Das Große Hauptquartier im Ersten Weltkrieg 9783110780123, 9783110780000

In 1914, Germany entered the First World War with the General Headquarters (GrHQ) as its central instrument of leadershi

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Das Große Hauptquartier im Ersten Weltkrieg
 9783110780123, 9783110780000

Table of contents :
Inhalt
Verzeichnis der Karten und Organigramme
Vorwort
I. Einleitung
II. Organisation
III. Leben
IV. Schlussbetrachtung
Abkürzungen
Quellen und Literatur
Personenregister

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Groß • Das Große Hauptquartier im Ersten Weltkrieg

Zeitalter der Weltkriege Begründet vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Band 24

Gerhard P. Groß

Das Große Hauptquartier im Ersten Weltkrieg

DE GRUYTER OLDENBOURG

Umschlagabbildung: Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg begeht seinen 70. Geburtstag: Kaffee nach dem Geburtstagsessen mit Kaiser Wilhelm II., Großes Hauptquartier in Bad Kreuznach, 2. Oktober 1917. (picture-alliance/akg-images)

ISBN 978-3-11-078000-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078012-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078030-7 ISSN 2569-7145 Library of Congress Control Number: 2022930049 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Redaktion: ZMSBw, Potsdam, Fachbereich Publikationen (0896-01) Projektkoordination, Lektorat, Bildrechte: Michael Thomae Texterfassung, Satz, Bildbearbeitung: Antje Lorenz Karten: Bernd Nogli Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort........................................................................................................ VII I. Einleitung .......................................................................................... 1 II. Organisation ...................................................................................... 7 1. Großes Hauptquartier ................................................................. 7 2. Dramatis personae ....................................................................... 16 3. Oberster Kriegsherr ..................................................................... 30 4. Allerhöchstes Gefolge .................................................................. 45 5. Flügeladjutanten .......................................................................... 68 6. Heer ............................................................................................ 86 7. Kaiserliche Marine ...................................................................... 115 8. Reichskanzler und Auswärtiges Amt ............................................ 128 9. Standort ...................................................................................... 137 10. Personal ....................................................................................... 152 11. Mobilität und Kommunikation ................................................... 157 12. Sicherheit .................................................................................... 169 III. Leben ................................................................................................. 177 1. Intrigen ....................................................................................... 177 2. Zeit ............................................................................................. 189 3. Gesundheit .................................................................................. 208 4. Essen und Trinken ....................................................................... 223 5. Frauen ......................................................................................... 239 6. Religion und Tod ........................................................................ 254 IV. Schlussbetrachtung ............................................................................ 268 Abkürzungen ............................................................................................ 279 Quellen und Literatur .............................................................................. 280 Personenregister ....................................................................................... 298

Verzeichnis der Karten und Organigramme Großes Hauptquartier 1917/1918 ....................................................... 12 Preußisches Kriegsministerium 1918 ..................................................... 87 Generalstab des Feldheeres bei der Obersten Heeresleitung.................... 111 Die Marineleitung im Ersten Weltkrieg ................................................. 116 Kriegsgliederung des Admiralstabes der Marine (1.10.1918) ................. 125 Standorte des Großen Hauptquartiers 1914‑1918................................ 140/141

Vorwort Als im August 1914 die deutschen Truppen planmäßig mobilgemacht und im Takt einer minutiösen Aufmarschplanung auf lange vorbereiteten Marschstrecken an die Front verschoben wurden, war auch die Frage, wie das Deutsche Kaiserreich diesen Krieg zu führen beabsichtigte, formal seit Langem bedacht und geregelt. Bereits in der Bundesverfassung vom 1.  Januar 1871 war der preußische König als »Bundesfeldherr« vorgesehen worden und die Reichsverfassung vom 16. April 1871 hatte schließlich festgelegt, dass »die gesammte Landmacht des Reichs […] ein einheitliches Heer bilden« und im Kriegsfall »unter dem Befehl des Kaisers« stehen sollte. Der Kaiser wurde damit bei Ausbruch des Krieges de facto Oberbefehlshaber über alle deutschen Streitkräfte. Wilhelm II. wollte diesen Krieg nicht aus der fernen Hauptstadt Berlin, sondern »im Felde« aus einer mobilen Leitungsinstanz heraus führen. Diese Vorgehensweise entsprach seinem monarchischen Selbstverständnis sowie dem Vorbild seines Großvaters im DeutschFranzösischen Krieg 1870/1871. Mit Kabinettsorder vom 3. August 1914 mobilgemacht, wechselte das Große Hauptquartier der Kriegführung des Kaiserreichs mehrfach seinen Sitz und folgte, mit gebührendem Sicherheitsabstand, dem vorrückenden Frontverlauf nach Westen. Alle wesentlichen militärischen und für den Kriegsverlauf entscheidenden politischen Entscheidungen des Kaiserreichs sollten in den folgenden vier Kriegsjahren hier fallen, obwohl es weder eine eigentliche Behörde noch eine Einrichtung mit Verfassungsrang war. Dennoch entwickelte sich das Große Hauptquartier mit Kriegsbeginn zum wichtigsten Versammlungsort von Vertretern der höchsten militärischen und politischen Entscheidungsorgane des Deutschen Kaiserreichs und behauptete diese Stellung bis Kriegsende. In der vorliegenden Untersuchung legt Gerhard Groß Aufbau und Strukturen des Großen Hauptquartiers dar, er analysiert das Handeln und die Motive der wesentlichen Akteure und ermöglicht so einen Einblick in den Alltag und in die Seele dieser trotz eines Millionenheeres nie mehr als ein paar Tausend Menschen umfassenden Führungsorganisation. Das Große Hauptquartier blieb, wie das Deutsche Kaiserreich selbst, das überkommener Fürstenbund und moderne Industriegesellschaft zugleich war, nicht verschont von gravierenden inneren Wiedersprüchen. In eindrücklicher Weise spiegelte es auf diese Weise auch dessen Strukturdefizite und Disparitäten. Auf der einen Seite gab es die hocheffiziente Arbeit der Obersten Heeresleitung, in der rund um die Uhr hektisch der Krieg geplant und geführt wurde und deren Mitarbeiter regelmäßig an den Rand der physischen und psychischen Belastbarkeit und darüber hinaus getrieben wurden. Ihr gegenüber standen die labile Persönlichkeit des Kaisers, dem jedoch die Entscheidungshoheit und -freihttps://doi.org/10.1515/9783110780123-202

VIIIVorwort

heit zunehmend entglitt und der mit fortschreitendem Kriegsverlauf immer weniger das Zentrum des Großen Hauptquartiers bildete, sowie seine weitgehend bedeutungslose Hofgesellschaft. Deren Alltag war oft durch lähmende Routine, Intrigen und wachsende Langeweile geprägt. Effizienz und Moderne des immer totalere Ausmaße annehmenden Krieges sowie die zunehmend überforderten feudalen Reste eines Ständestaates des Fin de Siècle trafen im Großen Hauptquartier auch räumlich aufeinander und nur wenige seiner Angehörigen vermochten als Wanderer zwischen den Welten die Grenzen beider Sphären kurzfristig zu überwinden. Das Große Hauptquartier blieb daher über den gesamten Kriegsverlauf ein Kampfplatz eines bereits im Frieden verbreiteten Konkurrenz-, Prestige- und Ressortdenkens. Als Leitungsinstanz vermochte das Große Hauptquartier nicht, die zivile und militärische Sphäre in einer abgestimmten Strategie zusammenzuführen und so die Kriegsanstrengungen des Reiches zu bündeln. Letztlich scheiterte das Große Hauptquartier an seiner zentralen Aufgabe, ein effektives und effizientes Machtzentrum zu sein. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass Teile des Großen Hauptquartiers, vor allem das unmittelbare Gefolge des Kaisers, sukzessive ein Eigenleben entwickelten, dass die Kriegswirklichkeit immer verhängnisvoller ausblendete. Der Autor bemüht dazu die literarische Metapher des Mann’schen »Zauberbergs«, und in der Tat drängt sich bei der Lektüre diese literarische Analogie auf. Gerhard Groß legt mit dieser Untersuchung seine letzte wissenschaftliche Arbeit als Angehöriger des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr vor, dem er viele Jahre angehört hat. Auf Grundlage seiner profunden Kenntnis der Quellen und der einschlägigen Literatur gelingt ihm dabei nicht nur eine gewichtige Geschichte des Großen Hauptquartiers, sondern auch ein überaus erkenntnisträchtiges institutionelles Psychogramm. Damit schließt Groß eine Leerstelle der aktuellen Forschung und ermöglicht mit seiner Arbeit ein tieferes Verständnis der Kriegführung des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg. Dr. Sven Lange Oberst und Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

»Der Zug rast jetzt mit voller Kraft, die Lichter abgeblendet, in das Dunkel.1«

I. Einleitung Mit einem gellenden Pfiff setzte sich am 16.  August 1914 um 07:53  Uhr bei Kaiserwetter der aus 14 Wagen bestehende, dunkelgrün gestrichene Hofzug am Potsdamer Bahnhof in Berlin in Bewegung. Langsam glitten die bis noch vor wenigen Tagen weiß-blau lackierten Salonwagen an den auf dem Bahnsteig versammelten Menschen vorbei. Unter ihnen befand sich Kaiserin Auguste Viktoria, die sich, wie viele andere Mütter und Ehefrauen in den kriegführenden Staaten, unter Tränen von ihrem Mann Kaiser Wilhelm  II. auf seinem Weg in das Große Hauptquartier Seiner Majestät des Kaisers und Königs (GrHQ) verabschiedete.2 Die Stimmung auf dem Bahnhof war gefasst. Keine jubelnden Menschenmassen, sondern nur wenige Berlinerinnen und Berliner hatten sich eher durch Zufall vor dem Bahnhofsgebäude versammelt, um ihren Monarchen ins Feld zu verabschieden. Unter größter Geheimhaltung und in aller Stille war Wilhelm  II. zuvor mit seiner Gemahlin und seinen Flügeladjutanten durch menschenleere Straßen vom Schloss zum Bahnhof gefahren. Dort hatten lediglich der Kommandierende General des Oberkommandos in den Marken Generaloberst Gustav von Kessel sowie der Kommandierende General des Gardekorps General Alfred von Höffer-Loewenfeld ihren Obersten Kriegsherrn und seine Begleitung erwartet.3 Wie anders war die Stimmung doch am 31.  Juli 1870 gewesen, als König Wilhelm  I. zu seiner Armee abgereist war. War er doch gemeinsam mit seiner Gemahlin im offenen Wagen vorbei an tausenden jubelnden Berlinern vom Schloss zum Bahnhof gefahren. Viele Berliner Tageszeitungen griffen am 17. August 1914 den Vergleich zwischen der Abreise des Großvaters und der des Enkels in den Krieg auf. Überhaupt bemühten sich die Journalisten, ihren Lesern die »ruhmreichen« Tage des Beginns des Deutsch-Französischen Krieges und die Rolle des Kaisers als Oberster Kriegsherr in Erinnerung zu rufen. Da war die Rede von dem »greisen König Weißbart, der vor nun vierundvierzig Jahren, geleitet von dem gläubigen Vertrauen seines Volkes, das gleiche Hohenzollernschloß«4 verlassen hatte wie sein Nachfahre. Unter der Überschrift »Der Kaiser rückt ins Feld!«5 wurde im Beiblatt der National-Zeitung darauf hingewiesen, der Oberste Feldherr sei 1914 wie 1870 etwa 14 Tage nach Kriegsbeginn zu seinem Heer abgereist. Die Vossische Zeitung ging noch einen Schritt weiter. Sie betonte, 1 2 3 4 5

Rosner, Der König, S. 299. Siehe Brief Nicolais an seine Frau vom 16.8.1914, Nicolai, Geheimdienst, S. 108. Vgl. Mutius, Lebenserinnerungen, BArch, N 195/2, S. 208. Der Montag. Berliner Lokal-Anzeiger, 17.8.1914, Nr. 414, S. 1. Beiblatt der National-Zeitung zu Nr. 192, 1914.

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I. Einleitung

Wilhelm II. sei am Tag der Schlacht von Mars la Tour und Vionville gemäß der hohenzollerschen Tradition ins Felde gezogen. »Ja«, so der Leitartikler weiter, »die deutschen Fürsten sind gewohnt, ihre Heere in den Krieg zu führen oder zu begleiten – nicht bloß, um auf dem Schlachtfeld oder im Lazarett dem Krieger in das brechende Auge zu sehen, sondern um die kriegerischen Ereignisse mit klarem Auge zu prüfen und mit starkem Willen zu bestimmen. Der Kaiser ist der oberste Feldherr.«6 Unter der Überschrift »Der Kaiser kommandiert!«7 stellte »Der Montag« unmissverständlich klar, wer die deutsche Armee führt. Er suggerierte zugleich, die Untertanen könnten trotz der Größe der bevorstehenden Aufgabe unbegrenztes Vertrauen in die Führungsfähigkeiten ihres Monarchen haben. Die Frankfurter Zeitung wiederum griff in ihrem Beitrag vom 18. August 1914 einen weiteren wichtigen Aspekt des GrHQ auf: die Zusammenarbeit der zivilen und militärischen Stellen im Kriege, die von anderen Zeitungen zuvor diskutiert worden war. »Die Anwesenheit des Reichskanzlers und des Staatssekretärs des Auswärtigen im kaiserlichen Hauptquartier, über die die hiesigen Blätter Betrachtungen anstellen, ist etwas Selbstverständliches. Es ist im Krieg von Siebzig genauso gehandhabt worden; auch da war der Monarch nicht nur von den Spitzen der Militär- und Marineverwaltung, sondern auch von den politischen Staatsleitern umgeben; wem ist nicht die Anwesenheit Bismarcks in Versailles bekannt! Durch diese Vollzähligkeit des Hauptquartiers ist die einheitliche Leitung und das Zusammenarbeiten aller maßgebenden Faktoren der Staatsverwaltung und ganz besonders auch die einheitliche Führung der auswärtigen Politik und des Krieges gesichert.«8 Aber auch dem euphorischsten und kaisertreuesten Journalisten war bewusst, dass der Kaiser diesen Krieg nicht alleine und von Berlin aus würde führen können, und so verwiesen sie auf den Erlass Wilhelms II. vom 16. August 1914, in dem es kurz und knapp hieß: »Der Fortgang der kriegerischen Operationen nötigt mich, mein Hauptquartier von Berlin zu verlegen.«9 An welchem Ort sich das GrHQ versammeln würde, unterlag ebenso wie die Fahrtstrecke dorthin – 1870 hatte die Verlegung des GrHQ bewusst in aller Öffentlichkeit als Machtdemonstration stattgefunden – strengster Geheimhaltung. Im Generalstab der Armee existierten seit Jahren Pläne sowohl für den Aufbau als auch für die Verlegung des GrHQ. Der Vergleich mit der Verlegung des Hauptquartiers im Jahr 1870 zeigt, welche Veränderungen in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hatten. Genügten 1870 noch sechs Züge,10 waren 1914 elf11 wesentlich längere Züge für den Abtransport des Personals des GrHQ notwendig. Neben dem Hofzug des Kaisers waren alleine noch zwei Züge erforderlich, um das engste Führungspersonal in der ersten Staffel zu transportieren.

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Vossische Zeitung, 17.8.1914, S. 1. Der Montag. Berliner Lokal-Anzeiger, 17.8.1914, Nr. 414, S. 1. Der große Krieg, Heft 2, Artikel »Das Hauptquartier«, S. 126. Berliner Morgen-Zeitung, 18.8.1914, Nr. 192, S. 1. Der deutsch-französische Krieg, Bd 1, S. 132. Der Weltkrieg 1914‑1918, Bd 1, S. 179.

I. Einleitung

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Um die Truppentransporte nicht zu behindern, hatte die Eisenbahnabteilung des Großen Generalstabes den Zügen des GrHQ Strecken weit südlich zugewiesen, die den Aufmarsch nicht störten. So fuhr der Zug mit dem Kriegsminister Generalleutnant Erich von Falkenhayn, dem Staatssekretär des Reichsmarineamtes (RMA) Großadmiral Alfred von Tirpitz, dem Leiter der Zentralabteilung des RMA Kapitän z.S. Albert Hopman, dem Chef des Admiralstabes Admiral Hugo von Pohl sowie dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Gottlieb von Jagow über Erfurt, Würzburg, Mainz nach Westen. Im Zug befanden sich neben Offizieren des Großen Generalstabes, wie Major Max Bauer, unter anderem auch der bayerische Militärbevollmächtigte Generalmajor Karl Ritter von Wenninger und der württembergische Militärbevollmächtigte Generalleutnant Friedrich von Graevenitz. Die Stimmung im Zug war sehr gut. Dazu trug neben dem hohen Fahrkomfort – die Herren hatten jeweils zu zweit ein Abteil und Liegeplätze in Schlafwagen – auch die Tatsache bei, dass Wenninger während eines Aufenthaltes einen Hektoliter bayerisches Bier beschafft hatte, das während eines Bierabends gemeinsam getrunken wurde. Einträchtig bis spät in die Nacht kamen so Offiziere und Beamte verschiedener Dienststellen, die einander die letzten Tage noch teilweise argwöhnisch belauert oder sogar bekämpft hatten, ins Gespräch.12 Um kurz nach 08:00 Uhr am 17. August 1914 erreichte der Zug sein Ziel – Coblenz. Nur wenige Minuten später fuhr der Hofzug in den Coblenzer Bahnhof ein. Er hatte mitten in der Nacht wegen eines Fliegeralarms auf freier Strecke im Rheintal verdunkelt stehenbleiben müssen.13 Gemeinsam mit Wilhelm II. waren in diesem Zug neben dem Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg der Vertreter des Reichskanzlers und des Auswärtigen Amtes im GrHQ Wirklicher Geheimer Rat Karl Georg von Treutler, der Chef des Generalstabes des Feldheeres Generaloberst Helmuth von Moltke d.J., der Chef des Militärkabinetts Generaloberst Moriz Freiherr von Lyncker, der Chef des Marinekabinetts Admiral Georg Alexander von Müller, der Chef des Zivilkabinetts Wirklicher Geheimer Rat Rudolf von Valentini sowie der I. Kommandant des GrHQ Generaloberst Hans Georg von Plessen und der II. Kommandant des GrHQ Oberstleutnant Hans von Hahnke gereist. Mit dem persönlichen Gefolge des Kaisers, darunter der Oberhof- und Hausmarschall Hugo Freiherr von Reischach, dem Diensttuenden General à la suite Generalleutnant Hans von Gontard, allen Generaladjutanten, unter ihnen Generalleutnant Oskar von Chelius, allen Flügeladjutanten und Ordonnanzoffizieren sowie den Leibärzten fuhren in diesem Zug die meisten Offiziere der Operationsabteilung des Generalstabes, unter anderem auch der Chef der Operationsabteilung Oberstleutnant Gerhard von Tappen sowie der Chef der Sektion IIIb (Nachrichtendienst) Major Walter Nicolai. Damit die Verbindung der Kommandostellen während der fast 24-stündigen Fahrt nicht abriss, war die Übergabe von Meldungen auf allen größeren Bahnhöfen sichergestellt gewesen. Die Bahnstrecken und Bahnhöfe bewachten ältere Landsturmmänner. In den Zügen sorgten kleinere Wachmannschaften für den militärischen Schutz. Die Verpflegung im Kaiserzug war recht einfach. Nachdem letztmals Rebhühner gereicht worden waren, verkündete der Kaiser, ab sofort werde es nur noch Mannschaftsverpflegung geben.14 Folgerichtig gab es im 12 13 14

Vgl. Tagebucheintrag Wenningers vom 16.8.1914, Schulte, Neue Dokumente, S. 146 f. Siehe Brief Nicolais an seine Frau vom 16.8.1914, Nicolai, Geheimdienst, S. 109. Vgl. Treutler, Die graue Exzellenz, S. 163.

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I. Einleitung

weiteren Verlauf der Fahrt Gemüsesuppe und Butterbrote.15 Für den Service im Zug waren neben dem regulären Personal auch die Burschen und Ordonnanzen der Offiziere zuständig. So organisierte zur Freude der jüngeren Offiziere eine findige Ordonnanz während eines Haltes in Würzburg heimlich ein Fass Bier.16 Am Vormittag des 17. August 1914 trafen die anderen Züge mit weiteren Beamten und Soldaten aber auch mit Material und besonders mit den vielen Dienst- und Privatpferden in Coblenz ein. In Coblenz war nun die militärische und politische Führung des Kaiserreichs im GrHQ versammelt. Als der Krieg 1914 begann, trat Deutschland mit einem zentralen Führungsinstrument in den Krieg ein. Die Frage war: Würden die handelnden Akteure dieses Instrument im strategischen Sinn nutzen und waren sie sich dieser Tatsache überhaupt bewusst? Hatten sie, angesichts des im Kaiserreich kaum entwickelten strategischen Denkens, eigentlich nicht nur ein Hauptquartier zur Führung des Landkrieges geplant, und war die strategische Dimension nicht lediglich der Tatsache geschuldet, dass der Kaiser, in der Tradition seiner Vorfahren stehend, sich als Militärkönig verpflichtet sah, im GrHQ anwesend zu sein? Diese Studie fragt aber nicht nur danach, was das GrHQ war, sondern wie Führung organisiert wurde, wie die Entscheidungsprozesse abliefen und wie modern das GrHQ war. Alle diese Fragen sind in der Weltkriegsforschung bis heute nur am Rande behandelt worden. Eine Untersuchung des Alltags- und des Binnenklimas im GrHQ existiert ebenso wenig wie eine Arbeit über die Versorgung und die Unterbringung der Angehörigen des GrHQ. Die vorliegende Studie will diese Lücke schließen, indem sie einen Blick auf das alltägliche Leben der Soldaten und Zivilisten dieser zeitweise bis zu über 4000 Personen starken Führungsorganisation wirft. Sie will wissen, wie die Menschen im GrHQ lebten, wie sie ihre freie Zeit verbrachten, wie sie ihren Dienst empfanden, ob sie Langweile oder Stress plagten, wie und was sie aßen und tranken, wie sie Kontakt zu ihren Angehörigen hielten, ob sie unter Krankheiten litten und, wenn ja, ob diese ihr Handeln und ihre Entscheidungen beeinflussten, und wie die Entscheidungsträger, die täglich Tausende Soldaten in den Tod schickten, mit dieser Bürde und dem Tod der eigenen Söhne umgingen? Zudem gilt es zu klären: Wie war das Binnenklima in den verschiedenen Formationen des GrHQ, wie waren die Beziehungen der Entscheidungsträger untereinander, welchen Einfluss hatten Frauen im GrHQ, wer initiierte Intrigen und warum, wie arbeiteten die militärische und die politische Führung sowie die OHL und der Admiralstab zusammen und welche Rolle hatten das Allerhöchste Gefolge und die Flügeladjutanten des Kaisers im Entscheidungsprozess? Nicht zuletzt harrt die Frage der Beantwortung, wie die Menschen, und hier besonders die Entscheidungsträger, den Krieg außerhalb des GrHQ erlebten? Ziel dieser Arbeit ist es folglich, die Lebensrealität im GrHQ abzubilden und zu untersuchen, welche Einflüsse der Alltag auf Führungsentscheidungen hatte – kurz, wie das GrHQ funktionierte.

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Vgl. Tappen, Meine Kriegserinnerungen, BArch, RH 61/986, S. 21, sowie Brief Nicolais an seine Frau vom 16.8.1914, Nicolai, Geheimdienst, S. 109. Vgl. Brief Nicolais an seine Frau vom 16.8.1914, Nicolai, Geheimdienst, S. 109.

I. Einleitung

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Vieles, wenn nicht alles, hing vom Kaiser ab. Würde und konnte Wilhelm II. seiner Verantwortung gerecht werden? Konnte er die divergierenden Interessen zwischen den Kabinetten, der Heeres- und Marineführung sowie dem Reichskanzler und dem Auswärtigen Amt bündeln? Und überhaupt: Konnte er führen? Die Beantwortung dieser Fragen würde über die Arbeitsfähigkeit des GrHQ und letztlich auch über den Ausgang des Krieges mitentscheiden. Diese Studie will aber nicht das operative und strategische Denken im Kaiserreich analysieren.17 Ebenso wenig will sie das GrHQ mit den Hauptquartieren der anderen kriegführenden Nationen vergleichen. Auch die interessanten Fragen nach der deutschen Gesellschaft18 sowie der deutschen Innenpolitik im Krieg19, nach einem Sieg- oder Verständigungsfrieden oder nach den Kriegszielen sind nicht Thema dieser Studie. Sie müssen hier jedoch immer mitgedacht werden. Die Literatur zur Geschichte des GrHQ ist überschaubar. Noch während des Krieges erschien 1916 der von Bogdan Krieger verfasste Propagandaband »Der Kaiser im Felde«,20 der langatmig und lobhudelnd die Aktivitäten des Kaisers in den ersten beiden Kriegsjahren ausführt.21 In den 1920er Jahren veröffentlichte Oberarchivrat Hermann Cron, ein Mitarbeiter des Reichsarchivs in Potsdam, mehrere Beiträge zur Organisation des deutschen Heeres und der Kriegführung im Ersten Weltkrieg. In diesen Werken nimmt die Geschichte des GrHQ keinen großen Platz ein. Die klassisch nüchterne Organisationsgeschichte Crons22 beschränkt sich im Wesentlichen auf eine Darstellung der Gliederung und Funktion der Obersten Heeresleitung (OHL) und verzichtet ganz im Sinne der Generalstabsgeschichte der damaligen Zeit auf die namentliche Nennung der Beteiligten. Dieses Manko beendete Walther Hubatsch mit seinem 1958 erschienenen Aufsatz über das Große Hauptquartier.23 Er legte nicht nur die erste und bis heute einzige ausführliche Darstellung der Geschichte des GrHQ vor, sondern füllte die nackte Organisationsstruktur mit den Namen der handelnden Akteure. Zu einigen wichtigen Entscheidungsträgern, wie Generalfeldmarschall Paul von Beneckendorff und von Hindenburg und General der Infanterie Erich Ludendorff,24 liegen seit Kurzem wichtige Werke vor, die ihr Wirken im GrHQ zumindest am Rande beleuchten. Über die verschiedenen Standorte des GrHQ existieren dagegen nur wenige Studien, meist sind es Artikel in Heimatzeitschriften.25 In ihren Einführungen zu den großen Quelleneditionen handelnder Akteure im GrHQ beschrieben vor einigen Jahren zudem Holger 17 18 19 20 21 22

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Siehe hierzu ausführlich Groß, Mythos und Wirklichkeit. Siehe hierzu Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd 4. Zur deutschen Innenpolitik siehe weiterführend Leonard, Die Büchse der Pandora. Vgl. Krieger, Der Kaiser im Felde. Zu nennen sind auch: Binder, Mit dem Hauptquartier nach Westen, sowie Goltz, Fragen. Vgl. Cron, Geschichte, S. 1‑24; Cron, Die höchsten Kommando- und Verwaltungsbehörden, S. 422‑428; Cron, Die Organisation des deutschen Heeres, S. 8‑24. Vgl. Hubatsch, Großes Hauptquartier. Leider sind Hubatsch bei der Zuordnung einiger Angehöriger des Großen Hauptquartiers Fehler unterlaufen. Vgl. Pyta, Hindenburg, sowie Nebelin, Ludendorff. Zu nennen sind z.B. für Koblenz: Jahresbericht über das Schuljahr 1914‑1915; für Charleville: Gobert, Le Grand Quartier; für Kreuznach: Goldt, Für ewige Zeiten; für Spa: Strenge, Spa.

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I. Einleitung

Afflerbach26 und neuerdings die Herausgeber der Aufzeichnungen des Chefs der Sektion  IIIb der OHL Nicolai27 die Geschichte der zentralen deutschen Führungsorganisation im Ersten Weltkrieg. Einblicke in das Alltagsleben im GrHQ bieten die Kriegsaufzeichnungen Ludwig Bergs.28 Gibt er in ihnen doch nicht nur seine Tätigkeit als katholischer Feldgeistlicher wieder, sondern nimmt den Leser zumindest in Teilen in den Alltag der Menschen im GrHQ mit. Die Quellenlage gestaltet sich unterschiedlich. Die Akten des Großen Generalstabes im Heeresarchiv in Potsdam sind bis auf wenige Einzelstücke durch einen britischen Bombenangriff im April 1945 zerstört worden. Dagegen haben sich eine Vielzahl von Tagebüchern und Aufzeichnungen von Mitgliedern des GrHQ erhalten. Viele davon sind schon vor Jahrzehnten29 oder vor einigen Jahren publiziert worden.30 Bisher überhaupt nicht herangezogen worden sind die Nachlässe des württembergischen Militärbevollmächtigten Generalleutnant Graevenitz31 und des Hauptmanns Friedrich Mewes.32 Besonders Mewes’ Nachlass ist von großer Bedeutung für eine Studie über den Alltag im GrHQ, da er nicht nur von Kriegsbeginn 1914 bis zum 15. Mai 1916 in der Operationsabteilung der OHL und danach bis zum Sommer 1918 als Flügeladjutant Wilhelms II. tätig und damit an zwei zentralen Schaltstellen des GrHQ eingesetzt war, sondern in seinen fast täglich geschriebenen Briefen an seine Ehefrau erstmals tiefe Einblicke in das Innenleben des GrHQ aus der Sicht eines Subalternoffiziers ermöglicht. Dies ist umso mehr von Bedeutung, als nicht zuletzt auch Wilhelm  II. keine persönlichen Aufzeichnungen hinterlassen hat. Lassen Sie uns nun in das modernste Reisemittel des Kaiserreiches, den Hofzug, einsteigen, um mit Wilhelm II. ins Feld zu ziehen, denn in einem Zug, respektive auf einem Bahnhof, begann die Geschichte des GrHQ im Ersten Weltkrieg und auf einem Bahnhof sollte sie 1918 auch enden.

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Vgl. die Einführung von Holger Afflerbach zu dem Quellenband: Kaiser Wilhelm  II. als Oberster Kriegsherr, hier S.  15‑20, und ebd. die Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Hans-Georg von Plessen, hier S. 595‑597. Vgl. Epkenhans [u.a.], Walter Nicolai – Annäherung an einen Unbekannten. Vgl. Berg, Pro Fide. So die Aufzeichnungen des Chefs des Marinekabinetts Admiral Georg Alexander von Müller, Regierte der Kaiser? Hier ist die Edition der Aufzeichnungen der Generalobersten Moriz Freiherr von Lyncker und Hans Georg von Plessen hervorzuheben: Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr. Der Nachlass mit dem Kriegstagebuch und einem ausdrücklich als vertraulich zu behandelndem Auszug aus dem Tagebuch Friedrich von Graevenitz’ findet sich im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS), M 660/095, Bü 59. Die weitaus meisten Briefe Mewes sind unter der Signatur N  850 im BundesarchivMilitärarchiv archiviert. Weitere Briefe und einige Dokumente Mewes’ wurden mir von Herrn Warner Poelchau dankenswerterweise zur Auswertung überlassen.

II. Organisation 1. Großes Hauptquartier »Die richtige Zusammensetzung eines Großen Hauptquartiers oder des Stabes des Oberkommandos der Armee ist eine große Kunst« und »Ein zu großer Stab und ein zu kleiner sind gleich große Übel.«1 Mit diesen Worten brachte Generalleutnant Albert von Boguslawski 1896 seinen Beitrag in »Heere und Flotten« über das Große Hauptquartier während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/1871 auf den Punkt. Er spielte dabei nicht nur auf die Erfahrungen jenes Krieges an, sondern hatte die grundsätzliche Problematik einer Führungsorganisation vor Augen, die sich aus verschiedenen, teilweise sich behindernden oder sogar bekämpfenden interessengeleiteten Führungsbereichen zusammensetzte. Auch war er sich der Eigendynamik der in einem Hauptquartier tätigen oder nur anwesenden karriere- und machtorientierten Führungspersönlichkeiten bewusst. Aber nicht nur der Militärschriftsteller Boguslawski richtete Ende des 19. Jahrhunderts sein Augenmerk auf die Organisationsstruktur der militärischen Führung im Deutsch-Französischen Krieg. Auch der Große Generalstab und das Kriegsministerium legten ihren Planungen für die Aufstellung und Organisation einer höchsten Kommandobehörde als zentralem militärischem Führungsapparat für den Kriegsfall die Struktur und den Aufbau des Hauptquartiers des DeutschFranzösischen Krieges zugrunde. Außer Frage stand, dass Kaiser Wilhelm  II., wie sein Großvater, als Inhaber der Kommandogewalt2 im Krieg seinen Platz im GrHQ sah und dass der Chef des Generalstabes der Armee als zentrales Führungsinstrument des Monarchen dort ebenfalls eine hervorgehobene Position einzunehmen hatte. Der Generalstabschef, im Frieden lediglich mit der Planung von Kriegen und der Mobilmachung beauftragt, sollte im Kriegsfall unter dem Oberbefehl des Kaisers die Führung der deutschen Kontingentsarmee übernehmen. Das GrHQ, das weder eine einheitlich organisierte Militärbehörde noch ein speziell zusammengesetztes Gremium, sondern eine Ansammlung verschiedener politischer und militärischer Dienststellen und Stäbe war,3 sollte jedoch weit mehr als nur die militärische Führungszentrale eines zukünftigen Krieges sein. Es war – im Falle eines Krieges – die zentrale Leitungsinstanz für alle politischen und militärischen Angelegenheiten Deutschlands. Neben dem Kaiser, in dessen 1 2 3

Die Heere und Flotten der Gegenwart. Deutschland, Bd 1, S. 99 f. Zur Kommandogewalt siehe Deist, Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr, S. 6‑18. Siehe Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd 5, S. 197.

