4. Voraussetzungen für das ICM
5. Das ICM als Chance für die individuelle Förderung von Schülern?
II. Das ICM im Einsatz
6. Selbstverantwortliches Lernen in der umgedrehten Mathematikvorlesung
7. Etablierung eines Qualitätssicherungssystems in einer virtuellen Firma
8. Das ICM als Chance für die moderne Konzertpädagogik
9. Das ICM als Modell für die praxisnahe Ausbildung im Lehramt
10. Das ICM an der Hochschule Karlsruhe - ein nicht quantisierter Flip
11. ICM-Effekte in der Hochschullehre
12. Literatur
Anhang Storyboards und Skripte
Index

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Das Inverted Classroom Model

Begleitband zur ersten deutschen ICM-Konferenz

herausgegeben von

Prof. Dr. Jürgen Handke Alexander Sperl

Oldenbourg Verlag München

Prof. Dr. Jürgen Handke lehrt am Institut für Englische Sprachwissenschaft der Universität Marburg. Alexander Sperl ist E-Learning-Berater im Projekt „WM3 Weiterbildung Mittelhessen“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen und beschäftigt sich dort vor allem mit dem Einsatz von E-Learning, E-Teaching und E-Assessment in berufsbegleitenden Weiterbildungsangeboten. Das Inverted Classroom Model kennt er aus seiner eigenen Lehre an der Philipps-Universität Marburg, an der er – neben Entwicklungs- und Gestaltungsaufgaben für verschiedene E-Learning-Projekte – bis zum Wintersemester 2011/2012 unterrichtete.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Dr. Gerhard Pappert, Johannes Breimeier Herstellung: Constanze Müller Cover: Alexander Sperl Bild: Tiffany Szerpicki (sxc.hu) Einbandgestaltung: hauser lacour Gesamtherstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-486-71652-8 eISBN 978-3-486-71664-1

Inhalt Vorwort Grußwort Die Autoren I Grundlagen und Varianten

IX XIII XV 1

1.1

Das Inverted Classroom Model Anna Maria Schäfer 3 Definition .................................................................................................................. 3

1.2

Die Inhalte ................................................................................................................ 6

1.3

Vorteile des ICM für Lerner ..................................................................................... 9

1.4

Quellen ................................................................................................................... 10

2 2.1

Der „Flipped“ Classroom Aaron Sams 13 Einführung .............................................................................................................. 13

2.2

Die Zukunft des Inverted Classroom ...................................................................... 17

2.3

Grundsätzliches ...................................................................................................... 18

2.4

Herausforderungen ................................................................................................. 19

2.5

Quellen ................................................................................................................... 22

3 3.1

Videoerstellung für und Erfahrungen mit dem ICM Jörn Loviscach 25 Einführung .............................................................................................................. 25

3.2

Umfeld und Rahmenbedingungen .......................................................................... 26

3.3

Aufzeichnung und Aufbereitung ............................................................................ 26

3.4

Bereitstellung der Videos ....................................................................................... 31

1

VI

Inhalt

3.5

Didaktik der Videos ................................................................................................ 32

3.6

Einsatz im Unterricht .............................................................................................. 33

3.7

Beobachtungen ....................................................................................................... 33

3.8

Klausuren ................................................................................................................ 35

3.9

Resümee und offene Fragen ................................................................................... 35

3.10

Quellen ................................................................................................................... 36

4 4.1

Voraussetzungen für das ICM Jürgen Handke 39 Grundlagen ............................................................................................................. 39

4.2

Digitale Materialien für die Phase I ........................................................................ 40

4.3

Flankierende Maßnahmen ...................................................................................... 45

4.4

Erste Evaluationen .................................................................................................. 50

4.5

Zusammenfassung .................................................................................................. 52

4.6

Quellen ................................................................................................................... 52

5 5.1

Das ICM als Chance für die individuelle Förderung von Schülern? Dirk Weidmann 53 Einführung .............................................................................................................. 53

5.2

Dilemmata der individuellen Förderung ................................................................. 54

5.3

Die Bedeutung digitaler Medien ............................................................................. 57

5.4

Das ICM als Chance und Herausforderung ............................................................ 60

5.5

Fazit ........................................................................................................................ 66

5.6

Quellen ................................................................................................................... 67

II Das ICM im Einsatz 6

71

6.1

Selbstverantwortliches Lernen in der umgedrehten Mathematikvorlesung Christian Spannagel 73 Es geht um mehr als nur Inhalte ............................................................................. 73

6.2

Das Veranstaltungskonzept .................................................................................... 74

6.3

Die Vorlesungsvideos ............................................................................................. 77

6.4

Das Plenum ............................................................................................................. 78

6.5

Diskussion und Ausblick ........................................................................................ 80

6.6

Quellen ................................................................................................................... 81

Inhalt 7

VII

7.1

Etablierung eines Qualitätssicherungssystems in einer virtuellen Firma Clemens Möller 83 Ausgangsvoraussetzungen ...................................................................................... 84

7.2

Lernziele ................................................................................................................. 84

7.3

Ansatz und konkrete Umsetzung ............................................................................ 85

7.4

Ergebnisse und Diskussion ..................................................................................... 88

7.5

Quellen ................................................................................................................... 91

8 8.1

Das ICM als Chance für die moderne Konzertpädagogik Karolin Schmitt-Weidmann 93 Einführung .............................................................................................................. 93

8.2

Argumente für einen Einsatz des ICM in der Konzertpädagogik ........................... 96

8.3

Vorschläge zu Inhalten und Form einer Webpräsenz ............................................. 98

8.4

Quellen ................................................................................................................. 103

9 9.1

Das ICM als Modell für die praxisnahe Ausbildung im Lehramt Alexander Sperl 105 Ausgangssituation: Neue Medien im Fremdsprachenunterricht ........................... 105

9.2

Die Übung „Medienproduktion“ .......................................................................... 107

9.3

Die Verzahnung von Online- und Präsenzphasen................................................. 108

9.4

Prüfungsleistungen ............................................................................................... 114

9.5

Fazit ...................................................................................................................... 114

9.6

Quellen ................................................................................................................. 116

10

10.1

Das ICM an der Hochschule Karlsruhe - ein nicht quantisierter Flip Isabel Braun, Gottfried Metzger, Stefan Ritter, Mikko Vasko, Hans-Peter Voss 117 Einführung ............................................................................................................ 117

10.2

Probleme der Studierenden ................................................................................... 118

10.3

Evaluation ............................................................................................................. 122

10.4

Geplante ICM-Varianten ...................................................................................... 128

10.5

Ausblick ................................................................................................................ 134

10.6

Schlussfolgerungen ............................................................................................... 134

10.7

Quellen ................................................................................................................. 135

Inhalt

VIII 11 11.1

ICM-Effekte in der Hochschullehre Jürgen Handke 139 Die curriculare Verankerung ................................................................................ 139

11.2

Erweiterung des Lehrangebotes ............................................................................ 140

11.3

Die Unterstützung des Bologna-Prozesses ........................................................... 142

11.4

Formale Voraussetzungen für das ICM ................................................................ 146

11.5

Zusammenfassung ................................................................................................ 148

11.6

Quellen ................................................................................................................. 148

12

Literatur

149

Anhang Storyboards und Skripte

157

Index

165

Vorwort Im Februar 2012 fand an der Philipps-Universität Marburg die erste deutsche Fachtagung zum Thema Inverted Classroom statt. Ziel dieser Kombination aus Workshop und Symposium war es, die derzeit stetig wachsende Zahl von Lehrkräften an Schulen und Hochschulen, die sich zu dieser neuen, stark technologisch fundierten Lehrmethode bekennen, zu einem Austausch zusammenzuführen und dabei Theorie und Praxis des Inverted Classroom gleichermaßen zu untersuchen. Die Tagung war aufgeteilt in einen Workshop, der vor allem für Lehrkräfte aller Schulformen gedacht war, und in ein Symposium, deren Zielgruppe eher aus Hochschulangehörigen bestand. Der Zuspruch war gut und bestätigte die Hoffnung der Veranstalter 1, durch das Zusammenführen der bekanntesten Akteure auf dem Gebiet des Inverted Classroom Impulse zu setzen, die zu einer Verbreitung des Modells in Deutschland und darüber hinaus führen. Besonders hilfreich war dabei der eintägige Workshop am ersten Tag der Fachtagung, im Rahmen dessen die US-Amerikaner Aaron Sams und Dan Spencer durch ihre fundierten und sehr anschaulichen Einführungsvorträge auch die anfänglich eher zurückhaltenden Teilnehmer von der Plausibilität des Inverted Classroom Models (ICM) überzeugen konnten. Mit Kernaussagen wie x

Do I need it perfect – or do I need it by Tuesday? (Soll es [mein Video] perfekt sein, oder benötige ich es bis Dienstag?)

x

The knowledge is on the web not in the teacher’s mind. (Das Wissen steckt im Web und nicht im Kopf des Lehrers.)

x

Pedagogy must drive technology and not vice versa. (Pädagogik muss Technologie bestimmen und nicht umgekehrt.)

konnten sie sehr schnell Akzente setzen und auch den Letzten mit auf die Reise in Richtung Inverted Classroom nehmen. Dass dabei Lehrvideos eine wichtige Grundlage für das ICM bilden, war bereits klar geworden. Doch der Produktionsprozess solcher Videos war noch von zwei Hürden gekennzeichnet: x Hürde 1: Die technischen Aspekte der Videoproduktion x Hürde 2: Die inhaltliche Gestaltung von Lehrvideos _________________ 1

Aus Gründen des besseren Leseflusses wird im gesamten Tagungsband stets die kürzere maskuline Schreibweise verwendet. Ungeachtet dessen sind zu jeder Zeit Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer usw. gleichermaßen angesprochen.

X

Vorwort

Die erste Hürde wurde im Rahmen zweier Praxisworkshops schnell genommen. Alle Teilnehmer hatten dort die Gelegenheit, einen eigenen Videoclip zu erzeugen. Dank der Unterstützung der Firma TechSmith konnten mit Camtasia Studio erste Videos auf der Basis der Anleitungen von Sams und Spencer erzeugt und die Einfachheit der heutigen Möglichkeiten der Videoerzeugung gezeigt werden. Hürde 2 stellte sich als viel größeres Problem heraus. Bei der inhaltlichen Gestaltung von Lehrvideos gibt es dermaßen viele Möglichkeiten (von denen einige in den Beiträgen zu diesem Tagungsband diskutiert werden), dass kein allgemein gültiges Rezept geliefert werden konnte. Allerdings konnten alle Teilnehmer zwei Grundsätze mit nach Hause nehmen: Grundsatz 1: Lehrvideos müssen nicht perfekt sein (Do I need it perfect …?). Grundsatz 2: Lehrvideos sollten gut geplant sein. 2 Am Ende des Workshops am ersten Tag der Fachtagung hatten die anwesenden Lehrkräfte sehr genaue Vorstellungen von den Möglichkeiten des ICM in ihrem eigenen Fach. Die meisten von ihnen nahmen sich fest vor, das ICM in ihrem eigenen Unterricht auszuprobieren. 3 Am zweiten Tag folgte das primär auf Hochschulangehörige ausgerichtete wissenschaftliche Symposium zum Inverted Classroom Model. Schwerpunkte waren dabei die Möglichkeiten der Verbesserung der Hochschullehre durch das ICM. Da aber auch dem Symposium viele Lehrkräfte bzw. Ausbilder von Lehrkräften beiwohnten, war die Umsetzung des ICM nicht nur auf die Hochschule beschränkt. Die Eröffnung des Symposiums nahm der Vizepräsident für Informations- und Qualitätsmanagement der Philipps-Universität Marburg, Joachim Schachtner, vor. Er betonte vor allem die neuen Möglichkeiten in der Hochschullehre, insbesondere vor dem Hintergrund des internationalen Wettbewerbs, dem sich alle Hochschulen mittlerweile ausgesetzt sehen. Danach folgte Jürgen Handke, Organisator der Konferenz, der bereits seit 2001 das ICM in seiner Lehre einsetzt. Er sprach vor allem von den Voraussetzungen, die geschaffen werden müssen, damit das ICM erfolgreich in der Hochschullehre genutzt werden kann. Christian Spannagel setzt in seinen grundständigen Mathematikvorlesungen an der PH Heidelberg Videos ein, die die Studierenden vor der Präsenzphase anschauen sollen. Er stellte in seinem Vortrag das Modell des Aktiven Plenums vor, in dem Studierende sehr viel mehr eingebunden werden, als das davor der Fall war. Schließlich sprach Dan Spencer, Educational Technology Consultant in Michigan, über die “Many Faces of the Flipped Classroom”. Tenor aller drei Vorträge war eine Betonung der Möglichkeit, durch Verlagerung der Inhaltsvermittlung mehr Zeit für eine engere Interaktion mit den Schülern oder Studierenden zur erhalten. Neben den Vorträgen hatten die Konferenzteilnehmer die Möglichkeit, in einer kleinen Ausstellung die Produkte der Firma TechSmith, den Virtual Linguistics Campus, das Virtuelle Zentrum für Lehrerbildung und ein Wiki-Projekt von Udo Bleimann näher zu inspizie_________________ 2

Siehe dazu die Anleitungen von Dan Spencer im Anhang dieses Tagungsbandes.

3

Mittlerweile haben nicht nur einige der Tagungsteilnehmer dieses Modell mit eigenen Videos ausprobiert, sondern sie sind zu bekannten Akteueren der ICM-Szene Deutschlands gewordeen (siehe hierzu den Blog der Autoren: http://invertedclassroom.wordpress.com/)

Vorwort

XI

ren. Daraus entstanden anregende Gespräche zu den Potenzialen des Einsatzes der Neuen Medien im Unterricht. Die Erstellung von Materialien, die vor der Präsenzphase durchgearbeitet werden können und die Umgestaltung der Präsenzphase, waren die Schwerpunkte der Workshops und Foren, die am Nachmittag des Symposiums stattfanden. Dazu boten Aaron Sams und Dan Spencer einen Camtasia-Workshop an, der sich auf die unkomplizierte Erstellung von Unterrichtsvideos konzentrierte. Christian Spannagel und Jutta Hannig mit ihrem Team befassten sich im Rahmen zweier Workshops mit der Umgestaltung der Präsenzphase. Anschließend beschäftigten sich Anna Maria Schäfer und Alexander Sperl in ihrem Forum mit speziellen Problemen des Inverted Classrooms und schlugen eine Reihe von Lösungsmöglichkeiten vor. Haymo Hinz vom Hochschulrechenzentrum der Philipps-Universität Marburg zeigte am Beispiel des Marburger Angebots wie unkompliziert qualitativ hochwertige Vorlesungsaufzeichnungen erstellt werden können. Dass es auch OpenSource Alternativen gibt, die für den Unterricht genutzt werden können, demonstrierte Jörn Loviscach in seinem Workshop. Zum Abschluss des Symposiums wurde Ramsey Mussalam live per Web Konferenz aus San Francisco zugeschaltet. Er wies in dem auf seiner Dissertation beruhenden Vortrag nach, dass das Inverted Classroom Model die kognitive Last reduziert, mit der Schüler und Studierende während des Lernprozesses konfrontiert werden. Der vorliegende Tagungsband enthält neben den zentralen Vorträgen eine Reihe von Artikeln, die den Blick auf das Inverted Classroom Model erweitern. Dabei stehen insbesondere drei Aspekte im Fokus: x

die Erzeugung und Nutzung der Online-Materialien für die Phase I des ICM;

x

die Ausgestaltung der Präsenzphase (Phase II des ICM);

x

die Anwendung des ICM auf bestimmte Fächer.

Der letzte Aspekt kam bei der ersten ICM-Fachtagung in Deutschland naturgemäß noch etwas zu kurz, war doch der Fokus zunächst auf einen generellen Überblick gelegt. Bei zukünftigen ICM-Fachtagungen wird aber genau das angestrebt: die fachspezifischen Möglichkeiten der Anwendung ICM-basierter Verfahren mit dem Ziel qualitativer Verbesserungen der Lehre sowie der optimalen Nutzung der Präsenzphase. Wir freuen uns schon jetzt darauf. Jürgen Handke, Alexander Sperl Juli 2012

Grußwort Ich begrüße Sie zur ersten deutschen Fachtagung zum Thema Inverted Classroom. Im Namen des Präsidiums der Universität Marburg und insbesondere als Vizepräsident für Qualitätssicherung (auch in Vertretung für den Vize-Präsidenten für Lehre) freue ich mich darüber, dass die Universität Marburg als erste Bildungseinrichtung in Deutschland das Thema Inverted Classroom nach dem gestrigen „Hands-on“ Workshop nun auch wissenschaftlich untermauert. Mit dem Virtual Linguistics Campus haben wir hier in Marburg eine der erfolgreichsten ELearning Plattformen überhaupt und die wohl erfahrensten Entwickler und Nutzer moderner elektronisch gestützter Lehrszenarien. Die Veranstalter dieser Tagung haben nicht nur die Lehre ihres eigenen Faches enorm bereichert – z.B. durch zielgruppenspezifische Lehrveranstaltungen, die den Bologna-Prozess ideal unterstützen – sondern auch durch Weiterbildungsangebote oder neue Lehrangebote in ihrem Fach. Das wichtigste Gütesiegel allerdings ist der enorme Gewinn für die Lehre selbst. „Free your Lecture“ hieß eine Fachtagung im Januar in Darmstadt mit ähnlicher Stoßrichtung. Dort wurde mit großem Erstaunen zur Kenntnis genommen, welche großen „Freiräume“ die Marburger Anglisten geschaffen haben: x eine hohe Lernerautonomie (Studierende, die nach den Prinzipien der Marburger Anglisten lernen, können das wo- und wann auch immer tun und ihre eigenen Lernstrategien einsetzen); x eine hohe Transparenz der Lehre, deren Inhalte weltweit einsehbar sind; x und … wahrscheinlich am wichtigsten: eine Befreiung der Präsenzlehre vom Ballast immer wiederkehrender Inhalte. Was allerdings auch Teil dieses eigentlich gar nicht so neuen Ansatzes ist, soll nicht verschwiegen werden: All diese Methoden und Prinzipien sind nur umsetzbar, wenn sich die Rolle der Lehrenden ändert: Weg vom Allwissenden Frontalvermittler des Lehrstoffes hin zum Begleiter des Lernprozesses auf Augenhöhe mit den Lernenden. Dass dieses neue Rollenverständnis für viele Hochschuldozenten und Lehrkräfte an den Schulen nur schwierig zu verkraften ist, ist bekannt. Daher wird ein wichtiger Aspekt dieser Fachtagung sein, genau diese Hürde zu überspringen und Wege aufzuzeigen, wie wir Lehrenden mit dieser neuen Rolle umgehen können. Aber auch für die Lernenden ist Einiges zu tun: Sie dürfen ihre frisch gewonnene Autonomie nicht zu großzügig auslegen, sondern müssen Mechanismen der Selbstkontrolle erlernen, die – so wird die Fachtagung zeigen – auch von Außen unterstützt werden müssen. Und schließlich sind auch institutionelle Maßnahmen erforderlich, um die Umkehrung der Lehre zu ermöglichen: Studienordnungen müssen angepasst werden, neue Lernformen müssen darin verankert werden usw.

XIV

Grußwort

Eines wird allerdings nicht geschehen: Eine Präsenzuniversität wie die Universität Marburg wird nicht zu einer Fernuniversität werden. Die Präsenzlehre wird immer das Rückgrat unserer Hochschullehre bleiben – nur, sie wird sich ändern oder – um die Teilnehmer dieser Fachtagung beim Wort zu nehmen: sie hat sich bereits verändert. Aber genau hier ist eine große Chance für die Zukunft: Während bereits heute die ersten Universitäten im Ausland auf eine reine Online-Ausbildung basierend auf Lehrvideos setzen, wird in Deutschland die Präsenzphase Grundlage unseres Wirkens bleiben. Wenn wir also mit den internationalen Bestrebungen nach immer mehr Online-Anteilen in der Lehre konkurrieren wollen, dann sind wir genau dann im Vorteil, wenn wir eine hochqualitative Online-Phase mit einer gut durchdachten neuen Präsenzphase koppeln. Dass dieses Modell der Umkehrung – und damit möchte ich schließen – ja gar nicht so einzigartig ist, hat man auch anderweitig erkannt. So berichten Jürgen Handke und Anna Maria Schäfer, zwei der Organisatoren dieser Tagung in ihrem neuen Buch etwas süffisant im zusammenfassenden Kapitel, dass auch Fußballvereine ein Modell der Umkehrung zur Spielvorbereitung einsetzen: Vor jedem Spiel setzt der deutsche Zweitligaverein Union Berlin Tablet PCs ein, auf dem die wichtigsten Szenen des Gegners erfasst sind. Dadurch sind alle Spieler bestens auf die Abschlussbesprechung mit dem Trainer vorbereitet. Der Erfolg gibt ihnen recht: So gut wie zur Zeit stand Union noch nie da. Und so bin ich mir sicher, dass auch die von Ihnen propagierte „neue“ Form der Lehre erfolgreich sein wird und überbringe im Namen des Präsidiums die besten Grüße, insbesondere auch an unsere auswärtigen und ausländischen Gäste und wünschen Ihnen bei Ihren Gesprächen, Workshops und Vorträgen einen hohen wissenschaftlichen und praktischen Ertrag. Prof. Dr. Joachim Schachtner Vizepräsident für Informations- und Qualitätsmanagement der Philipps-Universität Marburg

Die Autoren Professor Dr. Jürgen Handke Philipps-Universität Marburg Institut für Anglistik/Amerikanistik Vorlesungen im Internet: http://www.youtube.com/linguisticsmarburg Multimedia: http://www.linguistics-online.com Alexander Sperl Justus-Liebig-Universität Gießen Koordinationsstelle Multimedia (KOMM) WM³ Weiterbildung Mittelhessen http://www.uni-giessen.de/cms/komm/ Dr. Isabel Braun, Gottfried Metzger, Mikko Vasko Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft Service-Center Studium und Lehre, Projekt SKATING Website: http://www.hs-karlsruhe.de/scsl Professor Dr. Jörn Loviscach Fachochschule Bielefeld FB Ingenieurwissenschaften und Mathematik Vorlesungen im Internet: http://www.j3l7h.de/videos.html Professor Dr. Clemens Möller Hochschule für Angewandte Wissenschaften Albstadt-Sigmaringen Fakultät Life Sciences Website: http://about.me/cmoeller Professor Dr. Stefan Ritter Hochschule Karlsruhe - Technik und Wirtschaft Fakultät für Elektro- und Informationstechnik Website: http://www.home.hs-karlsruhe.de/~rist0001/ Aaron Sams Woodland Park High School Woodland Park Colorado, USA Anna Maria Schäfer Philipps-Universität Marburg

XVI

Die Autoren

Institut für Anglistik/Amerikanistik Multimedia: http://www.linguistics-online.com, http://www.vzl-hessen.de Karolin Schmitt-Weidmann Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin Website: http://karolinschmitt.wordpress.com/ Professor Dr. Christian Spannagel PH Heidelberg Institut für Datenverarbeitung/Informatik Vorlesungen im Internet: http://wiki.zum.de/PH_Heildeberg Dan Spencer Educational Technology Consultant Jackson County Intermediate School District Michigan, USA Professor Hans-Peter Voss Geschäftsstelle der Studienkommission für Hochschuldidaktik an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in Baden-Württemberg Hochschule Karlsruhe - Technik und Wirtschaft Multimedia: www.hochschuldidaktik.net Dirk Weidmann Philipps-Universität Marburg Institut für Anglistik und Amerikanistik Website: http://weidmanndirk.wordpress.com/ Schul-Blog: http://lernhelfer.wordpress.com/

I Grundlagen und Varianten Der erste Buchabschnitt befasst sich mit den Grundlagen des Inverted Classroom Models. Nach einer Einführung von Anna Maria Schäfer, die sich nicht nur mit den terminologischen Varianten des Modells auseinandersetzt sondern auch einen Abriss über den historischen Hintergrund liefert, kommt mit Aaron Sams einer der führenden nordamerikanischen Vertreter zu Wort. Sams beschreibt, wie er als naturwissenschaftlicher Lehrer zum ICM kam, welche Herausforderungen das Modell mit sich brachte und welche Vorteile er als Lehrer daraus zog. Sein Erfahrungsbericht enthält wichtige Hinweise für Interessenten am ICM, setzt sich aber auch dezidiert mit einer Reihe von Bedenken auseinander. Zwar bilden Videomaterialien nicht die einzige Grundlage für die Realisierung der Phase der Inhaltsvermittlung im ICM, dennoch sind sie unverzichtbarer Bestandteil. Jörn Loviscach diskutiert in seinem Beitrag zum Tagungsband die verschiedenen Varianten der Videoerzeugung und –nutzung nicht nur in seinen eigenen, sondern auch in den ICMSzenarien von Kollegen über sein eigenes Fach hinaus. Für das Gelingen des ICM sind eine Reihe von Variablen einzuhalten. Diese beziehen sich auf die Materialien für die Phase der Inhaltsvermittlung und –erschließung, auf zusätzliche Anreizsysteme für die Nutzung der Materialien sowie auf die Rolle der Lehrenden und der Lernenden. Jürgen Handke behandelt diese verschiedenen „Gelingensbedingungen“ für das ICM auf der Basis seines Plenarvortrages im Rahmen der ICM-Tagung 2012. Im abschließenden Beitrag dieses ersten Buchabschnitts diskutiert Dirk Weidmann – aufbauend auf einer Analyse der derzeitigen Bildungssituation sowie verfügbarer Studien zur Mediennutzung durch Jugendliche – die speziellen Möglichkeiten und Anforderungen an die beiden Phasen des ICM.

1

Das Inverted Classroom Model

Anna Maria Schäfer In den letzten Jahren haben Lehrende in den verschiedensten Disziplinen und Schulformen neue Konzepte entwickelt, um ihren Unterricht schülerzentrierter, interaktiver und effektiver zu gestalten. Das Inverted Classroom Model (ICM), auch „Flipped Classroom“ genannt, erfüllt diese Ansprüche an modernen Unterricht in besonderer Weise. Bei dieser Art des Unterrichts werden die üblichen Phasen „Stoff erarbeiten“ und „Festigen durch Übungen“ vertauscht: Als Vorbereitung arbeiten die Lernenden mit interaktiven Materialien, die über das Internet bereitgestellt werden. Im darauf folgenden Unterricht vor Ort hilft der Lehrende bei Problemen, übt und diskutiert mit der Lerngruppe. Der Artikel führt in das Thema ICM ein, definiert das Konzept und grenzt es gegenüber anderen Unterrichtsformen ab. Es werden Varianten der für die Vorbereitung benötigten Inhalte präsentiert, außerdem werden die Vorteile, die das Inverted Classroom Model für die Lernenden bietet, zusammengefasst.

1.1

Definition

Die Grundidee des Inverted Classroom Model ist es, die Inhaltsvermittlung, die traditionell gemeinsam vor Ort mit dem Lehrer stattfindet, und das Üben und Vertiefen, das zu Hause allein erledigt wird, zu vertauschen. Das Ziel dabei ist es, Zeit für das gemeinsame Lernen und das Anwenden des neu Gelernten zur Verfügung zu haben. Gannod formuliert dieses Ziel des Inverted Classroom als „reclaiming lecture time for in-class laboratories and learning activities.“ (2007:1). Das Modell wird sowohl im Schulbereich als auch im Hochschulbereich angewendet, weshalb folgende Begriffe in der Definition austauschbar sind: x

Inhaltsvermittlung: Unterricht, Lehrervortrag, Vorlesung;

x

vor Ort: im Klassenzimmer, in der Schule, im Hörsaal, in der Universität;

x

Lehrer: Dozent, Professor;

x

Üben und Vertiefen: Hausaufgaben, Nachbereiten;

x

zu Hause: in der Nachmittagsbetreuung, in der Bibliothek.

Somit gibt es für jeden Kontext eine leicht abgewandelte Definition, das Prinzip des Vertauschens bleibt jedoch immer gleich. Der Einfachheit halber wird in der Folge die Hoch-

4

1 Das Inverted Classroom Model

schulterminologie verwendet, eine Übertragung auf den Schulbereich ist jedoch immer möglich, indem die Begriffe entsprechend angepasst werden. Abb. 1.1 zeigt schematisch wie die traditionelle Lehre aus zwei Phasen aufgebaut ist: In Phase 1 erfolgt die Inhaltsvermittlung, in Phase 2 wird allein zu Hause geübt.

Abb. 1.1: Traditionelle Lehre [INT1]

Beim Inverted Classroom sind die Aktivitäten in den beiden Phasen vertauscht, wie in Abb. 1.2 dargestellt. Zunächst erfolgt die Inhaltserschließung und zwar nicht in der Gruppe, sondern individuell, daran schließt sich die Präsenzphase zum gemeinsamen Üben und Vertiefen an.

Abb. 1.2: Inverted Classroom [INT1]

Strayer fasst das Konzept folgendermaßen zusammen: „The flipped classroom inverts traditional teaching methods, delivering instruction online outside of class and moving ‘homework’ into the classroom.” [INT2] Lage/Platt/Treglia (2000:32) definieren: „Inverting the classroom means that events that have traditionally taken place inside the classroom now take place outside the classroom and vice versa.” Die Vertauschung hat Vorteile für beide Phasen: Die Inhaltsvermittlung kann individualisiert werden, jeder Studierende kann im eigenen Tempo lernen, beliebig Pausen einlegen oder Informationen nachschlagen, im Stoff zurückgehen oder schneller vorangehen. Es ist nicht die Gruppe oder der Dozent, der das Tempo vorgibt, sondern einzig der Lerner selbst. Die Übungsphase hingegen profitiert sehr von der Anwesenheit des Dozenten und der Mitlernenden. Gemeinsam lassen sich Lösungen erarbeiten, wenn Studierende nicht weiter kommen, ist ein erfahrener und kompetenter Helfer jederzeit verfügbar und kann über schwierige Stellen hinweghelfen. Um eine Vertauschung möglich zu machen, muss die zuvor durch den Dozenten erfolgte Inhaltsvermittlung, welche zum Beispiel per Vortrag gestaltet wurde, nun zeit- und ortsunabhängig gestaltet werden, damit die Studierenden sich den Lerninhalt vor der gemeinsa-

1.1 Definition

5

men Phase aneignen können. Das ist erst in den letzen Jahren mit Hilfe der neuen Medien, speziell des Internet, großflächig möglich geworden. Die bekannteste und am weitesten verbreitete Form des ICM setzt vom Dozenten erstellte Lernvideos ein, die über das Internet jederzeit und an jedem Computer mit Internetzugang von den Studierenden abgerufen werden können. Es findet sich eine Reihe von alternativen Bezeichnungen für das ICM, zum Beispiel x Flipped Classroom; x The Classroom Flip; x Pre-Vodcasting; x Reverse Classroom Method; x Umgedrehter Unterricht. Der Begriff des „Classroom Flip“ erscheint erstmalig in einer Veröffentlichung im Jahr 2000 von Baker. Die Bezeichnung „Flipped Classroom“ wird im nordamerikanischen Raum sehr häufig im Schulkontext verwendet, andere Bezeichnungen sind seltener zu finden. Modelle, die den Namensbestandteil „Mastery“ enthalten (z.B. „Flipped Educational Mastery“, „Flipped-Mastery Model“) beinhalten zusätzlich eine starke Selbststeuerungskomponente. Lernende beginnen dann mit der nächsten Aufgabe, wenn sie die vorhergehende gemeistert haben und nicht, weil es vom Lehrer zeitlich so vorgesehen ist (vgl. Bergmann/Sams 2012:9f, 51-76). Die Vielzahl der Bezeichnungen resultiert daraus, dass in vielen Bildungsinstitutionen weltweit Lehrende unabhängig voneinander auf die Idee des Vertauschens gekommen sind und jeweils eigene Begriffe geprägt haben.

1.1.1

Entstehung

Ende der 1990er Jahre ermöglichten es die technischen Gegebenheiten an Colleges und Universitäten elektronische Dokumente, die mehr als nur Texte enthielten, auf einfache Weise einer großen Zahl von Zuhörern verfügbar zu machen (vgl. Lage/Platt/Treglia 2000:30, 34). Dies brachte eine Reihe von Lehrern und Dozenten unabhängig voneinander auf die Idee, zum Beispiel Präsentationen oder Internetseiten über das Kursthema vor dem eigentlichen Präsenzunterricht bereitzustellen, sodass ihre Lerner sich schon auf den zu erwartenden Inhalt vorbereiten konnten. Im Unterricht selbst konnte dann Zeit verwendet werden, um schwierige Inhalte gemeinsam durchzusprechen, weitergehende Punkte zu besprechen, die neuen Inhalte selbst anzuwenden und zu üben („clarify, expand, apply, practice“ bei Baker 2012:1f). Solche Bestrebungen waren anfangs in zwei Bereichen verstärkt zu finden: Zum einen dort, wo Bücher nicht ausreichten oder nicht zur Verfügung standen, zum Beispiel im neu entstehenden Bereich „Screendesign“ (vgl. Baker 2012:1) oder im Bereich Software Engineering (vgl. Gannod/Burge/Helmick 2007; Gannod 2007), wo auch gleichzeitig das Anwenden des Erlernten eine besonders große Rolle spielt. Zum anderen in Feldern, wo über Jahre hinweg dasselbe Grundlagenwissen vermittelt wurde, zum Beispiel inhaltlich gleichbleibende Einführungsvorlesungen an der Universität. In beiden Feldern lohnte sich die auf-

1 Das Inverted Classroom Model

6

wändige Erstellung von multimedialen Lerninhalten besonders, weil entweder keine Alternative gegeben war oder der Nutzen durch die Weiterverwendbarkeit in der Zukunft sehr hoch war. Mittlerweile gibt es Beispiele aus praktisch allen Fächern und Anwendungsbereichen, da der Erstellungsaufwand für Lernmaterial durch technische Fortschritte enorm gesunken ist (siehe dazu auch Loviscach, Abschnitt 3.3ff in diesem Band). Im Schulbereich konnte sich das Konzept erst einige Jahre später verbreiten, vermutlich da dort die technische Ausstattung länger benötigte, um eine „kritische Grenze“ der Verbreitung zu erreichen. Erst mit dem Aufkommen erschwinglicher Endgeräte, die vermehrt auch im Besitz von Kindern und Jugendlichen waren (z.B. iPod) und einer flächendeckenden Verbreitung von Internetzugängen zu Hause, war eine Verteilung der Lerninhalte vor dem Unterricht gewährleistet und Lehrer konnten das Konzept einsetzen (vgl. Bergmann/Sams 2012:97). Einen Boom hat der Inverted Classroom im Schulbereich erfahren, als er 2007 von Jonathan Bergmann und Aaron Sams aufgegriffen wurde, die das Konzept unter der Bezeichnung „Flipped Classroom“ bekannt gemacht haben und weltweit auf Konferenzen anderen Lehrkräften vorstellen [INT2] (Bergmannn/Sams 2012, sowie Sams, Kapitel II in diesem Band).

1.1.2

Abgrenzung

Wenn Studierende zur Vorbereitung einer Seminarsitzung einen Basistext lesen sollen, dann ist die angewendete Methode die des Inverted Classroom. Î Nein, denn die Inhaltserschließung mit reinem Textmaterial funktioniert für das Inverted Classroom Model nicht. Im Normalfall ist es nicht passgenau auf Lerngruppe und Lernstand zugeschnitten, da es nicht vom eigenen Kursleiter verfasst wurde. Meist ist keine vollständige Durchdringung der Inhalte möglich und es gibt keine Rückmeldung über den Lernerfolg. Außerdem zeigt sich bei der Nutzung von „Basistexten“ in den Präsenzphasen meist keine konsequente Durchführung des Inverted Classroom, denn auch ohne den Text gelesen zu haben kann man mitarbeiten. Wenn es zusätzliche Materialien gibt, die online bereitgestellt werden, handelt es sich um die Inverted Classroom Methode. Î Nein, denn eine zwingende Bedingung für das Funktionieren der Präsenzphase im Inverted Classroom ist, dass die Studierenden sich vor der Präsenzphase mit den neuen Inhalten auseinandersetzen und diese selbständig erschließen. Ergänzungsmaterial zu Präsenzveranstaltungen ist optional und kann auch nach der Sitzung angeschaut werden (vgl. Lage et al.:33).

1.2

Die Inhalte

Beim ICM ist es notwendig, dass die zu vermittelnden Inhalte in einer vom Dozenten unabhängigen Form vorliegen, damit die Inhaltserschließung selbständig vor der gemeinsamen Lernzeit durchgeführt werden kann. Dazu eignet sich eine Reihe von Formaten, die über das Internet bereitgestellt werden, in Ausnahmefällen aber auch in anderer elektronischer

1.2 Die Inhalte

7

Form verteilt werden können (z.B. auf Speichermedien wie CD, DVD oder USB-Stick, siehe Sams, Abschnitt 2.4 in diesem Band). Alle Inhalte haben gemeinsam, dass sie in ihrer Erstellung aufwändig sind und eine gewisse Einarbeitung in neue Werkzeuge erfordern. Theoretisch ist zwar eine Verwendung von Inhalten anderer möglich, in der Praxis werden allerdings die Inhalte überwiegend vom Dozenten selbst erstellt.

1.2.1

Videocasts

Gerade im nordamerikanischen Raum sind Videos (auch Videopodcasts, Videocasts, Vodcasts oder Screencasts genannt) die verbreiteteste Möglichkeit, den Lernenden die Inhalte zu vermitteln. Der Dozent nimmt an seinem Computer mit Hilfe einer speziellen Software den Bildschirminhalt, seine Stimme und sein Bild auf (vgl. Gannod et al.:3.5). Auf der Basis vorbereiteter Materialien, z.B. Präsentationsfolien, Karten, Schemata etc., stellt der Dozent das Thema vor und geht dabei auf das visuell Präsentierte ein. Studierende können pausieren, Abschnitte oder das ganze Video erneut sehen und sich über weiterführende Links oder Materialien noch stärker mit den Inhalten auseinandersetzen. Abb. 1.3 stellt dieses Verfahren, das Jürgen Handke u.a. dazu verwendet, alle organisatorischen Aspekte einer Lehrveranstaltung (inhaltliche Organisation, Lehrkonzept, Vergabe der Credits etc.) bereits vor Kursbeginn per Screencast zu erläutern, per Screenshot vor.

Abb. 1.3: Ein Screencast mit Präsentation und Sprecherbild, „Class Description: Morphology and Syntax“ [INT6]

Videocasts haben mit reinen Audiopodcasts gemeinsam, dass sie in einem speziellen Format geliefert werden, sodass Lerner sie „abonnieren“ können und so immer automatisch die neuesten Folgen auf ihrem Rechner oder mobilen Endgerät vorliegen haben. Videocasts lassen sich aber auch einzeln herunterladen oder auf Datenträgern verteilen.

1 Das Inverted Classroom Model

8

1.2.2

Vorlesungsaufzeichungen

Eine weitere Möglichkeit, die Inhaltsvermittlung vorzuverlagern, bieten Vorlesungsaufzeichnungen. Gerade bei Veranstaltungen, die regelmäßig in gleicher Weise angeboten werden, kann der Dozent bei den zuständigen universitären Dienstleistern (z.B. dem Rechenzentrum) um die Aufzeichnung seiner Vorlesung bitten. Wird dies in einem Semester durchgeführt, steht im nächsten Semester die gesamte Vorlesung als Video zur Verfügung und kann im Sinne des ICM zur eigenständigen Erschließung des Inhalts angewandt werden. Die gemeinsame Präsenzzeit kann dann zum Klären von Fragen, Üben und Vertiefen genutzt werden. Auf diese Weise führt Christian Spannagel seine „umgedrehte Mathematikvorlesung“ durch [INT3].

Abb. 1.4: Beispiel einer Vorlesungsaufzeichnung [INT7]

1.2.3

Podcasts

Audio-Podcasts eignen sich ebenfalls bedingt zur Inhaltsvermittlung im Rahmen des Inverted Classroom Models. Gabi Reinmann (2009) hat ihre Erfahrung mit dieser Form der Inhaltsvermittlung dokumentiert. Sie ersetzt Vorlesungen durch dialogisch aufgebaute Podcast-Episoden. Zusätzlich stellt sie zu jeder Episode ergänzendes Textmaterial zur Verfügung [INT4]. Reinmann/Jocher-Wiltschka (2010) kommen in ihrer Evaluation allerdings zu dem Ergebnis, dass die Studierenden sich mit dem Material nicht ausreichend beschäftigt haben, denn jeweils etwa 30 Prozent der Studierenden geben an, nicht alle Podcasts gehört und nicht alle Texte gelesen zu haben [INT5].

1.2.4

Multimediale Inhalte

Der große Vorteil multimedialer Inhalte gegenüber reinen Videos ist ihre Interaktivität, die den Lernenden eine Rückmeldung über den eigenen Fortschritt ermöglicht. Dies kann zum

1.3 Vorteile des ICM für Lerner

9

Beispiel in Form eines oder mehrerer Quizzes geschehen, die nur nach Bearbeitung des multimedialen Inhalts möglich sind. Diese erhöhen die Motivation der Studierenden sich mit den vorgegebenen Lerninhalten zu beschäftigen, weil durch das Quiz eine sofortige Rückmeldung über den Lernerfolg gegeben ist (vgl. auch Baker 2000:12f).

1.2.5

Kombinationsmöglichkeiten

Es besteht die Möglichkeit, verschiedene Präsentationsformen miteinander zu kombinieren (vgl. Handke/Schäfer, 2012:226). Mithilfe von Verknüpfungen können Texte mit Videos verschiedener Typen, Audiodateien und interaktiven Animationen zu komplexen Lernangeboten zusammengestellt werden. Dabei hilft ein didaktisch sinnvoller Aufbau den Studierenden sich den Lernstoff vor der Präsenzphase zu erschließen, um dann gemeinsam an der Vertiefung zu arbeiten (vgl. ebd. 229).

1.3

Vorteile des ICM für Lerner

Das Inverted Classroom Model bietet Vorteile für den Dozenten, aber insbesondere auch für die Lernenden. Diese Vorteile werden nun im Einzelnen vorgestellt.

1.3.1

Aktives Lernen

Beim Inverted Classroom wird die gemeinsame Zeit effektiver genutzt, indem die Mitlernenden nicht nur Sitznachbarn in einer Vorlesung sind, sondern eine regelmäßige Auseinandersetzung mit Anderen über die zuvor erschlossenen Themen stattfindet (vgl. Gannod et al. 2007:3.2). Studierende vertiefen ihr Wissen und wenden Neues direkt an, indem sie ihren Kommilitonen Dinge erklären und gemeinsam Probleme lösen. Dieses kollaborative Lernen in Gruppen kann für viele Inhalte sehr erfolgreich sein und wird auch in der Schule erfolgreich praktiziert (Bergmann/Sams, 2012:27f).

1.3.2

Individualisierung des Lerntempos und Lernwegs

Lernende bestimmten selbst, in welchem Tempo und auf welche Art und Weise sie lernen (vgl. Gannod et al. 2007:3.2). Unterschiedliche Lernertypen können sich so mit dem Material beschäftigen, wie es ihrer Lernweise am förderlichsten ist (vgl. Lage et al. 2000:39). Das für alle zu erreichende Ziel wird vom Lehrenden vorgegeben, aber auf welche Art und Weise, in welchem Tempo und mit Hilfe welcher Lernwege der einzelne Lerner dieses Ziel erreicht ist ihm oder ihr selbst überlassen (vgl. Lage et al. 2000:32). In den „Mastery“Konzepten wird dieses noch kompromissloser umgesetzt (Bergmann/Sams 2012:33). Auch ein eigenständiges Vorarbeiten mehrerer Sitzungen ist beim Inverted Classroom kein Problem. Gerade wenn stressige Prüfungsphasen bevorstehen, können die Studierenden sich die Arbeit so einteilen, wie es ihnen am besten passt (vgl. Bergmann/Sams 2012:22).

1 Das Inverted Classroom Model

10

1.3.3

Lernerzentriertheit

Beim Inverted Classroom steht der Lerner im Zentrum aller Aktivitäten, nicht mehr der Dozent (Gannod et al. 2007:3.7). Die Lerner erhalten Kontrolle und Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess und stehen stärker im Mittelpunkt eines Kurses (vgl. Baker 2000:11). Auch das Lernern von den Kommilitonen wird gefördert durch Phasen, in denen die Studierenden sich gegenseitig Dinge erklären (ebd.:12). Bergmann/Sams halten dies für den Kern jeder Inverted Classroom Variante: „redirecting attention away from the teacher and putting attention on the learner and the learning” (Bergmann/Sams, 2012:11, vgl. auch 16). Mehrere Studien haben gezeigt, dass Studierende das Konzept des Inverted Classroom anspricht und sie gerne auf diese Art und Weise lernen (vgl. Lage et al. 2000:41; Baker 2000:14ff).

1.3.4

Abdeckung von Themen

Häufig leidet das gemeinsame, aktive Lernen unter der Notwendigkeit, bestimmte Themen abzudecken, die in der Schule durch den Lehrplan und in der Universität durch die Studienordnung vorgegeben sind. Um alle Themen „abzuhandeln“ wird dann häufig auf Vorträge zurückgegriffen und das aktive Bearbeiten der Inhalte kann nur durchgeführt werden, wenn die Zeit trotzdem ausreicht (vgl. Lage et al.:31, 39; Gannod et al.:3.2). Beim Inverted Classroom besteht dieses Problem nicht. Durch die Auslagerung der Inhaltsvermittlung ist die Zeit für das passive Lernen (also Zuhören oder das Lesen von neuen Inhalten) nicht mehr durch die Anzahl und Dauer der Präsenzsitzungen eingeschränkt. Auch Abwesenheit des Lehrenden, Krankheitstage oder Feiertage fallen weniger ins Gewicht, da ein Vor- bzw. Nacharbeiten der Inhalte jederzeit möglich ist (vgl. auch Bergmann/Sams, 2012:32f).

1.4

Quellen

Baker, Wesley J. 2000. The ‘Classroom Flip’: Using Web Course Management Tools to Become the Guide by the Side. In: Chambers, J.A. (Ed.), Selected Papers from the 11th International Conference on College Teaching and Learning. Jacksonville, Florida: Florida Community College at Jacksonville: 9-17. Bergmann, Jonathan/Sams, Aaron. 2012. Flip your classroom: reach every student in every class every day. Washington, DC: ISTE. Gannod, Gerald C./Burge, Janet E./Helmick, Michale T. 2007. Using the Inverted Classroom to Teach Software Engineering. Miami University, Technical Report MU-SEASCSA-2007-001. Handke, Jürgen/Schäfer, Anna Maria. 2012. E-Learning, E-Teaching und E-Assessment in der Hochschullehre. Eine Anleitung, München: Oldenbourg. Lage, Maureen J./Platt, Glenn J./Treglia, Michael. 2000. Inverting the Classroom: A Gateway to Creating an Inclusive Learning Environment. In: The Journal of Economic Education. Vol. 31, No. 1 (Winter). London: Taylor & Francis: 30-43.

1.4 Quellen

11

[INT1] Handke, Jürgen: Online Präsentation zum Vortrag „Das ICM - Grundlagen und Voraussetzungen.“, http://www.linguistics-online.de; Zugriff am 30.4.2012. [INT2] Strayer, Jeremy F.: Ohio State University: The Flipped Classroom Infographic, http://www.knewton.com/flipped-classroom/; Zugriff am 16.3.2012. [INT3] Spannagel, Christian: Die umgedrehte Mathematikvorlesung, http://cspannagel.wordpress.com/2011/08/07/die-umgedrehtemathematikvorlesung/; Zugriff am 16.3.2012. [INT4] Reinmann, Gabi: Podcast-Vorlesung „Einführung Medienpädagogik/-didaktik“ im WiSe 2009/10, http://gabi-reinmann.de/wp-content/uploads/2009/09/Konzept-PodcastVL-09_10.pdf; Zugriff am 16.3.2012. [INT5] Reinmann, G.& Jocher-Wiltschka, C.: Kino fällt aus: Konzept und Erprobung einer Alternative zur Vorlesung. http://lernenunibw.de/sites/default/files/forschungsnotiz_2010_02.pdf; Zugriff am 30.4.2012. [INT6] LinguisticsMarburg: Class Description – Morphology and Syntax. www.youtube.com/watch?v=sJuM0rWlZSA; Zugriff am 4.6.2012. [INT7] PHArithmetik: Definition Ring. http://www.youtube.com/watch?v=cRTATYhP1hs; Zugriff am 4.6.2012.

2

Der „Flipped“ Classroom

Aaron Sams 1 Im folgenden Abschnitt beschreibt Aaron Sams, Physiklehrer an der Woodland Park High School und einer der führenden nordamerikanischen Vertreter des ICM zum Teil auf anekdotenhafte Art und Weise, wie er und sein Kollege Jonathan Bergmann auf die Methode des Inverted Classroom (im amerikanischen Schuljargon „Flipped Classroom“ genannt) als Reaktion auf die Bedürfnisse ihrer Schüler kamen.

2.1

Einführung

Derzeit ruft ein mediengestütztes Lehrkonzept weltweit ein enormes Interesse, aber auch eine Reihe von Kontroversen hervor. In den Vereinigten Staaten und Kanada ist dieses Konzept als „Flipped Classroom” bekannt geworden, in Deutschland, Norwegen und anderen europäischen Ländern wird der Terminus Inverted Classroom Model (ICM) verwendet. Unabhängig vom jeweiligen Begriff hat dies eine Diskussion unter Lehrenden, Bildungspolitikern und administrativen Kräften über die Verfahren der Inhaltsvermittlung und – erschließung (content delivery) sowie die Durchführung der Präsenzphase vom Kindergarten bis in die Universitäten in Gang gesetzt.

2.1.1

Das erste Jahr

Im Jahre 2006 kamen Jonathan Bergmann und Aaron Sams als Chemie- bzw. Physiklehrer an die Woodland Park High School in Colorado. Jonathan Bergmann konnte bereits auf 20 Jahre Lehrerfahrung in Denver (Colorado) zurückblicken, Aaron Sams verfügte über 6 Jahre Lehrerfahrung aus Los Angeles (Kalifornien). Beide fanden schnell heraus, dass ihre Lehrphilosophien ähnlich waren und zum Ziel hatten, das Potenzial ihrer Lerner optimal zu fördern. Dabei mussten sie feststellen, dass ihre Schüler viele Unterrichtseinheiten durch Teilnahme an anderen Aktivitäten (wie z.B. Sportwettkämpfen, Debattierwettbewerben oder außerschulische Aktivitäten) verpassten. Gleichzeitig machten sich Sams und Bergmann mit Software-Tools vertraut, die unter Einbeziehung von Audio das Aufnehmen von Computer-Bildschirmen ermöglichten. Mit einem solchen Tool begannen sie, ihre Unterrichtseinheiten live während der Präsenzphase aufzunehmen und den nicht anwesenden Schülern zur Verfügung zu stellen. So mussten sie _________________ 1

Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Handke. Die Bezeichnungen „Flipped Classroom“ und „Inverted Classroom“ wurden dabei einheitlich als Inverted Classroom verwendet.

2 Der „Flipped“ Classroom

14

den Stoff nicht mehr ständig für die fehlenden Schüler wiederholen. Stattdessen stellten sie die Videoaufzeichnungen ihren Schülern zur Verfügung, verbunden mit der Aufforderung, Fragen daraus abzuleiten, die später im Unterricht erneut aufgegriffen werden konnten. Aus einem notwendigen „Übel” entstand so ein wertvolles zusätzliches Werkzeug für die Lehre. Die Lehrvideos wurden nicht nur von den abwesenden Schülern genutzt sondern auch von denjenigen, die während des Präsenzunterrichts Verständnisprobleme hatten. Da die Videos im Internet bereitgestellt wurden, kamen schon bald Nutzer aus aller Welt hinzu, und die beiden Hauptakteure, Sams und Bergmann, erhielten zahlreiche Rückmeldungen über die positiven Lerneffekte ihrer Videos. Bergmann und Sams war klar, dass sie hier etwas angestoßen hatten, das einen extrem positiven Effekt für den Lehr- und Lernprozess haben könnte.

2.1.2

Das zweite Jahr

Die zentrale Frage für Bergmann und Sams war nun: „Wie kann die Präsenzphase, d.h. der Unterricht in der Schule optimal genutzt werden?“ Ihnen war aufgefallen, dass eine Reihe von Schülern im Präsenzunterricht Probleme und Verständnisschwierigkeiten hatten. Sie schrieben zwar alles mit, was über die Tafeln, die Interaktiven Whiteboards oder über Slide-Shows bereitgestellt wurde, vielfach waren sie jedoch inhaltlich überfordert. Nachdem sie umfangreiche Mitschriften angefertigt hatten, wurden sie allein gelassen, um die Information zu ordnen bzw. neue Erkenntnisse aus den Informationen abzuleiten – und das ohne Unterstützung. An diesem Punkt entschieden Bergmann und Sams, dass man als Lehrer eine Möglichkeit erhalten sollte, um auch in dieser zweiten Phase helfend eingreifen zu können. Sie schlussfolgerten, dass die Inhaltsvermittlung während der Präsenzphase nicht die optimale Lösung sei, sondern stattdessen die Zeit im Klassenraum zur Unterstützung des Übungs- und Vertiefungsprozesses verwendet werden sollte. Als Konsequenz entschieden sie, sämtliche Inhalte, die frontal vermittelt werden, im Schuljahr 2007/2008 als Videos aufzuzeichnen. Die Videos waren in Echtzeit aufgenommene sog. „Screen Captures” (Aufzeichnungen der Bildschirminhalte des Computers) mit unterstützenden Audio-Kommentaren. Die Videos traten nun an die Stelle der traditionellen Hausaufgaben und mussten vor dem jeweiligen Unterricht angesehen werden. Dadurch verfügten die Schüler nun bereits vor der jeweiligen Präsenzphase über das gewünschte Vorwissen, sodass die gemeinsame Unterrichtszeit nun nicht mehr zur Inhaltsvermittlung verwendet werden musste, sondern zum Üben bzw. zum Anwenden dessen, was im Video bereits vermittelt wurde. Der Lehrer als Experte konnte nun im Unterricht seinen Schülern bei Problemen helfend zur Hand gehen.

2.1.3

Das dritte Jahr

Nach einem Schuljahr hatten Bergmann und Sams beobachtet, dass ihre Schüler weniger Verständnisprobleme hatten und dass eine weitere Gruppe von Schülern mit schlechten Mathematiknoten dennoch besser abschnitt als die Schülerinnen und Schüler des Vorjahres. Dieser frühe, eher noch experimentelle Ansatz wurde zum Vorläufer dessen, was heute als „Flipped“ oder Inverted Classroom bezeichnet wird. Bergmann und Sams benutzten (wie

2.1 Einführung

15

Handke oder Spannagel, siehe Kapitel IV und VI in diesem Buch) diese Begriff damals allerdings noch nicht. 2 An diesem Punkt ihrer Reise durch eine neue Welt des Lehrens und Lernens wurde Bergmann und Sams klar, dass sie nun mit einer kompletten Bibliothek von video-gestützten Lehrmaterialien ihren Schülern eine neue Möglichkeit der Inhaltserschließung anbieten können, in der sie flexibel nach eigenem Lerntempo arbeiten können. Ihr Lernplan war nun selbst bestimmt und wurde nicht mehr vom Lehrer diktiert. Sie konnten ab sofort ihr eigenes Lerntempo anwenden. Um dieses neue, zeitlich flexible System gewinnbringend nutzbar zu machen, implementierten Bergmann und Sams ein Lernarrangement, das auf den Arbeiten Blooms aus den 1970er und 1980er Jahren basiert (Bloom, 1985). Anstatt alle Schüler das gleiche Video zu Hause ansehen zu lassen und dabei das in der Präsenzphase Gelernte direkt anzuwenden, war nun die Maßgabe, sich nach flexibler Zeiteinteilung zunächst ein instruktionelles Video anzusehen und danach weitere Aufgaben zu erledigen. Das Ansehen der Videos war nun nicht mehr auf „zu Hause” beschränkt, sondern es konnte eine zeitliche und örtliche Flexibilität erreicht werden. Dieses Modell erlaubte es den Schülern, nach eigenem Lerntempo zu lernen und es löste die unterschiedlichen technologischen Zugangsvoraussetzungen der einzelnen Haushalte: Da die Videos nun nicht mehr nur zu Hause angesehen werden mussten, konnten auch andere Internetzugänge verwendet werden. Auch das Assessment konnte neu ausgerichtet werden. Anstelle von Prüfungen, die einmal durchgeführt wurden und mit einer permanenten Note versehen wurden, mussten die Schüler nun zunächst ein gewisses Lernniveau im Curriculum erreichen, auf der Basis dessen sie dann Prüfungen, die auch wiederholt werden konnten, ablegten. Dadurch konnte vermieden werden, dass Schüler einen Kurs ohne tieferes Verständnis einfach absolvieren konnten. Sie bekamen nun verschiedene Möglichkeiten, ihr Können zu demonstrieren, auch wenn sie mit der vorangegangenen Benotung nicht glücklich waren. Diese Vorgehensweise half darüber hinaus, die Ängste vor Prüfungen mit all ihren Auswirkungen abzubauen. (Bergmann/Sams, 2012).