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II. Strukturen

Person die militärische und politische Führung zusammenlief, war im GrHQ daher auch die zivile Führung des Kaiserreiches eingeplant. Letztlich lief alles auf die Person des Kaisers zu. Ob er intellektuell, charakterlich und von seiner militärischen Ausbildung dazu in der Lage war, stand nicht in Frage. Ein in der Tradition Friedrichs des Großen und Wilhelms I. stehender Militärkaiser hatte diese strategische Führungsaufgabe schlicht zu erfüllen. Doch wie sollten die Arbeitsprozesse im GrHQ ablaufen und wer sollte unterhalb des Monarchen die Einsätze der deutschen Land- und Seestreitkräfte koordinieren? Eine Vorschrift, die diese entscheidende Führungsfrage regelte, gab es erstaunlicherweise nicht. Selbst in der reichhaltigen Militärpublizistik des Kaiserreichs war dieser zentrale Punkt kein Thema. Wie bei Boguslawski genügte, wenn die Frage überhaupt thematisiert wurde, meistens der Verweis auf das gut funktionierende GrHQ im Deutsch-Französischen Krieg. Nur würde der nächste Krieg, und da waren sich alle Protagonisten einig, nicht wie die Kriege der Vergangenheit ablaufen. Während der Große Generalstab daher die Balkankriege der Jahre 1911 und 1912 und den Russisch-Japanischen Krieg von 1904/1905 taktisch und operativ intensiv auswertete, unterblieb jegliche Analyse der strategischen Führungsorganisation der Kriegsparteien. Bloß Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen beschäftigte sich in seinem Ruhestand mit der Frage, wie ein Feldherr den zukünftigen Krieg in seinem Hauptquartier führen sollte.4 Aber auch der ehemalige Chef des Großen Generalstabes nahm nicht die strategische, sondern die operative Führungsebene des Heeres in den Blick. Er plante ein modernes Hauptquartier zur Landkriegführung. Für ihn war wichtig, dass der moderne Alexander nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern weit entfernt in seinem Hauptquartier die Armeen mit modernen Kommunikationsmitteln führte. Schlieffen war jedoch dem operativen Denken des Heeres verhaftet, weswegen auch er der Entwicklung einer für den modernen industrialisierten Krieg notwendigen Strategie, die Wirtschaft, Militär und Politik zusammenführte, keinen Platz einräumte. Als der Krieg 1914 begann, trat das Kaiserreich folglich mit einem von der Anlage her weitaus moderneren zentralen strategischen Führungsinstrument in den Krieg ein als die Verbündeten und Kriegsgegner. Nur über die praktische Ausgestaltung der Arbeits- und Entscheidungsprozesse hatte man sich, obwohl zumindest die Umgebung des Kaisers sich dessen Führungsschwächen bewusst war, kaum Gedanken gemacht. Festgelegt war lediglich, wer mit welcher Personalstärke im GrHQ vertreten sein sollte. Die Ausplanung des GrHQ verantworteten die für die Mobilmachung zuständige Armeeabteilung (A I) des Allgemeinen Kriegsdepartements des preußischen Kriegsministeriums sowie die Aufmarschabteilung (A II) des Großen Generalstabs.5 Während letztere den ersten Standort sowie die Kriegsformation des GrHQ gegenüber dem Kriegsministerium festlegte, hatte A 1 für die personelle und materielle Ausgestaltung und Sicherstellung im Kriegsfall Sorge zu tragen. Auch wenn das GrHQ nicht im Rahmen der allgemeinen Mobilmachungen, sondern auf besonderen Befehl mobil gemacht wurde,6 unterlag seine Ausplanung der routi4

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Siehe Schlieffen, Krieg in der Gegenwart, abgedr. in: Schlieffen, Gesammelte Schriften, Bd 1, S. 15 f. Vgl. Rahne, Mobilmachung, S. 83 f., sowie Wrisberg, Das Kriegsministerium, S. 268‑292. Im § 9 Abs. 2 des Mobilmachungsplanes war festgelegt, dass das GrHQ erst auf besonderen Befehl mobil gemacht werden sollte. Siehe.V.E. 219, Geheim, Mobilmachungsplan für das

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nemäßigen jährlichen Überprüfung, die wie folgt verlief: Alljährlich im Herbst erließ das Kriegsministerium Bestimmungen für das nächste Mobilmachungsjahr, das traditionell immer am 1.  April eines Jahres begann und am 31.  März des Folgejahres endete.7 Die einzelnen Dienststellen und Behörden meldeten zu vorgegebenen Zeiten ihren Bedarf an, der dann im Kriegsministerium geprüft und personell sowie materiell hinterlegt wurde.8 Dieser Verwaltungsgang traf auch für die Mobilmachungsplanungen des GrHQ zu. So meldete der Große Generalstab im Rahmen seiner jährlichen Mobilmachungseingaben immer am 1. April, welches Personal, insbesondere auch für das GrHQ, zur Umsetzung seiner organisatorischen Vorbereitungen und Planungen benötigte wurde. Die Besetzung der Magazin-, Kassen- und Intendanturbeamten der Feldverwaltungsbehörden des GrHQ regelte das Kriegsministerium hingegen in alleiniger Verantwortung.9 Die für das aufzustellende GrHQ benötigten Kraftfahrzeuge, Mobilmachungspferde und Trainsoldaten waren noch vor dessen Mobilmachung durch das das GrHQ zu Kriegsbeginn beherbergende Generalkommando sicherzustellen.10 Auch die mit Sicherungs- und Protokollaufgaben betrauten Sicherungskräfte der Stabswache sowie die zugehörigen Feldverwaltungsbehörden hatten bereits vor der Mobilmachung des GrHQ bereitzustehen.11 Da Wilhelm II. sich die Besetzung aller Dienstposten einschließlich und oberhalb der Regimentskommandeure, aller Generalstabsoffiziere und der Adjutanten im GrHQ ausdrücklich vorbehielt, war eine endgültige Stellenbesetzung im GrHQ ohne seine Zustimmung nicht möglich.12 Trotz dieses allerhöchsten Vorbehalts verlief die Besetzung der Heeresdienstposten im Zusammenspiel zwischen Kriegsministerium und Großem Generalstab bis Kriegsbeginn 1914 reibungslos. Zugleich war den mit den Ausplanungen des GrHQ betrauten Generalstabsoffizieren von Anfang an bewusst, dass sie nicht nur eine mobile Führungszentrale der obersten militärischen, sondern auch der obersten politischen Führung zu planen hatten. Die heikle Aufgabe, die zum Teil stark differierenden Interessen von Armee und Marine sowie von Politik und Hof geschickt auszuloten, erforderte von allen Beteiligten ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl. Wie aber sollten die Marine, der Hof und die politische Führung in die Führungsorganisation mit eingebunden werden? Viele Beteiligte waren im Nachhinein davon überzeugt, die dauerhafte Anwesenheit deutscher Fürsten als Befehlshaber ihrer Kontingente habe während des Deutsch-Französischen Krieges das GrHQ in seinen Entscheidungen zumin-

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Deutsche Heer vom 9.10.1913, Berlin 1913, S. 24. Vgl. ebd., S. 33. Für 1914 waren diese in den folgenden als »geheim« gekennzeichneten Vorschriften niedergelegt: D.V.E.  219, Geheim, Mobilmachungsplan für das Deutsche Heer vom 9.10.1913, Berlin 1913; D.V.E. 219a, Geheim, Stärkenachweisungen der Behörden und Truppen in der Kriegsformation (Beiheft zum Mobilmachungsplan vom 9.10.1913), Berlin 1913; sowie D.V.E 222, Waffenetats der Behörden und Truppen in der Kriegsformation. Vgl. D.V.E. 219, Mobilmachungsplan, S. 108. Der erste Standort des GrHQ ab dem 16.8.1914 war die Stadt Coblenz. Daher war für die Sicherstellung des genannten Personals das Generalkommando VIII mit Sitz in Coblenz zuständig. Vgl. D.V.E. 219, Mobilmachungsplan, S. 25 und S. 35. Vgl. ebd., S. 59.

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dest teilweise behindert. Ein solch potenzieller »Unruheherd« war im Kaiserreich hinfällig geworden: Artikel  63 der Reichsverfassung13 sah nun den Kaiser als »Obersten Kriegsherrn«14 vor, und zwar dergestalt, dass er im Kriegsfall den alleinigen Oberbefehl über das deutsche Kontingentsheer innehatte. Damit war eine dauerhafte Anwesenheit deutscher Fürsten als Befehlshaber ihrer Kontingente und in dieser Hinsicht ein potenzieller Hort politischer Eitelkeiten und Unruhe in einem zukünftigen GrHQ weitgehend ausgeschlossen.15 Die mit der Aufstellung eines GrHQ im Kriege beauftragten Offiziere hatten das als Teil des Hofes bereits im Frieden bestehende »Hauptquartier seiner Majestät des Kaisers und Königs« der auszuplanenden Führungsorganisation zwingend zugrunde zu legen. In diesem hatte der Kaiser nur wenige Tage nach seiner Krönung am 7. Juli 1888 sein militärisches Gefolge, darunter die zahlreichen Adjutanten und Flügeladjutanten,16 mit dem Ziel zusammengefasst, den Einfluss der zivilen Hofmarschälle einzudämmen.17 Die Idee, im Rahmen eines allgemeinen Revirements seiner persönlichen Umgebung aus dem »maison militaire« ein eigenes Hauptquartier zu bilden, war dem jungen Kronprinzen wohl während eines Besuches in St.  Petersburg gekommen.18 Nicht alle der am Hof Wilhelms  II. tätigen Offiziere waren jedoch Angehörige dieses neuen »Friedenshauptquartiers«. Während ihm der Chef des Militärkabinetts angehörte, blieb interessanterweise dem Chef des 1899 gegründeten Marinekabinetts der Zutritt verwehrt. Er war lediglich Teil der Kriegsformation des Hauptquartiers. Gleichwohl waren neben den zentralen Abteilungen des Großen Generalstabes, dem Admiralstabschef der Marine sowie dem »Friedenshauptquartier« und Teilen des Hofes auch die wichtigsten Entscheidungsträger der Reichsregierung mitsamt ihren engsten Mitarbeitern im GrHQ eingeplant. Über die Jahre wuchs die Anzahl der für das GrHQ vorgesehenen Soldaten und Beamten stetig. Dies war der Tatsache geschuldet, dass alle wichtigen militärischen und zivilen Dienststellen des Reiches sich nicht nur darum bemühten, mit einem ihrer Ansicht nach angemessenen Personaltableau im GrHQ vertreten zu sein, sondern einige Vertreter wichtiger Dienststellen, wie z.B. Tirpitz, einen Platz in der unmittelbaren Nähe des Monarchen sogar einforderten. Das führte immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den dort anzusiedelnden Vertretern politischer und militärischer Dienststellen, Behörden, Ämter und Ministerien. Strebten doch viele militärische und zivile Entscheidungsträger 13

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»Die gesammte Landmacht des Reichs wird ein einheitliches Heer bilden, welches im Krieg und Frieden unter dem Befehle des Kaisers steht.« Gesetz betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16.4.1871, Art.  63, (12.4.2021). Zur Entstehung des Terminus »Oberster Kriegsherr« und dessen Bedeutung siehe Deist, Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr. Die Könige von Bayern, Sachsen und Württemberg ließen sich lediglich durch ihre Militärbevollmächtigten vor Ort vertreten. Siehe Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Hans-Georg von Plessen, S. 595 f.; Röhl, Wilhelm II., Bd 2, S. 196‑199. Siehe hierzu Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Hans-Georg von Plessen, S. 595; Waldersee, Denkwürdigkeiten, Bd 2, S. 10; Schmidt-Bückeburg, Das Militärkabinett, S. 177. Vgl. Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd 1, S. 76.

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nach größtmöglicher Präsenz in der Nähe des Kaisers, um in der unmittelbaren Umgebung des Monarchen wirken zu dürfen und um Einfluss auf ihn ausüben zu können. Dies war jedoch nicht im Sinne des Chefs des Generalstabes der Armee. In seinem Interesse lag es, das GrHQ personell nicht übermäßig zu vergrößern, um somit dessen Verlegungs- und Führungsfähigkeit zu gewährleisten. Zugleich war ihm daran gelegen, den Kaiser von anderen konkurrierenden Einflüssen abzuschirmen. Der Generalstab versuchte daher, dem personellen »Wildwuchs« mit wechselndem Erfolg entgegenzuwirken. So setzte das Militärkabinett auf Anfrage des Großen Generalstabs und des Kriegsministeriums im Rahmen der jährlichen Überprüfung der Mobilmachungsvorbereitungen Anfang 1913 beispielsweise die Dienststellen der Marine unter Druck, als es diese aufforderte, die Anzahl der ihrerseits reklamierten Marinevertreter im GrHQ zu reduzieren, da sonst eine Einteilung der Marinedienststellen in der 1. Staffel und damit im engeren Führungskreis um den Kaiser nicht gewährleistet werden könne. Nach interner Diskussion zwischen Marinekabinett auf der einen und Reichsmarineamt sowie Admiralstab auf der anderen Seite akzeptierten letztere schließlich eine Reduzierung ihrer Vertreter, um die Einplanung ihrer Dienststellen in der ersten Staffel sicherzustellen. Daraufhin teilte das Militärkabinett am 24. Mai 1913 dem Marinekabinett mit, die Vertreter der Kaiserlichen Marine seien in der 1.  Staffel im direkt vor dem Hofzug fahrenden Zug  9a eingeplant.19 Hier vermochte der Große Generalstab also seine Interessen durchzusetzen. Trotz aller Bemühungen gelang es ihm aber bis Kriegsbeginn nicht, die Größe des GrHQ signifikant zu reduzieren. Gemäß der D.V.E. 219a waren alleine für die militärischen Dienststellen 229 Offiziere und obere Beamte, 1283 Mannschaften, Unteroffiziere und Unterbeamte eingeplant.20 Der I. Kommandant des GrHQ war der schon im Frieden als Kommandant des »Hauptquartiers seiner Majestät des Kaisers und Königs« eingesetzte Plessen. Während er im Frieden seine beiden Aufgaben als diensttuender Generaladjutant und Kommandant des kaiserlichen Hauptquartiers noch erfüllen konnte, war dies mit Kriegsbeginn nicht mehr möglich, da dem I. Kommandanten des GrHQ von da an alle organisatorischen Aufgaben des auf mehrere Tausend Personen angewachsenen GrHQ oblagen. Plessen zog sich daher auf seine Pflichten als diensttuender Generaladjutant zurück, ernannte den Flügeladjutanten Hahnke zum II.  Kommandanten des GrHQ und beauftragte ihn mit der Führung des Dienstbetriebes. Lediglich grundsätzliche Entscheidungen, wie z.B. die Verlegung des GrHQ, behielt Plessen sich vor.21 Hahnke und sein Nachfolger Major Leopold Freiherr von Münchhausen hatten nun die Aufgabe, die Führungsfähigkeit des sich im Kriege immer weiter personell aufblähenden GrHQ sicherzustellen. Das war in vielerlei Hinsicht eine herausfordernde Aufgabe, denn schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn hatte das GrHQ mit ca. 2000  Mann die ge19 20

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Siehe Brief Marschalls an Müller, 24.5.1913, BArch, RM 2/1816, fol. 20. Siehe D.V.E. 219a, Stärkenachweisungen, S. 16. Auf den Seiten 1 bis 16 sind detailliert die personellen und materiellen Stärkenachweisungen für die einzelnen Dienststellen aufgeführt, wobei bei den Marinedienststellen im Gegensatz zu den Heeresdienststellen die Burschen verzeichnet sind. Der II. Kommandant unterstand dem Generalquartiermeister, da dieser die gerichtsherrlichen und disziplinaren Befugnisse im GrHQ innehatte. Siehe Freytag-Loringhoven, Menschen, S. 264.

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Großes Hauptquartier 1917/1918 Wilhelm II.

Deutscher Kaiser und König von Preußen als Oberster Kriegsherr Formation des Reichskanzlers und des Auswärtigen Amtes

Chef des Marinekabinetts

Geheimrat Werner Freiherr v. Grünau

seit 29.10.1918

Admiral Georg Alexander v. Müller Kapitän zur See Karl v. Restorff

Vertreter des Reichskanzlers bei der OHL (seit Februar 1917)

General- und Flügeladjutanten

Unterstaatssekretär Hans Karl v. Stein

(zugleich 1. Kommandant des Großen Hauptquartiers)

seit November 1917

Landrat a.D. Jules Menno v. Limburg-Stirum

Generaloberst Hans v. Plessen

Generalleutnant Hans v. Gontard Generalleutnant Oskar v. Chelius (zeitweilig)

Chef des geheimen Zivilkabinetts Geheimer Kabinettsrat Rudolf von Valentini seit 16.1.1918

Oberpräsident Friedrich v. Berg seit 11.10.1918

Staatssekretär a.D. Clemens v. Delbrück

Chef des Militärkabinetts

Oberst Otto v. Estorff Oberst Hans Heinrich Fürst v. Pleß Major Leopold v. Münchhausen

(zugleich als 2. Kommandant des Großen Hauptquartiers dem Generalquartiermeister unterstellt)

Major Georg v. Hirschfeld Major Detlef Graf v. Moltke Korvettenkapitän Nikolaus Graf und Burggraf zu Dohna-Schlodien Hauptmann Friedrich Mewes

General der Infanterie Moriz v. Lyncker seit 29.10.1918

Generalmajor Veit Ulrich v. Marschall gen. Greiff

Stab des preußischen Kriegsministers Major Friedrich Stieler v. Heydekampf

Chef des Generalstabes des Feldheeres (OHL) * Generalfeldmarschall Paul v. Hindenburg

Chef des Admiralstabes

Oberhofmarschallamt Oberhofmarschall Hugo v. Reischach

Obermarstallamt Oberstallmeister Wilhelm v. Frankenberg und Ludwigsdorf

Leibärzte Oberstabsarzt Dr. Otto v. Niedner Stabsarzt Dr. Wetzel

Admiral Henning v. Holtzendorff

Militärbevollmächtigte

Admiral Reinhard Scheer

Bayern:

seit 10.8.1918

Staatssekretär des Reichsmarineamtes bzw. Vertreter Admiral Eduard v. Capelle

Vizeadmiral Ernst Ritter v. Mann Edler v. Tiechler

Generalmajor Hans v. Eulitz

Württemberg: Generalleutnant Friedrich v. Graevenitz seit 10.7.1918

Oberst Max Holland

Vizeadmiral Paul Behncke

Anmerkung: Dieses Schaubild erfasst die wichtigsten Persönlichkeiten im Gefolge des Kaisers bzw. die wesentlichen Dienststellen und Stäbe des Großen Hauptquartiers. * Generalstab des Feldheeres bei der Obersten Heeresleitung, Stand 1.10.1918, wird nachfolgend in einem detaillierten Schaubild gesondert dargestellt.

seit 16.6.1918

Generalmajor Paul v. Köberle Sachsen:

seit 11.8.1918 (interimistisch) seit 7.10.1918

Generalleutnant Bernhard v. Hartz

Verbündete Staaten ÖsterreichUngarn:

Generalmajor Alois Klepsch-Kloth v. Roden

Bulgarien:

Oberst Peter Gantschew

Türkei:

Generalleutnant Zeki Pascha

Quellen: Hubatsch, Großes Hauptquartier, S. 422 – 461; Cron, Geschichte des Deutschen Heeres, S. 1 – 7; RGVA, 1414-1-14, Wohnungsliste sämtlicher im Unterkunftsraum des Großen Hauptquartiers befindlichen Offiziere und Beamten im Offiziersrang, Stand: 1. Mai 1917, Bl. 68 – 97.

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plante Personalstärke deutlich überschritten: So waren nach einer personellen Aufstellung der verschiedenen Dienststellen und deren wichtigster Mitarbeiter im Oktober 1914 in Charleville-Mézières bereits 358 Offiziere und höhere Beamte in den zentralen Abteilungen des GrHQ tätig.22 Die Zahl der im GrHQ eingesetzten Soldaten und Beamten vergrößerte sich im Kriegsverlauf kontinuierlich. Zum einen wurden dem GrHQ weitere Dienststellen hinzugefügt, zum anderen stieg der Personalbedarf der schon existierenden Dienststellen aufgrund der stetig wachsenden Komplexität der Kriegführung fortwährend. So ergab eine vom II. Kommandanten am 21. Februar 1917 befohlene Zählung der evangelischen und katholischen Offiziere und Mannschaften 284 evangelische und 57 katholische Offiziere sowie 1462 evangelische und 580 katholische Unteroffiziere und Mannschaften.23 Da nach Angabe des katholischen Feldgeistlichen nicht alle Soldaten in dieser Meldung erfasst waren, dürfte die Zahl der im GrHQ dienenden Soldaten noch größer gewesen sein. Dafür spricht auch die lediglich die Offiziere und Beamten im Offizierrang erfassende Wohnungsliste in Kreuznach. Dort sind 558  Offiziere und Beamte im Offizierrang mit Stand 1.  Mai 1917 aufgeführt.24 Das Verzeichnis der Ordensauszeichnungen vom 11. Oktober 1918 nennt kurz vor Kriegsende eine Personalstärke von 167 Personen alleine für die im Stab des Chefs des Generalstabes des Feldheeres tätigen Offiziere und Beamten25. Ob das GrHQ am Ende des Krieges 1918 wirklich fast 5000 Mann umfasste, wie Afflerbach und Hubatsch ausführen,26 erscheint angesichts dieser Zahlen jedoch fraglich. Auch die von Ludwig Berg zu Beginn seiner Zeit im GrHQ angegebene Zahl von 6000 Soldaten bezieht sich auf die in der Umgebung von CharlevilleMézières stationierten Formationen, die zeitweise für bestimmte Wach- oder Ordonanzaufgaben herangezogen wurden, jedoch nicht zum GrHQ zählten.27 Daher ist auch diese Zahl sicherlich zu hoch gegriffen. Dagegen dürfte Irene Strenge, die für Spa von knapp 3000 Unteroffizieren, Mannschaften und vergleichbaren Beamten sowie ca. 800 Offizieren und höheren Beamten ausgeht,28 mit ihrer Schätzung nahe an der für das Kriegsende anzunehmenden Personalstärke liegen. Schon früh übte unter anderem der Marinekabinettschef Müller Kritik an dem sich immer weiter aufblähenden GrHQ, besonders an den vielen Höflingen 22

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Siehe Großes Hauptquartier, Oktober 1914, Nachlass Graevenitz, HStAS, M  660/095, Bü 61. Nach Angabe Bergs fehlten in dieser Meldung noch einige Formationen der OHL. Die Anzahl der im GrHQ dienenden Soldaten muss daher noch größer gewesen sein. Vgl. Tagebucheintrag 3.3.1917, Berg, Pro Fide, S. 418. Wohnungsliste sämtlicher im Unterkunftsraum des Großen Hauptquartiers befindlichen Offiziere und Beamten im Offizierrang vom 1.5.1917, RGVA, 1414-1-14, Nachlass Nicolai, fol. 68‑97. Siehe Verzeichnis der beim Stabe des Chefs des Generalstabes des Feldheeres befindlichen Offiziere und Beamten mit Angabe der verliehenen Ordensauszeichnungen, 11.10.1918, Nachlass Graevenitz, HStAS, M 10, Bd 22. Vgl. Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Moriz Freiherr v. Lyncker, S. 99. Vgl. Notizbucheintrag Bergs vom 26.9.1915, Berg, Pro Fide, S. 299. Siehe Strenge, Spa, S.  124. Hervorzuheben ist, dass auch im Frühjahr 1918, trotz des dramatischen Pferdemangels für die Frühjahrsoffensiven, ca. 800 Pferde für die Mitarbeiter im GrHQ in Spa untergebracht werden mussten.

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und der Dienerschaft im höfischen Gefolge des Kaisers. Die Hälfte der Leute, schrieb er Plessen, könne die anliegende Arbeit ohne Überlastung erledigen. Plessen nahm daraufhin Rücksprache mit Hindenburg, der lapidar antwortete, man könne »Sr.  Majestät das ›Vergnügen an einer zahlreichen Umgebung lassen‹«.29 Was konnte der neuen Führung der OHL denn auch Besseres passieren als ein Kaiser, dem sein Vergnügen und nicht seine Aufgaben und Pflichten im Vordergrund stand. Hauptsache, er hält sich raus und lässt uns machen, wird Ludendorff im Stillen vielleicht gedacht haben. Für das Vergnügen des Kaisers konnte in einer Armee, die aufgrund ihrer hohen Verluste jeden Mann brauchte, daher alle personellen Ressourcen genutzt werden. Hahnke war folglich auch für den Serganten Auras zuständig, der, anstatt zu kämpfen, die kaiserlichen Gärten in den jeweiligen Großen Hauptquartieren pflegte.30 Hahnkes Aufgaben als II.  Kommandant des GrHQ waren natürlich vielfältiger. Er hatte insbesondere den Schutz des GrHQ und im Besonderen den des Kaisers sicherzustellen, die Nachrichtenverbindungen zu gewährleisten, den großen Fuhrbetrieb und die Verwaltung des GrHQ zu organisieren, das immer weiter umgreifende Hofleben zu ermöglichen sowie nicht zuletzt die Versorgung des sich zusehends aufblähenden GrHQ zu garantieren. Zur Erfüllung dieser Aufgaben standen ihm zu Kriegsbeginn 56 Mitarbeiter zur Verfügung, darunter sechs Offiziere und vier höhere Beamte sowie 44 Unteroffiziere, Mannschaften und untere Beamte.31 Mit Anwachsen des GrHQ dürfte sich diese Zahl sicherlich erhöht haben.32 Hahnke hat diese Aufgaben zur allgemeinen Zufriedenheit erledigt. Jeden Morgen um 11:00 Uhr führte er die Befehlsausgabe für alle Formationen durch. Er wurde allseits geachtet, da er Offiziere wie Mannschaften und Unteroffiziere in Ton und Form gleich und immer korrekt behandelte. Dies schätzte auch die französische Bevölkerung in Charleville-Mézières an ihm, denn solange er dort als II. Kommandant des GrHQ für Ruhe und Ordnung verantwortlich war, waren den deutschen Soldaten klare Grenzen im Umgang mit der französischen Zivilbevölkerung und dem Requirieren gesetzt.33 Müller lobte Hahnke ausdrücklich dafür, dass er die Einwohner von Charleville-Mézières nicht dazu zwang, die deutschen Offiziere des GrHQ zu grüßen.34 Selbst der Versorgungsunteroffizier Wilhelm Appens, der mit den deutschen Offizieren des GrHQ sonst sehr kritisch zu Gericht ging, fand lobende Worte für die »blutleere Gerechtigkeit« Hahnkes, mit der er führte. Sein Nachfolger Münchhausen scheint Hahnkes eher unprätentiösen Führungsstil nicht übernommen zu haben. Seine Untergebenen empfanden ihn im Umgang eher als unangenehm.35 Mit Kriegsbeginn hielten nicht nur Soldaten, sondern auch die Verwaltung, die militärische wie die zivile, Einzug im GrHQ. Sehr zum Missfallen, oft sogar 29 30 31 32

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Brief Müllers an Plessen vom 2.9.1916, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 219. Siehe Eintrag Bergs vom 27./28.5.1918, Berg, Pro Fide, S. 643. Siehe D.V.E. 219a, Stärkenachweisungen, S. 1. In den einschlägigen Akten finden sich keine Hinweise auf die Personalstärke des Stabes des II. Kommandanten des GrHQ für den weiteren Kriegsverlauf. Siehe Appens, Charleville, S. 6. Siehe Müller, Der Kaiser, S. 190. Vgl. Appens, Charleville, S. 6‑8.

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zur Verärgerung vieler Soldaten und Beamten setzte sie ihr im Frieden praktiziertes Verwaltungshandeln im Krieg konsequent fort. Aber nicht das im GrHQ eingesetzte zivile und militärische Personal sollte als Erstes die harte Hand der Verwaltung spüren, sondern die Hoteliers in Coblenz. Ihre Kriegsbegeisterung verflog schon nach wenigen Tagen, denn die Verwaltung hielt sich strikt an die vorgeschriebenen Pauschalen für die Verpflegung und Unterbringung der Angehörigen des GrHQ und war nur bedingt bereit, den von den Hotels dafür in Rechnung gestellten erheblich höheren Kostenaufwand zu begleichen. Für die dem GrHQ zugeteilten Beamten des Auswärtigen Amtes waren die Reisekosten, die Unterkunfts- und Verpflegungspauschalen, verschiedene Zulagen sowie das Tagegeld ein dauernder Streitpunkt mit der Verwaltung. So zog die Anfrage des Legationsrats Werner Freiherr von Grünau, des Vertreters des Auswärtigen Amtes und des Reichskanzlers im GrHQ, warum den Beamten der Formation »Reichskanzler und Auswärtiges Amt« im GrHQ West (CharlevilleMézières) ebenso wie den Beamten der Kabinette neben ihrer Vergütung und den Zulagen freie Verpflegung und Wohnung gewährt würden, den im GrHQ Ost (Pleß) dagegen nicht, solche Kreise, dass sowohl der Staatsekretär des Auswärtigen Amtes Jagow als auch der Staatssekretär des Reichsschatzamtes Karl Helfferich sich gezwungen sahen, Stellung in dieser Angelegenheit zu beziehen. Die Prüfung ergab, dass nur den in den Stärkenachweisungen vorgesehenen Beamten freie Unterkunft und Verpflegung zustand, denn diese hätten den Status von Beamten der Heeresverwaltung und würden mit geringeren Gebührnissen abgefunden. Das war auch deswegen von Bedeutung, weil die Beamten des Auswärtigen Amtes von der am 1. November 1915 umgesetzten Herabsetzung der Bezüge der Heeresbeamten ausgenommen worden waren und sich somit finanziell deutlich besserstellten als die Beamten der Heeresverwaltung. Da gemäß der Tagegeldbestimmung von 1910 der höhere Tagegeldsatz nur zulässig war, wenn keine freie Verpflegung und Unterkunft gestellt werden konnten, hatten die Beamten des Auswärtigen Amtes im GrHQ West über Monate widerrechtlich erhöhte Bezüge erhalten. Jagow wies in seinem Antwortschreiben an Treutler folgerichtig darauf hin, dass die Beamten nun mit einer entsprechenden Minderung ihrer Zulagen rechnen müssten.36 Damit nicht genug. Helfferich forderte in seinem abschließenden Schreiben Jagow auf, die Herabsetzung der Bezüge der Beamten des Auswärtigen Amtes auf das Niveau der Heeresbeamten zu prüfen. Helfferich schloss mit den Worten: »Das Gesuch des Legationsrats Freiherrn von Grünau dürfte sich hiermit erledigen.«37 Auch die Abrechnungen von Dienstreisen führten immer wieder zu Klagen, da die vor dem Krieg festgelegten Tagegelder die Kosten für Unterkunft und Verpflegung offensichtlich nicht deckten. Daher wurde zum 1. Januar 1918 ein Zuschuss auf die Tagegelder festgesetzt. Das Verwaltungshandeln erschöpfte sich jedoch nicht nur in der Regelung von Finanzmitteln. In Ordensangelegenheiten behielt die Verwaltung gleichfalls ihren klaren Kurs bei. So trat das Württembergische Ordenskanzleramt am 25. November 1917 an das Auswärtige Amt heran, dafür Sorge zu tragen, dass Grünau, dem 36

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Siehe Staatsekretär des Auswärtigen Amtes Jagow an den königlichen Gesandten von Treutler, 8.11.1915, PA, R 22240. Staatssekretär des Reichsschatzamtes Helfferich an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Jagow vom 25.2.1916, PA, R 22240.

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am 17.  Dezember 1916 das Ehrenkreuz des Ordens der Württembergischen Krone mit Schwertern verliehen worden war, nach einem Jahr nun bitte der Aufforderung nachkommen möge, gemäß der Ordensvergaberichtlinie das zuvor verliehene Ritterkreuz des Ordens der Württembergischen Krone mit Löwen und Schwertern zurückzugeben.38 Ob Grünau der Aufforderung des sparsamen Württembergischen Ordenskanzleramts nachgekommen ist, lässt sich aus den Akten nicht ermitteln.

2. Dramatis personae Von den im GrHQ in unterschiedlichen Funktionen tätigen ca. 4000 Menschen arbeiteten lediglich ca. 1  % in einem kleinen Führungszirkel von knapp 50 Männern in der OHL sowie der Hofgesellschaft und insbesondere dem Kaiser zu. Innerhalb dieser nicht großen Gruppe gab es wiederum einen kleinen Personenkreis von ca. 20 Entscheidungsträgern, die entweder in der OHL für die Kriegführung zuständig waren, in der Hofgesellschaft des Kaisers dienten oder als Vertreter der politischen Reichsleitung vor Ort waren. Diese Männer waren mit wenigen Ausnahmen, wie dem Ersten Generalquartiermeister der III. OHL General Erich Ludendorff oder dem Admiralstabschef Admiral Gustav Bachmann, alles Adelige, wobei Tirpitz und Müller aufgrund ihrer Leistungen vor dem Krieg von Wilhelm II. nobilitiert worden waren. Die nichtadligen Offiziere oder Beamten rekrutierten sich aus der staatstragenden Schicht des Bildungsbürgertums. In der OHL finden sich etliche jüngere Generalstabsoffiziere nichtadliger Herkunft, die jedoch aufgrund ihrer militärischen Sozialisation der Ideen- und Gedankenwelt des Adels angepasst waren. Diese besondere Prägung erfuhren viele adlige und nichtadlige Heranwachsende besonders an den Kadettenanstalten. Eine weitere, ebenfalls entscheidende Prägung erlebten die aufgrund ihrer überragenden Leistungen in den Generalstabsdienst berufenen Offiziere während ihrer Ausbildung zum Generalstabsoffizier. Damit gehörten sie der kleinen handverlesenen militärischen Elite an, den von Reichskanzler Otto von Bismarck sogenannten Halbgöttern. Die Führungselite des GrHQ entstammte, mit Ausnahme der bürgerlichen Offiziere in der OHL, zum allergrößten Teil preußischen Soldaten- und Junkerfamilien, die teils über Jahrhunderte den preußischen Königen als Offiziere oder hohe Beamte gedient hatten, im altpreußischen Sinne konservativ und monarchisch erzogen waren und meistens in Gardeeinheiten gedient hatten. Dort traf man sich im Kreis von Gleichgesinnten. Zudem gab es zwischen nicht wenigen Familien verwandtschaftliche Beziehungen. Auch der Großteil der höheren Beamten im GrHQ hatte einen militärischen Hintergrund; sie hatten ebenfalls als Offiziere oder Reserveoffiziere gedient. Während an die Spitze der OHL mit Falkenhayn und Ludendorff auch Offiziere mit Anfang fünfzig gelangten, waren die meisten Männer in der engeren Umgebung Wilhelms II., sei es in den 38

Siehe Württembergisches Ordenskanzleramt an Auswärtiges Amt, 26.11.1917, PA, R 22240.