2.1.4

Das vierte Jahr

Als Lehrer naturwissenschaftlicher Fächer waren Bergmann und Sams daran interessiert, solche „Flipped” oder „Inverted” Unterrichtsszenarien in ihr Lehrprogramm einzubauen. Sie kontaktierten Ramsey Musallam, der mit derartigen „umgedrehten” Lehr/Lernmethoden im Kontext entdeckender Lernszenarien forschte. Durch Musallams Arbeiten fanden sie heraus, dass er in seinem „Forschen-Flip-Anwenden Zyklus” die dazugehörigen Videomaterialien dazu verwendete, um Missverständnisse und Verständnislücken aufzulösen, nachdem die Studierenden auf der Basis der vermittelten wissenschaftlichen Konzepte ihre eigenen Verständnismodelle entwickelt hatten [INT4]. Dieser Ansatz steht dem „Front-Loading” Modell von Bergmann und Sams in ihren Flipped und FlippedMastery Szenarien entgegen. Anstatt eine Unterrichtseinheit mit einer direkten Unterweisung zu beginnen, starten sie mit einer Frage oder einem zu untersuchenden Problem. _________________ 2

Zur Genese des Terminus „Flipped“ bzw. „Inverted“ Classroom siehe Schäfer, Kapitel I in diesem Buch.

2 Der „Flipped“ Classroom

16

Musallams Arbeit zeigte ihnen, dass – abgesehen davon, dass die umgedrehte Methode sehr wertvoll sein kann – das Modell eine große Bandbreite, sogar unter Lehrkräften mit gleichen Fächern, aufweisen kann.

2.1.5

Das fünfte Jahr

Nachdem sie das Modell ein weiteres Jahr genutzt hatten, wurden Bergmann und Sams auf das „Universal Design for Learning (UDL)” [INT1] aufmerksam. Dieses Modell geht von drei Prämissen aus: (1) Vielfalt der Präsentationsmittel; (2) Vielfalt der Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten; (3) Vielfalt des Engagements. Die Anwendung dieser Prinzipien, insbesondere der Prinzipien (1) und (2), führte zu einer Reorganisation ihres Lehrszenarios. Es wurde klar, dass nicht alle Schüler auf Videobasis lernen würden, genauso, wie nicht alle gleich gut bei der Nutzung von Lehrbüchern sind. Um auch wirklich alle Schüler im Lernprozess „mitnehmen” zu können, wurden die Lehrmaterialien optional und nicht länger verpflichtend. Gleiches galt ab sofort für die verschiedenen Prüfungsformen. Das bedeutete nicht, dass es keine Prüfungen mehr gab, sondern vielmehr, dass Bergmann und Sams es ihren Schülern freistellten, auf welche Art sie ihr Wissen demonstrieren wollten, z.B. durch Projektarbeit, durch die Entwicklung von Videospielen, Präsentationen, Poster oder auch das Anlegen und Administrieren von Weblogs. Den Schülern wurde somit die Gelegenheit gegeben, nach ihren eigenen Interessen und Stärken ein eigenes Produkt zu erstellen, mit welchem sie ihre spezifischen Stärken ausspielen konnten und wurden nicht mehr über eine einheitliche Prüfungsform in ihrem Leistungsstand bewertet. Prozentual drückte sich das nach einem Jahr so aus: 75% aller Schüler wählten die traditionelle Prüfungsform, 25% eine der neuen Alternativen.

2.1.6

Das sechste Jahr

Nach der Erfahrung als reine Wissensvermittler, die Bergmann und Sams ja über ihre Videos immer noch waren, lernten sie den Wert des Schüler-zentrierten Lehrens und Lernens sowie des von ihren Schülern entwickelten Inhalts schätzen. Es wurde ihnen klar, dass ihre Videomaterialien besonders geeignet waren, in Anlehnung an Blooms Taxonomie des Lernens (1985) die unteren Ebenen dieser Taxonomie aus dem Präsenzunterricht herauszuhalten und dass mehr Zeit zur Verfügung stand, die oberen Ebenen der Taxonomie zu bedienen. Angeregt durch einen Blog zum Thema „The Future of Schools” [INT2] fragten sich Bergmann und Sams, ob Schüler nicht besser einen umgekehrten Weg nehmen sollten: statt die Bloomsche Taxonomie Bottom-Up zu durchlaufen, könnten sie doch einen Top-DownWeg gehen (siehe Abb. 2.1).

2.2 Die Zukunft des Inverted Classroom

17

Abb. 2.1: Die Bloomsche Taxonomie - Bottom-Up und Top-Down

Diese Sichtweise führte zur Anwendung des „Project Based Learning” Ansatzes (PBL) im Kontext des Inverted Classroom Models. Zwar hatten Bergmann und Sams bereits früher Projektarbeiten in ihrer Lehre genutzt, allerdings als Abschlussprojekt nach der Lernphase (gemäß der Bottom-Up Methode im Bloomschen Modell). Nun aber entschieden sie sich für den umgekehrten Weg und nutzten die Projektarbeit als Basis für den Lernprozess, also Top-Down. Die Projekte wurden allerdings nicht allen Schülern zugewiesen, sondern sie waren eine von mehreren Optionen. Eines dieser Projekte, durchgeführt von Aaron Sams, befasste sich mit einem magensäurebindenden Medikament und verglich die Resultate zweier Gruppen, der von Sams Klasse in den USA und einer Parallelklasse in Kanada. Beide Gruppen führten quantitative Studien durch und verglichen ihre Ergebnisse. Sie lernten dadurch neue Konzepte zum Thema Lösungen, Säuren und Basen kennen und darüber die mathematische Methodik für derartige Analyseprozesse. In der Vergangenheit hätte Sams die entsprechenden Konzepte vorher eingeführt, nun aber, vor dem Hintergrund des Inverted Classroom Models und des PBL-Ansatzes stellte er das Problem in den Vordergrund, wies seinen Schülern bei Bedarf ein entsprechendes Video zu und unterstützte sie – wenn nötig – bei der Problemlösung. In einer Evaluation nach Projektende wurde klar, dass mit dieser PBL-Analyse-Methode alle Lernziele vollständig erreicht wurden und diese Methode der traditionellen Inhaltsvermittlung zumindest ebenbürtig ist.

2.2

Die Zukunft des Inverted Classroom

Die sechs verschiedenen Ansätze, die Bergmann und Sams über die Jahre ausprobiert hatten, zeigen, dass der Inverted Classroom Ansatz so verschieden sein kann wie die Lehrkräfte, die ihn nutzen. Die Methode der „Umkehrung” ist keine starr reproduzierbare Methode, sondern ein engagierter Ansatz, der immer wieder sorgfältig in angemessener Weise auf die jeweilige Lernergruppe ausgerichtet werden sollte. Daher sollten alle Interessenten an die-

2 Der „Flipped“ Classroom

18

ser Methode die folgenden Aspekte genau überprüfen bzw. die entsprechenden Leitsätze beherzigen: 3 1. Wie fange ich an? (How do I get started?) 2. Die Pädagogik bestimmt die Technologie und nicht umgekehrt. (Pedagogy must drive technology; technology must not drive pedagogy.) 3. An welcher Stelle des Lernzyklus benötigen mich meine Lerner am allermeisten von Angesicht zu Angesicht? (Where in the learning cycle do my students most need me face-to-face?) 4. Welche Inhalte kann ich technologisch realisieren und aus der Präsenzphase entfernen, um wertvolle Präsenzanteile zu gewinnen? (What can I remove from class by using technology to increase the value of the face-to-face time)?

2.3

Grundsätzliches

How do I get started? Zunächst ist eine grundsätzliche Begriffsklärung bei der Implementierung des Inverted Classroom von Nöten. Der Terminus „Inverted“ Classroom” impliziert, dass alle Vorlesungsanteile oder Lehrer-zentrierten Instruktionen als extern bereitstehende Videoclips realisiert werden müssen. Begriffe wie „Inverted Lessons”, „Inverted Learning” oder „Inverted Thinking” treffen den Kern eigentlich besser. Jede Lehrkraft kann bzw. sollte für jede Unterrichtseinheit sorgfältig entscheiden, ob sich die zeitliche Verschiebung des Inhaltes vor die Präsenzphase überhaupt lohnt. Die Auswahl von Videos für bestimmte Inhalte und nicht die pauschale Bereitstellung von Videos als Selbstzweck scheint in jedem Fall die angemessenste Methode zu sein. Pedagogy must drive technology; technology must not drive pedagogy. Technologische Lösungen dürfen nicht als Entschuldigung für schlechten Unterricht herhalten. Lehrkräfte ohne Unterrichtserfahrung sollten sich keinesfalls genötigt fühlen, ihren Unterricht „umzudrehen” und mit einem Video zu beginnen, das sie ihrer Präsenzinhalte beraubt. Es ist in jedem Fall darauf zu achten, dass ein pädagogisch-didaktischer Prozess vorausgeht, um unangemessen Technikeinsatz zu vermeiden. Der Inverted Classroom kann gerade unerfahrene Lehrkräfte zu Beginn schnell überfordern. Eine einfache Methode ist, die eigene Lehre z.B. ein Jahr lang live aufzuzeichnen, sodass am Jahresende ein Pool von Lehrvideos vorliegt (vgl. Spannagel, Abschnitt 6.3 in diesem Band). Sobald der Pool groß genug ist, kann geprüft werden, ob eine Lerneinheit oder ganze thematische Einheiten umgedreht werden oder nicht. Nach einigen Jahren dürfte der Pool eine hinreichende Größe besitzen, um flexibel zu entscheiden, ob die Videos zur Inhaltsvermittlung im Inverted Classroom Model eingesetzt werden, oder ob andere Szenarien, z.B. als Ergänzung zum Präsenzunterricht, in Frage kommen. _________________ 3

Um die Aussagekraft der Leitsätze von Sams beizubehalten, wurden die englischen Originale beibehalten (die Herausgeber).

2.4 Herausforderungen

19

An dieser Stelle sei angemerkt, dass der Inverted Classroom nicht nur auf Videobasis realisiert werden kann (siehe Handke, Abschnitt 4.2.1, in diesem Band). Zwar werden Videos als effektive Methode für die Inhaltsvermittlung angesehen, doch es gibt auch andere Methoden, z.B. Multimedia. Allerdings hat sich gezeigt, dass die Videonutzung den Fokus optimal vom Lehrer auf den Schüler bzw. die Inhalte verlagert. Where in the learning cycle do my students most need me face-to-face? Anstatt zu fragen, „Wo kann ich Videos in meiner Lehre einsetzen?” erscheint es wichtiger zu fragen: „An welcher Stelle benötigen mich meine Schüler am allermeisten?” Viele Lehrkräfte konzentrieren sich auf die erste Frage und setzen damit den Fokus auf einen technik-zentrierten Klassenraum. Die Beantwortung der zweiten, eher pädagogischdidaktischen Frage ist Lehrer- und inhaltsspezifisch und beeinflusst die Organisation des Inverted Classroom erheblich. Inhalte, die bezogen auf die Bloomsche Taxonomie (vgl. Abb. 2.1) eher am unteren Ende angesiedelt sind, können sicherlich besser im Rahmen eines video-basierten ICM umgesetzt werden, als Inhalte, die eher diskursiv erschlossen werden und weniger Grundlagenwissen beinhalten. Mit anderen Worten: Videos, die sich auf die unteren Bereiche der Bloomschen Taxonomie beziehen, sind zumeist zielführend. Videos, durch die die oberen Bereiche der Taxonomie tangiert werden, sind eher kontraproduktiv und berauben die Lernenden der Analysefähigkeit und Kreativität. What can I remove from class by using technology to increase the value of the face-to-face time? Nachdem klar ist, in welchen Phasen „face-to-face interaction” unverzichtbar ist, können die korrespondierenden Inhalte nun aus den Präsenzphasen ausgelagert werden. Entgegen der Meinung, dass sich hauptsächlich Grundlagenwissen zur „virtuellen” Vermittlung eignet, gibt es, wie an vielen Stellen dieses Tagungsbandes erwähnt, auch andere Inhalte, die aus dem Präsenzgeschehen herausgehalten werden können. So lassen sich z.B. – wie bei William Blake – grundlegende Informationen zu zukünftigen Lerneinheiten auslagern [INT3: „The American Civil War]. Andere Möglichkeiten sind die Formulierung von Fragen per Video [INT6], die Voraussetzungen für zukünftige Lerneinheiten, oder wie Handke (2012) es in diesem Band zeigt, die Bereitstellung allgemeiner administrativer Informationen zu Lehrveranstaltungen (siehe Abschnitt 4.2.4). Eines sollte klar sein: Die Pädagogik, die dem Inverted Classroom zu Grunde liegt, ist nicht neu. Seit Jahrhunderten wird von Schülern oder Studierenden verlangt, dass sie vor ihren Präsenzphasen Texte vorbereiten. Das ICM bringt diesen traditionellen Ansatz lediglich auf eine neue Stufe, indem es die audio-visuelle Option hinzufügt und dadurch die gemeinsame Präsenzzeit als Schüler-zentrierte Lernumgebung neu definiert.

2.4

Herausforderungen

Die wohl größte Herausforderung bei der Umsetzung des Inverted Classroom ist die Aufgabe der Videoerzeugung. Mittlerweile stehen dazu aber zahlreiche leicht zu bedienende digitale Werkzeuge zur Verfügung, sodass der technische Entwicklungsprozess überschaubar geworden ist. Mit einer Palette von Werkzeugen, von einfachen web-basierten Tools bis

20

2 Der „Flipped“ Classroom

hin zu Premiumprodukten für die Videoproduktion stehen heute nahezu unbegrenzte Mittel für die Erzeugung und Distribution der benötigten Lehrvideos bereit. Zusätzlich gibt es spezielle Plattformen für die Bereitstellung von Videos, die Definition von Zugangsbeschränkungen und den Upload per Mausklick. Dennoch gibt es immer noch Vorbehalte, sodass manche Lehrkräfte in Erwägung ziehen, die Videomaterialien von Kollegen zu nutzen. Allerdings scheint es „globaler” Konsens zu sein, dass es für Lehrer von Vorteil ist, ihre eigenen, maßgeschneiderten Lehrvideos zu erzeugen und diese von ihren Schülern bzw. Studierenden nutzen zu lassen. Eine weitere Herausforderung bezieht sich auf den Zugang zu den Videomaterialien. Trotz der heute zur Verfügung stehenden Zugangsmöglichkeiten, haben viele Schüler und Studierende immer noch keinen zuverlässigen Zugang zum Internet. Es müssen daher Lösungen gefunden werden, die allen Schülern/Studierenden die gleichen Voraussetzungen für den Lernprozess ermöglichen. Unabhängig von regionalen Gegebenheiten ist eine Möglichkeit, die Videomaterialien auch ohne Internetzugang zu distribuieren. Lernenden, die zwar über einen Computer aber keinen Internetzugang verfügen, können die Videos über DVDs, CDs, USB-Sticks etc. bereitgestellt werden, die je nach Bedarf auf einem Computer oder auch über den heimischen Fernseher abgespielt werden können. In den wenigen Fällen, in denen auch diese Lösung nicht greift, können tragbare Geräte von der jeweiligen Institution bereitgestellt und ausgeliehen werden. Zwar wäre eine einheitliche Lösung, z.B. die Nutzung aller Videos ausschließlich über das Internet, vorzuziehen, die Notwendigkeit der Schaffung von gleichen Ausgangsbedingungen für alle Lernenden allerdings ist in jedem Fall zu beachten. Die Nutzung von Videos als neue „Hausaufgabe” stellt ein weiteres Problem für den Inverted Classroom dar. Grundsätzlich erhebt sich die Frage: Sollte man überhaupt Hausaufgaben stellen? So argumentieren Nielsen und Socol, dass Hausaufgaben aufgrund der ungleichen Bedingungen in den verschiedenen Haushalten generell problematisch sind (Nielsen, 2011; Socol, 2012). Nicht alle Schüler oder Studierenden haben den Luxus, über angemessene häusliche Bedingungen zu verfügen. Manche müssen während der Arbeitszeit ihrer Eltern auf ihre Geschwister aufpassen, andere sind völlig auf sich allein gestellt, wiederum andere fühlen sich in der Schule wohler als zu Hause. Mit anderen Worten: die häusliche Umgebung schafft ungleiche Lern- und Übungsvoraussetzungen und ist als geeignete Umgebung für Hausaufgaben durchaus problematisch. Doch auch wenn das Thema „Hausarbeiten” kontrovers diskutiert wird, sollten Lehrkräfte in deren Curriculum Hausaufgaben kaum oder nicht vorkommen, nicht von den Möglichkeiten des Inverted Classroom ausgeschlossen werden. Sollten Lehrkräfte, in deren Institution Hausaufgaben keine Rolle spielen, am Inverted Classroom interessiert sein, lässt es sich durchaus bewerkstelligen, dass den Lernenden innerhalb der Präsenzzeit Zugang zu den Lehrvideos ermöglicht wird, sodass genügend Zeit zum zusätzlichen gemeinsamen Üben bleibt. Das ist zwar schwierig, aber durchaus machbar. Aus dem Blickwinkel der Schule sollten dann der zeitliche Rahmen und die technische Infrastruktur geschaffen werden, sodass es allen Schülern möglich wird, während des jeweiligen Tages den notwendigen Freiraum und die Voraussetzungen zur Bearbeitung der digitalen Materialien zu erhalten. Das „Hausaufgabenproblem” birgt noch eine weitere Gefahr: „Was passiert, wenn die Lernenden sich die Videos gar nicht anschauen?” Hier lässt sich sofort die Gegenfrage stellen:

2.4 Herausforderungen

21

„Wie kann der Lehrer seine Schüler dazu motivieren, ihre „Hausaufgaben” zu erledigen?” Die meisten Lehrer nutzen dazu Mechanismen, die sicher stellen, dass die Aufgaben auch erledigt werden: Sie kontaktieren die Eltern von „Problemschülern”, sie geben Hilfestellungen und richten Zusatzoptionen ein. Möglicherweise schlussfolgern sie auch, dass die Nutzung von Videos für manche Lernende gar nicht die beste Option ist, sondern lediglich eine Möglichkeit unter mehreren zur Erreichung des Lernzieles. In solchen Fällen mögen sie sich einfach an das erinnern, was sie ohnehin jahrelang für gute Lehrpraxis gehalten haben.

2.4.1

Der Inverted Classroom ist nicht …

Auch wenn das ICM viele Bedürfnisse der Lehrenden befriedigt, birgt es keine Magie in sich. Auch mit diesem Modell werden Lernunwillige nicht notwendigerweise zu Superschülern und Prüfungsergebnisse werden nicht auf wundersame Weise verbessert (auch wenn manche Studien, die aber noch abgeschlossen werden müssen, hier durchaus Einiges erwarten lassen). Und auch der Beruf des Lehrers wird durch das Modell nicht einfacher, da nicht zu erwarten ist, dass ein einziges Werkzeug alle traditionellen Probleme auf einen Schlag beheben könnte. Erst durch intensives Training und durch exzellent ausgebildete Lehrkräfte können die benötigten Transformationen im Bildungsbereich erreicht werden. Die Nutzung moderner Technologien zur „Umkehrung“ der Lehre allein wird niemals einen schlechten Lehrer zu einem guten Lehrer machen, aber sie kann einen guten Lehrer weiter verbessern. Durch sorgfältige und gut durchdachte didaktische Planung können moderne Technologien dazu beitragen, die Bedürfnisse der Lernenden zu befriedigen. Die bloße Nutzung von Technologie kann das nicht. Ein „umgedrehtes“ Lehr-/Lernszenario ist nicht auf Videos beschränkt. 4 Auch wenn den Videos eine Schlüsselrolle im Inverted Classroom Model zufällt, bilden sie nicht die alleinige Grundlage. Erst durch Lernszenarien weg vom Lehrer hin zum Lernenden kann das Modell zum Erfolg geführt werden. Die Videos sind zwar mächtige Werkzeuge zur Inhaltsvermittlung, aber nur ein Teil des Konzepts. Darüber hinaus ist eine „umgedrehte“ Lehre kein Ersatz für schlechten Unterricht. Es mag die Versuchung bestehen, die Lehrvideos von Kollegen oder die Unterrichtsaktivitäten, die von anderen entwickelt wurden, einzusetzen und all das ohne weitere Unterstützung an die eigenen Lernenden weiterzugeben. Traurigerweise gibt es Lehrkräfte, die genau das tun, sich auf den Meriten anderer ausruhen und ihren Lehrerjob eher ruhig angehen, anstatt intensiv auf ihre Schüler einzugehen. Dieser Ansatz ist ein fataler Missbrauch und eine Fehlinterpretation des Inverted Classroom, dessen Hauptziel es ist, die Effektivität der gemeinsamen Präsenzeit zu erhöhen.

2.4.2

Der Inverted Classroom ist …

Der Inverted Classroom ist ein hervorragendes Sprungbrett für Lehrkräfte, die von der frontalen Lehrer-zentrierten hin zu einer Schüler-zentrierten Methode der Inhaltsvermitt_________________ 4

Zusatz der Herausgeber: Während der Fachtagung prägte Sams den für viele so wichtigen Kernsatz: „The ICM is not just videos!“, eine klarer Hinweis für die Integration der Lehrvideos in ein didaktisches Gesamtkonzept.

2 Der „Flipped“ Classroom

22

lung gelangen wollen. Sie haben weiterhin die Kontrolle über die zu vermittelnden Inhalte, geben aber ihren Lernern die Möglichkeit, über das „Wo“ and „Wann“ selbst zu entscheiden. Der Lehrplan bleibt in den Händen des Lehrers, bietet den Schülern aber ein Höchstmaß an Flexibilität. Der Inverted Classroom ist eine unter vielen Methoden im Werkzeugkasten des Ausbilders. Auch wenn sich Einige dies wünschen, ist der Inverted Classroom keine eigene Pädagogik, sondern nur ein Werkzeug, das zur rechten Zeit im Lernprozess zum Einsatz kommt. Es ist keine Methodologie, die durchgängig in einem kompletten Kurs angewendet werden sollte, sondern eine Ressource unter mehreren, die selektiv zur Verbesserung der Inhaltsvermittlung dienen kann.

2.4.3

Abschlussbemerkung

Bildung ist für Alle da. Aber die Art und Weise, mit der Inhalte vermittelt und erschlossen werden, ist nicht für Alle gleich. Lehrer sind unterschiedlich, Schüler sind unterschiedlich. Je mehr Optionen zum Lehren und Lernen wir ihnen geben, desto besser. Der Inverted Classroom erlaubt genau das: Er gibt den Lehrern die Flexibilität, den Lernprozess ihrer Schüler/Studierenden effektiv zu unterstützen und bietet den Lernenden ein Höchstmaß an Flexibilität zum eigenen Lernen. Diese Flexibilität wird durch die Herausnahme der Inhaltsvermittlung aus dem Präsenzgeschehen erreicht. Als Ergebnis kann nun orts- und zeitunabhängig gelernt werden und die Präsenzzeit von einer Lehrer-zentrierten Vermittlungsphase hin zu einer Lerner-zentrierten Übungsphase transformiert werden.

2.5

Quellen

Bergmann, Jonathan/Sams, Aaron. 2012. Flip your classroom: reach every student in every class every day. Washington, DC: ISTE. Bloom, Benjamin. 1985. Developing Talent in Young People. New York, NY: Ballantine Books. [INT1] CAST. http://www.cast.org/; Zugriff am 24.4.2012 [INT2] Dangerously Irrelevant. Do students need to learn lower-level factual and procedural knowledge before they can do higher-order thinking? http://dangerouslyirrelevant.org/2012/02/do-students-need-to-learn-lower-levelfactual-and-procedural-knowledge-before-they-can-do-higher-orderthinking.html; Zugriff am 24.4.2012 [INT3] Gudenrath, April. William Blake. http://www.screencast.com/t/WPpnLEsn1n1; Zugriff am 24.4.2012 [INT4] Musallam, Ramsey. Flip Teaching. http://flipteaching.com; Zugriff am 24.4.2012. [INT5] Nielsen, L. Five reasons I'm not flipping of the flipped classroom. http://theinnovativeeducator.blogspot.com/2011/10/five-reasons-im-not-flippingover.html; Zugriff am 24.4.2012. [INT6] Rimes, Ben. Come Join the Video Story Problems Channel. http://www.techsavvyed.net/archives/1931; Zugriff am 24.4.2012.

2.5 Quellen [INT7] Socol, I. D. Changing gears 2012: rejecting the "flip". http://speedchange.blogspot.com/2012/01/changing-gears-2012-rejectingflip.html; Zugriff am 24.4.2012.

23

3

Videoerstellung für und Erfahrungen mit dem ICM

Jörn Loviscach Den mit dem Inverted Classroom Model (ICM) verbundenen didaktischen Hoffnungen steht eine große Bandbreite von didaktischen und technischen Fragen gegenüber. Dieser Beitrag stellt vor, welche praktischen Antworten auf diese Fragen der Autor für seine Veranstaltungen in Mathematik und Informatik für Ingenieur-Studentinnen und -Studenten an einer Fachhochschule gefunden hat. Er beschreibt die dazu verwendete minimale und unglamouröse Technik, geht auf zusätzlich zur Vereinfachung entwickelte Software ein, erläutert den didaktischen Ansatz der Videos wie auch des gesamten Unterrichts und berichtet über die bei der Umsetzung bezüglich der Technik wie auch der Didaktik gemachten Erfahrungen und gelernten Lektionen.

3.1

Einführung

Seit dem Sommersemester 2009 zeichnet der Autor seine Vorlesungen in wechselnden Formen als Screencast auf, also als Videos, die den Bildschirminhalt des Präsentationsrechners zeigen und parallel dazu in der Tonspur die Stimme enthalten. Diese Videos stehen für jedermann gratis auf YouTube bereit (Stand Mitte April 2012: 9.800 Abonnenten, 5,2 Mio. Abrufe), sind aber auch mit einer Suchfunktion sowie Skripten und Übungen auf der Website des Autors verbunden (Loviscach, 2011). Im Unterschied zu den Vorstellungen von teuren, auf Hochglanz polierten Multimediaproduktionen, wie sie vor zehn Jahren die Vorstellungen prägten, sind die Videos bewusst schlicht und schnell produziert – auch aus Mangel an Zeit und Personal. Andererseits führt gerade diese Art der Do-it-yourself-Produktion (vgl. Gauntlett, 2011) zu einer Konzentration auf den Inhalt und macht das Ergebnis anfassbar und authentisch statt steril und maschinell. Auf diesem einfachen Niveau lässt sich auch die vielgerühmte „Nachhaltigkeit“ sichern, die bei vielen der großen E-Learning-Projekte der Jahre 2000 bis 2005 – an einem davon war auch der Autor beteiligt – auf der Strecke geblieben ist (Haug/Wedekind, 2009). Im jüngsten Durchgang, dem Wintersemester 2011/2012, der Mathematik- und InformatikVeranstaltungen hat der Autor nun seine Videos und Unterlagen der vergangenen Jahre benutzt, um die Lehre mit dem Inverted Classroom Model durchzuführen.

3 Videoerstellung für und Erfahrungen mit dem ICM

26

3.2

Umfeld und Rahmenbedingungen

Die Grundlagenveranstaltungen des Autors in Mathematik (1. und 2. Semester, zehn ECTSCredits pro Semester) und in Informatik (3. und 4. Semester, fünf ECTS-Credits pro Semester) im Bachelor-Studiengang „Regenerative Energien“ haben fachhochschultypische Randbedingungen. Der Stundenplan weist getreu den Modulbeschreibungen „Vorlesungen“ für die gesamte Semestergruppe von 60 bis 80 Studierenden aus, daneben „Seminare“ für die zwei Halbgruppen und „Praktika“ für Gruppen von etwa 15 Studierenden. Im „Praktikum“ sollen verpflichtende „Prüfungsvorleistungen“ erworben werden; die abschließende Prüfung besteht in einer Klausur. Dieses Arrangement gibt den zeitlichen und den strukturellen Rahmen für didaktische Experimente vor. Im Fachbereich zählt die Mathematik mit Nichtbestehensquoten von einem Drittel oder sogar der Hälfte zu den Problemfächern. Das führt auch dazu, dass einige Studierende höherer Semester wiederholt teilnehmen. Die hierdurch und durch Berufstätigkeit neben dem Studium unvermeidlichen Terminkollisionen waren der ursprüngliche Auslöser dafür, dass der Autor Videoaufzeichungen bereitstellt. Die Lehrveranstaltungen werden weitgehend vom Autor allein gehalten. Ein Lehrbeauftragter hält die Praktika für die Mathematik. Ein Labormitarbeiter wirkt bei den am Rechner durchgeführten Praktika zur Informatik mit. Studentische Hilfskräfte geben Tutorien von 90 Minuten pro Woche. In den studiengangsweiten Umfragen geben die Studierenden einen Zeitaufwand für die Vor- und Nachbereitung an, der deutlich unter dem aufgrund der ECTS-Credits vorgesehenen liegt. Diese stimmt mit den an anderen Hochschulen detaillierter durchgeführten Beobachtungen überein, vgl. Schulmeister/Metzger (2011).

3.3

Aufzeichnung und Aufbereitung

Für die schlanke Produktion von Lehrvideos stehen diverse Wege offen. Dieser Abschnitt diskutiert, für welche Hardware und Software sich der Autor entschieden hat. Unabhängig von der Technik hat es sich herausgestellt, dass es am effizientesten ist, Videos live in einer regulären Lehrveranstaltung aufzunehmen. Das spart Zeit gegenüber einer Aufnahme am Schreibtisch oder im Studio – nicht so sehr, weil man die Zeit der Lehrveranstaltung damit doppelt nutzt, sondern vielmehr, weil die Live-Situation automatisch mehr Konzentration erzwingt, denn bei Versprechern usw. kann man nicht die Aufnahme zeitraubend neu starten. Das Verzahnen der Aufnahme mit Aufgaben für das Publikum erlaubt außerdem, den Stoff im Fluge didaktisch anzupassen.

3.3.1

Hardware

Schien Anfang 2000 das Mitschneiden von Lehrveranstaltungen noch ein Grund dafür, „Multimedia-Hörsäle“ mit fest installierter Technik auszustatten, so kommt man inzwischen mit einem fliegenden Aufbau aus, der sich in wenigen Minuten in Betrieb nehmen lässt und kein Hilfspersonal benötigt.

3.3 Aufzeichnung und Aufbereitung 3.3.1.1

27

Video

Mitschnitte universitärer Mathematikvorlesungen sieht man im Internet meist als abgefilmte grüne Kreidetafeln oder Whiteboards im Hörsaal, mit der oder dem Lehrenden davor in Aktion. Diese Art von Videos verlangt praktisch zwangsläufig eine personelle Unterstützung in Form einer Kamerafrau oder eines Kameramanns. Außerdem lässt sich das Tafelbild selbst bei optimaler Beleuchtung nur mit Aufwand scharf und kontrastreich abfilmen. Der Autor verwendet deshalb gar keine Tafel mehr, sondern benutzt einen klassischen Windows-Tablet-PC, dessen Bildschirminhalt per Beamer möglichst groß und hell präsentiert wird. Daraus resultiert ein klares Bild ohne Kreidespuren vom Tafelwischen. Im Verhältnis zu dieser Lösung sind die gängigen elektronischen Wandtafeln teuer und nicht transportabel. Für die angestrebte Veranstaltungsgröße von 50 und mehr Studierenden sind ihre Fläche und damit die Schrift eher klein; außerdem steht der oder die Lehrende oft im Bild. Eine Alternative zum Windows-Tablet-PC ist, ein einfaches Grafiktablett am Notebook zu betreiben. Die räumliche Trennung von der Stelle, an der man auf dem Tablett schreibt, von der Stelle, an der das Geschriebene auf dem Bildschirm erscheint, ist allerdings gewöhnungsbedürftig. Teuer und schwer sind Grafiktabletts mit eingebautem Bildschirm. Sie sind allerdings ideal für Live-Computersimulationen, bei denen man sie an einen Rechner mit kräftiger Rechenleistung anschließt. Windows-Tablet-PCs sind dagegen meist nur mit der allernötigsten Rechenleistung ausgestattet. Im Verhältnis zu einem Notebook oder einem Windows-Tablet-PC sind die aktuellen Tablet-Computer (Apple iPad, Android-Tablets) extrem portabel. Bis auf wenige Ausnahmen sind sie allerdings nur für die Bedienung per Finger ausgelegt, nicht für das Schreiben mit einem Stift. Die dafür behelfsmäßig angebotenen Stifte mit Gummikappen oder transparenten Scheibchen als „Spitze“ sind mindestens gewöhnungsbedürftig. Nichtsdestotrotz gibt es Tafel-Apps für den Unterricht, siehe zum Beispiel doceri.com. Die aktuellen TabletComputer können außerdem keine PC-Standardanwendungen ausführen. Im Prinzip lässt sich sogar mit herkömmlichen Stiften und Papier arbeiten: Dazu kann man den Inhalt des Papiers mit einer Dokumentenkamera auf den Beamer bringen. Alternativ gibt es Stifte mit elektronischer Positionsbestimmung mittels Ultraschall oder mittels optischer Erfassung eines unauffälligen, feinen Punktmusters auf dem Papier. Letzteres Patent der Firma Anoto wird zum Beispiel bei Oxford Papershow (www.papershow.com) verwendet.

3 Videoerstellung für und Erfahrungen mit dem ICM

28

Abb. 3.1: Portable elektronische Alternativen zur Tafel: Grafiktablett mit eingebautem Bildschirm, Windows-Tablet-PC, Android-Tablet, Grafiktablett (von links oben im Uhrzeigersinn).

3.3.1.2

Audio

Während leichte Bildstörungen meist noch erträglich sind, ist bei der Sprache eine ausgezeichnete Tonqualität unabdingbar. Die ab Werk in Computer eingebauten Mikrophone sind selten von angemessener Güte. Außerdem nehmen sie Störgeräusche auf (Lüfter, Festplatte, Schreiben mit dem Stift oder dem Finger auf dem Tablet) und werden je nach Platzierung im Gehäuse von den Händen der oder des Vortragenden verdeckt. Ein professionelles Headset (am Kopf befestigtes Mikrophon), wie es auf Bühnen eingesetzt wird, kostet mehrere hundert Euro. Billige Headsets für Internet-Telephonie sind andererseits qualitativ dürftig; Headsets mit BlueTooth-Anbindung für handfreies Telefonieren verbieten sich – derzeit noch – wegen des für die Funkübertragung eingeschränkten Frequenzumfangs. Sinnvoll ist ein Mikrophon mit USB-Anschluss, dicht vor der Sprecherin bzw. dem Sprecher platziert – aber auf einem getrennten Tisch, nicht auf demselben Tisch wie das Notebook, um keine Vibrationen von dort zu übertragen. Um möglich wenig Gemurmel aus dem Publikum und wenig Hall aufzuzeichnen, ist ein Mikrofon mit Richtwirkung nötig (Niere, Hyperniere). Vor jeder Aufnahme empfiehlt sich ein Soundcheck mit einer kurzen Testaufnahme. In der Umgebung des Mikrofons sind alle Handys (zumindest solche mit GSMVerbindung, nicht UMTS) in den Flugmodus zu schalten oder komplett auszuschalten, nicht bloß auf Vibrationsalarm. Andernfalls drohen bei eingehenden Anrufen durch den

3.3 Aufzeichnung und Aufbereitung

29

energiereichen Verbindungsaufbau elektromagnetische Störungen, die in das Mikrophon einstreuen und dann in der Aufnahme als kurze Tonfolgen hörbar sind.

3.3.2

Software

Der einfachste Tafelersatz auf dem Windows-Tablet-PC ist das in Microsoft Windows XP Tablet Edition, Vista und Windows 7 enthaltene Programm Windows Journal. Durch vertikales Scrollen bietet es quasi eine unendlich hohe Tafel; selbst nach 90 Minuten kann man wieder zum allerersten Schritt zurückkehren. Rückgängigmachen, Ausschneiden, Kopieren und Skalieren erweisen sich als sehr zeitsparende Funktionen. Im Prinzip lässt sich das „Tafelbild“ am Ende abspeichern und zum Download bereitstellen – was der Autor kurzzeitig ausprobiert hat, aber wieder eingestellt hat, weil das Tafelbild für sich genommen ohne die gesprochene Diskussion für das Verständnis zu dürr gerät. Ein bekanntes Problem: Im Zusammenspiel mit mehreren unabhängig betriebenen Monitoren zeigt Windows Journal auch in der aktuellen Version 6.1 das Radiergummi versetzt auf dem Bildschirm an. Außerdem ist keine Aufnahmefunktion (Screenrecorder) eingebaut. Hierfür finden sich aber diverse kostenlose Lösungen [INT1]. Der Autor benutzt davon die Gratissoftware Hyperionics HyperCam 2 (www.hyperionics.com/hc/) mit dem XvidVideocodec (www.xvid.org). Damit HyperCam auch bei hoher Belastung des Rechners nicht die Synchronität von Bild und Ton verliert, muss man für dieses Programm im Windows Task-Manager die hohe Priorität wählen. Außerdem sollte man dafür sorgen, dass während der Aufnahme keine automatischen Updates aus dem Netz geladen und installiert werden. Einen maßgeschneiderten elektronischen Tafelersatz inklusive Screenrecorder bietet das Open-Source-Programm Open Sankoré (open-sankore.org). Es verfügt zum Beispiel über Zirkel und Lineal, erlaubt das Malen auf Google Maps und bietet einen direkten Zugriff auf Wikipedia. Blade Software NotateIt (www.notateit.com) ist eine analoge kommerzielle Lösung mit umfassenden Zeichenfunktionen. An der herkömmlichen Tafel schreibt und zeichnet man nicht nur, sondern zeigt auch: „Dieser Term fällt nun weg!“ Auch für diese Funktion muss elektronisch Ersatz geschaffen werden. Man kann zwar den Stift des Windows-Tablet-PC dafür benutzen. Allerdings zeigen die typischen Zeichnenprogramme nur einen kleinen Punkt. Deshalb empfiehlt sich das kostenlose PenAttention von Kenrick Mock [INT6], das einen deutlichen Halo um den Punkt erzeugt. (Installationshinweis: Einige Virenscanner liefern für PenAttention eine irrtümliche Malware-Warnung.) Auch der normale Mauszeiger lässt sich in der Sichtbarkeit noch verbessern, indem man ihn durch einen großen Pfeil ersetzt. Dies erledigen Programme wie Philip Hendersons kostenloses „Large Red Cursors“ (www.philiphenderson.co.uk). Der gängige Stil von Vortragsaufzeichnungen zeigt groß die Projektion und daneben klein ein Kamerabild von der oder dem Vortragenden. Der Autor hat mehrfach mit vergleichbaren, aber grafisch verschlankten Lösungen experimentiert, zum Beispiel seinen Kopf aus einem Webcam-Bild automatisch freigestellt und in die rechte untere Bildschirmecke eingeblendet oder hinter eine simulierte Glastafel gestellt (Loviscach 2011a). Beide Lösungen haben sich wegen der nötigen Einrichtung von Webcam und Beleuchtung für den Einsatz in regulären Veranstaltungen als zu aufwändig herausgestellt.

30

3 Videoerstellung für und Erfahrungen mit dem ICM

Abb. 3.2: Zwei Experimente des Autors zur Vorlesungsaufzeichnungen mit eingeblendeten Bildern einer Webcam (links: am unteren Rand darübergelegt, rechts: in den Hintergrund gelegt).

Jede Nachbearbeitung von Videos kostet allein schon durch das nötige Öffnen von Dateien und das Suchen nach zu editierenden Stellen mehr Zeit, als für die schlanke Produktionsweise sinnvoll ist. Deshalb ist das Ziel, auf jegliche Nachbearbeitung zu verzichten. Der Autor hat dazu ein Tool geschrieben, das den Screenrecorder fernsteuert, am Anfang jedes Videos die Symbole der Creative-Commons-Lizenz einblendet, die Laufzeit anzeigt, Unterbrechungen des Videos mit einer hellen Blende markiert und Zeitmarker in einer LogDatei festhält. Letzteres erlaubt während der Aufnahme Stellen zu markieren, die später editiert werden sollen. Obwohl das Beamer-Bild das Seitenverhältnis 4:3 hat, erfolgt die Aufnahme im Seitenverhältnis 16:9, also zwar über die komplette Breite, aber nicht über die komplette Höhe. So erscheint das Video in der auf 16:9 optimierten YouTube-Webseite ohne schwarze Streifen links und rechts. Am oberen und am unteren Rand des BeamerBilds, außerhalb des aufgenommenen Bereichs, bleibt Platz für die Menüs und Statuszeilen der Software, was das aufgenommene Video entschlackt. Außerhalb des aufgenommenen Bereichs ist auch Platz für Zusatzinformationen. Dazu gehört zum Beispiel die für alle Anwesenden klar sichtbare Anzeige, ob die Aufnahme gerade läuft oder aber gestoppt ist. Als Gründe zum Schneiden bleiben zum Beispiel Pausen von mehr als einigen Sekunden, das Schlagen einer Tür, ein Martinshorn vor dem offenen Fenster – und natürlich auch Wiederholungen von fehlerhaften Sequenzen. Als ausreichend ausgestattet und trotzdem sehr leichtgewichtig hat sich das Open-Source-Programm VirtualDub von Avery Lee erwiesen [INT7]. Schaltet man seine Spektrogramm-Anzeige für die Tonspur ein, sieht man deutlich, an welchen Stellen sich schneiden lässt. Dank seiner „Smart Rendering“-Funktion codiert VirtualDub beim Erstellen des endgültigen Videos so wenig Einzelbilder wie möglich neu, was den Vorgang auf einen Bruchteil der sonst nötigen Zeit beschleunigt. Um das Editieren noch weiter zu beschleunigen, hat der Autor eine eigene Software entwickelt, die Spracherkennung und verschiedene Methoden der Datenvisualisierung einsetzt (Loviscach, 2011b). Für das – seltene – Aufzeichnen von Videos ohne Live-Publikum hat sich als wesentliche Beschleunigung erwiesen, die Inhalte im Zeichenprogramm vorzuschreiben, zum Beispiel in Türkis, um sie dann während der Aufnahme in Schwarz und Rot neu zu schreiben. So ist die Platzeinteilung vorab festgelegt und man läuft nicht Gefahr, etwas zu vergessen. Im Nachhinein lassen sich die ursprünglichen türkisfarbenen Striche dann aus dem Video ent-

3.4 Bereitstellung der Videos

31

fernen. Das gelingt zum Beispiel mit einem entsprechenden Skript des Autors für die Filter Factory (virtualdub.org/misc/filtfactory.zip) von VirtualDub.

3.4

Bereitstellung der Videos

Allen wachsenden Bandbreiten zum Trotz sind Videos immer noch nicht so unproblematisch zu verteilen wie Texte oder Bilder. Im lokalen Netz einer Schule oder Hochschule genügt es, einfach die Videodateien bereitzustellen, zum Beispiel zum Download oder in HTML-Seiten eingebunden. Dank der „Instant Play“-Funktion der üblichen Videoplayer lassen sie sich dann abspielen, ohne erst komplett heruntergeladen werden zu müssen. Ein aufwendiger Videoserver ist damit überflüssig – außer, man will erschweren, dass die Benutzerinnen und Benutzer die Videos selbst weiterverbreiten. Werden die Videos von einem Videoserver gestreamt, verlangt das Weiterverbreiten mehr technischen Aufwand, als wenn die Videos direkt als Dateien herunterladbar sind. Außerhalb von lokalen Netzen bieten sich kostenlose Dienste im Web an, zum einen Cloud-Speicher wie Dropbox, zum anderen spezielle Videodienste. Hier sollen vier bekannte Beispiele für die letzteren diskutiert werden: YouTube als der bekannteste Vertreter, das im Musikvertrieb führende Apple iTunes, das von vielen Künstlern genutzte Vimeo und das verbreiteteste Social Network: Facebook. Hier soll nicht die Rede von iTunes U und YouTube EDU sein, für die besondere Vereinbarungen zu treffen sind. Eine wesentliche Unterscheidung zwischen diesen Diensten ist, dass Apple für Podcasts – und nur diese Form eignet sich hier derzeit – nicht die Videodaten selbst speichert, sondern nur die Verweise in sein Verzeichnis aufnimmt. Insofern löst iTunes nicht das Problem mit den großen Datenmengen, die eventuell beim öffentlichen Zugriff auf Videos bewegt werden müssen. Sind die Videos für die ganze Welt gedacht, so kann YouTube mit seiner Anbindung an die Google-Suche und mit seinen automatischen Vorschlägen punkten. iTunes und auch Facebook erweisen sich dagegen als schwer „von außen“ durchsuchbar. Im Unterschied zu YouTube und Facebook erlaubt Vimeo, Videos zum Herunterladen freizugeben. YouTube kann URLs ausgeben, die auf einen bestimmten Zeitpunkt eines bestimmten Videos verweisen – ideal zum Verwenden in Themenlisten und zum Verschicken in Mails. Analoges gilt für Kommentare in YouTube: Indem man etwa „3:14“ in einem Kommentar schreibt, erzeugt man eine anklickbare Sprungmarke für diesen Zeitpunkt. Videos von YouTube, Vimeo und Facebook lassen sich in eigene Webseiten einbetten. In YouTube lassen sich Videos auf zwei Weisen geheim halten: Man kann den Zugriff auf bis zu 50 einzeln einzugebende Nutzerinnern und Nutzer einschränken oder einfach die kryptische URL als Schutz benutzen. Letzteres hat den datenschutztechnischen Vorteil, dass die Nutzerinnen und Nutzer nicht bei YouTube angemeldet sein müssen. Ein Alleinstellungsmerkmal von YouTube sind die „Anmerkungen“, die sich nachträglich zum Beispiel in Form von Sprechblasen über das Video legen lassen. Der Autor macht davon Gebrauch, um Erläuterungen zu geben oder nachträglich gefundene Fehler zu berichtigen. Allerdings erscheinen diese YouTube-„Anmerkungen“ derzeit nicht in den YouTubeApps für mobile Geräte, was zu Irriationen führen kann.

32

3 Videoerstellung für und Erfahrungen mit dem ICM

Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal von YouTube ist die automatische Erzeugung von Untertiteln durch Spracherkennung. Dies benötigt selbst für ein halbstündiges Video nur wenige Sekunden – funktioniert allerdings bisher nur mit Englisch. Auf allen vier Diensten geraten die Videolisten nach einigen Dutzend Einträgen relativ unübersichtlich. Allerdings stellt YouTube eine offene Programmierschnittstelle bereit, mit der sich praktisch alle Daten der Videos über das Internet auslesen und sogar verändern lassen. Der Autor benutzt dies, um auf seiner eigenen Website eine maßgeschneiderte Videoliste und Suchfunktion anzubieten.

3.5

Didaktik der Videos

Der Hauptgedanke hinter den Videos sowohl für Mathematik wie auch für Informatik ist, beides in Aktion zu zeigen – deshalb nicht als PowerPoint-Präsentation, sondern als in Echtzeit entstehendes Tafelbild auf dem Windows-Tablet-PC. In der Mathematik kommen in den Aufzeichnungen gelegentlich noch Demonstrationen einschlägiger Software hinzu; die Informatik dagegen besteht größtenteils aus dem Schreiben von Programmen und der Fehlersuche darin mit herkömmlichen Programmierumgebungen und darin eingestreut Überlegungen mit Skizzen, wie man sie sonst an der Tafel erstellt. Im Unterschied zu gängigen Mitschnitten von Universitätsvorlesungen und im Unterschied zur Khan Academy (www.khanacademy.org) enthalten die Videos Aufgaben ans Publikum und die Zusammenfassung der daraus resultierenden Ergebnisse. (Während Diskussionen und Zwischenfragen pausiert die Aufnahme.) Die Aufgaben bestehen zum einen aus Fingerübungen zur schnellen Verständniskontrolle, vergleichbar mit den eingestreuten Ankreuztests bei den Videos von Udacity (www.udacity.com). Zum größeren Teil sind die Aufgaben aber im Sinne der Structured Inquiry (Frage und Methode vorgegeben) und Guided Inquiry (Frage vorgegeben), siehe Herron (1971). Im Prinzip lassen sich die Aufgaben auch beim Betrachten mit den Videos bearbeiten, indem man die Wiedergabe pausiert. Durch die seinerzeitigen Längenbeschränkungen von YouTube sind die Videos bis 2010 bis zu einer Viertelstunde lang. Um eine Nachbearbeitung der Videos zu vermeiden, hat der Autor seine Vorlesung in entsprechend kurze Teile geteilt. Seit 2011 haben die Videos dagegen stark variierende Längen, je nach Thema. Insbesondere in der Informatik erreichen sie sogar 60 Minuten, weil beim gemeinsamen Programmieren kein sinnvoller Punkt zum Zerteilen des Videos zu finden ist. Der Stil ist betont anschaulich, visuell und deduktiv. Die Mathematik-Videos zeigen anstelle einer professionellen Formel mit Summenzeichen, Variablen und Indizes oft ein konkretes Beispiel, an dem man denselben Sachverhalt ohne den Ballast der Abstraktion erkennen kann. Wie an Fachhochschulen üblich, findet das universitäre Schema Definition – Satz – Beweis keine Anwendung. Plausible Überlegungen ersetzen die formalen Beweise. In den Informatik-Videos stehen die Gedankengänge beim praktischen Programmieren im Vordergrund: Wie löst man das gegebene Problem? Wie formuliert man ein Programm verständlich? Wie sucht man nach Fehlern? Im Endeffekt sieht man im Video ein Programm in Gemeinschaftsarbeit von der ersten Idee bis zu einem brauchbaren Zustand wachsen.

3.6 Einsatz im Unterricht

33

Weil die Texte und Bilder in den Videos live entstehen, gibt es keine druckbaren Varianten davon, anders als bei PowerPoint-Präsentationen, die sich auch ausdrucken lassen – bei gravierenden Einschränkungen für den Nutzen [INT2]. Der Autor stellt stattdessen ausformulierte Skripte zum Herunterladen bereit. Die wesentlichen Herleitungen und Diagramme sind darin allerdings ausgelassen, sondern sollen beim Betrachten der Videos nachgetragen werden. Dies soll das Behalten fördern (vgl. DeZure, Kaplan und Deerman, 2001) und verhindern, dass die Videos nur im Hintergrund parallel zu anderen Aktivitäten (Spiele, Social Networks) plätschern. Dass das Publikum die Diagramme selbst zeichnet, spart obendrein Aufwand in der Produktion. Der oft gemachten Einwendung, dass Videos nur in eine Richtung wirken und es keine Möglichkeit für schnelle Rückfragen gibt, tritt der Autor entgegen, indem er binnen Stunden auf Kommentare zu den Videos antwortet. Er stellt auch eine in den Browser integrierte Software (Bookmarklet) bereit, mit der sich Kommentare anonym schreiben und mathematische Formeln in klassischer Schreibweise darstellen lassen. Eine kommerzielle Lösung für private Kommentare auf YouTube wäre Grockit (grockit.com/answers).

3.6

Einsatz im Unterricht

Von den drei Anteilen jedes Moduls im Stundenplan (Vorlesung, Seminar, Praktikum) ist die Vorlesung nun mit Hilfe des ICM umgestaltet. Die Studentinnen und Studenten wissen vorab, welche Videos mit welchen Skripten und ggf. Beispiel-Programmcode für die jeweils nächste Woche zu bearbeiten sind. In der im Stundenplan für die Vorlesung vorgesehenen Zeit bearbeitet der Autor zur Festigung und Vertiefung mit den Anwesenden mathematische Probleme bzw. die Entwicklung eines Programms, fokussiert auf die zum jeweiligen Termin anstehenden Hilfsmittel und Methoden. Die Problemstellungen und die zusammengetragenen Lösungen werden zu neuen YouTube-Videos, sodass sich der Fundus für kommende Semester durch solche „worked examples“ weiter vergrößert. Der in diesen neuen Videos mitgeschnittene frontale Anteil nimmt nun etwa die Hälfte der Vorlesungszeit ein; er steht in schnellem Wechsel mit Phasen, in denen der Autor durch den Hörsaal läuft, um den Studentinnen und Studenten in der Mathematik beim Bearbeiten von Problemen mit Tischnachbarinnen und Tischnachbarn zuzusehen und ihnen Hinweise zu geben und in der Informatik ausgiebig Problemlösungen zu diskutieren. Die Vorlesungstermine entwickeln sich damit deutlich hin zu Heuristik (Polya, 1957) und metakognitiven Fertigkeiten (Krathwohl, 2002).

3.7

Beobachtungen

Die hier berichteten Erfahrungen mit dem Inverted Classroom Model stützen sich im Wesentlichen auf anonymen elektronischen Umfragen unter den Studierenden nach Ende der Vorlesungszeit. Von den etwa 80 Studentinnen und Studenten des ersten Semesters (wegen Wechslern, Nachzüglern und Wiederholern gibt es keine eindeutigen Zahlen) in der Ma-

34

3 Videoerstellung für und Erfahrungen mit dem ICM

thematik haben 51 an der Umfrage teilgenommen; von den etwa 60 Studentinnen und Studenten des dritten Semesters in der Informatik haben 41 an der Umfrage teilgenommen.

3.7.1

Nutzung der Materialien

85 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer geben an, „praktisch alle“ Videos gesehen zu haben; die übrigen haben „ein Dutzend oder mehr“ gesehen. Praktisch alle sehen die Videos zu Hause. Nur etwa sechs Prozent sagen, die Videos hauptsächlich auf dem eigenen Rechner in der Hochschule gesehen zu haben. Die Nutzung unterwegs oder in den PCRäumen ist noch deutlich geringer. 92 Prozent geben an, die Lücken im Skript beim Betrachten der Videos ausgefüllt zu haben. Diese Angabe passt zu dem Eindruck, den der Autor beim Herumlaufen in den Lehrveranstaltungen aus den aufgeschlagenen Unterlagen der Studentinnen und Studenten gewinnt. Niemand hat Kommentare auf YouTube gepostet, und nur in einer Antwort war das gemeinsame Anschauen von Videos als Nutzungsart angekreuzt. Die Umfrage zum Informatik-Modul umfasste zusätzlich die Frage, ob man parallel zum Video am eigenen Rechner mitprogrammiert. Dies bejahten 24 Prozent. Zur Medienaffinität: 87 Prozent geben an, ein oder mehrere soziale Netzwerke zu nutzen; 78 Prozent nennen dabei Facebook.