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Kabinetten oder der Führung des Hofes, älter als sechzig Jahre. Da Wilhelm II. sich nicht gerne an neue Gesichter gewöhnte, dienten ihm viele dieser Männer schon seit Jahren in unterschiedlichsten Verwendungen, weswegen sie sich mit all ihren jeweiligen Stärken und Schwächen kannten. Sie waren gegenüber ihrem Monarchen loyal, beherrschten sowohl den Umgang am Hofe als auch ihr jeweiliges Metier und waren intellektuell dem Kaiser nicht überlegen. Sie waren mit über sechzig Jahren ältere Herren, die zwar manchmal der Hofhaltung kritisch gegenüberstanden, in ihrer Gedankenwelt aber dem Fin de Siècle verhaftet waren. Sie lebten schon vor dem Krieg in einer eigenen Welt, in einer höfischen Blase, die sich im GrHQ einmal mehr nach außen abschottete. Letztlich hatten sie außer dem Kaiser nur sich. Zu den »jungen Wilden« in der OHL, die den modernen industrialisierten Krieg führten und in ihrem eigenen Elfenbeinturm entfernt von der Front und abseits der Hofgesellschaft lebten, hatten sie, wenn überhaupt, nur Kontakt bei gesellschaftlichen Anlässen. Noch schlechter war es um ihre Kontakte zur Truppe bestellt. Aber sie passten gut in das engste Umfeld des Kaisers und wussten als Höflinge ihren Monarchen zu nehmen. Während des Krieges herrschte in der engeren Umgebung des Kaisers bis ins letzte Kriegsjahr eine hohe personelle Kontinuität. Wenn ein Wechsel erfolgte, war er fast immer die Folge einer Intrige, denn das Buhlen um die Gunst des Kaisers endete nicht mit Kriegsbeginn. Intrigen, sowohl im höfischen Gefolge des Kaisers als auch in der OHL und beide Gruppierungen übergreifend, bestimmten immer wieder das Handeln der Akteure. In der OHL und im höfischen Gefolge bildeten sich kleinere Kreise, wie die älteren Offiziere um Falkenhayn im »Flüsterclub«39 oder die »Wandergruppe« der Kabinettschefs mit dem Vertreter des Reichskanzlers im GrHQ Treutler, die gemeinsam Netzwerkbildung betrieben. Für Außenstehende war es fast unmöglich, in diese inneren Zirkel vorzudringen. So verwundert es nicht, wenn Bethmann Hollweg jedes Mal erfreut war, wenn ihn die Kabinettschefs zum gemeinsamen Spaziergang mitnahmen. Im Folgenden werden der Kaiser, die Kaiserin sowie die wichtigsten Entscheidungsträger im GrHQ kurz vorgestellt. Kaiser Wilhelm II. (* 27. Januar 1859, † 4. Juni 1941) Wilhelm war der Sohn von Kronprinz Friedrich von Preußen und dessen Ehegattin Prinzessin Victoria, Tochter der britischen Königin Victoria. Seine Geburt verlief nicht komplikationslos. Aufgrund eines Geburtsfehlers kam es zu einer linksseitigen Armplexus-Lähmung des Säuglings. Wilhelm litt seit seiner Geburt unter den physischen und psychischen Belastungen seines verkrüppelten linken Arms. Das Verhältnis zu seinen Eltern war schlecht, da sie trotz seiner offensichtlichen Behinderung von ihrem Sohn als zukünftigem Kaiser Höchstleistungen erwarteten. Nach ihren Vorstellungen sollte Wilhelm Deutschland als ein »liberaler Friedrich der Große« regieren. Er entzog sich im Laufe der Jahre jedoch immer stärker dem Willen seiner Eltern und wandte sich konservativen Kreisen um seinen Großvater Wilhelm  I. zu. In diesen Jahren wurde seine Vorliebe für alles Militärische geweckt.40 39

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Wegen der in dieser Runde immer sehr leise geführten Gespräche hatten die jüngeren Generalstabsoffiziere ihr den Spitznamen »Flüsterclub« gegeben. Zu Wilhelm II. siehe ausführlich Röhl, Wilhelm II., Bd 1 und Bd 2.

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Wilhelm, von seinem calvinistischen Lehrer Georg Hinzpeter streng erzogen, meisterte über die Jahre seine körperliche Behinderung. Er besuchte keine Kadettenanstalt, sondern legte 1877 sein Abitur an einem von seinen Eltern bewusst ausgewählten bürgerlichen Gymnasium in Kassel ab. Erst danach folgte seine militärische Ausbildung, die mit dem Tod seines Vaters endete. Mit nur 29 Jahren bestieg Wilhelm am 29. Juni 1888 den Kaiserthron. Er sah sich aber nicht als liberalen Friedrich den Großen, sondern als Regent von Gottes Gnaden und vertrat eine zutiefst traditionelle konservative Auffassung vom Kaisertum. Wilhelm  II. wollte selbst regieren und errichtete in den folgenden Jahren sein »persönliches Regiment«. Geradezu folgerichtig entließ er Reichskanzler Otto von Bismarck, um zukünftig selbst stärkeren Einfluss auf die Innen- und Außenpolitik nehmen zu können. In den nächsten Jahrzehnten erlebte Deutschland gewaltige wirtschaftliche und technische Fortschritte. Vor diesem Hintergrund und angesichts der militärischen Macht des Kaiserreichs forderten nicht nur der Kaiser, sondern auch viele Deutsche für Deutschland einen gleichberechtigten »Platz an der Sonne«. Der Weg zur Weltmacht führte nach Überzeugung des Kaisers zwingend über den Aufbau einer großen Flotte. Weltmacht gleich Seemacht war sein Credo. Die deutsche Flottenpolitik führte zum Wettrüsten, zur Konfrontation mit Großbritannien und zu Veränderungen des außenpolitischen Machtgefüges zuungunsten des Kaiserreichs. Auch wenn Wilhelm II. mit seinen markigen Reden im In- und Ausland für Unverständnis, ja sogar Entsetzen sorgte, war sein Einfluss auf die Außen- und Innenpolitik in vielen Bereichen beschränkt, denn sein »persönliches Regiment« war durch die Verfassung eingehegt. Zudem mangelte es ihm an dem notwendigen Arbeitseifer, um sich intensiv in die Innen- und Außenpolitik einzuarbeiten. Er ging viel lieber auf die Jagd oder reiste durch Deutschland, als Akten zu studieren. Trotz seines militärischen Gebarens und seines martialischen Auftretens in Uniform forcierte er 1914 nicht die Entscheidung zum Krieg. Die Erfahrung mit seiner Sprunghaftigkeit sowie seiner Unberechenbarkeit vor Augen, schickten ihn seine Berater in der »Julikrise 1914« sicherheitshalber außerhalb Deutschlands auf Reisen. Wieder in Berlin, stimmte er dem vom Reichskanzler beschrittenen Weg in den Krieg zu, wohl wissend, dass er gemäß der Verfassung ganz im Sinne der preußischen Tradition des Militärkönigtums die deutschen Streitkräfte zu Lande und zur See als Oberbefehlshaber zu führen hatte. Ob jedoch Wilhelm II. intellektuell und charakterlich der Aufgabe gewachsen war, die strategischen Linien für die deutsche Politik und die Führung des Kriegs zu bestimmen, war die bange Frage, die sich viele Berater des Kaisers im Sommer des Jahres 1914 stellten. Die Antwort sollten sie bald erhalten. Kaiserin Auguste Viktoria, Gemahlin Kaiser Wilhelms II. (* 22. Oktober 1858, † 11. April 1921) Am 27. Februar 1881 heiratete die 23-jährige Auguste Viktoria41 von SchleswigHolstein-Sonderburg-Augustenburg Prinz Wilhelm von Preußen. Der Ehe entstammen sieben Kinder. Die Ehe mit Wilhelm, anfänglich von liebevollem Umgang geprägt, durchlief in den Vorkriegsjahren mehrere schwere Krisen.42 Die 41 42

Siehe Erbstößer, Auguste Victoria. Vgl. Röhl, Wilhelm II., Bd 2, S. 700 f.

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Kaiserin war den Belastungen, die mit ihrem Amt und der Familie einhergingen, nicht gewachsen und erlitt 1897 einen Nervenzusammenbruch.43 Als sich Auguste Viktorias Gesundheit nicht besserte, fürchtete der Kaiser sogar, sie müsse in ein Sanatorium gebracht werden. Wilhelm  II., den einerseits die devote Unterwürfigkeit, andererseits die dauernden Szenen immer mehr ärgerten, entfremdete sich zunehmend von seiner Gemahlin und floh vor ihrer Überfürsorge immer häufiger auf Jagdausflüge und Manöverbesuche.44 In den Jahren vor dem Krieg verbesserte sich die Gesundheit der Kaiserin und damit auch das Verhältnis zwischen beiden. Auguste Viktoria engagierte sich sehr stark im caritativ-kirchlichen Bereich und verkörperte für viele Deutsche das Idealbild der Mutter. Theobald von Bethmann Hollweg, Reichskanzler (* 29. November 1856, † 1. Januar 1921) Der Sohn eines preußischen Junkers, Rittergutsbesitzers und Reichstagsabgeordneten begann nach seinem Abitur 1875 mit dem Studium der Rechtswissenschaften in Straßburg, welches er, nach der Unterbrechung durch seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger, 1884 abschloss. Er trat in den preußischen Staatsdienst ein und machte dort in den nächsten Jahren Karriere. Aufgrund seiner Tüchtigkeit, aber auch wegen seines familiären Hintergrunds wurde er 1899 mit gerade 43  Jahren zum Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg ernannt. Nur sechs Jahre später ging er in die Politik. Bethmann Hollweg wurde zum preußischen Innenminister ernannt. 1907 folgte die Berufung zum Staatsekretär des Inneren und zum Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums. Als Vertreter des Reichskanzlers war Bethmann Hollweg nun der zweitwichtigste Politiker des Kaiserreichs. Dank seines bescheidenen Auftretens und seiner Tüchtigkeit erwarb er sich in diesen Jahren das Vertrauen des Kaisers, der ihn nicht zuletzt wegen seiner ausgleichenden Persönlichkeit nach der Entlassung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow im Juli 1909 zum neuen Reichskanzler berief. Der keiner Partei zuzurechnende Bethmann Hollweg war über die Berufung nicht glücklich, nahm diese aber ganz im Sinne seines ihm anerzogenen Pflichtbewusstseins an. Als Reichskanzler führte er das Kaiserreich 1914 in den Krieg. Wirklicher Geheimer Rat Karl Georg von Treutler, Vertreter des Auswärtigen Amtes und des Reichskanzlers im GrHQ (* 9. Mai 1858, † 27. Mai 1933) Treulter45 begann nach dem Abitur 1877 das Studium der Rechtswissenschaften. Ein Jahr später trat er in das Husarenregiment Graf Goetzen (2.  Schlesisches) Nr.  6 ein. 1885 beendete er sein Studium mit der Ersten juristischen Staatsprüfung und wurde zum Gardehusarenregiment nach Potsdam versetzt. In den folgenden Jahren entwickelte er ein freundschaftliches Verhältnis zu seinem Regimentskommandeur, dem späteren Kaiser Wilhelm  II. Nach einem Sturz vom Pferd musste er 1892 die Offizierlaufbahn beenden und wechselte, protegiert von Wilhelm II., in den Diplomatischen Dienst. Es folgten Verwendungen als Legationsrat in Japan und als Gesandter in Brasilien, Norwegen und seit 1911 als preußischer Gesandter in Bayern. Als Vertrauter des Kaisers begleitete 43 44 45

So ebd., S. 700. Siehe Afflerbach, Einführung, S. 46 f. Siehe Treutler, Die graue Exzellenz, S. 19‑60.

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er den Kronprinzen auf seiner Indienreise 1910/1911. Seit seinem Amtsantritt in Oslo 1907 begleitete Treutler seinen Duzfreund Wilhelm II. als Vertreter des Auswärtigen Amtes auf seinen jährlichen Nordlandreisen. Treutler hatte nicht nur zum Kaiser, sondern auch zu Reichskanzler Bethmann Hollweg ein enges Vertrauensverhältnis. Da er sich zudem als ehemaliger Gardeoffizier unbefangen in einer militärischen Umgebung bewegen konnte, war es folgerichtig, dass er als Vertreter des Auswärtigen Amtes und des Reichskanzlers zu Kriegsbeginn ins GrHQ versetzt wurde. Generaloberst Moriz Freiherr von Lyncker, Chef des Militärkabinetts (* 30. Januar 1853, † 20. Januar 1932) Im Gegensatz zu den Söhnen anderer alter preußischer Soldatenfamilien besuchte Lyncker46 keine Kadettenanstalten, sondern legte sein Abitur am WilhelmsGymnasium in Berlin ab. Ganz im Sinne der Familientradition, Großvater und Vater waren preußische Offiziere, trat er 1870 als Fahnenjunker in das Kaiser Franz Gardegrenadierregiment Nr.  2 ein. Nur wenige Monate später nahm er am Deutsch-Französischen Krieg teil und wurde in der Schlacht von Gravelotte schwer verwundet. Nach seiner Genesung wechselte Lyncker als Leutnant in das hochangesehene 1. Garderegiment zu Fuß und machte dort schnell Karriere. Nach erfolgreichem Abschluss der Kriegsakademie 1881 folgte die Kommandierung in den Großen Generalstab. Als Kompaniechef kehrte er in das 1. Garderegiment zu Fuß zurück. Der Garde sollte Lyncker im weiteren Verlauf seiner Karriere treu bleiben. Als Bataillons- wie als Brigadekommandeur befehligte er Gardeeinheiten. Der Gardeoffizier Lyncker diente aber auch in herausgehobenen Verwendungen am kaiserlichen Hof. Als 1. Militärischer Gouverneur war er für die Erziehung des Thronfolgers und dessen Bruder Prinz Eitel Friedrich verantwortlich. In seiner spröden Art war Lyncker, nach Auffassung des Kronprinzen, ein strenger, ein zu strenger Lehrmeister. Daher war das Verhältnis zwischen Kronprinz Wilhelm und seinem Erzieher zeitlebens schlecht. Dagegen stand Lyncker hoch in der Gunst Wilhelms II. Mit nur 48 Jahren zum Generalmajor befördert, übernahm er 1905 als Kommandeur die 19. Division in Hannover. Als der Chef des Militärkabinetts General Dietrich von Hülsen-Haeseler plötzlich verstarb, berief Wilhelm  II. Lyncker, obwohl dieser bis dato keinerlei Verwendungen im Personalbereich innegehabt hatte, zu dessen Nachfolger und ernannte ihn zugleich zum vortragenden Generaladjutanten. Für Lyncker sprachen in den Augen des Kaisers nicht nur seine Erfahrungen als Truppenführer, Generalstabsoffizier und im Hofdienst, sondern auch seine Verwurzelung in der Garde. Indes gab es einen weiteren für Wilhelm II. wichtigen Grund für die Wahl Lynckers, umgab sich der Kaiser doch in seiner engsten Umgebung gerne mit Männern, die ihm angenehm waren und treu dienten, ihn jedoch intellektuell nicht überragten. Der Ehrenmann und Familienmensch Lyncker, von seinen Zeitgenossen als zwar außerordentlich charakterfest beschrieben, jedoch nur mit beschränkten intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet, war genau so ein Mann. Ob Lyncker im bevorstehenden Krieg über sich hinauswachsen und seinem Monarchen in seiner verantwortungsvollen Position ein kritischer Ratgeber sein würde, war die Frage. 46

Siehe Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Moriz Freiherr v. Lyncker, S. 70.

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Admiral Georg Alexander von Müller, Chef des Marinekabinetts (* 24. März 1854, † 18. April 1940) Müller47 trat 1871 als Seekadett in die Kaiserliche Marine ein. Neben verschiedenen Bordverwendungen diente er in der Inspektion für das Torpedowesen. 1889 erfolgte die Versetzung in das neugeschaffene Marinekabinett und in die Nähe des Kaisers. Damit war Müllers weiterer Weg vorgezeichnet. In den folgenden Jahren wechselte er stetig zwischen Kommandanten- und Personalverwendungen. So diente er 1892 als Personaldezernent im Oberkommando der Marine. Von 1895 bis 1897 war er Adjutant des Prinzen Heinrich von Preußen. 1898 wurde er Kommandant des Großen Kreuzers »Deutschland« des Ostasiengeschwaders und nur ein Jahr später Chef des Stabes des Kreuzergeschwaders. Nach seiner Rückkehr erhob ihn der Kaiser im März 1900 in den erblichen Adelsstand. Nach Verwendungen als Abteilungschef im Marinekabinett und als Kommandant des Linienschiffs »Wettin« ernannte ihn Wilhelm  II. 1904 zum diensttuenden Flügeladjutanten. Mittlerweile zum Konteradmiral befördert, berief ihn der Kaiser 1906 zu seinem Generaladjutanten und beauftragte ihn mit der Führung des Marinekabinetts. Der gewissenhafte und gebildete, 1910 zum Admiral beförderte Müller unterstützte in den Jahren vor dem Krieg zwar den Tirpitzschen Flottenbau, zog aber wegen seiner Kampagne gegen den Alkoholkonsum in der Marine und seiner vermeintlichen Truppenferne schon vor dem Krieg den Unmut vieler Seeoffiziere auf sich. Wilhelm II. dagegen schätzte ihn als einen angenehmen und kompetenten Berater, nicht nur in Marinefragen. Müller dagegen war sich der Schwächen seines Monarchen sehr bewusst. Geheimer Kabinettsrat Rudolf von Valentini, Chef des Geheimen Zivilkabinetts (* 1. Oktober 1855, † 18. Dezember 1925) Der Sohn eines preußischen Offiziers und pommerschen Rittergutsbesitzers entschied sich, nicht in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, sondern begann nach dem Abitur in Straßburg das Studium der Rechtswissenschaften.48 Nach dem ersten Semester wechselte er für zwei Semester nach Leipzig, um dann nach Straßburg zurückzukehren. In Leipzig schloss er sich einem Kreis gleichgesinnter junger Adliger aus dem Osten an. Dort knüpfte er Verbindungen und schloss Freundschaften, unter anderem zum späteren preußischen Innenminister Friedrich Wilhelm von  Loebell, die er zeitlebens pflegte. Nach seiner Zeit als EinjährigFreiwilliger im Infanterieregiment Nr. 74 in Berlin und seiner Referendarzeit trat er 1882 in die preußische Verwaltung ein. Auch wenn Valentini seinen Militärdienst nicht genossen hatte, pflegte er in allen seinen späteren Verwendungen guten Kontakt zu den örtlichen Regimentern und militärischen Dienststellen. Nach mehreren Verwaltungsposten, unter anderem als Landrat des Kreises Hameln, wechselte er 1899 als Regierungsrat in das Zivilkabinett. Nach einer zweijährigen Zwischenverwendung als Regierungspräsident in Frankfurt (Oder) berief in Wilhelm II. 1908 zum Chef des Geheimen Zivilkabinetts. In dieser Funktion war er der Berater des Kaisers in allen zivilen Personalangelegenheiten und in Fragen der Innenpolitik.

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Siehe Müller, Regierte der Kaiser?, S. 14‑24. Zu Valentini siehe Schwertfeger, Kaiser, S. 23‑100.

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Geheimer Kabinettsrat Friedrich von Berg, Chef des Geheimen Zivilkabinetts (* 20. November 1866, † 9. Mai 1939) Berg49 entstammt dem brandenburgischen Adelsgeschlecht von Berg. Geboren auf dem väterlichen Gut Markienen in Ostpreußen, trat er nach dem Abitur 1886 als Leutnant in das 1. Garderegiment zu Fuß ein. Wenige Jahre später schied er aus der Armee wieder aus und begann in Bonn das Studium der Rechtswissenschaften. Dort lernte er im Corps Borussia den späteren Kaiser Wilhelm II. kennen. Seit dieser Zeit verband beide ein freundschaftliches Verhältnis. Nach Abschluss seines Studiums trat Berg in den preußischen Staatsdienst ein. Nach kurzer Zeit als Landrat wechselte er als Vortragender und Geheimer Rat ins Zivilkabinett. Seit dieser Zeit galt er, nicht zuletzt wegen seiner freundschaftlichen Beziehung zum Kaiser, als Kandidat für die Nachfolge Valentinis. Nach drei Jahren wurde er 1909 Landeshauptmann und 1916 Oberpräsident der Provinz Ostpreußen. Als klassischer preußischer Junker vertrat Berg offensiv erzkonservative, altpreußische Prinzipien und pflegte enge gesellschaftliche Kontakte zu Gleichgesinnten. Zu Hindenburg hatte er, seit dessen Zeit in Ostpreußen, ein ebenso enges Vertrauensverhältnis wie zur Kaiserin. Generaloberst Hans-Georg von Plessen, Kommandant des GrHQ (* 26. November 1841, † 28. Januar 1929) Plessen50 entstammt einer klassischen adligen preußischen Offizierfamilie. Sein Berufsweg war, wie bei vielen Söhnen aus preußischen Soldatendynastien, vorgezeichnet. 1861 trat er als Abiturient in das Kaiser Franz Gardegrenadierregiment Nr.  2 ein. Er nahm als junger Offizier an allen drei Reichseinigungskriegen teil. Zwischen dem Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 und dem DeutschFranzösischen Krieg 1870/1871 absolvierte er erfolgreich die Kriegsakademie und wurde nach dem Friedensschluss 1872 in den Großen Generalstab versetzt. Dort durchlief er verschiedene Verwendungen. 1879 berief ihn Kaiser Wilhelm I. wegen seines tadellosen und taktvollen Auftretens und seiner Bildung zu seinem diensttuenden Flügeladjutanten. Damit nahm seine Karriere eine entscheidende, für ihn überaus positive Wendung. Wilhelm  I. schätzte seinen jungen Flügeladjutanten, der ihm die nächsten neun Jahre treu diente, so sehr, dass er ihn zum Kommandeur des prestigeträchtigsten preußischen Regimentes, des 1. Garderegiments zu Fuß, ernannte. Unter Wilhelm II. kehrte Plessen wieder in den Hofdienst zurück, wo er, lediglich unterbrochen durch eine kurze Verwendung als Brigadekommandeur, bis zu seinem Dienstzeitende verblieb. 1892 ernannte ihn der Kaiser unter Beförderung zum Generaladjutanten zum Kommandanten des »Hauptquartiers seiner Majestät des Kaisers und Königs«. In dieser Funktion war Plessen ständig bei Hofe und begleitete seinen Monarchen auf allen seinen Reisen. Absolut loyal, stieg er in dieser Zeit weiter in der Gunst des Kaisers. Wilhelm  II. ernannte ihn 1894 zum einzigen diensttuenden Generaladjutanten und 1911 zum Generaloberst im Rang eines Generalfeldmarschalls. Als Kommandant des »Hauptquartiers seiner Majestät des Kaisers und Königs« wurde Plessen mit Kriegsbeginn Kommandant des GrHQ. 49 50

Siehe Friedrich v. Berg als Chef des Geheimen Zivilkabinetts 1918. Siehe Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Hans-Georg von Plessen, S. 591‑611.

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Plessen bestach als Veteran der Einigungskriege mit seiner großen eleganten Erscheinung, seinen vollendeten Manieren sowie seinem höfischen Auftreten. Wegen seiner Schneidigkeit entsprach er dem klassischen Bild eines preußischen Offiziers. Plessen war der perfekte Höfling, er war »der« Hofgeneral der Kaiserzeit. Für einen Teil seiner Zeitgenossen war der wegen seiner altpreußischen, sprich stockreaktionären Einstellung in konservativen Kreisen hoch geschätzte Plessen jedoch intellektuell und charakterlich lediglich Mittelmaß. Damit entsprach er genau dem Typus, den der Kaiser als Berater wünschte und auch wählte. Großadmiral Alfred von Tirpitz, Staatssekretär des Reichsmarineamtes (* 19. März 1849, † 6. März 1930) Der 1869 in die preußische Marine eingetretene Tirpitz51 wurde 1888 mit nur 38  Jahren zum jüngsten Kapitän z.S. der Kaiserlichen Marine befördert. Dies war der Lohn für seine bisherigen überdurchschnittlichen Leistungen, insbesondere bei der Entwicklung und dem Aufbau der Torpedowaffe, an der er sowohl in der Admiralität als auch als Chef der Torpedobootsflottille maßgeblich beteiligt war. Nach zwei Kommandantenverwendungen übernahm er 1891 für ein Jahr den Posten des Chefs des Stabes der Marinestation der Ostsee. Mit der in diesen Monaten erarbeiteten »Dienstschrift IX« legte er die Grundlage für den Einsatz der Flotte. Er trat für den Bau einer Schlachtschiffflotte ein, um mit der Hochseeflotte offensiv die politische und wirtschaftliche Macht des Kaiserreichs langfristig zu sichern und um einen Weltmachtstaus, den »Platz an der Sonne«, zu erreichen. Tirpitz Pläne stießen auf Widerstand, und so wurde er als Chef der Kreuzerdivision in Ostasien aus dem Zentrum der Macht an die Peripherie versetzt. Als die kaiserlichen Flottenpläne scheiterten, wurde er zurückbeordert und 1897 zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes berufen. Kaum im Amt, setzte er die Auflösung des Oberkommandos durch. Der Kaiser hatte nun zwar den unmittelbaren Oberbefehl, die eigentliche Macht in der Marine übte aber Tirpitz aus, da der Admiralstab weitgehend entmachtet war. 1900 in den erblichen Adelsstand erhoben und 1911 zum Großadmiral befördert, setzte er, ganz im Sinne Wilhelms II., in den folgenden Jahren mit den Flottengesetzen den von ihm favorisierten Bau einer Schlachtflotte durch. Diese sollte die britische Flotte in der Nähe von Helgoland zur Entscheidungsschlacht zwingen. Mit Kriegsbeginn zeigte sich nicht nur das Scheitern des seestrategischen Konzepts der Kaiserlichen Marine, sondern auch, dass die von Tirpitz für die Beförderung dieses Konzepts geschaffene Friedensorganisation für den Kriegsfall untauglich war und der Admiralstabschef und nicht Tirpitz zum entscheidenden Berater Wilhelms II. in Fragen der Seekriegführung avancierte. Generalleutnant Friedrich von Graevenitz, württembergischer Militärbevollmächtigter im GrHQ (* 7. Januar 1861, † 28. Februar 1922) Graevenitz entstammt einem Geschlecht, welches ab dem beginnenden 18.  Jahrhundert durch Hofbeamte und hohe Militärs großen Einfluss auf den württembergischen Hof gewann. Seine Karriere lief folgerichtig auf eine hohe Verwendung am württembergischen Hof hin. Nach seiner Ausbildung in der Hauptkadettenanstalt Groß-Lichterfelde trat er im April 1878 seinen Dienst im 51

Zu Tirpitz siehe Epkenhans, Grand Admiral Alfred von Tirpitz.

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Grenadierregiment »Königin Olga« Nr. 119 an. Nach erfolgreichem Besuch der Kriegsakademie war er von 1892 bis 1898 zum Dienst beim Großen Generalstab in Berlin abgeordnet. 1898 folgte die Versetzung in das Königlich Württembergische Kriegsministerium, im Mai 1901 ins Militärkabinett nach Berlin. Nach seiner Ernennung zum Flügeladjutanten übernahm Graevenitz die für allgemeine Armee- und für persönliche Angelegenheiten zuständige Abteilung  A des Königlich Württembergischen Kriegsministeriums. Im April 1911 ernannte der württembergische König Wilhelm II. Graevenitz zum württembergischen Militärbevollmächtigten in Berlin. Mit Kriegsbeginn übernahm Graevenitz diese Funktion auch im GrHQ und vertrat dort die Interessen seines Monarchen. Wie eng seine Verbindungen zum württembergischen Hof waren, zeigt die Ehe seiner Tochter Marianne mit Ernst von Weizsäcker, dem Sohn des Präsidenten des Königlich Württembergischen Staatsministeriums – nach heutigem Verständnis Ministerpräsident des Königreichs Württemberg – Karl von Weizsäcker. Graevenitz war wegen seiner ausgeprägten monarchischen Prägung, vornehmlich aber aufgrund seiner hervorragenden Kontakte am württembergischen und kaiserlichen Hof eine Idealbesetzung für die Verwendung als Militärbevollmächtigter sowohl im Frieden in Berlin als auch im Krieg im GrHQ. Dank seiner gesellschaftlichen Stellung und wegen seiner militärischen Verwendungen im Generalstab sowie besonders wegen seiner Tätigkeit als Flügeladjutant des württembergischen Königs im GrHQ bewegte er sich sowohl in der OHL als auch am Hof auf vertrautem Terrain. Generaloberst Helmuth von Moltke d.J., Chef des Großen Generalstabes und der I. OHL (* 25. Mai 1848, † 18. Juni 1916) Moltke52 entstammte einer alten mecklenburgischen Adelsfamilie, deren Söhne immer wieder den Soldatenberuf ergriffen. Moltke, Neffe des Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke d.Ä., trat nach bestandener Fähnrichsprüfung 1869 in das Füsilierregiment  86 ein, um wenige Monate später in das Grenadierregiment König Wilhelm I. (2. Westpreußisches) Nr. 7 zu wechseln. Mit diesem Regiment nahm er am Deutsch-Französischen Krieg teil. 1872 erfolgte die Versetzung des jungen Leutnants in das 1.  Garderegiment zu Fuß in Potsdam. Von 1875 bis 1878 absolvierte er die Kriegsakademie und wurde nach erfolgreichem Abschluss zum 2., später zum 1. Adjutanten seines Onkels im Großen Generalstab berufen. Nach dessen Tod avancierte Moltke zum diensttuenden Flügeladjutanten des Kaisers. Wilhelm II., der ein freundschaftliches Verhältnis zu Moltke entwickelte, ernannte ihn 1893 zum Kommandeur der Schlossgardekompanie. 1896 übernahm er, unter gleichzeitiger Berufung zum Generaladjutanten Wilhelms II., das Kommando über das Kaiser Alexander Gardegrenadierregiment Nr.  1. Frisch zum Generalmajor befördert, wurde er 1902 Kommandeur der 1. Gardedivision. 1904 wählte ihn der Kaiser zum Nachfolger Schlieffens und versetzte ihn als Generalquartiermeister in den Großen Generalstab. Anfang 1906 übernahm Moltke die Dienstgeschäfte von seinem berühmten Vorgänger. Angestrebt hatte er die Position des Generalstabschefs nicht. Bis Kriegsbeginn modifizierte er vor dem Hintergrund der sich verändernden Lage den sogenannten Schlieffenplan, sodass das Kaiserreich 1914 mit einem 52

Zu Moltke siehe Mombauer, Generaloberst Helmuth von Moltke.

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»Moltke-Plan« in den Krieg eintrat.53 Angesichts der stetig wachsenden russischen und französischen Heeresvermehrungen forderte er zudem eine verstärkte Heeresrüstung und sprach sich wiederholt für einen Krieg gegen die Entente aus, »je eher, desto besser«.54 Moltke, ein gebildeter und kultivierter Offizier, der aber über keinerlei Erfahrung im operativen Geschäft des Generalstabes verfügte, wurde von Wilhelm II. in erster Linie wegen ihres freundschaftlichen Verhältnisses in die zentrale militärische Führungsverwendung des Kaiserreichs berufen. Ob Moltke, der in den letzten Jahren vor Kriegsbeginn ernsthaft gesundheitlich angeschlagen war, ebenso wie sein Onkel die deutschen Armeen im Krieg erfolgreich führen würde, fragten sich viele hohe Militärs, darunter der Chef des Militärkabinetts. General der Infanterie Erich von Falkenhayn, Kriegsminister und Chef der II. Obersten Heeresleitung (* 11. September 1861, † 8. April 1922) Falkenhayns55 familiärer Hintergrund war der des klassischen »preußischen Junkers«. Seit Generationen waren die Falkenhayns, wie viele andere westpreußische Adelsgeschlechter, Gutsbesitzer oder sie stellten den preußischen Königen Beamte und Offiziere. Falkenhayns ganzes Leben war vom preußischen Militär geprägt. Erzogen ganz im altpreußischen, konservativen Geist, ging der auf dem Familiengut Burg Belchau geborene Falkenhayn mit zehn Jahren auf die Kadettenanstalt Culm, mit 14 wechselte er in die Hauptkadettenanstalt Groß-Lichterfelde. Nach abgelegter Abiturprüfung trat er im April 1880 in das Oldenburgische Infanterieregiment 91 als Secondeleutnant ein. 1890 verließ er die Kriegsakademie mit einem glänzenden Zeugnis und wurde folgerichtig für zwei Jahre in den Großen Generalstab kommandiert. Nach einer Versetzung in den Generalstab des IX.  Armeekorps in Altona folgte die Verwendung als Kompaniechef. Nach neun Monaten ließ er sich beurlauben und wechselte im Sommer 1896 als Militärberater nach China. Nur anderthalb Jahre später kehrte er in die preußische Armee zurück. Nun folgte eine Bilderbuchkarriere. Verwendungen im Großen Generalstab und in der Truppe wechselten sich ab, darunter die herausgehobene Verwendung als Kommandeur des 4. Garderegiments zu Fuß. Im Februar 1912 wechselte Falkenhayn nach nur einem Jahr als Regimentskommandeur als Chef des Generalstabes in das IV.  Armeekorps in Magdeburg. Dort zeichnete sich der frisch ernannte Generalmajor durch die Organisation des Kaisermanövers 1912 aus. Von den Leistungen Falkenhayns beeindruckt, erklärte Wilhelm II. im Anschluss an das Manöver einem Vertrauten: »Ich habe dort einen merkwürdigen Mann getroffen, der einmal Kriegsminister, Generalstabschef und vielleicht sogar Reichskanzler werden kann.«56 So scheint die nur wenige Monate später erfolgende Beförderung Falkenhayns zum Generalleutnant und seine Ernennung zum Kriegsminister am 8. Juli 1913 geradezu folgerichtig. Ein 52-jähriger Generalmajor als Kriegsminister war ungewöhnlich und nicht zuletzt der Situation geschuldet, dass das Militärkabinett einen gewandten Mann suchte, der vor dem Hintergrund der Forderungen des 53 54

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Siehe dazu Groß, There was a Schlieffen Plan; Mombauer, Der Moltkeplan. Moltke im sogenannten Kriegsrat vom 8.12.1912, abgedr. in: Röhl, An der Schwelle zum Weltkrieg, Dok. 4, S. 100. Zu Falkenhayn siehe Afflerbach, Falkenhayn, S. 63‑77. Treutler, Die graue Exzellenz, S. 168.