3.7.2

Vorlesungstermin (Plenum)

46 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer geben an, sie besuchen das Plenum (den früheren Vorlesungstermin) „praktisch immer“, 27 Prozent „etwa jedes zweite Mail“, 21 Prozent „etwa jedes vierte Mal“ und 7 Prozent „nie“. In der Mathematik liegen die Zahlen dabei etwas höher, in der Informatik etwas niedriger. Letzteres scheint daran zu liegen, dass der Klausurtermin für die Mathematik unmittelbar nach der Vorlesungszeit lag, der Klausurtermin für die Informatik dagegen am Ende der nachfolgenden vorlesungsfreien Zeit. Viele Studentinnen und Studenten scheinen sich zunächst auf die frühen Klausuren fokussiert zu haben, darauf setzend, dass sie Informatik mit Hilfe der Videos nachlernen können. In der Tat geben 33 Prozent aus beiden Modulen an, dass sie Vorlesungstermine des Moduls auslassen, weil sie zu sehr mit anderen Fächern beschäftigt sind – der am häufigsten genannte Grund (Mehrfachantworten möglich). 20 Prozent kreuzen an, dass ihnen der Vorlesungstermin nichts bringt, trotz der Aufgaben zum Mitmachen. 12 Prozent nennen eine Berufstätigkeit als Grund für Abwesenheiten. Auf der praktischen Seite zeigt sich eine Schwierigkeit in der Informatik: Zu wenige Studentinnen und Studenten hatten im dritten Semester über eigene Notebooks verfügt, sodass der Autor den Vorlesungstermin zum ausführlichen Diskutieren der gemeinsamen Arbeit benutzt hat, statt dass die Arbeit in Kleingruppen stattgefunden hat. Das Plenum enthüllt erstaunliche Lücken nach der Bearbeitung der Videos: Studentinnen und Studenten, die – wie ihre Unterlagen auf dem Tisch belegen – die Lücken der Skripte ausgefüllt haben, rechnen zum Beispiel Matrizenprodukte falsch herum aus. Überraschend ist, wenn ein Student, der sauber in das Skript eingetragen hat, dass die Länge des Vektorprodukts die Fläche des von den Faktoren aufgespannten Parallelogramms ist, beim Vorle-

3.8 Klausuren

35

sungstermin nicht (mehr?) weiß, wie man die Fläche eines Parallelogramms berechnen kann.

3.8

Klausuren

Im Vergleich zu den Durchgängen des Vorjahres mit Videomitschnitten, aber ohne Inverted Classroom sind die Notenergebnisse leicht besser geworden: In der Mathematik hat sich der Schnitt von 4,0 (!) auf 3,5 geändert (Median: von 4,0 auf 3,7), in der Informatik von 2,9 auf 2,8 (Median: von 2,7 auf 2,5). Die drastischste Veränderung hat sich in der Durchfallsquote der Mathematik ergeben, die von 45 auf 34 Prozent gesunken ist, wogegen die in der Informatik nur minimal von 14 auf 13 Prozent gefallen ist. In der Mathematik hat sich auch die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des ersten Prüfungsversuchs deutlich erhöht: von 60 auf 74.

3.9

Resümee und offene Fragen

Die geschilderten ersten Ergebnisse zeigen, dass mit einer erdrutschartigen Verbesserung der Ergebnisse durch das ICM nicht zu rechnen ist. Andererseits ist es logisch und sinnvoll, so viel wie nur möglich der gemeinsamen Zeit mit den Studentinnen und Studenten zum Arbeiten statt zum Erzählen zu nutzen. Vielleicht können die bisher verwendeten Klausuraufgaben – oder die Prüfungsform Klausur als solche – nicht das abbilden, was zum Beispiel an Heuristik gewonnen wird. Die Beobachtungen beim Bearbeiten von Aufgaben im Plenum zeigen, dass das Anschauen der Videos und das Ausfüllen der Lücken in den Skripten allein nicht genügen. Das ICM hilft, dies aufzudecken, wo es in der normalen Vorlesung unentdeckt bliebe, und darauf zu reagieren – ganz im Sinne von Hattie (2009:173ff), der das Feedback an den Lehrenden als die wichtigste Form von Feedback ansieht. Andererseits stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, die Videos ausdrücklich mit Kontrollfragen zu versehen, wie man es zum Beispiel bei Udacity (www.udacity.com) sieht. Analog dazu sind die ConceptTests von Eric Mazur [INT3]. Noch weiter ginge die Nutzung von Tutoring-Systemen (Strayer, 2007). Wenn die grundlegenden Techniken so in die Vorphase ausgelagert sind, könnte man sich im Inverted Classroom auf höhere Fertigkeiten und Kenntnisse konzentrieren. Unabhängig von der harschen Diskussion über den Sinn und Unsinn von „Learning Styles“ (Pashler/McDaniel/Rohrer/Bjork, 2008) eröffnet das ICM den Weg, mehr Varianten des Lernmaterials anzubieten. Dies war auch schon eine der wesentlichen Motivationen hinter der grundlegenden Arbeit von Lage/Platt/Treglia (2000). Für welche Studierende sind welche Videos hilfreich? Angesichts der zunehmenden Zahl an frei im Netz zugänglichen Videos könnte man sogar daran denken, eine Wahl passend zu Persönlichkeitszügen zu treffen (vgl. McCarty/Padgham/Bennett, 2006). Ebenfalls noch Forschungsbedarf gibt es bei der gemeinsamen Nutzung von Videos, angefangen bei gegenseitigen Antworten unter den Lernenden auf Kommentare. Videos in einer kleinen Lerngruppe zu bearbeiten könnte hilfreich sein. Dank Angeboten wie der

3 Videoerstellung für und Erfahrungen mit dem ICM

36

„Hangout“-Funktion von Google+ verlangt das inzwischen sogar nicht mehr, sich an einem Ort zu versammeln. In der Verzahnung mit andern Fächern kann es zu unbeabsichtigten Wechselwirkungen kommen: Die Videos können als probates Mittel zum Nachlernen in der vorlesungsfreien Zeit erscheinen, sodass die Studentinnen und Studenten es vorziehen, sich auf andere Lehrveranstaltungen zu konzentrieren. Durch Nichterscheinen und/oder schlechte Vorbereitung wird dann der Effekt des Inverted Classroom untergraben. Dies könnte die unveränderten Resultate der Informatik-Veranstaltung erklären – was weiter zu untersuchen ist. Noch viel zu wenig Aufmerksamkeit wird wesentlich grundlegenderen Fragen geschenkt: Sind die Inhalte sinnvoll gewählt? Sind Module sinnvoll vernetzt? Der Autor erlebt bei den Studentinnen und Studenten des vierten Semesters immer wieder eklatante Lücken, was den Stoff des ersten Semesters angeht (Beispiele: Geradengleichung, Polarkoordinaten). Und lernen die Studentinnen und Studenten das Gewünschte? – Hier ist der aktuell der Begriff „Pseudoteaching“ in der Diskussion. Gerade eine glattgebügelte Präsentation verschafft den Studentinnen und Studenten den Eindruck, etwas gelernt zu haben. Allerdings kann dieses Gefühl irreführend sein [INT4]. Sogar die „Guided Inquiry“ im der Präsenzveranstaltung kann kontraproduktiv sein – indem sie die Studentinnen und Studenten lehrt, dass ihre Ideen meist falsch sind und sie deshalb keine „intellektuellen Risiken“ eingehen sollten [INT5]. Neben den technischen und didaktischen Aspekten des ICM darf man als Lehrender auch die wirtschaftlichen und politischen nicht übersehen: Den Unterricht durch Video zu ersetzen – das klingt nach den kühnen Träumen von Anfang 2000, Präsenzhochschulen flächendeckend durch kostengünstiges E-Learning zu ersetzen. Dies ist aber nicht Ziel des ICM. Es geht nicht darum, Geld zu sparen, sondern vielmehr darum, die knappe gemeinsame Zeit mit den Studentinnen und Studenten möglichst sinnvoll zu nutzen. Wie der Autor aus eigener Erfahrung weiß, fällt dieser Aspekt in der Berichterstattung in Funk und Presse gerne unter den Tisch.

3.10

Quellen

DeZure, Deborah/Kaplan, Matthew/Deerman, Martha A. 2001. Research on student notetaking: implications for faculty and graduate student instructors. University of Michigan, CRLT Occasional Papers No. 16. Gauntlett, David. 2011. Making is Connecting. Cambridge, UK: Polity Press. Hattie, John A. C. 2009. Visible Learning: A Synthesis of over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. London, UK: Routledge. Haug, Simone/Wedekind, Joachim. 2009. „Adresse nicht gefunden“ – Auf den digitalen Spuren der E-Teaching-Förderprojekte. In: Dittler, Ullrich/Krameritsch, Jakob/Nistor, Nicolae/Schwarz, Christine/Thillosen, Anne (Hrsg.). E-Learning: Eine Zwischenbilanz. Münster: Waxmann: 19-37. Herron, Marshall D. 1971. The Nature of Scientific Enquiry. School Review, 79(2): 171-212, February 1971. Krathwohl. David R. A Revision of Bloom’s Taxonomy: An Overview. Theory into Practice 41(4): 212-218, Autumn 2002.

3.10 Quellen

37

Lage, Maureen J./Platt, Glenn J./Treglia, Michael. 2000. Inverting the Classroom: A Gateway to Creating an Inclusive Learning Environment. In: The Journal of Economic Education. Vol. 31, No. 1 (Winter). London: Taylor & Francis: 30-43. Loviscach, Jörn. 2011. A Real-Time Production Tool for Animated Hand Sketches. In: Proceedings of CVMP 2011. Los Alamitos: IEEE Computer Society: 94-100. Loviscach, Jörn. 2011a. Mathematik auf YouTube: Herausforderungen, Werkzeuge, Erfahrungen. In: Friedrich, Steffen/Kienle, Andrea/Rohland, Holger (Hrsg.). DeLFI 2011, Lecture Notes in Informatics (LNI); P-188. Berlin: Springer: 91-102. Loviscach, Jörn. 2011b. A Nimble Video Editor that Puts Audio First. AES Paper 8497 (131st Convention of the Audio Engineering Society). Pashler, Harold/McDaniel, Mark/Rohrer, Doug/Bjork, Robert. 2008. Learning Styles: Concepts and Evidence. Psychologic Sciences in the Public Interest 9(3): 106–119, December 2008. Polya, George. 1957. How to Solve It: a New Aspect of Mathematical Method. Garden City, NY: Doubleday. McCarty, Cynthia/Padgham, Gene/Bennett, Doris. 2006. Determinants of Student Achievement in Principles of Economics. Journal for Economics Educators 6(2): 1-9, Fall 2006. Schulmeister, Rolf/Metzger, Christiane (Hrsg.). 2011. Die Workload im Bachelor: Zeitbudget und Studierverhalten. Eine empirische Studie. Münster: Waxmann. Strayer, Jeremy F. 2007. The effects of the classroom flip on the learning environment: a comparison of learning activity in a traditional classroom and a flip classroom that used an intelligent tutoring system. PhD Thesis, Ohio State University. [INT1] Wikipedia. Comparison of Screencasting Software. http://en.wikipedia.org/wiki/Comparison_of_screencasting_software; Zugriff am 12.4. 2012. [INT2] Garr Reynolds. Slideuments and the Catch-22 for conference Speakers. http://www.presentationzen.com/presentationzen/2006/04/slideuments_and.html; Zugriff am 12.4. 2012. [INT3] Mazur Group. Peer Instruction. http://mazur.harvard.edu/research/detailspage.php?rowid=8; Zugriff am 12.4. 2012. [INT4] Derek Muller. What Puts the Pseudo in Pseudoteaching? http://fnoschese.wordpress.com/2011/03/15/what-puts-the-pseudo-inpseudoteaching/; Zugriff am 12.4. 2012. [INT5] Brian Frank. Pseudoteaching on the Guided Inquiry Front. http://teachbrianteach.blogspot.de/2011/03/pseudoteaching-on-guided-inquiryfront.html; Zugriff am 12.4. 2012. [INT6] Kenrick Mock. PenAttention. http://www.math.uaa.alaska.edu/~afkjm/PenAttention/; Zugriff am 10.7.2012. [INT7] Avery Lee. VirtualDub. www.virtualdub.org, Zugriff am 10.7.2012.

4

Voraussetzungen für das ICM

Jürgen Handke

„The Inverted Classroom is not just videos!“ Diese Aussage von Aaron Sams während der ICM-Fachtagung bildete die Grundlage für die Diskussion zahlreicher flankierender Maßnahmen, durch die das ICM erst erfolgreich sein kann und die im Zentrum dieses Beitrages zum Tagungsband stehen. Ausgehend von hochqualitativen digitalen Lehrmaterialien wird gezeigt, mit welchen zusätzlichen Maßnahmen, von kleineren Anreizen bis hin zu komplexen Assessment-Systemen, der Inverted Classroom zu einem qualitätsverbessernden didaktischen Gesamtpaket ausgebaut werden kann.

4.1

Grundlagen

Das Inverted Classroom Model (ICM) kehrt die Abläufe der klassischen Lehre um: an die Stelle der Inhaltsvermittlung und -erschließung in einer gemeinsamen Präsenzphase tritt eine selbstgesteuerte Inhaltserschließung, das Üben und Vertiefen findet im Rahmen einer nachgeschalteten Präsenzphase statt (siehe dazu die Abbildungen 1.1 und 1.2 in Schäfer, Kapitel I dieses Tagungsbandes). Um diese "Umkehrung" vornehmen zu können, müssen folgende Grundbedingungen erfüllt sein. Phase 1: Der selbstgesteuerte Lernprozess muss durch entsprechende Materialien und Mechanismen unterstützt werden. Phase 2: Die nachgeschaltete Präsenzphase bedarf einer neuen Qualität (siehe Spannagel, Kapitel VI in diesem Band) Die folgenden Ausführungen befassen sich primär mit der Phase 1 des ICM und stellen zwei zentrale Fragen: 1.

Mit welchen digitalen Materialien lässt sich der selbstgesteuerte Lernprozess realisieren?

2.

Wie kann sichergestellt werden, dass die digitalen Lehrmaterialen nicht nur genutzt sondern auch inhaltlich durchdrungen werden?

Ein dritter Aspekt, der inhärenter Bestandteil der folgenden Ausführungen ist, bezieht sich auf den Mehrwert: Das „umgedrehte Lehrmodell“ macht nur dann Sinn, wenn ein signifikanter Mehrwert für Lerner wie Lehrer nachweisbar ist.

4 Voraussetzungen für das ICM

40

4.2

Digitale Materialien für die Phase I

Die Inhaltserschließung im ICM (Phase 1) erfolgt individuell und selbstgesteuert. Somit nimmt der Computer die Stelle des menschlichen Wissensvermittlers ein. Dazu sind hochqualitative Lernmaterialien erforderlich, denn nur so ist ein selbstgesteuerter Prozess der Inhaltserschließung möglich. Einfache Materialien wie Texte oder PodCasts haben sich als nicht geeignet erwiesen bzw. sind gar nicht zum Lernen gedacht (z.B. PowerPoint-Folien, die zur Präsentation aber nicht zum Lernen intendiert sind). Im Vergleich zu den zu klassischen Materialien (Lehrbuch etc.) stellen sie ohnehin keinen signifikanten Mehrwert dar (siehe Handke/Schäfer, 2012:86-92). Daher kommen nur die folgenden Lernmaterialien für einen selbstgesteuerten computergestützten Lernprozess in Frage: x Multimediale Lehr-/Lernmaterialien; x Videomaterialien; x Kombinationen aus Multimedia und Video.

4.2.1

Multimediale Lernelemente

Die Erzeugung multimedialer Lernumgebungen ist extrem aufwändig. Abb. 4.1 zeigt einen Screenshot einer explorativen Lernumgebung für die Sprachwissenschaft, eine sogenannte „Fieldwork Class“. 1 Die Erstellung einer solchen, zugegebenermaßen, sehr komplexen multimedialen Lernumgebung ist extrem aufwändig und verlangt das Zusammenspiel vieler Experten in Sachen Multimedia. Dieses Know-How fehlt vielen Hochschullehrern, die ihre Hauptaufgabe ja zu recht auch nicht in der Entwicklung multimedialer Lernmaterialien sehen. Dass auch Outsourcing, d.h. die Ausgliederung von Produktionsleistungen an Dritte, nicht immer zielführend ist, haben Schäfer/Sperl (2012:240ff.) ausführlich diskutiert. Mit anderen Worten: Die Entwicklung und Erstellung multimedialer Lehr-/Lernmaterialien ist für die meisten Hochschulangehörigen viel zu komplex und insbesondere vor dem Hintergrund der Aussage von Aaron Sams „Do I need it perfect or do I need it by Tuesday?“ völlig unrealistisch. In komplexen multimedialen Lehrangeboten stecken jahrelange Entwicklungstätigkeiten, die durch große Teams erst möglich werden. 2

_________________ 1

Bei den „Fieldwork Classes“ handelt es sich um linguistische Forschungsszenarien in Kurs-form, im Rahmen derer die Kursteilnehmer durch Einsatz des ihnen bereits vermittelten Forschungsinstrumentariums die Struktur einer ihnen unbekannten Sprache aufdecken.

2

Im Virtual Linguistics Campus (www.linguistics-online.com), über den die Marburger Anglistik/Linguistik ihr Lehrangebot abwickelt, stecken mehr als 10 Jahre Entwicklungstätgkeit, erhebliches Vorwissen und die Arbeit von zeitweise bis zu 15 Teammitgliedern über den gesamten Zeitraum.

4.2 Digitale Materialien für die Phase I

41

Abb. 4.1: Eine explorative multimediale Lernumgebung

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass multimediale Lehr-/Lernarrangements zwar eine optimale Lösung für die Phase I des ICM darstellen. Der Entwicklungsaufwand allerdings ist zu groß, um damit ICM-basierte Szenarien flächendeckend zu realisieren.

4.2.2

Videomaterialien

Dass Lehrvideos in ihren verschiedenen Varianten (Screencasts, E-Lectures) und ihren verschiedenen medialen Ausprägungen (als live-Vorlesungsaufzeichnung mit zusätzlichen einfachen oder digitalen Präsentationsmitteln) die derzeit gängige Möglichkeit zur Inhaltsvermittlung in der ersten Phase des ICM sind, geht aus fast allen Beiträgen zu diesem Tagungsband hervor. Im Virtual Linguistics Campus (VLC), der Plattform für das linguistische Lehrangebot des Autoren, werden Videomaterialien in verschiedenen Varianten genutzt. Diese werden in den folgenden Abschnitten näher vorgestellt.

4.2.3

Lehrvideos (E-Lectures)

Bei den E-Lectures handelt es sich um 10- bis 20-minütige, thematisch klar umrissene, englischsprachige Vorlesungen, die zum einen mit den Virtuellen Sitzungen im VLC verknüpft sind, aber auch separat über YouTube als Einzelvideos sowie im Rahmen thematisch orientierter Playlists aufgerufen werden können. Dadurch können sich interessierte Nutzer

42

4 Voraussetzungen für das ICM

ihre Inhalte sowohl selbst zusammenstellen als auch vorgefertigte Kursangebote im Rahmen von Playlists nutzen. 3 Die E-Lectures zeichnet der Autor vor einem Interaktiven Whiteboard in seinem Büro als Kombination aus reinem Video per Videokamera und Screencast mithilfe von Camtasia Studio auf. Abb. 4.2 zeigt die Einführungssequenz der E-Lecture „English in North America I“, in der der Autor in der Totale zunächst eine Inhaltsübersicht gibt.

Abb. 4.2: Eine E-Lecture des Autoren (Einführungssequenz)

Abb. 4.3 stellt die Situation nach Umschalten auf die Präsentation dar, bei der der Autor zwar sichtbar bleibt, im Zentrum des Videos jedoch die Inhalte dargestellt werden. Die Verknüpfung von Video und Screencasts über ein interaktives Whiteboard hat den Vorteil, dass den Nutzern zusätzlich zum Video über die VLC-Plattform der „Tafelanschrieb“, d.h. der Whiteboard-Inhalt, als PDF-Dokument zur Verfügung gestellt werden kann. Dadurch können sich die Nutzer während des Anschauens der Videos Notizen auf ihrer „Papiertafel“ machen. 4

_________________ 3

Der YouTube-Kanal des Autoren und seiner Kollegen: www.youtube.com/linguisticsmarburg

4

Umfragen unter den Studierenden des Fachgebiets Anglistik der Philipps-Universität Marburg haben ergeben, dass diese den für ein Video vorgefertigten Tafelanschrieb ohne die zusätzlichen Ergänzungen, die während der Aufzeichnung der Präsentation entstehen, bevorzugen. Dadurch ist es ihnen möglich, eigene Ergänzungen vorzunehmen.

4.2 Digitale Materialien für die Phase I

43

Abb. 4.3: Eine E-Lecture des Autoren (Präsentationssequenz)

Mit diesem Verfahren können qualitativ hochwertige Videos und Zusatzmaterialien produziert werden, die zwar bei weitem nicht perfekt sind, aber in ihrer Qualität – das zeigen die Kommentare im YouTube-Kanal – die ähnlicher Anbieter übersteigen.

4.2.4

Class Descriptions (Screencasts)

Viele Komponenten universitärer Lehrveranstaltungen sind administrativer Natur und nehmen in traditionellen Unterrichtsszenarien oft ganze Sitzungen weg, in denen organisatorische Dinge zu Lasten von Inhalten geklärt werden. Dazu gehören u.a.: x Themen von Hausarbeiten; x Die Vergabe von Leistungspunkten; x Die Erläuterung des Inhaltes von Lehrveranstaltungen; x Allgemeine Anforderungen an die Studierenden (Anwesenheitspflicht etc.); x Hinweise zum Lernen und Vertiefen des Stoffes. Die Behandlung dieser und anderer Aspekte gehört nach Meinung des Autoren nicht in die Präsenzphase und kann bequem ausgelagert werden. Mit einfachen Videos in Form von Screencasts (Bildschirmaufzeichnungen) lassen sich diese Aspekte bereits vor jeder Lehrveranstaltung (er)klären. Abb. 4.4 zeigt die „Class Description“ für die Lehrveranstaltung „Phonetics, Phonology and Transcription“, bei der eine einfache Powerpoint Präsentation als Screencast aufgezeichnet wurde. Die Länge solcher Screencasts überschreitet selten 6 Minuten, der Effektivitätsgewinn für die Lehre allerdings ist enorm: Ohne große Erläuterungen kann sofort in der ersten Sitzung einer Lehrveranstaltung mit dem Inhalt begonnen werden. Organisatorische Aspekte erfordern keinen weiteren Erklärungsbedarf.

4 Voraussetzungen für das ICM

44

Abb. 4.4: Class Description: Phonetics, Phonology and Transcription (Screencast)

Da auch die „Class Descriptions” im YouTube-Kanal des Autoren bereitstehen, können sich interessierte Studierende bereits vor Anmeldung zu einem Kurs ein Bild vom Kursablauf machen. Mit modernen Zugriffsverfahren wie denen des QRBarcodes (siehe rechts für den in Abb. 4.4 dargestellten Screencast) kann dabei der Zugang zu den Class Descriptions auch für mobile Endgeräte enorm erleichtert werden, insbesondere dann, wenn die digitalen Vorlesungsverzeichnisse keine Verlinkung mit YouTube zulassen.

4.2.5

Musterlösungen (model solutions)

Eine Besonderheit im Virtual Linguistics Campus bilden die Musterlösungen zu Aufgaben, die während der Präsenzphase bearbeitet werden. Diese werden jeweils nach der Präsenzphase über die Plattform, zumeist in multimedialer, bisweilen auch nur in rein textueller Form, bereitgestellt, in manchen Fällen allerdings auch als Video. Abb. 4.5 zeigt eine solche video-basierte Musterlösung, in der über einen zusätzlichen Text weitere Erklärungen gegeben werden.

4.3 Flankierende Maßnahmen

45

Clicks can be found in the Khoisan languages in South West Africa (see VLC language index: Xhosa >> Videos). The vocal tract configuration used for clicks can be found when you drink with a straw or when you produce the "bilabial kiss".

Abb. 4.5: Musterlösungen als Video (mit zusätzlichen Erklärungstext)

Videos dieser Art sind extrem kurz, manchmal reichen weniger als 60 Sekunden. Sie können nicht öffentlich bereitgestellt werden, da vermieden werden muss, dass die Lösungen zu früh bekannt sind. Der Aufwand für die Produktion solcher Kombinationen aus Video und Multimedia ist trotz ihrer Kürze enorm hoch. Allerdings lohnt sich dieser Aufwand vor dem Hintergrund der geringen Verfallszeit solcher video-basierten Erklärungen, da diese auch nach Jahren noch genutzt werden können.

4.3

Flankierende Maßnahmen

„The Inverted Classroom is not just videos!” (Aaron Sams während der ICM-Tagung). Multimediale Materialien, Videomaterialien oder die Kombination aus beiden – egal welcher Qualität – garantieren nicht die Durchdringung der darin dargebotenen Inhalte. Oft führt die durch das ICM gewonnene Lernerautomie dazu, dass Lerner die digitalen Inhalte gar nicht oder nur oberflächlich bearbeiten oder nicht hinreichend durchdringen. Bevor in der Folge Lösungsmöglichkeiten für diese Problematik präsentiert werden, muss eines klargestellt werden: Die Lernerautonomie soll keinesfalls relativiert werden. Allerdings müssen Wege gefunden werden, die es auf der einen Seite dem Lerner ermöglichen, den Stoff in effizienter Weise zu bearbeiten bzw. zu begreifen und die auf der anderen Seite dem Dozenten die Gewähr geben, dass die Studierenden vor der Präsenzphase die Inhalte auch durchdrungen haben.

4 Voraussetzungen für das ICM

46

Die folgenden Abschnitte diskutieren die dazu in Frage kommenden Mechanismen, von einfachen zeitbasierten Verfahren bis hin zu formativem E-Assessment.

4.3.1

Zeitliche Hilfestellungen

Im selbstgesteuerten Lernprozess durchdringt der Lerner den Stoff allein oder mit Gleichgesinnten, um ihn zu ordnen, das Lehrmaterial zu priorisieren und eine Entscheidung darüber zu treffen, was an welcher Stelle wichtig ist. Dabei hat es sich als günstig erwiesen, wenn ein „roter Faden“ vorgegeben wird, der zwei Hilfestellungen beinhaltet: x einen klar umrissenen zeitlichen Ablauf; x eine übersichtliche inhaltliche Struktur. Zeitliche Abläufe werden im Virtual Linguistics Campus jeder Lehrveranstaltung als „Dates und Deadlines“-Paket zugeordnet. Tab. 4.1 stellt diese gebündelt für eine ausgewählte Lehrveranstaltung dar. Tab. 4.1: Zeitliche Hilfestellungen (Dates and Deadlines) im Kurs: Phonetics, Phonology and Transcription for German Teachers of English im WS 2011/12; ein Ausschnitt Date

Time

Activity/Unit

2011-10-15

10:00:00

Activation of Class

2011-10-24

18:00:00

Plenary Meeting

2011-10-31

18:00:00

Phonetics: Worksheet "Naming the Articulators"

2011-11-07

18:00:00

Consonants: Worksheet "Identification of Pulmonic Consonants"

2011-11-14

18:00:00

Vowels: Worksheet "Identification of Cardinal Vowels"

2011-11-21

18:00:00

Suprasegmental Features: Worksheet "Identification of Nuclear Tone

…..

…..

…..

2012-01-23

18:00:00

The Sound System of German: Worksheet "The Sound System of German"

2012-01-30

18:00:00

PDE vs. German: "The Transcription of German"

2012-02-06

18:00:00

Varieties of English: Worksheet "Questions about the Varieties of English"

2012-03-16

10:00:00

Deactivation of Class

Man mag argumentieren, dass semesterorientierte Taktungen wie in Tab. 4.1 dargestellt die Lernerautonomie maßgeblich beschneiden. Das mag für den Gesamtablauf einer Lehrveranstaltung nicht nur richtig sein, sondern es wird, wie die zahlreichen Kursevaluationen seit 2002 im VLC belegen, auch gewünscht. Innerhalb des Kurses, d.h. zwischen den einzelnen Lerneinheiten allerdings wird die Lernerautomie in zeitlicher Hinsicht nicht eingeschränkt. Für jede Lerneinheit sind 7 Tage vorgesehen, wann und wo in diesen 7 Tagen die Inhaltserschließung stattfindet, bleibt dem Lerner überlassen. Im Übrigen ist eine nachträgliche Bearbeitung einzelner Lerneinheiten genauso gut möglich wie der Vorgriff auf zukünftige Inhalte. Innerhalb des Aktivierungszeitraums eines Kurses (in der Regel 5 bis 6 Monate) hat jeder Teilnehmer einer Lehrveranstaltung uneingeschränkten Zugriff auf alle Lerneinheiten.

4.3 Flankierende Maßnahmen

4.3.2

47

Inhaltliche Hilfestellungen

Neben den zeitlichen Hilfestellungen haben sich die folgenden strukturell-inhaltlichen Elemente als äußerst nützliche Stützen für den Pfad durch eine Lerneinheit erweisen. Die Sitemap So bietet eine Sitemap, ähnlich wie ein Inhaltsverzeichnis in einem Lehrbuch, zunächst die Möglichkeit, eine allgemeine Übersicht über die Elemente einer Lerneinheit zu erhalten. Ist die Sitemap interaktiv, kann sie neben einer Verlinkung mit den relevanten Inhalten aber auch weiterführende Informationen liefern, z.B. welche Elemente einer Lerneinheit bereits bearbeitet wurden und welche noch nicht. Im Virtual Linguistics Campus, der Plattform, über die die Herausgeber ihre Inhalte anbieten, wird das wie in Abb. 4.6 dargestellt bzw. geregelt: Das ICM 9 Leitfragen o Der Lernprozess 9 Materialien o Der Lerner o Anreize o Die Präsenzphase 9 … Zusammenfassung 9 Abb. 4.6: Die Interaktive Sitemap im VLC

In der interaktiven Sitemap werden alle bereits bearbeiteten Hyperlinks mit einem Häkchen markiert, während die noch nicht bearbeiteten Hyperlinks mit „o“ gekennzeichnet werden. Leitfragen (Questions) Zu jeder Lerneinheit werden im Virtual Linguistics Campus maximal 10 Leitfragen gestellt (Menüverweis „Questions“), die den Lerner nicht nur per Hyperlink durch die Virtuelle Sitzung führen, sondern auch hervorragend zur Vor- bzw. Nachbereitung der Inhalte geeignet sind. Die Leitfragen müssen zwar nicht sequenziell abgearbeitet werden, liefern dem Lerner aber – auf Wunsch – einen inhaltlichen Leitfaden durch den hypertextuellen multimedialen Inhalt einer Lerneinheit. Video Clips mit Inhaltsstruktur Ähnliche Leitfäden können auch für Videoclips erzeugt werden. Dadurch wird es je nach Lernertyp leichter, die gewünschten Teile im Clip aufzufinden und (wieder) zu bearbeiten. Abb. 4.7 stellt eine solchen Videoclip aus der VLC-Lehrveranstaltung „Multimedia on the Web“ dar. Das interaktive Inhaltsverzeichnis befindet sich unten links.

48

4 Voraussetzungen für das ICM

Abb. 4.7: Videoclips mit Inhaltsstruktur

Printmaterialien (z.B. VLC-Workbooks) Eine im Zusammenhang mit dem ICM vielfach unerwähnte Möglichkeit der inhaltlichen Steuerung bedient sich klassischer Materialien, wie z.B. Texten. Das können einfache Aufgabenblätter sein, die mit einzelnen digitalen Lerneinheiten verzahnt sind, aber auch komplette Hefte, in denen inhaltliche Zusammenfassungen mit zusätzlichen Hinweisen und Fragen zu finden sind. Im VLC und VZL, den beiden Lernplattformen, über die Marburger anglistisch/linguistischen Inhalte bedient werden, gibt es eine Sonderform, die sog. „Workbooks“ (Arbeitshefte). In diesen Workbooks werden nicht nur die Inhalte einer Lehrveranstaltung in geeigneter Form abgebildet, sondern die Nutzer werden durch gezielte Lücken im Text dazu angehalten, diese über die digitalen Komponenten inhaltlich zu schließen (siehe Handke/Schäfer, 2012:108). Das Workbook-Konzept, also die didaktisch fundierte Verknüpfung von Printmaterialien mit dem Online-Content hat sich in den vergangenen Jahren als große Stütze insbesondere für diejenigen Studierenden erwiesen, für die sich das Internet noch als problematischer Lernort erwiesen hatte (siehe Unger, 2012). Mit zunehmender Nutzung der internetgestützten Lehr-/Lernszenarien allerdings scheinen sich die Studierenden an die Arbeit mit digitalen Inhalten gewöhnt zu haben, sodass die Nachfrage nach den kurspezifischen Workbooks seit einiger Zeit kontinuierlich sinkt. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass all diese inhaltsbezogenen Maßnahmen dem Lerner zwar eine gewisse Linie vorgeben, da diese aber immer optional ist, bleibt die Lernerautonomie grundsätzlich erhalten.

4.3 Flankierende Maßnahmen

4.3.3

49

Anreizsysteme

Ein Hauptproblem im Lernprozess (ob klassisch oder selbstgesteuert) ist die Motivierung der Lernenden, die Inhalte auch tatsächlich zu durchdringen. Die bloße Bereitstellung von Materialien reicht in der Regel nicht aus. Da die Präsenzphase im ICM nur dann funktioniert, wenn die Lernenden vorher die Inhalte erschlossen haben, ist die Schaffung eines Anreizsystems für die Nutzung der Inhalte umso wichtiger. Dabei gibt es folgende Varianten: Reine Kontrollsysteme Mit Kontrollsystemen, z.B. dem Zählen von Logins, dem Festhalten von Zeit und Dauer von Zugriffen auf digitale Elemente, ist es zwar möglich, sich einen globalen Überblick über die Nutzung von Lerneinheiten oder Videos zu verschaffen, allerdings können keine Rückschlüsse über den Durchdringungsgrad der Inhalte gezogen werden. Im Virtual Linguistics Campus werden daher Kontrollsysteme dieser Art nur verwendet, um den Studierenden nachweisen zu können, dass sie sich möglicherweise überhaupt nicht eingeloggt haben oder der Zeitpunkt ihres letzten Logins möglicherweise so weit zurückliegt, dass ihre Mitarbeit mehr als in Frage gestellt werden kann. Integrierte Übungsfragen Eine nützliche Möglichkeit zur sofortigen Lernstandskontrolle sind integrierte Übungsaufgaben. Diese lassen sich mit verschiedenen Tools produzieren und entweder direkt mit den multimedialen Materialien oder auch mit den Lehrvideos verzahnen (siehe Loviscach, in diesem Band: Abschnitt 3.5). Mit Übungsfragen dieser Form können punktuelle Überprüfungen vorgenommen werden, die dem Lerner direkte Rückmeldungen auf seinen Wissensstand geben Belohnungssysteme Eine vielfach belächelte, aber aufgrund eigener Erfahrungen von den Studierenden durchaus gewünschte Möglichkeit sind Belohnungssysteme, die ähnlich wie die HighscoreSysteme in Computerspielen es den Nutzern ermöglichen, nicht nur ein bestimmtes Niveau zu erreichen sondern dies auch anzeigen lassen zu können. So ist denkbar, dass für die Studierenden einer Lehrveranstaltung ein bestimmtes Punkteniveau, z.B. 100 Punkte, als Maximalwert vorgegeben ist, den es zu erreichen gilt. Bis zur Erreichung dieses Niveaus kann bei Überschreiten bestimmter Zwischenwerte, z.B. 25 Punkte, eine Belohnung, z.B. in Form einer Spielmöglichkeit oder dem Erlassen einer weiteren Hausaufgabe, erfolgen. Mit einem solchen System, werden die Teilnehmer an einem Kurs, speziell durch die Sichtbarkeit ihrer Scores, auch bei Verwendung eines Spitznamens, dazu angehalten, einen für sie zumindest akzeptablen Wert zu erreichen. Formatives E-Assessment Werden die digitalen Materialien über eine Lernplattform bereitgestellt, kann über die integrierte Benutzerdatenbank der Wissensstand jedes Lerner festgehalten werden und zusätzlich vom Lehrenden eingesehen werden. Die Messung des Wissensstandes lässt sich mit genau auf die digitalen Lerneinheiten abgestimmten E-Tests vornehmen. Ähnlich wie bei den integrierten Übungsaufgaben lassen sich so gezielte Fragen zu einer Lerneinheit stellen. Im Virtual Linguistics Campus handelt es sich dabei um eine Vielfalt von elektronischen

4 Voraussetzungen für das ICM

50

Tests, von einfachen Multiple-Choice-Tests bis hin zu komplexen Input Tasks (siehe Handke/Franke, 2012:183ff), die mit einer Lerneinheit verknüpft werden und von den Studierenden lediglich bestanden werden müssen. Dabei wird nicht überprüft, wie viele erfolglose Versuche bis zum letztendlichen Bestehen erforderlich sind. Ist ein Test bestanden, erhält der Lernende eine Kontrollnachricht per E-Mail wie in Abb. 4.8 gezeigt: Worksheet: Varieties of English – Jamaican Creole Submitted by Karina Irmann ([email protected]) Wed Jul 11 12:19:39 CEST 2012 Evaluation: Worksheet successfully completed! No. of Questions: 20; Correct:19/20 = 100 % Level: Advanced Level Abb. 4.8: Kontroll-E-Mail nach bestandenem Test (Name geändert)

Gleichzeitig wird in der Benutzerdatenbank ein Eintrag erzeugt, über den der Lehrende per Mausklick das „Testverhalten“ seiner Kursteilnehmer einsehen kann. So lässt sich leicht feststellen, ob die Kursteilnehmer die zu einer Lerneinheit gehörigen Fragen und Aufgaben gelöst haben oder nicht. Auch wenn dies immer noch keinen endgültigen Aufschluss über die Durchdringung der Inhalte gibt, so ist es zumindest ein Hinweis. Aus eigener Erfahrung lässt sich schlussfolgern: Wenn ca. 20% der Kursteilnehmer den zu einer Lerneinheit gehörigen Test nicht bzw. nur erfolglos absolviert haben, sollte man in der Präsenzphase entsprechend reagieren und der Übungsphase möglicherweise eine Instruktionsphase voranstellen. Mit einer derartigen Ausrichtung werden die einfachen E-Tests zu echtem formativen E-Assessment. Dass die Verwendung der genannten Anreizsysteme durchaus in einem signifikanten Zusammenhang mit den Prüfungsleistungen stehen, wird im abschließenden Abschnitt dieses Beitrages zum Tagungsband diskutiert.

4.4

Erste Evaluationen

Im Nachgang zur ICM-Tagung 2012 können bereits erste Ergebnisse vorgelegt werden, die einen Zusammenhang zwischen der Nutzung von Anreizmechanismen und der Benotung, d.h. dem Wissenstand am Ende eines Kurses vermuten lassen. Folgende Lehrveranstaltungen des SS 2012, beides Seminare, stützen diese Einschätzung: x Varieties of English (29 Teilnehmer, Lehramtsstudierende); x Morphology and Syntax (21 Teilnehmer, MA-Studierende). Beide Lehrveranstaltungen wurden nach der ICM-Methode durchgeführt und sind vollständig video- bzw. multimedial unterstützt, d.h. in Phase I werden Videomaterialien in Kombination mit multimedialen Elementen, dazu noch ein optionales Workbook bereitgestellt. Zusätzlich gab es zu jeder der 13 Lerneinheiten einen E-Test, mit dem die Studierenden ihr

4.4 Erste Evaluationen

51

Wissen überprüfen konnten und die Lehrenden Aufschlüsse über die Bearbeitung der Lerneinheit gewinnen konnten (siehe Abschnitt 4.3.3: Formatives Assessment). In Tab. 4.2 werden die Endnoten und die Anzahl der erfolgreich bestandenen optionalen E-Tests in beiden Lehrveranstaltungen einander gegenübergestellt. Tab. 4.2: Ergebnisse der Seminare „Varieties of English“ und „Morphology and Syntax“ im SS 2012 (Namen anonymisiert) Varieties of English Student E-Tests SR1 10 MJ 11 SR2 8 WM 5 BJ 11 DK 11 FA 7 GM 7 MJ 9 MA 8 SJ 11 SP 11 WS 7 DI 9 HM 10 HP 10 RC 6 KN 10 LF 7 OC 11 BN 11 HG 11 HAT 9 NL 7 KA 9 LC 11 OM 5 SA 3 SE 4

Note 13 12 12 12 11 11 11 11 11 11 11 11 11 10 10 10 10 9 9 9 8 8 8 8 7 7 7 7 7

Morphology and Syntax Student E-Tests Note ZS 11 14 MN 11 13 AG 11 12 GV 11 12 RG 11 12 LV 11 11 MR 11 11 PM 11 11 SS 11 11 ZM 11 11 BS 8 10 KA 8 10 MS 11 10 SA 11 10 TV 11 10 WK 11 10 YF 11 10 HS 9 9 JK 11 9 LA 9 9 LA 7 5

Auch wenn im Kurs “Morphology and Syntax” durchaus Tendenzen zu erkennen sind, dass die Anzahl der bestandenen E-Tests (maximal gab es 11) mit der erzielten Endnote in Zusammenhang steht, gibt es keine statistisch signifikanten Korrelationen. Um diese zu erhalten, müssten zusätzliche Beobachtungen, wie z.B. die Anzahl der Fehlversuche, die Anzahl der optionalen E-Test-Wiederholungen etc. miteinbezogen werden. Was allerdings in jedem

4 Voraussetzungen für das ICM

52

Fall festgehalten werden kann: Nahezu alle Studierenden waren bereit, die E-Tests durchzuführen, was auf eine hohe Akzeptanz dieses „Kontrollmechanismus“ schließen lässt.

4.5

Zusammenfassung

Darüber, dass das ICM nicht nur aus Videos besteht, besteht kein Zweifel. Die bloße Bereitstellung von Videos und/oder multimedialen Lehr-/Lernmaterialien reicht bei weitem nicht aus, um das ICM gewinnbringend einzusetzen. Vielmehr sind es zahlreiche flankierende Maßnahmen, die maßgeblich zum Erfolg des ICM beitragen. Dazu gehören x Verfahren, die den Lernprozess zeitlich und inhaltlich zu organisieren helfen; x Maßnahmen, die zum Lernen mit den digitalen Materialien motivieren; x Möglichkeiten für die Lehrenden zur Überprüfung des Lernfortschritts; und, was oft vergessen wird, x eine didaktisch auf die digitalen Inhalte abgestimmte Präsenzphase.

4.6

Quellen

Handke, Jürgen. 2012. E-Learning, E-Teaching und E-Assessment in der Hochschullehre: ETeaching. In: Handke, Jürgen/Schäfer, Anna Maria. 2012. E-Learning, ETeaching und E-Assessment in der Hochschullehre. München: Oldenbourg Verlag: 77-122. Handke, Jürgen/Franke, Peter. 2012. E-Learning, E-Teaching und E-Assessment in der Hochschullehre: E-Assessment. In: Handke, Jürgen/Schäfer, Anna Maria. 2012. E-Learning, ETeaching und E-Assessment in der Hochschullehre. München: Oldenbourg Verlag: 147-208. Handke, Jürgen/Hoyer, Anne. 2012. E-Learning, E-Teaching und E-Assessment in der Hochschullehre: Maßnahmen zur Qualitätssicherung. In: Handke, Jürgen/Schäfer, Anna Maria. 2012. E-Learning, E-Teaching und E-Assessment in der Hochschullehre. München: Oldenbourg Verlag: 295-324. Schäfer, Anna Maria/Sperl, Alexander. 2012. E-Learning, E-Teaching und E-Assessment in der Hochschullehre: Der Inhalt. In: Handke, Jürgen/Schäfer, Anna Maria. 2012. ELearning, E-Teaching und E-Assessment in der Hochschullehre. München: Oldenbourg Verlag: 211-292. Unger, Tobias. 2012. Ein Ansatz zur Erweiterung von linguistischen E-Learning-Kursen durch dehypertextualisierte Lerninhalte. Dissertation. Philipps-Universität Marburg, Deutschland.

5

Das ICM als Chance für die individuelle Förderung von Schülern?

Dirk Weidmann Der vorliegende Artikel geht der Frage nach, welchen Beitrag das ICM zu der pädagogisch zentralen Forderung nach individueller Förderung im Schulalltag leisten kann. Dabei wird im Rahmen einer kritischen Bestandsaufnahme zunächst auf einige Dilemmata eingegangen, welche aus einer gegenwärtigen Unterrichtspraxis resultieren, die angesichts eines kontinuierlichen zeitökonomischen Diktates scheinbar im Widerspruch zu einer möglichst passgenauen Förderung der Schüler steht. Nachdem in einem weiteren Schritt die bereits außerhalb der Schule erlangte Medienkompetenz der als „digital natives“ bekannten gegenwärtigen Schülergeneration thematisiert worden sein wird, eruiert der Artikel, inwiefern sich ein auf den Prinzipien des ICM gründender Schulunterricht dieses Vorwissen der Schüler nutzbar machen kann, um durch eine alternative Art der Unterrichtsgestaltung einen didaktischen Mehrwert herbeizuführen. Dabei werden insbesondere auch grundlegende methodisch-didaktische Überlegungen zu einer effektiven Gestaltung sowohl der Individual- als auch der Präsenzphase des ICM berücksichtigt.

5.1

Einführung

Eine zentrale Fragestellung der modernen Schulpädagogik, mit der sich Lehrkräfte aller Schulformen und Altersstufen in der Praxis regelmäßig konfrontiert sehen, beschäftigt sich mit den Möglichkeiten der individuellen Förderung von Schülern im Rahmen des schulischen Alltags. Besonders im Nachhall der Ergebnisse der großen internationalen Schülervergleichsstudien – wie z.B. PISA, TIMMS oder IGLU – wurde dieser Themenkomplex in der letzten Dekade wieder stärker in den Mittelpunkt der pädagogischen Forschung gerückt. Manche Plädoyers sehen in der Realisierung der individuellen Förderung sogar die zentrale Herausforderung, der man sich für die Lösung der dringendsten Bildungsprobleme in Deutschland stellen müsse. In Verbindung mit dem gekonnten Einsatz digitaler Medien im Unterricht – die nicht nur seitens der Politik und Wirtschaft gewissermaßen zum neuen Allzweckwerkzeug der Pädagogen erkoren wurden – scheint eine signifikante Verbesserung der Schülerleistungen in greifbarer Nähe, zumal der Einsatz von Elementen des Web 1.0 und 2.0 in den letzten Jahren immer stärker Einzug in den Schulalltag gehalten hat und

5 Das ICM als Chance

54

sich Lehrer in diversen Fortbildungsveranstaltungen mit dem methodisch-didaktischen Potenzial dieser Techniken vertraut machen konnten (siehe [INT1]:30-34). Wenngleich es in der Theorie plausibel erscheinen mag, mithilfe von gezielt eingesetzten E-Learning-Elementen und Maßnahmen zur individuellen Förderung die Leistungen der Schüler zu verbessern, konnten diese beiden Hoffnungsträger jedoch die in sie gesetzten Erwartungen in der Praxis bislang noch nicht erfüllen, was unter anderem damit begründet werden kann, dass sie beide im gegenwärtigen Schulalltag noch zu selten realisiert wurden und werden, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Die Gründe für das bis dato noch ausgebliebene, für die Verwirklichung von individueller Förderung sowie Multimediabasiertem Lernen aber unbedingt notwendige Umdenken in der Organisation von Unterricht sind mannigfaltig und können hier wegen ihrer komplexen Wechselbeziehungen nicht ausführlich dargelegt und erörtert werden. Im Verlauf dieses Artikels wird bei der Analyse der gegenwärtigen Situation allerdings gezeigt werden können, dass ein Kernproblem der schulischen Praxis darin besteht, dass die für eine individuelle Förderung erforderlichen regelmäßigen Zeitfenster bislang nicht im notwendigen Umfang geschaffen werden konnten. Hat die Schulpädagogik bei der Lösung der Bildungsproblematik demzufolge also „auf das falsche Pferd“ gesetzt, da die vorgeschlagenen Maßnahmen offenbar zeitlich nicht oder nur unzureichend umsetzbar erscheinen? Dem Autor des vorliegenden Artikels ist es ein Anliegen zu verdeutlichen, dass Unterricht – zumindest phasenweise – anders organisiert werden sollte, um sich der wünschenswerten Optimierung des Lernerfolgs aller Schüler stärker anzunähern. Zu diesem Zweck wird auf der Grundlage einer fokussierten Analyse der gegenwärtigen Unterrichtspraxis sowie der Lernausgangslage der Schüler ein Lösungsvorschlag für die Integration von individueller Förderung in den Schulalltag entwickelt. Dieser greift auf Elemente des hierzulande noch vergleichsweise unbekannten Inverted Classroom Model (ICM) als unterrichtsorganisierendes Prinzip zurück, mit dessen Hilfe den Lehrenden ein hinreichend großer Freiraum zur individuellen Förderung ihrer Schüler eröffnet werden kann. Zum Abschluss dieses Beitrags soll weiterführend geklärt werden, wie das inhaltsvermittelnde Material sowie die Präsenzphasen in der Schule gestaltet sein müssen, damit das ICM didaktisch erfolgreich sein kann.

5.2

Dilemmata der individuellen Förderung in der gegenwärtigen Unterrichtspraxis

Im Jahre 2004 veröffentlichte der Schulpädagoge Hilbert Meyer ein vielbeachtetes Buch mit dem Titel „Was ist guter Unterricht?“. 1 In diesem bietet Meyer seinen Lesern zehn Merkmale guten Unterrichts, die er aus einer Vielzahl empirischer Studien ableitet. Zu _________________ 1

Im Zusammenhang mit diesem Werk definiert Meyer „guten Unterricht“ wie folgt: „Guter Unterricht ist ein Unterricht, in dem (1) im Rahmen einer demokratischen Unterrichtskultur (2) auf der Grundlage des Erziehungsauftrags (3) und mit dem Ziel eines gelingenden Arbeitsbündnisses (4) eine sinnstiftende Orientierung (5) und ein Beitrag zur nachhaltigen Kompetenzentwicklung aller Schülerinnen und Schüler geleistet wird.“ (Meyer, 2004:13).

5.2 Dilemmata der individuellen Förderung

55

jenen Kriterien gehören unter anderem auch ein „hoher Anteil echter Lernzeit“ sowie konsequentes „individuelles Fördern“ (Meyer, 2004:17f), was laut Meyer vorwiegend ermöglicht wird „[…] durch Freiräume, Geduld und Zeit, durch innere Differenzierung und Integration, durch individuelle Lernstandsanalysen und abgestimmte Förderpläne [und durch] besondere Förderung von Schülern aus Risikogruppen.“ (ibid.). Aus diesen Ausführungen wird ersichtlich, dass der bewusste Umgang mit Unterrichtszeit eine Kernbedingung für die Etablierung eines erfolgreichen Unterrichts darstellt. Die Verantwortung für die angemessene zeitliche Organisation des Lernprozesses liegt dabei zunächst bei den Lehrkräften, die hierzu in den Augen Titus Guldimanns über eine „gut entwickelte und differenzierte adaptive Lehrkompetenz“ (Guldimann, 2010:260) verfügen müssen. 2 Dies impliziert meines Erachtens auch, dass sie auf der Grundlage der Lehrpläne und schulischen Rahmenbedingungen die ihnen für die jeweiligen Lerngruppen zugeteilten Zeitabschnitte durch geeignete Lern- und Übungsphasen so ausgestalten mögen, dass allen Schülern ein zielorientiertes Lernen und sinnvolles Anwenden des Gelernten ermöglicht wird. Jedoch darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass darüber hinaus auch die Schüler eine Mitverantwortung für guten Unterricht tragen, indem sie z.B. die ihnen durch die Lehrkraft angebotenen Hilfestellungen und Möglichkeiten zur Partizipation ausreichend nutzen und zu einem lernfreundlichen Unterrichtsklima beitragen. Der Ruf nach individueller Förderung im Rahmen der Unterrichtszeit wird durch die innerhalb einer jeden Lerngruppe herrschende Heterogenität hinreichend legitimiert, wie eine Vielzahl aktueller wissenschaftlicher Untersuchungen nahelegt. Hierzu formulieren Liane Paradies und Kollegen wie folgt: „Pädagogische Förderung kann nur individuell, also passgenau auf den einzelnen Schüler zugeschnitten sein. Jeder Versuch, eine Lerngruppe quasi ‚im Gleichschritt‘ ohne Eingehen auf die individuellen Spezifika fördern zu wollen, stößt an sehr enge Grenzen.“ (Paradies et al., 2007:37). Zu unterschiedlich sind beispielsweise die individuellen Lernvoraussetzungen sowie die intrinsische und extrinsische Motivation der Schüler, als dass es noch opportun erscheinen könnte, den Unterricht „auf die Mittelköpfe“ zu kalkulieren, wie es einst Ernst Christian Trapp für angezeigt hielt (siehe Sandfuchs, 2004:490). Somit kann die Bedeutung einer individuellen Förderung in den Augen der gegenwärtigen Forschung nicht nur hinsichtlich der Verbesserung der Leistungen von Problemschülern, sondern auch im Falle der Unterstützung von Schülern mit besonderen Begabungen kaum überschätzt werden. Mit Blick auf die sog. „Problemschüler“, zu deren Gruppe z.B. Schüler mit Lernschwächen, signifikanten Lerndefiziten oder Verständigungsproblemen aufgrund eines Migrationshintergrunds gezählt werden müssen, verweist Petra Stanat u.a. auf eine Vielzahl an flankierenden Maßnahmen, die sich in den letzten Jahren im Rahmen der Sprachförderung von Migranten heraus kristallisiert haben und vermehrt von Stiftungen und privaten Vereinen getragen werden, so im Besonderen diverse Programme zur Hausaufgabenhilfe, Sommercamps oder Lesehelfer (siehe Stanat, 2008:736). In meinen Augen ist es evident, dass eine nicht unbedeutende Menge dieser Fördermaßnahmen explizit auf Förderansätze zurückgrei_________________ 2

Für Guldimann entsteht eine „adaptive Lehrkompetenz“ aus der Synthese von Sachkompetenz, diagnostischer Kompetenz, didaktischer Kompetenz und Klassenführungskompetenz (siehe Guldimann, 2010:260).

56

5 Das ICM als Chance

fen muss, welche sich situationsabhängig an den individuellen Bedürfnissen des Schülers orientieren müssen, wenn sie von Erfolg gekrönt sein sollen. Aber auch Schüler mit besonderen Begabungen bedürfen im schulischen Regelbetrieb einer speziellen und idealerweise passgenau auf ihre jeweiligen Fertigkeiten abgestimmte Förderung (siehe Lehmann, 2004). Für das Verständnis des vorliegenden Artikels sollte der semantisch offenere Begriff der „besondere Begabungen“ jedoch nicht auf den wissenschaftlich schwieriger zu definierenden Terminus „Hochbegabung“ eingeengt werden. Dies wird dadurch begründet, dass es sich bei „Hochbegabung“ um ein vergleichsweise ungenaues Konzept handelt, das im psychologischen Kontext nicht als Synonym zu „in einem bestimmten Bereich besonders begabt“ verstanden werden darf, wie es im alltäglichen Sprachgebrauch mitunter reflexartig und vorschnell (siehe Rustemeyer, 2007:54–63) und oftmals zum Leidwesen der betroffenen Schüler geschieht (siehe Liehmann-Walter, 2009:29f). Wenn in diesem Aufsatz von Begabungsförderung gesprochen wird, so werden mit diesem Terminus nicht nur (aber auch!) Schüler mit Hochbegabungen, sondern bewusst auch Schüler mit besonderen Begabungen angesprochen. Legitimiert wird diese Begriffsbestimmung in meinen Augen dadurch, dass eine Vielzahl klassischer Förderansätze in Bezug auf ihre grundsätzliche Methodik sowohl für hochbegabte als auch für besonders begabte Schüler geeignet erscheinen. Zu denken ist hier insbesondere an Formen des horizontalen wie auch vertikalen Enrichments, bei dem Unterrichtsinhalte individuell vertieft und angereichert werden, sodass der schulische Lernerfolg auf selbstgesteuertem Lernen basieren kann, wie es mit allen wichtigen Implikationen exemplarisch von Herbert Gudjons beschrieben wurde (siehe Gudjons, 2008:30-33). So können in Stillarbeits-, Wochenplanarbeits- und Freiarbeitsphasen durch Maßnahmen der Binnendifferenzierung vergleichsweise schnell Möglichkeiten geschaffen werden, in denen die Schüler ihren besonderen Interessen selbstverantwortlich nachgehen dürfen. In jedem Fall muss dabei allerdings darauf geachtet werden, dass ein sogenanntes „Pseudo-Enrichment“ vermieden wird. Unter diesem Begriff verstehen Wissenschaftler ein in der Regel rein quantitatives Enrichment wie Auswendiglernen von Fakten oder Zahlen, weiteres Üben von bereits Beherrschtem oder das Lernen nach Lehrbuchabschnitten, welches – oberflächlich betrachtet – einer Bereicherung ähnelt, jedoch für den Begabten bereits nach kurzer Zeit mit Motivationsverlust einhergeht, wie die Ausführungen von Heinz Holling (1999:72) sowie von Dominique Peipert und Linda Wirthwein (2007:32) nahelegen. Bilanziert man die vorausgehenden Ausführungen, so wird offenkundig, dass sich für jede nach individueller Förderung strebende Lehrkraft mindestens drei Herausforderungen ergeben. Sie muss 1.

über eine fundierte diagnostische Kompetenz verfügen, um den Leistungsstand und die damit einhergehenden Fähigkeiten eines jeden Schülers der Lerngruppe individuell ermitteln zu können,

2.

im Rahmen der Binnendifferenzierung auf eine geeignete Methoden- und Materialsammlung zur angemessenen Förderung sowohl von leistungsschwachen als auch von leistungsstarken Schülern zurückgreifen können, um effektiv Konsequenzen aus den Ergebnissen der vorausgegangenen Leistungsstanddiagnose(n) ziehen zu können, und schließlich

5.3 Die Bedeutung digitaler Medien 3.

57

innerhalb der Unterrichtszeit die hierfür notwendige Kontinuität und einen hinreichend großen Freiraum schaffen, ohne dass darunter die qualitative oder quantitative Vermittlung neuer Inhalte leidet.

Zur Lösung der ersten Herausforderung wird es unabdingbar sein, dass die Lehrkraft eine hinreichend substanzielle Aus- und Fortbildung erfahren hat, durch die sie in der Lage ist, zu einem möglichst zuverlässigen Urteil über die Leistungen ihrer Schüler zu gelangen. Ergänzend hierzu ist anzunehmen, dass sich eine längere Berufserfahrung günstig auf die Diagnosekompetenz des Unterrichtenden auswirken wird. Um sie bei der Feststellung der jeweils erreichten Kompetenzstufen der Schüler zu unterstützen, haben die verschiedenen schulpädagogisch orientierten Verlagshäuser bereits eine umfangreiche Sammlung an Handreichungen und Diagnoseinstrumenten entworfen, auf welche die Lehrenden genauso zurückgreifen können wie auf die Fülle an hierzu passendem Übungsmaterial. Somit wird auch für die zweite, oben angesprochene Herausforderung eine helfende Hand geboten, die jedoch keinesfalls die Lehrer vor Ort ersetzen kann, da nur diese ihre Schüler in mehreren Facetten und unterschiedlichen Situationen wahrnehmen können. Als weitaus komplizierter gestaltet es sich in der schulischen Praxis bislang jedoch, eine Lösung für die dritte der vorstehend genannten Aufgaben zu finden. Lehrer klagen nicht selten darüber, dass ihnen im Laufe des Schuljahres die Zeit buchstäblich enteilt – nicht zuletzt auch aufgrund der Vorgaben der als überladen empfundenen Lehrpläne (siehe hierzu Müller, 2007:82; Seifried, 2009:283 sowie Klomfaß, 2011:151). Neben der Vermittlung der in den Curricula verankerten Themen wird eine über den synchronen Unterricht im Klassenverband hinausgehende individuelle Förderung aller Schüler von der überwiegenden Mehrheit der Lehrer zwar als erstrebenswertes, unter den gegebenen Rahmenbedingungen aber als realistisch nicht zu erreichendes Ziel angesehen (siehe Kunze/Solzbacher, 2008): Die gezielte Förderung Einzelner wird aus zeitökonomischen Gründen eher als pädagogische „Kür“ denn als selbstverständliche „Pflicht“ bzw. als fest integrierter Bestandteil des regulären Unterrichts bewertet, wodurch sich eine Diskrepanz zwischen Wollen und Können offenbart. Bisher ist es somit in nicht unerheblichem Maße von den Unterrichtsvoraussetzung in Verbindung mit dem persönlichen Organisationsgeschick der Lehrkräfte abhängig, ob in den Präsenzphasen des Unterrichts ein hinreichend großes Zeitfenster zur individuellen Förderung von Schülern bereitgestellt werden kann oder nicht.

5.3

Die Bedeutung digitaler Medien im Alltag und im bisherigen schulischen Unterricht mit „digital natives“

Digitale Medien avancierten in den letzten Jahren unbestritten zu einem wichtigen Teil unseres privaten und beruflichen Alltags. Längst schon hat sich in der einschlägigen Fachliteratur der Terminus „digital natives“ eingebürgert, der sich auf die Geburtsjahrgänge nach 1980 bezieht, die wie selbstverständlich mit der Omnipräsenz und den Entwicklungen der digitalen Technologien umgehen (siehe Thomas, 2011). Ein Blick auf die Ergebnisse aktueller Forschungsberichte zur Medienumgebung und zum Medienumgang junger Menschen verdeutlicht den Trend, wonach diese Art der Technik aus dem Alltag der „digital natives“

5 Das ICM als Chance

58

nicht mehr wegzudenken ist. In den Worten der Autoren der aktuellen „JIM-Studie 2011“ drückt sich dies wie folgt aus: Alle Haushalte, in denen Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren aufwachsen, haben Fernseher, Computer, Internetzugang und Handys. Fast jeder Haushalt hat ein Radio und die Möglichkeit, mit einer Digitalkamera zu fotografieren, in neun von zehn Haushalten steht ein MP3-Player zur Verfügung. [...] Merklich zugenommen hat auch der Besitz von Smartphones, also Mobiltelefonen mit der Möglichkeit das Internet mobil zu nutzen und anderen erweiterten Funktionen. Hier stieg die Besitzrate von 23 Prozent in 2010 auf aktuell 43 Prozent der Haushalte. ([INT2]:7). Im Schnitt verbringen die im Rahmen der „JIM-Studie 2011“ befragten Jugendlichen nach eigener Einschätzung täglich etwa 134 Minuten im Internet – zum Vergleich: Die tägliche Nutzung des Fernsehers wird mit durchschnittlich 113 Minuten angegeben (siehe [INT2]:31). Dass diese Heranwachsenden dabei das Internet alters- und schulformunabhängig primär zu Kommunikations- und Unterhaltungszwecken nutzen, illustriert die nachstehend abgedruckte Abb. 5.1, die dieser Studie entnommen wurde: Gesamt

44

Mädchen

16

50

Jungen

8

39

12-13 Jährige

27

14

23

46

24

16

23

43

14-15 Jährige

15

23

12

16

22

12

26

16-17 Jährige

43

17

14

26

18-19 Jährige

44

13

20

22

Hauptschule

41

Realschule

44

Gymnasium

46 0

20

23

10

27

19

13

24

12 40

18 60

Kommunikation Spiele Informationssuche Unterhaltung

24 80

100

Abb. 5.1: Inhaltliche Verteilung der Internetnutzung, Angaben in % (Basis n = 1188 Internetnutzer) ([INT2]:33)

Uwe Hasebrink und Claudia Lampert ergänzen hierzu in ihrem Aufsatz: Das Internet ist in der Lebenswelt vieler Heranwachsender inzwischen von zentralem Stellenwert. Das Einstiegsalter der Nutzung sinkt dabei beständig ab. Laut „EU Kids Online“ beginnen deutsche Kinder durchschnittlich mit knapp neun Jahren, das Internet zu nutzen […]. […] Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass aktivproduzierende Nutzungsformen des Internets deutlich seltener vorkommen als passiv-rezipierende […]. (Hasebrink/Lampert, 2011:4).

5.3 Die Bedeutung digitaler Medien

59

Die stetige Nutzung neuer Medien durch Jugendliche wirkt sich auch auf deren Lernvoraussetzungen und Denkarten aus, wie Gerald Gannod und Kollegen mit Verweis auf die Untersuchungen Jason Frands umfassend erläutern. Bei diesen von Frand einordnend als „Millenials“ bezeichneten Lernern könne unter anderem ein konsequentes Multitasking beobachtet werden, vor allem aber eine erstaunlich hohe Grundfertigkeit im Umgang mit Technik und Computern. Zentral sei hierbei – in Übereinstimmung mit den o.a. Teilergebnissen der aktuellen „JIM-Studie 2011“ – die Allgegenwart digitaler Medien: „[M]illenial students have grown up in an environment where computers and the Internet are ubiquitous. Computers are not a new technology.“ (Gannod et al., 2008:778). Gerade für die schulische Praxis ergeben sich somit bedeutende Konsequenzen: Inzwischen können bei den Schülern bestimmte Fertigkeiten aus dem Bereich der computer literacy als bekannt vorausgesetzt werden. So sind Schüler heute bereits in jungen Jahren zum Beispiel dazu in der Lage, unterschiedliche Dateien, die auf Homepages oder in Internetportalen wie YouTube zur Verfügung gestellt werden, aufzurufen und zu rezipieren. Für sie ist das Internet, im Besonderen das Web 2.0 mit seinen Elementen des social webs, zu einem vielfältig genutzten Erfahrungs- und Handlungsraum geworden (siehe hierzu Hasebrink/Lampert, 2011:5-7). Die Bereiche Politik, Gesellschaft und Pädagogik reagierten in der Vergangenheit unterschiedlich schnell und mit teilweise anderen Blickrichtungen auf die sich abzeichnenden Medientrends. Einigkeit wurde jedoch erzielt mit Blick auf die Maßgabe, dass Schüler im Unterricht Kenntnisse sowohl hinsichtlich des sicheren Umgangs mit Hard- und Software („computer literacy“) als auch hinsichtlich der kritischen Nutzung von Medieninhalten („Medienkompetenz“) erwerben sollen. Dass die genannten Instanzen dies vor dem Hintergrund unterschiedlicher eigener Interessen bzw. Ziele befürworten, ist eine Tatsache, auf die u.a. Sophie Schmitt (2011) oder Joachim Weiner (2011) hinweisen. Die Forderung nach computer literacy und Medienkompetenz scheint mir jedoch nicht ausschließlich, wie Carsten Albers und Kollegen in ihrem Aufsatz suggerieren, auf die ökonomische Bestrebung zurückzuführen zu sein, „[…] Schülerinnen und Schüler [einerseits] nahtlos anschlussfähig an den deutschen Arbeitsmarkt zu machen und andererseits internationalen Entwicklungen standhalten zu können“ (Albers et al., 2011:7). Der Schule kommt zwar auch, aber eben nicht nur eine berufspropädeutische Funktion zu, denn in nicht unerheblichem Maße obliegt es dem schulischen Unterricht, die Lerner auf die erfolgreiche Integration in die Gesellschaft vorzubereiten und sie zu diesem Zweck an geeignete Mittel und Methoden zur Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen heranzuführen. Dies gilt insbesondere in Zeiten, in denen zumindest in der Perzeption der Bevölkerung die Lehrer stärker als früher die Rolle des Erziehers übernehmen müssen (siehe Schmid, 2011:331-341 und 373-385). Für die gelingende Vermittlung dieses sowohl für das Bestehen im Beruf als auch für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben notwendigen Wissens ist aus unterrichtspsychologischer Sicht dem Lebensumfeld der Schüler und besonders ihren spezifischen Interessen Rechnung zu tragen, denn auf diese Weise können Schüler erfolgreich motiviert werden (siehe Rustemeyer, 2007:43 und Gläser-Zikuda, 2010). Wenn bereits in der Phase der Inhaltsvermittlung die Lernumgebung mit computergestützten Hilfsmitteln ausgestattet wird, auf die Schüler gerne und aufgrund ihrer Vertrautheit mit diesen vielleicht sogar wie selbstverständlich zurückgreifen, könnten zusätzliche motivationale Anreize zum Lernen zumindest in Teilen reduziert werden (siehe Ferdinand, 2010:70f und 7482).

5 Das ICM als Chance

60

Wer vor dem Hintergrund dieser Forschungserkenntnisse erwartet, dass sich die eben in ihren Grundzügen näher charakterisierte Art der privaten Mediennutzung der gegenwärtigen Schülergeneration auch in deren schulischem Umfeld wiederfinden lässt, wird überrascht sein zu erfahren, dass sich die Situation hier diametral von den häuslichen Gegebenheiten unterscheidet: So kommt z.B. eine gemeinsame Untersuchung der Initiative D21 und TNS Infratest aus dem Jahr 2010 zu dem Schluss, dass viele Schüler in der Schule kaum mit dem PC arbeiten – bei ca. 30 Prozent der befragten Schüler wird der Computer im Unterricht sogar überhaupt nicht genutzt (siehe [INT3]). Damit bleibt Deutschland – wie bei den Ergebnissen der PISA-Studien aus den Jahren 2003 und 2006 (siehe [INT4]) – nach wie vor derjenige OECD-Staat, dessen Schulen den Computer am seltensten als Lernwerkzeug nutzen (siehe [INT3]). Da schulischer Unterricht sehr facettenreich ist und mehrperspektivisch betrachtet werden muss, können die Gründe für dieses Brachliegen an digitalem Potenzial in der Schule an dieser Stelle nicht umfassend erörtert werden. Aktuelle Umfragen unter Lehrkräften aller Schulformen legen jedoch den Schluss nahe, dass die technischen Voraussetzungen hinsichtlich PC-Ausstattung und Internetzugang an den meisten Schulen nur unzureichend seien und dass die befragten Lehrer daher nur sehr zögerlich elektronische Medien im Unterricht einsetzen. Eine 2011 durchgeführte Studie des Branchenverbandes BITKOM unterfüttert diese Aussage mit Zahlenwerten: „88 Prozent [der befragten Lehrer] vertreten die Meinung, dass die technischen Voraussetzungen für den Einsatz elektronischer Medien an ihrer Schule verbessert werden müssen, 86 Prozent geben an, dass an ihrer Schule jemand fehlt, der sich um die Technik kümmert und bei Problemen schnell Abhilfe schafft.“ ([INT1]:35).

5.4

Das ICM als Chance und Herausforderung für eine Pädagogik des individuellen Förderns

Blickt man vor diesem Hintergrund auf die empirisch nachweisbare (medien-) technische Grundkompetenz und die häusliche Ausstattung der „digital natives“, so drängt sich die Frage auf, wie die Schulpädagogik von diesen Voraussetzungen profitieren kann. Durch den Rückgriff auf das ICM, dessen Idee und Konzeption bereits an anderer Stelle in diesem Sammelband umfassend erläutert worden sind, 3 scheint es möglich, dass die Lehrkräfte dazu in die Lage versetzt werden, mehr Freiraum für die individuelle Förderung ihrer Schüler zu erlangen. Diese Chance ergibt sich aus mehreren Aspekten des Konzepts, welches dem ICM zugrunde liegt: x Das ICM basiert zunächst auf einer computergestützten Technologie, mit der heutige Schüler sehr vertraut sind und deren Einsatz sich positiv auf die Lernmotivation auswirken kann, wie bereits oben dargelegt worden ist. x Lehrkräfte werden durch die Erstellung erklärender Unterrichtsmaterialien wie Kurzvideos etc., welche in der Phase der Inhaltsvermittlung zum Einsatz kommen, mittelfristig in ihrer Arbeitsbelastung entlastet, da auf diese Weise im Unterricht regelmäßig wieder_________________ 3

Siehe hierzu im Besonderen die Beiträge von Anna Maria Schäfer (Kapitel I und Jürgen Handke (Kapitel IV) in diesem Tagungsband.

5.4 Das ICM als Chance und Herausforderung

61

kehrende Thematiken (z.B. die Vermittlung von Grammatikthemen im Sprachenunterricht oder die Erklärung eines mathematischen Problems) gezielt aufgearbeitet und immer wieder orts- und zeitunabhängig zur Verfügung gestellt werden können. x Aufgrund der Tatsache, dass sich einzelne Schüler bei Bedarf jederzeit zuhause oder nötigenfalls im Computerraum der Schule noch einmal das erklärende (Video-) Material ansehen können, wird der laufende Schulunterricht zeitlich entlastet, da allen Schülern (und insbesondere auch denjenigen, die die Thematik bereits hinreichend durchdrungen haben) vor Ort mehr Zeit zur gezielten Inhaltsvertiefung geboten werden kann. x Da das Lehrmaterial unter Zuhilfenahme des Computers erstellt wird, ist es zudem möglich, bei Bedarf auf bereits existierende und frei-verfügbare Online-Materialien (z.B. Schaubilder, Audiodateien, Zeitungsberichte, Interviews etc.) zu verweisen und diese somit in den Lernprozess zu integrieren. Dies erscheint vor allem deshalb geboten, da diese Art der Technik aufgrund ihrer mehrere Sinne und Lernkanäle ansprechenden Multimedialität anderen Medien überlegen ist. Zudem können die Materialien mit Hilfe von gängigen Softwareprogrammen unkompliziert kombiniert werden. x Durch die Kooperation mit anderen Lehrkräften können binnen Kurzem verschiedene Materialpools für unterschiedliche Niveaustufen angelegt werden, die im Laufe der Zeit weiter anwachsen können. Dies fördert in einem weiteren positiven Nebeneffekt die (fächerübergreifende) Kommunikation im eigenen Kollegium und ermöglicht zudem einen fachlichen Austausch mit anderen Schulen. x Das Modell eröffnet den Lehrern die Möglichkeit, im Rahmen der Vorbereitung der Präsenzphasen dem jeweiligen Leistungsstand und Lerntempo ihrer Schüler (oder einzelner Schülergruppen) Rechnung zu tragen, indem diesen als Vorbereitung für den binnendifferenzierten Teil des Unterrichts mehrere unterschiedlich ausgearbeitete Lehrvideos bzw. Lehrmaterialien zur Verfügung gestellt werden. Dabei ist es zudem denkbar, verschiedene Lernstrategien und -präferenzen der Schüler zu berücksichtigen, indem bei den zur Verfügung gestellten Dateien einzelne Lernkanäle (z.B. durch ein Video) besonders stark angesprochen werden. x Die Motivation der Schüler wird gesteigert, da sie ihren Lernprozess stärker als bisher selbst steuern können und müssen. Auf diese Weise werden sie zu eigenverantwortlichem Arbeiten angehalten, bei dem sie von ihrem Lehrer als Lernbegleiter unterstützt werden. Sollten durch das Vorhandensein eines Materialpools mehrere Lehrmaterialien zu einem Thema zur Verfügung stehen, kann dem im Verlauf der Interessenentwicklung wachsenden Bedürfnis nach Autonomie durch diese Auswahlmöglichkeit in besonderem Maße entsprochen werden. x Schülern, die dem Unterricht für längere Zeit nicht beiwohnen konnten, wird für die Aufarbeitung der versäumten Inhalte durch die online abrufbaren Lehrvideos eine helfende Hand gereicht, da sie sich auf diese Weise im Vorfeld der Präsenzphasen zumindest wesentliche Aspekte des Unterrichtsstoffes selbständig erschließen können und sie somit fließender wieder in den regulären Präsenzunterricht integriert werden können. Unter dem Strich wird durch die gezielte Auslagerung einzelner (in der Regel frontaler) Unterrichtselemente ein Mehr an Lernzeit im Sinne Hilbert Meyers gewonnen, das für die individuelle Förderung einzelner Schüler oder Schülergruppen genutzt werden kann. Das ICM scheint somit hinreichend legitimiert und vielleicht sogar dafür prädestiniert zu sein,

62

5 Das ICM als Chance

Lehrkräften durch eine gezieltere und regelmäßigere Integration von E-LearningKomponenten in den Unterrichtsalltag den notwendigen zeitlichen Rahmen für individuelle(re) Förderung von einzelnen Schülern oder Schülergruppen zu verschaffen. Diese Chance für die Schulpädagogik ist jedoch zugleich auch als Herausforderung zu sehen, wie durch das Fragezeichen im Titel dieses Aufsatzes angedeutet wird: Die vorstehenden Ausführungen verstehen sich nicht als unreflektiertes Plädoyer für eine vollständige und vor allem vorschnelle Ablösung des bisherigen Unterrichtskonzepts durch das ICM. Vielmehr sollten Lehrkräfte die Potenziale beider Konzepte kennen und deren spezifische Vor- und Nachteile mit Blick auf die jeweilige Situation der von ihnen betreuten Lerngruppen sorgfältig abwägen. Denn der Unterricht mit digitalen Medien ist nicht per se einem Unterricht überlegen, der auf ihren Einsatz verzichtet. Christian Albers und Kollegen weisen in diesem Zusammenhang treffend darauf hin, „[…] dass dieser [erfolgreiche Unterricht mit digitalen Medien] immer auch an didaktische Konzepte und Methoden gebunden ist.“ (Albers et al., 2011:12). Die Qualität eines Unterrichts, der auf den Prinzipien des ICM fußt, hängt somit insbesondere von zwei Aspekten ab, nämlich zum einen von der Qualität der für die außerunterrichtliche, individuelle Phase der Inhaltserschließung zur Verfügung gestellten (multimedialen) Materialien und zum anderen von der Art, wie die Lernzeit in der Präsenzphase gestaltet wird. Somit ist die Aussicht auf ein Mehr an individueller Förderung nicht automatisch durch die Verwendung des ICM-Konzeptes gegeben; dieses Plus an Förderung ist vielmehr abhängig von der Kombination qualitativ hochwertiger Materialien mit einem guten Begleitkonzept, das in der Präsenzphase aktivierende bzw. motivierende Aufgabenstellungen ermöglicht. Zum Abschluss dieses Artikels sollen daher noch einige Überlegungen hinsichtlich der Gestaltung der beiden dem ICM zugrunde liegenden Arbeitsphasen festgehalten werden, mit deren Hilfe eine gute Ausgangsbasis für eine individuelle Förderung von Schülern geschaffen werden kann.

5.4.1

Überlegungen zur Gestaltung der individuellen Phase

Lehrende, welche die Prinzipien des ICM zur Wissensvermittlung nutzen, bedienen sich in der Regel zwangsläufig „des Internets als Vehikel für Lernmaterialien“ (Handke/Schäfer, 2012:15). Dem Lerner wird es auf diese Weise möglich, unter Rückgriff auf das ihm vertraute Medium Computer zu einem selbstgesteuerten Lernen zu finden. Dabei kommt den zur Verfügung gestellten digitalen Lehrmaterialien eine zentrale Rolle für die Vorbereitung auf diesen Lernprozess zu. Sie müssen zunächst vor den gleichen Kriterien Bestand haben wie Lehrervorträge, die traditionell im Klassenraum durchgeführt werden: So muss sich u.a. die für die Erklärungen verwendete Ausdrucksweise an der Sprachkompetenz der Rezipienten orientieren, es müssen ansprechende und für die Lerner klar verständliche Beispiele zur Illustration des Themas gefunden werden, und es gilt darüber hinaus auch hier, lernpsychologische Grunderkenntnisse (z.B. zum stofflichen Umfang, zur Methodenvielfalt und zum mehrkanaligen Lernen) zu berücksichtigen. Zu diesen allgemeinen Voraussetzungen treten weitere medienspezifische hinzu, die im Zusammenhang mit der Strukturierung und Gestaltung der digitalen Inhalte stehen. Der didaktische Mehrwert dieser online zur Verfügung gestellten Lernmaterialien, der – wie bereits oben angedeutet wurde – für die Legitimation ihres Einsatzes unerlässlich ist, äußert sich besonders in Form ihrer Multimedialität und, idealerweise, in Form einer gewissen Interaktivität. Um von diesem Mehrwert zu profitieren, ist es erforderlich, ein qualitativ

5.4 Das ICM als Chance und Herausforderung

63

hochwertiges und zugleich prägnantes Lehrmaterial zu erstellen, welches eher aus mehreren kleinen denn aus wenigen großen Lernschritten bestehen sollte. Wie unter Berücksichtigung der Eigenheiten des deutschen Bildungssystems Text-, Grafik-, Video- oder AudioElemente für Zwecke des ICM geeignet anzuordnen und didaktisch aufzuarbeiten sind, kann zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund fehlender empirischer Untersuchungen noch nicht ausführlich dargelegt werden. Aus Nordamerika, wo das ICM bereits seit längerem erfolgreich an Schulen eingesetzt wird, sind jedoch erste Erfahrungsberichte im Zusammenhang mit der Erstellung dieser Lehrmaterialien vernehmbar. So verwiesen die Referenten Aaron Sams und Dan Spencer in ihren Vorträgen während der ICM-Tagung 2012 in Marburg u.a. auf die Erfahrung, wonach längere, an Vorträge erinnernde Videos vermieden werden sollten. Stattdessen sprachen sie die Empfehlung aus, eher kürzere Videos von je etwa fünf bis zehn Minuten Länge zu erstellen, die sich jeweils auf die Vermittlung nur eines Aspekts konzentrieren. Aufgrund der somit gebotenen Kürze und Prägnanz werde der Aufmerksamkeitsspanne von Lernern am ehesten Rechnung getragen. Als Videovariante habe es sich zudem bewährt, dass zwei Personen (Lehrer) in einen Dialog treten und dabei die Thematik in einer Art Teamteaching einführen und erläutern. Schließlich habe die Erprobung in der Praxis gezeigt, dass der oder die Sprecher für die Zuschauer stets sichtbar sein sollte(n), sodass sich für die Erstellung des Lehrvideos ein Split-Screen-Verfahren anbiete, sobald z.B. das zusätzliche Einblenden von Grafiken oder Hilfsmitteln wie Taschenrechnern erforderlich wird. Ebenfalls denkbar ist die Option, mehrere geeignete Pädagogen als „Videolehrkräfte“ zu beauftragen, speziell an der Erstellung der für die Phase der Inhaltserschließung erforderlichen Lehrmaterialen zu arbeiten. Dieser Vorschlag wird im Buch von Anna Maria Schäfer und Jürgen Handke (2012:93) näher thematisiert und würde die unterrichtenden Lehrer mit Blick auf die zur Vorbereitung erforderliche Zeit weiter entlasten, da sich die jeweiligen Fachlehrer vor Ort primär auf die Vorbereitung der inhaltsvertiefenden Phase im Klassenverband konzentrieren können und somit mehr Zeit auf die gezielte Erstellung individueller Fördermaterialien für ihre Schüler verwenden. Aus Sicht der Schulverlagshäuser würde sich in diesem Zusammenhang ein neuer und lukrativer Markt erschließen. 4 Abzuwägen ist bei diesem Gedankenspiel jedoch, inwiefern sich dieses Vorgehen negativ auf die Lerner auswirken könnte: Zwar kann angenommen werden, dass derartig erstellte Lehrmaterialien aufgrund der Professionalisierung stets höchsten Qualitätsmaßstäben genügen können, was sich zunächst vorteilhaft auf den Lernprozess auswirken dürfte, jedoch käme es zu einer Entpersonalisierung der virtuellen Inhalte. Dies bedeutet, dass nicht mehr diejenige Lehrkraft, die den Schülern aus dem Unterricht bekannt und vertraut ist, den Inhalt darbieten würde, sondern ein ihnen unbekannter Lehrer. Da zu den Konsequenzen dieser Entpersonalisierung jedoch bis dato noch keine empirischen Daten vorliegen, wie Handke und Schäfer (2012:94, Fußnote 6) anmerken, kann bezüglich dieser Idee erneut keine abschließende Bewertung für den deutschen Schulkontext erfolgen. Die bisherigen Erfahrungen aus Nordamerika, wie sie in den Tagungsvorträgen von Aaron Sams und Dan Spencer dargelegt _________________ 4

Die videogestützte Wissensvermittlung wird – nebenbei bemerkt – bereits seit einiger Zeit im kostenpflichtigen Nachhilfesektor eingesetzt. Als Beispiel kann die Online-Nachhilfeplattform „sofatutor.com“ genannt werden, die auf eine Kombination von erklärenden Videos, Leistungsstanddiagnosen und Live-Chats setzt und bei der laut Eigendarstellung aktuell ca. 6000 Videos für 18 Fächer angeboten werden (siehe [INT5]).

5 Das ICM als Chance

64

wurden, legen aber den Schluss nahe, dass die Arbeitsmotivation der Schüler offenbar dann höher ist, wenn der ihnen bekannte Fachlehrer auch als „Videolehrkraft“ fungiert. Abschließend erscheint es angezeigt zu betonen, dass Schüler die im Lehrvideo gesehenen Inhalte nicht einfach nur „konsumieren“ sollten, sondern dass sie sich vielmehr aktiv mit diesen auseinandersetzen müssen. Neben gezielten von der Lehrkraft zu formulierenden Beobachtungsaufträgen und dem Notieren von inhaltlichen Fragen, die in der Präsenzphase geklärt werden müssen, sind in diesem Zusammenhang besonders eigene Beobachtungen zu fachlichen Analogien oder Querverbindungen zu Themen aus anderen Schulfächern zu nennen. Für die Dokumentation und Lerner-spezifische Reflexion dieses ersten Lernprozesses scheint das Führen eines Lerntagebuches bzw. eines Portfolios geeignet zu sein, da durch die Erstellung dieser Materialien der Lernprozess optimal unterstützt werden kann. Dies geschieht vor allem durch die Tatsache, dass die Beschäftigung mit diesen Werkzeugen die aktive Lernzeit, in der sich der Lerner mit der Thematik auseinandersetzt, verlängert, wie Tina Hascher (2007:298) ausführt. Zudem trifft der Einsatz eines Portfolios in der Regel auf eine hohe Schülerakzeptanz, wenn er zuvor gegenüber den Lernern hinreichend begründet wurde und es einen besonderen Anreiz zur gewissenhaften Führung des Portfolios gibt, z.B. indem es als alternatives Instrument der Leistungsbeurteilung herangezogen wird (siehe Hascher, 2007:299).

5.4.2

Überlegungen zur Gestaltung der Präsenzphase

Der aktuelle Bundesbildungsbericht sieht die Tendenz, dass seitens der Gesellschaft immer stärker die Erwartung an das Bildungswesen herangetragen wird, „[…] über eine umfassende individuelle Förderung von Fähigkeiten und Fertigkeiten [der Lernenden] den gesellschaftlichen Bedarf an angemessen qualifizierten Arbeitskräften langfristig zu sichern.“ (Weishaupt, 2010:151). Obwohl die pädagogisch-psychologische Forschung den Lehrkräften eine Vielzahl an Enrichment-Ansätzen vorgestellt hat, die dazu dienen sollen, den verschiedenen Lerngeschwindigkeiten und unterschiedlichen Lernertypen der Schüler Rechnung zu tragen, stoßen diese Methoden in einem klassischen Unterrichtskontext hinsichtlich ihrer Praktikabilität häufig an ihre Grenzen, wie bereits in Abschnitt 5.1 mit Blick auf die fehlenden zeitlichen Reserven angedeutet wurde. Der Einsatz des ICM ermöglicht jedoch gerade in der Phase der fachlichen Vertiefung eine vermehrte individuelle Förderung im Rahmen von diversen binnendifferenzierenden Maßnahmen. Um diesen Vorteil bestmöglich ausnutzen zu können, ist es jedoch erforderlich, nicht nur das Lehrmaterial für die vorgeschaltete individualisierte Phase der Inhaltserschließung sorgfältig zu erstellen, sondern darüber hinaus auch die Gestaltung der sich anschließenden Präsenzphase gewissenhaft zu planen. Damit der Übergang zwischen den beiden Phasen des ICM erfolgreich gemeistert werden kann, ist es sinnvoll, sich die wesentlichen Ziele der zweiten Phase genau vor Augen zu führen. Die Schüler sollen hier insbesondere 1. 2. 3.

mit Blick auf die in der ersten Phase vermittelten Inhalte eventuell aufgetretene Unklarheiten oder Verständnisschwierigkeiten beseitigen, die in der vorausgehenden Aneignungsphase neu erlernten Inhalte festigen und anwenden, indem sie ihrem Kenntnisstand entsprechende Übungen bearbeiten, und durch weiterführende Aufgaben Transferleistungen erbringen.

5.4 Das ICM als Chance und Herausforderung

65

Aus diesen Zielvorgaben wird ersichtlich, dass eine individuelle Förderung in jedem dieser drei Stadien erfolgen kann und muss. Die jeweiligen Schwerpunkte und mögliche Fördermethoden sollen im Folgenden kurz illustriert werden. Um in die Lage versetzt zu werden, während der Präsenzphase weiterführende Aufgaben zu lösen, muss bei jedem Schüler zunächst inhaltliche Klarheit über die in der ersten Phase des ICM neu erworbenen Kenntnisse herrschen. Daher sollte die Lehrkraft bei der Erstellung eines zeitlichen Rasters auch hinreichend Zeit für die Beantwortung konkret formulierter Schülerfragen mit einkalkulieren. Die von den Schülern vorgetragenen Verständnisprobleme können entweder durch Erklärungen der Lehrkraft beseitigt werden oder durch andere Lerner, wobei in diesem Fall dem Lehrer eine besondere Moderations- und Kontrollfunktion zu Teil wird, damit die Unklarheiten verbindlich und ohne unverhältnismäßig hohen Zeitverlust ausgeräumt werden können. Sofern sich die Probleme nicht ohne Weiteres klären lassen, ist ein separates Gespräch mit dem/den betreffenden Schüler(n) zu erwägen, während die übrigen Lerner bereits mit der Bearbeitung anderer Aufgaben beschäftigt sind. Auf diese Weise wird die Übungszeit für die Mehrheit der Lerngruppe möglichst groß gehalten. Bei der Klärung eventuell auftretender Schülerfragen ist außerdem darauf zu achten, dass die Antworten keine ungewollte Kompensation für das bewusste Übergehen der Inhaltserschließungsphase darstellen – die Antworten des Lehrers sollten also nicht in eine regelmäßig zu Stundenbeginn erfolgende Wiederholung der gesamten Inhalte der zur Verfügung gestellten Lernmaterialien ausarten, sodass die Schüler dazu verleitet werden, diesen präparativen Schritt auszusparen. Den Schülern muss bewusst gemacht werden, dass nur derjenige einen Nutzen aus Phase zwei ziehen kann, wer zuvor Phase eins ordentlich durchlaufen hat (siehe hierzu Handke/Schäfer, 2012:97). Alle Unklarheiten, die sich jedoch auf einzelne Elemente aus der Online-Phase zurückführen lassen, sollten demgegenüber in jedem Fall beseitigt werden, bevor die Schüler die Thematik weiter üben und vertiefen können. Im zweiten und dritten Stadium der Präsenzphase gilt die Maßgabe, dass alle Schüler aktiv sind und entsprechend ihrer Kenntnisse das Gelernte festigen und anwenden. Dabei sollen sie die Chance erhalten, ihr „motorisches, intellektuelles, emotionales und soziales Potenzial umfassend zu entwickeln.“ (Haag, 2010:128). Um diese Art der Individualisierung zu erreichen, sind entsprechende Differenzierungsmaßnahmen nötig, die bekanntlich an unterschiedlichen Hebeln ansetzen können (siehe hierzu ausführlich Saalfrank, 2008). Ich stimme mit Ludwig Haag darin überein, dass jegliche Art der inneren Differenzierung in der Regel zugleich auch ein selbstgesteuertes Lernen impliziert, da sich die Lerner „in weiten Teilen der Arbeit ohne direkte Unterstützung und Kontrolle beschäftigen“ (Haag, 2010:130). Sofern der Charakter der Aufgaben es zulässt, kann der Schüler dabei gezielt eigene Schwerpunkte setzen und Lerninhalte bestimmen. Das zweite Stadium dieser Phase sollte in seiner Eigenschaft als Übungsphase dabei jedoch vor allem „funktionale Aspekte von Selbständigkeit“ (Terminologie nach Haag, 2010:130) fördern. Hierunter ist das eigenständige Ausführen fachspezifischer Grundfertigkeiten zu verstehen, so z.B. die formale Analyse eines Gedichtes im Sprachenunterricht. Die Förderung der „produktiven Aspekte von Selbständigkeit“ (ibid.) sollte demgegenüber dem dritten Stadium vorbehalten sein, in dem vermehrt Transferleistungen und kritisches Denken im Zentrum der Arbeit stehen sollten. Als effektiver Lernbegleiter kann den Schülern in diesen Stadien wiederum ein Lerntagebuch oder Portfolio dienen, welches mit Arbeitsergebnissen oder besonderen „Werkstücken“ gefüllt wird und der eigenen Reflexion des Lernprozesses dient.

5 Das ICM als Chance

66

Damit die Schüler in dieser für den Lernprozess wichtigen Vertiefungsphase auf eine angemessene Lernsituation aufbauen können, ist es erforderlich, dass die betreuenden Lehrkräfte für eine Passung von Lerner und Lerngegenstand sorgen. Hierbei müssen sie insbesondere auf ein stimmiges Lernarrangement mit lernfreundlichem Klima achten, damit die Schüler zielgerichtet, diszipliniert und motiviert arbeiten können (siehe z.B. Pfeiffer, 2011:33f). Eine zentrale Bedeutung für die erfolgreiche Umsetzung der Anwendungsphase des ICM kommt zudem dem Rollenwechsel zu, den der Lehrer sowohl mental als auch im konkreten Umgang mit den Schülern vollziehen muss: Er betätigt sich nun nicht mehr als wissensvermittelnder Fachlehrer, sondern vielmehr als eine Art Lerncoach mit beratender Funktion. „Der Lerncoach […] versteht sich als Lernprozessbegleiter, der den Schüler darin unterstützt, sein individuelles ,Wie lerne ich?‘ zu verstehen und bewusst einzusetzen.“ (Nicolaisen, 2010:167). Er führt die Lerner somit nicht direkt zur Lösung, sondern ermöglicht ihnen eine eigene, selbst zu verantwortende Gestaltung des Lernprozesses. Dabei steht er den Schülern jedoch jederzeit mit geeigneten fachlichen und methodischen Hilfestellungen zur Verfügung, wie sie z.B. von Torsten Nicolaisen (2010:169–171) angesprochen werden. Dass der Lerncoach zur Erfüllung dieses Anspruchs selbst über entsprechend hohe Basisqualifikationen, speziell im Bereich der Fach-, Praxis- und Sozialkompetenz, verfügen muss, wird durch die Ausführungen in aktueller Fachliteratur bestätigt (siehe z.B. Handke/Schäfer, 2012:114–117).

5.5

Fazit

Das Ziel eines jeden Unterrichtes sollte es unter pädagogischen Gesichtspunkten sein, für alle Schüler optimale Lernbedingungen zu schaffen und sie bestmöglich im Prozess der Wissensaneignung zu unterstützen. Um die Leistungen von Schülern zu verbessern, führt daher kein Weg an individueller Förderung vorbei, da jeder Lerner einen eigenen Lernweg einschlägt und diesen mit unterschiedlichem Tempo und unter Zuhilfenahme anderer Hilfsmittel bewältigt. Hierbei eröffnet das ICM neue Ansatzmöglichkeiten, indem es in seinen beiden Phasen vielfältige Möglichkeiten zum selbstgesteuerten Lernen ermöglicht – einer Schlüsselqualifikation, die den Anforderungen unserer Gesellschaft in besonderem Maße entspricht. Bei der Anwendung des ICM wird der Schwerpunkt im schulischen Umfeld mehr auf die Prozess- denn auf die Inhaltsebene gelegt. Dadurch muss eine „Schule der Person“, wie sie Winfried Böhm (2009) in seinem Artikel favorisiert, keine Utopie mehr bleiben: In dem Moment, in dem es gelingt, für alle Schüler differenzierte Anforderungssituationen bereitzustellen, die ihrem realen Leistungsstand und Lerntyp entsprechen, wird eine eigene Pädagogik für besonders begabte (oder schwache) Schüler entbehrlich. Der Schüler würde durch den erlangten Freiraum als Individuum in den Mittelpunkt rücken und sich die Inhalte unter Berücksichtigung sowohl seines eigenen Lerntempos als auch seiner präferierten Lernkanäle erschließen, während der Lehrer verstärkt als spezifischer Lernberater fungieren würde, der die Lernsituation den Bedürfnissen der Schüler anpasst und den Lernprozess seiner Schüler aufmerksam verfolgt, um durch seine Diagnosetätigkeit ggf. weitere Fördermaßnahmen einzuleiten. Dabei ist es nicht zwingend erforderlich, dass das ICM zukünftig als alleiniges Unterrichtskonzept zur Anwendung kommen sollte und somit alle anderen Lernarrangements ablöst: Sein Einsatz muss sich der zentralen qualitätsbestimmenden Frage

5.6 Quellen

67

stellen, ob der angebotene digitale Inhalt – verglichen mit traditionellen Lehrmedien und Unterrichtsformen – einen didaktischen Mehrwert bietet. Darf mit guten Gründen angenommen werden, dass die mediengestützte außerunterrichtliche Inhaltsvermittlung die Unterrichtsqualität verbessern oder zumindest aufrecht erhalten kann, so ist die Verwendung des ICM im Schulunterricht gerechtfertigt. In welchen Kontexten diese über einen kürzeren oder längeren Zeitraum erfolgen kann, ist sicherlich von Unterrichtsthema zu Unterrichtsthema und von Lerngruppe zu Lerngruppe unterschiedlich und muss von den Lehrkräften immer wieder neu hinterfragt werden. Aus meinen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass bei Einhaltung einiger organisatorisch-präparativer Grundregeln im Inverted Classroom Model ein mit Blick auf die Schulpädagogik nicht zu unterschätzendes Potenzial verborgen liegt. Dieser Mehrwert ergibt sich aus dem gewonnenen zeitlichen Freiraum im Unterricht vor Ort, in dem Schüler durch ihre Lehrkräfte eine individuelle Förderung erfahren können, sodass ihre unterschiedlichen Begabungen berücksichtigt werden können. Dabei wird dem Zusammenhang, der zwischen der Förderung von Schülern und der Optimierung der Unterrichtsqualität besteht, Rechnung getragen, wie ihn u.a. Heinz-Peter Meidinger beschreibt: „Die allgemein wirksamste Begabungsförderung ist noch immer die Steigerung und Verbesserung der Unterrichtsqualität. Ein anforderungsorientierter, anspruchsvoller Unterricht auf hohem Niveau, der in allen Phasen auf Schüleraktivierung, auf einen effektiven Methodenmix individualisierender und kooperativer Lernformen setzt, wird auch in Zukunft das Kernstück jeder schulischen Begabungsförderung sein.“ (Meidinger, 2009:162) Und ohne jeden Zweifel kann das ICM einen Beitrag zur Verwirklichung dieses anforderungsorientierten, anspruchsvollen Unterrichts auf hohem Niveau leisten.

5.6

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5 Das ICM als Chance

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II Das ICM im Einsatz Dieser Abschnitt dieses Tagungsbandes widmet sich konkreten Anwendungsbeispielen aus einzelnen Fächern – von der Mathematik über die Medizin bis hin zur Musikpädagogik und den neuen Medien in der Lehrerbildung –, ohne dabei den Blick auf die konkrete Umsetzung der beiden Komponenten des ICM, die digital unterstütze Lernphase und die nachgeschaltete Präsenzphase aus den Augen zu verlieren. So zeigt Christian Spannagel, wie sich seine zentrale Mathematikvorlesung durch vorgeschaltete Videos nicht nur „umdrehen“ lässt, sondern er bietet auch Rezepte für eine effiziente Durchführung der nun primär für die Diskussion mathematischer Prozesse verwendeten Präsenzphase an. Wie die Kombination aus Inverted Classroom und „ProblemBased Learning“ im Rahmen einer Lehrveranstaltung im Masterstudiengang „Biomedical Engineering“ zu mehr Kreativität auf Seiten der Studierenden führen kann, diskutiert Clemens Möller in seinem Beitrag zu diesem Tagungsband. Karolin Schmitt-Weidmann stellt anschließend in ihrem Beitrag vor, wie die moderne Konzertpädagogik vom ICM profitieren kann, so dass möglichst viele Aspekte der sich wandelnden Musikkultur berücksichtigt werden. Alexander Sperl erörtert in seinem Beitrag die besonderen Vorteile des ICM für eine praxisnahe Lehrerbildung. Auf der Basis des Kurses „Medienproduktion“, eines Pflichtkurses im anglistischen Lehramtscurriculum, zeigt er wie mit multimedialen Lerneinheiten, die über das Virtuelle Zentrum für Lehrerbildung angeboten werden, Zeit für die Präsenzphase gewonnen werden kann, in der das erworbene Vorwissen nun in gemeinsamen Übungen praktisch angewendet werden kann. Die beiden abschließenden Beiträge erweitern den Inverted Classroom Ansatz von einzelnen Fächern auf den Gesamtkontext der Hochschullehre. Isabel Braun diskutiert dabei mit ihren Kolleginnen und Kollegen wie sich das ICM-Modell an die Bedürfnisse der Lehrenden einer Hochschule anpassen lässt und skizziert dies mit zahlreichen Beispielen. Abschließend zeigt Jürgen Handke auf, welche enormen Gewinne die Hochschulen durch klugen Einsatz des ICM für ihre Lehre erzielen können, vergisst dabei aber auch nicht, dass zur Realisierung des ICM allgemeine Rahmenbedingungen in den Studienordnungen verankert werden müssen.

6

Selbstverantwortliches Lernen in der umgedrehten Mathematikvorlesung

Christian Spannagel 1 In der Mathematik müssen nicht nur Inhalte, sondern insbesondere auch mathematische Denk- und Arbeitsweisen erlernt werden. Darüber hinaus wird von Studierenden erwartet, dass sie ein gewisses Maß an Selbstverantwortung für ihren eigenen Lernerfolg empfinden und auch entsprechend ihre Lernprozesse gestalten. In diesem Beitrag wird beschrieben, wie man eine Mathematikvorlesung derart umgestalten kann, dass sowohl der Erwerb mathematischer Prozesskompetenzen als auch die Selbstverantwortung der Studierenden an Bedeutung gewinnen. In der umgedrehten Mathematikvorlesung erarbeiten sich die Studierenden das Grundlagenwissen eigenständig anhand von Videos. Die Plenumssitzung dient anschließend als Raum für die gemeinsame Durchführung und Diskussion mathematischer Prozesse.

6.1

Es geht um mehr als nur Inhalte

In der Mathematik spielen Begriffe, Definitionen und Sätze eine wichtige Rolle. Studierende werden in Vorlesungen in bestimmte mathematische Teilgebiete eingeführt und erfahren dort, welche Begriffe in diesem Gebiet wichtig sind, welche Zusammenhänge zwischen diesen bestehen und welche Gesetzmäßigkeiten gelten. Dieses Wissen macht aber noch keinen Mathematiker und keine Mathematikerin aus. Viel wesentlicher ist, dass Studierende darüber hinaus lernen, Mathematik zu treiben, also mathematische Denk- und Arbeitsweisen selbst durchzuführen. Sie sollen keine Beweise lernen (womöglich noch auswendig), sondern beweisen lernen. Sie müssen lernen, Probleme zu lösen, mathematische Modelle zu bilden, in ihnen zu rechnen und die Ergebnisse zu verifizieren, verschiedene Repräsentationsformen wie Skizzen, Tabellen und Formeln zielgerichtet einzusetzen und die Fachsprache zu verwenden. Neben der Vermittlung inhaltlicher Ideen geht es somit insbesondere auch um den Erwerb zahlreicher Prozesskompetenzen (process as content; vgl. Parker/Rubin, 1966; Costa/Liebmann, 1997; Spannagel/Zendler, 2008). Für die Entwick_________________ 1

Ich danke Anne Nittmann für die kritische Durchsicht dieses Beitrags.

6 Selbstverantwortliches Lernen

74

lung dieser Kompetenzen ist in Vorlesungen meist kein Platz. Hierfür werden in der Regel zusätzliche Übungen angeboten, in denen Aufgaben bearbeitet und besprochen werden. Aber selbst Übungen werden oft vorlesungsartig abgehalten: Tutoren oder gute Studierende rechnen Lösungen an der Tafel vor, die anderen Studierenden kontrollieren ihre eigenen – falls sie sich selbst vorbereitet haben. Der Anreiz, sich selbst intensiv mit der Lösung eines Problems über einen längeren Zeitraum auseinanderzusetzen und dadurch die entsprechenden Prozesskompetenzen zu entwickeln, ist gering, wenn man erwarten kann, ohnehin bald die Lösung präsentiert zu bekommen. Vom Zuschauen allein lernt man nicht laufen. Darüber hinaus wird von Studierenden erwartet, dass sie selbstverantwortliche, selbstständige Lerner sind. Studieren wird in der Regel mit einer gewissen Eigenverantwortlichkeit und Eigeninitiative in Zusammenhang gebracht. Diese bringen die Studierenden aber aus der Schule (leider) oft nicht mit, auch wenn dort Selbstverantwortlichkeit ebenso zu den Bildungszielen gezählt werden kann. Studierende müssen das Studieren lernen. Selbstverantwortliches Lernen ist beim Studieren somit Voraussetzung und Ziel zugleich. Es geht also nicht nur um die Vermittlung inhaltsbezogener und prozessbezogener Kompetenzen, sondern auch um die Entwicklung einer gewissen Haltung. Studierende müssen lernen zu akzeptieren, dass sie selbst für ihren eigenen Lernerfolg verantwortlich sind. Gleichzeitig müssen sie auch die Bereitschaft entwickeln, sich eigene Ziele zu setzen und sich selbst Inhalte auch unter auftretenden Schwierigkeiten anzueignen. In welcher Weise wird aber die Haltung zum selbstverantwortlichen Lernen im typischen Vorlesungsbetrieb herausgefordert und gefördert? In diesem Beitrag zum Tagungsband wird beschrieben, wie Mathematikvorlesungen (inklusive dem Übungsbetrieb) derart umgestellt werden können, dass prozessorientierte Methoden verstärkt zum Einsatz kommen und dass selbstverantwortliches Lernen zum Grundprinzip der Veranstaltung erhoben wird. Dabei spielt der Inverted Classroom eine wesentliche Rolle (siehe Schäfer, Kapitel I in diesem Buch). Dessen Umsetzung im Sinne einer umgedrehten Mathematikvorlesung wird ausführlich erläutert. Dabei wird im Detail ausgeführt, wie Vorlesungsvideos in diesem Konzept eingesetzt werden und wie die Präsenzveranstaltung gestaltet wird. Im letzten Abschnitt wird das Konzept diskutiert und ein Ausblick auf zukünftige Entwicklungen gegeben.

6.2

Das Veranstaltungskonzept

Im Wintersemester 2011/12 wurde im Rahmen der Veranstaltung „Mathematische Grundlagen I (Primarstufe)“ an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg ein Konzept umgesetzt, das grundsätzlich auf selbstverantwortlichem Lernen basierte. Diese Veranstaltung wurde für Studierende des Grundschullehramts und der Sonderpädagogik angeboten und hatte allgemeine mathematische Grundlagen (Mengenlehre, Logik, Relationen und Funktionen) sowie grundsätzliche arithmetische Konzepte (natürliche Zahlen, Stellenwertsysteme, Teilbarkeit) zum Thema. Für viele Studierenden war dies auch die erste Mathematikveranstaltung an der Hochschule. Daher mussten die Studierenden hier auch (im Sinne von process as content) in die grundsätzlichen mathematischen Denk- und Arbeitsweisen eingeführt werden (Beweistechniken und Heuristiken zum Problemlösen). Zu den Präsenzveranstaltungen zählte eine wöchentliche Vorlesung und eine (fakultative) Übungsstunde. Die

6.2 Das Veranstaltungskonzept

75

Studierenden mussten im Rahmen von „Mathematische Grundlagen I (Primarstufe)“ eine Leistung im Umfang von 5 ECTS-Punkten (entspricht in etwa 150 Arbeitsstunden) erbringen. Über die Inhalte der Veranstaltung ist eine Klausur zu schreiben, allerdings erst ein Semester später in Verbindung mit Inhalten weiterer Veranstaltungen. Das Konzept wurde den Studierenden in der ersten Vorlesung in etwa im folgenden Wortlaut vorgestellt (die entsprechenden Aspekte werden dann im Anschluss näher beschrieben): Sie besuchen nun die Veranstaltung „Grundlagen der Mathematik I“, über die Sie Ihre Akademische Vorprüfung schreiben müssen. Sie selbst sind verantwortlich dafür, dass Sie sich die Inhalte der Veranstaltung aneignen und adäquat auf die Prüfung am Ende des zweiten Semesters vorbereiten. Und weil ich das wirklich ernst meine, gebe ich Ihnen heute alle Materialien an die Hand, die Sie dafür benötigen: Sie bekommen die komplette Vorlesung in Form von Videoaufzeichnungen, und Sie bekommen alle Übungsaufgaben und alle Lösungshinweise zu den Aufgaben heute, hier und jetzt. Mit diesen Materialien können Sie sich ab sofort selbstständig beschäftigen und auf die Prüfung vorbereiten. Sie werden etwa 150 Arbeitsstunden dafür benötigen. Sie können dies komplett selbstständig tun. Es gibt keine Anwesenheitspflicht. Sie können heute gehen, sich mit den Inhalten über das Semester hinweg befassen und zur Prüfung wiederkommen. Falls Ihnen dieser Gedanke Sorge bereitet: Sie brauchen keine Angst zu haben, wir lassen Sie natürlich nicht alleine, wenn Sie das nicht möchten. Wir helfen Ihnen dabei, durch das Themengebiet zu navigieren, und geben Ihnen Anregungen, in welcher Reihenfolge Sie sich mit welchen Themenbereichen beschäftigen sollten. Wir bieten Ihnen außerdem zahlreiche Unterstützungsangebote an: die Plenumssitzung (ehemals Vorlesung genannt), die Übungsstunden, den offenen Matheraum, das Online-Forum usw. All das sind Hilfsangebote, die Sie nutzen können, aber nicht nutzen müssen. Niemand wird kontrollieren, ob Sie in das Plenum oder in die Übungsstunden gehen. Niemand wird kontrollieren, ob Sie lernen und wie Sie lernen. In welcher Form Sie arbeiten, wann Sie sich Unterstützung holen und von wem: All das liegt in IHRER Verantwortung. Den Studierenden wurde also gleich in der ersten Sitzung deutlich gemacht, dass sie einerseits komplett für den eigenen Lernerfolg verantwortlich sind, auf der anderen Seite aber auch zahlreiche Unterstützungsangebote nutzen können, wenn sie das möchten. Dabei wird alles zum Unterstützungsangebot, selbst die Vorlesung (die treffender in Plenum umbenannt wurde, vgl. Bescherer/Spannagel/Zimmermann, 2012). Nichts ist Pflicht. Die Idee, die hinter den Leistungspunkten bzw. ECTS-Punkten steht, wird dabei ernst genommen: Die Arbeitsleistung von 150 Stunden ist von den Studierenden zu erbringen. Ob Sie einen gewissen Teil davon in Präsenzveranstaltungen ableisten oder nicht, liegt in ihrem eigenen Ermessen. Den Studierenden wurde außerdem empfohlen, sich zu dritt oder zu viert in einer Lerngruppe zusammenzuschließen und gemeinsam zu lernen. In diesem Rahmen wurde ebenfalls wieder der Unterstützungscharakter der hochschulischen Angebote hervorgehoben: Die Studierenden können mit ihrer Lerngruppe zu jeder Zeit an jedem beliebigen Ort lernen. Wenn sie dies aber in der Übungsstunde oder im offenen Matheraum tun, dann stehen

76

6 Selbstverantwortliches Lernen

ihnen Personen zur Verfügung (Tutorinnen und Tutoren oder Studierende in anderen Lerngruppen), die bei Bedarf helfen können und mit denen man sich austauschen kann. Die einzelnen Aspekte der Veranstaltung werden im Folgenden näher beschrieben. Die ersten beiden Aspekte – Vorlesungsvideos und Plenum – werden in den anschließenden Unterkapiteln nochmals im Detail dargestellt, weil sie wesentliche Elemente des Inverted Classroom im Rahmen des Veranstaltungskonzepts darstellen. Vorlesungsvideos: Die Studierenden erhielten zu Beginn des Semesters die komplette Vorlesung in Form von Online-Videos. Während des Semesters wurden ihnen zusätzlich Tipps gegeben, welche Vorlesungsvideos sie sich in Vorbereitung auf die Plenumssitzung der nächsten Woche anschauen sollten, falls sie daran teilnehmen möchten. Das Ansehen der Videos zu Hause war vom Aufwand her im Rahmen der zu erbringenden Leistungspunkte ohne weiteres abgedeckt. Plenum: In der Präsenzveranstaltung konnten offene Fragen geklärt und unverstandene Punkte in den Vorlesungsvideos aufgegriffen und diskutiert werden. Durch das Auslagern des Inputs in die Vorlesungsvideos stand in der Plenumssitzung genug Raum zur Verfügung, um gemeinsam nochmals Beispielaufgaben zu lösen und bestimmte Aspekte vertiefend aufzugreifen. Die Plenumssitzungen wurden dabei in der Regel lernerzentriert abgehalten, indem entsprechende Methoden wie beispielsweise das Aktive Plenum eingesetzt wurden (siehe Abschnitt 6.4 dieses Kapitels). Übungsheft: In früheren Veranstaltungen erhielten die Studierenden wöchentlich ein Aufgabenblatt, das zu lösen war und das in der Übungsstunde besprochen wurde. In der Woche darauf erhielten sie dann die Lösungen und das neue Aufgabenblatt. In dem hier vorgestellten Konzept erhielten die Studierenden gleich zu Beginn des Semesters ein Übungsheft mit allen Aufgaben und auch mit allen Lösungshinweisen. Zu manchen Aufgaben gab es dabei vollständige Lösungen (im Sinne von worked examples, vgl. Atkinson/Derry/Renkl/ Wortham, 2000), zu manchen Aufgaben unvollständige Lösungsbeispiele, und zu manchen gar keine Lösung. Die Aufgaben waren in inhaltlichen Kapiteln zusammengefasst. Es wurde nicht vorgegeben, mit welchen Aufgaben die Studierenden sich jeweils befassen sollten, sondern es wurde lediglich darauf hingewiesen, dass es sinnvoll ist, sich in einer bestimmten Woche mit den Aufgaben eines gewissen Kapitels zu befassen, weil diese Aufgaben zu den Vorlesungsvideos dieser Woche passen. Übungsstunden: Neben der Plenumssitzung wurden Übungsgruppen für ca. jeweils 20 Studierende gebildet, die von einer studentischen Tutorin bzw. einem Tutor betreut wurden. In den Übungsgruppen wurde nichts vorgerechnet, und die Tutoren wurden dazu angehalten, entsprechenden Anfragen zu „widerstehen“ (vgl. Bescherer/Spannagel/Zimmermann, 2012). Außerdem wurde durch die Tatsache, dass keine wöchentlichen Aufgabenblätter vorgegeben wurden, erreicht, dass die einzelnen Lerngruppen sich jeweils mit unterschiedlichen Aufgaben befassten und an unterschiedlichen Stellen im Übungsheft waren. Das Vorrechnen einer Aufgabe vor der Gesamtgruppe war somit wenig sinnvoll, weil sich ein Teil der Studierenden vielleicht noch gar nicht mit dieser Aufgabe beschäftigt hatte. Die Tutoren wurden hingegen instruiert, für Fragen zur Verfügung zu stehen, keine Lösungen zu verraten und ausschließlich strategische Tipps zu geben. Sie hatten also die Funktion von Lernberatern und nicht von Dozenten.