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Generalstabes nach Heeresvermehrungen mit dem Chef des Generalstabes, mit Reichstagsabgeordneten und nicht zuletzt mit Wilhelm II. umgehen konnte. Der tüchtige, weltgewandte, dynamische und verbindliche Falkenhayn schien hierfür der richtige Kandidat zu sein. Schnell stellte sich heraus, dass Falkenhayn politische Vorgänge ausschließlich unter militärischen Gesichtspunkten beurteilte und die Kommandogewalt des Kaisers, wie alle seine Vorgänger, im Reichstag kompromisslos verteidigte. Zudem beharrte er gegenüber dem Generalstab auf der Zuständigkeit des Kriegsministers für die Ausrüstung und Ausbildung der Armee. In der Julikrise 1914 drängte Falkenhayn auf eine baldige Kriegserklärung. Er sah in dem bevorstehenden Krieg eine nationale Notwendigkeit und freute sich auf ihn. Lyncker, der den nervös und fahrig auftretenden Moltke kritisch beobachtete, sah in dem dynamischen Falkenhayn den potenziellen Nachfolger Moltkes und fragte ihn, ob er im Notfall bereitstünde, den Posten des Generalstabschefs zu übernehmen. Falkenhayn bejahte diese Frage.57 Der zweite Teil der Prophezeiung des Kaisers sollte nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn in Erfüllung gehen. Generalfeldmarschall Paul von Beneckendorff und von Hindenburg, Chef der III. OHL (* 2. Oktober 1847, † 2. August 1934) Der einem alten ostpreußischen Adelsgeschlecht entstammende Hindenburg58 wurde als Sohn eines Gutsbesitzers und Offiziers von Kindesbeinen an militärisch erzogen. In seinem aristokratischen Denken sah sich Hindenburg im klassischen preußischen Sinne Zeit seines Lebens Thron, Altar, Familie und nach der Reichseinigung der deutschen Nation verpflichtet. Wie viele Söhne preußischer Junker begann seine militärische Karriere in einer preußischen Kadettenanstalt. Allein sein Karriereeinstieg unterschied sich von vielen anderen, trat er doch nach seinem Abschluss der Selekta, der höchsten Klasse der Kadettenanstalt, 1866 als Leutnant in das prestigeträchtige 3. Garderegiment zu Fuß ein. Mit diesem Regiment nahm er sowohl am PreußischÖsterreichischen als auch am Deutsch-Französischen Krieg teil. 1873 bestand er die Aufnahmeprüfung für die Kriegsakademie, die er 1876 mit Bravour abschloss. Die Versetzung in den Großen Generalstab erfolgte ein Jahr später. Hindenburg zeichnete sich nicht nur durch seinen eisernen Willen, seine Zähigkeit und seinen Fleiß aus. Im Gegensatz zu vielen anderen preußischen Junkern war er kein »Nursoldat«, sondern ein kriegswissenschaftlich gebildeter Offizier, der sich besonders für historische Themen interessierte und früh die genuin politischen Aspekte jenseits der taktisch-operativen Kriegführung verstand. Zudem bewegte er sich, dank seiner vollendeten Umgangsformen, überaus geschickt auf dem gesellschaftlichen Parkett. Alle diese Eigenschaften waren die Grundlage für Hindenburgs Karriere. Über die Jahre wechselten seine Verwendungen zwischen dem Truppengeneralstab, der Kriegsakademie, dem Kriegsministerium und dem Großen Generalstab. Mit knapp 50 Jahren war er bereits Generalmajor, 1900 wurde er zum Kommandeur der 28. Division und 1903 zum Kommandierenden General des IV. Armekorps in Magdeburg ernannt und zum General der Infanterie befördert. Zwischenzeitlich war er sogar im Gespräch, Schlieffens Nachfolge 57 58

Vgl. Afflerbach, General der Infanterie Erich von Falkenhayn, S. 64. Siehe Pyta, Hindenburg, S. 18‑28; Jonas, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg.

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als Chef des Großen Generalstabes anzutreten. Auch wenn der Kaiser sich mit Moltke d.J. für einen anderen Kandidaten entschied und Hindenburg offensichtlich wegen seiner mangelnden Tatkraft nicht zum Armeeinspekteur ausgewählt und damit zum Generaloberst befördert wurde, konnte Hindenburg am Tag seiner Zurruhesetzung im März 1911 auf eine beachtliche Karriere zurückblicken. Als der Krieg begann, wartete der Pensionär Hindenburg, obwohl er in Berlin um eine Kriegsverwendung ersucht hatte, vergeblich auf ein Telegramm, das ihm ein Frontkommando avisierte. Er musste nicht lange warten. Als sich die Lage in Ostpreußen Mitte August 1914 zuspitze, löste die OHL die Führungsspitze der 8.  Armee ab. Mit dem durchsetzungsfähigen und tatkräftigen Ludendorff, der ganz im Sinne des Generalstabssystems die militärischen Entscheidungen ausarbeiten sollte, war der neue Chef des Generalstabs der 8. Armee schnell gefunden. Als Oberbefehlshaber wurde ein eher phlegmatischer und unambitionierter General gesucht, der Ludendorff schalten und walten lassen sollte. Die Wahl fiel auf Hindenburg. General der Infanterie Erich Ludendorff, Erster Generalquartiermeister der III. OHL (* 9. April 1865, † 20. Dezember 1937) Ludendorff 59 schloss seine militärische Grundausbildung in der Hauptkadettenanstalt Groß-Lichterfelde 1882 mit dem Abitur ab. Frisch zum Leutnant befördert, trat er in das 8.  Westfälische Infanterieregiment Nr.  57 ein. Für den Sohn eines nichtadligen Rittergutbesitzers und Kaufmanns, eines preußischen Junkers ohne Adelstitel, war dies der vom Vater von Anfang an forcierte Weg zum gesellschaftlichen Aufstieg. Der ehrgeizige und zielstrebige Einzelgänger, der Zeit seines Lebens keinen Wert auf soziale Kontakte legte, wurde 1890 an die Kriegsakademie berufen, die er drei Jahre später so erfolgreich abschloss, dass er zu dem einen Prozent seines Jahrgangs gehörte, der erst in den Großen Generalstab kommandiert und ein Jahr später fest in die 1. (russische) Abteilung versetzt wurde. Ludendorff, zum Hauptmann befördert, war nun berechtigt, die begehrte, mit breiten karmesinroten Streifen versehene Uniformhose zu tragen. Nach Verwendungen im Truppengeneralstab und als Kompaniechef folgte 1904 die Versetzung in die 2. (deutsche) Abteilung des Großen Generalstabes. Er lehrte als Dozent an der Kriegsakademie und übernahm dann die 2. (deutsche) Abteilung des Großen Generalstabes. Als Chef der Aufmarschabteilung war der frisch beförderte Oberstleutnant der engste Führungsgehilfe Moltkes in operativen Fragen und mitverantwortlich für die Änderungen am bisher geltenden »Schlieffenplan«. Der neue Aufmarschplan, insbesondere der Handstreich auf Lüttich, mit dem Deutschland 1914 in den Krieg eintrat, trägt in entscheidenden Bereichen die Handschrift Ludendorffs. Zudem setzte er sich mit Moltke vehement für eine deutliche Heeresvermehrung ein. 1913 wurde Ludendorff als Regimentskommandeur des Füsilierregiments Nr.  39 nach Düsseldorf und Anfang 1914, unter Beförderung zum Generalmajor, als Kommandeur der 85. Infanteriebrigade nach Straßburg versetzt. Ludendorff haderte, wie oft in seiner Karriere, mit diesen Verwendungen und fühlte sich wegen seines Eintretens für die Heeresvermehrung aus dem Generalstab abgeschoben. Dies traf jedoch nicht zu, denn in der preußischen Armee waren laufbahnrechtlich Verwendungen 59

Siehe Jacob, General der Infanterie Erich Ludendorff.

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als Regiments- und Brigadekommandeur zwingende Voraussetzungen für höhere Verwendungen. Trotz seines schroffen Auftretens gegenüber Vorgesetzten und seiner Besserwisserei hatte Ludendorff, ebenso wie sein späterer Gegner Falkenhayn, eine Bilderbuch-, ja Blitzkarriere gemacht, denn er war ein Mann, den man aufgrund seines Fleißes, seiner Tüchtigkeit und seiner Fähigkeiten nicht übergehen konnte. Dies sollte die nähere Zukunft zeigen. Als der Krieg begann, saß Ludendorff jedoch nicht nur nach seiner eigenen, sondern auch nach der Meinung vieler anderer Militärs auf dem falschen Dienstposten. Generalmajor Gerhard Tappen, Chef der Operationsabteilung der I. und II. OHL (* 3. Juli 1866, † 28. Mai 1953) Tappen60 entstammte einer bürgerlichen Familie, die eine Ahnenreihe von Beamten und Pastoren aufzuweisen hatte. Im Gegensatz zu vielen seiner Jahrgangskameraden besuchte er keine Kadettenanstalt, sondern trat nach dem Abitur im April 1885 als Fahnenjunker in das Feldartillerieregiment Nr. 15 ein. 1893 zur Kriegsakademie kommandiert, schloss er diese 1896 mit hervorragenden Ergebnissen ab. Folgerichtig wurde er 1897 in den Großen Generalstab kommandiert. Seine Laufbahn im Generalstab ist geprägt von dem steten Wechsel zwischen Verwendungen im Truppengeneralstab, an der Kriegsakademie und im Großen Generalstab. Sie unterscheidet sich damit nicht von dem Verwendungsaufbau vieler anderer Generalstabsoffiziere seiner Generation. 1910 wurde er als 1.  Generalstabsoffizier in die 2.  Abteilung des Großen Generalstabes versetzt. In dieser herausgehobenen Verwendung hat sich Tappen durch seine operativen Fähigkeiten so hervorgetan, dass der Abteilungsleiter der 2. Abteilung, der spätere Erste Generalquartiermeister der III. OHL Ludendorff, ihn protegierte und als seinen Nachfolger aufbaute.61 Als Ludendorff Anfang 1913 versetzt wurde, folgte ihm Tappen als Abteilungsleiter und damit als Chef der »Aufmarschabteilung« nach. Mittlerweile zum Oberst befördert, wurde Tappen damit zu Kriegsbeginn zwangsläufig Chef der Operationsabteilung. Der Krieg sollte zeigen, ob er dieser Aufgabe gewachsen war. Oberst Max Bauer, Sektionschef in der Operationsabteilung (* 12. Oktober 1869, † 6. Mai 1929) Die Karriere des Sohns eines Gutsbesitzers und Stadtrates unterscheidet sich in mehreren Punkten von denen seiner Kameraden. So ging Bauer62 nach dem Abitur 1888 nicht sofort zur Armee, sondern begann ein Jurastudium, welches er nach wenigen Monaten abbrach, um im Oktober desselben Jahres als Offizieraspirant in das Fußartillerieregiment 2 einzutreten. In den folgenden Jahren wurde er ausschließlich im Bereich der schweren Artillerie verwendet und 1899 zur Artillerie-Prüfungskommission nach Berlin versetzt. Nach der

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Zu Tappen siehe Bonenkamp, General der Artillerie Gerhard Tappen. Zur Vorbereitung auf diese herausgehobene Verwendung war Tappen im März 1909 als 1. Generalstabsoffizier zum Generalkommando des XVII. Armeekorps nach Danzig und im September 1910 als 1. Generalstabsoffizier in die 2. Abteilung des Großen Generalstabes versetzt worden. Siehe Tappen, Kriegserinnerungen, BArch, RH 61/986, S. 1. Zu Bauer siehe Suhr, Oberst Max Bauer.

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Verwendung als Kompaniechef folgte 1905 aufgrund seiner mittlerweile erworbenen hervorragenden Fachkenntnisse im Bereich der schweren Artillerie die Kommandierung zur Dienstleistung in den Großen Generalstab. Dies ist bemerkenswert, da Bauer die Kriegsschule nicht besucht hatte und damit ohne Ausbildung zum Generalstabsoffizier diesen so wichtigen Karriereschritt vollzog. Im Großen Generalstab diente er zuerst in der mit dem Festungswesen befassten 7. Abteilung, dann holte ihn Ludendorff nach der endgültigen Versetzung 1909 in die 2. (deutsche) Abteilung. Dort verblieb Bauer, lediglich unterbrochen durch eine einjährige Verwendung (1912/1913) als Generalstabsoffizier bei der 39. Division, bis zum Kriegsbeginn. Der 1911 zum Major beförderte Bauer hatte bis August 1914 eine beachtliche Karriere hingelegt. Er erwies sich im Großen Generalstab nicht nur als unverzichtbarer Kenner der schweren Artillerie, sondern war auch schon vor dem Krieg mit Fragen der wirtschaftlichen Mobilmachung und der kriegswirtschaftlichen Organisation befasst, ein Spezialwissen, das ihn im Krieg für seine Vorgesetzten zu einem unverzichtbaren Mitarbeiter machte. Bauer war der Prototyp des jungen, dynamischen Gewaltmanagers. Oberstleutnant Walter Nicolai, als Leiter der Abteilung IIIb der OHL Chef des deutschen militärischen Nachrichtendienstes (* 1. August 1873, † 4. Mai 1947) Nicolai63 trat nach Abschluss seiner Ausbildung in der Hauptkadettenanstalt Groß-Lichterfelde im März 1893 seinen Dienst als Leutnant beim (2.  Kurhessischen) Infanterieregiment Nr. 82 an. Nach seinem guten Abschluss an der Kriegsakademie erfolgte 1904 die Kommandierung in die 1. (russische) Abteilung des Großen Generalstabes. Nicolai qualifizierte sich jedoch nicht für eine dauerhafte Verwendung im Generalstab und wurde 1906 als Nachrichtenoffizier nach Königsberg versetzt. Nach einer Verwendung als Kompaniechef vom März 1910 bis Juli 1912 nutzte er die sich bietende Chance und übernahm die für den deutschen militärischen Nachrichtendienst wenige Jahren zuvor neu geschaffene Sektion IIIb im Großen Generalstab. Diesen Dienstposten bekleidete er auch in der OHL bis Kriegsende.64 Nicolai entstammte einer bürgerlichen Familie. Viele seiner Vorfahren waren Pastoren oder Beamte. Die militärische Sozialisation der Kadettenanstalten65 hat seine Persönlichkeit nachhaltig geprägt. Seine Welt war das Militär und dort besonders das preußische Offizierkorps. Dieser beschränkten Welt ordnete er alles unter. Obwohl er an der wichtigen Schnittstelle der OHL zu Politik und Gesellschaft arbeitete, fehlte es ihm sowohl an politischer Intelligenz als auch an dem für diese Aufgabe notwendigen gesellschaftlichen Auftreten. Letzteres überspielte er durch übertriebenes soldatisches Gehabe, gepaart mit einer gehörigen Portion Arroganz. Letztlich war Nicolai ein fleißiger, dienstlich immer korrekter Führungsgehilfe und Bürovorsteher, aber kein Troupier und noch weniger ein charismatischer Führer.

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Siehe Epkenhans [u.a.], Walter Nicolai – Annäherung an einen Unbekannten. Im September 1945 wurde Nicolai, fälschlicherweise als führender Geheimdienstmann des Dritten Reiches verdächtigt, von der sowjetischen Geheimpolizei NKVD verhaftet. Er verstarb am 4.5.1947 in Moskau in Gefangenschaft. Ebd., S. 59. Zur Erziehung in den Kadettenanstalten siehe Schmitz, Militärische Jugenderziehung.

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Hauptmann Friedrich Mewes, Generalstabsoffizier in der OHL und diensttuender Flügeladjutant des Kaisers (* 16. November 1881, † 24. Juli 1954) Mewes trat 1901 in das Feldartillerieregiment 60 ein. 1902 zum Leutnant befördert, erhielt er 1910 die dienstliche Erlaubnis, Ilse Zacharias zu heiraten.66 Von 1909 bis 1912 besuchte er die Kriegsakademie in Berlin. Aufgrund seiner hervorragenden Leistungen wurde ihm dort ein Ehrensäbel verliehen. Im April 1913 folgte die Kommandierung in den Großen Generalstab und mit der Beförderung zum Hauptmann im August 1914 die Versetzung in den Großen Generalstab als Ordonnanzoffizier im Stab des Chefs des Generalstabes des Feldheeres. Dort tat er ab Kriegsbeginn als Bürooffizier, zuständig für Routineangelegenheiten, Dienst in der Operationsabteilung der OHL.67 Dr. Ludwig Berg, katholischer Feldgeistlicher im GrHQ (* 7. Dezember 1874, † 6. Januar 1939) Berg68 trat nach seinem Abitur in das Priesterseminar in Bonn ein. 1898 zum Priester geweiht, war er nach seiner Zeit als Kaplan als Religionslehrer in Aachen tätig. Diese Tätigkeit führte er im Anschluss an seine Promotion 1909 weiter fort. Berg gehörte zu den Gründern des katholischen Akademikerverbandes, der sich die Pflege der katholischen Weltanschauung unter Akademikern auf die Fahnen geschrieben hatte. Zu Kriegsbeginn meldete er sich sofort freiwillig zum Dienst als Feldgeistlicher. Bevor er Ende November 1914 in dieser Funktion der 1. Gardeinfanteriebrigade zugeteilt wurde, arbeitete als freiwilliger Krankenpfleger im Militärlazarett in Aachen. Am 26.  September 1915 trat Berg, wahrscheinlich auf Empfehlung seines Divisionskommandeurs Prinz Eitel Friedrich, seinen Dienst als katholischer Feldgeistlicher im GrHQ an.

3. Oberster Kriegsherr Im Zentrum des GrHQ stand Wilhelm  II., der gemäß Artikel  63 der Reichsverfassung im Kriegsfall die Befehlsgewalt über die Land- und Seestreitkräfte des Kaiserreichs innehatte. Die Oberbefehlshaberrechte waren in seiner Person verfassungsrechtlich begründet. Daher war der Kaiser »zur persönlichen Ausübung des militärischen Oberbefehls berufen.«69 Die persönliche militär-fachliche Führung der Armee war ein charakteristisches Organisationsprinzip der preußischen Könige, die mit der Verfassung von 1871 auf das Kaiserreich übertragen wurde.70 Im Prinzip war der Kaiser sein eigener Admiral und Feldherr. Verfügte Wilhelm  II. über die militärische Ausbildung und damit einhergehend über einschlägige militärische Erfahrungen, die ihn befähigten, die 66

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Nach dem Tod seiner Frau Ilse, mit der Mewes zwei Kinder hatte, heiratete er Elisabeth Gronarz. Die Ehe blieb kinderlos. Schreiben von Hans Henning von Pentz an Karl Heinz Janssen vom 12.11.1959, BArch, N 128/7, S. 2. Zu Berg siehe Berg, Pro Fide, S. 1‑20. Busch, Der Oberbefehl, S. 20. Siehe ebd., S. 39.

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deutschen Streitkräfte zu Wasser und zu Land zu führen und damit dem Verfassungsanspruch sowie dem preußischen Herrscherideal zu entsprechen, seine Truppen als Soldatenkönig im Krieg persönlich zu befehligen? Die militärische Ausbildung Wilhelms begann am 27. Januar 1869, seinem zehnten Geburtstag, als er wie alle preußischen Prinzen als Secondeleutnant in das traditionsreiche Leibregiment der preußischen Könige, das 1.  Garderegiment zu Fuß, eintrat. Bis zum Ende seines Studiums wurde seine militärische Ausbildung jedoch der zivilen Ausbildung untergeordnet. Für einen preußischen Prinzen und zukünftigen Kaiser erfuhr Wilhelm auf Wunsch seiner Eltern eine außergewöhnlich zivile Ausbildung unter anderem am Friedrichsgymnasium in Kassel und in Form eines Jurastudiums an der Universität Bonn.71 Gegen den Willen des Familienoberhauptes des Hauses Hohenzollern Kaiser Wilhelm I. verbrachte sein Enkel Wilhelm in diesen Jahren lediglich wenige Wochen als Offizier in seinem Regiment. Dies änderte sich nach Abschluss seines Studiums im Sommer 1879, als er seinen Dienst in der 6. Kompanie des 1. Garderegiments zu Fuß antrat. Nur wenige Monate später, am 22. März 1880, dem 83. Geburtstag seines Großvaters, zum Hauptmann befördert, übernahm er als Kompaniechef die 2.  Kompanie. Nach einer zeitweiligen Kommandierung zum 1. Gardeartillerieregiment wurde ihm, zwischenzeitlich zum Major befördert, die Führung des 1.  Bataillons des 1. Garderegiments zu Fuß aufgetragen. Die militärische Ausbildung des zukünftigen Kaisers wurde im Winter 1882/1883 lediglich durch einen mehrmonatigen Ausbildungsabschnitt in der preußischen Zivilverwaltung unterbrochen.72 Am 16. Juni 1885 übernahm Wilhelm das Kommando des Gardehusarenregiments in Potsdam. Nur zweieinhalb Jahre später, an seinem 29.  Geburtstag, ernannte ihn sein Großvater bei gleichzeitiger Beförderung zum Generalmajor zum Kommandeur der 2. Gardeinfanteriebrigade. Diese Verwendung hatte er jedoch nur wenige Monate inne, da er nach dem Tod seines Vaters am 15. Juni 1888 die Krone übernahm. Welche militärischen Fähigkeiten hatte Wilhelm  II. am Ende seiner mehrjährigen aktiven militärischen Laufbahn erworben? Aufgrund fehlender Qualifikationsberichte lassen lediglich einige Zeitzeugenaussagen Rückschlüsse auf seine militärischen Befähigungen zu. Zum Erstaunen seines Vaters, des Kronprinzen Friedrich, hat sich Wilhelm mit großer Begeisterung dem Soldatenhandwerk gewidmet und diesem viel Positives abgewinnen können.73 Der Chef des Großen Generalstabes Generalfeldmarschall Alfred Graf von Waldersee attestierte dem zukünftigen Kaiser noch im Januar 1888, er besäße ein Talent zum Führen und habe sowohl als Bataillons- als auch als Regimentskommandeur reüssiert. Zudem habe er an taktischen Übungen des Generalstabes teilgenommen und Vorträge zu strategischen Fragen gehört.74 Diese Aussagen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. Sicherlich liebte Wilhelm II. nicht nur das Exerzieren und das soldatische Leben im Offizierkasino, wie es in den Garderegimentern intensiv gepflegt wurde. Die gesellschaftlichen Verpflichtungen, die er als Kommandeur der Gardehusaren wahrzunehmen hatte und die einen erheblichen Teil seiner täglichen Arbeitszeit 71 72 73 74

Siehe Clark, Wilhelm II., S. 22. Siehe Röhl, Wilhelm II., Bd 1, S. 419. Siehe ebd., S. 380. Siehe ebd., S. 767.

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einnahmen, empfand er dagegen oft als Last.75 Ob der zukünftige Herrscher angesichts des geschilderten Hintergrunds tiefer in die Gefechtsausbildung eingedrungen ist, darf jedoch bezweifelt werden. Zumindest Wilhelms Vater hegte den Verdacht, sein Sohn erfahre nicht den soldatischen Alltag in der Truppe, sondern er lebe in der entrückten Welt der Garderegimenter und seine Ausbildung gehe an der militärischen Realität vorbei. Daher bat er Wilhelm  I. mehrfach vergeblich, seinem Enkel das Kommando über ein Linieninfanterieregiment zu übertragen, um ihn so stärker mit den Realitäten des Soldatenhandwerks zu konfrontieren.76 Die Thronbesteigung mit nur 29 Jahren beendete die militärische Ausbildung Wilhelms II. abrupt. Im Gegensatz zu Kronprinz Rupprecht von Bayern erfuhr er also keine operativ-strategische Ausbildung; er lernte folglich, wie er selbst bei seiner Versetzung als Kommandeur der 2. Gardeinfanteriebrigade erhofft hatte,77 nicht die Truppenführung größerer Verbände. Das Exerzierreglement von 1888 setzte er schon als Kaiser in Kraft, ohne dass er die damit einhergehenden einschneidenden taktischen Änderungen aus eigener Erfahrung kannte oder gar erlebt hatte. Die Kriegsakademie, in der die höhere Führung und das operative Denken gelehrt wurden, hat er nicht besucht. Nach nur zwei Jahren als Oberster Kriegsherr war Wilhelm  II. jedoch davon überzeugt, und er wurde darin von seiner Entourage immer wieder bestätigt, er sei, ganz in der Tradition der Hohenzollernkönige stehend, der geborene Feldherr.78 Waldersee, der Wilhelm  II. noch wenige Jahre zuvor Talent zur Truppenführung attestiert hatte, musste mit Erschrecken feststellen, dass dem Kaiser die Fähigkeit, größere Verbände zu führen, abging. Immer wenn dieser während größerer Übungen führte, versagte er. Waldersee vermerkte dazu in seinem Tagebuch am 25. September 1890: »Sobald er [der Kaiser] aber ins Gefecht trat, begannen große Unnatürlichkeiten, man kann dreist sagen eine kindliche Spielerei [...] Nach meiner Überzeugung hat er ein gewisses Verständnis für Exercirplatz Bewegungen, nicht aber für die eigentliche Truppenführung; es fehlt ihm eben jegliche Kriegserfahrung u. er will nicht glauben, dass die Kavallerie doch eine recht geringe Verwendungsfähigkeit in der Schlacht habe. Er ist außerordentlich unruhig, jagt hin u. her, ist meist ganz vorn, greift in die Truppenführung der Generäle ein u. giebt zahllose, oft sich widersprechende Befehle u. hört auf seine Ratgeber kaum. Es tritt dazu ein hoher Grad an Eitelkeit; er will immer siegen und nimmt jede Entscheidung des Schiedsgerichts, die gegen ihn fällt, übel.«79 Kritik an seinen militärischen Führungsfähigkeiten nahm Wilhelm II. sehr persönlich. So war er hochgradig verärgert, als Waldersee in seiner Manöverkritik im Anschluss an das Kaisermanöver 1890 seine eklatanten Führungsfehler vorsichtig kritisierte.80 Nur wenige Monate später entließ der nachtragende Kaiser 75 76 77 78 79 80

Siehe Schönburg-Waldenburg, Erinnerungen, S. 59. Siehe Röhl, Wilhelm II., Bd 1, S. 768. Siehe ebd., S. 767. Siehe Wedel, Zwischen Kaiser und Kanzler, S. 126. Zit. nach Röhl, Wilhelm II., Bd 2, S. 470. Wilhelm  II. hatte während des Manövers die von ihm geführten Divisionen in eine unhaltbare taktische Lage manövriert. Siehe Wedel, Zwischen Kaiser und Kanzler, S. 126, sowie Pantenius, Alfred Graf von Schlieffen, S. 495.

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den ihm immer treu ergebenen Waldersee als Chef des Generalstabes und ernannte Schlieffen zu dessen Nachfolger. Dieser hatte aus dem Verhalten Wilhelms II. gelernt und ließ den Kaiser während seiner Amtszeit regelmäßig den Sieg in den Kaisermanövern erringen.81 Diese Vorgehensweise sicherte Schlieffen zwar das Wohlwollen seines Monarchen, bestärkte jedoch den Glauben Wilhelms II. in die eigenen militärischen Fähigkeiten. Moltke d.J., der sich ebenfalls der beschränkten militärischen Fähigkeiten seines Monarchen bewusst war, rang ihm schließlich bei seiner Ernennung zum Chef des Großen Generalstabes das Zugeständnis ab, zukünftig keine aktive Rolle bei Kaisermanövern mehr zu spielen.82 Wie stand es nun um die militärischen Fähigkeiten Wilhelms nach Beendigung seiner militärischen Lehrjahre? Eine profunde taktische Ausbildung hat er nicht erhalten. Seine militärische Sozialisation erfuhr er in den Garderegimentern, bei denen die tänzerischen und gesellschaftlichen Qualitäten der jungen Offiziere oft wichtiger waren als ihr taktisches Können. Ebenso wenig hat er eine weiterführende operativ-strategische Ausbildung an der Kriegsakademie genossen, geschweige denn größere Truppenkörper geführt. Dagegen war er geprägt durch die rückwärtsgewandte Welt der Gardehusaren, deren Kavalleristenkriegsbild nicht mehr dem eines zukünftigen Krieges entsprach. Dies sollte sich bei den Kaisermanövern zeigen, wenn er an der Spitze der Kavallerie den Sieg errang und seine Umgebung schmeichlerisch seine Feldherrenfähigkeiten lobte, was bei dem eitlen, jungen Kaiser auf fruchtbaren Boden fiel. Wilhelms II. militärische Welt war der Exerzierplatz der Gardeeinheiten und nicht das Gelände. Waldersees Beschreibung bringt es daher auf den Punkt: »Eine höchst mangelhafte Führung, unreife Ideen, Unerfahrenheit verbunden mit größter Sicherheit im Auftreten. Haschen nach Effecten also – Spielerei u. keinen Ernst.«83 Diese Schilderungen trafen nicht nur auf die militärischen Fähigkeiten Wilhelms II. zu. Er war offensichtlich nicht mit dem Öl Samuels gesalbt84 und der »geborene Feldherr« wie sein von ihm verehrter Vorfahr Friedrich II. Auch wenn Wilhelm  II. großspurig behauptete, im Kriegsfall werde er »sein eigener Generalstabschef sein«85, fehlte ihm jegliche operativ-strategische Befähigung, als Oberster Kriegsherr das deutsche Heer zu führen. Wie stand es um die Befähigung Wilhelms II., die Kaiserliche Marine zu führen? War er denn wenigstens »der geborene Admiral«? Seit der von Tirpitz initiierten Auflösung des Oberkommandos 1899 führte der Kaiser als Großadmiral die Marine. Eine seiner Heeresausbildung vergleichbare Ausbildung zum Seeoffizier hat er nie erhalten, geschweige denn auch nur eine einzige Minute als Seeoffizier auf einem Großkampfschiff, einem Torpedoboot oder einem U-Boot gedient. Seine praktischen Marineerfahrungen beschränkten sich auf kurze Mitfahrten bei Manövern und die jährlichen Nordlandreisen auf seiner Yacht »Hohenzollern«. Während Wilhelm  II. über mehrere Jahre immerhin im preußischen Heer als Offizier gedient und taktische Grundfähigkeiten erworben hatte, fehlte ihm 81 82 83 84

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Siehe Röhl, Wilhelm II., Bd 3, S. 338. Ebd., S. 341. Zit. nach Röhl, Wilhelm II., Bd 2, S. 470 f. Samuel salbt denjenigen, dem die Gnade Gottes zuteil wird und der dazu auserkoren ist, Großes zu leisten, auch im Kampf (1 Sam 16). Der gesalbte David, der jüngste und kleinste von sieben Brüdern, wird am Ende einer der größten Feldherrn. Röhl, Wilhelm II., Bd 3, S. 340.

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als Seeoffizier sowohl auf taktischer als auch auf operativer Ebene jedwede praktische Erfahrung. Christopher Clarks Diktum, Wilhelm II. sei ein militärischer Dilettant gewesen,86 trifft demnach nicht nur auf seine Befähigung zur Führung des Heeres, sondern in noch größerem Ausmaß auf seine Fähigkeit zur Führung der Kaiserlichen Marine zu. Wilhelm  II. konnte, wie dargestellt, trotz seiner gegenteiligen vollmundigen Verlautbarungen, dem Verfassungsanspruch sowie dem Führungsanspruch der preußischen Soldatenkönige, die deutschen Streitkräfte im Kriegsfall persönlich militär-fachlich zu führen, nicht gerecht werden. Wie sein Großvater zog er aus dieser Erkenntnis die Konsequenz und verlieh in den allgemeinen Mobilmachungsbestimmungen am 2. August 1914 dem Chef des Generalstabes des Feldheeres das Recht, den Landstreitkräften im Namen des Kaisers operative Befehle zu geben.87 Mit diesem Schritt behielt er zwar de jure die Befehlsgewalt über die Armee, de facto lag die »Oberste Kriegsleitung« nun jedoch beim Chef des Generalstabes des Feldheeres. Mit der Übertragung der Befehls- und Kommandogewalt in operativen Fragen zu Kriegsbeginn nahm er sich, wie schon Wilhelm  I., bewusst aus der Entscheidungsfindung für die operative Führung heraus. Das hatte weitgehende Konsequenzen, denn der Kaiser wurde so von der Entschlussfindung für die Landkriegführung ausgeschlossen. Er gab jedoch mit Kriegsbeginn nicht die Befehlsgewalt über die gesamte bewaffnete Macht des Kaiserreiches ab. Den Oberbefehl über die Kaiserliche Marine behielt er sich ausdrücklich vor. Daran hielt er, entgegen allen anderweitigen Bestrebungen, bis in den Sommer 1918 eisern fest. Um seinen Führungsanspruch deutlich zu machen, beschloss er, ganz im Sinne des preußischen Herrscherideals des Soldatenkönigs und der Erwartung vieler Bürger, bei seinen Soldaten im Felde zu sein, weswegen er seinen Sitz im GrHQ nahm. Es war zwar sicherlich im Sinne der militärischen Führung, den Kaiser an das GrHQ zu binden, um ihn vor den »Einflüsterungen« der Reichsleitung zu schützen; die Entscheidung, während des Krieges im GrHQ zu bleiben, traf Wilhelm  II. jedoch alleine. Er hielt sich unter anderem deswegen bewusst im GrHQ und später auf seinem Schloss in Bad Homburg auf, um den Forderungen, die an ihn in Berlin gestellt worden wären, zu entgehen. Folgerichtig scheiterten im Verlauf des Krieges alle Bemühungen der Kabinettschefs, den Kaiser zu längeren Aufenthalten in der Hauptstadt zu bewegen. Im GrHQ hätte Wilhelm  II. sowohl die politische als auch militärische Führung des Krieges steuern müssen. Ist er dieser Aufgabe gerecht geworden? Zur Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, in einem kurzen Exkurs auf die Persönlichkeit Wilhelms II. einzugehen. Obwohl sie unter anderem Afflerbach, Clark und insbesondere John C.G. Röhl88 intensiv beleuchtet haben, fällt eine Einordnung der Persönlichkeit des letzten Deutschen Kaisers schwer. Daran ändern auch die vielen von Historikern oder interessierten Laien post mortem durchgeführten psychoanalytischen Untersuchungen nichts.89 Das Rätsel der Persönlichkeit Wilhelms II. wird dadurch nicht gelöst, sondern eher komplizier86 87 88

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Siehe Clark, Wilhelm II., S. 23. Siehe Stachelbeck, Deutschlands Heer und Marine, S. 103. Siehe Siehe Afflerbach, Einführung; Clark, Wilhelm II., S.  40‑45; Röhl, Wilhelm II., Bd 1‑3. Siehe dazu Kapitel Gesundheit, S. 212‑216.

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ter. Unbestritten hatte Wilhelm II. einen problematischen und widerspruchsvollen Charakter. Er war eitel, unruhig, konnte sich nur phasenweise konzentrieren, strotzte vor Selbstbewusstsein und neigte zu Selbstmitleid, verlor rasch die Lust an komplizierten Vorgängen, langweilte sich aber gleichzeitig sehr schnell und stürzte sich im nächsten Moment hyperaktiv auf ein abseitiges Problem. Zugleich war er intelligent, konnte, wenn er wollte, andere Menschen für sich einnehmen und war ein guter Redner. Eng mit seinem oberflächlichen Wesen verbunden war sein Hang zur Selbstdarstellung und Selbstüberhöhung, und er führte gerne Untergebene vor. Zudem konnte er über den Tod hinaus nachtragend sein.90 In seiner engeren Umgebung bevorzugte er Menschen, die sich ihm willig unterordneten.91 Wilhelm  II. präferierte, wie sein diensttuender Flügeladjutant Oberstleutnant Max von Mutius schrieb, »kleinere Leute mit mittelmäßiger Begabung, denen der höhere Funke« fehlte. »Mit bedeutenden Menschen,« so Mutius weiter, »gab es entweder gleich Krach oder er entledigte sich ihrer bei der ersten besten Gelegenheit.«92 Immer wieder verlor er die Selbstbeherrschung und die Selbstkontrolle, langweilte seine Umgebung oder Gäste stundenlang mit Anekdoten und verursachte durch undurchdachte Äußerungen diplomatische Krisen. Vor allem war er unfähig zur geregelten Arbeit, einige sagen sogar schlicht faul.93 Regelmäßiges Akten- oder Kartenstudium war ihm fremd, ja oft zuwider. Besonders eklatant für einen militärischen Führer war seine Entscheidungsschwäche, die er immer wieder an den Tag legte. Alle diese »sonderbaren Charakterschwächen«94 traten bei Wilhelm II. nicht erst mit Kriegsbeginn zutage. Sie existierten schon in seinen Regierungsjahren vor dem Krieg und beeinflussten mehr oder weniger sein Regierungshandeln im Rahmen seines »persönlichen Regimentes«. Diese Eigenschaften alleine können also nicht verantwortlich sein für den Machtverlust, den er im Verlauf des Krieges erfuhr und der von Zeitgenossen mit dem Begriff »Schattenkaiser« umschrieben wurde. Ebenso traten seine gesundheitlichen Beschwerden, besonders seine psychische Überlastung, nicht erst mit Kriegsbeginn auf, auch wenn sie unter dem Druck des Krieges stark zunahmen. Immer wieder zog sich Wilhelm II. in seine eigene Welt jenseits des Krieges zurück und beschäftigte sich zum Entsetzen seiner Umgebung beispielsweise mit archäologischen Fragen bezüglich der Hethiter,95 anstatt sich um die Kriegführung zu kümmern. Die kaiserliche Entourage wusste, wie sie ihren Monarchen zu nehmen hatte. Direkte Ratschläge oder gar Weisungen verärgerten den Kaiser und führten fast immer zu einem nicht gewünschten Ergebnis. Es galt unter allen Umständen, den Herrschaftsanspruch und die Würde Wilhelms zu wahren. Griff man diese an, reagierte er gnadenlos und trennte sich in der Folge selbst von jahrelangen treuen Beratern. Wollte man den Kaiser vom eigenen Standpunkt überzeugen, hatte das subtil und indirekt, quasi über Bande, zu erfolgen. Dadurch eröffneten sich allen Beteiligten große Chancen, denn Wilhelm II., der ständig in der

90 91 92 93 94 95

Siehe Afflerbach, Falkenhayn, S. 241. Siehe Schönburg-Waldenburg, Erinnerungen, S. 140. Mutius, Lebenserinnerungen, BArch, N 195/2, S. 187. Siehe Afflerbach, Einführung, S. 6. Siehe Hull, Persönliches Regiment, S. 22. Siehe Tagebucheintrag Müllers vom 30.6.1916, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 197.

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Sorge lebte, manipuliert zu werden,96 ließ sich seinem Charakter entsprechend durch jedes dahingesagte Wort seiner Umgebung, vom Kabinettschef bis zum jüngsten Flügeladjutanten, der sich seiner besonderen Gunst erfreute, beeinflussen. Dies erschwerte zwar jegliche Beratung des Kaisers – und eröffnete zugleich die Möglichkeit, ihn, wenn gewollt, in eine bestimmte Richtung zu lenken. Schwankend wie ein Fähnchen im Wind, machte sich der Kaiser oft das Argument zu eigen, welches ihm als letztes vorgetragen worden war, oder er traf bei gleichgewichtigen Argumenten aufgrund seiner immer wieder auftretenden Entscheidungsunfähigkeit erst gar keine Entscheidung. Einhergehend mit diesen Befindlichkeiten fühlte sich Wilhelm II. von seiner Umgebung oft missverstanden oder schlicht ignoriert. So fragte er nur wenige Tage nach Kriegsbeginn verzweifelt die Kabinettschefs, als diese sich nach Ende eines Spazierganges aufgrund der Kürze der Bank nicht zu ihm setzten, sondern auf einer herbeigeholten weiteren Bank Platz nahmen: »Verachtet ihr mich schon so, dass sich niemand mehr neben mich setzen will?«97 Wie empfindlich er auf seine Umgebung reagierte, zeigt die Tatsache, dass er im Sommer 1916 gegenüber Gontard über Vereinsamung klagte, da sich die älteren Herren seines Gefolges von ihm zurückzögen.98 Die politischen und die militärischen Entscheidungsträger im GrHQ richteten ihr Handeln gegenüber ihrem Monarchen an seinen besonderen Charaktereigenschaften und seiner labilen psychischen Konstitution aus. Dies hatte zur Folge, dass die jeweiligen Chefs des Generalstabes des Feldheeres Wilhelm  II. zwar in der Regel täglich unterrichteten, ihm aber meistens nur gefilterte Informationen übermittelten. Diese zielgerichtete, oft mit unwesentlichen Details angefüllte Unterrichtung führte zwangsläufig dazu, dass der über nicht alle Informationen verfügende Monarch letztendlich alle Entschlüsse der jeweiligen Chefs der Obersten Heeresleitungen billigte. Letzterdings hat der Kaiser nur in einem Fall den Entschluss eines Chefs der OHL aufgehoben: als Falkenhayn die Offensive bei Ypern einzustellen gedachte, um die freiwerdenden Truppen in den Osten zu verlegen; Wilhelm befahl, die Offensive in Flandern fortzusetzen.99 In allen anderen wichtigen operativen Fragen, so beispielsweise bei den Offensiven gegen Verdun 1916, gegen das Zarenreich 1915 und bei der Westoffensive 1918, stimmte der meist erst mittel- oder kurzfristig vorab informierte Monarch unter der Voraussetzung, der Anschein seiner Führung wurde gewahrt, den Operationen vorbehaltlos zu. Die Vorgehensweise der Chefs des Generalstabes des Feldheeres war nicht nur der Tatsache geschuldet, dass die engere Umgebung des Kaisers den psychisch labilen Monarchen nicht unnötig belasten wollte, sondern trug dem Umstand Rechnung, dass dieser sonst bar jeglichen Selbstzweifels in die Landkriegführung hineinregiert hätte. Die Versuche des Kaisers in den ersten Kriegstagen, trotz seines Verzichtes auf den Oberbefehl in die Operationen einzugreifen, wurden von Moltke d.J., wie Falkenhayn Wenninger am 31. August 1914 mitteilte, schon im Keim erstickt: Der Kaiser »erfahre nicht mehr, als die Diplomaten und Hofleute wissen dürfen, 96

97 98 99

Siehe Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Hans-Georg von Plessen, S. 603. Tagebucheintrag Müllers vom 21.8.1914, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 50. Siehe Tagebucheintrag Müllers vom 4.7.1916, ebd., S. 201. Siehe Afflerbach, Falkenhayn, S. 238.

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hauptsächlich die Zahl der Gefangenen, Kanonen etc. Im Anfang hat der Kaiser wohl den Versuch gemacht, sich in die Beratungen der Operationen zu mischen. M[oltke] hat es aber verstanden, ihn mehr und mehr auszuschalten. Jetzt erfährt er tatsächlich nichts mehr, was erst im Werke ist, sondern nur Geschehnisse, und zwar die günstigen.«100 Diese Vorgehensweise war auch deshalb so erfolgreich, weil seitens des persönlichen Gefolges des Kaisers, hier sind besonders Plessen und die Kaiserin zu nennen, alles unternommen wurde, um den psychisch labilen Wilhelm II. vor schlechten Nachrichten zu schützen. Falkenhayn und seine Nachfolger Hindenburg und Ludendorff behielten Moltkes Vorgehensweise nicht nur bei, unter der III. OHL wurde Wilhelm II. letztlich sowohl von der operativ-strategischen Planung als auch von der Führung des Heeres komplett ausgeschlossen. Weder der Kaiser noch die während der Vorträge fast immer anwesenden Lyncker und Plessen hatten, da es sich seitens der OHL meistens nicht um Lagevorträge zur Entscheidung, sondern zur Unterrichtung handelte, größeres Mitspracherecht. Wurde eine Entscheidung des Kaisers erforderlich, waren die Vorträge so angelegt, dass Wilhelm II. kaum etwas eigenständig beschließen konnte. Im Laufe der Jahre trugen die jeweiligen Chefs des Generalstabes des Feldheeres zudem nicht mehr täglich die Lageentwicklung vor, sondern immer öfter nach Bedarf. Hindenburg und Ludendorff hielten schließlich nur noch in größeren Abständen Vorträge vor ihrem Obersten Kriegsherren.101 Wilhelm II. registrierte die Vorgehensweise der jeweiligen Chefs der OHL sehr wohl und machte sich bei seiner engeren Entourage in den ersten Monaten häufiger, im weiteren Verlauf des Krieges aber immer seltener verärgert Luft über die Missachtung, die die OHL ihm gegenüber an den Tag legte. »Der Generalstab«, so Wilhelm II. zu Müller, »sagt mir gar nichts und fragt mich auch nicht. Wenn man sich in Deutschland einbildet, dass ich das Heer führe, so irrt man sich sehr. Ich trinke Tee und säge Holz und gehe spazieren und dann erfahre ich von Zeit zu Zeit, das und das ist gemacht, ganz wie es den Herren beliebt.«102 Und gegenüber Plessen erklärte er, der Generalstab schiebe ihn total zur Seite und er hätte nur zu allem Ja und Amen zu sagen. Plessen beruhigte seinen Monarchen mit den Worten, »dass bei einem solchen Millionenheer, ein Heer wie weder Alexander d[er] G[roße] oder Napoleon I. oder Wilhelm I. je gehabt hätten, – Er, der oberste Kriegsherr, unmöglich mit Details befasst werden könnte. Dazu hätte er seinen Chef des Generalstabes. Dieser müsste die Einzelheiten verarbeiten und nur die wesentlichen Punkte seiner Entscheidung unterbreiten.«103 Ganz zufriedengestellt war Wilhelm II. durch Plessens Erklärung jedoch nicht. Knapp ein Jahr nach Kriegsbeginn schimpfte er gegenüber Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn: »Falkenhayn meint, er müsse mir immer ein fertig gebundenes Bouquet bringen [...] Vorbereitungen, Einzelheiten erfahre ich überhaupt nicht, muß den Flügeladjutanten hinschicken, wenn ich wissen will, was los ist.«104 Konsequenzen dergestalt, dass er Falkenhayn aufforderte, ihn in die Entscheidungsfindung einzubeziehen, zog er jedoch nicht. 100 101 102 103

104

Tagebucheintrag Wennigers vom 31.8.1914, Schulte, Neue Dokumente, S. 161. Siehe Afflerbach, Einführung, S. 18. Tagebucheintrag Müllers vom 6.11.1914, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 68. Tagebucheintrag Plessens vom 23.11.1914, Kaiser Wilhelm  II. als Oberster Kriegsherr, S. 700. Brief Wilds an seine Frau vom 7.6.1915, Wild von Hohenborn, Briefe, S. 64.

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Falkenhayn, der Wilhelm II. in seiner Art gut zu nehmen wusste, blieb die zeitweise Verärgerung seines Monarchen nicht verborgen und als Wilhelm II. einen fronterfahrenen Generalstabsoffizier als Flügeladjutanten forderte, schlug er mit Mewes einen seiner jüngeren Offiziere aus der Operationsabteilung als geeignetsten Kandidaten vor.105 Dieser sollte den Kaiser regelmäßig über die nach Ansicht der OHL relevanten militärischen Vorgänge auf dem Laufenden halten und gleichzeitig den Monarchen unterschwellig im Sinne der OHL beeinflussen. Der Kaiser war mit dem Personalvorschlag sehr einverstanden und verbrachte mit Mewes in den folgenden Monaten immer wieder viele Stunden beim Kartenstudium oder ließ sich von ihm in die Lage einweisen. Der Versuch Wilhelms, mit einem jungen Generalstabsoffizier als diensttuendem Flügeladjutanten seine Wissenslücken zu schließen, scheiterte daran, dass Mewes im Sinne seiner jeweiligen Chefs der OHL auf den Monarchen einwirkte und dieser, wie so oft, nach kurzer Zeit schlicht kein Interesse mehr an den operativen Fragen hatte. Denn seinem Charakter entsprechend wechselten sich die Phasen, in denen er sich verstärkt für operativ-strategische Fragen der Landkriegführung interessierte, häufig mit jenen ab, in denen ihm seine Freizeitgestaltung deutlich wichtiger war als Angelegenheiten des Landkrieges. Im Verlauf des Krieges verlor sich sein Interesse an operativstrategischen Fragen, insbesondere seit dem Dienstantritt Hindenburgs und Ludendorffs, zusehends, zumal die beiden ihn noch stärker als Falkenhayn aus den Entscheidungsprozessen heraushielten und vor vollendete Tatsachen stellten. In operativ-strategischen Fragen der Landkriegführung hatten die Chefs des Generalstabes des Feldheeres von Kriegsbeginn an ihren Monarchen ausgeschaltet und ihn, hier ist Wilhelm II. recht zu geben, zum Ja-und-Amen-Sager degradiert. Trotz aller Verärgerung hat Wilhelm II. diese Degradierung nie in Frage gestellt und in keiner Phase des Krieges die Feldherrnschaft über die Armee eingefordert oder gar ausgeübt. Letztlich fügte er sich in sein Schicksal. Die von Wilhelm  II. selbstherrlich propagierte Führungsrolle als sein eigener Chef des Generalstabes war, wie so oft bei ihm, letztendlich nichts anderes als eine hohle Phrase. Tief in seinem Inneren war sich auch der letzte Deutsche Kaiser darüber im Klaren, dass ihm nicht wie Friedrich dem Großen die Gnade Gottes zuteil geworden war, ein großer Kriegsherr zu werden. Trotz allem gab es aber immer wieder Momente, in denen sich Wilhelm als Schlachtenlenker sah, so als Hindenburg und Ludendorff ihm am 22.  Juli 1918 endlich reinen Wein über das Scheitern der deutschen Offensiven einschenkten und er – wieder einmal – in Selbstmitleid verfiel und von sich selbst gegenüber seiner engsten Entourage als geschlagenem Feldherrn sprach.106 Gegen Hindenburg als Chef des Generalstabes des Feldheeres und Ludendorff als Ersten Generalquartiermeister hatte sich Wilhelm  II. lange gewehrt. In Hindenburg spürte er instinktiv einen Konkurrenten, und Ludendorff war ihm aufgrund seines Wesens schlicht unsympathisch.107 Unbewusst nahm er auch wahr, dass die Sieger von Tannenberg über kurz oder lang seine Autorität in Frage stellen würden. Nach anfänglichem Widerstand gegen den Machtwillen des Dioskurenpaares, etwa bei der Intrige, die zum Sturz Valentinis führte, ergab 105 106 107

Siehe Kapitel Flügeladjutanten, S. 72‑74. Siehe Kriegstagebucheintrag Müllers vom 22.7.1918, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 396. Siehe Kapitel Heer, S. 104 f.

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er sich weitgehend dem Machtanspruch der III.  OHL – wohl auch, weil ihm diese durch ihr Ausgreifen auf die Politik die Verantwortung für die Führung des Krieges ein Stück weit abnahmen. Nur eine Sache ließ er sich nicht nehmen: Ganz im Sinne seiner militärischen Sozialisation nahm er immer nach dem Sonntagsgottesdienst den Vorbeimarsch der Stabswache und der zusätzlich zum Schutz des GrHQ eingesetzten Landsturmbataillone im Paradeschritt ab. Was passierte, wenn der Kaiser den Oberbefehl nicht an die militärischen Fachleute delegierte, sondern ihn auch im Krieg für sich beanspruchte, zeigt das Beispiel der Kaiserlichen Marine. »Seine« Marine wollte der Kaiser selbst führen. Ob dieser Wille sich wirklich schon in seiner Jugend ausgeprägt hatte, wie Bülow mit Bezug auf den Erzieher Wilhelms  II. Georg Hinzpeter behauptet hat,108 darf bezweifelt werden. Tatsache ist: Wilhelm  II. beharrte, trotz aller Versuche von Tirpitz, eine der Armee vergleichbare Führungsregelung für die Kaiserliche Marine zu schaffen und ihn selbst de facto mit ihrer Führung zu beauftragen, auf seinem Oberbefehl und übertrug die Befehls- und Kommandogewalt weder auf den Chef des Reichsmarineamtes noch auf den Chef des Admiralstabes. Unter dem Kaiser herrschte in der Marineführung jedoch das für das Kaiserreich so typische polykratische Chaos. Der Admiralstab und das Kommando der Hochseeflotte sowie der qua Amt nicht für die Seekriegführung zuständige Chef des RMA Tirpitz versuchten, im Wechselspiel mit oder gegen den Chef des Marinekabinetts, Wilhelm II. von ihren operativen Vorstellungen zu überzeugen. Dieses Führungschaos wurde noch dadurch verstärkt, dass mit Großadmiral Prinz Heinrich,109 dem Bruder des Kaisers, und Prinz Adalbert,110 dem dritten Sohn des Kaisers, zwei enge Familienmitglieder immer wieder versuchten, Einfluss auf die Entscheidungen ihres Bruders respektive ihres Vaters zu nehmen. Als Folge der von Tirpitz erreichten Neuorganisation ging die Marine also ohne eine klare Abgrenzung der Rechte und Befugnisse der einzelnen Immediatstellen in den Krieg. Dem Oberbefehlshaber der Kaiserlichen Marine erwuchs aus diesem Führungschaos ein hohes Maß an Verantwortung. War Wilhelm II., vor dem geschilderten Hintergrund, diesen Aufgaben gewachsen? Und: Wie führte er die Marine? Um über die Lage der Kaiserlichen Marine informiert zu sein, ließ er sich in Anwesenheit des Chefs des Marinekabinetts regelmäßig durch den Admiralstabschef vortragen. Im Gegensatz zu den Vorträgen zur Unterrichtung des Chefs des Generalstabes des Feldheeres informierte der Admiralstabschef seinen Oberbefehlshaber nicht nur über die Lage, sondern hielt ihm regelmäßig Lagevorträge zwecks einer Entscheidung. Am Ende entschied der Kaiser häufig nach seiner augenblicklichen Stimmung, die der Vortragende mit seiner Autorität, seinem Auftreten und seinem Vortrag beeinflussen konnte. Mitunter war es von Vorteil, als Letzter vorzutragen, da Wilhelm II. dazu neigte, seinen Allerhöchsten Willensbekundungen den letzten Vortrag zugrunde zu legen. Die Immediatvorträge der Admiralstabschefs zwangen Wilhelm  II., weiterführende und existenzielle Entscheidungen zu treffen, denen der entscheidungs108 109 110

Siehe Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd 1, S. 106. Prinz Heinrich war während des Krieges Oberbefehlshaber der Ostseestreitkräfte. Prinz Adalbert diente zu Kriegsbeginn zuerst als Navigationsoffizier und dann im Stab das II. Admirals des IV. Geschwaders. Im Mai 1917 übernahm er das Kommando über den Kleinen Kreuzer »Danzig« und im März 1918 über den Kleinen Kreuzer »Emden«.

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scheue Kaiser oft gerne aus dem Weg gegangen wäre. Sein Anspruch auf die persönliche Führung der Marine nötigte ihm aber, zumal diese im Vergleich zur Armee nur mit einem kleinen Stab des Admiralstabes im GrHQ vertreten war, ein geregeltes Aktenstudium ab, zu dem er nur selten Lust hatte. Es verwundert daher nicht, dass er die untergeordneten Marinedienststellen aufforderte, ihn nicht mit zu vielen Denkschriften und Befehlen zu behelligen oder wegen bevorstehender Operationen zu befragen.111 Als der Admiralstabschef Großadmiral Henning von Holtzendorff Anfang 1916 seinen Dienstsitz wieder in Berlin nahm, verblieb nur noch der Chef des Marinekabinetts Müller als einziger Berater des Kaisers in Marineangelegenheiten im GrHQ. Auch wenn sich nach kurzer Zeit abzeichnete, dass der Kaiser seinen Führungsaufgaben nicht im notwendigen Maße nachkam, setzte er in den für ihn wichtigen operativen Fragen seinen persönlichen Führungsanspruch in der Seekriegführung durch. Von Kriegsbeginn an verfolgte Wilhelm II. angesichts des offensichtlich gescheiterten seestrategischen Konzeptes von Tirpitz und trotz vieler marineinterner Widerstände eine klare politische Linie, in deren Zentrum der unbedingte Erhalt der Hochseeflotte stand. Die Flotte sollte keinem unnötigen Risiko ausgesetzt werden, um sie für spätere Friedensverhandlungen als Faustpfand zu erhalten. Diesem klaren Willen des Monarchen trug der für den Einsatz der Hochseeflotte für den ganzen Krieg maßgebliche Operationsbefehl vom 30. Juli 1914 Rechnung, der ihr eine defensive Rolle zuwies und ein offensives Vorgehen ohne ausdrückliche Genehmigung Wilhelms  II. untersagte. Eine Entscheidungsschlacht sollte erst nach einer erheblichen Schädigung der Grand Fleet durch Minen und U-Boot-Angriffe gewagt werden. Über die Frage des Flotteneinsatzes kam es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern einer offensiven Seekriegführung in der Nordsee und Verfechtern einer defensiven Seekriegführung. Beide Fraktionen trugen Wilhelm  II. regelmäßig in Denkschriften oder in Lagevorträgen ihre Vorstellungen vor. Alle Argumente für einen offensiveren Einsatz der Hochseeflotte lehnte der Kaiser nicht nur ab, er verschärfte sogar den Befehl vom Juli 1914. »Seine Majestät,« so Pohl an den Flottenchef am 3. Oktober 1914, »befehlen daher, dass die Flotte sich zurückhält und Aktionen vermeidet, die zu größeren Verlusten führen könnten.«112 Zwar erwirkte Admiral Reinhard Scheer bei seiner Kommandoübernahme über die Hochseeflotte größere operative Freiheiten für den Einsatz der Flotte,113 doch als nach der Skagerrakschlacht auch die lautesten Befürworter einer Entscheidungsschlacht erkennen mussten, dass selbst ein Seesieg über die Grand Fleet Großbritannien nicht zum Frieden zwingen würde, schränkte der Kaiser die Operationsfreiheit des Chefs der Hochseeflotte wieder deutlich ein. Nach Rücksprache mit dem Admiralstabschef befahl Wilhelm, ohne seinen ausdrücklichen Befehl dürfe die Flotte nicht in den Hoofden, dem südlichsten Teil der Nordsee zwischen Dover und Calais, eingesetzt werden. Eine Seeschlacht in ungünstiger Lage gegen überlegene Kräfte sei unter allen Umständen zu vermeiden: »Solcher endgültiger Einsatz Meiner Flotte bleibt Meinem eigenen Befehl 111 112

113

Siehe Die deutsche Seekriegsleitung, Bd 1, S. 22, Anm. 63. Schreiben des Chefs des Admiralstabes an das Kommando der Hochseeflotte vom 6.10.1914, ebd., Bd 2, S. 31. Scheer an Dähnhardt, 12.3.1916, ebd., Bd 2, S. 87‑91.

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nach Maßgabe der Gesamtkriegslage vorbehalten.«114 Ohne ausdrückliche Genehmigung des Kaisers durfte daher der Flottenchef bis kurz vor Kriegsende nicht die von Tirpitz geplante und von vielen Seeoffizieren so sehnlich erwünschte Entscheidungsschlacht schlagen. Auch in Fragen der U-Boot-Kriegführung behielt sich der Kaiser bis Kriegsende die letzte Entscheidung vor. Wilhelm II. versagte von Kriegsbeginn an als Oberbefehlshaber der Marine in der für die Seekriegführung zentralen und für die Zukunft der Marine existenziellen Frage einer einheitlichen Führung. Er bemühte sich nicht, die von Tirpitz bewusst in Kauf genommene und von ihm selbst gebilligte Zersplitterung der obersten Marinebehörden zu beenden und unter seinem Oberbefehl eine der OHL vergleichbare zentrale, straffe Führung der Marine durchzusetzen. Ohne die einheitliche Führung durch ihren Obersten Kriegsherren begannen die verschiedenen Marinebehörden weniger mit- als gegeneinander zu arbeiten. Besonders Tirpitz schwächte die Einheitlichkeit der Marineführung, indem er zugunsten seiner Individualinteressen ununterbrochen sowohl gegen den Kaiser als auch gegen die anderen Marinebehörden intrigierte. Über den Einsatz der Hochseeflotte und die Frage des U-Boot-Krieges fochten die verschiedenen Marinedienststellen letztlich bis Kriegsende erbitterte Kämpfe aus. Die Unzufriedenheit in der Flottenführung mit ihrem Obersten Kriegsherren und den ihm zuarbeitenden frontfernen Chefs der Admiralität, des Marinekabinetts und des RMA führten im Sommer 1918 zum Revirement in der Marineführung. Auf Druck des Flottenchefs Scheer wurde die der OHL vergleichbare Seekriegsleitung (SKL) gebildet. Mit diesem Akt wurde Wilhelm II. als Oberbefehlshaber faktisch ausgeschaltet. Fortan hatte er nur noch den nominellen Oberbefehl über die Kaiserliche Marine inne. Der Kaiser war jedoch nicht nur der so oft beschriebene »Schattenkaiser«, der machtlos seine Tage im GrHQ verbrachte. Auch wenn Moltke d.J., Falkenhayn, Hindenburg und Ludendorff sowie Scheer im Verlauf des Krieges den militärischen, die III. OHL auch noch den politischen Führungsanspruch des Kaisers beschnitten, konnten und wollten sie Wilhelm  II. nicht in Gänze ausschalten. Denn sie brauchten ihn immer dann – quasi als Schiedsrichter –, wenn bei Ressortstreitigkeiten innerhalb von Heer und Marine, zwischen Marine und Heer sowie zwischen der politischen und militärischen Führung unterschiedliche Auffassungen und nicht zu überwindende Gegensätze auftraten, beispielsweise bei den Differenzen zwischen Hindenburg und Ludendorff auf der einen und Falkenhayn auf der anderen Seite über den Schwerpunkt der Landkriegführung, der langwierigen Entscheidungsfindung für den uneingeschränkten U-BootKrieg oder der Entscheidung über die Eröffnung eines Sperrgebietes vor der amerikanischen Ostküste. Dann nahm der Kaiser seine Aufgabe, die militärische und politische Führung des Krieges, wahr und seine Entschlüsse wurden akzeptiert, seine Autorität zumindest nicht offen in Frage gestellt. Was er jedoch verfügte, das war, wie führende Militärs und Politiker feststellen mussten, nicht immer vorherseh- oder berechenbar, sondern eher unkalkulierbar. Wilhelm II. nahm die militärische und politische Lenkung des Krieges nur dann in die Hand, wenn die Lage eine andere Option nicht mehr zuließ. Die ihm durch die Verfassung und sein monarchisches Selbstverständnis zugewiesene 114

Kabinettsorder Kaiser Wilhelms II. an den Chef des Admiralstabes der Marine, 31.5.1917, ebd., Bd 2, S. 134.

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Aufgabe, die Kriegführung zwischen Marine, Armee und Politik zu koordinieren und strategische Zielvorgaben zu formulieren, nahm er nicht wahr. Der Monarch, der so gerne jagte, musste auch oder gerade im Krieg »zum Jagen getragen« werden. Letztlich war er mit der Aufgabe, das Kaiserreich strategisch zu führen und die einzelnen Ressorts im Sinne einer einheitlichen Kriegführung zu koordinieren, überfordert. Daher ließ er der militärischen und politischen Führung weitestgehend freie Hand. »Aber«, so Kurt Riezler, »er [der Kaiser] redet ebenso wenig [Falkenhayn] drein, wie dem Kanzler in die Politik – spricht aber natürlich immer davon, dass ER den Krieg führe.«115 Auch wenn der Reichskanzler und der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Ende des ersten Kriegsjahres nach Berlin zurückkehrten und sich mit Ausnahme von Besuchen in wichtigen Besprechungen im GrHQ vertreten ließen, spielte die Politik, sei es bei Fragen der strategischen Kriegführung, etwa dem U-BootKrieg, oder bei innenpolitischen Fragen, wie der Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts, für den Kaiser eine zentrale Rolle, der er sich durch seine »Flucht« ins GrHQ nicht entziehen konnte. Sie holte ihn immer wieder ein, denn die maßgeblichen politischen Entscheidungen bedurften stets seiner Zustimmung. Ebenso wie die OHL versuchte auch der Reichskanzler seine Interessen beim Kaiser durchzusetzen. Dazu zog der Kanzler, wie die OHL, alle Register, um über seinen Vertreter im GrHQ Treutler Einfluss auf die Entscheidungen des Kaisers zu gewinnen. So ist es nicht zuletzt Treutler zu verdanken, dass der Kaiser trotz des Drucks der OHL und des Admiralstabes erst im Winter 1917 den uneingeschränkten U-Boot-Krieg genehmigte. Ganz im Sinne des Divide et impera des polykratischen Chaos gewann Wilhelm II. dann an Macht, wenn sich verschiedene Ressorts gegenseitig paralysierten und er die Entscheidung treffen musste. So nutzte er in begrenztem Maß das polykratische Chaos für seine Machtstellung aus, wenn er beispielsweise im Konflikt zwischen Falkenhayn und Bethmann Hollweg beide Seiten in ihre Schranken weisen konnte. Wie ein Jongleur hielt er in den ersten Kriegsjahren zeitweise mehrere Bälle in der Luft. Erst als sich Hindenburg und Ludendorff mit Bethmann Hollweg gegen Falkenhayn und damit letztlich gegen ihn verbündeten und sich somit der Umfang und das Gewicht eines Balles veränderten, konnte der Kaiser die Bälle nicht mehr in der Luft halten. Die Ernennung Hindenburgs zum Chef des Generalstabes des Feldheeres und Ludendorffs zum Ersten Generalquartiermeister war für Wilhelm II. ein schwerwiegender, ja epochaler Einschnitt. Instinktiv hatte er sich solange wie irgend möglich gegen diese Ernennungen gewehrt, waren ihm doch beide Männer aus unterschiedlichen Gründen nicht genehm. Dem unbedingten Machtanspruch des Dioskurenpaares hatte Wilhelm II. letztlich wenig entgegenzusetzen, zumal Hindenburg und Ludendorff, wohl wissend, dass der Kaiser sie als die einzigen existierenden Hoffnungsträger nicht entlassen konnte, ihn zur Durchsetzung ihrer Interessen rücksichtslos mit ihren Rücktrittsdrohungen erpressten. War der Kaiser nun der vielfach beschriebene Schattenkaiser? Wie so oft lässt sich auch diese Frage nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Sicherlich hatte er in operativen Fragen des Heeres nur einen sehr geringen bis gar keinen Einfluss. In seiner Marine dagegen setzte er seinen Führungsanspruch in operativen Fragen, beispielsweise hinsichtlich der Verwendung der Hochseeflotte, 115

Tagebucheintrag Riezlers vom 11.7.1915, Riezler, Tagebücher, S. 283.

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trotz des Unwillens vieler Seeoffiziere jedoch bis zur Bildung der SKL im Sommer 1918 unmissverständlich durch. Ein ähnliches, aber nicht vergleichbares Bild zeigt sich in der Frage der von ihm zu verantwortenden strategischen Führung des Kaiserreichs. Unbestritten versagte er als oberster Koordinator. Weder lenkte er, noch führte er aktiv. Da er von sich aus nicht aktiv wurde, gelang es ihm nicht, das polykratische Chaos zwischen und in einzelnen Ressorts zu beenden und als Mindestvoraussetzung alle Kräfte einheitlich auszurichten, um so der strategischen Kriegführung seinen Stempel aufzudrücken. Aber auch hier gilt wieder: Wenn unüberwindbare Gegensätze zwischen verschiedenen Ressorts oder in der militärischen Führung auftraten, suchten diese die Entscheidung beim Kaiser und akzeptierten sie in der Regel. Somit hatte er sehr wohl Einfluss auf der strategischen Ebene und ließ sich ihn in den ersten Kriegsjahren auch nicht nehmen. Dies musste etwa Falkenhayn erkennen, als er versuchte, nach Absprache mit dem Admiralstab den uneingeschränkten U-Boot-Krieg durchzusetzen. Die großen Spielräume, die der Kaiser Falkenhayn in Fragen der Landkriegführung überließ, endeten dann, wenn dieser über seinen Aufgabenbereich hinaus auf die politische Ebene zugriff.116 Macht und Ohnmacht Wilhelms  II. spiegeln sich am deutlichsten in seiner Personalpolitik wider. Ganz im Sinne des von Röhl herausgearbeiteten »Königsmechanismus« war sie ein, ja wenn nicht das zentrale Element der Macht des Monarchen.117 Auf jeden Fall konnte er beispielsweise mit der Berufung des Reichskanzlers oder der von ihm alleine zu verantwortenden Besetzung der drei Kabinettschefs die Grundlinien der Politik in seinem Sinne beeinflussen. Den Chefs des Marine-, Zivil- und Militärkabinetts kam dabei eine besondere Bedeutung zu, da sie den Kaiser in allen Personaldingen berieten und darüber hinaus auch in anderen Fragen großen Einfluss auf die Entscheidungen des Kaisers nehmen konnten. Am Beispiel der Personalie Falkenhayn zeigt sich, wie dieser Personalmechanismus funktionierte. Als im September 1914 immer offensichtlicher zutage trat, dass Moltke seiner Aufgabe als Chef des Generalstabes des Feldheeres nicht mehr gewachsen war, betrieb der Chef des Militärkabinetts dessen Ablösung durch Falkenhayn. Auch wenn hier Lyncker die treibende Kraft war, agierte er nicht im luftleeren Raum und schon gar nicht gegen den Willen des Kaisers. Denn der hatte Falkenhayn, obwohl dieser in der Armee wegen seines arroganten Auftretens nicht unumstritten war, seit 1912 für die Verwendung als Chef des Generalstabes ins Auge gefasst. Letztlich plädierte Lyncker für den kaiserlichen Wunschkandidaten.118 Als nach den Niederlagen in Flandern die Kritik an Falkenhayn stetig wuchs, hielt Wilhelm, unterstützt vom Militärkabinett, eisern an Falkenhayn fest, denn in den strategischen Grundausrichtungen der Kriegführung war er sich mit Falkenhayn lange Zeit einig. Auch bei der Stellenbesetzung des Admiralstabschefs entschied sich der Kaiser, nach Beratung mit dem Chef des Marinekabinetts, mit Holtzendorff für einen Kandidaten, der im Gegensatz zu seinem abgelösten Vorgänger Admiral Gustav Bachmann zum einen kein Anhänger von Tirpitz war, zum anderen ebenso wie Wilhelm  II. anfangs den uneingeschränkten U-Boot-Krieg ablehn116 117 118

Siehe Afflerbach, Falkenhayn, S. 240. Siehe Afflerbach, Einführung, S. 25. Siehe ebd., S. 26.