6.3 Die Vorlesungsvideos

77

Der offene Matheraum: Ein bestimmter Seminarraum wurde für das freie Arbeiten zu vorgegebenen Zeiten geöffnet (vgl. Zimmermann, 2012). Dieser Raum stand den Lerngruppen (nicht nur zu dieser, sondern auch zu anderen Veranstaltungen) zur Verfügung, um sich dort mit Aufgaben selbstständig zu befassen. Der offene Matheraum ermöglichte es somit Lerngruppen, auch andere Lerngruppen anzutreffen, mit denen sie sich gegebenenfalls austauschen konnten. Außerdem war zu bestimmten Öffnungszeiten auch ein studentischer Tutor anwesend, der ebenso helfen und strategische Tipps geben konnte. Online-Forum: In der E-Learning-Plattform Stud.IP wurde ein Bereich für die Veranstaltung eingerichtet, in der den Studierenden auch ein Online-Forum zur Verfügung stand. Die Studierenden wurden darauf hingewiesen, dass dort auch inhaltliche Fragen gemeinsam besprochen werden können. Es wurde darüber hinaus deutlich gemacht, dass sich der Dozent zunächst mit einer Antwort zurückhält, um den Dialog zwischen den Studierenden zu fördern. Lediglich wenn die Studierenden nicht selbst zu einer zufriedenstellenden Antwort gelangten, schaltete sich der Dozent ein. Ein wesentlicher Aspekt der Veranstaltung war die Umsetzung des Inverted Classroom: Es wurde keine Vorlesung mehr gehalten, sondern die Studierenden mussten sich selbstständig mit Vorlesungsvideos auf eine Plenumssitzung vorbereiten. Im Plenum wurde dadurch Zeit für Diskussionen und das gemeinsame Lösen von Aufgaben gewonnen. Diese beiden Aspekte – Vorlesungsvideos und Plenum – werden in den folgenden zwei Abschnitten genauer beschrieben.

6.3

Die Vorlesungsvideos

Die Vorlesungsvideos wurden in einem früheren Semester produziert und online gestellt (Fischer/Werner/Strübig/Spannagel, 2012). Zur Aufzeichnung wurde damals nochmal einmalig eine traditionelle Vorlesung gehalten, um den Produktionsaufwand gering zu halten. Die Vorlesung wurde dabei – wie in der Mathematik oft üblich – an der Kreidetafel gehalten. Daher eigneten sich Bildschirmvideoprogramme, wie sie häufig zur Aufzeichnung von Folienvorträgen eingesetzt werden, nicht. Stattdessen filmte eine studentische Hilfskraft von der Mitte des Hörsaals aus mit einer Videokamera das Geschehen vor der Tafel. Der Dozent trug ein Funkmikrophon, dessen Empfänger an die Videokamera angeschlossen war. Die Videos wurden nach der Aufzeichnung in kurze Videoclips geschnitten und auf YouTube hochgeladen (ähnlich wie bei Loviscach, 2011). YouTube wurde als Plattform gewählt, weil die Videos hier öffentlich zugänglich sind und als offene Bildungsmaterialien bereit stehen (open educational resources, kurz OER, vgl. Larbig, 2011). Ebenso können auch bei den Videos in YouTube-Kommentaren Fragen gestellt und beantwortet werden (was auch tatsächlich geschieht). Darüber hinaus lassen sich YouTube-Videos auf zahlreichen Endgeräten, auch auf mobilen wie beispielsweise Tablets oder SmartPhones, betrachten. So ist es Studierenden möglich, beim Arbeiten in der Lerngruppe mit Hilfe des SmartPhones einen Abschnitt einer Vorlesungsaufzeichnung nochmals anzusehen, der beispielsweise beim Lösen einer Aufgabe weiterhelfen kann. Abb. 6.1 zeigt ein Bild aus einer Vorlesungsaufzeichnung zum Thema Aussagenlogik.

6 Selbstverantwortliches Lernen

78

Abb. 6.1: Ausschnitt aus einem Vorlesungsvideo zum Thema Aussagenlogik

6.4

Das Plenum

Die Plenumssitzung fand wöchentlich in einem normalen Hörsaal statt. Von den insgesamt ca. 80 Studierenden waren in etwa 50 bis 60 regelmäßig anwesend. Die Studierenden kamen somit zum Großteil zum Plenum, obwohl explizit keine Anwesenheitspflicht herrschte. In diesen Sitzungen stand Raum für vielfältige Aktivitäten zur Verfügung, die im Folgenden beschrieben werden. In Fragerunden wurden offene Punkte und Fragen besprochen, die sich für eine Klärung in der Gesamtgruppe anboten. So konnten Studierende Probleme benennen, die in den Vorlesungsvideos nicht ausreichend geklärt wurden. Manchmal benannten die Tutorinnen und Tutoren in ihren Rückmeldungen aus den Übungsgruppen an den Dozenten auch im Vorfeld eines Plenums Probleme, die bei vielen Studierenden auftauchten und daher nochmals gemeinsam gründlich diskutiert und vertieft werden sollten. Für all diese Klärungsprozesse war ausreichend Zeit im Plenum vorhanden, weil die Vorträge in Vorlesungsvideos ausgelagert wurden. Darüber hinaus wurden Beispielaufgaben im Rahmen der Methode Aktives Plenum gemeinsam gelöst (Spannagel, 2011). Bei dieser Methode kommen in der Regel zwei Studierende an die Tafel: Einer übernimmt die Aufgabe des Schreibens, einer die der Moderation. Die beiden Studierenden haben nicht den Auftrag, die Aufgabe selbst zu lösen, im Gegenteil: Sie sollen sich so wenig wie möglich selbst um die Lösung der Aufgabe bemühen. Stattdessen sollen die Studierenden im Hörsaal Ideen zur Lösung äußern, Strategien vorschlagen, den nächsten Schritt diktieren. Alle geäußerten Beiträge werden vom Protokollanten an der

6.4 Das Plenum

79

Tafel festgehalten. Der Moderator behält die Handzeichen im Blick, ruft Studierende auf und bemüht sich darum, die Diskussion in Gang zu halten. Der Hörsaal denkt. Der Dozent hingegen sitzt in der letzten Reihe des Hörsaals und befindet sich somit nicht mehr im Sichtfeld der Studierenden. Dies ist wichtig, damit der Dozent nicht immer wieder um Hilfe gebeten wird. Den Studierenden wird dadurch bewusst gemacht, dass sie als Gruppe für den Erfolg bei der Problemlösung selbst verantwortlich sind. Der Dozent kümmert sich stattdessen unter anderem um die Aufrechterhaltung einer adäquaten Atmosphäre. So muss er (zumindest anfangs) immer wieder absolute Ruhe einfordern, damit die Beiträge der Studierenden auch von allen Personen im Hörsaal verstanden werden. Er weist darauf hin, dass Fragen und Ideen nicht mit dem Nachbarn besprochen, sondern im Plenum genannt werden sollen: Jeder Hinweis, jeder Einfall, jede Frage ist wichtig. Darüber hinaus gibt er methodische Hinweise an den Protokollanten und den Moderator, z.B. wenn die Diskussion ins Stocken gerät („Jetzt könnten Sie fragen, ob jemand eine Idee hat, wie man hier vorgehen könnte.“ oder „Nehmen Sie am besten einmal jemand anders dran, damit die Beiträge nicht immer von denselben Personen kommen.“). Außerdem muss er immer sehr aufmerksam die Lösungsansätze und Beiträge der Studierenden verfolgen, um gegebenenfalls einzuschreiten. Dies muss er zum Beispiel dann tun, wenn die Studierenden wirklich nicht mehr weiterkommen und einen Tipp benötigen, oder wenn ein Fehler unbemerkt an der Tafel stehen bleibt. In traditionellen Vorlesungen werden oft nur richtige und ideale Lösungswege präsentiert. In den Diskussionen des Aktiven Plenums hingegen tauchen Fehler auf, die beseitigt werden müssen, verschiedene Lösungsideen müssen gegeneinander abgewogen werden, Sackgassen müssen erkannt und neue Wege eingeschlagen werden. Dies entspricht viel eher den tatsächlichen mathematischen Prozessen als die Präsentation fertiger Lösungswege. Es werden also keine Beweise präsentiert, sondern die Studierenden beweisen selbst. Der Dozent erhält darüber hinaus auch einen viel besseren Eindruck davon, auf welchem Stand die Studierenden sind, wie sie denken und welche Fehler sie dabei machen. Die Methode Aktives Plenum kann auch mit der Ich-Du-Wir-Methode (englisch: ThinkPair-Share; Lyman, 1981) kombiniert werden. Hierbei beschäftigen sich die Studierenden zunächst alleine bzw. gemeinsam mit ihrem Sitznachbarn mit den Aufgaben. Anschließend werden die Lösungsideen gemeinsam im Aktiven Plenum zusammengetragen. Darüber hinaus können in Plenumssitzungen durchaus auch einmal Dozentenvorträge zu bestimmten Themen gehalten werden. So wurden beispielsweise im Wintersemester 2011/12 die Veranstaltungsinhalte im Vergleich zum Semester zuvor zum Teil geändert, sodass für bestimmte Themenbereiche keine Vorlesungsvideos vorlagen. Diese Inhalte wurden dann in vereinzelten Dozentenvorträgen vorgestellt und wiederum gleich aufgezeichnet, sodass sie im nächsten Semester im Sinne des Inverted Classroom eingesetzt werden können. In gleicher Weise standen diese Aufzeichnungen selbstverständlich auch denjenigen Studierenden des aktuellen Semesters sofort online zur Verfügung, die in dieser Plenumssitzung nicht anwesend waren. Insgesamt ist zu betonen, dass nicht eine methodische Monokultur (Dozentenvortrag in der klassischen Vorlesung) durch eine andere (z.B. Aktives Plenum in dem hier beschriebenen Konzept) ausgetauscht werden darf. Es sollte hingehen auch in Plenumssitzungen ein Wechsel zwischen Methoden stattfinden, damit die Aufmerksamkeit der Studierenden aufrecht erhalten wird und die Plenumssitzungen auch anregend und motivierend bleiben.

6 Selbstverantwortliches Lernen

80

6.5

Diskussion und Ausblick

In Befragungen und Feedback-Runden äußern die Studierenden immer wieder, dass sie das Vorhandensein der Vorlesungsvideos und das Veranstaltungskonzept insgesamt schätzen. Bei der Frage in der Mitte des Semesters, ob die Studierenden weiterhin den Inverted Classroom bevorzugen würden oder ob zur traditionellen Vorlesung gewechselt werden sollte, entschieden sich 91% für den Inverted Classroom. 2 Dies spricht für die Weiterführung und Weiterentwicklung der umgedrehten Mathematikvorlesung. In dem Veranstaltungskonzept werden insbesondere auch hohe Anforderungen an Dozenten gestellt: Zum einen müssen sie es zulassen, dass Videos von Vorträgen angefertigt und online gestellt werden. Fehler werden somit permanent einsehbar und abrufbar gemacht – auch von Kolleginnen und Kollegen. Dies erfordert eine gewisse Gelassenheit gegenüber eigenen Fehlern und insbesondere auch Kritikfähigkeit. Zum anderen müssen sie inhaltlich sehr sicher in ihrem Gebiet sein: In Phasen des Aktiven Plenums müssen sie schnell einschätzen können, ob auch unerwartete Lösungen und Ideen von Studierenden richtig sind oder an welchen Stellen Fehler enthalten sind. Sie geben letztlich in einer gewissen Hinsicht die Kontrolle an die Studierenden ab, und dies schürt Ängste vor Kontrollverlust. Nach einer gewissen Zeit des Einsatzes dieses Konzepts kann man als Dozent aber durchaus die Erfahrung machen, dass man stattdessen eine qualitativ andere Art der Kontrolle gewinnt: In traditionellen Vorlesungen hatte man zwar Kontrolle über die präsentierten Inhalte, aber nicht darüber, was bei den Studierenden „angekommen ist“. In lernerzentrierten Plenumsphasen hingegen gewinnt man einen Eindruck davon, was die Studierenden verstanden haben und was nicht, und kann entsprechend reagieren. Man gewinnt die Kontrolle über die Situation dadurch, dass man sich aus der Rolle des Präsentierenden herausnimmt, seine Aufmerksamkeit auf die Prozesse der Studierenden lenken und den Fortgang der Veranstaltung entsprechend (um)gestalten kann. In zukünftigen Weiterentwicklungen soll die Selbstlernphase mit den Videos zu Hause noch mehr in den Blick genommen werden. Es werden Unterstützungsmaßnahmen angeboten, welche die Tiefe der Verarbeitung der Vorlesungsvideos erhöhen soll: So werden Arbeitshefte mit Lückentexten bereit gestellt, die mit Informationen aus den Videos von den Studierenden während des Betrachtens gefüllt werden müssen, und Online-Tests zur Selbstüberprüfung werden angeboten, wie dies beispielsweise im Virtual Linguistics Campus umgesetzt ist (Handke/Schäfer, 2012). So soll verhindert werden, dass die Videos nur oberflächlich oder gar beiläufig betrachtet werden (siehe auch Handke, Abschnitt 4.3.3 in diesem Band). Das Beispiel der umgedrehten Mathematikvorlesung, wie sie hier beschrieben ist, zeigt, dass man durchaus die Selbstverantwortung der Studierenden auch im Rahmen einer klassischen Vorlesung ernst nehmen und lernerzentrierte Methoden in Plenumsphasen einsetzen kann. Insbesondere im Lehramtsstudium scheint dies wichtig zu sein. Schließlich sollen die Studierenden als zukünftige Lehrerinnen und Lehrer auch Selbstverantwortung bei ihren Schülern fördern und schülerzentrierte Unterrichtsmethoden zur Entwicklung von Prozess_________________ 2

Die Studie wurde von Maike Fischer im Rahmen ihrer Masterarbeit durchgeführt.

6.6 Quellen

81

kompetenzen einsetzen. Es hilft nichts, dies an der Hochschule nur zu predigen. Man muss es vorleben.

6.6

Quellen

Atkinson, Robert K./Derry, Sharon J./Renkl, Alexander/Wortham, Donald. 2000. Learning from examples: instructional principles from the worked examples research. Review of Educational Research Vol 70(2): 181–214. Bescherer, Christine/Spannagel, Christian/Zimmermann, Marc. 2012. Neue Wege in der Hochschulmathematik. Das Projekt SAiL-M. In: Zimmermann, Marc/Bescherer, Christine/Spannagel, Christian (Hrsg.). Mathematik lehren in der Hochschule. Didaktische Innovationen für Vorkurse, Übungen und Vorlesungen. Erscheint 2012 bei Franzbecker, Hildesheim, Berlin: 93–103. Costa, Arthur L./Liebmann, Rosemarie M. (Hrsg.). 1997. Envisioning process as content. Toward a renaissance curriculum. Thousand Oaks, CA: Corwin Press. Fischer, Maike/Werner, Julia/Strübig, Tim/Spannagel, Christian: YouTube-Vorlesungen. Der Mathematik-Professor zum Zurückspulen. In: Zimmermann, Marc/Bescherer, Christine/Spannagel, Christian (Hrsg.). Mathematik lehren in der Hochschule. Didaktische Innovationen für Vorkurse, Übungen und Vorlesungen. Erscheint 2012 bei Franzbecker, Hildesheim, Berlin: 67-77. Handke, Jürgen/Schäfer, Anna Maria. 2012. E-Learning, E-Teaching und E-Assessment in der Hochschullehre. München: Oldenbourg. Loviscach, Jörn. 2011. Mathematik auf YouTube: Herausforderungen, Werkzeuge, Erfahrungen. In: Friedrich, Steffen/Kienle, Andrea/Rohland, Holger (Hrsg.). DeLFI 2011, Lecture Notes in Informatics (LNI); P-188. Berlin: Springer: 91-102. Lyman, Frank. 1981. The responsive classroom discussion. In: Anderson, A. S. (Hrsg.). Mainstreaming Digest. College Park, MD: University of Maryland. Parker, J. Cecil/Rubin, Louis J. 1966. Process as content. Curriculum Design and the application of knowledge. Chicago: Rand McNally & Company. Spannagel, Christian. 2011. Das aktive Plenum in Mathematikvorlesungen. In: Berger, Lutz/Spannagel, Christian/Grzega, Joachim (Hrsg.). Lernen durch Lehren im Fokus. Berichte von LdL-Einsteigern und LdL-Experten. Berlin: epubli,: 97–104. Spannagel, Christian/Zendler, Andreas. 2008. Teaching Thinking in der Mathematik - Eine empirische Bestimmung zentraler Prozesse. Notes on Educational Informatics - Section A: Concepts and Techniques Vol 4(2): 33-46. Zimmermann, Marc. 2012. Der offene Matheraum als Baustein für aktives Mathematiklernen. In: Zimmermann, Marc/Bescherer, Christine/Spannagel, Christian (Hrsg.). Mathematik lehren in der Hochschule. Didaktische Innovationen für Vorkurse, Übungen und Vorlesungen. Erscheint 2012 bei Franzbecker, Hildesheim, Berlin: 57–66. [INT1] Larbig, Torsten. 2011. #OER – Offene Bildungsmedien: Ich will Taten sehen! (& Update zu #schultrojaner). http://herrlarbig.de/2011/11/08/oer-offene-bildungsmedien-ichwill-taten-sehen-update-zu-schultrojaner/; Zugriff am 14.4.2012.

7

Etablierung eines Qualitätssicherungssystems in einer virtuellen Firma Erfahrungen aus der Durchführung eines “Inverted Classroom/Problem-based Learning”-Kurses

Clemens Möller 1 Die Vermittlung des Stoffkomplexes „Qualitätssicherung in der biomedizinischen Forschung / Gute Laborpraxis (GLP)“ stellt den Dozenten vor zwei wesentliche Herausforderungen: (1) Die Studierenden bringen sehr heterogenes Vorwissen im Bereich Qualitätssicherung mit. (2) Die Anforderungen an die Qualitätssicherung ergeben sich häufig nicht aus der Kenntnis der reinen – zum Beispiel gesetzlichen – Grundlagen, sondern viel mehr daraus, diese häufig sehr abstrakten Vorgaben in der Praxis umzusetzen und diese Umsetzung zu organisieren. Um diesen Herausforderungen bei der Durchführung des Moduls bestmöglich zu begegnen, wurde die Veranstaltung als Kombination aus den Methoden Inverted Classroom und „Problem-based Learning“ durchgeführt. Ansatz war es hierbei, die Studierenden als Mitarbeiter der virtuellen Pharmafirma „ANYPHARMA AG“ in ihrer Firma ein Qualitätssicherungssystem etablieren zu lassen. Die Durchführung des Kurses wird trotz einer Reihe von Beobachtungen, die Verbesserungsmöglichkeiten für die Umsetzung des didaktischen Konzeptes aufzeigen, sowohl aus der Sicht des Dozenten als auch aus der Sicht der Studierenden (anonyme und persönliche Rückmeldungen) als großer Erfolg angesehen: Zum einen zeigten die Prüfungsergebnisse, dass alle Studierenden die primären Lernziele deutlich erreichten. Es wird als Erfolg des Konzeptes gewertet, dass eine Aktivierung der Studierenden zur Mitarbeit in hohem Maße gelungen ist. Zum anderen machte die Durchführung des Kurses allen Beteiligten sichtlich mehr Spaß und bot eine Abwechslung zu üblichen frontalen Vorlesungen. Die Studierenden schätzten ihren Arbeitsaufwand für diese Veranstaltung dabei als geringfügig überdurch_________________ 1

Der Autor dankt Herrn Prof. Dr. Christian Gerhards für Anregungen und Diskussionen zum „Problem-based Learning“.

7 Etablierung eines Qualitätssicherungssystems

84

schnittlich, ihren Lernzuwachs jedoch als deutlich überdurchschnittlich im Vergleich zu anderen Modulen ein.

7.1

Ausgangsvoraussetzungen

Der Kurs „Qualitätssicherung in der Biomedizinischen Forschung / GLP“ wird als Wahlpflichtmodul für fortgeschrittene Studierende im Masterstudiengang Biomedical Engineering / Biomedical Sciences (BME) an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Albstadt-Sigmaringen (HS AlbSig) am Campus Sigmaringen angeboten. Die Studierenden haben vor Aufnahme ihres BME Studiums bereits einen ersten Bachelor-Studiengang an einer Hochschule erfolgreich abgeschlossenen und haben – nach erfolgreicher Bewerbung und Aufnahme an der HS AlbSig – die Möglichkeit, im Studiengang BME einen weiterführenden forschungsorientierten Master-Abschluss in den biomedizinischen Wissenschaften zu erwerben. Das Masterstudium BME wird typischerweise in zwei Präsenzsemestern durchgeführt und mit einer 6-monatigen Master-Arbeit abgeschlossen. Da die Studierenden nach Abschluss verschiedener Bachelor-Studiengänge und aus unterschiedlichen Hochschulen (Universitäten und Fachhochschulen bzw. Hochschulen für angewandte Wissenschaften) in den Masterstudiengang BME an der HS AlbSig wechseln, bringen die Studierenden sehr heterogene Vorbildungen im Bereich Qualitätsmanagement/Qualitätssicherung mit: Einerseits nehmen an dem Kurs Studierende teil, die bereits im Rahmen ihrer Praktikums- oder Bachelorarbeiten oder im Rahmen von Berufstätigkeiten in Firmen unter Qualitätssicherungsystemen gearbeitet oder gar bei der Einführung derartiger Systeme mitgewirkt haben. Andererseits nehmen auch Studierende teil (speziell Studierende, die von Universitäten an die HS AlbSig gewechselt sind), die in ihrem bisherigen Studium weder theoretische (aus Vorlesungen) noch praktische (aus Arbeiten in betrieblichem Umfeld) Vorkenntnisse oder Erfahrungen gesammelt haben. Die erste Anforderung an den durchzuführenden Kurs ergibt sich somit aus dem Anspruch, sowohl den Studierenden mit Vorbildung Lernanreize zu bieten und neue Stoffinhalte zu vermitteln, aber auch die Studierenden mit geringerer (bis keiner) Vorbildung in diesem Bereich nicht mit zu großen unbekannten Stoffmengen zu konfrontieren, bzw. auch diese Studierenden aktiv in das Unterrichtsgeschehen einzubinden. Eine zweite Herausforderung an die Vermittlung des Stoffes „Qualitätssicherung in der Biomedizinischen Forschung / GLP“ besteht darin, die häufig sehr abstrakten (z.B. gesetzlichen) Vorgaben in der Praxis umzusetzen und diese Umsetzung zu organisieren. Bei diesen Umsetzungen sind häufig auch psychologische Aspekte und Fragestellungen (z.B. ob sich ein Wissenschaftler durch Vorgaben der Qualitätssicherung und resultierenden Dokumentationsaufwand in seiner Kreativität eingeschränkt fühlt) zu beachten.

7.2

Lernziele

Als primäres Lernziel der Veranstaltung wurden vertiefte Kenntnisse über das Qualitätssicherungssystem „Gute Laborpraxis (GLP)“ vorgesehen. Da die meisten Fragestellungen der Qualitätssicherung sich nach Erfahrung des Dozenten in den Firmen indirekt aus dem Zu-

7.3 Ansatz und konkrete Umsetzung

85

sammenspiel der gesetzlichen Vorgaben mit den praktischen Arbeiten in verschiedenen Teams ergeben, wurde als sekundäres Lernziel insbesondere die Selbstorganisation des Einzelnen und die Organisation und Zusammenarbeit der Gruppe, die implizit gestellte Aufgabe zu lösen, angestrebt. Die Details zu den fachlichen Inhalten und Lernzielen sind in der Modulbeschreibung [INT1] festgehalten.

7.3 7.3.1

Ansatz und konkrete Umsetzung Studierende als Mitarbeiter einer virtuellen Pharmafirma

Um den oben beschriebenen Herausforderungen bei der Durchführung des Kurses bestmöglich zu begegnen, wurde die Veranstaltung „Qualitätssicherung in der biomedizinischen Forschung / GLP“ im Wintersemester 2011/2012 als Kombination der Methode Inverted Classroom mit dem vor allem in der medizinischen Lehre erfolgreich eingesetzten „Problem-based Learning“ (Shoemaker, 1960; Dolmans et al., 2002) umgesetzt. Ansatz war es, die Studierenden als Mitarbeiter der fiktiven virtuellen Pharmafirma „ANYPHARMA AG“ in ihrer Firma ein Qualitätssicherungssystem etablieren zu lassen. Die Vermittlung konkreter Inhalte (insbesondere regulatorischer Rahmenbedingungen) in Form des Inverted Classrooms, d.h. durch das Selbststudium vorbereiteter Unterlagen in Eigenarbeit zu Hause, ermöglichte den Studierenden, die bereits umfangreiche Vorkenntnisse mitbrachten, die vorbereiteten Unterlagen nur kurz durchzusehen, um den individuellen Wissensstand mit dem erwarteten Wissensstand abzugleichen. Studierende hingegen, die geringe bis keine Vorkenntnisse über Qualitätssicherung hatten, mussten (um sinnvoll an dem Kurs teilnehmen zu können) die Unterlagen zur Vorbereitung auf die Präsenzphasen sorgfältiger durcharbeiten bzw. wo für das Verständnis nötig auch weitere Quellen hinzuziehen. In den Präsenzphasen wurden die Studierenden zu aktiver Beschäftigung mit dem Stoff angeregt und der Umgang mit konkreten Inhalten und Fragestellungen geübt, wodurch das Wissen über den Stoff und der Umgang mit dem Stoff gefestigt und die Übertragung des Wissens in eine zumindest fiktive Praxis geübt wurde.

7.3.2

Vorbereitung und Organisatorisches

Für den Kurs wurden acht Präsenzveranstaltungen im 14-tätigen Rhythmus mit jeweils drei Zeitstunden angesetzt (entsprechend zwei Semesterwochenstunden). Vor Beginn der Veranstaltung wurde auf der ILIAS-E-Lernplattform, die an der Hochschule für alle Studierenden verfügbar ist, ein Kurs mit einer Ordnerstruktur eingerichtet, in dem umfangreiche Informationen für die Studierenden abgelegt wurden (siehe Tab. 7.1). Diese umfassten zum Teil aufbereitete Informationen (Impulsvorträge, Präsentationsfolien und Kurzfassungen zur Einführung eines Qualitätssicherungssystems) als auch Primärinformationen über den zu bearbeitenden Stoff (insbesondere Gesetzestexte und regulatorische Rahmenbedingungen zur „Guten Laborpraxis“ GLP sowie wissenschaftliche Texte mit Details zu Experimenten) sowie Links zu weiteren Internetquellen zur Vertiefung. Des Weiteren wurden auf der Lernplattform Ordner eingerichtet, in denen die zu benennenden Arbeitsgruppen eigenständig Dokumente einstellen und austauschen konnten, und ein Bereich für Forumsdiskus-

7 Etablierung eines Qualitätssicherungssystems

86

sionen angelegt, um eine Möglichkeit zu bieten, unabhängig von den Präsenzveranstaltungen über auftretende Fragestellungen zu diskutieren. Tab. 7.1: Ordnerstruktur im E-Learning System ILIAS Ordnerbezeichnung

Inhalt

Abgabe Qualitätshandbuch Agenden und Protokolle

In diesen Ordner wurde durch die Studierenden das fertig erstellte Qualitätshandbuch eingestellt. Zu jeder Präsenzveranstaltung wurde vorab eine Agenda und nach der Veranstaltung ein Protokoll erstellt, die in diesem Ordner abgelegt wurden. Idee für diesen Ordner war, ein Forum zu bieten, um inhaltliche Diskussionen auch außerhalb der Präsenzphasen führen zu können. Hierfür wurde das Forum nicht genutzt. Es wurde aber von den Studierenden genutzt, um Hinweise zu geben, welche offenen Punkte in folgenden Sitzungen behandelt werden sollten und bot daher eine gute Hilfestellung zur Erstellung der Agenden für die Sitzungen. Verschiedene Versionen von Dokumenten (insbesondere Standardarbeitsanweisungen, Template und Listen), die von der Gruppe „Qualitätssicherung“ erstellt wurden. Verschiedene Versionen von Dokumenten (insbesondere Standardarbeitsanweisungen, Template und Listen), die von der Gruppe „Wissenschaftler“ erstellt wurden. Vorbereitete Präsentationen (Videolinks und Powerpoint) zum Eigenstudium. Vertiefende Literatur sowie Links zu Internetquellen zu den Themen Qualitätssicherung und GLP

Diskussionen

Gruppe Qualitätssicherung – Dokumente Gruppe Wissenschaftler – Dokumente Impulse Literatur, Materialien und Links zu QS und GLP Temporärer Arbeitsordner

7.3.3

Über diesen Ordner tauschten die Studierenden frühe Versionen von Dokumenten aus.

Ablauf

Da den Studierenden die Konzepte Inverted Classroom und „Problem-based Learning“ vor Beginn des Kurses nicht bekannt waren, wurden diese zu Beginn der ersten Präsenzveranstaltung durch den Dozenten in Form eines kurzen Impulsvortrags vorgestellt. Hierbei wurde sowohl der lerndidaktische Hintergrund des „Problem-based Learnings“ kurz erläutert, als auch erläutert, warum dieses Konzept für diesen Kurs ausgewählt wurde. Anschließend wurde den Studierenden das (fiktive) pharmazeutische Unternehmen „ANYPHARMA AG“ vorgestellt und es teilten sich die Studierenden als Mitarbeiter verschiedener Bereiche der ANYPHARMA AG ein. Die Studierenden erhielten dann ein (fiktives) „Memo“ (d.h. eine firmeninterne Notiz) des pharmazeutischen Unternehmens (siehe Abb. 7.1). Aus diesem Memo ergab sich implizit (nach Studium verfügbarer Literatur und moderierter Dis-

7.3 Ansatz und konkrete Umsetzung

87

kussion) die Aufgabenstellung („Etablierung des Qualitätssicherungssystems Gute Laborpraxis (GLP) in einer Abteilung der ANYPHARMA AG“).

ANYPHARMA AG MEMO AN: Management VON: Jonathan Anyone DATUM: 6.10.2011 Als Nebenwirkung von zahlreichen Arzneimittelwirkstoffen wurde eine Verlängerung des QT-Intervalls im EKG beobachtet. Solch eine Verlängerung des QT-Intervalls im EKG ist mit potenziell lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen („Torsades de Pointes“) korreliert (Noord et al., 2010). Präklinische Daten für das Risiko neuer pharmazeutischer Wirkstoffe, derartige Arrhythmien zu induzieren, werden von den Zulassungsbehörden verlangt. Bitte um Einladung zu einer Besprechung mit Wissenschaftlern und Qualitätssicherung. CONFIDENTIAL – VERTRAULICH

Abb. 7.1 Fiktives Memo der virtuellen Firma, aus der sich die Aufgabenstellung des Kurses ergab.

Die weiteren Veranstaltungen waren durch verschiedene Arbeitsphasen geprägt, die schwerpunktmäßig nach dem Inverted Classroom Model abgehalten wurden: (1)

In individuellen Arbeitsphasen wurden insbesondere bestimmte Aspekte rechtlicher Rahmenbedingungen im Eigenstudium erarbeitet und Vorentwürfe zu Dokumenten vorbereitet. Hierfür wurden den Studierenden durch den Dozenten vor allem Präsentationen zu bestimmten Sachverhalten zum Eigenstudium zur Verfügung gestellt.

(2)

Die Hauptarbeiten fanden in (teilweise betreuten) Gruppenarbeitsphasen statt, in denen unterschiedlich zusammengesetzte Kleingruppen gemeinsam Teilaspekte bearbeiteten. Hierbei wurde auf die in den individuellen Arbeitsphasen vorbereiteten Wissensbausteine, Konzepte und Dokumententwürfe zurückgegriffen und es wurden Dokumente weiter vorbereitet. Die in den Gruppenarbeitsphasen erarbeiteten Dokumente, Listen, Vorlagen und Prozessbeschreibungen sowie die gewonnenen Erkenntnisse wurden wiederum in folgenden Kursphasen vorgestellt. Die Gruppenphasen waren die wesentlichen Erarbeitungselemente der Veranstaltung. Die in den Gruppenphasen zu bearbeitenden Aufgabenstellungen ergaben sich häufig aus den Diskussionen der Kursphasen.

(3)

Ein drittes Arbeitselement waren Kursphasen, in denen der gesamte Kurs gemeinsam den aktuellen Status sowie offene zu lösende Herausforderungen besprach. In diesen wurden auch Ergebnisse der Gruppenarbeitsphasen sowie der in-

7 Etablierung eines Qualitätssicherungssystems

88

dividuellen Arbeitsphasen vorgestellt und Impulsvorträge im Plenum durch den Dozenten und Studierende gehalten. Über den größten Teil des Kurses nahmen die Studierenden dabei kontinuierlich die Rollen der Mitarbeiter der „ANYPHARMA AG“ ein und erarbeiteten weitgehend selbständig wichtige (und insbesondere unter Qualitätssicherungsprogrammen notwendige) Aspekte. Hierzu gehörten zum Beispiel das Erstellen von einheitlichen Vorlagen für Dokumente und einer Dokumentensteuerung (d.h. Organisation der Sicherstellung der Nutzung gültiger Dokumentversionen), das Erstellen eines Organigramms mit unter GLP erforderlichen Funktionsbeschreibungen, das Erstellen von Standardarbeitsanweisungen, das Führen von Sitzungsprotokollen sowie „To-Do“-Listen und Nachhalten dieser Listen usw. Der Dozent nahm während der meisten Gruppenarbeitsphasen und Kursphasen die Rolle eines „Moderators“ oder „externen Beraters“ ein, der die Diskussionen der Studierendengruppen mit eigenen Erfahrungen und Einschätzungen kommentierte oder hinterfragte, um diese zielführend zu lenken. Dies war notwendig, damit innerhalb der begrenzten Zeit einerseits relevante Ergebnisse erreicht werden konnten, andererseits aber auch ein gruppenübergreifender einheitlicher Lernerfolg gesichert werden konnte.

7.3.4

Leistungsnachweis

Als Leistungsnachweis erstellten die Gruppen gemeinsam ein Qualitätshandbuch für die fiktive „ANYPHARMA AG“ mit den in den Gruppen erarbeiteten Dokumenten (insbesondere Standardarbeitsanweisungen (SOPs) und Prozessbeschreibungen) für das (in der Firma einzuführende) Qualitätssicherungssystem GLP und stellten die Kapitel aus diesem Handbuch sowie die zu berücksichtigenden (gesetzlichen und organisatorischen) Rahmenbedingungen im Plenum vor.

7.4 7.4.1

Ergebnisse und Diskussion Allgemeines

Das Thema Qualitätssicherung wird von vielen Studierenden und Wissenschaftlern als eher trockener und wenig Kreativität zulassender Stoff wahrgenommen, der in der Wahrnehmung Vieler im Wesentlichen aus verschiedenen Gesetzestexten, Standardarbeitsanweisungen und dem Führen von Listen (bzw. dem „Produzieren von viel Papier“) besteht. (Dies zeigt sich auch darin, dass die Abkürzung GLP, eigentlich „Good Laboratory Practice“ bzw. „Gute Laborpraxis“, gelegentlich ironisch übersetzt wird als „Giant Lots of Paper“, d.h. „gigantische Mengen Papier“). Wie oben dargestellt war ein Kernziel des Kurses aufzuzeigen, dass sich wesentliche Herausforderungen der Arbeit in der Qualitätssicherung aus der Interpretation und praktischen Umsetzung der meist abstrakten Gesetzestexte ergibt, und dass dabei wesentliche Herausforderungen nicht im „Auswendiglernen von Gesetzestexten“ oder dem „Produzieren von Papier“ bestehen, sondern sich aus dem Prozess der Umsetzung ergeben (Erkennen von Problemen in der Umsetzung und Entwickeln von Problemlösungsstrategien, Selbst- und Gruppenorganisation (angelehnt an eine reelle Firmensituation), Interpretationsräume von Gesetzestexten, psychologische Hemmnisse bei der

7.4 Ergebnisse und Diskussion

89

Einführung eines Qualitätssicherungsprogrammes usw.). Ebenfalls musste mit der heterogenen Vorbildung der Studierenden im Bereich der Qualitätssicherung sowie dem sehr unterschiedlichen Lernverhalten und Engagement der Studierenden umgegangen werden und dabei sichergestellt werden, dass alle Studierenden das primäre Lernziel (Kenntnisse über das Qualitätssicherungssystem GLP) erreichen. Aus dem Verlauf der Diskussionen in den Gruppen- und Kursphasen konnte der Dozent schnell den deutlichen Eindruck gewinnen, dass - nicht überraschend - einige Teilnehmer des Kurses sich erheblich stärker engagierten und damit deutlich stärker zur Ergebnisfindung beitrugen als andere. Dieser Eindruck wurde zum Teil durch von den Teilnehmern gehaltene Impulsvorträge revidiert, in denen sich zeigte, dass einige der in den Diskussionen weniger dominanten Teilnehmer sich umfangreiche und fachlich sehr fundierte Gedanken zu Teilaspekten gemacht hatten, in den häufig frei geführten Diskussionen jedoch Schwierigkeiten hatten, sich einzubringen. Der Dozent gewann daraus den Eindruck, dass insbesondere das primäre Lernziel von allen Studierenden in vollen Umfang erreicht wurde. Dieser Eindruck wurde durch das von den Arbeitsgruppen erstellte Qualitätshandbuch bestätigt.

7.4.2

Evaluationsergebnisse

In einer abschließenden anonym durchgeführten Evaluation bestätigten die Studierenden diesen Eindruck aus ihrer Sicht und schätzten ihren Wissens- und Kompetenzzuwachs in diesem Modul als „überdurchschnittlich“ (im Vergleich zu anderen Modulen) ein (Mittelwert: 4,0/5 Punkte; die nach Selbsteinschätzung „durchschnittlich in einem Modul erworbene Menge an Wissen und Kompetenzen“ entspräche 3,0/5 Punkten). In der Evaluation wurde ebenfalls genannt, dass die Unterrichtsform (bzw. die Aufgabenstellung) stärker motivierend gewirkt hätte als eine frontale Unterrichtsform (4,2/5 Punkte). Insbesondere bestätigten die Studierenden, dass sie nach ihrem Eindruck in dem Kurs einen Einblick in die tatsächlichen Schwierigkeiten bei der Implementierung eines Qualitätssicherungssystems erhalten hätten und der „trockene“ Stoff für sie sehr anschaulich geworden sei. Die Studierenden gaben dabei an, dass sie für das Modul im Schnitt geringfügig mehr Zeit aufgewandt hätten als für andere Module der gleichen nominalen Stundenzahl (3,3/5 Punkte).

7.4.3

Beobachtungen und Lernergebnisse des Dozenten

Für den Dozenten zeigten sich in der Durchführung des Kurses verschiedene Herausforderungen und Lerneffekte, die im Folgenden dargestellt werden: x

Insbesondere zu Beginn des Kurses herrschte unter den Studierenden ein gewisses Maß an Unsicherheit über den Ablauf des Kurses. Dies ergab sich daraus, dass die Studierenden zwar mit einer Situationsbeschreibung konfrontiert wurden, das darin enthaltene (zu lösende) Problem aber zunächst nicht eindeutig definiert war, und ihnen diese Kursform bis dato unbekannt war. Damit war für die Studierenden auch der Weg zur Bearbeitung des (implizit) gestellten Problems nicht eindeutig definiert. Es war für den Dozenten hier zu Beginn schwierig einzuschätzen, wie lange diese Unsicherheit ausgehalten werden sollte, um den Studierenden zu ermöglichen, selbständig eine hin-

90

7 Etablierung eines Qualitätssicherungssystems reichend präzise Problemdefinition und damit Lösungsfindung zu organisieren, oder stattdessen die Diskussion auf die Lösungsfindung hin zu steuern. Hierfür gibt es vermutlich keine allgemein gültige Regel, aber der Dozent hält es für wichtig, diese Unsicherheitsphasen zuzulassen, da die Organisation des Problemlösungsprozesses als wesentliches Lernelement angesehen werden sollte. Insbesondere zu Beginn des Kurses waren dennoch stärker steuernde Eingriffe des Dozenten nötig, diese konnten jedoch mit zunehmender Einarbeitung der Studierenden in den Stoff und mit zunehmender Sicherheit der Studierenden mit dem neuartigen Lehrkonzept deutlich reduziert werden. Ab der vierten Sitzung (von acht) nahm die Eigeninitiative der Studierenden so sehr zu, dass die Studierenden im Wesentlichen selbständig organisiert arbeiteten und die Eingriffe des Dozenten sich auf leichte steuernde Hinweise und auf die Beantwortung konkreter fachlicher Fragen beschränkten.

x

Zu Beginn des Kurses war der Dozent unsicher, ob bzw. wie eine ausreichende Ergebnissicherung der Gruppendiskussionen in dieser Kursform erreicht werden kann. Der Verlauf des Kurses und die gehaltenen Kurzvorträge der Kleingruppen und einzelnen Teilnehmer zerstreuten diese Bedenken. Eine gruppenübergreifende Ergebnissicherung wurde auch durch die sorgfältige Führung von Protokollen, die der Dozent für alle Sitzungen einforderte, sichergestellt. Hierfür erschien insbesondere in den ersten drei Sitzungen eine recht starke Steuerung der Veranstaltungen durch den Dozenten notwendig.

x

Die Anzahl der Teilnehmer an dem Kurs war kritisch und am unteren Ende der Größe, mit der ein solcher Kurs sinnvoll erscheint: Aufgrund ungünstiger organisatorischer Rahmenbedingungen (Kompatibilität der Stundenpläne) meldeten sich für die Veranstaltung nur sieben Studierende an (der Dozent hatte mit etwa 20 Teilnehmern gerechnet). Untergruppen für die Gruppenarbeitsphasen hätten vermutlich bei einer größeren Zahl an Teilnehmern erheblich besser definiert und lebendigere Diskussionen geführt werden können.

x

Im Rückblick würde der Dozent den Anspruch, den er an die Moderation der Diskussionen anlegt, eher höher ansetzen und sich im Gegenzug aber weniger stark inhaltlich/fachlich einbringen.

x

Für den Kurs wurde das E-Learning System ILIAS, welches an der HS AlbSig als campusweite Installation vorhanden ist, zum Dokumentenaustausch und für Gruppendiskussionen außerhalb der Präsenzphasen verwendet. Zwar bietet ILIAS verschiedene vorteilhafte Möglichkeiten (Forumsdiskussionen, WIKI, Dokumentenaustausch mit zeitlichen Einschränkungen, Videoeinbettung usw.). Jedoch hat sich dieses System (in der an der HS AlbSig verfügbaren Version) als technisch für diese Kursform nicht sehr gut geeignet erwiesen, da (nach Einschätzung des Dozenten) elementare Funktionen nicht benutzerfreundlich implementiert waren (z.B. separate Anmeldung erforderlich (kein „Single Sign-On“), automatischer Logout nach relativ kurzer Inaktivitätszeit, kein „Drag-and-Drop“ von Dokumenten, aufwändige Ordnernavigation, keine gemeinsame Online-Dokumenterstellung und -bearbeitung, keine Uploadmöglichkeit von Ordnern (inzwischen implementiert), relativ aufwändige Inaktivitätsschaltung von Kurselementen usw.). Für eine Neukonzeption der Veranstaltung wird eine Ergänzung

7.5 Quellen

91

des ILIAS-Systems durch andere Systeme, die notwendige Komponenten benutzerfreundlicher implementieren, in Erwägung gezogen. x

Die Präsenzphasen waren als 14-tägige Treffen mit jeweils drei Stunden Dauer konzipiert. Zu Beginn des Semesters waren diese 14 Tage Unterbrechungen zwischen den Präsenzphasen deutlich zu lang, da der Stoff und die resultierenden Fragestellungen noch nicht ausreichend eingeführt waren, um den Studierenden in den 14 Tagen ausreichend Motivation zur Eigeninitiative und Eigenarbeit zu geben. Ebenfalls war die Sitzungsdauer von jeweils drei Zeitstunden zu kurz, um innerhalb dieser Zeit zunächst in einer Kursphase eine Situationsaufnahme zu machen, Aufgaben in Kleingruppen zu diskutieren und in einer abschließenden Kursphase wiederum eine Ergebnissicherung zu erlauben. Für die Wiederholung der Veranstaltung wird der Kurs daher voraussichtlich in jeweils vier Zeitstunden in wöchentlichem Rhythmus, dafür nur über sechs Wochen des Semesters, konzipiert. Aus diesen Beobachtungen ergeben sich einige Verbesserungsmöglichkeiten für eine Wiederholung des Moduls. Dennoch wird sowohl aus der Sicht des Dozenten als auch aus der Sicht der Studierenden (anonyme und persönliche Rückmeldungen) die Durchführung des Kurses in dieser Konzeption als großer Erfolg angesehen: Zum einen erreichten alle Studierenden mindestens die primären Lernziele, zum anderen machte die Durchführung des Kurses allen Beteiligten deutlich mehr Spaß und bot eine Abwechslung zu üblichen frontalen Vorlesungen. In einer Neukonzeption des Kurses werden die Beobachtungen aus dieser ersten Kursdurchführung berücksichtigt und der Kurs in seiner technischen Organisation (insbesondere zeitliche Organisation und IT) entsprechend modifiziert. Der Dozent hofft für eine neue Kursdurchführung auch auf mehr Teilnehmer, sodass lebendigere Diskussionen geführt werden können.

7.5

Quellen

Dolmans, D.H./Gijselaers, W.H./Moust, J.H./de Grave, W.S./Wolfhagen, I.H./van der Vleuten C.P. 2000. Trends in research on the tutor in problem-based learning: conclusions and implications for educational practice and research; Med Teach 24: 173–180. van Noord, Charlotte/Eijgelsheim, Mark/Stricker, Bruno H. Ch. 2010. Drug- and non-drug-associated QT interval prolongation; Br J Clin Pharmacol 70:1; 16-23. Shoemaker, H. 1960. The functional context method of instruction. Human Resources Research Office, George Washington University. IRE Transactions and Education, V-E3(2). Alexandria, VA: 52–57. [INT1] Modulbeschreibungen der Hochschule Albstadt-Sigmaringen. http://www.hsalbsig.de/studium/Master_BiomedicalEngineering/seiten/module.aspx; Zugriff am 1. Nov 2011.

8

Das ICM als Chance für die moderne Konzertpädagogik

Karolin Schmitt-Weidmann Das ICM, welches ursprünglich aus dem Schul- und Hochschulkontext stammt, soll in diesem Artikel auf seine Anwendbarkeit auf die moderne Konzertpädagogik überprüft werden. Nach einem kurzen Überblick über aktuelle Formen und Ziele der Musikvermittlung folgt eine Ausführung der Vorteile und Chancen, welche die Anwendung des ICM in diesem Bereich bieten kann. Dabei werden die im Vergleich zum Schul- und Hochschulkontext unterschiedlichen Voraussetzungen des Konzertzusammenhanges für die Umsetzung des ICM berücksichtigt. Die beschriebenen Vorteile werden schließlich anhand konkreter Beispiele zu Form und Inhalt einer Webpräsenz illustriert, welche eine lebendige Kommunikation zwischen Konzertbesuchern, Künstlern und Wissenschaftlern fördert und möglichst viele Aspekte einer sich wandelnden Musikkultur berücksichtigt. Somit wird gezeigt werden, wie eine mehrdimensionale und kreative Art von Musikvermittlung, die weit über reine Wissensvermittlung hinaus geht, den Konzertsaal neu erfinden, Verknüpfungen und aktiven Austausch herstellen und zu einer Wahrnehmungserweiterung aller Beteiligten beitragen kann.

8.1

Einführung

Konzertbesuche stellen einen wichtigen Bestandteil der Schul-, Hochschul- und Musikschulpädagogik aller Niveaustufen und Altersgruppen dar. Darüber hinaus bietet das unmittelbare Erleben eines Konzertes in einer Philharmonie, einem Konzertsaal oder einem Opernhaus den Menschen in unserer Gesellschaft, die sich ständig einem meist passiven Konsum reproduzierter Musik über CDs, iPods und die Medien aussetzen und zusätzlich mit der Dauerberieselung in Geschäften und Restaurants konfrontiert werden, eine unersetzliche Erfahrung. Vor allem komplexe Werke der Kunstmusik erfordern allerdings oftmals eine vorbereitende Auseinandersetzung mit den Besonderheiten, dem Entstehungsprozess, dem historischen Umfeld und der Wirkung der aufgeführten Kunstwerke, um das individuelle Konzerterlebnis zu bereichern und eigene Hörerfahrungen zu vertiefen. Um die bewusste Beschäftigung mit den Werken anzuregen, haben sich vor allem in großen Konzerthäusern daher immer stärker einführende Vorträge von Konzertpädagogen und Musikvermittlern etabliert, die den Besuchern vor den Konzerten angeboten werden (siehe [INT1]). Das Publikum fungiert in solchen Einführungen in den meisten Fällen allerdings nur als stiller Zuhörer – ein Umstand, der durch die Anwendung der grundlegenden Prinzipien des Inverted Classroom Model (ICM) geändert werden kann: Das internetbasierte Bereitstellen von einführenden Materialien zu Konzerten würde die Erschließung von In-

8 Das ICM als Chance für die moderne Konzertpädagogik

94

formationen und Hörproben zu den aufgeführten Werken in den privaten Bereich verlagern. Eine selbstgesteuerte Vorbereitung des Publikums kann die Intensität des Konzerterlebnisses steigern und darüber hinaus – zum Beispiel im Rahmen einer offenen Podiumsdiskussion – zu fundierten Diskussionen des Publikums mit den Interpreten, mit Wissenschaftlern und eventuell sogar mit den Komponisten beitragen, sodass die folgende Vision des Komponisten Helmut Lachenmann keine Utopie bleiben muss: Der Konzertsaal, oder was immer ihn in Zukunft ersetzen wird, nicht mehr als Ort der gesellschaftlichen Beweihräucherung oder Ausräucherung, sondern als Ort der Diskussion, der aufgeklärten Auseinandersetzung der Gesellschaft mit sich selbst und ihren Tabus, ist gewiss eine Utopie, aber immerhin ein Leitbild für den Musikerzieher, der sich nicht damit begnügen darf, Hören zu lehren, denn: Hören ist wehrlos – ohne Denken (Lachenmann, 2004:34). Neben Formen einer privaten Konzertvorbereitung – die in diesem Artikel als Bestandteil der Verwirklichung des ICM in der Konzertpädagogik schwerpunktmäßig diskutiert werden sollen – haben in den letzten Jahren auch alternative Konzertentwürfe vermehrt Einzug in das Konzertleben erhalten, die ebenfalls versuchen, der Forderung nach anregender kreativer Auseinandersetzung mit der Musik im Konzert gerecht zu werden. Dazu zählen zum Beispiel Werkstatt- und Gesprächskonzerte, in denen die Interpreten oder ein Moderator durch das Programm führen, spezielle Kinderkonzerte und Mitmachkonzerte für unterschiedliche Zielgruppen, moderierte öffentliche (General-)Proben und seltener eigenständige Einführungsveranstaltungen und Podiumsgespräche. Neben Projekten für Kinder und öffentlichen Angeboten für Erwachsene (siehe auch Holm, 2009:76-78) finden sich inzwischen auch viele Elemente der Musikvermittlung im Internet, wo beispielsweise durch das Bereitstellen von kurzen Generalprobenmitschnitten, Interviews und Kurzdokumentationen über bevorstehende Veranstaltungen immer häufiger auf öffentliche Konzerte aufmerksam gemacht wird. Exemplarisch sei hier das Projekt Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker zu nennen, bei dem außerdem Liveübertragungen und ein umfangreiches Konzertarchiv kostenpflichtig zur Nutzung angeboten werden (siehe [INT2]). Hier können schon im Voraus kurze Interviews, Einführungen der Künstler und Kurzdokumentationen als eine Art „Appetithappen“ kostenlos angesehen und somit im Sinne des ICM als Vorbereitungsmaterial vor Konzerten genutzt werden. Zudem sind in der Digital Concert Hall viele Kinderkonzerte kostenlos und live im Internet erlebbar, sodass diese Konzerte einem größtmöglichen Publikum in der ganzen Welt zugänglich gemacht werden. An dieser Stelle muss allerdings auf die Grenzen der Medien hingewiesen werden, auf die Walter Benjamin bereits 1935 aufmerksam machte (siehe Benjamin, 1963). Bei allen Vorteilen, die Projekte wie die Digital Concert Hall oder Live-Übertragungen von Konzerten in Kinosäle in Bezug auf die Erreichung eines möglichst breiten Publikums und hinsichtlich der Dokumentation von technisch hochwertigen Mitschnitten in einem digitalen Archiv mit sich bringen, muss doch einschränkend betont werden, dass das Erleben von Konzerten über Lautsprecher und Bildschirm nie die Aura eines Kunstwerkes im Sinne Benjamins – das heißt die unmittelbare lebendige Erfahrung im Konzertsaal – ersetzen kann. 1 Neuere _________________ 1

Benjamin definiert den Begriff der Aura als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“ (Benjamin, 1963:16, Fußnote 7). Bezüglich der Aura eines Theaterstücks formuliert Benjamin folgende Gedanken, die meines Erachtens auch auf die Aufführung eines Musikwerkes über-

8.1 Einführung

95

empirische Befunde zeigen daher ein wieder wachsendes Interesse an LiveKonzerterlebnissen – ein Phänomen, das Susanne Keuchel darauf zurückführt, dass angesichts zunehmender virtueller Alltagserfahrungen das authentische Erlebnis erneut an Wert gewinnt (siehe Keuchel, 2011:96). Die gezielte Vorbereitung auf einen Konzertbesuch kann diesen überaus bereichern, falls sie es schafft, die Aufmerksamkeit der Hörer im Konzertsaal zu intensivieren, ohne sie dabei jedoch in eine bestimmte Richtung lenken zu wollen. Auch wenn die Lektüre eines Konzertführers immer noch ein beliebtes Werkzeug zur Konzertvorbereitung ist, so kann sie weder Auskunft über die Motive für eine bestimmte Programmabfolge noch über die Intentionen einer individuellen Interpretation geben, die doch das Konzerterlebnis so einzigartig machen. Darüber hinaus hat die Praxis gezeigt, dass interaktive und multimedial aufgearbeitete Materialien durch die Synthese von Texten, Grafiken, Animationen, Audiound Videobeispielen die Wissensvermittlung effektiver und motivierender gestalten können als dies durch das ausschließliche Lesen eines Konzertführers oder der Programmhefttexte erreicht werden kann (siehe [INT3:4]). Dabei ist es wichtig, eine Vielzahl an Informationen zu den verschiedensten Aspekten einer bestimmten Konzertaufführung anzubieten, auf welche die Zuhörer im Konzert gezielt achten oder unterbewusst zurückgreifen können. Der oftmals angeführte Vorwurf eines „Zuviels“ an Informationen, welches angeblich die Wahrnehmung und somit den Interpretationsrahmen der Hörer einschränkt, ist in meinen Augen unhaltbar, sofern die Konzertpädagogen nicht versuchen die Hörerfahrungen zu manipulieren, sondern durch ein vielschichtiges Angebot an Informationen zu erweitern. Aus diesem Angebot kann und muss jeder Rezipient individuell auswählen, welche Ebenen und Aspekte seinen Erfahrungshorizont letztendlich zu erweitern imstande sind, oder ob er es bei aller Vorbereitung dennoch vorzieht, die Musik für sich sprechen zu lassen und einen eigenen neuen Zugang zu entdecken. Eine Musikvermittlung, die dies leistet, darf nicht einseitig belehren, sondern muss vielmehr Fragen aufwerfen und Wahrnehmungsräume öffnen (siehe auch Fein, 2007:112). Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass die Nachfrage nach durch Musikvermittler aufbereiteten Informationen immer größer und deren Angebote im Gegenzug immer reichhaltiger werden (siehe [INT1]). Diese Tendenz kann durch das ICM um eine weitere Dimension erweitert werden, sofern Vorbereitungsmaterialien, die auf ein spezifisches Konzert zugeschnitten sind, in Verbindung mit Gesprächsanregungen und Diskussionsmöglichkeiten zwischen Zuhörern, Künstlern und Wissenschaftlern im Konzerthaus angeboten werden. Das ICM, dessen Grundidee ursprünglich aus dem Schul- und Hochschulkontext stammt, kann somit auch für die Konzertpädagogik nutzbar gemacht werden und Anregungen für die Gestaltung innovativer Formen der Konzertvorbereitung geben, die sowohl im privaten Bereich als auch an Schulen, Hochschulen und Musikschulen eingesetzt _________________ tragen werden können: „Denn die Aura ist an sein Hier und Jetzt gebunden. Es gibt kein Abbild von ihr. Die Aura, die auf der Bühne um Macbeth ist, kann von der nicht abgelöst werden, die für das lebendige Publikum um den Schauspieler ist, welcher ihn spielt. Das Eigentümliche der Aufnahme im Filmatelier aber besteht darin, daß sie an die Stelle des Publikums die Apparatur setzt. So muß die Aura, die um den Darstellenden ist, fortfallen – und damit zugleich die um den Dargestellten.“ (Benjamin, 1963:25). Für weitere Informationen, u.a. zur Problematik und Rezeption des von Benjamin neu konzipierten Begriffes der Aura und zu seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, siehe Lindner, 2011:229-251.