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te und damit die gleiche strategische Grundrichtung der Seekriegführung vertrat wie er selbst. Aber nicht nur diese grundlegenden Fragen spielten bei den Personalentscheidungen des Kaisers eine große Rolle. Wichtig war gleichfalls, ob ihm die potenziellen Kandidaten von ihrem Äußeren her genehm und ob sie ihm sympathisch waren. So waren Falkenhayn und Holtzendorff,119 die einen frischen und aktiven Eindruck machten und die beide mit dem Kaiser umgehen konnten, ideale Kandidaten. Wie anders sah das bei Hindenburg und Ludendorff aus. Beide waren Wilhelm II. auf unterschiedliche Weise nicht sympathisch, zudem vertraten sie nicht die vom Kaiser favorisierte strategische Grundausrichtung. Trotzdem sah er sich gezwungen, sie mit der Führung des Landkrieges zu betrauen, denn zum ersten Mal hatten sich die politische und Teile der militärischen Führung, gestützt auf den so wahrgenommenen Volkswillen, auf einen für Wilhelm II. nicht ablehnbaren Personalvorschlag geeinigt. Die Entscheidung für Hindenburg und Ludendorff ist auch in Bezug auf die Personalpolitik des Kaisers ein epochaler Einschnitt. Im Gegensatz zu seinem »Günstling« Falkenhayn, der nach den Niederlagen in Flandern und den Angriffen gegen ihn sowohl von politischer als auch militärischer Seite unter Druck stand und nur dank dem Willen Wilhelms II. im Amt blieb, waren Hindenburg und Ludendorff nicht vom Kaiser abhängig, sondern dieser von ihnen. Nicht nur bei den operativ-strategischen und politischen Entscheidungen verlor Wilhelm  II. endgültig seinen Einfluss, sondern auch oder gerade in der Personalpolitik. Innerhalb weniger Monate weiteten Hindenburg und Ludendorff ihren Einfluss auf die höchsten, eigentlich dem Kaiser vorbehaltenen Personalentscheidungen aus, indem sie regelmäßig mit Rücktritt drohten, wohl wissend, dass der Kaiser das nicht annehmen konnte. So stürzten sie Bethmann Hollweg und erzwangen Anfang 1918 gegen den Widerstand Wilhelms die Ablösung des Chefs des Zivilkabinetts Valentini. Damit nicht genug, ersetzten sie diesen ohne große Gegenwehr des Kaisers durch den ihnen loyal ergebenen Oberpräsidenten von Ostpreußen Friedrich von Berg. Damit war in jeglicher Hinsicht der Tiefpunkt der kaiserlichen Macht erreicht. Wilhelm nahm diese Entwicklung sehr wohl wahr und fügte sich ihr nach anfänglicher Gegenwehr auch, ohne größeren Widerstand zu leisten. Lediglich im Kreis seiner engsten Vertrauten erklärte er gereizt: »Was soll ich in Kreuznach? Ich bin da [in der OHL] doch nur der Adjutant von Hindenburg und habe gar nichts zu sagen.« Resigniert und mit dem für ihn üblichen Selbstmitleid fügte er dem hinzu: »Das habe ich davon, daß ich drei Jahre den Tornister getragen habe.«120 Hindenburg und Ludendorff konnten selbst auf dem Höhepunkt ihrer Macht nicht gänzlich unabhängig vom Kaiser vorgehen. Gerade in Personalfragen brauchten sie immer wieder seine Zustimmung, denn Wilhelm konnte mit der Zurückweisung von Personalvorschlägen, so als er Tirpitz und Bülow als Nachfolger Bethmann Hollwegs kategorisch ablehnte, zwar nicht mehr völlig autark agieren, aber dennoch Einfluss ausüben.121 Die institutionellen Strukturen vermochten auch Hindenburg und Ludendorff nicht in Gänze außer Kraft zu setzen, zumal Hindenburg als überzeugter Monarchist den letzten Schritt zur Entmachtung des Kaisers nie vollzog. Gegen Ende des Krieges gewann dieser die 119 120 121

Siehe Hubatsch, Der Admiralstab, S. 170. Tagebucheintrag Müllers vom 28.5.1917, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 289. Siehe Afflerbach, Einführung, S. 32 f., sowie Pyta, Hindenburg, S. 319.

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Oberhoheit über die Personalpolitik sogar kurzfristig zurück. Er trennte, wie er stolz verkündete, die siamesischen Zwillinge Hindenburg und Ludendorff. Als sie Ende Oktober 1918, wie so oft, mit ihrem Rücktritt drohten, entzog der Kaiser Ludendorff sein Vertrauen und nahm dessen Rücktritt an. Hindenburg befahl er dagegen im Amt zu bleiben, was Hindenburg zum Entsetzen Ludendorffs ohne größeren Widerstand befolgte.122 Mit seiner Personalpolitik sicherte sich Wilhelm  II., auf indirekte Weise, sehr wohl Einfluss auf die Entscheidungsprozesse im GrHQ und letztlich im Kaiserreich. Aber auch in seiner Personalpolitik wechselten sich wie in der operativen Kriegführung und der strategischen Führung des Kaiserreiches Licht und Schatten ab. Ob und wann dabei das eine oder aber das andere überwog, bedarf trotz der zahlreichen Publikationen über den letzten Deutschen Kaiser noch weiterer Studien.

4. Allerhöchstes Gefolge Wilhelm II. hielt sich während des Krieges, begleitet von seinem persönlichen militärischen Gefolge, einem kleineren Teil seines Hofes, fast die ganze Zeit im GrHQ auf. Zu dem Allerhöchsten Gefolge gehörten zu Kriegsbeginn der diensttuende Generaladjutant und I. Kommandant des GrHQ Generaloberst (mit dem Rang eines Generalfeldmarschalls) Plessen, der diensttuende Generaladjutant Oskar von Chelius, die diensttuenden Flügeladjutanten Oberstleutnant Maximilian von Mutius, Oberstleutnant Otto von Estorff, Oberstleutnant Wilhelm von Dommes, Korvettenkapitän Bernhard Freiherr von Paleske,123 Major von Kleist, Major von Caprivi, Major Detlef Graf von Moltke sowie Major Georg von Hirschfeld.124 Zudem traten als Ordonnanzoffiziere die Obersten Hans Heinrich XV. Fürst von Pleß sowie Heinrich Prinz von Schönburg-Waldenburg, der Oberhof- und Hausmarschall Reischach, der Hausmarschall Gontard, der Oberstallmeister und Oberst à la suite Walter Freiherr von Esebeck125, drei Leibärzte126 sowie als Vertreter des Auswärtigen Amtes im GrHQ der Gesandte Treutler zum Allerhöchsten Gefolge hinzu.127 122

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Ludendorff, der fest damit gerechnet hatte, dass Hindenburg sein Schicksal teilen würde, verzieh diesen »Verrat« Hindenburg nie. Siehe zu den Vorgängen der Entlassung Ludendorffs Pyta, Hindenburg, S. 348‑353. Paleske wurde Anfang Mai Bataillonskommandeur beim 5. Matrosenregiment und schied mit Wirkung zum 7.5.1916 aus dem Verhältnis als Flügeladjutant aus. Siehe Meldung vom 11.5.1916, BArch, RM 2/74, fol. 115. Den Adjutanten standen nach D.V.E. 219a, Stärkenachweisungen, S.  2, siebzehn Mannschaften als Burschen und Trainsoldaten zur Verfügung. Siehe Stellenbesetzung beim Großen Hauptquartier, BArch, RM 2/1957, fol. 37. Esebeck nahm sich am 20.8.1914 das Leben. Generalarzt Dr. Friedrich von Ilberg, Oberstabsarzt Dr.  Otto Gustav von Niedner und Stabsarzt Dr. Wetzel. Nach seiner Entlassung durch Wilhelm  II. am 6.7.1916 übernahm sein Stellvertreter Grünau bis Kriegsende das Amt.

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Wilhelm II. begleitete nicht nur sein persönliches Gefolge in den Krieg, sondern anfangs ein kleiner, im Laufe des Krieges jedoch immer größerer Teil der Dienerschaft des Hofes. Die genaue Zahl der Kammerdiener, Fahrer, Köche und Küchengehilfen, Haushälterinnen, Gärtner, Pferdepfleger usw., die während des Kriegs am Hof Wilhelms II. im GrHQ dienten, ist nicht zu ermitteln; es dürfte sich um eine hohe zweistellige Zahl gehandelt haben. Auch wenn sich diese Zahl durch die häufigen Besuche der Kaiserin mit ihrer Entourage sicherlich noch erhöht hat, waren es bei Weitem nicht alle der fast 3500 Bediensteten des kaiserlichen Hofes,128 die im Felde standen. Unter Führung des Ministers des königlichen Hauses August Graf zu Eulenburg blieb nicht nur das Ministerium des königlichen Hauses an seinem Dienstsitz und ging von dort seiner Arbeit nach, auch die vielen anderen Ämter des Hauses Hohenzollern taten es ihm gleich. Eine prunkvolle Hofhaltung mit Bällen und Empfängen, wie sie Wilhelm II. in den Jahren vor dem Krieg praktiziert hatte,129 gab es im GrHQ nicht. Das war wegen des militärischen Gepräges des GrHQ nicht möglich. Daran änderten auch die häufiger werdenden Besuche der Kaiserin wenig, bestand doch ihr kleiner Hofstaat letztlich nur aus den sie immer begleitenden »Halleluja-Tanten«130 sowie aus dem Oberküchenmeister Maximilian Graf von Pückler auf RogauRosenau. Trotzdem zog mit Auguste Viktoria und der Anwesenheit der Frauen ein Hauch von Hof in das GrHQ ein, dem sich der Kaiser gerne hingab. Doch selbst diese »Hofhaltung light« sah sich angesichts des steigenden Hungers in der Bevölkerung und des tausendfachen Sterbens im Schützengraben berechtigter Kritik ausgesetzt, die weder der Kaiser noch seine Gattin letztlich verstanden. So lehnten die Kabinettschefs die mit den Besuchen der Kaiserin verbundene Hofhaltung im GrHQ übereinstimmend ab. Welche Aufgaben nahmen die verschiedenen Angehörigen des persönlichen Gefolges Wilhelms II. wahr und welchen Einfluss hatten sie im GrHQ und im Besonderen auf den Kaiser? Als Vertreter ihrer Monarchen zählten die Militärbevollmächtigten der Königreiche Sachsen, Bayern und Württemberg ebenso wie die Militärbevollmächtigten der Verbündeten Österreich-Ungarn sowie später des Osmanischen Reiches und Bulgariens zum Allerhöchsten Gefolge des Kaisers im GrHQ. Sie gehörten jedoch nicht zu seiner engeren Entourage und dienten ihm auch nicht, sondern waren Sachverwalter ihrer Monarchen in allen die Kriegführung betreffenden Fragen im GrHQ. Letztlich waren sie hochkarätige Verbindungsoffiziere, die als Vertreter ihrer Monarchen im Allerhöchsten Gefolge angesiedelt waren, aber dort und letztlich auch im GrHQ nur eine Nebenrolle spielten. Ihre Aufgaben unterschieden sich fundamental von denen der anderen Angehörigen des kaiserlichen Gefolges. Als Vertreter ihrer Monarchen berichte128 129

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Siehe Heinig, Hohenzollern, S. 24, sowie Röhl, Kaiser, Hof und Staat, S. 93. Zur Hofhaltung des Kaisers vor dem Krieg siehe Riotte, Macht- und Prachtentfaltung?; Paulmann, Pomp und Politik; Röhl, Kaiser, Hof und Staat; Pomp and Circumstance; Philippi, Der Hof Kaiser Wilhelms II. Das waren die für die Führung des weiblichen Hofstaates verantwortliche Oberhofmeisterin Therese Gräfin von Brockdorff, Fräulein Claire von Gersdorff und Mathilde Gräfin von Keller. Die spöttische Bezeichnung »Halleluja-Tanten« erhielten die drei Damen wegen ihrer übertrieben zur Schau gestellten Frömmigkeit. Siehe dazu Gehlen, Holländisches Etablissement.

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ten der bayerische Militärbevollmächtigte Wenninger131, der württembergische Militärbevollmächtigte Graevenitz132 sowie der sächsische Militärbevollmächtigte Generalleutnant Traugott Freiherr Leuckart von Weißdorf133 regelmäßig an ihre Höfe über die Entwicklung des Krieges und die Vorgänge im GrHQ.134 Zudem hatten sie für die Interessen ihrer Königreiche sowohl beim Kaiser als auch bei der OHL und dem Admiralstab einzutreten. Dazu nahmen sie regelmäßig Essenseinladungen an, sei es vom Kaiser oder von der OHL, oder sie empfingen selbst zum Essen, um mit verschiedenen Entscheidungsträgern unterhalb der absoluten Führungsspitze in Kontakt zu kommen. Für ihre Arbeit war die Kontaktpflege mit persönlichen Gesprächen und den daraus gefilterten Informationen zentral. Folgerichtig richteten sie ihren Tagesablauf danach aus. So traf sich Graevenitz regelmäßig mit den älteren diensttuenden Flügeladjutanten wie Mutius oder auch Grünau.135 Sie organisierten Besuche ihrer Könige ins GrHQ und reisten, wenn erforderlich, auch zu direkten Gesprächen mit ihren Monarchen. Regelmäßige Truppenbesuche dienten außerdem der Informationsgewinnung direkt vor Ort. Wenn nötig traten sie an die OHL heran, um beispielsweise die Verlegung stark belasteter Divisionen an einen ruhigeren Frontabschnitt durchzusetzen. Im Falle von Graevenitz traf das im November 1917 auf die 27. (2. Königlich Württembergische) Division zu, die aus der Flandernschlacht herausgezogen und an einen ruhigen Frontabschnitt im Oberelsass verlegt wurde.136 Als Sachwalter der Soldaten ihrer Königreiche kümmerten sie sich um eine angemessene Ordensauszeichnung für ihre Soldaten. So setzte sich Graevenitz sowohl bei der OHL als auch bei Lyncker erfolgreich dafür ein, Oberleutnant Erwin Rommel den Orden Pour le Mérite zu verleihen.137 Die Aktivitäten der deutschen Militärbevollmächtigten zeigen schlaglichtartig, wie es um den Zusammenhalt des deutschen Kontingentsheeres bestellt war. 131

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Wenninger verblieb nur kurze Zeit als bayerischer Militärbevollmächtigter im GrHQ. Ihm folgte am 5.11.1914 Generalleutnant Phillip von Hellingrath nach. Dieser wiederum blieb ebenfalls nur wenige Monate im Amt und wurde am 5.3.1915 von Generalmajor Karl von Nagel zu Aichberg abgelöst. Am 25.1.1917 übernahm Generalleutnant Bernhard von Hartz von Nagel zu Aichberg die Dienstgeschäfte. Vom 25.8.1918 bis Kriegsende war Generalleutnant Paul Ritter von Köberle bayerischer Militärbevollmächtigter. Als Adjutanten dienten während des Krieges Major von Pappus und Trazberg, Freiherr zu Laubenberg und Rauhenzell. Die häufigen Wechsel im Amt des bayerischen Militärbevollmächtigten wurden von Wilhelm II. sehr wohl registriert und, wie Graevenitz in seinem Tagebuch vermerkte, auch kommentiert. Siehe Graevenitz, Mein Lebenslauf, Eintragungen im Tagebuch vom 5.3.1915, HStAS, M 660/095, Bü 59, S. 68. Vom 10.7.1918 bis Kriegsende übernahm Oberst Max Holland die Dienstgeschäfte. Adjutant war Oberleutnant Alfred Knoerzer. Von Mitte Februar 1917 bis Kriegsende führte Generalmajor Hans Alfred von Eulitz die Dienstgeschäfte des sächsischen Militärbevollmächtigten. Als Adjutant diente während des Krieges Hauptmann von Haugk. Als Personal verfügten diese zu Kriegsbeginn über jeweils zwei Kanzleisekretäre, zwei geheime expedierende Sekretäre, einen Kraftfahrer, einen Burschen und einen Pferdewärter. Siehe Graevenitz, Mein Lebenslauf, Eintragungen im Tagebuch vom 14.11.1917, HStAS, M660/095, Bü 59, S. 81. Siehe ebd., S. 171. Ebd. Rommel hatte mit seiner Abteilung am 26.10.1917 die wichtige Stellung am Monte Matajur im Sturm genommen.

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Fast 50 Jahre nach der Reichseinigung kämpften diese immer noch mehr oder weniger offen gegen die borussische Übermacht an. Immer wieder ging es darum, die »eigenen Leute« zu fördern, die eigenen Verbände zu schonen und einen gerechten Anteil an den Auszeichnungen zu erhalten. Offen wurde der landsmannschaftliche Zusammenhalt gepflegt. So feierten die württembergischen Offiziere gemeinsam mit dem Württemberger Freiherrn von Reischach am 25.  Februar 1916 den Geburtstag ihres Monarchen.138 Der König von Württemberg hatte aber nicht nur mit Graevenitz einen Mann im GrHQ, sondern mit Korvettenkapitän Ernst von Weizsäcker einen Gewährsmann im Stab der Hochseeflotte. Zumindest das württembergische Königshaus war daher nicht nur über die Lage im GrHQ, sondern auch über die in der Flotte aus erster Hand sehr gut informiert. Zum kaiserlichen Gefolge zählten gleichfalls die verbündeten Militärbevollmächtigten. Die Donaumonarchie war seit Kriegsbeginn durch General der Infanterie Joseph Graf von Stürgkh als »K.u.K. Delegierter im Deutschen Großen Hauptquartier« vertreten.139 Im November 1914 entsandte das Osmanische Reich Generalleutnant Zeki Pascha als Militärbevollmächtigten des Sultans in das GrHQ, und im Oktober 1915 wurde mit Bulgariens Kriegseintritt Oberst Petar Gantschew bis zum Kriegsende als Militärbevollmächtigter seines Monarchen akkreditiert.140 Ihre Funktion war eine eher beobachtende und berichtende, wobei ihnen sicherlich nicht alle Interna der deutschen OHL offengelegt wurden, sondern nur das, was sie wissen sollten. Einer, der seine Dienste im GrHQ zu Kriegsbeginn als »ohne Belang« einordnete, war Reischach.141 Der Oberhof- und Hausmarschall sowie Oberzeremonienmeister, zuständig für die höfische Prachtentfaltung und die Führung des Hofbetriebes in Ermangelung eines großen Hofes, hatte so wenig zu tun, dass ihn der Kaiser nach Esebecks Selbstmord am 20. August 1914 vertretungsweise zusätzlich mit der Führung des Marstalls beauftragte, bis der erkrankte Vizestallmeister General à la suite Wilhelm von Frankenberg und Ludwigsdorf im Sommer 1915 seinen Dienst antrat.142 Reischach übernahm diese Vertretung gerne, da er bis Ende 1913 selbst Oberstallmeister gewesen war und sich mangels Betätigung im GrHQ langweilte. Reischach selbst hatte, obwohl er als alter Jugendfreund Treutlers regelmäßig mit diesem sowie mit Valentini, Lyncker und Müller spazieren ging und zur eher liberalen Fraktion im GrHQ zählte, weder auf die Geschehnisse im GrHQ noch auf den Kaiser einen nennenswerten Einfluss. Eine zentrale Rolle im Allerhöchsten Gefolge und im GrHQ spielten dagegen die Kabinettschefs. Sie zählten, auch wenn das Marinekabinett als Reichsbehörde nicht als zum Hof zugehörig angesehen wurde, allein durch ihre Generaladjutantentätigkeiten zum Allerhöchsten Gefolge. Die Kabinettschefs waren das Bindeglied zwischen Hof und Staat, verloren aber nach Kriegsbeginn aus unterschiedlichen Gründen immer mehr an Bedeutung. 138

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Siehe Graevenitz, Mein Lebenslauf, Eintragungen im Tagebuch vom 25.2.1916, HStAS, M666/095, Bü 59, S. 110. Ihn unterstützte der damalige k.u.k. Militärattaché in Berlin Oberst Karl Freiherr von Bienerth. Stürgkh wurde am 17.5.1915 von Generalmajor Alois Ritter Klepsch-Kloth von Roden abgelöst. Siehe Hubatsch, Großes Hauptquartier, S. 427. Siehe Reischach, Unter drei Kaisern, S. 269. Frankenberg blieb bis Kriegsende Oberstallmeister.

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Die drei Kabinette waren ihrer Funktion nach Reichsinstanzen ebenso wie das Kriegsministerium oder das Reichsmarineamt.143 Formaljuristisch zwar keine Behörden, arbeiteten sie jedoch wie solche. Auch ihre Organisation und Struktur entsprach einer Behörde. Das Kabinettsystem hatte in Preußen Tradition. Obwohl es im Rahmen der Stein-Hardenbergschen Reformen Anfang des 19. Jahrhunderts zur Stärkung der Regierung abgeschafft worden war, gewannen die ursprünglich in Preußen schlicht als Sekretariate des Monarchen dienenden Kabinette, obwohl sie weder in der preußischen Verfassung von 1850 noch in der Reichsverfassung von 1871 vorgesehen waren, schon unter Wilhelm I., nicht zuletzt wegen der Unterstützung des Reichskanzlers Otto von Bismarck, stark an Bedeutung. Denn Bismarck sah in ihnen das passsende Instrument, um die monarchische Gewalt von allen parlamentarischen Zugriffen nachhaltig abzuschotten.144 Er ging sogar soweit, dass er am 21. März 1889 erklärte: »Eine Einmischung des Reichskanzlers in das Kommando der Armee und Marine halte ich als das sorgfältigst zu Verhütende, weil der Reichskanzler eben vom Reichstage in einer gewissen Abhängigkeit ist und eine Einmischung des Reichstages in die geltende Macht des Kommandos die größte Gefahr für die staatlichen Verhältnisse bedeuten würde.«145 Mit diesen Ausführungen gab Bismarck freiwillig ein Zugriffsrecht auf die Streitkräfte auf und stärkte die uneingeschränkte Kommandogewalt des Monarchen. Seit dem Regierungsantritt Wilhelms II. entwickelten sich die Kabinette zu einer höfischen Nebenregierung. Als extrakonstitutionelle Einrichtungen sowie selbstständige politische Beratungsorgane des Kaisers entzogen sie sich dem staatsrechtlichen Alleinanspruch auf dessen verantwortliche Beratung146 durch den Reichskanzler. Folgerichtig hatten sie große politische Macht inne und übten beträchtlichen politischen Einfluss aus, ohne in politischer Verantwortung zu stehen.147 Die Kabinette waren somit das wichtigste Instrument »der verfassungsunabhängigen, absolutistischen Herrschaft des Monarchen«.148 Dies traf besonders auf das Militärkabinett zu, da sich mit diesem die Problematik der parlamentsunabhängigen Kommandogewalt des Kaisers über die Streitkräfte untrennbar verband, galt es doch ebenso wie das Marinekabinett als ein »ausgesprochene[s] Organ der kaiserlichen Kommandogewalt«.149 Die Kabinettchefs gehörten damit zu dem kleinen, elitären Kreis der Machtträger des Kaiserreichs.150 Ad personam vom Monarchen berufen, bereiteten sie die Entscheidungen des Kaisers vor, indem sie ihn fast täglich berieten. Ihre Macht resultierte nicht zuletzt aus der Tatsache, dass sie zum einen über die Termine Wilhelms II. und damit über den Zugang zu ihm verfügten, zum anderen es in ihrer Entscheidungskompetenz lag, welche Vorgänge dem Kaiser überhaupt vorgelegt wurden. So mussten alle Immediatberichte der Staatssekretäre 143 144 145 146 147 148

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Siehe Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd 3, S. 818. Vgl. König, Wie mächtig war der Kaiser?, S. 118. Zit. nach Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 28. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd 3, S. 816 f. Siehe Friedrich v. Berg als Chef des Geheimen Zivilkabinetts 1918, S. 5. Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Moriz Freiherr v. Lyncker, S. 69. Hubatsch, Großes Hauptquartier, S. 440. Siehe Nipperdey, Deutsche Geschichte, Bd 2, S. 205 f.

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des Reiches und des Reichskanzlers in zivilen Angelegenheiten zuerst dem Chef des Zivilkabinetts und die Immediatberichte militärischer Stellen zuerst den Chefs des Marine- oder Militärkabinetts vorgelegt werden, bevor diese sie dem Monarchen präsentierten. Angesichts der ablehnenden Haltung Wilhelms II. gegenüber langwierigem Aktenstudium gewann der mündliche Vortrag immer mehr an Bedeutung, zumal die Kabinettchefs mit ihren persönlichen Darstellungen des entsprechenden Vorganges den Kaiser nicht nur in die eine oder in die andere Richtung dirigieren konnten, sondern oft mit einem ihm parallel zum Vortrag vorgelegten unterschriftsreifen Kabinettserlass das Ergebnis schon oft in ihrem Sinne vorwegnahmen.151 Da diese Vorgänge nicht aktenkundig gemacht wurden, lässt sich nicht sagen, wann, wie und ob die Kabinettschefs den leicht beeinflussbaren Kaiser in ihrem Sinne lenkten. Die Möglichkeiten dazu hatten sie und es wäre naiv anzunehmen, dass sie diese nicht genutzt haben. Allen Kabinetten lag eine Zweiteilung der Aufgaben zugrunde. Einerseits hatten die Kabinettschefs den Monarchen in ihrem ureigenen Zuständigkeitsfeld militärisch oder politisch zu beraten und Befehle und Weisungen des Kaisers quasi als gehobenes Sekretariat umzusetzen, anderseits hatten sie Ordensangelegenheiten und besonders die Personalien ihres Ressorts zu bearbeiten. Die Kabinettschefs hatten Immediatrecht und trugen ebenso wie der Chef des Großen Generalstabes, der Kriegsminister und der Reichskanzler regelmäßig an festgelegten Wochentagen dem Kaiser vor. Sie begleiteten ihn auf allen Reisen und übernahmen unterwegs die Vorträge der abwesenden Ressortchefs. Überall und jederzeit hatten sie das Ohr des Kaisers. Was sie ihm quasi privatissime unter vier Augen mitteilten, blieb im Raum und wurde nicht schriftlich festgehalten. Da dieses Verfahren die Möglichkeit eröffnete, den wankelmütigen Wilhelm entsprechend zu instrumentalisieren, stand es schon vor dem Krieg in der Kritik und bot im Krieg den Nährboden für Gerüchte und Verschwörungstheorien. So brachte Müller der Ruf, den Kaiser in seinem Sinne zum Nachteil der Flotte zu manipulieren, den Spitznamen Rasputin ein, in Anspielung auf den russischen Wanderprediger und Geistheiler, dem man einen unheilvollen Einfluss auf den russischen Zaren nachsagte.152 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Tirpitz, einer der vehementesten Kritiker dieses Verfahrens, selbst jede Chance nutzte, um seinerseits Einfluss auf den Kaiser auszuüben. Die vom I.  Kommandanten des Hauptquartiers Generalmajor Adolf von Wittich nach Rücksprache mit Wilhelm II. abgestimmte »Zeiteinteilung für die regelmäßigen Vorträge bei seiner Majestät dem Kaiser und König« von Anfang März 1889 für die Zeit, in der der Kaiser nicht auf Reisen war, offenbart zweierlei: erstens die deutliche Prädominanz des Militärischen. Während der Chef des Generalstabes am Samstag um 11:00  Uhr, der Kriegsminister am Donnerstag um 11:00 Uhr, der Chef des Marinekabinetts am Dienstag 11:00 Uhr und der Chef des Militärkabinetts am Dienstag, Donnerstag und Samstag um 11:45 Uhr vortrugen, hatten von ziviler Seite lediglich der Chef des Zivilkabinetts am Montag und Mittwoch um 11:00 Uhr und der Reichskanzler am Samstag um 16:00 Uhr153 regelmäßiges persönliches Vortragsrecht. Zudem waren am Dienstag 151 152 153

Siehe König, Wie mächtig war der Kaiser?, S. 122. Siehe Fischer, Admiral, S. 163. Der Vortrag des Reichskanzlers fand nicht regelmäßig statt. Siehe Schmidt-Bückeburg, Das Militärkabinett, S. 179.

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und am Freitag um 13:30 Uhr Zeiten für militärische Meldungen freigehalten.154 Zweitens: Wilhelm II. gestand seinen Kabinettschefs deutlich mehr Vortragszeit zu als dem Chef des Generalstabes oder dem Reichskanzler. Es ist offensichtlich, welche Möglichkeiten, auf den Kaiser einzuwirken, sich besonders dem Chef des Militärkabinetts, der auch bei den Vorträgen des Kriegsministers zugegen war, eröffneten. Auffällig ist auch, dass mit dem Kriegsminister lediglich ein Minister ohne vorherige »Anmeldung« beim Chef des Zivilkabinetts einen regelmäßigen Zugang zum Monarchen hatte. Parlamentarisch verantwortlichen Stellen war der Zugang zum Kaiser somit fast vollständig verwehrt oder zumindest sehr erschwert. Schon in der Vorkriegszeit mehrten sich zu Recht die Stimmen im parlamentarischen Raum und in der Öffentlichkeit, der Kaiser habe mit den Kabinettschefs eine Schutzwand zwischen sich und den verantwortlichen Staatssekretären installiert, die sich jeglicher öffentlichen Kontrolle entziehe.155 Als Vertreter der Marine trugen bis Kriegsbeginn der Chef des Admiralstabes am Dienstagvormittag und der Staatsekretär des Reichsmarineamtes am Sonnabendvormittag vor. Ihre Vorträge mussten spätestens am Tag zuvor angemeldet werden. Bei beiden Terminen war nicht nur der Kommandant des Hauptquartiers, sondern auch der Chef des Marinekabinetts anwesend. Letzterer machte im Auftrag des Kaisers Notizen über die Vorträge. Auch der Chef des Marinekabinetts trug am Sonnabendvormittag, allerdings unter vier Augen, vor.156 Eine herausgehobene Stellung unter den Kabinettschefs hatte der Chef des Militärkabinetts inne.157 Das 1883 organisatorisch selbstständig gewordene Militärkabinett gehörte neben dem Generalstab und dem Kriegsministerium zu den drei Wilhelm  II. als König von Preußen immediat unterstellten militärischen Führungsinstitutionen, die zugleich die Führungsaufgaben für das Kontingentsheer des Kaiserreichs übernahmen.158 Die Einordnung und die Aufgabenteilung des Militärkabinetts im militärischen Gefüge des Heeres gab Kriegsminister General Paul Bronsart von Schellendorf 1888 treffend wieder: »die Tätigkeit des Generalstabes [ist] im Wesentlichen auf die Verwendung der Armee im Kriege gerichtet, das Militärkabinett bearbeitet Personalsachen und ist das Organ Seiner Majestät in Befehlsangelegenheiten, das Kriegsministerium stellt die personellen und materiellen Streitmittel bereit.«159 Das Militärkabinett hatte also zwei zentrale Aufgaben: zum einen die Beratung des Kaisers in allen militärischen Belangen sowie die Umsetzung seiner Befehle und Anordnungen, zum anderen die Bearbeitung der Ordensangelegenheiten und die Führung der Offizierpersonalien.160

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Siehe ebd., S. 178. Ebd., S. 212. Siehe hierzu Müller, Die Kabinette, S. 16. Zur Geschichte und zur Entwicklung des Militärkabinetts siehe Schmidt-Bückeburg, Das Militärkabinett, S. 1‑240, sowie Hull, The Entourage, S. 177 f. Zu den Reservatsrechten Bayerns, Württembergs und Sachsens siehe Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd 3, S. 999 f. Aus einer Denkschrift des Kriegsministers Bronsart von Schellendorf vom 24.11.1888, zit. nach Schmidt-Bückeburg, Das Militärkabinett, S. 170. Siehe hierzu König, Wie mächtig war der Kaiser?, S. 125‑128.

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Als personalführende Behörde des Heeres entschied das Militärkabinett, letztlich dessen Chef, über die Laufbahnen und Karrieren selbst der höchsten Offiziere des Heeres.161 Das Militärkabinett war aber auch das Sekretariat Wilhelms II. in allen Angelegenheiten des Heeres. Die herausgehobene Stellung des Chefs des Militärkabinetts, der zugleich vortragender Generaladjutant des Kaisers war, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er am häufigsten dem Kaiser vortrug. Für die politische Beratung des Monarchen in Fragen der Innenpolitik sowie der zivilen Personalangelegenheiten war das Zivilkabinett zuständig.162 Formalrechtlich keine Hof-, sondern eine preußische Staatsbehörde, regelte sie die gesamtdeutschen innenpolitischen Belange des Kaisers.163 Es fungierte als Regierungsbüro des Monarchen, und sein Chef trug diesem in allen innenpolitischen Fragen und zivilen Personalangelegenheiten unter vier Augen vor. Das betraf auch die Immediatberichte der Staatssekretäre und des Reichskanzlers in zivilen Angelegenheiten. Diese erhielten die kaiserliche Antwort wiederum über den Kabinettschef. Von herausgehobener Bedeutung waren zudem die Ernennung und Beförderung sämtlicher Beamten im Reich. Während wegen der Masse der in diesen Fragen zu bewältigenden Akten dem Kaiser die meisten Personalentscheidungen durch die jeweiligen Ressorts ohne Stellungnahme des Kabinettschefs unterschriftsreif vorgelegt wurden, hat der jeweilige Chef des Zivilkabinetts die Besetzung der allerhöchsten Dienstposten sicherlich mit dem Kaiser besprochen und seine Ansichten dazu geäußert. Im Gegensatz zum Militär- und zum Zivilkabinett, die aus der preußischen Monarchie in das Kaiserreich überführt worden waren, nahm Wilhelm II. den Umbau der Marineführung zum Anlass, in Anlehnung an das Militärkabinett am 28. März 1889 das Marinekabinett zu gründen.164 Damit sicherte er von Anfang an die monarchistische Kommandogewalt gleichfalls über die ihm am Herzen liegende Marine, um die Marine- wie die Armeepolitik dem parlamentarischen Zugriff zu entziehen165 und mit der Gleichstellung des Marinekabinetts mit dem Militärkabinett die Kaiserliche Marine aufzuwerten. Das Marinekabinett nahm seinen Dienstsitz, wie die schon existierenden Kabinette, in der unmittelbaren Nähe des Monarchen anfänglich in der Vosstraße  25, später in der Bendlerstraße 14 in der Hauptstadt Berlin. Es verfügte, wie die beiden anderen Kabinette, nur über eine sehr knapp bemessene Personalausstattung.166 Welche Aufgaben Wilhelm II. seinem Marinekabinett zuwies, stellte er gegenüber Tirpitz am 14. Februar 1898 unmissverständlich klar: 161

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Einzig die bayerischen Offiziere wurden aufgrund der Bayern zugesprochenen Reservatsrechte vom bayerischen Kriegsministerium geführt. Zur Geschichte und Funktion des Zivilkabinetts siehe Meisner, Zur neueren Geschichte des preußischen Kabinetts, S.  180‑209; Friedrich v.  Berg als Chef des Geheimen Zivilkabinetts 1918, S. 3‑8; König, Wie mächtig war der Kaiser?, S. 119‑125. Für die privaten Angelegenheiten des Monarchen war unter Wilhelm  II. die Schatullenverwaltung und Privatkanzlei zuständig. Vgl. Schmidt-Bückeburg, Das Militärkabinett, S. 123. Zur Auflösung des kaiserlichen Oberkommandos und zum daraus resultierenden Umbau der Marineführung bis hin zur Gründung des Marinekabinetts siehe Hubatsch, Der Admiralstab, S. 49‑59, sowie Franken, Das Marinekabinett, S. 24‑27. Siehe Berghahn, Der Tirpitz-Plan, S. 28‑30. Zur Personalentwicklung des Marinekabinetts in den ersten Jahren siehe Franken, Das Marinekabinett, S. 40‑42.

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»Ich bedarf für die Erledigung maritimer Angelegenheiten sowie für Meinen persönlichen Dienst einer Büro-Organisation, die Meine Befehle für die Marine, soweit Ich sie nicht unmittelbar erteile, den Marinebehörden oder bestimmten Personen übermittelt, und das ist eben das Marine-Kabinett; es ist also gewissermaßen eine Kanzlei für Mich allein, und es kann ihm daher auch keine entscheidende Mitwirkung zufallen. Der Chef des Marine-Kabinetts ist Mir persönlich dafür verantwortlich, daß er meine Befehle ausführt und daß er in allem, was er nach dieser Richtung tut, Meinem Willen und Meinen Instruktionen gemäß handelt; er kann in dieser Funktion nur Mir gegenüber verantwortlich sein.«167 Die Generalklausel »Erledigung maritimer Angelegenheiten« eröffnete den jeweiligen Chefs des Marinekabinetts eine große Einflussnahme auf alle Angelegenheiten der Marine. Da es neben den Entwürfen kaiserlicher Befehle wie sein Heerespendant seit 1899 für die Personalangelegenheiten der Marineoffiziere zuständig war, nahm das Marinekabinett im Machtgefüge der Kaiserlichen Marine eine Schlüsselposition ein.168 Als der Krieg begann, verfügten alle drei Kabinettschefs über langjährige Erfahrungen in ihren Ressorts. Der Krieg stellte sie jedoch vor völlig neue Aufgaben. Es galt, die Arbeit und die Organisationsstruktur der Kabinette den Kriegsbedingungen anzupassen, zumal schon nach wenigen Wochen klar war, aus dem erwarteten kurzen würde ein langer Krieg werden. Die Chefs der Kabinette reagierten unterschiedlich auf die organisatorische Herausforderung. Während der Chef des Zivilkabinetts169 Valentini und der Chef des Marinekabinetts170 Müller nur mit jeweils einem Beamten ins GrHQ verlegten171, nahm der Chef des Militärkabinetts172 Lyncker eine größere Anzahl 167 168 169

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Zit. nach Hubatsch, Der Admiralstab, S. 77. Siehe zum Marinekabinett König, Wie mächtig war der Kaiser?, S. 128 f. Im Zivilkabinett waren zu Kriegsbeginn 1914 sechzehn Beamte tätig. Siehe dazu Berliner Adressbuch, Bd  2, (11.7.2018). Im Marinekabinett waren vor Kriegsbeginn 1914 neben dem Kabinettschef Müller und dessen Vertreter Kapitän z.S. Karl von Restorff noch Kapitänleutnant Ernst Weizsäcker und elf Beamte tätig. Zudem gab es noch Unterstützungspersonal, wie Pförtner, Boten und Fahrer, in unbekannter Stärke. Siehe dazu Berliner Adressbuch, Bd 2, (26.1.2019). Während Weizsäcker mit Kriegsbeginn zur Flotte versetzt wurde, wechselte Kapitän z.S. Otto Lans als stellvertretender Abteilungschef ins Marinekabinett. Für das Zivilkabinett war das der Geheime Regierungsrat Abb. Das Marinekabinett war zu Kriegsbeginn neben dem Kabinettschef nur mit dem Geheimen Hofrat Maßmann und einem weiteren höheren Beamten sowie zwölf Unteroffizieren, unteren Beamten und Mannschaften im GrHQ vertreten. Ein Marineoffizier zur Unterstützung des Marinekabinettschefs war nicht vorgesehen. Als Stellvertretender Abteilungschef vertrat Kapitän z.S. Otto Lans den Kabinettschef in Berlin. Siehe Großes Hauptquartier, HStAS, M 660/05, Bü 61. Insgesamt waren vor Kriegsbeginn 1914 neben dem Chef des Militärkabinetts und dessen Vertreter sechs Offiziere, 20 höhere Beamte, elf untere Beamte und Angestellte sowie drei zur Dienstleistung kommandierte Beamte im Militärkabinett tätig. Siehe dazu Berliner Adressbuch, Bd  2, (26.1.2019).

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an Mitarbeitern ins GrHQ mit.173 Die unterschiedliche Herangehensweise spiegelt die dem Krieg geschuldeten Veränderungen der Aufgaben der Kabinette wider. Während das Zivilkabinett im Wesentlichen die gleichen Aufgaben zu erfüllen hatte wie im Frieden, mussten das Militär- und das Marinekabinett den kriegsbedingt erheblich angewachsenen Arbeitsaufwand im Ordens- und Personalwesen ohne größere personelle Aufstockung an zwei Standorten, im GrHQ und in den Stammhäusern in Berlin, bewältigen. Dies führte zwangsläufig zu Reibungsverlusten, zumal im Krieg das Ordenswesen im Marine- und Militärkabinett einen höheren Stellenwert als im Frieden einnahm und somit folgerichtig einen höheren Arbeitsaufwand zur Folge hatte. Zudem war das Ordenswesen ein Quell dauerhafter Kritik, die selbst nach dem Krieg nicht abriss. Da Wilhelm II. sich die Bearbeitung der Stellenbesetzungen sogar während des Krieges vorbehalten hatte, wurden diese folgerichtig von den Formationen des Marine- und Militärkabinetts im GrHQ bearbeitet.174 Neben der wohl berechtigten Kritik, durch die zu freizügige Vergabe der beiden Klassen des Eisernen Kreuzes sei dieser Orden entwertet worden, sahen sich beide Kabinette immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, höhere Stäbe oder Admiral- oder Generalstabsoffiziere bevorzugt auszuzeichnen.175 Auch die Personalführung der Offiziere stellte das Militär- und Marinekabinett vor neue Herausforderungen. Es vervielfachte sich zum einen nicht nur die Zahl der zu bearbeitenden Offiziere, zum anderen mussten die durch Tod und Verwundung verursachten Lücken geschlossen werden. Schon während und verstärkt nach Ende des Krieges wurde von verschiedenen Seiten teils harte Kritik an der Personalführung des Marine- und Militärkabinetts geäußert. So warf Generalleutnant Hugo Freiherr von FreytagLoringhoven Lyncker vor, er habe Offiziere der Garde, und hier besonders die des 1. Garderegiments zu Fuß, bevorzugt gefördert.176 Schwerer wog der Vorwurf, sowohl Müller als auch Lyncker habe Fronterfahrung und damit das Verständnis für die Anforderungen gefehlt, die dieser neuartige Krieg an die Führer auf allen Ebenen stellte. Ludendorff gestand dem Militärkabinett nach dem Krieg zwar zu, es habe gewissenhaft gearbeitet, er warf ihm aber gleichzeitig vor, es habe zu schematisch nach Friedensschablone gearbeitet und so die zum Sieg notwendigen starken Charaktere nicht ausreichend gefördert.177 »Gern«, so Ludendorff, »hätte ich gesehen, wenn an der Spitze des Militär-Kabinetts Männer gestanden hätten, die den Krieg scharf aus eigenem 173

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Lyncker begleiteten sein Vertreter, anfangs vier, wenige Tage nach Kriegsbeginn jedoch schon sieben Offiziere, acht Beamte und ein Botenmeister ins GrHQ. Siehe Großes Hauptquartier, HStAS, M 660/05, Bü 61. Zudem war Oberst Max Holland, Flügeladjutant König Wilhelms  II. von Württemberg, während des Krieges zur Dienstleistung in die Formation Militärkabinett im GrHQ kommandiert Später zog Lyncker noch weitere Mitarbeiter nach. Interessanterweise werden in den Stärkenachweisungen zwar die Vertreter der Marine, jedoch nicht die des Militärkabinetts ausgeführt. Ein nicht unerheblicher Teil des Militärkabinetts verblieb während des Kriegs am Dienstsitz in der Behrenstrasse 66 in Berlin. Geschäftsverteilung zwischen Marinekabinett im GrHQ und in Berlin 11.8.1914, BArch, RM 2/5, fol. 86. Vgl. Rodenberg, Militär-Kabinett, S. 58‑60. Vgl. Freytag-Loringhoven, Menschen, S. 275. Siehe Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen, S. 205.

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Erleben kannten, um den Bedürfnissen des Offizierkorps gerecht zu werden.«178 Bauer ging mit seiner Kritik an Lyncker noch einen Schritt weiter. Initiativlos und unflexibel, sei dieser nicht bereit gewesen, das Beförderungswesen den neuen Kriegsverhältnissen anzupassen. Die Beförderungsverhältnisse seien daher in einem unvorstellbaren Maß verknöchert gewesen. So seien einerseits rückständige ältere Generale nicht ihrer Dienstposten enthoben, andererseits fähige junge Offiziere nicht durch schnelle Beförderungen gefördert worden.179 Lyncker sei eben nur »ein emsiger, ergebener Fridolin« gewesen. Bauer war damit offensichtlich zu weit gegangen, denn Hindenburg stellte kurze Zeit später unmissverständlich klar, Lyncker habe immer im Einvernehmen mit der III. OHL gehandelt und ihn persönlich treffe keine Schuld.180 Der Chef des Marinekabinetts sah sich mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert. Ihm warfen viele Seeoffiziere gerade aus dem Bereich der Hochseeflotte nicht nur die Entfremdung von der Flotte, sondern auch eine völlig verfehlte Personalpolitik vor. Sein ehemaliger Mitarbeiter Weizsäcker übte noch heftigere Kritik an Müller. In einem Brief an seinen Vater sprach er ihm schon im Sommer 1915 die Fähigkeit zur Personalführung in der Marine unmissverständlich ab: »Er [Müller] ist Marinelaie und hat für seine wirkliche Aufgabe, die Personalien, zu wenig Kenntnisse.«181 Ebenso wie im Heer beklagten zahlreiche Seeoffiziere das Fehlen geeigneter Führer. Die Ursache sahen Flaggoffiziere, wie Vizeadmiral Walter Freiherr von Keyserlingk oder Bachmann, in einer verfehlten Personalentwicklung vor dem Krieg,182 daher habe die Flotte keine Führer, sondern nur Friedensadmirale.183 Die im Verlauf des Krieges weiter wachsende Kritik an der Personalführung Müllers im Seeoffizierkorps blieb auch der OHL nicht verborgen. So schrieb Bauer nach dem Krieg, der Chef des Marinekabinetts habe es verstanden, »das Marineoffizierkorps durch eine Auslese der Ungeeigneten in den höheren Stellen ›langsam, aber sicher‹ zu schädigen. Es herrschte über ihn eine geradezu maßlose Erbitterung in Marineoffizierkreisen. Alle Wahrheit und Selbständigkeit wurde unterdrückt.«184 Während Bauers ex ante geäußerte Anschuldigungen sicherlich im Großen und Ganzen auf Hörensagen beruhten, wogen die von Weizsäcker, einem von Müller persönlich ausgesuchten engen Mitarbeiter im Marinekabinett185, vorgebrachten Vorwürfe schwer, gingen sie doch weit über die im Heer am Chef des Militärkabinetts immer wieder geäußerte Kritik hinaus. Selbst Bauer sprach Lyncker nicht grundsätzlich die Fähigkeit zur Personalführung ab. Ob es Müller daran wirklich gänzlich mangelte, darf 178 179 180

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Ebd., S. 205 f. Siehe Bauer, Der große Krieg, S. 78. Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Moriz Freiherr v. Lyncker, S. 79, Zit. ebd. Brief Weizsäckers an seinen Vater vom 26.6.1915, Weizsäcker, Die Weizsäcker-Papiere, S. 165. Siehe Keyserlingk, »Der Admiralstab der Marine im Ersten Weltkrieg 1914‑1918«, BArch, N 161/19, fol. 92. Siehe Fischer, Admiral, S. 197. Bauer, Der große Krieg, S. 78. Weizsäcker war von 1912 bis zu Kriegsbeginn neben Trotha als Kapitänleutnant im Marinekabinett eingesetzt. Im Sommer 1911 hat Weizsäcker Marianne von Graevenitz, die Tochter des württembergischen Militärbevollmächtigten im GrHQ, geheiratet.

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allerdings bezweifelt werden. Sogar sein späterer Gegner Tirpitz hat in einem Qualifikationsbericht Müller als besonders geeignet für die Führung von Personal beurteilt.186 Sicherlich hat Müller jedoch, ebenso wie Lyncker, im Verlauf des Krieges den Kontakt zur Flotte oder Front noch mehr verloren, als dies schon in den letzten Friedensjahren der Fall gewesen war. So finden sich in den persönlichen Aufzeichnungen beider Kabinettschefs wenige bis gar keine Belege dafür, dass sie während des Krieges Kontakt zu jüngeren Offizieren hatten oder suchten, um sich ein Meinungsbild über die Personallage in diesem Bereich zu machen.187 Und sowohl das Marine- als auch das Militärkabinett hielten an dem im Frieden bewährten Verfahren, Personalentscheidungen auf Grundlage der zweijährlich zu erstellenden Qualifikationsberichte (Beurteilungen) zu treffen, auch während des Krieges fest.188 Dies hatte zur Folge, dass das Anciennitätsprinzip im Krieg weitgehend Bestand hatte. Daher konnte beispielsweise Mewes seiner Frau vorrechnen, wann mit seiner Beförderung zum Major zu rechnen war.189 Die flexible Förderung überragender Leistungen, eine Forderung der OHL, war in diesem System nur in Ausnahmefällen vorgesehen und führte nicht nur in den höheren Stäben, sondern ebenso bei Betroffenen immer wieder zu Unverständnis und Unmut. Müller und Lyncker überließen während des Krieges die Personalführung der Offiziere, mit Ausnahme der für höchste Verwendungen vorgesehenen Soldaten, immer mehr ihren Vertretern. Für das Militärkabinett war das Ulrich Freiherr Marschall genannt Greiff. Er erledigte alle alltäglichen Aufgaben des Ressorts und galt als äußerst kompetent und als graue Eminenz, die im Hintergrund des Militärkabinetts die Fäden zog. Es verwundert daher nicht, dass immer mehr Menschen außerhalb des GrHQ Marschall als den eigentlichen Chef des Militärkabinetts ansahen.190 Bethmann Hollweg sah in ihm sogar den »Herrn und Gebieter Lynckers«.191 Folgerichtig traf auch Marschall die Kritik an der Personalführung des Militärkabinetts. Er sei zwar kenntnisreich und fleißig, so Berg, aber eben kein Preuße,192 und er habe in Personaldingen nicht immer eine glückliche Hand gehabt.193 Auch wenn die Kritik an der Personalführung des Militärkabinetts in vielen Bereichen überzogen war, gilt es festzuhalten, dass es Lyncker und seinen Mitarbeitern nicht gelungen ist, ein flexibles, den Kriegsherausforderungen angemessenes Personalführungs- und Beförderungssystem zu entwickeln. Ob allerdings durch Bauers Vorschlag, die Offizierentlassungen und -beförderungen an die OHL abzugeben,194 die Lage ernsthaft verbessert worden wäre, darf bezweifelt 186 187 188

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Siehe Fischer, Admiral, S. 73 f. Siehe ebd., S. 198. In diesen Qualifikationsberichten wurden wie heute in der Bundeswehr Befähigung, Eignung und fachliche Leistung beurteilt. Sie dienten (und dienen) der Personalführung und Personalentwicklung. Zu den Qualifikationsberichten in der Marine siehe Fischer, Admiral, S. 44‑46, und für die Armee Rodenberg, Militär-Kabinett, S. 58‑60. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 6.3.1918, BArch, N 850/23. Siehe Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Moriz Freiherr v. Lyncker, S. 77. Zit. nach Afflerbach, Falkenhayn, S. 240. Marschall entstammte dem alten thüringischen Adelsgeschlecht der Greiff. Er hatte bis zu seiner Versetzung ins Kriegsministerium im 1. Badischen Leib-Grenadierregiment gedient. Siehe Berg, Pro Fide, S. 96. Siehe Bauer, Der große Krieg, S. 78.

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werden. Vermutlich ging es Bauer auch in dieser Frage wahrscheinlich wieder nur um den Machtzuwachs der OHL auf Kosten des Militärkabinetts. Dieser Prozess hatte mit Kriegsbeginn, als der Kaiser seine Kommandogewalt de facto an den Chef des Generalstabes des Feldheeres abgegeben hatte, erst schleichend begonnen, um während der Amtszeit der III.  OHL seinen Höhepunkt zu erreichen. Im Machtdreieck Militärkabinett, Kriegsministerium und OHL verlor das Militärkabinett zugunsten der OHL schnell an Boden. Ging doch die Aufgabe der militärischen Beratung des Monarchen schon nach kurzer Zeit auf den Chef des Generalstabes des Feldheeres über. Folgerichtig reduzierten sich Lynckers Aufgaben immer mehr auf die Personalauswahl und -führung der höchsten und allerhöchsten Dienstposten der Armee sowie auf die Tätigkeit eines gehobenen Privatsekretärs des Kaisers in Armeeangelegenheiten, der die Post Wilhelms II. erledigte und an den Vorträgen des Chefs des Feldheeres gemeinsam mit dem Kaiser teilnahm.195 So leitete Lyncker, in engem Einvernehmen mit seinem Stellvertreter, die Ablösung Moltkes d.J. ein und setzte Falkenhayn, von dessen Führungsfähigkeiten er überzeugt war, als Chef des Feldheeres durch. Er stärkte Falkenhayn folglich den Rücken, bis dessen Position unhaltbar geworden war. Bei der Entscheidung für Hindenburg und Ludendorff war er schon ein Getriebener. Eine eigene Wahl hatte Lyncker zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Während der Chef des Militärkabinetts im Machtgefüge zwischen dem Kaiser und der OHL kontinuierlich an Gewicht verlor und zu keiner Zeit auf die Operationsplanungen der OHL einwirkte, hatte der Chef des Marinekabinetts bis in den Sommer 1918 großen Einfluss auf die Führung der Marine. Der Grund für die gegensätzliche Entwicklung von Militär- und Marinekabinett lag in der unterschiedlichen Führungsstruktur von Marine und Armee. Mit dem Großen Generalstab hatte die Armee schon vor dem Krieg einen Planungsstab, der personell und materiell auf die Führung des Landkrieges in jeder Hinsicht vorbereitet war. Der Admiralstab, der zwar gemäß der von Tirpitz geschaffenen Friedensorganisation der Marine im Kriegsfall die Marinestreitkräfte führen sollte, war dafür weder materiell noch personell ausgestattet und im Gegensatz zum Generalstab auch nicht operativ vorbereitet.196 Das Führungsdilemma in der Marine wurde noch dadurch verstärkt, dass Wilhelm  II. den Oberbefehl über die Marine nicht an den Admiralstab abgab, sondern diesen, obwohl er dazu nicht in der Lage war, selbst im Krieg für sich beanspruchte. Damit fiel Müller als Bindeglied zwischen dem Kaiser auf der einen und dem Admiralstab, dem Kommando der Hochseeflotte und dem RMA auf der anderen Seite ungewollt eine Schlüsselstellung als persönlicher Berater des Kaisers in Marinefragen zu. Geradezu folgerichtig machten viele Seeoffiziere den »Verräter« Müller für alles verantwortlich, was in der Marineführung aus dem Ruder lief – sei es die Zurückhaltung der Flotte, die jahrelange Verhinderung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges197 sowie die ungeschickte Personalauswahl für Führungspositionen.198 Der Unmut, teilweise auch der gegen ihn gerichtete Hass, endzündete sich am heftigsten an 195

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Siehe Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Moriz Freiherr v. Lyncker, S. 76. Siehe Kapitel Kaiserliche Marine, S. 117 f. Zur Meinungsbildung Müllers bezüglich des uneingeschränkten U-Boot-Krieges siehe Fischer, Admiral, S. 223‑246. Siehe ebd., S. 185.

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der Frage eines einheitlichen Oberkommandos der Marine im Krieg. Müller habe nicht nur Tirpitz als Oberbefehlshaber verhindert, sondern, so die feste Überzeugung seiner Gegner, grundsätzlich die Bildung eines der OHL vergleichbaren selbstständigen Oberkommandos mit allen Mitteln hintertrieben.199 Es sei, so der Chef des Stabes der Hochseeflotte Konteradmiral Adolf von Trotha in einem Schreiben an Kapitän z.S. Magnus von Levetzow aus dem Sommer 1918, lediglich Müllers Widerstand gewesen, der dazu führte, »daß wir in dies[em] Kriege eine einheitl[iche] Führung nicht bek[ommen] haben. Tirpitz war s[einer] Z[eit] schon persönl[ich] zu schwach, um v. M[üller] niederzuboxen [...] Das ganze ist ein Kampf um die Machtstellung von v. M[üller].«200 Unstrittig hat Müller, der zu Kriegsbeginn noch Sorge dafür getragen hatte, dass Tirpitz als Gegenpol zu Bethmann Hollweg im GrHQ Platz fand, daran mitgewirkt, Tirpitz als Oberbefehlshaber der Marine zu verhindern. Empfand er es doch als geradezu unverschämt, wenn Tirpitz, auf dessen Drängen 1899 die Neuorganisation der Marine mit der Machtsteigerung des RMA zulasten des Admiralstabes erfolgt war, nun wieder ein Oberkommando unter seiner Führung forderte.201 Mit dieser Wahrnehmung stand er nicht allein. »Tirpitz«, so Admiral Wilhelm von Lans, »dieser Intrigant, erntet, was er gesäet hat. Um herrschen zu können, hat er d[ie] Marine in 5  Teile geteilt u[nd] diese sind jetzt unser Unglück.«202 Die Masse der durch Tirpitz über Jahre hinweg geprägten Seeoffiziere schloss sich diesem Urteil jedoch nicht an. In ihren Augen avancierte Müller, der schon vor dem Krieg unter anderem wegen seines Kampfes gegen den übermäßigen Alkoholkonsum im Seeoffizierkorps unbeliebt gewesen war, im Krieg zum meist gehassten Mann in der Marine. Sie verkannten dabei, dass das Verhältnis zwischen Wilhelm II. und Tirpitz zerrüttet war und der Kaiser gar nicht daran dachte, ihm das Oberkommando zu übertragen.203 Müller, der sich in der Frage des Oberbefehls über die Marine immer schützend vor seinen Monarchen stellte und davon überzeugt war, eine Neuorganisation der Marineführung könne, wenn überhaupt, erst nach dem Krieg erfolgen,204 konnte dem Druck seitens des Kommandos der Hochseeflotte auf Dauer nicht standhalten. Im Sommer 1918 kam es zur Bildung der Seekriegsleitung im GrHQ, gegen die er sich bis zum Schluss wehrte.205 Müller hatte als Chef des Marinekabinetts unbestritten eine starke Position in der engeren Entourage des Kaisers. Auch wenn er keinen unmittelbaren Einfluss auf die Seekriegführung ausübte, erwartete der Kaiser, dass Müller ihm seine Ansichten zur Seekriegführung vortrug. Vor allem aber forderte er, in seinem Sinne zwischen Admiralstab und Reichskanzler zu vermitteln und Einvernehmen in allen kritischen Fragen herzustellen.206 Müller saß daher oft im wahrsten Sinn des Wortes zwischen den Stühlen: auf der einen Seite der Kaiser, der auf 199 200 201 202 203 204 205

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Siehe ebd., S. 216‑221. Trotha an Levetzow vom 12.8.1918, zit. nach ebd., S. 220. Siehe ebd., S. 219. Brief Lans an Levetzow vom 22.12.1915, zit. nach ebd., S. 219. Siehe Kapitel Kaiserliche Marine, S. 118 f. Vgl. Fischer, Admiral, S. 217. Siehe Kriegstagebucheintrag Weizsäckers vom 8.8.1918, Weizsäcker, Die WeizsäckerPapiere, S. 272. Vgl. Brief Müllers an Ingenohl vom 16.1.1915, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 81.

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seinem Oberbefehl beharrte und einen Ausgleich zwischen Reichskanzler und Marineführung verlangte, und auf der anderen Seite viele Seeoffiziere, die einen aggressiveren Kurs einforderten. Dieses Dilemma Müllers spiegelte sich in seiner Personalführung wider. So musste er schon wenige Tage nach der Ernennung Bachmanns zum Admiralstabschef erkennen, dass dieser seine Rolle als Admiralstabschef offensiver vertrat als sein Vorgänger. Denn Bachmann akzeptierte nicht, dass er, als der für die Seekriegführung Verantwortliche, durch den Chef des Marinekabinetts beim Kaiser vertreten werde: »Sie [die wichtigen Fragen der Seekriegführung] durch den Kabinettschef bei S.M. vertreten zu lassen, ist weder ressortmäßig richtig, noch empfiehlt es sich bei der persönlichen Eigenart unseres Kabinettschefs, der alles andere tut, als die Interessen der Marine zu vertreten. Er hat während des bisherigen Verlaufs des Krieges de facto die Marine geleitet. Das war bei dem Gegensatz zwischen dem Chef des Admiralstabes und dem Staatssekretär und bei der Eigenart des bisherigen Admiralstabschefs möglich. Es hat aber m.E. der Marine zum Verderben gereicht. Diese Kabinettswirtschaft dulde ich aber nicht. Wo es sich um die wichtigen Dinge handelt, darf nur der gesetzmäßig bestallte Berater des Kaisers diesem die Entscheidungen unter Vorlegung der Gründe unterbreiten.«207 Als der Tirpitz nahestehende Bachmann in der Frage des uneingeschränkten U-Boot-Krieges völlig kompromisslos die politischen Einwände der Reichsleitung ignorierte, ersetzte ihn Müller durch Holtzendorff.208 Dieser war nicht nur ein erklärter persönlicher Gegner Tirpitz’, sondern verstand anfänglich die mit dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg verbundenen Bedenken des Reichskanzlers. Tirpitz und seine Anhänger schäumten vor Wut209, zumal Holtzendorff als enger Vertrauter Müllers galt und mit diesem entfernt verwandt war.210 Der unberechtigte Vorwurf der Vetternwirtschaft stand unausgesprochen im Raum. Vielen in der Marine, nicht nur Bachmann, war die Machtfülle Müllers ein Dorn im Auge. Mit Fortdauer des Krieges häuften sich daher die Anschuldigungen gegen den Chef des Marinekabinetts. So sah Bachmann in Müller den »Krebsschaden der Marine«211, nach dessen Pfeife er tanzen müsse212, denn »Müller ist der mächtigste Mann in der Umgebung des Kaisers, dieser vertraut ihm blind und jeder, der beim Kaiser etwas [...] will, steckt sich hinter Müller.«213 Admiral Hermann Bauer bewertete Müller als den gefährlichsten Berater des Kaisers,214 und Tirpitz schrieb seiner Frau: »Er [Müller] führt beinahe die Staatsgeschäfte, jedenfalls die der Marine, und glaubt es dabei selber nicht.«215 Paradox ist, dass Müllers Gegner ihn einerseits als mächtigen und einflussreichen Mann attackier207 208 209 210

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Tagebucheintrag Bachmanns vom 17.2.1915, BArch, MSg 1/764. Vgl. Kriegstagebucheintrag Müllers vom 1.9.1915, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 126. Vgl. Kriegstagebucheintrag Müllers vom 4.9.1915, ebd. Durch seine Heirat mit Louise von Monbart war Müller entfernt mit Holtzendorff verwandt. Zit. nach Fischer, Admiral, S. 189. Tagebucheintrag Bachmanns vom 9.6.1915, BArch, MSg 1/764. Zit. nach Fischer, Admiral, S. 163. Vgl. Bauer, Reichsleitung, S. 16. Brief Tirpitz an seine Frau vom 2.4.1915, Tirpitz, Erinnerungen, S. 465.

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ten, ihn andererseits jedoch als Schwächling und Feigling und Höfling verunglimpften, der die Interessen der Marine nicht wahrnehme.216 Ein Vorwurf gegen Müller wog besonders schwer. Seine Unterstützung Bethmann Hollwegs, der bei etlichen Seeoffizieren wegen seiner ablehnenden Haltung zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg als Flaumacher und Verhängnis für Deutschland verschrieen war, bewerteten diese schlicht als Verrat. Müller hatte nach ihrer Überzeugung gegen die Interessen der Marine gehandelt und den Marinekorpsgeist verletzt. Auch außerhalb der Marine war Müller nicht unumstritten. Nach Berg hatte er zwar keinen schlechten Charakter, vertrat aber nicht die von ihm als richtig erachteten ultrakonservativen Ansichten. Zudem, und hier wird die Perfidie Bergs deutlich, sei Müller kein Preuße, eigentlich noch nicht einmal ein Deutscher. Er komme aus Schweden und sei auch dort erzogen worden.217 Mutius dagegen hielt Müller für einen ruhigen, sachlichen, denkenden Mann, dem jedoch der »höhere Funke« fehle und der als streng religiöser Mensch zum Pazifismus neige.218 Während Müller und Lyncker mit kriegsbedingten Problemen in ihren Kabinetten kämpften, lief im Zivilkabinett der Dienst fast genauso reibungslos wie im Frieden weiter. Dazu trug sicher auch bei, dass Valentini lediglich mit einem Sekretär ins GrHQ übergesiedelt war. Die eigentlichen Personalangelegenheiten wurden, quasi unter Friedensbedingungen, weiter am Hauptsitz bearbeitet. Valentinis Rolle unterschied sich grundsätzlich von der seiner Kollegen, da er nicht mit der Kriegführung befasst war. Solange Bethmann Hollweg Reichskanzler war, unterstütze er diesen, da er keine Alternative zu ihm sah. Dabei war er alles andere als ein Kanzler-Demokrat, sondern überzeugter Monarchist, der jederzeit für die Wahrung der Kronrechte des Monarchen einstand. Anschuldigungen, Valentini sei ein Liberaler, wies Lyncker mit allem Nachdruck zurück. Er erklärte im Gegenteil: »Daß Valentini freisinnig ist, ist natürlich Unsinn; im Gegenteil, er wird dafür sorgen, daß der Kanzler nicht weiter nach links abrutscht. Die Kommandogewalt des Kaisers wird mit allen Mitteln vertheidigt werden.«219 Valentini wurde, nachdem der Reichskanzler und der Staatsekretär des Auswärtigen Amtes das GrHQ verlassen hatten, einmal mehr zum wichtigen Bindeglied im GrHQ zur Politik.  Wie schon vor dem Krieg entwickelte Valentini, ebenso wie seine beiden Mitkabinettschefs, keine eigenständige politische Richtung. Er lehnte sowohl eine Militärdiktatur als auch eine Kanzlerschaft Tirpitz’ oder gar eine erneute Kanzlerschaft Bülows ab. Er sah sich als Sachwalter des von Bismarck geschaffenen Reiches, in dem der Kaiser, über der politischen und militärischen Leitung stehend, die Spitze bildete und für die Einheitlichkeit der Kriegführung Sorge zu tragen hatte.220 Er unterstützte daher, auch wenn er nicht in allem mit Bethmann Hollweg einverstanden war, dessen Politik.221 Mit dieser Auffassung stand er im GrHQ mit Fortdauer des Krieges weitgehend alleine. Lediglich seine Kabinettskollegen Treutler und Reischach teilten seine Überzeugung. Während 216 217 218 219

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Siehe Fischer, Admiral, S. 189. Siehe Friedrich v. Berg als Chef des Geheimen Zivilkabinetts 1918, S. 104. Siehe Mutius, Lebenserinnerungen, BArch, N 195/2, S. 187. Brief Lynckers an seine Frau vom 18.5.1917, Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr, S. 495. Siehe Schmidt-Bückeburg, Das Militärkabinett, S. 271. Siehe König, Wie mächtig war der Kaiser?, S. 123.