8 Das ICM als Chance für die moderne Konzertpädagogik

96

werden können. Da Konzertbesuche für die meisten Menschen – im Unterschied zum Schulunterricht und zu Hochschulveranstaltungen – allerdings keine Pflichtveranstaltungen, sondern eine Form der Freizeitbeschäftigung sind, hat man es hier grundsätzlich mit anderen Voraussetzungen für die Umsetzung des ICM zu tun. Konzerteinführungen – ganz gleich ob sie im Vorfeld zu Hause oder in Form eines Vortrages vor dem Konzert erfolgen – sind ebenso fakultativ und variabel in Umfang und Länge wie Gesprächsangebote nach dem Konzert. Daraus resultiert, dass das Kernargument des ICM, das für seinen Einsatz in Schule und Hochschule spricht, i.e. der Zeitgewinn für aktiven Austausch im Plenum durch Auslagerung der Informationsaneignungsphase, nicht für freiwillige vorbereitende Aktivitäten rund um das Konzert greift: Die Auslagerung des präparativen Informationsinputs in den privaten Bereich in Form von Videos, Texten oder Blogs resultiert hier nicht automatisch in einem Mehr an zur Verfügung stehender Zeit, die vor Ort für öffentliche Diskussionen verwendet werden könnte. Beide Angebote – das Bereitstellen von Vorbereitungsmaterialien und die Anregung eines aktiven Austausches im Konzerthaus – stellen vielmehr unabhängig voneinander erfolgende Einladungen eines Konzertveranstalters dar, welche im besten Falle natürlich in Verbindung zueinander stehen und bei den Teilnehmern einen mentalen Synergieeffekt auslösen können, sofern sie beide in Anspruch genommen werden. Eine Ausnahme bildet dabei die Art der Konzertvor- und -nachbereitung, wie sie von einer Schulklasse oder Hochschulgruppe durchgeführt werden kann: Indem z.B. mittels verpflichtender Hausaufgaben eine Phase der Informationsaneignung dem Konzerterlebnis vorangestellt wird, ist es hier denkbar, die Zeit vor und nach dem Konzert im Klassenplenum zum Austausch von Erwartungen, Erfahrungen und Beobachtungen zu nutzen. Der Fokus dieses Artikels soll jedoch, wie bereits angedeutet wurde, auf der Gruppe der privaten Konzertbesucher liegen, da organisierte Schul- und Hochschulgruppen meist nur einen geringen Anteil des Konzertpublikums ausmachen. Aus den bisherigen Überlegungen kann man folgende Annahme formulieren, die als Ausgangspunkt für die Anwendung des ICM in der Konzertpädagogik dienen soll: Für alle Besucher eines Konzertes ist eine individuelle Vorbereitung sowohl auf das Programm als auch auf die Überlegungen, die zu den jeweiligen Interpretationen geführt haben, erforderlich, um bewusstes Hören, kritisches Denken und einen interessanten verbalen Austausch über das Konzerterlebnis zu befördern.

8.2

Argumente für einen Einsatz des ICM in der Konzertpädagogik

Eine professionelle Anleitung und die Bereitstellung von aufgearbeiteten Materialien kann vor allem Laien eine fundierte Vorbereitung ermöglichen, denn Nichtfachleute verfügen in der Regel nicht über das Wissen und die Mittel, um eigenständig geeignete Quellen zu sammeln und auszuwerten. Die Auslagerung der Informationsaneignung in den privaten Bereich im Sinne des ICM eröffnet daher mehrere Vorteile: 1.

Durch eine reichhaltige Auswahl an Vorbereitungsmaterialien, die verschiedene Medienarten (wie zum Beispiel Videos, Audios, Texte, Bilder und multimedial aufbereite-

8.2 Argumente für einen Einsatz des ICM in der Konzertpädagogik

97

ten Synthesen aus allem) und unterschiedliche Formen der Inhaltsvermittlung (wie Dokumentationen, Vorträge, Konzertmitschnitte, Interpretationsvergleiche, Interviews, Rezensionen, Analysen oder Archivmaterialien) berücksichtigt, kann man den unterschiedlichsten Zielgruppen gerecht werden. Die Rezipienten hätten auf diese Weise die Möglichkeit individuell auszuwählen, welchen Lernkanal und welches Interessensgebiet sie bevorzugen und welche Rolle sie während der Phase der Wissensaneignung einnehmen möchten – die des aktiven Entdeckers bzw. Forschers oder die des eher passiven Konsumenten. Doch auch innerhalb jedes einzelnen Mediums wäre ein Angebot zur Binnendifferenzierung angebracht: Eine Auswahl an verschiedenen Videos kann somit beispielsweise unterschiedliche Zielgruppen wie Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Menschen aus anderen Kulturen oder Menschen mit Behinderungen ansprechen. Darüber hinaus können verschiedenartige Videos an die individuellen Bedürfnisse von Laien, Liebhabern, professionellen Musikern und Wissenschaftlern anknüpfen. Ebenfalls denkbar wäre es in diesem Zusammenhang, in einzelnen Videos Querverbindungen zu weiteren Disziplinen wie zum Beispiel zu Bildender Kunst, zu Literatur oder Philosophie herzustellen, die sich bei diversen Musikwerken besonders anbieten. 2.

Durch die Möglichkeit der Auswahl als auch durch die Gelegenheit zur mehrmaligen Wiederholung und Vertiefung von nicht auf Anhieb verstandenen Inhalten können Zuhörer mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Lerntempi und Lernverhalten profitieren – eine Chance, die herkömmliche Konzerteinführungen in Form von Vorträgen vor Konzerten nicht bieten: Die äußerst heterogene Gruppe des Konzertpublikums stellt den vortragenden Musikvermittler vor ein pädagogisches Dilemma, da er nicht alle Menschen in einem einzigen Vortrag erreichen und nur wenige Aspekte eines Konzertprogramms beleuchten kann. Selbst wenn der Vortragende über ein gutes Gespür für die Art von Informationen verfügt, die ein Großteil des Publikums wahrscheinlich zur Erweiterung ihrer Wahrnehmung benötigt, wird es dem Vermittler unmöglich sein, alle Interessen zu befriedigen. Kompromisse resultieren oftmals darin, dass herkömmliche Konzerteinführungen streckenweise keiner einzigen Zielgruppe gerecht werden. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn zu komplexen Werken der Zweiten Wiener Schule eine Kurzdefinition der Dodekaphonie gegeben wird, welche für Laien zumeist unverständlich und für Kenner überflüssig ist. Diesem Dilemma kann durch selbstgesteuertes Lernen 2 Abhilfe geschaffen werden, besonders dann, wenn vor dem Konzertbesuch die Chance auf eine individuelle Auswahl an Vorbereitungsinhalten angeboten wird.

3.

Die Informationen können im Gegensatz zu unmittelbar vor dem Konzert erfolgten Vorträgen mit einer zeitlichen Distanz im Voraus vom Rezipienten verarbeitet werden. Dies kann im Unterschied zu Konzerteinführungen ohne zeitlichen Raum zur Reflexion zu einer qualitativen Bereicherung der Diskussionen im Konzertsaal beitragen.

4.

Über ein Forum könnten bereits im Voraus Fragen an die Künstler, Wissenschaftler und Veranstalter gesammelt werden, die in Podiumsdiskussionen aufgegriffen werden, um

_________________ 2

Zu Begriff und Prämissen siehe die Ausführungen in Gudjons, 2008:30-33.

8 Das ICM als Chance für die moderne Konzertpädagogik

98

eine größtmögliche Kommunikation mit dem Publikum zu ermöglichen. 5.

In Ergänzung zu der selbstgesteuerten Vorbereitung auf einen Konzertbesuch können die Lernmaterialien auch zur Nachbereitung, Weiterbildung und zu weiteren Vergleichen mit Interpretationen in anderen Konzertzusammenhängen oder Einspielungen gewinnbringend wiederverwendet werden. Darüber hinaus können Listen mit ergänzenden Ressourcen, Links und Literaturangaben bereitgestellt werden, die interessierten Hörern die gezielte Weiterbildung erleichtern.

Damit der Konzertsaal ein Ort der Diskussion werden kann, ist es erforderlich, dass eine florierende Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern, Interpreten, Komponisten und Hörern stattfindet, die sich alle mit ihren jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten einbringen sollten, um die Konzertkultur als Ganzes zu bereichern. Denn ein Ort der Diskussion bedeutet, dass der Hörer nicht mit sich selbst allein gelassen wird und Künstler und Wissenschaftler Brücken zwischen ihren Disziplinen und den Hörern bauen. Ein innovativer Idealfall eines effektiven Austausches zwischen allen Beteiligten, der persönliche Gespräche im Konzerthaus ergänzen kann, ist eine aufwendig gestaltete und jederzeit zugängliche Multimedia-Plattform. Die Vorteile von Internetpräsenzen sind auch für Marketingzwecke längst erkannt worden (siehe Riemenschneider, 2011:200 und Stiller, 2008:47) und werden immer häufiger von Konzerthäusern vor allem für Kinder in interaktiver Form eingerichtet (siehe exemplarisch [INT4], [INT5], [INT6] und [INT7]).

8.3

Vorschläge zu Inhalten und Form einer Webpräsenz

Um diese Ansätze weiter zu optimieren, sollte eine Online-Plattform neben dem Angebot einer Vielzahl an Medien, Inhalten und Formaten für verschiedene Niveaus und Zielgruppen im Besonderen auch die Möglichkeit zu selbstgesteuertem Lernen, Reflexion und Weiterbildung sowie vor allem einen Raum zum Austausch zwischen Hörern, Künstlern und Wissenschaftlern bieten. Eine umfangreiche Plattform könnte somit über die Grenzen einer Konzertaufführung hinaus Menschen in der ganzen Welt als Quellenfundus und zur Kommunikation dienen und sowohl Eigenheiten einer einzelnen Aufführung als auch ihrer Rezeption für die Zukunft dokumentieren. Dabei ist jedoch zu betonen, dass jegliche Wissensaneignung niemals um ihrer selbst Willen erfolgen darf, sondern immer auf die Erweiterung der Hörerwahrnehmung gerichtet sein muss, um auf diese Weise kritisches Denken anzuregen. Dies impliziert, dass sich Zuhörer „in inhaltlicher und sozialer Hinsicht die potenzielle Relevanz – welcher Art auch immer – für ihre Lebenswirklichkeit erschließen können müssen.“ (Tröndle, 2005:24). Eine Auswahl an möglichen Bereichen, die zu diesem Ziel beitragen könnten, soll im Folgenden vorgestellt werden:

8.3 Vorschläge zu Inhalten und Form einer Webpräsenz

8.3.1

99

Hintergrundinformationen

Hintergrundinformationen, die in Zusammenarbeit von Künstlern und Wissenschaftlern für verschiedene Zielgruppen aufgearbeitet wurden, bilden den Auftakt der Sammlung. Zu diesen zählen unbedingt folgende Materialien: x Biographien der Komponisten können in ausformulierter und/oder tabellarischer Form bereitgestellt werden. Ergänzend können Literaturhinweise zu ausführlicheren Biographien gegeben werden. x Der geschichtliche Kontext eines Werkes sollte in Bezug auf eventuell vorhandene direkte oder indirekte Einflüsse diskutiert werden. x Vergleichende Analysen und Einordnungen von Skizzen, Autographen, Handexemplaren sowie relevanten Stellen aus anderen Dokumenten (zum Beispiel aus Briefen, Schriften, Notizen und Tagebucheinträgen) können den Entstehungsprozess veranschaulichen. Hier liegt ein besonderes Potenzial in einer multimedial aufbereiteten kritischen Ausgabe. Ein solches Projekt zur Digitalisierung der Neuen Mozart-Ausgabe ist zur Zeit in Arbeit und verfolgt folgende Ziele: „Das digitale Format ermöglicht im Rahmen urheberrechtlicher Beschränkungen eine Verknüpfung der Quellen (in digitalen Faksimiles) und der Edition. Die Darstellung von Varianten und abweichenden Fassungen wird gegenüber dem herkömmlichen Druckmedium wesentlich erleichtert und bietet dem Benutzer die Möglichkeit des unmittelbaren Vergleichs. Bei geeigneter Quellenlage kann die Werkgeschichte in ihren wichtigsten Stadien repräsentiert werden. Das Mozart-Institut erarbeitet weiterführende Informationen – Text- und Bilddokumente, Literaturhinweise, Quellendatenbanken und Werkregister –, die im Rahmen der DME [Digital Mozart Edition, die Verf.] online zur Verfügung gestellt werden.“ [INT8] x Kommentare zu Einspielungen sollten Informationen zu ihren jeweiligen Entstehungskontexten, ihren interpretatorischen Eigenheiten und ihrer Rezeption enthalten. Ein Interpretationsvergleich sollte dabei unabhängig durch mehrere Spezialisten erfolgen, um mehrere Auslegungen anzubieten. Über ein Forum können außerdem die Meinungen der Hörer zu den unterschiedlichen Aufnahmen diskutiert werden. x Eine Besprechung der Rezeption und der Wirkung eines Werkes auf Zeitgenossen und nachkommende Generationen unter Rückgriff auf verfügbares (inter-)nationales Presseund Medienmaterial kann die Veränderungen des Werkverständnisses im Laufe der Geschichte aufzeigen und Informationen zu Aufführungen geben, die nicht auf Tonträgern festgehalten wurden. x Eine Gegenüberstellung von Analysen aus verschiedenen Epochen kann beweisen, dass wissenschaftliche Besprechungen ebenfalls Zeitzeugnisse sowie Formen der Rezeption darstellen. Um einen Vergleich mehrerer Analysevorschläge zu illustrieren, sollten Hörbeispiele und multimediale Animationen der Partitur angeboten werden. Alle Unterpunkte dieses ersten Bereiches können, wie bereits zuvor erwähnt, durch unterschiedliche Medien und Formate vermittelt werden. Des Weiteren können zusätzliche Materialien für oder von Kindern, Eltern und Lehrern angeboten werden. Im Zuge der Bereitstellung ist es bei der Thematisierung kontroverser Fragestellungen zu empfehlen, mehrere

8 Das ICM als Chance für die moderne Konzertpädagogik

100

Fachwissenschaftler unabhängig zu Wort kommen zu lassen, um einseitige Quelleninterpretationen zu vermeiden.

8.3.2

Online-Archiv

Ein umfangreiches Online-Archiv könnte über die bereits gemäß der vorstehend genannten Auflistung ausgearbeiteten und kommentierten Materialien hinaus als Quellenfundus fungieren und sowohl Wissenschaftlern als auch interessierten Laien weiterführende Forschungen erleichtern. Selbstverständlich kann bei keinem Werk ein Anspruch auf eine vollständige Sammlung an Materialien und Informationen erhoben werden, denn oftmals ist es vor allem bei älteren Werken aufgrund fehlender Quellen nicht auch nur annähernd möglich, alle zentralen Aspekte zusammenzutragen. Folgende Archivmaterialien sollten online zugänglich gemacht werden: x Skizzen, Briefe, Bilder und Fotos, einschlägige Presseartikel, Programme, (historische) Videos und Tonaufzeichnungen, Interviews, Schriften, Autographe, Handexemplare, Tagebücher, Notizbücher und Ähnliches. Dabei sind jedoch die Maßgaben des Urheberrechts zu beachten. x Idealerweise sollte eine umfangreiche Diskographie zu Vergleichszwecken zum Anhören bereitgestellt werden, auch wenn dies in den meisten Fällen aufgrund des Copyrights nicht kostenlos möglich sein wird. x Eine kritische Ausgabe der Partitur wäre wünschenswert, besonders wenn sie mit einem multimedial aufbereiteten kritischen Bericht versehen wurde (siehe [INT8]). x Dokumente jeglicher Art von Schülern und Bekannten des Komponisten, die in Zusammenhang mit ihm oder seinem Werk stehen, können zusammengetragen und für Nutzer bereitgestellt werden. x Eine Sammlung oder Anthologie an Dokumenten zur Rezeption und Wirkung auf Zeitgenossen und nachfolgende Generationen wäre ebenfalls ein wichtiger Quellenfundus, der auch internationale Zeitungen, Radio- und Fernsehsendungen berücksichtigen sollte. x Einschlägige Literaturempfehlungen zu allen relevanten Themengebieten sind für eine vertiefende Forschung unerlässlich und sollten ständig erweitert werden. Im Falle von Arnold Schönberg gibt es zum Beispiel bereits eine umfangreiche, vom Schönberg-Center in Wien betreute Internetpräsenz, die vor allem Teile der beiden ersten Bereiche (i.e. Hintergrundinformationen und Archivmaterialien) beinhaltet. Viele relevante Quellen und Materialien wurden hier in Verbindung mit einer umfangreichen StichwortSuchfunktion zusammengestellt, die es ermöglicht, alle relevanten Materialien (wie zum Beispiel Briefstellen) zu einem bestimmten Werk zu finden, ohne dass dem Nutzer für diesen Service Kosten in Rechnung gestellt werden (siehe [INT9]).

8.3.3

Informationen von den Künstlern bzw. über die Künstler

Informationen von den Künstlern bzw. über die Künstler sollten die bereits in den ersten beiden Teilen zusammengestellten Materialien zu den im Konzert aufgeführten Werken in

8.3 Vorschläge zu Inhalten und Form einer Webpräsenz

101

Bezug auf die bevorstehende neue Interpretation ergänzen. Eine gute Interpretation zeichnet sich dadurch aus, dass nichts willkürlich passiert. Alle Entscheidungen müssen einen langen Prozess des Suchens nach musikalischem Sinn durchlaufen, der dem Publikum normalerweise leider verschlossen bleibt. Daher stellt die Integration der folgenden Aspekte in die Phase der Konzertvorbereitung ebenfalls eine Bereicherung dar: x Stellungnahmen von den Interpreten zu Problemen der Interpretation und ihren Lösungen sowie zu den Freiheiten, spezifischen Eigenheiten und getroffenen Entscheidungen können zum Beispiel durch kleine Videos erfolgen, bei denen mithilfe von Klangbeispielen oder in Form eines Interviews mit den Künstlern besonders wichtige Stellen illustriert werden. Dabei kann es interessant sein, von einem älteren Interpreten zu erfahren, wie und warum sich seine Interpretation eines bestimmten Werkes im Lauf der Jahre verändert hat, da die Beschäftigung mit komplexen Werken bei jedem Künstler einen lebenslangen Lernprozess durchläuft. Falls der Komponist greifbar ist, wäre in diesem Zusammenhang ein Gespräch zwischen ihm, den Künstlern und evtl. einem Moderator sehr erhellend. Zu den wichtigsten Unterpunkten dieses die Interpretationsebene betreffenden Bereiches zählen die folgenden: o

Tempowahl: Der musikalische Ausdruck und die Herstellung bestimmter musikalischer Sinnzusammenhänge werden in hohem Maße von dem gewählten Tempo bestimmt. Da die Tempowahl oftmals nicht vom Komponisten durch Metronomangaben vorbestimmt ist, gehört sie zu den wichtigsten Entscheidungen der Interpreten. Auch im Falle von vorhandenen Metronomangaben werden diese aus verschiedenen Gründen manchmal nicht von den Interpreten befolgt, was im Rahmen der Gespräche thematisiert und begründet werden sollte.

o

Deviationen: Widersprüche in den Quellen, die den Willen des Komponisten in Detailfragen oftmals nicht eindeutig rekonstruierbar machen, werfen ebenfalls interpretatorische Fragen auf. In manchen Fällen kann aufgrund neuer Quellenfunde und Quellenanalysen sogar eine Änderung der Partitur notwendig werden, auch wenn diese in ihrer Version bereits etabliert ist. Jede eigenständige Änderung des Notentextes sollte von den Interpreten ausgiebig erläutert werden, damit bei den Zuhörern nicht der Anschein von Willkür oder fehlerhafter Wiedergabe aufkommen kann.

o

Historische versus moderne Interpretation: Moderne Instrumente sind in ihrer Bauweise größtenteils sehr verschieden zu ihren Vorgängern aus früheren Jahrhunderten. Viele Interpreten entscheiden sich daher bewusst entweder für ein historisches oder ein modernes Instrument – eine Entscheidung, die unter anderem den Klangcharakter, die Phrasierung und die Artikulation der Aufführung maßgeblich mitbestimmt. Darüber hinaus versuchen einige Interpreten mit modernen Instrumenten die Klangeigenschaften historischer Instrumente nachzuahmen, was eine Annäherung an die historische Spieltechnik erfordert. Die Instrumentenwahl spielt vor allem auch eine Rolle, wenn bestimmte Funktionen eines Instrumentes zur Entstehungszeit noch nicht vorhanden waren und heute von Interpreten benutzt werden, oder bestimmte Funktionen heute nicht mehr vorhanden sind, die für eine Aufführung, welche die ursprünglichen Klangfarben wiederzugeben bestrebt ist,

8 Das ICM als Chance für die moderne Konzertpädagogik

102

jedoch zwingend erforderlich wären. Dies betrifft beispielsweise die unterschiedliche Anzahl und Funktionsweisen von Pedalen bei Tasteninstrumenten. x

Neben interpretatorischen Eigenheiten sollten die Interpreten – oder die für das Programm verantwortlichen Personen(gruppen) – eine Stellungnahme zu der spezifischen Programmzusammenstellung geben. Die spezifische Anordnung der Werke in einem Konzert kann vielschichtige Wechselbeziehungen zwischen den Kompositionen herstellen, die Diskussionsstoff bieten und einen Erfahrungsaustausch anregen können.

8.3.4

Möglichkeiten zur Kommunikation

Möglichkeiten zur Kommunikation zwischen Hörern, Künstlern und Wissenschaftlern sollten sowohl im Konzertsaal als auch über das Internet angeboten werden. Bei allen Möglichkeiten zur Kommunikation über das Internet, die eine Webpräsenz durch Live-Chats, Foren oder E-Mail-Systeme anregen kann, können diese aufgrund ihrer Unpersönlichkeit nie das lebendige Gespräch im zwischenmenschlichen Kontakt im Konzerthaus ersetzen, sondern nur ergänzen. Da bei vielen Menschen Fragen und Anregungen allerdings erst im Nachhinein aufkommen, wäre es sehr wünschenswert, folgende Gesprächsmöglichkeiten außerhalb des Konzertsaales anzuregen: x Die Hörer sollten die Möglichkeit haben, den Künstlern beispielsweise über eine virtuelle Pinnwand Feedback zu geben. Dieses kann die Künstler bereichern und Gegenstand weiteren lebendigen Austausches über ein Forum werden. x Darüber hinaus kann es sich als gewinnbringend erweisen, wenn im Besonderen auch Nachfragen der Hörer via E-Mail, Chat und öffentliche Foren an die Komponisten, Interpreten oder an Wissenschaftler gerichtet werden könnten. x Außerdem sollte die Erstellung eigener Rezensionen, Interviews, Videos und Einführungen durch die Rezipienten motiviert und anderen Konzertbesuchern zugänglich gemacht werden. Dies kann insbesondere von Kindern für Kinder erfolgen und stellt eine kreative Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit dem Erlebten dar. Eine solche Initiative startete das Konzerthaus Berlin im Juni 2010 mit dem Projekt „Junge Reporter“ (siehe [INT10]). Eine auf lebendiger Kommunikation basierende Musikvermittlung berücksichtigt möglichst viele Aspekte einer sich wandelnden Musikkultur. Indem sie den Hörer als Teil der Musikkultur versteht, indem sie zeigt, dass musikalischer Sinn und Ausdruck von der Interpretation abhängen und dass Bedeutungszuschreibungen und Musikverständnis sich im Laufe der Geschichte ändern und Werke in verschiedenen Aufführungskontexten unterschiedliche Bedeutungen erlangen können, ist die moderne Musikvermittlung dazu in der Lage, den Konzertsaal neu zu erfinden und Verknüpfungen und aktiven Austausch herzustellen. Webpräsenzen, die den hier vorgestellten Prinzipien in Anlehnung an das ICM entsprechen und mit einem Konzertbesuch und Diskussionen im Konzerthaus kombiniert werden, verkörpern eine Variante mehrdimensionaler und kreativer Musikvermittlung, die weit über reine Wissensvermittlung hinaus geht und zu einer Wahrnehmungserweiterung aller Beteiligten beiträgt. Auf diese Weise kann der Konzertsaal sehr wohl zu einem Ort der Diskussion und

8.4 Quellen

103

der aufgeklärten Auseinandersetzung der Gesellschaft mit sich selbst werden, wie ihn Helmut Lachenmann im Eingangszitat noch als Utopie in Frage gestellt hat.

8.4

Quellen

Benjamin, Walter. 1963. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Fein, Markus. 2007. Die Kunst, Berührungspunkte zu setzen. Neue Konzepte in der Musikvermittlung. In: Körber-Stiftung (Hrsg.). Reflexion und Initiative. Band VI – Impulse für gesellschaftliche Verantwortung. Hamburg: Edition Körber Stiftung: 109-115. Gudjons, Herbert. 2008. Handlungsorientiert lehren und lernen. Schüleraktivierung, Selbsttätigkeit, Projektarbeit. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. Holm, Friederike. 2009. Musikvermittlung für Erwachsene. Chancen und Grenzen für das Konzertwesen der Zukunft. Saarbrücken: VDM. Keuchel, Susanne. 2011. Vom „High Tech“ zum „Live Event“. Empirische Daten zum Aktuellen Konzertleben und den Einstellungen der Bundesbürger. In: Tröndle, Martin (Hrsg.). Das Konzert. Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form. Bielefeld: transcript Verlag: 83-99. Lachenmann, Helmut. 2004. Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966-1995 (2. Aufl.). Wiesbaden: Breitkopf und Härtel. Lindner, Burkhardt. 2011. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Lindner, Burkhardt (Hrsg.). Benjamin-Handbuch. Leben–Werk–Wirkung. Stuttgart und Weimar: Metzler: 229-251. Riemenschneider, Stefanie. 2011. Musikvermittlung im Internet. In: Schneider, Ernst Klaus/Stiller, Barbara/Wimmer, Constanze (Hrsg.). Hörräume öffnen – Spielräume gestalten. Konzerte für Kinder. Regensburg: ConBrio: 199-210. Stiller, Barbara. 2008. Erlebnisraum Konzert – Prozesse der Musikvermittlung in Konzerten für Kinder. Regensburg: ConBrio. Tröndle, Martin. 2005. Variation oder Invention. Was sollte, was kann Musikvermittlung leisten? In: NMZ. 54(6). Juni 2005: 24. [INT1] Mertens, Gerald. „Konzerthäuser und Orchester als Orte Kultureller Bildung.“ http://www.jungeohren.com/drucken.htm?ID=146&rubrik=6; Zugriff am 10.03.2012. [INT2] Seite der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker. http://www.digitalconcerthall.com/; Zugriff am 10.03.2012. [INT3] Handke, Jürgen. „Das ICM - Grundlagen und Voraussetzungen.“ http://linguistics.online.unimarburg.de/; Zugriff am 24.03.2012. [INT4] Michael Tilson Thomas und das San Francisco Symphony Orchestra. „Keeping Score.“ http://keepingscore.org/sites/default/files/swf/beethoven/beethoven-full; Zugriff am 23.03.2012. [INT5] Seite des Beethovenhauses Bonn. http://www.beethoven-haus-bonn.de/hallobeethoven/fullscr_e.html; Zugriff am 23.03.2012.

104

8 Das ICM als Chance für die moderne Konzertpädagogik

[INT6] Klangkiste des WDR. http://klangkiste.wdr.de//card/extra/startseite.phtml?version=flash; Zugriff am 23.03.2012. [INT7] Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz. „Junge Klassik.“ http://www.junge-klassik.de/; Zugriff am 23.03.2012. [INT8] Seite der Digital Mozart Edition. http://dme.mozarteum.at/DME/main/index.php; Zugriff am 14.04.2012. [INT9] Seite des Schönbergcenters in Wien. http://www.schoenberg.at/; Zugriff am 22.03.2012. [INT10] Blog der Jungen Reporter des Konzerthauses Berlin. http://jungereporterkonzerthaus.wordpress.com/uber-uns/; Zugriff am 29.03.2012.

9

Das ICM als Modell für die praxisnahe Ausbildung im Lehramt

Alexander Sperl An der Philipps-Universität Marburg ist im Lehramtsstudium Englisch das Pflichtodul „Die Neuen Medien im Fremdsprachenunterricht“ zu absolvieren. Darin nutzt eine Übung zur Medienproduktion die Vorteile des Inverted Classroom Models, um die praktische Arbeit der Gestaltung von multimedialen Unterrichtsmaterialien mit vorgeschalteten theoretischen Online-Lerneinheiten zu fundieren. Der vorliegende Beitrag zum ICM-Tagungsband beschreibt die Kursstruktur und gibt einen Bericht, welche Erfahrungen mit dieser Struktur gesammelt werden konnten.

9.1

Ausgangssituation: Neue Medien im Fremdsprachenunterricht

Das Internet bildet für Fremdsprachenlehrkräfte eine unerschöpfliche Quelle an Möglichkeiten. Von fremdsprachlichen Tageszeitungen über umfassende Wörterbücher bis hin zu Kommunikationsmöglichkeiten mit Muttersprachlern reicht eine Palette, die den Unterricht erweitern und die Vermittlung von Sprachkompetenz qualitativ verbessern kann. Eine Reihe von Publikationen beschreibt die Vorteile, die das Internet für das Fremdsprachenlernen mit sich bringt (vgl. Klippel et al. 2007, Kranz/Tiedemann 2000, Legutke et al. 2003, Schäfer 2009). Die Überlegungen, die weitgreifenden Veränderungen in der Fremdsprachendidaktik, die die angesprochenen Möglichkeiten mit sich bringen, in die Englischlehrerausbildung an der Philipps-Universität Marburg einfließen zu lassen, mündeten in der Entscheidung ein eigenes Modul zu erstellen. Das Modul „Neue Medien im Fremdsprachenunterricht“ (NMFS) in Lehramtsstudiengang Englisch umfasst das Proseminar „New Media in Foreign Language Education“ (NMFLE) und die Übung „Medienproduktion“ (MP). Während sich das Proseminar eher mit den theoretischen Aspekten des Einflusses der Neuen Medien auf die Fremdsprachendidaktik im Fach Englisch beschäftigt, zielt die Übung auf einen praktischen Ansatz: Wie können die Möglichkeiten des Internet effizient und gewinnbringend im Unterricht eingesetzt werden und welche Werkzeuge eignen sich für welche Aufgabe? Die zu vermittelnden Inhalte sind in Hessen von der Steuerungsgruppe „Neue Medien“ des Amtes für Lehrerbildung, des Kultusministeriums, der hessischen Universitäten und der hessischen Studienseminare in einer Empfehlung festgehalten worden. Das dabei entwi-

106

9 Das ICM als Modell für die praxisnahe Ausbildung im Lehramt

ckelte Medienkompetenzzertifikat beschreibt, welche Kompetenzen sowohl im Studium als auch im Vorbereitungsdienst und berufsbegleitend im Bereich der Neuen Medien erworben werden sollten. Die Inhalte des Moduls NMFS beruhen auf den Teilen des Medienkompetenzzertifikats, die im Studium erlangt werden sollen. Dazu gehören die Bereiche x Mediennutzung; x Didaktik und Methodik des Medieneinsatzes; x Medientheorie & Mediengesellschaft. Die weiteren Bereiche, Medien & Schulentwicklung sowie Lehrerrolle & Personalentwicklung, sollen in den Phasen 2 und 3 der Ausbildung angesprochen werden. Für das Modul NMFS wurde die Aufteilung so geplant, dass sich das Proseminar vor allem - aber nicht nur - mit den Bereichen Didaktik und Methodik und Medientheorie & Mediengesellschaft auseinandersetzt, während die Übung vor allem - aber nicht nur - die Mediennutzung zum Kern hat. Neben den Anforderungen der Steuerungsgruppe gab es Gespräche mit dem Marburger Studienseminar und verschiedenen Schulen. In den Gesprächen mit dem Studienseminar wurden bestimmte Fähigkeiten angesprochen, die von den LiVs (LiV = Lehrkraft im Vorbereitungsdienst) bereits mitgebracht werden sollten, damit die Studienseminare nicht die Zeit aufwenden müssen, alle auf einen Stand zu bringen. 1 Mit den Schulen wurde dabei definiert, welche Fähigkeiten für Lehrer im Bereich der Neuen Medien heute unerlässlich sind. Die Gesprächsergebnisse flossen in die Entwicklung der Inhalte der beiden Kurse ebenfalls ein. Ein dritter Faktor, der bei der Gestaltung der beiden Kurse wichtig wurde, ist eine kontinuierliche Erhebung der Defizite von Studierenden im Bereich der Neuen Medien durch eine Selbsteinschätzung, die im Proseminar NMFLE am Anfang und Ende jedes Semesters durchgeführt wird. Dadurch kann auf sich ändernde Voraussetzungen bei den Studierenden eingegangen werden (Schäfer, 2011). Für die Übung „Medienproduktion“ ist es unerlässlich, bestimmte theoretische Voraussetzungen, die im Folgenden beschrieben werden sollen, vor die praktische Umsetzung in Fallbeispielen zu setzen. Mit der Bereitstellung der theoretischen Inhalte im Sinne des Inverted Classroom Models gehen idealerweise verschiedene Vorteile einher: x Die Studierenden sind für die Fallbeispiele vorbereitet, sodass sie in Teams an Aufgaben arbeiten können, die die theoretischen Inhalte umsetzen. x Die Studierenden können die Inhalte in der praktischen Umsetzung reflektieren und ein tieferes Verständnis erlangen. x Die Aktivierung von Studierenden gestaltet sich einfacher als bei der Vermittlung theoretischer Inhalte in der Präsenzphase. Die Studierenden haben ein aktiveres Interesse an der praktischen Umsetzung. _________________ 1

Für LiVs, die im Studium aufgrund von fehlenden Angeboten keine Kompetenzen im Bereich der Neuen Medien erlangen konnten, wurde vom Marburger Studienseminar und dem Virtuellen Zentrum für Lehrerbildung (www.vzl-hessen.de) ein Online-Kurs mit dem Titel „Grundlagen der Mediennutzung im Referendariat“ entwickelt.

9.2 Die Übung „Medienproduktion“

9.2

107

Die Übung „Medienproduktion“

Der Kurs „Medienproduktion“ zielt auf den Erwerb praktischer Kompetenzen im Bereich der Erstellung moderner Unterrichtsmedien ab, ohne dabei die Diskussion des didaktischen Nutzens außen vor zu lassen. Dabei werden Kenntnisse sowohl in der didaktischen und inhaltlichen Strukturierung und Gestaltung von Medien als auch deren gewinnbringenden Einsatz im Unterricht vermittelt. Zentrale Themen des Kurses sind: x Strukturierung von Lernmaterialien; x Designgrundlagen; x Textproduktion; x Erstellung multimedialer Elemente; x Einsatz von Interaktiven Whiteboards; x Präsentationen als Prüfungsleistungen. Die Liste der Lerneinheiten des Kurses ist in Abb. 9.1 als Screenshot aus dem Virtuellen Zentrum für Lehrerbildung dargestellt.

Abb. 9.1: Liste der Lerneinheiten des Kurses „Medienproduktion“

108

9 Das ICM als Modell für die praxisnahe Ausbildung im Lehramt

Die Struktur des Kurses folgt prinzipiell dem Inverted Classroom Model. Die theoretischen Inhalte werden den Studierenden in virtuellen Lerneinheiten vermittelt, die sie auf die praktisch orientierte Präsenzphase vorbereiten soll. Eine Lerneinheit ist aufgeteilt in eine sogenannte Virtuelle Sitzung und ein Arbeitsblatt, das entweder unbenotet oder benotet ist. 2 Die praktische Phase bezieht sich auf die Inhalte der Virtuellen Sitzung, manchmal explizit, manchmal eher implizit. Die virtuelle Komponente wird über das Virtuelle Zentrum für Lehrerbildung (www.vzl-hessen.de) bereitgestellt, eine Lernplattform, die sich der Ausund Weiterbildung von Lehramtsstudierenden, LiVs und Lehrkräften im Bereich der neuen Medien widmet. Die virtuelle Lerneinheit soll von den Studierenden in der Woche vor der nächsten Präsenzphase erarbeitet werden. Dabei wurde zunächst von Mitteln abgesehen, die Studierenden tatsächlich dazu zu bringen, etwa durch die Verpflichtung jeweils Arbeitsblätter zu der Sitzung zu bearbeiten, deren Abgabefrist dann vor der Präsenzphase endet. Möglich wäre ein solches Szenario aber durchaus und es wird, wie Handke in Abschnitt 4.3.3 dieses Bandes beschreibt, in verschiedenen Lehrveranstaltungen im Fach Anglistik auch angewendet. Der Bezug der Virtuellen Sitzung zur Präsenzphase war wie beschrieben teils explizit, teils implizit. So beschäftigte sich beispielsweise die erste Lerneinheit mit der Strukturierung von Lernmaterialien, die dazu gehörige praktische Übung thematisierte die Transformation eines schlechten Arbeitsblatts in ein gutes. Implizit war die Verzahnung von Lerneinheit und Präsenzphase, wenn etwa Designgrundlagen thematisiert wurden und danach zur Anwendung in der Produktion eines Poster kommen sollten. Da die Erfahrung zeigt, dass einige Studierende die Sitzungen nicht bearbeitet hatten und dementsprechend das Wissen zur Bearbeitung der praktischen Übungen fehlte, muss überlegt werden, wie dem entgegnet werden kann (vgl. Handke, Abschnitt 4.3.3 in diesem Band). Darüber hinaus gab es seitens der Studierenden manchmal Schwierigkeiten, den impliziten Zusammenhang zwischen Virtueller Sitzung und Präsenzphase von sich aus zu erkennen. Theoretische Vorgaben aus der Virtuellen Sitzung wurden dann nicht in dem Produkt der praktischen Übung erkennbar umgesetzt. Die Studierenden konnten ihr Handeln auch teilweise nicht aus einer Beobachterperspektive reflektieren. Diese Aspekte mussten dann vom Kursleiter noch einmal genauer herausgearbeitet werden.

9.3

Die Verzahnung von Online- und Präsenzphasen

Die Kurse am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Philipps-Universtität Marburg, die von den beiden Plattformen Virtual Linguistics Campus (VLC) und Virtuelles Zentrum für Lehrerbildung (VZL) unterstützt und begleitet werden, werden alle nach dem Inverted Classroom Model unterrichtet. Die Inhaltsvermittlung und -erschließung durch die Studierenden geschieht vor der Präsenzphase mithilfe der zu einer Präsenzphase gehörenden Online-Lerneinheit. Eine Online-Lehrveranstaltung ist in mehrere solcher Lerneinheiten eingeteilt, die wiederum aus der sogenannten Virtuellen Sitzung, einem Arbeitsblatt und einer Praktischen Übung zusammengesetzt sind. Alle Kurse können auch als reine Online-Kurse _________________ 2

Eine genaue Beschreibung des Aufbaus von Lerneinheiten im Virtual Linguistics Campus und im Virtuellen Zentrum für Lehrerbildung findet sich in Handke/Franke 2006.

9.3 Die Verzahnung von Online- und Präsenzphasen

109

unterrichtet werden, allerdings hat die Erfahrung gezeigt, dass das gegenseitige Austauschen von Lehrenden und Studierenden sowie auch zwischen den Studierenden untereinander in den nachgeschalteten Präsenzphasen ungemein wertvoll ist. Außerdem lässt sich gerade für den Kurs „Medienproduktion“ feststellen, dass die praktischen Erfahrungen im Erstellen von Unterrichtsmaterialien nur schwer virtuell umgesetzt werden können. Zwar ist es durchaus denkbar, dass eine Versorgung mit Screencasts bestimmte Anteile der praktischen Phasen abbilden kann, aber Detailfragen, die in den Praxisphasen immer wieder auftauchen, sind häufig schlecht vorhersagbar und können deshalb „live“ besser aufgefangen werden. Wie jedem anderen Kurs auch ist „Medienproduktion“ eine Lerneinheit „Informationen über diesen Kurs“ (engl. „Course Preliminaries“) vorangestellt. In dieser Lerneinheit kann getestet werden, ob die technischen Voraussetzungen erfüllt werden und ob der Arbeitsblattversand korrekt verläuft. Außerdem wird in einem Video kurz erklärt, wie Kurse im VZL funktionieren. Danach werden die einzelnen Lerneinheiten aufgelistet, die den Kursablauf verdeutlichen. 3 Die folgenden Abschnitte stellen die Lerneinheiten des Kurses „Medienproduktion“ im Detail vor (vgl. Abb. 9.1).

9.3.1

Structuring Teaching Materials

Jede Lehrkraft erstellt und verteilt regelmäßig eine große Menge an Unterrichtsmaterialien. Neben vorgefertigten Handouts der Schulbuchverlage und frei zur Verfügung gestellten Materialien aus dem Internet und anderen Quellen spielen natürlich die eigenen Arbeitsblätter eine große Rolle. Die Qualität dieser Arbeitsblätter ist entsprechend der Kenntnis einer Textverarbeitungssoftware und entsprechend der Kenntnis von grundlegenden Regeln der Gestaltung. Die Lerneinheit vermittelt zwar keine Kenntnisse in einer Software - eine Festlegung auf einen Anbieter würde hier auch sicherlich zu kurz greifen - sondern vielmehr Regeln zur Erstellung von gut strukturierten und ansprechend gestalteten Materialien. Darauf baut die Präsenzphase direkt mit praktischen Übungen auf. Aufgabe für die Studierenden ist es, ein Arbeitsblatt zu erstellen, von dem sie annehmen, dass es schlecht gestaltet ist. Dies kann ein Arbeitsblatt sein, dass sie in ihrer Schulzeit bekommen haben, in ihrem Studium oder das sie selbst erstellt haben und mit dem sie nicht zufrieden waren. In Zweiergruppen sollen die Studierenden nun zunächst die in der Lerneinheit erworbenen Kenntnisse auf dieses Arbeitsblatt anwenden, in dem sie die Struktur analysieren. Dies kann mit Hilfe von in Designprozessen üblichen Platzhaltern geschehen. Ein Handout vermittelt einen Eindruck davon, wie diese Platzhalter aussehen könnten. Ziel ist es, vorhandene oder nicht vorhandene strukturelle Beziehungen auf dem Blatt sichtbar zu machen und gegebenenfalls zu verbessern. _________________ 3

Die Mischung von englischen und deutschen Lerneinheiten ergibt sich aus der Tatsache, dass neben den spezifischen Einheiten für diesen Kurs, der ja in einem größtenteils englischsprachigen Studiengang angesiedelt ist, auch Einheiten eingesetzt werden, die aus dem Weiterbildungsangebot des VZL stammen. So kann eine gleichbleibende Vermittlung von Inhalten in allen drei Phasen der Lehrerbildung gewährleistet werden.

110

9 Das ICM als Modell für die praxisnahe Ausbildung im Lehramt

Bereits in dieser ersten Phase des Kurses wird die Unerlässlichkeit des ICM-Ansatzes für den Kurs sichtbar. Durch die Vermittlung von theoretischen Kenntnissen in der OnlineLerneinheit kann die Zeit der Präsenzphase für eine sehr viel detailliertere Analyse benutzt und die Zusammenhänge zu den theoretischen Inhalten besser aufgezeigt werden.

9.3.2

Design Basics

Auch die zweite Lerneinheit profitiert von diesem Verhältnis von Theorie und Praxis. Der Nutzen von Grundlagen der Gestaltung für die Lehrerausbildung war den Studierenden vor dem Kurs nicht immer klar. Auch im Nachhinein gibt es sicherlich noch den ein oder anderen, der diesen Nutzen in der Praxis als vernachlässigbar bezeichnen würde. Andererseits zeigen aber viele Studien den Zusammenhang zwischen visueller Gestaltung und Verständnis von Inhalten auf. Je klarer die Gestaltung im Bezug auf Struktur, Hierarchie, Kontext und Verknüpfung, desto einfacher lassen sich die Inhalte erschließen. Daher ist es aus Sicht des Autors unerlässlich, die Grundlagen der Gestaltung in Lehramtsstudiengängen zum Thema zu machen. Die Präsenzphase beschäftigt sich dann mit dem Thema Visualisierung. Zur Vertiefung der vermittelten Konzepte in der Lerneinheit werden eine Reihe von Design-Regeln in PowerPoint visualisiert. Der Grundsatz der engen Verknüpfung zwischen Online- und Präsenzphase kann so auch hier beibehalten werden. Theoretische Kenntnisse werden in praktische Erfahrung umgewandelt. Zwar ist PowerPoint nicht das Werkzeug, das ein Designer auf Anhieb zur Visualisierung wählen würden, allerdings wird es im Alltag der kommenden Lehrkräfte eine sehr große Rolle spielen - nicht nur bei eigenen Präsentationen, sondern auch, sobald Präsentationen von Schülern bewertet werden müssen. Eine weitere Aufgabe besteht aus der Visualisierung bestimmter Aussagen mit Hilfe der SmartArt-Funktion in neueren PowerPoint-Versionen. Diese einfach zu bedienende Funktion zeigt den Studierenden auf, wie man Sätze visualisieren kann.

9.3.3

Creating Text

Die nächste Präsenzphase thematisiert das Erstellen und Gestalten von Postern für den Unterricht. Die dazu benötigten Kenntnisse beziehen sich nicht nur auf die Grundlagen, die in der Lerneinheit Design Basics vermittelt werden, sondern auch auf die Erstellung von Text(-stücken) für ein Poster. In der Lerneinheit wird dementsprechend vermittelt, welche Anforderungen verschiedene Textsorten haben und wie man sie in Unterrichtsmaterialien einsetzen kann. Die Erstellung von Texten für ein Poster ist nicht direkt thematisiert, das soll die Transferleistung sein, die die Studierenden in der Präsenzphase erfüllen sollen. Die Präsenzphase der Poster-Erstellung ist manchmal kritisiert worden, da es nicht akademisch sei, mit Papier, Schere und Klebstoff zu arbeiten. Dabei wurde vergessen, dass die themenbezogene Poster-Erstellung zum Schulalltag gehört. Die dabei benötigte Kreativität zeugt von einem Verständnis der Zusammenhänge zwischen dem Thema (10 Golden Rules of Poster Design) und dessen praktischer Umsetzung (siehe Abb. 9.2).

9.3 Die Verzahnung von Online- und Präsenzphasen

111

Abb. 9.2: Eines der von Studierenden erstellten Poster in seiner „natürlichen“ Umgebung

In den beiden „Phasen Design Basics“ und „Creating Text“ wäre es in traditionellen Kursen schwerer möglich gewesen, die Zusammenhänge zwischen theoretischem Wissen und praktischer Umsetzung zu verdeutlichen. Durch den praktischen Einsatz der Regeln konnten die Studierenden den Nutzen solcher Regeln nach Ansicht des Autors tiefer durchdringen.

9.3.4

Whiteboard-Einsatz: Fortgeschritten

Das Thema „Interaktive Whiteboards im Unterricht“ eignet sich in besonderer Weise für das ICM, da hier die Nutzer je nach eigenem Kenntnisstand die Lerneinheit mehr oder weniger detailliert bearbeiten können, bevor sie dann selbst an den Boards ausprobieren, wie sie bedient werden und welche Dinge beim Einsatz zu beachten sind. Eine praxisnahe Präsenzphase sollte die Ideen, die die Studierenden beim Durcharbeiten der OnlineLerneinheit zum didaktisch wertvollen Einsatz von Interaktiven Whiteboards entwickeln, in konkrete Anwendungen umwandeln.

9.3.5

Components

Bis vor einigen Jahren war das Erstellen von Bildern, Audio- und Videomaterialien sowie Websites, die diese Elemente einbinden, mit enormen Aufwand verbunden, den Lehrkräfte

112

9 Das ICM als Modell für die praxisnahe Ausbildung im Lehramt

nicht einfach so nebenbei leisten konnten. Mittlerweile wird im Internet jedoch eine Unzahl von Werkzeugen angeboten, die das Erstellen und die Verteilung dieser Elemente sehr vereinfachen. Daher beschäftigen sich die drei Phasen „Components“, „Podcasts und Videocasts“ und „Creating Web Pages“ mit der Vermittlung des Einsatzes dieser Werkzeuge im Unterricht. Den Anfang macht die Lerneinheit „Components“, die die verschiedenen Elemente von Multimedia - Text, Bild, Audio, Video und Interaktivität - thematisiert. Schwerpunkt der Einheit bilden auch die Fragen, wie man Themen danach analysiert, welches Element bei der Umsetzung zum Tragen kommen kann. Darauf aufbauend schlägt die praxisorientierte Phase verschiedene Werkzeuge zur Erstellung von Grafikmaterial wie z.B. Bitstrips zur Erstellung von Comicszenen vor. Die Studierenden sollen sich ein Grammatikthema aus dem Lehrplan heraussuchen, der sich besonders für die Umsetzung mit Comics eignet und daraus dann ein Arbeitsblatt erstellen. Dass die Studierenden solche Werkzeuge auch auf andere Themen anwenden können, zeigt das Beispiel einer Comicumsetzung von Shakespeares Romeo und Julia.

9.3.6

Podcasts und Videocasts

Während Grafiken mit grundlegenden Kenntnissen in einem Grafikprogramm oder künstlerischen Fähigkeiten auch früher noch relativ leicht umzusetzen waren, stellten Audio- und Videomaterial eine größere Hürde dar, da das Erstellen und die Bereitstellung dieser Materialien meistens mit großem Aufwand verbunden war. Abhilfe schaffen heute Web-Applikationen, die sich auf die Erstellung und Distribution von Audio- und Videomaterial spezialisiert haben. Welche Funktionen diese Werkzeuge haben und wie Podcasts und Videocasts in den Unterricht eingebunden werden können, wird in der Lerneinheit vermittelt. In diesem Fall korrespondieren zwei Präsenzphasen mit dem Online-Angebot, da die beiden Themen Audio und Video eng beieinander liegen, sodass sie in einer Lerneinheit zusammengefasst werden können. Die praktische Umsetzung sollte aber in zwei Präsenzphasen aufgespalten werden, da das Kennenlernen der Werkzeuge und die Überlegungen zum Ablauf bei Aufnahme und Nachbearbeitung mehr Zeit in Anspruch nehmen. Die meisten Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer hatten in diesen Bereichen keine praktischen Kenntnisse, sodass die Einarbeitung etwas länger dauerte als bei den Phasen, die Word oder PowerPoint als Werkzeuge thematisierten. Das ICM eignet sich hervorragend dazu, auch diese Variante aufzufangen. Die Studierenden verfügen bereits für zwei Präsenzphasen über die nötigen Kenntnisse. Die bereitgestellten Inhalte können immer wieder als Referenz abgerufen werden, falls auch während der Präsenzphasen noch Bedarf besteht.

9.3.7

Creating Web Pages

Das Erstellen von Websites ist in der Vergangenheit einhergegangen mit dem Erlernen von Auszeichnungssprachen wie HTML und für die Erweiterung der Funktionalität mit Hilfe von Skriptsprachen wie JavaScript. Mit etwas Glück konnte man in der Schule auf ein professionelles Content Management System (CMS) zugreifen, das die Arbeit an Websei-

9.3 Die Verzahnung von Online- und Präsenzphasen

113

ten erleichterte. Oft war ein solches aber nicht vorhanden oder es war kein Bereich vorgesehen, in dem Lehrkräfte geschützt zu bestimmten Themen Ressourcen bereitstellen konnten. Lehrkräften, die gerne ein WebQuest oder Ähnliches im Unterricht einsetzen wollten, blieb nichts anderes übrig, als sich tiefergehend mit Webentwicklung zu beschäftigen. Mittlerweile existiert eine Reihe von Anbietern, die ein Online-CMS für jedermann frei zugänglich anbieten. So können zum Beispiel ohne viel Aufwand Blogs bei Wordpress oder Tumblr eingerichtet oder mit Hilfe von Weebly Websites erstellt werden. Ein WebQuest stellt also kein Problem mehr dar. Die Studierenden lernen diese Online-CMS nicht nur im Zusammenhang der Phase Creating Web Pages kennen, sondern sind verpflichtet, ihr modulbegleitendes E-Portfolio mit diesen Applikationen zu erstellen. Mehr zu den E-Portfolios findet sich im Abschnitt Prüfungsleistungen. Die relativ spät geschaltete Lerneinheit macht innerhalb der Kursstruktur Sinn, da es ja in „Medienproduktion“ auch um eine graduelle Erhöhung des Anspruchs vom einfachen zum komplexen geht. Von Studierenden wurde häufig kritisiert, dass die Thematisierung besser gleich zu Anfang hätte geschehen sollen, da sie mit den E-Portfolios gleich von Anfang an eine Website erstellen mussten. Dass die Lerneinheiten in diesem Kurs von Beginn an frei zugänglich waren, wurde dabei wohl übersehen und hätte noch einmal stärker thematisiert werden sollen.

9.3.8

WebQuests im Fremdsprachenunterricht

Eine konkrete Umsetzung des in der Phase „Creating Web Pages“ vermittelten Inhalts wird in WebQuests im Fremdsprachenunterricht zum Gegenstand. Die theoretische Lerneinheit vermittelt den Hintergrund zu verschiedenen Arten von WebQuests und natürlich ist auch hier die praktische Umsetzung in einem eigenen WebQuest von entscheidender Bedeutung.

9.3.9

Presentations as Assessment

Die Präsentation von Inhalten ist, wie bereits angesprochen, in zweierlei Hinsicht von enormer Bedeutung für Lehrkräfte. Neben den eigenen Präsentationsfähigkeiten, die im gesamten Kurs immer wieder angesprochen wurden, müssen Lehrkräfte allerdings immer auch die Präsentationen von Schülern bewerten. Die Phase „Presentations as Assessment“ thematisiert die Bewertung von Präsentationen aufgrund von fundierten Kriterien. Dabei stehen zwei Aspekte im Vordergrund: Die Transparenz von Bewertungskriterien durch gemeinsames Erarbeiten derjenigen Aspekte, die bei einer Präsentation bewertet werden können, sowie die individuelle Gewichtung dieser Kriterien in verschiedenen Klassenstufen und Fächern. Auch hier ist der Einsatz des ICM von entscheidendem Vorteil, da die Studierenden zunächst einen Eindruck bekommen, was bei einer Präsentation bewertet werden kann, um danach selbst einen Bewertungsbogen zu erstellen. Die zu bewertenden Präsentationen werden als Videos bereitgestellt und immer wieder neu ausgesucht. Die Bewertungsbögen selbst werden dann in der abschließenden Präsentation des E-Portfolio zur Anwendung gebracht.

9 Das ICM als Modell für die praxisnahe Ausbildung im Lehramt

114

9.4

Prüfungsleistungen

Abb. 9.3: Eine Auswahl der besten E-Portfolios als Nachricht auf der Institutshomepage

Die Prüfungsleistungen, die die Studierenden in dem Kurs „Medienproduktion“ und dem Modul Neue Medien im Unterricht erbringen müssen, sind im Hinblick auf eine Reduzierung der Arbeitslast am Ende des Semesters und eine kontinuierliche Reflexion des Themas als formative Assessments gestaltet. Die Studierenden erbringen folgende Prüfungsleistungen: x

E-Portfolio Das E-Portfolio wird für das Modul Neue Medien im Unterricht erstellt und versammelt alle Ergebnisse aus den Kursen New Media in Foreign Language Education und „Medienproduktion“. Ein Vorteil dieses Ansatzes ist, dass die Studierenden einen Überblick über das Thema selbst erstellen, den sie im Nachhinein mit größerer Wahrscheinlichkeit wieder aufrufen. Ein weiterer Vorteil im Zusammenhang mit dem ICM ist die Tatsache, dass mit den Aufgabenstellungen im E-Portfolio das Durcharbeiten der Lerneinheiten gewährleistet werden kann.

x

E-Arbeitsblätter Auch die elektronischen Arbeitsblätter, die im Kurs teilweise benotet werden, garantieren eine Reflexion mit den Inhalten, da sie häufig nicht ohne die Kenntnisse aus den Lerneinheiten zu beantworten sind. Die E-Arbeitsblätter fördern so auch die Präsenzphasen, denn die Studierenden arbeiten mit ein wenig Druck die Inhalte doch eher durch als es in einem gänzlich freiwilligen Szenario der Fall wäre.

9.5

Fazit

Das Inverted Classroom Model eignet sich für die Kursform der Übung ganz besonders, da die praktische Beschäftigung mit einem Themengebiet hier im Vordergrund steht. Im Fall der Übung „Medienproduktion“ können einige Stichpunkte hervorgehoben werden, die bei einem solchen Szenario als Vorteile genannt bzw. als problematische Aspekte, die beachtet werden sollten, aufgezeigt werden.

9.5 Fazit

115

x

Die eigene praktische Erfahrung lehrt mehr als die Vermittlung durch einen Tutor. Dass die 90-minütige Präsenzphase häufig ausreicht, um ein Werkzeug zur Erstellung von Unterrichtsmaterial nicht nur kennen zu lernen, sondern auch ein einsetzbares Produkt zu gestalten, hätten die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Vorfeld kritisch gesehen. Auch wenn es nicht immer ganz funktioniert hat, da unvorhersehbare technische Probleme auftraten, waren fast alle positiv überrascht, wie schnell Ergebnisse zu erzielen waren. Die praktische Erfahrung nimmt auch oft die Angst vor einem Werkzeug und steigert die Bereitschaft, andere, vielleicht bessere Werkzeuge zu suchen.

x

Nur durch eine enge thematische Verzahnung von Theorie und Praxis können die Zusammenhänge zwischen beidem verdeutlicht werden. War die thematische Verzahnung zwischen der in den Lerneinheiten vermittelten Theorie und der Praxisphase eher implizit, so war es für die Studierenden häufig schwierig, die Zusammenhänge zu reflektieren. Besser funktionierte dies, wenn - wie im Beispiel der Visualisierungen - diese Zusammenhänge direkt angesprochen werden.

x

Die Reflexion der Inhalte muss stark thematisiert werden. Ganz deutlich wurde im Laufe des Kurses, dass es offenbar schwer fiel, bei Problemen mit Werkzeugen auf einer höheren Ebene zu reflektieren, was dies für den eigenen späteren Unterricht bedeuten könnte. Erst die explizite Thematisierung dieser Zusammenhänge schaffte Klärung.

x

Die Selbstorganisation der Studierenden während der Präsenzphase schafft eine neue Dozentenrolle. Es könnte manchmal Schwierigkeiten bereiten, dass die Selbstorganisation der Studierenden während der Präsenzphasen dazu führt, dass sich eine Dynamik am Dozenten vorbei entwickelt. Im Kurs „Medienproduktion“ konnte es häufig dazu kommen, dass die Diskussionen und die praktischen Arbeiten so intensiv waren, dass ein Eingreifen des Dozenten kontraproduktiv gewesen wäre. Dass man als Dozent dann nicht mehr der „Allwissende auf der Bühne“ ist, der bei allen Problemen helfen kann, sollte man im Sinne einer Selbstlernkompetenz bei den Studierenden durchaus positiv sehen. Diese Peer-Situation kann durchaus zu einer Aktivierung von Kompetenzen führen, die in einer Frontalsituation, wie sie gerade an einer Universität Gang und Gäbe ist, nicht aktiviert werden können. Diese Form der Arbeit ist an der Schule viel weiter verbreitet und eine Beschäftigung damit für die Studierenden eine gute Vorbereitung für ihren späteren Beruf.

Das Inverted Classroom Model eignet sich also in der Lehrerausbildung ganz besonders. Die Präsenzphasen können durch eine Auslagerung der theoretischen Inhalte dazu genutzt werden, praktische Arbeit zu leisten und dabei eine größere Anzahl an Organisationsformen und Methoden „am eigenen Leib“ zu erfahren, als dies in klassischen Universitätsszenarien häufig der Fall ist.

9 Das ICM als Modell für die praxisnahe Ausbildung im Lehramt

116

9.6

Quellen

Handke, Jürgen/Franke, Peter (Hrsg.). 2006. The Virtual Linguistics Campus. Strategies and Concepts for Successful E-Learning. Münster: Waxmann Verlag. Klippel, Friederike/Koller, Gerhard/Polleti, Alex (Hrsg.). 2007. Fremdsprachenlernen online. Medien in der Wissenschaft, Band 45. Münster: Waxmann Verlag. Kranz, Dieter; Tiedemann, Paul. 2000. Internet für Anglisten. Darmstadt: Primus Verlag.. Legutke, Michael/Rösler, Dietmar (Hrsg.). 2003. Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien. Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik. Tübingen: Gunter Narr Verlag. Schäfer, Anna Maria. 2011. Erwerb von Medienkompetenz im Proseminar „Neue Medien im Fremdsprachenunterricht“. VZL Arbeitspapiere 3-2011, www.vzl-hessen.de Schäfer, Patrick. 2009. E-Learning im Fremdsprachenunterricht. Landau: Verlag Empirische Pädagogik.

10 Das ICM an der Hochschule Karlsruhe - ein nicht quantisierter Flip Isabel Braun, Gottfried Metzger, Stefan Ritter, Mikko Vasko, Hans-Peter Voss Ab wann ist eine Veranstaltung 'invertiert'? Speziell beim Erstkontakt mit einer neuen Methode wird ein reflektierender Dozent - auch im Sinne seiner Studierenden - zunächst versuchen diese auszuprobieren, ohne die ihm bekannten Vorteile des bewährten Systems sofort aufzugeben. Anschließend muss er bewerten, ob das neue System Erfolg hatte und einen Mehrwert für Lernende und/oder den Lehrenden erzeugt. Er wird sich der Frage stellen müssen, wann eine invertierte Veranstaltung erfolgreich ist. Im Hinblick auf eine objektive Bewertung des Resultats und die tägliche Arbeitsbelastung der Lehrenden kann es für eine Umstellung nützlich sein, wenn diese von einer dritten Partei beobachtet und begleitet wird. Im Rahmen des durch den „Qualitätspakt Lehre“' (BMBF) finanzierten Projektes SKATING an der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft wird unter anderem individuelle technische und didaktische Beratung für Lehrende angeboten. Neben Unterstützung bei der Umsetzung von E-Learning-Angeboten beinhaltet dies auch konkrete Hilfen zur Entwicklung, Implementierung und Erprobung innovativer Lehrmethoden wie z.B. dem Inverted Classroom Model. In Gesprächen mit Professoren wurde Interesse an dieser Methode deutlich. Dadurch wurden mehrere Pilotprojekte angeregt, in denen Varianten des Inverted Classroom umgesetzt und evaluiert werden sollen. Bei diesen Vorhaben wird großer Wert auf die Anpassung an die jeweiligen Bedürfnisse der verschiedenen Professoren, Kurse und Studierenden gelegt. Das Herantasten an die neue Methode wird anhand von unterschiedlichen konkreten Beispielen skizziert.

10.1

Einführung

Die Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft ist im Jahr 2005 aus der Fachhochschule Karlsruhe – Hochschule für Technik hervorgegangen. Ursprünglich gegründet wurde die Lehranstalt bereits 1878 unter dem Namen „Großherzogliche Badische Baugewerkeschule“. An sechs Fakultäten werden ca. 7 000 Studierende in 37 Studiengängen der Ingenieurwissenschaften, der Wirtschaftswissenschaften und der Informatik ausgebildet, wobei 20,7%

118

10 Das ICM an der Hochschule Karlsruhe - ein nicht quantisierter Flip

der Studierenden weiblich und 14,1% ausländischer Herkunft sind. Betreut werden sie von 183 hauptamtlichen Professorinnen und Professoren, 19 Honorarprofessoren sowie von 329 Lehrbeauftragten und über 400 Mitarbeitern (Stand April 2012). Kontinuierlich steigende Bewerberzahlen und hervorragende Ergebnisse in wichtigen nationalen Hochschulrankings belegen den akademischen Erfolg.

10.2

Probleme der Studierenden

Im Bereich der Ingenieurwissenschaften wird vor einem zunehmenden Fachkräftemangel gewarnt (siehe [INT1]). Zu wenige junge Menschen entscheiden sich für ein ingenieurwissenschaftliches Studium. Vor allem weibliche Studieninteressierte wählen auch heute seltener einen solchen Studiengang als ihre männlichen Altersgenossen. Hinzu kommt, dass nicht alle Studierenden das begonnene Studium erfolgreich abschließen. Hohe DropoutQuoten in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen (siehe Heublein et al., 2010) sind ein zentrales Problem, sowohl als individuelle Schicksale, wie auch volkswirtschaftlich. Die Abbruchquoten auf der Makroebene sind das augenfälligste Indiz für ausbleibenden Studienerfolg, jedoch nur das letzte Glied einer langen Kette von Ursache-WirkungsBeziehungen. Ob die selbst initiierte vorzeitige Beendigung eines begonnenen Studiums oder eine automatische Exmatrikulation aufgrund von nichterbrachten Prüfungsleistungen, Abbrüche sind meist multifaktoriell bedingt. Um den Abbrüchen bereits im Vorfeld mit Maßnahmen begegnen zu können, müssen die Ursachen bekannt sein. Aus diesem Grund werden am Service-Center Studium und Lehre an der Hochschule Karlsruhe verschiedene Anstrengungen unternommen, diese zu identifizieren. Insbesondere durch das im Rahmen des Qualitätspakts Lehre durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt SKATING konnten diese Bemühungen um eine Aufklärung von Abbruchursachen weiter intensiviert werden. Es wurden und werden Gespräche mit Studierendenvertretern, Lehrenden und Schlüsselpersonen verschiedener Hochschuleinrichtungen sowie schriftliche Befragungen durchgeführt. Außerdem werden Dokumente und Datenbestände analysiert. Insbesondere kommen Studierende oftmals mit der in Folge des Bologna-Prozesses erhöhten Anzahl an zu erbringenden Prüfungsleistungen zum Semesterende nicht optimal zurecht. Von Lehrenden werden als Hauptursachen hierfür ein Mangel an semesterbegleitendem Lernen und ein Defizit in der systematischen Vor- und Nachbereitung von Studienveranstaltungen genannt. Nach den Ursachen für den Verzug von Prüfungsleistungen befragt, räumen Studierende oftmals ein, den Lernaufwand unterschätzt zu haben und schreiben Misserfolge dann zu geringen eigenen Anstrengungen und fehlenden Lernstrategien zu. In Übereinstimmung mit der Einschätzung vieler Lehrender geben sie an, selten Lehrveranstaltungen vor- oder nachbereitet und erst spät mit dem Lernen für Prüfungen begonnen zu haben. Eine zentrale Herausforderung mit der sich alle Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in besonderem Maße konfrontiert sehen, ist darüber hinaus die hohe Heterogenität der Eingangsvoraussetzungen ihrer Studienanfänger, die sich aufgrund der weiter zunehmenden Vielfalt der Zugangswege ergibt. Diese Öffnung der Hochschulen soll mit dazu beitragen, dem Fachkräftemangel im Ingenieurbereich entgegen zu wirken. Was politisch gewollt ist,

10.2 Probleme der Studierenden

119

erweist sich in der Praxis der Hochschulen als problematisch: Es ist schwierig, dem unterschiedlichen Kenntnisstand der Studienanfänger und den daraus resultierenden Unterschieden in der Lerngeschwindigkeit gerecht zu werden. Wie kann mit unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten umgegangen werden? Auf welchem Wege können Studierende beim semesterbegleitenden Lernen unterstützt und zur kontinuierlichen aktiven Wissensaneignung bereits während der Vorlesungszeit motiviert werden? Wie kann die Hochschullehre unter den gegebenen Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass durch sie den Studierenden ein möglichst hoher Mehrwert erwächst?

10.2.1

Das Projekt ‚SKATING‘

Durch die hohe zeitliche Auslastung der Lehrenden und den weitgehend fehlenden Mittelbau an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften bleiben im regulären Veranstaltungsbetrieb kaum die Ressourcen, sich mit Details der Umsetzung möglicher Lösungsansätze für die genannten Probleme zu befassen. Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Qualitätspakts Lehre deutschlandweit geförderten Projekte an Hochschulen eröffnen vielerorts Freiräume, um sich mit diesen Schwierigkeiten auseinanderzusetzen und gegebenenfalls innovative Lösungsansätze zu planen, umzusetzen und zu evaluieren. Unter der Bezeichnung „SKATING“ (Studienreformprozess Karlsruhe zur Transformation des Ingenieurstudiums) wird an der Hochschule Karlsruhe in enger Zusammenarbeit mit der Geschäftsstelle der Studienkommission für Hochschuldidaktik (GHD) ein solches Projekt umgesetzt. Ziel ist es, die Studienbedingungen in den ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen weiter zu verbessern und insbesondere die Qualität der Hochschullehre so weiterzuentwickeln, dass sie den aktuellen Herausforderungen an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften möglichst gerecht wird. Basierend auf anfänglichen Bestandsaufnahmen und Bedarfsanalysen werden im Rahmen von Pilotprojekten gemeinsam mit den Lehrenden innovative Lehrmethoden erprobt. Durch die enge Zusammenarbeit mit den Lehrenden entstehen auf die Bedürfnisse und Persönlichkeit des Dozenten abgestimmte Unterrichtsmodelle, die stets lebendig weiterentwickelt oder auch wieder verworfen werden können, denn letztlich entscheidet die Zufriedenheit des Lehrenden mit der eingesetzten Methode über Art und Dauer der Umsetzung.

10.2.2

Lehr- oder Lernveranstaltung? Das Inverted Classroom Model

Zur Bedeutung der Lehrform „Vorlesung“ Im Zuge der allgemeinen Anerkennung der Notwendigkeit eines „Shift from Teaching to Learning“ in der Hochschullehre wird heute gern die traditionelle Frontalvorlesung als hochschuldidaktischer Anachronismus aufgefasst, der schleunigst durch „Aktivierende Veranstaltungsformen“ zu ersetzen sei. Hierbei ist jedoch schon die Unterstellung, eine Vorlesung könne per se keine „Aktivierende Veranstaltungsform“ sein, in dieser Pauschalierung falsch. Mit Aktivierung ist nicht einfach ein äußerlicher Aktivismus gemeint, sondern auch und gerade das geistige Tätigsein des Lernenden. Es gibt Lehrende, denen eine

120

10 Das ICM an der Hochschule Karlsruhe - ein nicht quantisierter Flip

solche innere Aktivierung ihres Publikums selbst über längere Zeiträume hinweg hervorragend gelingt. Allerdings mag auch ihnen diese Aktivierung noch besser gelingen, wenn im Unterricht rezeptive und eigenproduktive Phasen der Studierenden einander ergänzen und rhythmisch abwechseln. Welche Rolle spielt die Frontalvorlesung in einem typischen mathematischnaturwissenschaftlichen oder ingenieurwissenschaftlichen Studium? Sie ist besonders an Universitäten gerade keine „Lernveranstaltung“ im eigentlichen Sinne, sondern eine Stoffpräsentationsveranstaltung, in welcher der „State of the Art“ der Disziplin auf in der Regel hohem Abstraktionsniveau vorgestellt wird. Sie gibt einen Ausblick auf den mehr oder weniger kanonisierten Stand des Faches. Sie gibt Überblicke, entwickelt den Roten Faden des Stoffes und ist die fachliche Referenz. Eigentlich gelernt wird der Stoff erst durch ein intensives Selbststudium, das neben der Vorlesung noch andere Quellen hinzuzieht, durch die selbständige Bearbeitung von Fragen und Übungen zum Stoff, durch deren Besprechung in Übungsgruppen, durch Praktikumsund Laborveranstaltungen und schließlich durch selbst organisierte Lernpartnerschaften. Erst die Gesamtheit dieser Lernkontexte sorgt dafür, dass Kenntnisse nachhaltig angeeignet werden, Verständnis solide aufgebaut wird und komplexes Methodenwissen auch im Transfer beherrscht wird. Das ICM als Lehrveranstaltung Das Inverted Classroom Model (ICM) begreift sich als eine Umkehrung der oben dargestellten traditionellen Lehrstruktur. Als ein Wesensmerkmal dieser klassischen Struktur wird der Umstand betrachtet, dass zunächst die Wissensvermittlung in der Vorlesung stattfindet, danach dann die Aneignung des Wissens in Eigenarbeit oder auch in Lerngruppen. Die größten Schwierigkeiten treten häufig nicht beim Erstkontakt mit dem Stoff bei seiner Vermittlung auf, sondern beim tieferen Erfassen und Begreifen der Inhalte und Konzepte sowie bei der Anwendung auf praktische Probleme, und damit insbesondere dann, wenn der Lernende auf sich gestellt ist. Möchte man Studierende in der Aneignungsphase unterstützen, ist es unter der Annahme, dass die Reihenfolge: Wissensvermittlung – gründlichere Aneignung - nicht verändert werden kann, ein naheliegender Schritt, die erste Phase (die Wissensvermittlung) im Rahmen eines vorgelagerten Selbststudiums zu verlangen. Zentrales Merkmal der ICM ist somit, dass - im Gegensatz zu traditionellen Vorlesungen die aktive Wissensaneignung, der eigentliche Lernprozess also, innerhalb der Präsenzveranstaltungen stattfindet. Die an passive Subjekte gerichtete Lehrenden-zentrierte Wissensvermittlung wird aus der Präsenzveranstaltung ausgelagert, in der damit Raum geschaffen wird für die praxisnahe Anwendung neu erworbener Wissensinhalte, zum Üben, zum Vertiefen, für aktive Problemlöseprozesse und vor allem für den echten Austausch mit dem Lehrenden. Auf der Suche nach Lehrmethoden, die der oben geschilderten Ausgangslage unter den Studierenden gerecht werden, fiel das Augenmerk daher auch auf das Inverted Classroom Model.

10.2 Probleme der Studierenden

121

Die zwei Seiten des ICM Bei der Umsetzung des ICM stellen sich zwei wesentliche Fragen: „Wie realisiere ich die Wissensvermittlung?“ und „Wie erzeuge ich einen deutlichen Mehrwert für die Präsenzveranstaltung, ohne neue Inhalte zu präsentieren?“ Eine sehr gute Inspiration für die Nutzung der Präsenzphase zur Förderung eines tieferen Verständnisses am Beispiel der Physik findet sich im Buch ''Peer Instruction'' von Eric Mazur (Mazur, 1997). Dieses in Harvard entwickelte Konzept beinhaltet ebenfalls bereits die didaktische Methode, die Informationsvermittlung aus der Vorlesung auszulagern, und motivierte viele didaktisch interessierte Dozenten der Physik zu konzeptorientiertem Unterricht mit erweiterter Interaktivität (Abstimmungen und Diskussionen über Multiple-Choice Verständnisfragen mit Clickern bzw. Flashcards). Da im Gegensatz zu heute schnelles Internet noch nicht umfänglich verfügbar war und der Schwerpunkt des Konzeptes auf der Umgestaltung der Präsenzphase lag, bekamen die Studierenden vor der Lehrveranstaltung einen Leseauftrag, dessen Erfüllung durch einen kurzen Test überprüft wurde. Durch den Zuwachs an technischen Möglichkeiten und die immense Vielfalt an online verfügbaren Informationen erweitert sich aktuell das Potenzial der Methode. Die Bereitstellung von Videomaterialien versetzt Studierende in die Lage, die Geschwindigkeit der Wissensvermittlung selbst zu steuern. Auch wenn auf Rückfragen oder Verständnisprobleme nicht mehr direkt durch den Lehrenden eingegangen werden kann, hat der Zuhörer nun die Möglichkeit, die Aufzeichnung für eigene Recherchen zu unterbrechen. Er kann so kritische Passagen wiederholen oder verbleibende Fragen - beispielsweise in einem Diskussionsforum - an den Lehrenden zur Vorbereitung der nächsten Präsenzveranstaltung übermitteln. Fast alle Aspekte, die eine Vorlesung erfolgreicher machen als das Selbststudium aus einem Buch, können mit einem Video simuliert werden. Durch die zunehmende Verbreitung von Internetvideoportalen, wie YouTube, ist die Bereitstellung von Lernvideos und Vorlesungsaufnahmen auch in Hochschulen populärer geworden (siehe z.B. [INT2]).

10.2.3

Beispiele aus den Lernkulturen verschiedener Fächer

Im Hochschulbereich unterscheiden sich die Lehrkulturen verschiedener Fachrichtungen in erheblichem Maße. So sind viele aktivierende Methoden wie „Blitzlicht“ und „Partnerinterview“ in der Vermittlung von Fremdsprachen eine Selbstverständlichkeit, während sie im Bereich der Vermittlung mathematisch-naturwissenschaftlicher oder technischer Inhalte eine didaktische Innovation darstellen können. Analoges gilt auch für das ICM. Es kann in diesen Feldern neue Perspektiven für das Lehren und Lernen eröffnen. Historisch gesehen ist das geschilderte Umkehrkonzept vielerorts eine akademische Selbstverständlichkeit, etwa in Seminaren zur Philosophie oder in den Literaturwissenschaften, wo das Lesen eines behandelten Textes in Eigenverantwortung vor der Unterrichtsstunde erfolgt, die dann der Besprechung von Fragen, der Interpretation und der Diskussion gewidmet ist (vgl. Handke, 2012). Toto/Nguyen (2009) sehen das ICM als Möglichkeit, trotz einer großen Stofffülle, die nicht ohne eine frontale - hier multimedial unterstützte - Vermittlung auskomme, in Präsenzveranstaltungen eine aktive selbstgesteuerte, bestenfalls kooperative Auseinandersetzung mit

122

10 Das ICM an der Hochschule Karlsruhe - ein nicht quantisierter Flip

Lerninhalten zu ermöglichen. Sie betonen den Vorteil, dass mit der Methode in den Präsenzveranstaltungen mehr Raum für direkte Interaktion sowohl unter den Studierenden als auch zwischen den Studierenden und der Lehrperson möglich wird. Die Studierenden haben die Möglichkeit, Fragen, die sich während der Wissensvermittlung aufgetan haben, während der Wissensaneignung zu stellen. Lehrende können direkt Feedback geben oder die Leistung und die Lernfortschritte direkter beobachten, wie dies beispielsweise Gannod et al. (2008) darstellen. Zusätzlicher Nutzen: Der Gender-Aspekt Speziell für ingenieurwissenschaftliche Studiengänge könnte das ICM auch deshalb ein interessanter Ansatz sein, weil er geeignet sein könnte, die Attraktivität der Veranstaltungen für weibliche Studieninteressierte zu steigern, ohne dadurch männliche abzuschrecken. Hinweise auf Geschlechtsunterschiede in der Akzeptanz des ICM finden sich beispielsweise bei Lage et al. (2000). Das ICM wurde in dieser Studie über alle Studierenden hinweg positiv bewertet, die Bewertung durch weibliche Studierende fiel jedoch positiver aus, als die der männlichen Kommilitonen. Lage et al. (2000) stellen die Hypothese auf, dass insbesondere der Aspekt der kooperativen Lernformen in den Präsenzveranstaltungen beim ICM bei weiblichen Studierenden Anklang findet. Zu einem ähnlichen Schluss kommen auch Lorenzo et al. (2006), die den positiven Einfluss des verwandten Peer Instruction Konzeptes auf das inhaltliche Verständnis geschlechtsspezifisch untersuchten. Durch interaktive Lehrmethoden konnte ein anfangs bestehender Unterschied im Stoffverständnis reduziert oder sogar eliminiert werden, ein Effekt, welcher der kommunikativen Ausrichtung dieser Methode zugeschrieben wird.

10.2.4

Die Umsetzung

Der Einstieg in das ICM mit Videoeinsatz ist zunächst mit einem gewissen Arbeitsaufwand verbunden. Nach dem erstmaligen Erstellen der Materialien und der Institutionalisierung der notwendigen Prozesse und Arbeitsschritte ist in den Folgesemestern jedoch mit einem deutlich verringerten Aufwand zu rechnen. Die finanziellen Kosten und der Arbeitsaufwand für die Erstellung und Vervielfältigung qualitativ hochwertiger audiovisueller Medien sind überdies in den letzten Jahren stetig zurückgegangen. Insbesondere kann sich in Antizipation eines möglichen zukünftigen Einstiegs in das ICM die Aufzeichnung der „traditionellen“ Vorlesungen in den vorausgehenden Semestern lohnen, wie dies beispielsweise Lage et al. (2000) empfehlen.

10.3

Evaluation

Keine innovative Lehrmethode sollte um ihrer selbst Willen eingesetzt werden oder weil man „schon immer mal eine bestimmte Technologie ausprobieren wollte“. Ausgangspunkt sollte immer ein im Voraus zu bestimmender Zielzustand, in Gegenüberstellung zu einem momentanen Ist-Zustand, sein. Zur Erreichung des erwünschten Zielzustandes werden unter Beachtung der jeweiligen Randbedingungen geeignete Maßnahmen, hier Lehrmethoden, ausgewählt. Um die voraussichtliche Eignung einer Methode vorab zu beurteilen, werden

10.3 Evaluation

123

auf Basis einer Theorie oder eines Modells Hypothesen über mögliche Wirkungszusammenhänge aufgestellt, bestenfalls durch empirische Ergebnisse unterstützt. Mit der Einführung jeder neuen Lehrmethode sind somit bestimmte Erwartungen, das Eintreten eines mehr oder minder genau spezifizierten Mehrwertes verbunden. Ausgehend von der oben geschilderten Problemlage wurde im vorliegenden Fall das ICM als eine potenziell geeignete Methode identifiziert. Dass mit einer Maßnahme aber auch tatsächlich das Intendierte erreicht wird, sollte auch im Falle einer fundierten Maßnahmenauswahl nicht von vornherein als gegeben betrachtet werden, sondern Gegenstand empirischer Untersuchungen sein. Ziel von Evaluation ist es zum einen summativ zu bewerten, inwieweit die Erwartungen eingetreten sind und abschließend einzuschätzen, ob der Einsatz der neuen Methode erfolgreich war. Darüber hinaus sollte aber auch prozessbegleitend formativ evaluiert werden, um im Bedarfsfall nachjustieren und eventuellen unintendierten negativen Effekten begegnen und ein Programm gegebenenfalls abbrechen zu können. Evaluationsforschung im engeren Sinne bezeichnet den Einsatz wissenschaftlicher Forschungsmethoden und Modelle um eine solche Bewertung vorzunehmen (vgl. Wittmann, 1985). Letztendlich geht es darum, durch Evaluation Entscheidungen zu ermöglichen, in diesem Fall z.B. inwieweit eine Lehrmethode als erfolgreich weiter eingesetzt oder inwiefern Modifikationen vorgenommen werden sollten. Unter dieser Perspektive beinhaltet Evaluation alle Aktivitäten der „Sammlung, Analyse, Interpretation und Kommunikation der Arbeitsweise und Effektivität von Programmen, Produkten und Interventionen“ (Wittmann, 2009:60). Evaluation wird somit zu einem unverzichtbaren Bestandteil von Interventionsvorhaben. Die jeweilige Evaluationsstrategie, die Wahl der Methoden und Kriterien, ist auf das jeweilige Programm maßzuschneidern, um dessen Erfolg angemessen beurteilen zu können.

10.3.1

Wahl der Bewertungskriterien

Eine entscheidende Frage ist, aus welcher Perspektive der Erfolg bewertet wird. In der Regel sind die nicht immer miteinander zu vereinbarenden Interessen und Erwartungen unterschiedlicher Anspruchsgruppen gleichzeitig zu berücksichtigen. Sich diese zu vergegenwärtigen sollte der Ausgangspunkt jedes Evaluationsvorhabens sein. Im vorliegenden Fall sind die Lehrenden, die Studierenden, die Hochschule als Institution, der Mittelgeber oder auch die Wissenschaftler des Projekts zu nennen. Beispielsweise sind zur Bewertung des ICM aus Sicht des Lehrenden dessen Vorstellungen von einer gelungenen Lehrveranstaltung und damit die individuellen Kriterien für den Erfolg auf organisatorischer, fachlicher, methodischer und persönlicher Ebene zu erheben. Aus der Stakeholder-Perspektive lassen sich Zielkriterien und erste Überlegungen zu deren Operationalisierung ableiten, um die Wirkung und den Erfolg einer Maßnahme bewerten zu können. Zur Bewertung des Erfolgs des ICM könnte als Ergebniskriterium unterschiedlicher Anspruchsgruppen letztendlich „Studienerfolg“ der teilnehmenden Studierenden benannt werden, ob nun verstanden als „die Beendigung des Studiums mit bestandener Abschlussprüfung“, „gute Studiennoten“, „wenig Prüfungswiederholungen“, „eine kurze Studiendauer“, „eine hohe Studienzufriedenheit“, „der Erwerb berufsrelevanter Kompetenzen“ oder auch „anschließender Berufserfolg“ (vgl. z.B. Rindermann/Oubaid, 1999:175, Hell et

124

10 Das ICM an der Hochschule Karlsruhe - ein nicht quantisierter Flip

al., 2008:44). Zweifellos nachvollziehbar ist die Empfehlung, anstelle solch globaler und distaler Kriterien den Erfolg einer Einzelintervention, wie der Einsatz des ICM im Rahmen eines Kurses, anhand von proximalen, dem Kursgeschehen nahen Ergebniskriterien zu bewerten. In Frage kommen beispielsweise der Kompetenzgewinn in den behandelten Themenbereichen oder das Erreichen von vorab für die Lehreinheit definierten Lernzielen. Die Wahl sollte sich auch nicht auf ein singuläres Ergebniskriterium beschränken, sondern breit gefächert Kriterien ausgewählt werden, die möglichst alle Aspekte einer Intervention angemessen widerzuspiegeln (vgl. Wittmann, 2009). Beispielsweise können im vorliegenden Fall das Ebenen-Modell von Kirkpatrick (1979) oder etablierte Lernzieltaxonomien eine Planungshilfe darstellen.

10.3.2

Fragen der Datenerhebung

Noch nicht geklärt ist damit die Frage, mit welchen Methoden oder über welche Datenquellen die Ausprägung auf Zielvariablen erhoben wird. Als Datenquellen kommen Fragebogendaten, beispielsweise Selbstauskünfte der Studierenden (z.B. bei Lage et al. 2000; Gannod et al., 2009), Ergebnisse objektiver Tests, beispielsweise standardisierte Konzepttests (z.B. bei Papadopoulos et al., 2010) oder maßgeschneiderte kriterienorientierte Tests, die Einschätzung des Lehrenden oder eines anderen Beobachters in Frage. Bestenfalls werden nicht nur mehrere Kriterien, sondern auch unterschiedliche Datenquellen und Datenerhebungsmethoden kombiniert eingesetzt. Um gefundene Effekte kausal auf eine Intervention zurückführen zu können, sind (quasi-) experimentelle Versuchspläne zu empfehlen. Im Idealfall würde dies zum einen die Erfassung der Ausgangsleistung vor der ICM-Lehreinheit, zum anderen den Einbezug einer Vergleichsgruppe implizieren. Damit auf deskriptiver Ebene gefundene Effekte, ob im Gruppenvergleich oder in Gegenüberstellung von Prä-Post-Messungen, angemessen auf statistische Signifikanz überprüft werden können, sind wiederum relativ große Untersuchungsgruppen notwendig. Ausschlaggebend für die Wahl des Untersuchungsdesigns sind letztendlich oftmals pragmatische Überlegungen bezüglich der verfügbaren Ressourcen. Zusätzlich ist der Zeithorizont zu beachten: was sind kurz-, mittel- und langfristige Effekte? Gegebenenfalls werden im Rahmen der durch das ICM vermittelte Inhalte besonders tief verarbeitet, sodass sie insbesondere auch nach längeren Zeiträumen abgerufen werden können. Die Überlegenheit des ICM gegenüber traditionellen Lehrmethoden würde sich dann insbesondere in wiederholten Follow-up-Messungen nach längeren Zeiträumen zeigen.

10.3.3

Unintendierte Effekte

Die Wirkung des ICM umfassend zu untersuchen, impliziert auch, den Blick nicht auf die Betrachtung der erwünschten Effekte, deren Eintreten oder Ausbleiben, zu verengen, sondern mögliche Risiken und negativen Folgen zu beachten. Unintendierte Effekte des ICM könnten sich beispielsweise durch den hohen Zeitbedarf auf Seiten der Studierenden ergeben. Gegebenenfalls leiden Studienleistungen in anderen Bereichen unter der erhöhten zeitlichen Belastung durch die ICM-Kurse. So berichten Papadopoulos et al. (2010), dass die Studierenden nach eigener Angabe mehr Zeit für den ICM-Kurs aufwenden mussten als

10.3 Evaluation

125

für andere Kurse mit vergleichbarer Anzahl an Credit-Punkten. Auch auf Seiten der Lehrenden und anderen an der Umsetzung Beteiligten sollten der Aufwand und die Arbeitsbelastung durch diese Methode betrachtet und gegebenenfalls Kosten-Nutzen-Analysen durchgeführt werden. Ob sich für den Lehrenden, wie oben vermutet, zumindest langfristig eine Arbeitsentlastung gegenüber der klassischen Veranstaltungsgestaltung ergibt, bleibt zu prüfen, denn auch für die interaktiven Präsenzveranstaltungen erwarten Studierende eine gute Vorbereitung und Organisation durch den Lehrenden (vgl. Toto/Nguyen, 2009). Beispielsweise berichten Haden et al. (2009), dass für die Erstellung von 20 Minuten Videomaterial für die Nutzung im Rahmen des ICM mindestens drei Stunden Zeit investiert werden mussten. Den Blick nicht nur auf die erwarteten und erhofften Effekte zu verengen, lässt sich insbesondere dann umsetzen, wenn neben standardisierten Tests und geschlossenen Fragen zusätzlich Methoden aus dem Bereich der qualitativen Forschung eingesetzt werden (vgl. bei Haden et al., 2009), beispielsweise unstrukturierte Gespräche mit Beteiligten durchgeführt oder Informationen durch teilnehmende Beobachtung erhoben werden. Insbesondere wenn zu einer Interventionsmethode bisher wenige Erfahrungen vorliegen, sollte nicht auf solche hypothesengenerierenden Verfahren verzichtet werden. Zumindest sollte jedoch in Fragebogenverfahren Raum für offene Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge eingeräumt werden.

10.3.4

Einfluss weiterer Variablen

Darüber hinaus darf nicht ungeprüft davon ausgegangen werden, dass alle Beteiligten in gleichem Maße und unabhängig von den jeweiligen individuellen Voraussetzungen und spezifischen Randbedingungen von einer neuen Lehrmethode profitieren. Dies ist die Frage nach differentiellen Effekten und der Wirkung von Moderatoren. Als Randbedingungen könnte beispielsweise die Art der Hochschule, das Studienfach, das Thema des Kurses oder die Größe der Gruppe eine Rolle spielen. Erfolgreich eingesetzt wurde das ICM sowohl in den Wirtschafts- (vgl. z.B. Lage et al., 2000) wie auch den Ingenieurwissenschaften (vgl. z.B. Papadopoulos et al., 2010, Toto/Nguyen, 2009). Auf Seiten der Studierenden sind insbesondere in Anbetracht der hohen Heterogenität der Studierendenschaft differentielle Effekte im vornherein keinesfalls auszuschließen. Unterschiede in Abhängigkeit vom Geschlecht der Studierenden wurden bereits oben dargestellt. Darüber hinaus könnten motivierte Studierende mit Defiziten im mitgebrachten Schulwissen in besonderem Maße von der Möglichkeit zur Wissensvermittlung in eigener Lerngeschwindigkeit profitieren. Neben soziodemographischen Variablen und Unterschieden im Wissensstand kommen auch Persönlichkeitsunterschiede als erklärende Variable in Frage. Unabhängig davon ob man sich auf die Diskussion um die Sinnhaftigkeit oder den heuristischen Nutzen von Lernertypologien einlassen möchte, ist damit zu rechnen, dass Studierende mit unterschiedlichen Ausprägungen auf verschiedenen Persönlichkeitsdimensionen in unterschiedlichem Maße auf verschiedene Lehr- und Lernumwelten reagieren. Beispielsweise finden Toto/Nguyen (2009) Hinweise auf Zusammenhänge zwischen der individuellen Ausprägung auf verschiedenen Dimensionen eines Lernstil-Fragebogens, dem Nutzungsverhalten und der Bewertung des ICM. Vielleicht bietet diese Lehrmethode aber dennoch den Vorteil, dass im Vergleich zu traditionellen Lehrmethoden letztendlich alle Lernertypen profitieren, wie beispielsweise Lage et al. (2000) annehmen. Zusätzlich kann

126

10 Das ICM an der Hochschule Karlsruhe - ein nicht quantisierter Flip

auch die Person des Lehrenden eine Rolle spielen, insbesondere in Bezug auf seine Begeisterung für die Methode und auf die Frage, inwieweit das ICM als neue Lehrmethode mit seinen bisherigen Erfahrungen, seiner allgemeinen Lehrphilosophie, seinen fachdidaktischen Vermittlungskonzepten und seinem Rollenverständnis kompatibel ist. Letztendlich sind Einzelstudien jedoch nur begrenzt in der Lage solche Moderatoreffekte aufzudecken. Hierfür sind Meta-Analysen notwendig. In Einzelstudien können nur die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass eine spätere Integration der empirischen Einzelbefunde möglich wird. Dies impliziert nicht nur ein forschungsmethodisch einwandfreies Vorgehen, sondern insbesondere auch dessen detaillierte Dokumentation und die umfassende Beschreibung aller Randbedingungen und untersuchten Personengruppen.

10.3.5

Prozessgeschehen

Zur umfassenden Evaluation ist darüber hinaus auch unverzichtbar das eigentliche Interventionsgeschehen zu betrachten und die Blackbox zwischen Eingangsvoraussetzungen und Ergebniskriterien aufzubrechen. Auf diesem Wege können die Ursachen für das Ausbleiben von erwünschten Effekten oder das Auftreten von unerwünschten Wirkungen aufgedeckt werden. Im Sinne der Implementierungskontrolle ist zu prüfen, inwieweit eine Lehrmethode wie intendiert umgesetzt wurde. Gegebenenfalls sind prozessbegleitend Maßnahmen zu ergreifen dies sicherzustellen. Beispielsweise sollte im vorliegenden Fall geprüft werden, inwieweit die Videos zur Vorbereitung rechtzeitig und in angemessener Qualität verfügbar waren oder ob technische Probleme auftraten. Studierende können zu Lehrmaterialien, zur Organisation der Durchführung, dazu, inwieweit ihnen die Aufgabenstellung klar war oder zur Passung der behandelten Inhalte für das ICM befragt werden (vgl. Lage et al., 2000; Haden et al., 2009). Zusätzlich können weitere Informationen zum Prozessgeschehen erhoben werden, zum Ausmaß an Interaktion in den Präsenzveranstaltungen, zum Einsatz einzelner Lehrtechniken, zum Umstand, inwieweit auf Fragen eingegangen wird sowie zu den Fragen, ob Leistungsrückmeldung erfolgt, ob unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten möglich sind und inwieweit durch das ICM semesterbegleitend gelernt wird. Diese Informationen können durch Befragung des Lehrenden, der Studierenden oder im Rahmen der Beobachtung durch Dritte erhoben werden. Notwendige Bedingung für den Erfolg des ICM ist die Kooperationsbereitschaft der Studierenden. Diese müssen die Lehrmaterialien zur Wissensvermittlung vor den Präsenzveranstaltungen durcharbeiten, Videos anschauen oder Texte lesen und in die Veranstaltung kommen, worauf beispielsweise Gannod et al. (2009) hinweisen. Bestenfalls wird auf individueller Ebene das Ausmaß erfasst, in dem die Intervention angenommen wurde. Über Paradaten aus elektronischen Systemen oder über zeitnahe Befragungen lassen sich Informationen zum Nutzungsverhalten erheben, beispielsweise inwieweit die Videos konzentriert und vollständig angeschaut wurden, ob Ablenkungen auftraten, Passagen wiederholt oder wie viel Zeit insgesamt aufgewandt wurde (z.B. bei Toto/Nguyen, 2009). Diese Informationen können im Sinne einer „Interventionsdosis“ interpretiert und für korrelative Auswertungen herangezogen werden. Die Akzeptanz der neuen Methode auf Seite der Studierenden ist von entscheidender Bedeutung. Daher sollte deren Zufriedenheit erfasst werden. In vielen Studien zum ICM werden die Studierenden beispielsweise am Ende des

10.3 Evaluation

127

Semesters dazu befragt, welche Unterrichtsform sie bevorzugen. Zumeist schneidet das ICM in dieser Gegenüberstellung gut ab (z.B. Lage et al., 2000; Papadopoulos et al., 2010). Ähnliches gilt für die Bewertung des ICM durch die Lehrenden. Maßnahmen zu identifizieren, die Akzeptanz sicherstellen, ist von hoher Wichtigkeit. Der Einbezug der Studierenden in Planung und Bewertung der Methode erscheint aus dieser Perspektive unverzichtbar. Einen heuristischen Rahmen für Akzeptanzstudien zum ICM könnte das „Technology Acceptance Model“ von Davis (z.B. 1989) oder eine seiner zahlreichen Modifikationen darstellen. Die detaillierte Beschreibung allen Prozessgeschehens ermöglicht zudem, zu untersuchen, auf welche Programmkomponente, welchen Aspekt, der Erfolg des ICM zurückzuführen ist. Möglich wäre beispielsweise, dass letztendlich die zusätzlich aufgewandte Lernzeit ausschlaggebend ist, oder es könnten die kooperativen Lernformen in den Präsenzveranstaltungen sein. Die Ausgestaltungsmöglichkeiten für das ICM sind in der Praxis vielfältig. Entscheidend ist, zu identifizieren, welche Komponenten für den Erfolg der Methode unter welchen Rahmenbedingungen unverzichtbar sind, um so die Planung und Umsetzung in der Praxis erfolgreich zu gestalten. Für die Planung der eigenen Evaluation lassen sich die folgenden Punkte zusammenfassen: x Prozessbegleitende Datenerhebung und zusammenfassende Bewertung x Berücksichtigung der Interessen und Perspektiven aller Beteiligten x Ergebniskriterien festlegen o o o o o

Abgeleitet aus Stakeholderperspektiven Passend zum Kursgeschehen Multiple Ergebniskriterien Unterschiedliche Datenquellen Zu mehreren Zeitpunkten

x Mögliche unintendierte Effekte erfassen o Zeitbedarf auf Seite der Studierenden und Folgen daraus o Ressourcenbedarf für Planung, Vorbereitung, Implementierung und Evaluation des ICM o Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden; Verbesserungsvorschläge x Einfluss weiterer Variablen untersuchen o Rahmenbedingungen o Untersuchungsstichprobe (Soziodemographie, kognitive Voraussetzungen, Persönlichkeitsvariablen) o Lehrperson x Prozessgeschehen betrachten o Lehrmaterialien, technische Probleme, Organisation der Durchführung o Lehr- und Lernverhalten (z.B.: Interaktion zwischen Lehrendem und Lernenden, Beantworten von Fragen, kooperative Lernformen, semesterbegleitendes Lernen) o Nutzungsverhalten (Videos, Downloads, Einträge in Diskussionsforum o.Ä.) o Zufriedenheit, Vor- und Nachteile aus Sicht aller Beteiligten

128

10 Das ICM an der Hochschule Karlsruhe - ein nicht quantisierter Flip

o Unterschiedliche Datenquellen (Befragung und Beobachtung Studierender und Lehrender )

10.4

Geplante ICM-Varianten

Bei einem Physiker erzeugt das Wort Flip zumeist das Bild von wenigen diskreten Zuständen (ähnlich dem Spin eines Fermions in einem externen Magnetfeld), die einander stets ausschließen. Im Folgenden werden verschiedene Wege in eine ''invertierte'' Lehrveranstaltung aufgezeigt, die auch unterschiedliche Geschwindigkeiten in der Reformbereitschaft der Lehrenden zulassen, womit sich ganze Kurse sozusagen in Zwischenstadien befinden können. Grundlage für die Bewertung des Systems ist die persönliche Vorstellung von einer gelungenen Lehrveranstaltung. Daher werden in Vorgesprächen die individuellen Kriterien für deren Erfolg auf organisatorischer, fachlicher, methodischer und persönlicher Ebene erhoben.

10.4.1

„Minimal Invertiert“: Aufzeichnung von Vorlesungszusammenfassungen

Diese Variante basiert auf Erfahrungen mit aufgezeichneten Vorlesungszusammenfassungen an der ETH Zürich (Schiltz, 2011). Sie ist noch sehr nahe an der traditionellen Vorlesung, nur die Rekapitulationsphase, welche typischerweise am Anfang der Vorlesung stattfand, ist in den digitalen Raum verlagert und wurde als Podcast angeboten. Pädagogische Vorteile dieser Form der Aufzeichnung sind: 1. mehr Zeit in der Vorlesung zur Vertiefung des Stoffes. 2. erleichterte Nachbereitung, insbesondere in der Prüfungsphase. 3. Verdeutlichung des 'Roten Fadens'. Die Methode, wie sie in Zürich eingesetzt wurde, bedeutet jedoch einen Mehraufwand für den Dozenten, typischerweise in der Größenordnung einer Stunde pro Zusammenfassung (wöchentlich nach 4 Semesterwochenstunden) (Schiltz, 2011). Da Professoren an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften jedoch durch das hohe Lehrdeputat häufig nicht die Möglichkeit für einen solchen Mehraufwand sehen oder das persönliche Präsentieren der Zusammenfassung sehr schätzen, wurde die Methode für den Einsatz an der Hochschule Karlsruhe, der im Folgenden kurz beschrieben wird, entsprechend modifiziert. Die Zusammenfassung wird in der laufenden Vorlesung aufgenommen, womit noch immer zwei von drei Vorteilen der Züricher Form bewahrt werden. Die Durchführung in einer Mathematikvorlesung begann im Sommersemester 2012. Der Dozent hält die ca. 10-minütigen Zusammenfassungen themenbezogen (in etwa) alle zwei Wochen. Aufgezeichnet und bearbeitet werden sie von einem Mitarbeiter des SKATING Projekts. Zu achten ist speziell auf gute Tonqualität, da die Aufzeichnung in einem gut besuchten Hörsaal stattfindet, und auf gute Lesbarkeit der verwendeten Medien. Der Professor dieses Pilotprojektes verwendet in den Zusammenfassungen sowohl die Tafel als

10.4 Geplante ICM-Varianten

129

auch einen Overheadprojektor und die Projektion von Computersimulationen. Dadurch muss auf wechselnde Beleuchtungsformen eingegangen, die Kamera geschwenkt und gegebenenfalls immer wieder einmal ein Bildausschnitt vergrößert werden. Eine automatische Aufzeichnung würde somit zu einem merklichen Qualitätsverlust führen. Mit der Verwendung der Aufzeichnung im nächsten Semester könnte das Vorlesungselement „Zusammenfassung“ bereits als invertiert bezeichnet werden, da es dann nicht nur zur Nach- sondern auch zur kurzen inhaltlichen Vorbereitung dienen kann. Durch die Verwendung der Zusammenfassungen enthalten die Videos die zentralen Inhalte der kompletten Vorlesung, jedoch in extrem kompakter Form.

10.4.2

„Partiell-Invertiert“: Inverted Classroom zu einem einzelnen komplexen Thema

Die Vermittlung komplexer Zusammenhänge scheitert oft an unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten bei den Studierenden. Zudem gibt es Themen, die auch auf Nachfrage kaum umformuliert sondern meist nur wiederholt werden können, da die Information so kompakt verpackt ist, dass eine Umformulierung die Aussage verfälscht (z.B. Definitionen). Für ein solches Thema sollte ein hochwertiges Lehrvideo erstellt und multimedial z.B. durch Animationen ergänzt werden, welches die Studierenden im Voraus so oft ansehen sollen bis der Inhalt präsent ist. In der zugehörigen Vorlesung wird der Stoff dann vertieft und das Verständnis durch Anwendungsbeispiele und Abgrenzung erhöht. Die invertierte Einheit ist in dieser Variante kürzer als eine komplette Vorlesung, und im Gegensatz zur vorherigen Version ist auch der aufgezeichnete Stoffumfang stark reduziert. Invertiert wird eine derart multimedial unterstützte Veranstaltung dadurch, dass die Nutzung des bereitgestellten Lehrmaterials als Bedingung für ein Verständnis der in der Präsenzphase bearbeiteten Inhalte zwingend erforderlich ist. Zielgruppe dieser Variante sind technologisch interessierte Professoren mit hohem Anspruch an die Qualität der Präsentation. Sind an der Hochschule Studiengänge oder Veranstaltungen mit künstlerischem oder redaktionellem Hintergrund vertreten, empfiehlt es sich, zu Beginn einen Kontakt herzustellen, da die Erstellung oft im Rahmen von Projekten oder Studienarbeiten erfolgen kann. Allgemein lohnt es sich, vor der Erstellung neuer multimedialer Inhalte im Internet nach bereits vorhandenen und frei verwendbaren multi-medialen Elementen zu suchen. Die Umsetzung dieser Form des ICM benötigt mehr Zeit und wird deswegen im laufenden Sommersemester 2012 noch nicht im Rahmen des SKATING Projektes implementiert. Der Professor, auf dessen Anfrage das erste Projekt initiiert wurde, steht jedoch bereits in Kontakt mit möglichen Partnern an der Hochschule.

10.4.3

„Zeitweise komplett invertiert“: Inverted Classroom in Höherer Mathematik

Die Mathematik wird für viele Studenten gerade im Bereich der Ingenieurwissenschaften zur entscheidenden Hürde. Auch auf Seiten der Dozenten kann nach mehreren Jahren Un-

130

10 Das ICM an der Hochschule Karlsruhe - ein nicht quantisierter Flip

terricht der Höheren Mathematik der Wunsch nach Veränderung entstehen, da sich der Ablauf der Vorlesung kaum noch verbessern oder erweitern lässt. Die videobasierte ICM bietet der Vermittlung von Mathematik Unterstützung in zwei zentralen Punkten: x Es ist ein offenes Geheimnis, dass mathematisches Können vor allem durch Anwendung bzw. Übung erlangt wird; daher sollte diesem Aspekt möglichst viel Zeit gewidmet werden. x Zur Wissensvermittlung eignet sich das schrittweise Entwickeln, wie es meist vom Professor an der Tafel durchgeführt wird (Lernen durch 'Abschauen', vgl. Spannagel, 2012). Auswahl von Veranstaltung und Thema Nach der Vorstellung der Methode durch einen SKATING Mitarbeiter hat ein Professor an der Hochschule Karlsruhe seine Vorlesung Höhere Mathematik 3 im Sommersemester 2012 explizit der Erprobung des ICM in der Ingenieurmathematik gewidmet. Besondere Beachtung kam dabei der Auswahl des Kurses und des Pilotthemas zu. Mit etwa 20 motivierten Studierenden aus dem dritten Semester war der fortgeschrittenste der in Frage kommenden Kurse relativ klein. Zudem konnte von den studienerfahreneren Studierenden ein verantwortungsvoller Umgang mit der Methode sowie eine reflektierte Bewertung erwartet werden. Um die Methode zu erproben hat sich der Professor entschlossen, zunächst nur die Vorlesungen zu einem bestimmten Themengebiet mit vielen Übungsmöglichkeiten zu invertieren. Das Thema Differentialgleichungssysteme wird traditionell als eher schwer wahrgenommen, kann aber mit einem gewissen Maß an Vertrautheit und Übung gut gemeistert werden. Klausuraufgaben zu diesem Thema sind meist schematisch lösbar und bilden eine geeignete Basis zum Bestehen des Kurses. Auch die Lage innerhalb der zeitlichen Semesterplanung war geeignet (ca. 3 Wochen nach Semesterbeginn). Ein weiteres (später im Semester behandeltes) Thema (mehrdimensionale Integration) wurde identifiziert. Es kann bei Interesse und positiver Zwischenevaluation ebenfalls invertiert werden. Auch dieses Thema erscheint Studierenden schwieriger als nötig und kann durch Übung gut erfasst werden. Aufzeichnung Da der Zeitaufwand durch die Auswahl eines einzelnen Themengebietes begrenzt bleibt und die Motivation des Lehrenden hoch war, wurde vereinbart, eine von den regulären Vorlesungen getrennte Aufzeichnung vorzunehmen. In einem ersten Schritt wurden verschiedene Aufzeichnungsformate mit dem Kandidaten getestet (siehe Abb. 10.1), um die für ihn bestgeeignete auszuwählen: x Aufzeichnung einer Vorlesung an der Tafel (vgl. Format von Spannagel [INT2]); x Aufzeichnung einer Vorlesung am Overheadprojektor; x Aufzeichnung der Mitschrift an einem Grafiktablett (vgl. Format von Loviscach [INT3], sowie Kapitel III in diesem Band);

10.4 Geplante ICM-Varianten

131

x Aufzeichnung des Grafiktabletts oder Interaktiven Whiteboards kombiniert mit einem Video des Dozenten. (vgl. Format von Handke, Kapitel IV in diesem Band); x Aufzeichnung der Mitschrift an einem Tablet-Computer kombiniert mit einem Video des Dozenten.

Abb. 10.1: Beispiele der erprobten Videoformate

Das Format 'Tafel' erschien sehr stilvoll, war jedoch mit dem Problem verbunden, dass für längere Phasen dem Zuschauer der Rücken zugekehrt wird. Bei der Version 'Overheadprojektor' fällt besonders die „künstlerisch“ wirkende dunkle Hand ins Auge, der Dozent selbst wird auch ausreichend ausgeleuchtet. Nicht ideal sind jedoch die starken Helligkeitsunterschiede in der Präsentationsfläche und der große ungenutzte Raum an den seitlichen Bildrändern. Die Entscheidung fiel auf die Aufzeichnung der Mitschrift an einem Grafiktablett in Kombination mit einer Videoaufzeichnung des Professors für die persönliche Ansprache. Dabei wurde Wert auf eine ansprechende Tonqualität gelegt. Der Dozent betonte bei den ersten Versuchen, dass für dieses Format eine eigene Form der Didaktik gefunden werden musste, da das gewohnte Feedback aus dem Auditorium fehlte. Beispielsweise werden eingeschobene Aussprüche wie „ja, sie vermuten richtig, die Antwort ist...“ verwendet um das fehlende Publikum einzubeziehen. Für die Aufzeichnung der Mitschrift wurde zuerst ein Grafiktablett der Marke Bamboo benutzt. Die nach Auskunft des Lehrenden beste Lösung bot nach weiteren Versuchen allerdings ein Tablet-Computer der Marke Lenovo, da durch die direkte Sichtbarkeit des Geschriebenen auf dem Display des Tablet-Computers das Schreiben dem gewohnten Umgang mit Papier entsprach. Für die Aufzeichnung wurde das Programm Camtasia Studio

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10 Das ICM an der Hochschule Karlsruhe - ein nicht quantisierter Flip

verwendet. Die Videos wurden in HD-Qualität produziert. Verschiedene Schreib- und Zeichenprogramme wurden ausprobiert, wobei auf eine unverfälschte Darstellung der Handschrift geachtet wurde (Freihandzeichnen ohne automatische Konvertierung in BezierKurven). Schließlich dienten die Programme MyPaint und MS OneNote als ‚Leinwand‘. Weitere Kriterien zur Auswahl der Software sind die Möglichkeit zu blättern oder zu scrollen, ein natürlich erscheinender ‚Stift‘ und die leichte Erreichbarkeit eines Radierers oder weiterer Farben zur Hervorhebung von Inhalten. Der Lehrende war bereit, die Aufzeichnung komplett alleine durchzuführen, einschließlich des Aufstellens der Kamera und der Aufnahme des Mitschriebs. Um die Bedienung der Kamera und der Software zu erlernen, wurde eine kurze (30 min) Schulung organisiert. Dieses Format reduzierte nicht nur den Aufwand für die SKATING- Mitarbeiter sondern bietet dem Lehrenden zudem allgemein den Raum, Varianten in eigener Regie auszuprobieren und im weiteren Verlauf unabhängig von der Unterstützung anderer zu werden, falls er es wünscht. Die Aufzeichnungen wurden danach von einem SKATING-Mitarbeiter bearbeitet. Um ein Video aufzunehmen und zu produzieren wurde insgesamt circa 1 Stunde Arbeitszeit aufgewendet. Der zeitliche Mehraufwand des Dozenten bei eigenständiger Aufnahme lag pro Aufnahmesitzung bei ca. 30 min für das Einrichten des Systems. Zusätzlich wurden ca. 30 min für Organisatorisches aufgewendet. Als herausfordernd erwies sich zudem die Auswahl einer geeignet ruhigen Umgebung, weshalb die Aufnahme letztendlich in den Abendstunden erfolgte. Die Einrichtung eines ‚Studio‘-Raumes könnte aus dieser Perspektive lohnend erscheinen. Durchführung Die erste nach diesem Schema invertierte Veranstaltung wurde bereits durchgeführt. Die Studierenden wurden frühzeitig einbezogen, vorab über die Methode und ihre Ziele unterrichtet und nach ihren Meinungen und Befürchtungen befragt. Die Rückmeldungen waren zumeist positiv, geäußerte Bemerkungen bezogen sich auf die fehlende Möglichkeit Fragen zu stellen und den Anschrieb zu korrigieren, sowie den vermeintlich zusätzlichen Zeitaufwand. Die Aufzeichnung des drei Vorlesungsstunden umfassenden Stoffes wurde in acht thematische Einheiten von 7 bis 18 Minuten Länge unterteilt und über einen YouTube-Direktlink auf der an der Hochschule verwendeten Lernplattform ILIAS bereitgestellt. YouTube wurde als Plattform gewählt, da es auf unterschiedlichen, auch mobilen, Endgeräten einwandfrei funktioniert und damit den Studierenden die Möglichkeit anbietet, die Videos fast überall zu schauen. Zweiter Vorteil ist das umfangreiche Analytics-Tool in YouTube, das die Möglichkeit anbietet, Nutzungsstatistiken wie Zugriffe sehr genau zu analysieren. Da es sich um eine Testphase handelte, wurde auf Wunsch des Lehrenden darauf verzichtet, die Videos komplett zu veröffentlichen. Es wurde daher die Option „nicht gelistet“ in YouTube verwendet, wodurch die Videos nur mit dem exakten Link aufzurufen sind und nicht durch Suchmaschinen gefunden werden. Nach einer erfolgreichen Testphase ist geplant, die Videos auch für ein breites Publikum zu veröffentlichen. Stichworte zu Inhalt und zur Klausurrelevanz der einzelnen Sequenzen sowie ein Forum für die Studierenden zum Anbringen inhaltlicher Fragen wurden im Kursbereich der Lernplattform ILIAS bereitgestellt. Sinnvoll sind außerdem kurze inhaltliche Fragen zu den Videos,

10.4 Geplante ICM-Varianten

133

die den Lernenden als Leitfragen dienen können und bei der Evaluation als Hinweis auf das erreichte fachliche Verständnis sowie die dem Video gewidmete Aufmerksamkeit zur Verfügung stehen. In ILIAS wurde zudem eine Online-Umfrage zum Nutzungsverhalten und selbsteingeschätzten didaktischen Nutzen der Veranstaltungsform vorgegeben. Es wurden Fragen zum Auftreten von technischen Problemen, zur Bewertung der Videoqualität, zur Videorezeption (u.a. situative Bedingungen, Störungen, Wiederholung), zur Themenpassung und zur wahrgenommenen Nützlichkeit der Videos gestellt. Präsenzveranstaltungen Die Präsenzveranstaltungen wurden von einem SKATING-Mitarbeiter besucht und anhand eines Beobachtungsbogens das Prozessgeschehen erfasst (z.B. Aufbau und Ablauf der Veranstaltung, Lehrmethoden, Redeanteile, Mitarbeit, Akzeptanz). In der ersten Präsenzveranstaltung erfragte der Lehrende zunächst per Handzeichen die Videonutzung. Die meisten Studierenden hatten sich alle Videos vor der Veranstaltung angesehen (gemäß Frage mit Handzeichen und Nutzungsstatistiken), eine Person hatte technische Probleme bei der Verwendung von ILIAS. Obwohl die im Video erstellten Notizen zum Download zur Verfügung standen, haben Studierende vom Video mitgeschrieben. Da in der zugehörigen Veranstaltung zunächst keine inhaltlichen Fragen von den Studierenden gestellt wurden, erfragte der Professor die relevantesten Punkte aus den Videos, welche korrekt widergegeben werden konnten. Die weitere Präsenzveranstaltung umfasste große Phasen mit betreutem Selbst- und Partnerrechnen sowie eine anschließende Präsentation der Ergebnisse an der Tafel, entweder durch Studierende (auf freiwilliger Basis) oder durch den Professor 'auf Zuruf' vom Auditorium. Zielfindung und Evaluation Für die Bewertung des Erfolges der Lehrmethode wurde den persönlichen Zielen des Lehrenden ein hoher Stellenwert eingeräumt. In den Vorbesprechungen zur Klärung der Ziele und Ergebniskriterien gab der Lehrende an, dass seine persönlichen Vorstellung einer gelungenen Veranstaltung ein beidseitiges 'Flow'-Erlebnis und eine bei den Studenten geweckte Neugier beinhalte. Eine Vorlesung soll unter dieser Perspektive nicht alle Fragen klären, sondern das Interesse an weiteren Fragestellungen wecken. Bei der Bewertung des Methodeneinsatzes wird daher insbesondere auch Wert auf den Aspekt der Motivierung der Studierenden gelegt werden. Zusätzlich zu den OnlineUmfragen direkt im Anschluss an die Videobetrachtung und den Beobachtungen der Präsenzveranstaltungen sind mindestens zwei weitere Befragungen geplant. Im Anschluss an den ca. drei Vorlesungen umfassenden invertierten Themenkomplex wird im Sinne einer Zwischenevaluation mit einem Fragebogen insbesondere die Zufriedenheit der Studierenden erfasst werden. Bei positiver Resonanz ist, wie oben skizziert, geplant den zweiten Themenblock zu invertieren. Die Bewertung des Erfolges ist damit nicht abgeschlossen, Eine weitere Erhebung unter Einbeziehung unterschiedlicher Ergebniskriterien in der Prüfungszeit und die Analyse der Klausurergebnisse, insbesondere auch im Vergleich zum Vorjahr, soll weitere Hinweise bezüglich des Erfolgs des ICM und dem eventuellen Auftreten von Moderatoreffekten liefern. Weitere Follow-up-Messzeitpunkte können helfen einzuschätzen, inwieweit der gelehrte Stoff nachhaltig angeeignet wurde. Die Ergebnisse sollen anschließend gemeinsam mit dem beteiligten Lehrenden durchgesprochen werden. Durch die umfassende Informationserhebung soll es ermöglicht werden,

134

10 Das ICM an der Hochschule Karlsruhe - ein nicht quantisierter Flip

den Einsatz und den Erfolg des ICM in diesem Anwendungskontext angemessen zu beurteilen. Auf Basis dieser Beurteilung ist dann das weitere Vorgehen, sind die nächsten Schritte zu planen. Eine positive Beurteilung kann die Ausgangsbasis für weitere wissenschaftlich begleitete Pilotprojekte mit dem ICM sein. In diesen können die Erfahrungen und identifizierten Verbesserungspotenziale des ersten Projekts umgesetzt werden.

10.5

Ausblick

Bei positiver Evaluation der Pilotprojekte, bei vertretbarem Aufwand und Interesse seitens der Dozierenden und Studierenden soll weiter über das Konzept des Inverted Classroom informiert werden. Das Projekt SKATING kann dadurch als Multiplikator dienen und zugleich bei der Anpassung an Lehrende und Lehrveranstaltungen sowie bei der Durchführung und Evaluation konkrete Unterstützung bieten. Über die offene Kommunikation der Ergebnisse und durch Schaffung der Rahmenbedingungen könnte das ICM so fester Bestandteil des Methodenrepertoires der Lehrenden an der Hochschule Karlsruhe werden. Wenn ausreichend Erfahrungen mit unterschiedlichen Veranstaltungen gesammelt wurden, können dadurch in vergleichenden Studien fundierte und auch für andere Hochschulen interessante Schlüsse gezogen werden.

10.6

Schlussfolgerungen

Das gegenwärtige Lehrsystem scheint so schlecht doch gar nicht zu funktionieren. Immerhin reproduziert sich die akademische Elite auf diese Weise. Alle Professorinnen und Professoren wurden auf diese Weise trainiert. Wieso sollten wir das System der Lehre dann aber überhaupt reformieren? Weil es sozialdarwinistisch („Survival of the Fittest“) und zynisch erscheinen mag. Weil es einen bestimmten Studierendentypus voraussetzt oder mittels eines personalaufwändigen Übungsbetriebes erzwingt, der auch bei größter Überforderung noch frustrationstolerant seine Problemlösungskompetenz in durchwachten Nächten trainiert. Weil es allem Anschein nach eine große Zahl von Studienabbrechern produziert. Weil gerade die Hochschulen für Angewandte Wissenschaften den gesellschaftlichen Auftrag haben, traditionell bildungsfernere Schichten für ein Studium nicht nur zu motivieren, sondern dieses dann auch studierbar zu machen. Es gibt also genügend Gründe, sich um einen alternativen Umgang mit der Vorlesung zu bemühen ohne sie pauschal zu diskreditieren. Gerade die Methode des ICM scheint geeignet, strukturelle Schwächen der Vorlesung aufzuheben oder zu kompensieren ohne dabei auf viele ihrer Vorteile verzichten zu müssen. Durch die Kombination von E-Learning Elementen mit einer individuell unterstützenden Präsenzveranstaltung hat diese Methode mit Vergangenheit das Potenzial in sich, auch zu einer wichtigen Lehrmethode der Zukunft zu werden.

10.7 Quellen

135

Unter ICM lassen sich in der konkreten Umsetzung eine Reihe unterschiedlicher Varianten und Ausgestaltungsmöglichkeiten fassen, von denen einige vorgestellt wurden. Wesentliche Merkmale und durch den Einsatz der Methode erwartete positive Effekte sind jedoch den meisten Modellen gemein. Im spezifischen Anwendungskontext sollte die Methode sehr genau auf die individuellen Ziele, Bedürfnisse und Möglichkeiten von Lehrenden und Lernenden zugeschnitten werden um den größtmöglichen Erfolg zu erzielen. Hier sollte weder vor individuellen Lösungen noch vor der Verwendung bereits vorhandener Materialien zurückgeschreckt werden. Es ist von Vorteil, wenn den Lehrenden Unterstützung geboten werden kann, welche sich bestenfalls von der Entwicklung einer passenden Methode über Hilfen bei der technischen Umsetzung bis zur begleitenden Beobachtung und Evaluation erstreckt, damit sich der Lehrende auf die so wesentliche Ausgestaltung der Präsenzphase konzentrieren kann. Wichtig ist hierbei, jeweils die Rahmenbedingungen und Effekte sehr genau zu erfassen und zu dokumentieren, damit die Ergebnisse in zukünftigen Metaanalysen aussagekräftig verwendet werden können. Professoren, die besonders gut mit dem Medium der klassischen Vorlesung arbeiten und Studierende mitreißen können, könnten Ihre Vorlesungsaufzeichnungen zur Verfügung stellen. Diese könnten ohne Prestigeverlust als zusätzliche Ressource für andere Veranstaltungen dienen, wenn eine Kultur des Teilens unterschiedlichster Lehr- und Lernmaterialien entsteht. Gute Beispiele sprechen sich herum und steigen in den Trefferlisten der Suchmaschinen. Erfolgreiches Lernen (und Lehren!) kann Spaß machen, Neugier wecken und die entsprechenden Lehrenden haben das Potenzial zu „Role Models“ für exzellente Vermittlung zu werden. Abschließen soll ein Kommentar eines Studierenden, denn dieser fasst die möglichen Vorteile, das Potenzial des ICM für die Studierenden und den Charme dieser Methode treffend zusammen: „Man kann jetzt in der Vorlesung mitreden“!

10.7

Quellen

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136

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10.7 Quellen

137

[INT2] Spannagel, Christian. 2012. Arithmetikchannel der PH Heidelberg. http://www.youtube.com/user/pharithmetik?ob=0&feature=results_main; Zugriff am 7.7.2012. [INT3] Loviscach, Jörn. 2012. Persönliche Homepage. http://www.j3l7h.de/videos.html; ; Zugriff am 7.7.2012.

11 ICM-Effekte in der Hochschullehre Jürgen Handke 1 Ziel der Ausführungen in diesem Abschnitt ist es, unter Bezugnahme auf die durch das ICM möglichen neuen Organisationsformen der Lehre und den zu Grunde liegenden ELearning- und E-Teaching-Konzepten aufzuzeigen, wie die Universität als Ganzes und auf fachlicher Ebene von diesem Angebot profitieren kann. Das schließt die Diskussion von kapazitätswirksamen Effekten mit ein.

11.1

Die curriculare Verankerung

Eine der entscheidenden Voraussetzungen für den Erfolg von digitalen Lehr- und Lernszenarien ist eng mit der curricularen Verankerung des elektronischen Lehrangebots verbunden. Bereits die ersten BMBF-Fördermaßnahmen hatten zum Ziel, „die geförderten Projekte in den universitären Regelbetrieb zu überführen“. Glowalla brachte diesen Ansatz auf den Punkt, indem er kurz nach Auslaufen der ersten Förderphase schrieb: „eLearning-Anwendungen werden nur dann langfristig Erfolg haben, wenn sie in bestehende Lehr- und Lernszenarien integriert werden und diese instruktional sinnvoll fortschreiben.“ (Glowalla, 2004:97). Aus eigener Erfahrung können wir bestätigen, dass nur die formal abgesicherte institutionelle Verankerung von elektronischen Organisationsformen der Lehre, welcher Art auch immer, den Lehrenden die nötige Sicherheit gibt und zum Erfolg führt. Optionale Angebote, so interessant sie auch sein mögen, werden immer nur ein Schattendasein führen. Schulmeister/Metzger verallgemeinern diesen Aspekt auf der Basis empirischer Untersuchungen zum Studierverhalten in den BA Studiengängen an deutschen Hochschulen: „Ein Selbststudium findet nicht in ausreichendem Maße statt. […] Der Grund für das geringe Selbststudium ist nicht ausschließlich im Studierverhalten der Studie_________________ 1

Dieser Beitrag greift Teile der Kapitel IV und V, die der Autor für Handke/Schäfer (2012) geschrieben hat auf. Er wurde in den Tagungsband übernommen, da die Auswirkungen des ICM in der Hochschullehre aus der Sicht der Herausgeber überhaupt nicht bzw. noch in zu geringem Maße diskutiert wurden.

11 ICM-Effekte in der Hochschullehre

140

renden zu suchen, sondern in der mangelnden Integration des Selbststudiums in das Studium.“ (Schulmeister/Metzger, 2011:119). Und für E-Learning- und E-Teaching-Szenarien gilt das Gleiche. Als zusätzliche Lernoptionen werden diese Angebote trotz ihres Mehrwerts oft nicht wahrgenommen und spielen erst dann eine Rolle, wenn es keine Alternativen gibt. In anderen Bereichen ist das ähnlich: Schüler benutzen erst dann die vom Lehrer ausgehändigten CD-ROMs, wenn sie anders nicht weiter kommen, Studierende belegen Kurse aufgrund der allgemeinen Lehrbelastung nur dann, wenn sie Teil des Pflichtcurriculums sind. Sind sie optional, wird immer nur eine kleine Fangemeinde diese Angebote nutzen und für sinnvoll erachten, sind sie Teil des Pflichtcurriculums, dann müssen alle mitmachen. Genau hier gilt es anzusetzen und mit einem guten Angebot auch diejenigen Studierenden zu überzeugen, die im Fall der Wahlpflicht das elektronische Angebot ignoriert hätten. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Fachkollegen, die ja, wie im Rahmen der Fachtagung immer wieder festgestellt wurde, aus verschiedenen Gründen den ICM-Angeboten skeptisch gegenüberstehen. Erst wenn es gelingt, ihnen den institutionellen Mehrwert klarzumachen, werden sie die „neuen“ Lehrangebote nicht mehr als Konkurrenz sondern als sinnvolle Erweiterung des Curriculums begreifen und möglicherweise ihre eigene Lehre umstrukturieren. 2 Die folgenden Abschnitte versuchen, diese Überzeugungsarbeit auf verschiedenen Ebenen zu leisten und bieten Konzepte zu folgenden Bereichen an: x Erweiterung des fachlichen Angebots; x Unterstützung des Bologna-Prozesses. Grundlage für die Vorschläge ist das Inverted Classroom Model, dessen besondere Realisierungen die Lehrangebote des Virtual Linguistics Campus bzw. des Virtuellen Zentrums für Lehrerbildung sind und in den folgenden Abschnitten zur Exemplifizierung herangezogen werden.

11.2

Erweiterung des Lehrangebotes

In Zeiten großer finanzieller Engpässe erscheint die Forderung nach einer Erweiterung des bestehenden Lehrangebots einer Institution eher kontraproduktiv zu sein. Viele Fächer und Fachbereiche deutscher Universitäten können mit großer organisatorischer und finanzieller Mühe gerade einmal ihr laufendes Angebot aufrecht erhalten. Wie sollen sie da noch für eine Erweiterung ihres Angebotes sorgen? Zugegeben mit traditionellen Lehrformen ist da nicht viel zu machen. Bedient man sich aber ausgeklügelter Organisationsformen und entwickelt die von Schulmeister (2006:204) angeregte „Phantasie für neue Lösungen“, lässt sich eine Erweiterung des Lehrangebots auf zwei Ebenen erreichen: _________________ 2

Übrigens – auch das war ein Ergebnis der Fachtagung: Keinesfalls sollte man versuchen, Fachkollegen von den Vorzügen eines ICM-basierten Lehrangebots zu überzeugen oder sie gar dazu überreden, es doch einmal damit zu versuchen. Erst, wenn sie von selbst zu der Überzeugung gelangen, die ICM-Methode komme für sie in Frage, gilt es – bei Bedarf – Hilfestellung zu leisten.

11.2 Erweiterung des Lehrangebotes

141

x auf der inhaltlichen Ebene; x auf der Ebene des fachlichen Lehrangebots.

11.2.1

Mehr Inhalt in den Lehrveranstaltungen

Das ICM basiert auf den folgenden Grundprinzipien (siehe Schäfer, Kapitel I in diesem Band): a) Die Inhaltsvermittlung und -erschließung erfolgt online (Phase 1); b) Die Präsenzphase (Phase 2) folgt der Online-Phase; c) Die Präsenzphase dient zum Üben und nicht (primär) zur Inhaltsvermittlung. Aus diesem Grundkonzept ergibt sich bereits ein gravierender Vorteil: Phase 1, die Inhaltsvermittlung, ist grundsätzlich nicht von Ausfallszenarien betroffen, sie findet immer statt. Feiertage, Stundenausfall wegen Krankheit, Tagungsteilnahme etc. sind für die Phase der Inhaltsvermittlung und -erschließung im ICM irrelevant; diese Phase ist nie von Kürzungen betroffen. Allein aus diesem Grunde ist jede ICM-basierte Lehrveranstaltung von der inhaltlichen Quantität her jeder klassischen Organisationsform der Lehre mindestens gleichgestellt, im Normalfall aber bezüglich der Menge des vermittelten Inhalts überlegen. 3 Durch die Umkehrung von Präsenzphase und Vor-/Nachbereitung im ICM ergibt sich noch ein weiterer inhaltlicher Vorteil. Während im klassischen Präsenzszenario der zu vermittelnde Inhalt ein einziges Mal frontal präsentiert wird und zusätzliche Erklärungen – wenn notwendig und nicht zu zeitintensiv – in die Folgesitzung verlegt werden müssen und dort Zeit beanspruchen, können im ICM Verständnisfragen zum Inhalt in der jeweils nachfolgenden Präsenzphase, die ja u.a. genau zu diesem Zweck stattfindet, gestellt und gelöst werden. Dadurch kann dem zu vermittelnden Inhalt eine größere Tiefe verliehen werden.

11.2.2

Zusätzliche Lehrveranstaltungen

Neben der „Unterrichtsgarantie“ und der größeren „inhaltlichen Tiefe“ gibt es aber noch eine weitere Möglichkeit, die darauf basiert, dass die der Online-Phase folgende Präsenzphase vollständig weggelassen wird. In einem solchen ICM ohne Präsenzphasen ist keine traditionelle Lehrkapazität mehr erforderlich, sondern nur noch eine rein administrative Betreuung. Dadurch kann das Lehrangebot eines Faches bei gleichbleibender Personaldecke erweitert werden. Zwei solcher Veranstaltungstypen können klar identifiziert werden: a)

Explorative Online-Lehrveranstaltungen Dabei handelt es sich bei den sog. Linguistic Fieldwork Classes um linguistische Forschungsszenarien in Kursform, im Rahmen derer die Studierenden durch Einsatz des ihnen bereits vermittelten Forschungsinstrumentariums die Struktur einer ihnen unbekannten Sprache aufdecken (siehe Handke/Schäfer, 2012:125ff).

b)

Video-basierte Online-Lehrveranstaltungen

_________________ 3

Allein die zahlreichen Feiertage während eines Semesters führen zu Unterrichtsausfällen in der klassischen Präsenzlehre. Davon ist die Phase 1 des ICM nicht betroffen.

11 ICM-Effekte in der Hochschullehre

142

Mit thematisch aufeinander aufbauenden E-Lectures, sowie zusätzlichen Komponenten zur Administrierung solcher Videosequenzen (zeitliche Taktungen, inhaltliche Strukturen) lassen sich komplette video-basierte Lehrveranstaltungen zusammenstellen. Durch derartige „Video-Vorlesungen“ werden Zusatzangebote möglich, die in traditioneller Form ohne Zusatzpersonal nicht realisierbar wären. Beide Veranstaltungstypen sind vom Autoren bereits mehrfach erfolgreich eingesetzt worden. Zwar funktionieren auch diese Veranstaltungen nur im Zusammenspiel mit entsprechenden zeitlichen und inhaltlichen Hilfestellungen sowie zusätzlichen Anreizmechanismen zur Bearbeitung und Durchdringung der Inhalte (siehe Handke, in diesem Band: Abschnitt 4.3). Sind diese aber einmal sauber implementiert, lässt sich so ein zusätzliches Lehrangebot für ein Fach bereitstellen und dauerhaft aufrecht erhalten. Die folgenden Lehrveranstaltungen bietet der Autor seit Jahren in diesem Format an: x Linguistic Fieldwork (derzeit 19 Sprachen) x Linguistic Repetition for Teacher Students of English x Linguistic Engineering Besondere Lehrdeputate für Lehrveranstaltungen dieser Art nicht erforderlich. Zwar hat jede Lehrveranstaltung auch einen Kursbetreuer, doch beschränken sich dessen Aufgaben auf einige wenige Rundmails, mit denen die Teilnehmer auf bestimmte Freischaltungsdaten sowie Fristen aufmerksam gemacht werden. Für die Zertifizierung der Kurse sind zwar semesterbegleitende Prüfungsaufgaben zu absolvieren, doch erfordern diese allesamt keinen Korrekturaufwand, da sie durch das VLC-E-Assessment-System administriert und ausgewertet werden.

11.3

Die Unterstützung des Bologna-Prozesses

In den letzten Jahren fand an den deutschen Universitäten und denen unserer Nachbarländer ein gewaltiger Reformprozess statt, der allerdings in vielerlei Hinsicht nur unzureichend unterfüttert ist: „Ich denke, dass die größte Reform der deutschen Universität nach 1945, wenn nicht seit Humboldt, zurzeit an die Wand gefahren wird, weil man sie mit zu vielen Zielen überlastet und obendrein nicht hinreichend ausgestattet hat. Ich sehe im Augenblick eigentlich nichts, was wirklich gelungen wäre, dafür aber viel Halbherziges und vor allem gut gemeinten Selbstbetrug.“ (Münkler, 2005:57). Zwar wurden zahlreiche „Bologna“-Studiengänge mit mehr oder weniger Auflagen problemlos akkreditiert, doch handelt es sich dabei nach Münkler (2005) meistens um „hastig umgestrickte Magister- und Diplomstudiengänge“, die auf bestehende Inhalte zurückgreifen und versuchen, mit dem vorhandenen Personal sowohl die „alten“ Magister-, Lehramt- und Diplomstudiengänge als auch die neugeschaffenen BA und MA Studiengänge zu bedienen.

11.3 Die Unterstützung des Bologna-Prozesses

11.3.1

143

Zielgruppengerechte Inhalte

Waren es bis vor einigen Jahren an vielen philologischen Instituten deutscher Universitäten in der Regel ein Lehramts- und ein Magisterstudiengang, die zu versorgen waren, ist heute mindestens ein weiterer BA-Studiengang hinzugekommen. In den meisten Fällen handelt es sich aber um eine erheblich größere Zahl neuer Studiengänge, da fachübergreifende Vereinbarungen über Modulimport und -export, sowie die im Bologna-Prozess ausdrücklich gewünschten interdisziplinären Studienangebote, sowie hochspezialisierte MAStudiengänge zu einer viel größeren Angebotspalette geführt haben als noch vor einigen Jahren. Tab. 11.1 stellt die Situationen vor bzw. nach der Bologna-Reform an einem ausgewählten Institut gegenüber (ohne Weiterbildungsprogramme). Tab. 11.1: Studiengänge in der Marburger Anglistik/Linguistik Vor der Bologna-Reform Lehramt English an Gymnasien Magister Hauptfach Englische Linguistik

Nach der Bologna-Reform Lehramt English an Gymnasien MA Linguistics and Web Technology BA Anglophone Studies BA Sprache und Kommunikation

Die Zielgruppen für die neuen Studiengänge sind unterschiedlich. So sind für einen zukünftigen Gymnasiallehrer andere Inhalte bereitzuhalten als für einen BA Studierenden, der die Grundlagen für einen möglicherweise theoretisch-orientierten Masterstudiengang erwerben möchte. Zwar sind die Modulbeschreibungen der einzelnen Studiengänge oft relativ „unscharf“ ausgelegt, sodass ein gewisser Spielraum für eine „flexible“ Auslegung bleibt, dennoch sind gerade zwischen dem Lehramtsstudiengang und den wissenschaftlichen Studiengängen trotz unscharfer Modulbeschreibungen erhebliche Unterschiede bezüglich der zu erwerbenden Kompetenzen auszumachen. So werden z.B. die Inhalte des Lehramtsstudiums nicht nur von den Modulbeschreibungen in den Studienordnungen bestimmt, sondern auch stark von den jeweiligen schulischen Lehrplänen. So müssen zukünftige Lehrkräfte im Fach Englisch viel praxisrelevanter ausgebildet werden als z.B. BA Studierende, für die ein höheres Maß an theoretischen Inhalten bzw. andere berufsbezogene Aspekte vorgehalten werden sollten. Daraus folgt, dass die neuen, z.T. stark spezialisierten und profilbildenden Studiengänge maßgeschneiderte Inhalte benötigen, die dieser Spezialisierung auch Rechnung tragen. Es entsteht somit die Notwendigkeit der „zielgruppenspezifischen“ Lehre. Doch anstatt innovative Verfahren zur Lösung dieser Problematik auszuprobieren und neue Wege in der Lehre zu gehen, um maßgeschneiderte Inhalte zielgruppenspezifisch vorzuhalten, wird Nichts unternommen und – wie so oft – lediglich der Ruf nach mehr Personal laut. Doch genau dieses Personal fehlt, und es ist unrealistisch, in Zeiten knapper Kassen auf personelle Verstärkungen zu hoffen. Daher verfahren die meisten Fächer an den deutschen Universitäten nach einem „Gießkannenprinzip“ und bieten ihre Veranstaltungen „studiengangsübergreifend“ an, ohne Rücksicht darauf, ob die Inhalte „passen“ oder nicht. Durchsucht man die Vorlesungsverzeichnisse deutscher Universitäten, so findet man problemlos Fälle, in denen bis zu einem Dutzend Studiengänge in einer einzigen Lehrveranstaltung versorgt werden. Diesem schon

11 ICM-Effekte in der Hochschullehre

144

fragwürdigen Szenario wird dann auch noch dadurch die Krone aufgesetzt, dass den Studierenden verschiedener Studiengänge, für die gleiche Lehrveranstaltung und die gleichen Prüfungsleistungen unterschiedliche Leistungspunkte verliehen werden.

11.3.2

Das „2-in-1“ Konzept

Dass es eine Möglichkeit zur Realisierung der zielgruppenspezifischen Lehre gibt, die weitestgehend unabhängig von der Personalstärke einer Einrichtung ist, haben wir seit 2006 mit dem von uns entwickelten „2-in-1“ Konzept in steter Regelmäßigkeit gezeigt (siehe Handke, 2007). „2-in-1“ bedeutet, dass zwei inhaltlich ähnliche, aber zielgruppenspezifische Lehrveranstaltungen mit dem Lehrdeputat einer einzigen angeboten werden können. Grundlage für diese Variante, „zwei Lehrveranstaltungen wie eine einzige“ anzubieten, ist wiederum die ICM-Organisationsform. Da in diesem Modell die Inhaltsvermittlung online geschieht und nie „ausfällt“, entstehen für die Durchführung der anschließenden Präsenzphasen folgende Optionen: a) Nutzung der Präsenzphase zum „Üben, Vertiefen, Anwenden und Diskutieren“ (wie im ICM vorgesehen); b) Reduktion der Anzahl der Präsenzphasen; c) völliger Wegfall der Präsenzphasen. Da Option (c) für eine Präsenzuniversität der Ausnahmefall sein sollte, ist nur Option (b) eine realistische Alternative zum „normalen“ Präsenzunterricht (a). Doch auch bei der Reduktion der Präsenzphasen sollte sehr umsichtig vorgegangen werden. Nur wenn es die zu vermittelnden Inhalte zulassen, d.h. wenn z.B. die Online-Inhalte (Phase 1 des ICM) selbsterklärend und mit didaktisch fundiertem Online-Übungsmaterial versehen sind und somit erfahrungsgemäß kein weiteres Üben mit einem Dozenten erforderlich ist, sollte man sich zu dieser Option entschließen. Darüber hinaus ist zusätzlich darauf zu achten, dass der studentische Aufwand für die Lehrveranstaltung nicht zu stark herabgesetzt wird: Durch Wegfall einer Präsenzphase fallen immerhin 2 SWS (d.h. 6% eines Leistungspunktes nach dem ECTS) weg. Das Äquivalent zu dieser entfallenden Workload muss daher durch zusätzliche Elemente, z.B. durch weiteres Übungsmaterial, wieder ausgeglichen werden. Insgesamt sind also folgende Vorgaben einzuhalten: x inhaltlich fundierte Begründung für den Wegfall der Präsenzphase (ICM Phase 2); x selbsterklärender Online-Content; x zusätzliches Übungsmaterial zum Ausgleich der Workload. Sind alle diese Vorgaben realisierbar, kann eine Entscheidung darüber getroffen werden, welche Lerneinheiten innerhalb eines Kurses ohne Präsenzphase durchgeführt werden können. In einem weiteren Schritt wird die Präsenzphasen-reduzierte Lehrveranstaltung nun inhaltlich sinnvoll mit einer zweiten Lehrveranstaltung verzahnt. In Tab. 11.2 ist diese Verzahnung für die zwei anglistisch/linguistische Grundlagenveranstaltungen, eine für BA

11.3 Die Unterstützung des Bologna-Prozesses

145

Studierende und eine für Lehramtsstudierende mit ihren einzelnen Lerneinheiten dargestellt. Tab. 11.2: Das „2-in-1“ Konzept für die Lehrveranstaltung „Phonetics, Phonology and Transcription“ (BA und LA); LE = Lerneinheit LE Introduction I (BA) Präsenz Language and Linguistics (LA) Aktivierung des Kurses Aktivierung Kurses 9 1 Phonetics Phonetics 9 2 Consonants Consonants 9 3 Vowels Vowels 9 4 Suprasegmental Features Suprasegmental Features 9 5 Phonetics/Phonology & the Phoneme Phonetics/Phonology & the Phoneme 9 6 The Principles of Transcription The Principles of Transcription 9 7 The Transcription of RP The Transcription of RP 9 8 The Transcription of NAE The Transcription of NAE 9 9 PDE Connected Speech PDE Connected Speech 9 10 PDE Suprasegmental Phonology PDE Suprasegmental Phonology 9 11 Distinctive Features The Sound System of German 12 Comparative Phonology o PDE vs. German 9 13 Varieties of English - An Overview Varieties of English - An Overview Präsenzanteile (Gesamt) 93 % Präsenzanteile Erläuterung: (9 = obligatorische Präsenzsitzung, o = keine Präsenzsitzung)

Präsenz 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 o 9 9 93 %

Die beiden miteinander verzahnten Veranstaltungen bedienen nun unterschiedliche Zielgruppen mit kursspezifischem Online-Content. Das ist möglich, da die Wissenskonstruktion in beiden Lehrveranstaltungen über die virtuellen Lerneinheiten stattfindet. Jeder Kurs verfügt daher über zielgruppengerechte virtuelle Lerneinheiten. Zusätzlich haben beide Lehrveranstaltungen Präsenzphasen zum Üben (ICM-Phase 2). Da die ersten elf Lerneinheiten inhaltlich identisch sind, ist in den Präsenzphasen eine Zielgruppendifferenzierung nicht notwendig. Die Inhalte der Lerneinheiten 11 und 12 dagegen sind nicht kompatibel. Daher wird den Teilnehmern der einen Lehrveranstaltung eine Präsenzphase angeboten, während die Präsenzphase der anderen Lehrveranstaltung ausfällt (Beispiel in Tab. 11.2: Lerneinheit 11). Bei einer „2-in-1“ Lehrveranstaltung empfiehlt sich die Trennung von Präsenzphasen immer dann, wenn in einer Lehrveranstaltung hochgradig selbsterklärender Inhalt in Phase 1 angeboten wird und kein weiteres Üben erforderlich ist, während der parallel virtuell vermittelte Inhalt erheblichen Erklärungsbedarf nach sich zieht. Das trifft auf die Inhalte der parallelen Lerneinheiten „Distinctive Features“ (hoher Erklärungsbedarf) und „The Sound System of German“ (selbsterklärend) zu. Bei Lerneinheit 12 ist das genau umgekehrt, während für den Lehramtsstudiengang großer Übungsbedarf besteht, ist die BA-Lerneinheit

11 ICM-Effekte in der Hochschullehre

146

„Comparative Phonology“ selbsterklärend und mit zusätzlichem Übungsmaterial, sodass eine Präsenzphase hier problemlos entfallen kann. 4 So können 2 Lehrveranstaltungen von 1 Dozenten unter Nutzung eines Unterrichtsraums in 2 SWS betreut werden, also mit einem einzigen Lehrdeputat. Bei dem vorgestellten „2-in-1“ Konzept handelt es sich somit außer der Tatsache, dass zwei Veranstaltungen im gleichen Raum zur gleichen Zeit beim gleichen Dozenten stattfinden (übrigens ein Problem für das universitätsweite Kursverwaltungssystem!), um völlig „normale“ Lehrveranstaltungen, allerdings mit zielgruppenspezifischen Inhalten. Das „2-in-1“ Konzept lässt sich natürlich beliebig ausweiten. Mit einer Reduktion der Präsenzphase auf 50% können somit sogar zwei inhaltlich völlig unterschiedliche Lehrveranstaltungen bedient werden (Präsenzphase 14-täglich). Theoretisch wäre auch ein 3-in-1 oder viele-in-1 Konzept möglich, allerdings würde ab einer gewissen Relation X-in-1 der administrative Aufwand den Aufwand der Lehre übersteigen, und auch inhaltlich wäre es für den Dozenten sicherlich nicht einfach, sich in der Präsenzphase auf immer neue Zielgruppen einstellen zu müssen. Daher nutzen wir seit 2006 das „2-in-1“ Konzept immer dort, wo es inhaltliche Überschneidungen zwischen den zielgruppenspezifischen Lehrveranstaltungen gibt. Durch das „2-in-1-Konzept“ konnte nicht nur die Angebotspalette des Faches erweitert, sondern auch die Qualität der Lehre in den betroffenen Studiengängen verbessert werden, da nun flächendeckend in der Marburger Anglistik/Linguistik zielgruppengerechte Inhalte angeboten werden können. Somit ermöglicht das „2-in-1“ Konzept bei gleichbleibendem dozentischen Lehrdeputat die Durchführung von mehr Lehrveranstaltungen als bisher. Dadurch kann ohne weitere Kosten der Bologna-Prozess zielgruppenorientiert unterstützt und eine inhaltliche Erweiterung des bisherigen Kursangebots erreicht werden. Das „2-in-1-Konzept“ funktioniert natürlich nur, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: x eine neustrukturierte Präsenzphase; x hochqualitative digitale Inhalte zum Selbststudium.

11.4

Formale Voraussetzungen für das ICM

Um das ICM in der Hochschulpraxis einsetzen zu können, bedarf es einiger formaler bzw. rechtlicher Grundlagen. Diese betreffen entsprechende Formulierungen in den Studienordnungen und ggf. den allgemeinen Bestimmungen bzw. in den dazu gehörigen Modulhandbüchern. Die Studienordnung Grundlage für die Auslagerung der Inhaltsvermittlung ins Internet ist eine Anpassung der jeweiligen Studienordnung zur Ermöglichung elektronischer Lehr- und Lernszenarien. _________________ 4

Alternativ lässt sich eine Präsenzphase auch teilen. An Stelle einer gemeinsamen Präsenzphase von 90 Minuten Dauer werden nun nacheinander zwei 45-minütige Präsenzsitzungen, eine für jede Zielgruppe, angeboten.

11.4 Formale Voraussetzungen für das ICM

147

In den Studiengängen, die in der Marburger Anglistik mit VLC/VZL-basierten OnlineInhalten (Multimedia, Videos oder Kombinationen aus beiden) unterfüttert werden, wird dies an zwei Stellen sichergestellt, wobei die Bezeichnung „E-Learning“ als neutraler Oberbegriff für E-Learning und E-Teaching im engeren Sinn verwendet wird: § 2 Ziele des Studiums Die Einbeziehung von Computer und Internet ist für den Studiengang grundlegend. Die Administration sowie die wesentlichen Aspekte der Kommunikation werden weitestgehend über die Einbeziehung moderner Internettechnologien abgewickelt. E-Learning, insbesondere die Inhaltsvermittlung- und Erschließung, ist zudem ein zentraler Bestandteil des Lehrangebots.

§ 9 Lehr- und Lernformen E-Learning ist integraler Bestandteil dieses Studienganges. Die Lehrveranstaltungen nutzen das Blended Learning Format, zusätzlich können eine Reihe von Lehrveranstaltungen auch im Online-Format ohne zusätzliche Präsenzphasen angeboten werden. Das erhöht die zeitliche und örtliche Flexibilität der Studierenden.

Durch die neutrale Formulierung „Blended Learning“ in § 9 der anglistischen Studiengänge der Philipps-Universität Marburg ist eine größtmögliche Flexibilität gegeben, sodass fortgeschrittene E-Learning-Szenarien der Typen II und III als Grundlage für die Lehre (siehe Handke/Schäfer, 2012:58) genauso wie das ICM als Lehrorganisationsform zur Anwendung kommen können. Die Modulhandbücher Die Modulhandbücher sollten so angepasst werden, dass der Arbeitsaufwand für eine Lehrveranstaltung nicht mehr über die Anwesenheit in einer Präsenzphase abgerechnet wird. In den klassischen Studiengängen wird nämlich der Arbeitsaufwand für die einzelnen Module in der Regel wie folgt spezifiziert: a) X Stunden Präsenzzeit/Zeit für die Lehrveranstaltung; b) X Stunden für die Vor- und Nachbereitung; c) X Stunden für weitere Tätigkeiten/Arbeiten etc. Mit einem solchen Ansatz können Lehrorganisationsformen, in denen die Präsenzzeit als Kontaktzeit festgelegt ist und nicht etwa wegfallen oder durch die Nachbereitungszeit ersetzt werden kann, nur bedingt umgesetzt werden. Mit der wesentlich flexibleren Formulierung „X Stunden Zeit für die Inhaltsvermittlung- und Erschließung“ ist eine Neuorientierung möglich, mit der die Präsenzphase nun optional auch durch eine Online-Phase ersetzt werden kann. 5 Natürlich muss auch hier eine Bemessungsgrundlage für die Berechnung des Arbeitsaufwandes (Workload) geschaffen werden. Für die multimedialen OnlineLerneinheiten im ICM des VLC bzw. des VLZ sind hierzu bereits frühzeitig Messungen _________________ 5

Für die Formulierung „Zeit für die Inhaltsvermittlung und -erschließung“ sind die Autoren ihrem Darmstädter Kollegen Prof. Dr. Werner Sesink dankbar, der ihnen diesen flexiblen Passus im Jahr 2006 vorgeschlagen hat.

11 ICM-Effekte in der Hochschullehre

148

vorgenommen worden, die noch heute als Grundlage für die Entwicklung des zu vermittelnden Online-Content dienen. Auch bezüglich der Nutzung von Lehrvideos gibt es bereits erste Ansätze zur Workload. Wie Musallam in seinem über das Internet während der Fachtagung eingespielten Plenarvortrag zeigte, wird in gut durchstrukturierten Lehrvideos von ca. 15-Minuten Länge eine durchschnittliche Inhaltsmenge vermittelt, für die in einer „traditionellen“ Lehrveranstaltung zwischen 30 und 45 Minuten benötigt werden. Die Modulhandbücher aller sprachwissenschaftlich und sprachdidaktisch ausgerichteter Studienanteile, die heute durch VLC und VZL unterfüttert werden, sind seit einigen Jahren mit diesen Formulierungen ausgestattet, sodass dem ICM nichts entgegensteht und die ELearning- und E-Teaching-Konzepte für VLC und VZL seit einiger Zeit entsprechend eingesetzt werden können.

11.5

Zusammenfassung

In den vorangegangenen Abschnitten konnte gezeigt werden, dass der Bologna-Prozess in einigen Bereichen sehr wohl auch ohne zusätzliches Personal auskommt und die Erhöhung der Personalkapazität um „mindestens 15%“ (Zervakis, 2010:4) nicht die einzige Lösung für eine „Bologna-gerechte“ Lehre ist. Mit dem „2-in-1“ Konzept“ ist es möglich, auch ohne Aufstockung des Personals die einzelnen Studiengänge zielgruppengerecht zu versorgen. Zusätzlich kann mit innovativen Konzepten der Lehrorganisation (ICM) und didaktisch sinnvoll gestalteten multimedialen Inhalten das Lehrprogramm auf fachlicher und institutioneller Ebene erweitert werden. Der Ruf nach mehr Personal ist somit nicht die alleinige Option.

11.6

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Anhang Storyboards und Skripte Während seines Workshops stellte Dan Spencer (Michigan, USA) Anleitungen für die Erzeugung von Screencasts zu Verfügung. Diese sind in diesem Anhang im Originaltext enthalten, da sie sich in großen Teilen auf die englische Version von Camtasia Studio beziehen.

The Top 10 Classroom Management Tips When Using Camtasia Studio with Students Good classroom management can have at least as much to do with the lesson plan itself when it comes to delivering a smooth, effective learning experience. The multiple steps in a Camtasia Studio project as well as the general technical nature of the task can introduce complexity. Here we present 10 tips for your consideration. 1.

Practice by using the Student Walkthrough Guide: Your First Camtasia Studio Video (PDF) from TechSmith. It’s a low-stakes, step-by-step way to introduce students to Camtasia Studio.

2.

Consider having a couple of students use Camtasia Studio before the whole class does. These students can serve as the first line of technical support, freeing you up a little to focus on content and quality. Similarly, some teachers institute a rule where students have to ask 2-3 of their peers before they ask the teacher.

3.

Some schools have students use fake names and don’t include video or photos of the students in case you want to use the videos in a public arena and there are privacy concerns.

4.

Communicate a clear process of prerequisites to students. There are likely things that need to be done before they click the record button. A multi-part rubric (define goals, script, storyboard) can help break the work into segments.

5.

It’s easy for students to get carried away and spend a lot of time on more frivolous aspects of the software instead of focusing on getting the content nailed down. You may want to have some kind of “sign off” procedure before students can experiment with various transitions, custom images, fancy title slides, and so forth.

6.

You will want headphones if students are working in a lab setting. Some Dollar–type Stores carry really cheap ones. When it comes to recording, it is ideal if students can record in “shifts” at a quiet recording station. If that can’t be accomplished, have the students do a practice recording by speaking fairly quietly, very close to the microphone, and adjust the audio input as necessary. If students work on multiple computers (for example record on one, and edit on another), it’s critical they export the pro-

Anhang Storyboards und Skripte

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ject as a Zip file, and not just transfer the .camproj file. This can be done my clicking File > Export project as zip. Next, transfer the file to the secondary computer and import the file into Camtasia Studio by clicking File > Import zipped project. 7.

If working in groups, consider team role assignments such as: Writer, production engineer, recorder and/or narrator, lead editor, software engineer (solves technical questions).

8.

Make sure you have a plan for how students will name files, where they will save them, what video format the video should be produced in, and finally the consequence(s) if students do not follow these instructions.

9.

Budget time for rendering. If class ends at 11am, it does not mean they can keep working until 10:59, and then decide to produce their video. A rough rule of thumb is to budget one minute of rendering time for each minute of video. Keep idle time to a minimum by giving students an activity to keep them occupied during the rendering time.

10. Build in a sharing time to spread knowledge and celebrate what was accomplished.

The Top 10 “Technical” Things to Know When Using Camtasia Studio with Students This document describes the top 10 pitfalls to be sure and avoid when using Camtasia Studio with students. Don’t worry—it’s not technical as in, “What’s the ideal bitrate for an MP4 video?” It’s more technical as in, “If the kids don’t save their projects right, you’ll be looking at a sea of raised hands.” Here they are: 1. Run through a sample project before doing it with students, and/or have a couple student helpers do it in advance so they can be your assistants later on. 2. The F9 key pauses the screen capture while recording. This is a great tip because it allows students to regroup or pause the recording if they are handing off the narration to another student. The F10 key stops the recording. This is handy so students don’t have to fumble around pulling up the recorder to stop the video and then later edit it out. 3. Have students create a folder and instruct them to save all their media, including the camrec and camproj, in that folder. Tell them how to name things in some logical way of your choosing. For example, “lastname_class_projecttitle”. Strictly enforce this rule—if students save things willy-nilly they will find themselves in a huge, confusing mess. 4. Related to #3: Try to not use spaces in file names. Instead opt for hyphens or underscores. 5. Editing dimensions are key. The rule of thumb is to instruct everyone to just use the Automatic preset. Once students are more comfortable with the basics, you can experiment with different editing dimensions.

Anhang Storyboards und Skripte

159

6. As soon as the recording is on the timeline in Camtasia Studio, students should be instructed to immediately save their projects (using the format and location you’ve prescribed). It’s simply File > Save. This is important because the auto-save feature does not start auto-saving until after the initial save. Not that anything will go wrong… but you know how it goes… a.

7.

Speaking of auto-save, the default time between saves is 10 minutes. You likely want to have students change that to one or two minutes by clicking Tools > Options.

Camtasia Studio has Undo functionality. You can press Ctrl + Z, or use the Undo icon near the left part of the timeline. The takeaway here is that people shouldn’t fear trying things, nor panic if they make a mistake.

Anhang Storyboards und Skripte

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How to Write a Great Script—and Why Bother in the First Place? Did you know that the audio is recorded separately in most polished screencasts? Sometimes the audio is recorded first, and then the person creating the video listens to the audio as they perform the on-screen action. Others prefer to create their screen recording then narrate over the video after the fact. In either case, a good script is important. Sure, you might be thinking you can just “wing it”, and maybe you can. But you might be wishing you took the time to make that script after your 22nd retake or as you are trying to fix all the mistakes in the editor. A good script, when used in conjunction with a well-designed storyboard, can spell the difference between a short, clear, and concise video and one that rambles and loses focus. Tips for writing an effective script: 1.

Identify one to three goals you want your viewer to take away from the video.

2.

Keep each page of the script equal to about one minute of content. One rule of thumb is that approximately 180 words equals one minute of audio.

3.

Use a large, easy-to-read font.

4.

When recording, don’t stray from what you’ve written in the script.

5.

As you script, be sure to note what is happening in the video, podcast or presentation at the time you are speaking. The examples below use a column for inserting screenshots or notes about screen activity.

6.

Use contractions. It sounds more natural when speaking.

7.

Keep your tone conversational, and make sure it reflects your personality. This will help keep people interested.

8.

Write in a manner that allows you to bring in images, graphs, charts or humor to keep the video interesting and fun to watch.

9.

Break your projects up into short, easy-to-follow pieces.

10. Keep asking yourself: is this essential? Could I cut this, or make it shorter while still achieving my goals? 11. Read the script out loud before you record it to make sure it flows well and sounds correct. Also, send it to someone else for review whenever possible. 12. Be consistent when using I, you, past and present tense. 13. Every video or podcast should have some kind of introduction and closing. Typically you introduce yourself and briefly set the viewers’ expectations about what they will be learning. Remember, your introduction is your first impression, so put some effort into making it great! 14. Not sure about a particular section? Record both versions now and decide later.

Anhang Storyboards und Skripte

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Example script

Script template (You may want to copy and paste this template into a new document.)

#

Action on Screen

Audio

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Anhang Storyboards und Skripte

How to Storyboard Your Video—and Why Bother in the First Place? Before artists put paint to canvas, they often make a sketch of what they’re thinking. Essayists create an outline before attempting to convince others with words, and those who make movies create a storyboard. A storyboard is a helpful tool, sort of like a “map”. You figure out how you will start, where you will end, and all the things you will show to your viewers along the way. It helps you plan the structure of your video and make sure the fundamentals are worked out before you start recording and editing. A good storyboard can make the difference between a well-structured, efficiently produced video, and one that becomes unwieldy and takes too long to create. Tips for creating an effective storyboard: 1. Identify one to three goals you want your viewer to take away from the video. 2. If you aren’t provided with a handout with a storyboard template, just get a few pieces of paper and a ruler. There are dozens of ways to make a storyboard and you can see some options if you search for “storyboard template” on Google Images. For screencasts, many prefer the type that has room for a sketch and a description underneath.

Describe what’s happening here

Describe what’s happening here

Anhang Storyboards und Skripte

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3.

A storyboard is not an art contest. In fact, many people encourage black and white drawings only.

4.

Don’t get bogged down with exact wording and confuse a storyboard with a script. Instead, just jot down the gist of the main idea you want to convey to your viewers.

5.

Share your storyboard with others, and walk them through it. When giving feedback, pay particular attention to steps they may have missed, and challenge each other why certain steps were included. Is there anything in the storyboard that could be removed or approached in a more effective manner?

6.

Remember a storyboard doesn’t always contain images from a computer screen. Your video might have PowerPoint slides, graphs, and interesting images or maybe you will even use hand-drawn art to make your point. Sometimes, just important words are displayed on the screen.

7.

How do you know your storyboard is successful? One way to judge its effectiveness is that after you show it to someone, they should be able to explain how your video will flow and what things viewers will learn after watching it. A good storyboard means once you start recording and editing, you don’t encounter any surprises. You can still change your mind of course—but it’s an intentional choice!

Have some fun! Think of it like a little comic book!

Index 2-in-1 Konzept 144, 145 Aktives Plenum 76, 78, 79 Bloomsche Taxonomie 17, 19 BMBF-Fördermaßnahmen 139 Bologna-Prozess 119, 140, 142, 143, 146, 148 Digital Concert Hall 94 E-Assessment 49, 142 E-Lectures 41, 42, 142 E-Portfolio 114, 115 Evaluation 50, 89, 123, 126, 128, 134 Feedback 35 Hochbegabung 56 Interaktives Whiteboard 14, 42, 107, 112 Inverted Classroom – – – – – – – –

alternative Bezeichnungen 5 der Lerner 10 Hausaufgaben 20 im Schulbereich 6 Modulhandbücher 147 Phasen 4 Präsenzphase 65 rechtliche Grundlagen 146

JIM-Studie 2011 58 Kontrollverlust 80 Lehrvideo 129 Lernplattform – – –

ILIAS 85, 86, 90, 133 Virtual Linguistics Campus 41, 46, 47, 49, 80, 109, 140 Virtuelles Zentrum für Lehrerbildung 108, 109, 140

Linguistic Fieldwork Classes 40, 141 multimediale Inhalte 8 multimediale Lehr-/Lernmaterialien 40 Nachbearbeitung 30 Nachhaltigkeit 25 Podcast 8, 113, 128 Präsenzphase 4, 9, 13, 14, 18, 39, 43, 49, 53, 61, 62, 64, 85, 90, 91, 107, 108, 109, 110, 116, 121, 144, 146, 147 Präsenzveranstaltung 6, 36, 74, 75, 76, 85, 86, 121, 122, 127 Problem-based Learning 85, 86 Project Based Learning 17 Prozesskompetenzen 73 Pseudoteaching 36 QR-Barcode 44 Screencast 7, 25, 42, 43 Screenrecorder 29 Sitemap 47 Teamteaching 63 Universal Design for Learning 16 Videocast 7, 113 Videolehrkräfte 63 Vorlesungsaufzeichnungen 8 Vorlesungsvideos 77 Webcam 29 Windows-Tablet-PC 27 Workbooks 48 YouTube 31, 43, 44, 59, 77, 121, 133 – – –

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