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Valentini vonseiten der III. OHL vehement angegriffen wurde, machte der Chef des Zivilkabinetts auf andere, etwa auf Riezler, einen sehr guten Eindruck. Er sei »fest und anständig mit angenehmer Komik«222 und einer der wenigen, der die im Inneren des Kaiserreichs ablaufenden Prozesse erkenne.223 Mutius wiederum sah Valentini zwar als höchst anständigen Charakter, dem aber in noch stärkerem Maße als Müller Genialität gefehlt habe. Daher hätte »eine ganz andere Persönlichkeit [auf die Stelle des Chefs des Zivilkabinetts] gehört«.224 Nach Valentinis durch die OHL Mitte Januar 1918 erzwungenen Rücktritt ernannte der Kaiser auf Druck der OHL Friedrich von Berg zum Chef des Zivilkabinetts. Damit übernahm ein preußisch-konservativer Beamter, der ganz auf der politischen Linie der III. OHL lag, das Amt des Chefs des Zivilkabinetts. Er war so preußisch, dass er allen Nichtpreußen im Kaiserreich kritisch gegenüberstand. Den Vorwurf, nicht borrussisch zu sein, erhob der Wirkliche Geheime Rat nicht nur gegen Marschall und Müller, sondern auch gegen Reischach. Dieser komme aus Süddeutschland, sei liberal und stehe unter dem Pantoffel seiner jüdischen Mutter.225 Allen Süddeutschen unterstellte er grundsätzlich, liberal zu sein. Bergs Wirken und seine Persönlichkeit wurden folglich vonseiten der OHL positiv und von seinen politischen Gegnern negativ bewertet. So hielten nicht nur Hindenburg und Ludendorff große Stücke auf Berg, sondern auch der Verbindungsoffizier der OHL beim Kaiser, Oberstleutnant Alfred Niemann, charakterisierte ihn »als einen treuen uneigennützigen Berater«226 des Kaisers. Anders Müller: Er beschrieb ihn als »einen wirksamen Vertreter der Firma H[indenburg] – L[udendorff].«227 Auf Richard von Kühlmann, vom 5. August 1917 bis 9. Juli 1918 Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, machte er den Eindruck »eines protestantischen Jesuiten von stark deutschnationaler Färbung«, der der Totengräber der Monarchie sei.228 Wilhelm II. erblickte in dem ihm letztlich aufgezwungenen Berg trotzdem einen treuen Freund, den er duzte und von dem er erwartete, dass er das tue, was er ihm sage.229 Hier irrte der Kaiser, wie so oft. Berg verstand, im Gegensatz zu seinem Vorgänger und zu Müller sowie Lyncker, seine Aufgabe nicht als eine politisch beratende, sondern griff aktiv in die Politik ein. Er betrieb bis zu seiner Entlassung konsequent eine erzkonservative Politik im Sinn der III. OHL. Hindenburg und Ludendorff hatten nun ihren Mann im Triumvirat der Kabinettschefs. Dieser wurde sogleich in ihrem Sinne aktiv. Es gelang ihm, zu Lyncker ein gewisses Vertrauensverhältnis aufzubauen, was ihn jedoch nicht daran hinderte, an dessen späterer Entlassung tatkräftig mitzuwirken.230 Der Chef des Militärkabinetts hielt ihn zwar für nicht so bedeutend wie Valentini, aber Berg, so Lyncker an seine Frau, sei »ein sehr liebenswürdiger ernster Mann von

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Tagebucheintrag Riezlers vom 11.7.1915, Riezler, Tagebücher, S. 283. Siehe Tagebucheintrag Riezlers vom 22.11.1916, ebd., S. 384. Mutius, Lebenserinnerungen, BArch, N 195/2, S. 187. Siehe Fiedrich v. Berg als Chef des Geheimen Zivilkabinetts 1918, S. 105. Niemann, Kaiser, S. 97. Brief Müllers an Valentini vom 30.3.1918, BArch, N 1015/213, fol. 6. Kühlmann, Erinnerungen, S. 548. Siehe Tagebucheintrag Müllers vom 11.11.1917, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 332. Siehe Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Moriz Freiherr v. Lyncker, S. 96.

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höfischer Glätte, und dabei bester Gesinnung.«231 Der Hinweis auf die »beste Gesinnung« Bergs bringt die politische Vorstellungswelt Lynckers zum Ausdruck, der eher der ultrakonservativen Linie Bergs zuneigte als den liberal-konservativen Vorstellungen Müllers. Es verwundert daher nicht, dass Müller Berg nicht zugetan war. Der Chef des Marinekabinetts sah Berg als ein willfähriges Instrument der III.  OHL und nicht als Stütze, sondern als Gegner der Zivilregierung. Er war sich mit Grünau einig, seit Berg Valentini beerbt habe, herrsche ein anderer Ton in der näheren Umgebung des Kaisers: »Die Randbemerkungen Sr. Majestät sind fortgesetztes Rasseln mit dem Säbel, Verachtung der Diplomaten und Antisemitismus.«232 Der Kaiser sei eben nur noch von Scharfmachern umgeben und zunehmend isoliert.233 Offensichtlich erfüllte Berg seinen Auftrag gut. Es war ihm nicht nur gelungen in die Phalanx der Kabinettschefs einzudringen, sondern die von der III.  OHL gewünschte Beeinflussung des Kaisers in ihrem Sinne zeitigte augenscheinlich Erfolg. Aber nicht nur innerhalb des GrHQ wurde Berg aktiv. Er betrieb die Ablösung des Reichskanzlers Georg Graf von Hertling und wollte diesen durch einen Militär mit diktatorischen Vollmachten ersetzen.234 Während ihm die Ablösung Hertlings nicht gelang, setzte er die des seit den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk in der III.  OHL als zu weich verschrienen Kühlmann durch. Dazu hatte er den Kaiser im Vorfeld geschickt beeinflusst, indem er konsequent Stimmung gegen den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes gemacht hatte. Die Toten würden auferstehen, so Berg gegenüber dem Kaiser auf dem Höhepunkt der Michaeloffensive, wenn Kühlmann die Friedensverhandlungen im Westen führe.235 Diese Beispiele zeigen dreierlei: erstens, welch große Möglichkeiten der Beeinflussung Wilhelms II. die Dienstposten der Chefs der Kabinette boten; zweitens, wie geschickt Berg seinen Einfluss auf den Kaiser nutzte; und drittens, dass die erklärten Gegner der Kabinettswirtschaft genau das taten, was sie Lyncker, Valentini und Müller immer vorgeworfen hatten: Sie beeinflussten den Kaiser in ihrem Sinne. Es ging ihnen also nie um eine Reform des Kabinettswesens, sie wollten lediglich den ihrer Überzeugung nach falschen Einfluss auf den Kaiser durch ihren vermeintlich richtigen ersetzen. Im GrHQ wurden die Kabinettschefs immer stärker gegen ihren Willen von der Hofhaltung des Kaisers und seiner Gemahlin vereinnahmt. Müller, Valentini und Lyncker fanden dies unerträglich. »Wahrhaftig,« so Lyncker gegenüber Valentini, »es giebt nur noch eine Sklaverei auf Erden, und das ist die höfische.«236 Eingesperrt im goldenen Käfig des Allerhöchsten Gefolges, entfremdeten sich die Kabinettschefs zusehends vom Kriegsalltag und von der politischen und militärischen Realität außerhalb des GrHQ. Lyncker etwa, der alle Routineaufgaben Marschall übertragen hatte, verlor ein Stück weit den Kontakt zu seinen eigenen 231

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Brief Lynckers an seine Frau vom 7.2.1918, Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr, S. 550. Tagebucheintrag Müllers vom 26.2.1918, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 359. Tagebucheintrag Müllers vom 10.2.1918, ebd., S. 351. Siehe Fiedrich v. Berg als Chef des Geheimen Zivilkabinetts 1918, S. 53 sowie S. 144, hier Anm. 11. Siehe Tagebucheintrag Müllers vom 29.3.1918, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 367. Brief Lynckers an Valentini vom 3.8.1918, Kaiser Wilhelm  II. als Oberster Kriegsherr, S. 580.

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Mitarbeitern. So gestand er Mitte Dezember 1917 seiner Frau, er habe auf einem gemeinsamen Abendessen erstmals einige seiner Herren näher kennengelernt.237 Auch wenn die Kabinettschefs sich untereinander schätzten und respektierten, waren sie sich der Schwächen ihrer Kollegen sehr wohl bewusst. Beispielsweise erkannte Müller durchaus, dass Lyncker seit dem Tod seiner beiden Söhne ein gebrochener Mann war und damit an Durchsetzungsfähigkeit verloren hatte: »Er wird ebensowenig sich dafür einsetzen, den Kaiser zur Erfüllung seiner Pflichten zu zwingen wie der Hofnarr [...] Plessen.«238 Der starke Einfluss, den die Kabinettschefs unzweifelhaft auf den Kaiser hatten, schwand in dem Maße, in dem der Kaiser an Macht einbüßte. Mit Einrichtung der III. OHL war der Machtverlust schließlich unumkehrbar. Schon bei der Ernennung Hindenburgs und Ludendorffs war Lyncker ein Getriebener. Valentini konnte dann die Absetzung Bethmann Hollwegs nicht verhindern. Auch er büßte seinen Einfluss ein, je stärker die OHL in sein ureigenes Betätigungsfeld, die Innenpolitik, eingriff. Müller schließlich war dem Druck der führenden Köpfe des Kommandos der Hochseeflotte nicht mehr gewachsen, die, die OHL vor Augen, eine einheitliche Seekriegführung durchsetzten. Mit Fortdauer des Krieges verschoben sich daher die Aufgaben Müllers, Lynckers und Valentinis. Die Führung ihrer Kabinette sowie die militärische oder innenpolitische Beratung des Monarchen traten immer mehr hinter die Aufgaben als Höfling oder Generaladjutant des Kaisers zurück. Die Betreuung des Kaisers avancierte im Kriege von einer Neben- zur Hauptaufgabe und band einen erheblichen Teil ihrer Arbeitszeit. Parallel dazu verschlechterte sich ihre Auffassung über ihren Monarchen und die Hofgesellschaft kontinuierlich. So fühlte sich Müller von der Hofgesellschaft, von ihrer unterwürfigen und devoten Haltung zum Kaiser geradezu abgestoßen. Im Sommer 1916, als Soldaten der Stabswache einen Reitweg für den Kaiser anlegten, anstatt in der Heuernte zu helfen, notierte er verbittert über die Höflinge, die dies nicht verhindert hatten, in sein Tagebuch: »Cäsarenwahn und Sklavenseelen. Es ist ein Skandal, daß niemand den Kaiser von solchem Unfug abhält.«239 Wenige Wochen später stellte er nach einem gemeinsamen Ausritt mit einigen Hofangehörigen verärgert fest: »Zwischen diesen Hofmenschen und mir klafft ein unüberbrückbarer Gegensatz in den ganzen Auffassungen des Lebens. Ich werde künftig alleine reiten.«240 Ein Vorsatz, der nicht lange Bestand hatte, denn auch wenn Müller sich selbst nicht als Höfling betrachtete, lebte er im Allerhöchsten Gefolge und ließ somit den Kontakt zu den anderen Mitgliedern dieses Kreises nie abreißen. Auch Lyncker konnte mit längerer Kriegsdauer den vielfältigen Ablenkungen des Kaisers von seinen eigentlichen Aufgaben und der Hofgesellschaft wenig abgewinnen. Wo immer möglich, versuchte er sich dem höfischen Treiben zu entziehen. Ironisch schrieb er seiner Frau am 7. August 1916 aus Bad Homburg: »Es [dem Kaiser] gefällt uns zu gut hier mit Landpartien und anderen Allotrien. Ich drücke mich natürlich vor Allem [sic], und wir [die Kabinettschefs] ärgern uns krank ob dieser Manieren.«241 237 238 239 240 241

Brief Lynckers an seine Frau vom 10.12.1917, ebd., S. 540. Kriegstagebucheintrag Müllers vom 19.3.1917, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 12. Kriegstagebucheintrag Müllers vom 26.6.1916, ebd. Kriegstagebucheintrag Müllers vom 8.9.1916, ebd. Brief Lynckers an seine Frau vom 7.8.1916, Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr, S. 408.

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Lynckers Bemerkungen ergeben dann einen tieferen Sinn, wenn sie durch die Tagebuchaufzeichnungen Müllers vom selben Tag ergänzt werden: »Empörung über den Kaiser, der sich stundenlang mit dem Bau eines Brunnentempels in [Bad] Homburg beschäftigt, für den ein Kriegslieferant Geld gestiftet hat, und nachmittags eine Landpartie macht nach der Saalburg [...], und der ablehnt, einen Bericht Hindenburgs über die Lage im Osten zu lesen, ›weil er keine Zeit habe‹.«242 Wie frustriert und ein Stück weit auch verzweifelt Müller angesichts der bedrohliche Lage an der Ostfront und eines eventuellen Kriegseintritts Rumäniens aufseiten der Entente über das Verhalten seines Monarchen war, zeigt die Tatsache, dass er die Kaiserin, deren Hofhaltung im GrHQ er vehement ablehnte, um Unterstützung bat: »Abends mit Freiherr von  Spitzemberg, Kabinettschef der Kaiserin, gesprochen und ihn dringend ersucht, auf die Kaiserin dahin einzuwirken, daß sie den Kaiser von einem längeren Aufenthalt in [Bad] Homburg abhält. Vielleicht begriffe die Kaiserin etwas mehr als der Kaiser den Ernst der Lage.«243 Der nachlassende Respekt gegenüber ihrem Monarchen wegen dessen schlechter Arbeitsmoral, seiner Stimmungsschwankungen, seiner oberflächlichen Schwätzereien und seines ihrer Überzeugung nach im Krieg völlig unangemessen Lebensstils verärgerte die Kabinettschefs sehr. Diese Verärgerung wird dann verständlich, wenn man sich vor Augen führt, wie Lyncker, Valentini und Müller ihre Aufgabe sahen: »Die Förderung des Dienstes«, so Müller, »unter Beobachtung strenger Gerechtigkeit, unter möglichst sorgfältiger Respektierung der Ressortgebiete und unter Wahrung der Autorität und des menschlichen Ansehens des Monarchen.«244 Wie sollte jedoch die Autorität und das Ansehen eines Monarchen gewahrt werden, der, so Lyncker, »sich selbst in vielen Dingen ausschaltet und seine Bequemlichkeit allem anderen vorzieht. Das hat er aber immer gethan, auch schon vor dem Kriege. Er ist eben sehr schwach und stark nur im Vertreten seiner persönlichen Privat-Interessen, vor Allem [sic] eines behaglichen möglichst ungestörten Daseins«.245 Hin- und hergerissen zwischen ihrer Treue zu ihrem Monarchen und der Verachtung, die sie im Laufe des Krieges gegenüber seinem Verhalten und auch seiner Person empfanden, sowie der Erkenntnis, dass Wilhelm  II. weder die Arbeitsmoral noch die intellektuellen Fähigkeiten zu der im Krieg notwendigen militärischen und politischen Führung des Reiches besaß, sahen sie nur den Weg, ihn im GrHQ zu halten und zumindest nach außen den Schein der Autorität des Kaisers zu wahren. Letztlich errichteten sie, da Wilhelm alle ihre wiederholten Versuche, sich stärker zu engagieren und z.B. regelmäßig nach Berlin zu fahren, kategorisch ablehnte, einen Schutzschirm, aber keine Mauer um den Kaiser, um ihn vor sich selbst zu schützen und damit langfristig den Bestand der Monarchie sicherzustellen, aber auch, um ihn vor in ihren Augen »unerwünschten« Einflüssen zu bewahren. In diesem Sinne haben alle drei Kabinettschefs – vielleicht haben sie sich auf den langen gemeinsamen Spaziergängen sogar abgesprochen – den Kaiser beeinflusst. Letzten Endes sahen sich politisch nicht verantwortliche und politisch nicht kontrollierbare Offiziere wie Lyncker und Müller sowie der Beamte 242 243 244 245

Kriegstagebucheintrag Müllers vom 7.8.1916, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 209. Ebd. Müller, Die Kabinette, S. 9. Brief Lynckers an seine Frau vom 19.5.1917, Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr, S. 496.

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Valentini gezwungen, den Kaiser zu Entscheidungen zu veranlassen, die ein ureigenes Feld der politischen Führung waren. Diese Aufgabe überforderte sie zusehends, zumal sie fast täglich das Scheitern ihrer Bemühungen erkennen mussten. Von einer Nebenregierung kann jedoch nicht die Rede sein, denn ihr Einfluss auf den Kaiser schwand im Laufe des Krieges kontinuierlich. Mit Errichtung der III. OHL unter Hindenburg und Ludendorff erwuchs ihnen zudem ein Gegner, dem sie auf Dauer nicht gewachsen waren. Die Verärgerung über das Verhalten Wilhelms II. schlug allmählich fast schon in offene Renitenz gegenüber der Hofgesellschaft um. Lyncker, der als schroffer, aber aufrichtiger Charakter bekannt war, verlor im Sommer 1918 endgültig die Contenance. Gesundheitlich angeschlagen und seelisch gebrochen durch den Tod zweier Söhne, ging er geradezu auf Konfrontationskurs mit dem Kaiser. Mit seiner Abneigung gegenüber dem höfischen Gehabe hielt er nicht mehr hinter dem Berg und auf den Kaiser, den er mittlerweile als großspurigen Feigling verachtete, reagierte er immer schroffer.246 Als dieser die unfreundliche Art Lynckers nicht mehr ertrug, ließ er ihn – aus gesundheitlichen Gründen! – am 19.  Juli 1918 ablösen.247 Dass die Kabinettchefs im Laufe der Zeit angesichts ihrer Aufgaben resignierten, ist also kein Wunder. Erstaunlich ist dagegen, mit welch deutlichen Worten sie gegenüber Wilhelm II. ihre Meinung vertraten und ihn, wenn auch meist vorsichtig, kritisierten; erstaunlich ist gleichfalls, wie lange der Kaiser das Verhalten seiner Kabinettschefs ertrug. Andere inner- und außerhalb des GrHQ sahen die »Kamarilla« Lyncker, Müller und Valentini aus unterschiedlichen Gründen als ängstliche Pessimisten und große Gefahr für das Vaterland. Vor dem Krieg vom »linken« demokratischen Lager als nicht vom Parlament zu kontrollierende und nicht verfassungskonforme Nebenregierung angeprangert,248 erfolgten im Krieg die verbalen Angriffe und Intrigen gegen die Kabinettswirtschaft und die Kabinettschefs, ab 1916 in Verbindung mit der III. OHL oder, im Fall des Marinekabinetts, vonseiten des Kommandos der Hochseeflotte aus dem ultra-konservativen nationalistischen Lager. Alle Anschuldigungen gipfelten in dem Vorwurf, die Kabinettschefs würden dem Kaiser nicht nur unerwünschte Informationen über die Lage an der Front und in der Heimat vorenthalten, sondern ihn mit eigenen Informationen füttern, um ihre Macht zu sichern und eigene Interessen durchzusetzen. Diese Kritik war nicht neu, neu war aber die Argumentation. Hieß es doch nun von Gegnern der Kabinettschefs, als Kanzler-Demokraten würden sie ihre Aufgabe, den Kaiser vor parlamentarischen Anfeindungen zu schützen, nicht nur nicht nachkommen, sondern, im Gegenteil, diese sogar befürworten. Im Kern ging es bei der Kritik immer darum, dass die Kabinettschefs als »Club der Flaumacher« den Kaiser in eine falsche politisch-liberale Richtung lenken und so einerseits den Sieg im Krieg, andererseits sogar den Bestand der Monarchie gefährden würden. Die Kritiker sahen den Kaiser quasi in Isolationshaft. Sprach Tirpitz noch von einer »Stuckmauer«, die Müller um den Kaiser errichte, warf der Kronprinz den Kabinettschefs vor, sie hätten eine chinesische Mauer um seinen Vater erbaut oder 246 247 248

Siehe Afflerbach, Einführung, S. 42. Sein Nachfolger bis Kriegsende wurde sein Vertreter Marschall. Siehe dazu Fischer, Admiral, S. 48.

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»umstrickten ihn wie die Boa Constrictor ein Kaninchen«249, um ihn von der Außenwelt abzuschotten. Seine Abneigung gegenüber den Kabinettschefs und ihrer unsäglichen Kabinettswirtschaft gipfelte gegenüber Hopman in den Worten: »Man soll sich die Kerle mal ansehen, Lyncker, Treutler, Müller, Valentini, alles weiche Gesellen ohne Rückgrat, stets bemüht, dem Kaiser alle Unannehmlichkeiten und schwierige Entschlüsse zu ersparen [...] Sollte ich mal zur Regierung kommen, dann fliegt die ganze Gesellschaft mit einem Ruck heraus.«250 Die drei Kabinettschefs waren nicht die starken Charaktere, wie sie immer wieder gefordert wurden. Lyncker, so Mutius, habe »der Zug ins Geniale« und Valentini und Müller der »höhere Funke« gefehlt.251 So mangelte es Lyncker, der von allen als charakterfester Mann angesehen wurde und vor dessen energischem Auftreten der Kaiser sich wohl ab und an fürchtete, als »Nursoldat« bestimmt an Intellektualität, um die politischen und militärischen Verhältnisse zu verstehen. Müller kann man diese jedoch nicht absprechen. Dass allen dreien offensichtlich die Initiative fehlte, lag gewiss in der Tatsache begründet, dass der Kaiser sich mit keinen Mitarbeitern mit überragender intellektueller Begabung umgeben wollte, die ihm Ärger bereiteten. Aber Dummköpfe, wie Riezler252 und so manch andere behaupteten, und Duckmäuser, wie so viele Höflinge, waren die Kabinettschefs, wie Aufzeichnungen Müllers und Lynckers überzeugend belegen, nicht. Zudem waren sie, entgegen allen anderslautenden Vorwürfen, der Monarchie und ihrem Monarchen treu ergeben. Mit der Errichtung der III.  OHL trat der Kampf gegen die Kabinettchefs und damit um die Möglichkeit, den Kaiser im eigenen Sinne zu beeinflussen, in eine neue Phase. Denn einzig darum ging es letztendlich. Hindenburg und Ludendorff begnügten sich nicht mit der Führung der Operationen des Heeres. Sie sahen als Voraussetzung für einen Sieg die völlige Mobilisierung aller personellen und materiellen Ressourcen an. Dies musste nach ihrer Überzeugung mit einer starken politischen und militärischen Führung einhergehen, die sich vorbehaltlos für einen Siegfrieden einsetzen sollte. Zur Ausschaltung der in keiner Weise basisdemokratischen Kabinettschefs war ihnen jedes Mittel recht. Müller und Valentini seien schwache Charaktere und Kanzler-Demokraten, und Müller sei eigentlich gar kein Deutscher, wie es auch schon Berg zum Ausdruck gebracht hatte. Die Diffamierung endete auch nicht nach dem Krieg, als Schuldige für das Desaster gesucht wurden. Der ehemalige Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow, der im Krieg zu seinem Leidwesen keine leitende Funktion innehatte, ließ weder an Lyncker noch an Valentini oder Müller ein gutes Haar. Valentini, so Bülow, hätte über Jahre seine Unbedeutendheit unter Beweis gestellt und Lyncker sei zwar ein tüchtiger Offizier und tadelloser Ehrenmann, aber ohne jegliche Initiative gewesen. Mit Müller ging er am härtesten ins Gericht. Dieser sei ein taktvoller und liebenswürdiger, jedoch unzuverlässiger Mensch und dem Kaiser gegenüber völlig unterwürfig gewesen. »Dabei innerlich ein unklarer, pietistisch angehauchter Pazifist, was seinem Gemüt vielleicht Ehre machte, ihn aber nicht zum Vertreter des brillan249 250 251 252

Zit. nach Afflerbach, Einführung, S. 51. Herre, Kronprinz Wilhelm, S. 57. Mutius, Lebenserinnerungen, BArch, N 195/2, S. 187. Siehe Tagebucheintrag Riezlers vom 23.12.1914, Riezler, Tagebücher, S. 235.

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ten Geistes der Entschlossenheit und Handlungsfreiheit qualifizierte, der unsere Marine auszeichnete.«253 Die mit schweren persönlichen Diffamierungen verbundenen Angriffe führten zwischen Müller und Valentini am Ende zu einem kollegialen, sogar fast freundschaftlichen Verhältnis, obwohl sie sehr wohl unterschiedliche politische Meinungen vertraten.254 Zu dieser Entwicklung trug wohl ebenfalls bei, dass sie immer mehr unter der Nähe des Kaisers und dessen Hofhaltung litten und angesichts der Spannungen und Stimmungen im GrHQ nur einander hatten. Obwohl sie im GrHQ tagein, tagaus zusammen waren, verbrachten sie auch noch große Teile ihrer freien Zeit miteinander. So gingen sie meistens zusammen spazieren. Regelmäßig begleitete sie dabei Treutler, wodurch aus dem dreiblättrigen Friedens- im Krieg ein vierblättriges Kriegskleeblatt wurde. Dieser offen nach außen demonstrierte Zusammenhalt war Wasser auf die Mühlen ihrer Gegner, denen sie am Ende nicht gewachsen waren. Am Ende des Krieges hatten weder Valentini noch Lyncker oder Müller ihre Ämter mehr inne. Während Valentini einer Intrige Hindenburgs und Ludendorffs zum Opfer fiel und am 15. Januar 1918 von Berg abgelöst wurde,255 entließ Wilhelm II. Lyncker am 19. Juli 1918256, weil er ihn schlicht nicht mehr länger »ertrug«257. Aber auch Berg erlebte das Kriegsende nicht als Chef des Zivilkabinetts. Sogar er, der die Position des Kaisers eigentlich stärken wollte, seinen Monarchen aber in die Hände Hindenburgs und Ludendorffs getrieben und das Zivilkabinett zu einem Anhängsel der III. OHL gemacht hatte, musste wie so viele andere schließlich gehen. Als Prinz Max von Baden als Voraussetzung für die Übernahme der Kanzlerschaft Bergs Rücktritt forderte, gab der Kaiser, widerwillig, nach. Am 11. Oktober 1918 wurde Berg von Clemens von Delbrück ersetzt, der bis zum Kriegsende das Zivilkabinett führte. Müller hingegen kostete der Umbau der Marineführung sein Amt. Mit Bildung der Seekriegsleitung im Sommer 1918 verlor das Marinekabinett schlagartig an Bedeutung. Müller hat das erkannt und bis zum Schluss erfolglos versucht, die Bildung der SKL zu verhindern. Wie schwach seine Position jedoch mittlerweile geworden war, offenbart der Tagebucheintrag Weizsäckers vom 8. August 1918: »Admiral v. Müller sträubt sich gegen Verlegung eines besonderen Arbeitsstabes als ›Seekriegsleitung‹ in das Große Hauptquartier [...] sollte Adm. v. Müller sich widersetzen, dann umso besser. Die Kraftprobe muss ausgetragen werden. Fällt Adm. v. Müller dabei, dann ist es ein Aufwaschen.«258 Besagtes Aufwaschen fand nur wenige Monate später statt. Am 28. Oktober 1918 wurde das Militärkabinett in das RMA eingegliedert. Der Chef des Marinekabinetts war damit an die Weisungen des Staatssekretärs des RMA gebunden. Müller hatte schon vorher seine Konsequenzen gezogen. 253 254

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Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd 2, S. 440. So schrieb Müller am 30.3.1918 an Valentini, Lyncker sei ihm trotz abweichender politischer Ansichten immer ein guter Kamerad und loyaler Kabinettskollege gewesen. Siehe Brief Müllers an Valentini vom 30.3.1918, BArch, N 1015/213, 6. Zur Entlassung Valentinis siehe Afflerbach, Einführung, S.  94‑96, sowie Schwertfeger, Kaiser, S. 189‑192. Marschall übernahm am 24.7.1918 Lynckers Amtsgeschäfte bis Kriegsende. Vgl. Afflerbach, Einführung, S. 111‑114. Kriegstagebucheintrag Weizsäckers vom 8.8.1918, Weizsäcker, Die Weizsäcker-Papiere, S. 272.

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Als er erkannte, dass sein gutes Verhältnis zum Kaiser nicht mehr bestand und er ohne Lyncker und Valentini immer mehr im GrHQ isoliert war, reagierte er. Die Ablösung Lynckers und Valentinis wegen gesundheitlicher Probleme vor Augen bat er, nachdem ihm der Leibarzt des Kaisers, Stabsarzt Dr.  Wetzel, mitgeteilt hatte, der Kaiser habe sich mehrfach nach seinem Gesundheitszustand erkundigt, am 16.  September 1918 um seinen Abschied, den der Kaiser ihm sofort gewährte.259 Der Kaiser, so Müller, verzog keine Miene und forderte ihn lediglich auf, noch den Wechsel des Staatsekretärs im RMA durchzuführen. Als Müller, sichtlich erschüttert, dem Chef des Militärkabinetts Marschall daraufhin mitteilte, der Kaiser habe weder nach seiner angeschlagenen Gesundheit gefragt, noch habe er auch nur ein Wort der Anerkennung für die jahrelangen Dienste geäußert, sprach dieser die bezeichnenden Worte: »Das hätte ich denn doch nicht für möglich gehalten. Man lernt doch alle Tage etwas dazu.«260 Müller sah in der Reaktion des Kaisers eine Bestätigung für seine Entscheidung. Gegenüber dem Staatssekretär des RMA Admiral Eduard von Capelle erklärte er: »Ich paßte nicht mehr in das Milieu des Hauptquartiers hinein, wie es sich nach Valentinis und Lynckers Abgang gestaltet hatte.«261 Als am 28. Oktober 1918 das Marinekabinett im Rahmen der Umbildung der Kabinette dem Staatssekretär im RMA unterstellt wurde, bat Müller um Urlaub, da er nicht bereit war, dem 13 Dienstjahre jüngeren neuen Staatsekretär des RMA Vizeadmiral Ernst Ritter von Mann Edler von Tiechler vorzutragen. Nach einem letzten Vortrag beim Kaiser, der zugleich die letzte Begegnung mit dem Mann war, dem er 14 Jahre als Marinekabinettschef gedient hatte, ging Müller, nach einem farblosen Schlussakt, wie er meinte, in Urlaub.262 Eine Übergabe seiner Amtsgeschäfte an Trotha erfolgte wegen der Meuterei in der Flotte bis Kriegsende nicht mehr. Aber die von Müller als Sklaverei empfundenen letzten Jahre im GrHQ hatten damit ein Ende, wenn auch ein unrühmliches.263

5. Flügeladjutanten Neben den Kabinettschefs nahmen die diensttuenden Flügeladjutanten264 eine herausgehobene Rolle im Allerhöchsten Gefolge ein. Folgt man Plessen, bildeten sie unter seiner Führung das konservative Gegengewicht zu den »liberalen Bethmann Hollweg Anhängern«, zu denen er neben Grünau und Reischach den 259

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Auf Bitte des Kaisers blieb Müller noch im Amt, bis die Ämter des Kriegsministers und des Chefs des Zivilkabinetts neu besetzt waren. Letztlich übergab er am 15.11.1918 seine Amtsgeschäfte an Trotha. Vgl. Fischer, Admiral, S. 272 f. Kriegstagebucheintrag Müllers vom 16.9.1918, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 414. Brief Müllers an Capelle vom 19.9.1918, zit. nach Fischer, Admiral, S. 269. Siehe Kriegstagebucheintrag Müllers vom 30.10.1918, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 442. Siehe Fischer, Admiral, S. 273. Flügeladjutanten waren ursprünglich Offiziere, die die Befehle des Feldherrn während einer Schlacht an die Flügel überbrachten. Im Laufe der Zeit bürgerte sich der Begriff für Offiziere ein, die einem Fürsten für repräsentative und militärische Aufgaben persönlich dienten.

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Chef des Marinekabinetts Müller und den Chef des Zivilkabinetts Valentini zählte. Über Lynckers Rolle war sich Plessen dagegen nicht sicher, doch schlug er ihn auf seine Seite; mit seiner Ansicht hielt sich Lyncker meist zurück.265 Welche Aufgaben und Pflichten oblagen den diensttuenden Flügeladjutanten am kaiserlichen Hof? Der vor dem Krieg diensttuende Flügeladjutant SchönburgWaldenburg beantwortete diese Frage ironisch kurz und knapp mit den Worten: »Im Nichtstun,«266 bevor er ausführte, die diensttuenden Flügeladjutanten hatten bei Tag und Nacht jederzeit bereitzustehen, um den Wünschen und Befehlen des Kaisers nachzukommen. Grundsätzlich waren tagsüber immer ein diensttuender Flügeladjutant im Rang eines Generals und einer im Rang eines Stabsoffiziers/ Hauptmanns im Dienst. Sie begleiteten den Kaiser überallhin, leisteten ihm Gesellschaft bei Spaziergängen und Ausritten, nahmen die Mahlzeiten mit ihm ein, waren Leibwächter,267 waren Teil der Abendgesellschaft und sorgten für den Bürobetrieb des Kaisers. Die Masse der Dienstpflichten übernahmen die »kleinen« diensttuenden Flügeladjutanten. Von ihnen waren in der Regel immer zwei im Dienst, die in 24-Stunden-Schichten arbeiteten. Die Dienstpläne der diensttuenden Flügeladjutanten erstellte im Frieden wie im Krieg der Generaladjutant und Kommandant des Hauptquartiers, später des GrHQ, Plessen. Meistens hatte ein diensttuender Flügeladjutant im Monat viermal drei Tage und Nächte hintereinander Dienst. Auf Reisen, und der Kaiser war oft auf Reisen, wurde dieser Routinedienstplan nicht eingehalten und die den Kaiser begleitenden diensttuenden Flügeladjutanten hatten längere Dienstzeiten.268 Von »Nichtstun« konnte daher angesichts der 24 Stunden, die man mehrere Tage die Woche »unausgesetzt« zur Verfügung zu stehen hatte, keine Rede sein. Letztlich waren die diensttuenden Flügeladjutanten die Kammerherren des Kaisers. Dieser von allen Flügeladjutanten als große Ehre, aber auch als große Belastung wahrgenommene Dienst bot für die Betroffenen außer der Ehre eindeutige Karrierevorteile. Wer waren die diensttuenden Flügeladjutanten im GrHQ und wie wurde man Flügeladjutant? Während der Regierungszeit Wilhelms II. gehörten lediglich 108 – im Schnitt jährlich 33 – Offiziere von Armee und Marine dieser ausgewählten Personengruppe an. Die Ernennung erfolgte bei der Marine im Normalfall im Dienstgrad Kapitän, bei der Armee konnten dagegen schon Hauptleute oder Rittmeister Flügeladjutanten werden. In der Regel waren es jedoch Stabsoffiziere im Dienstgrad Major oder Oberstleutnant. Mit der Beförderung zum Generalmajor oder Konteradmiral ernannte der Kaiser die Flügeladjutanten zum General oder Admiral à la suite, mit der Beförderung zum Vizeadmiral oder Generalleutnant zum Generaladjutanten.269 Mit wenigen Ausnahmen waren alle Flügeladjutanten Protestanten und von Adel. Auch das äußere Erscheinungsbild spielte bei der Wahl zum Flügeladjutanten, die der Kaiser in der Regel nach 265

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Kriegstagebucheintrag Plessens vom 11.5.1917, Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr, S. 898, wobei Plessen Lyncker zu seiner konservativen Fraktion rechnete. Schönburg-Waldenburg, Erinnerungen, S. 135. Schönburg-Waldenburg führt ebd. aus, die Flügeladjutanten seien immer mit einem verdeckt getragenen Revolver bewaffnet gewesen und hätten im Attentatsfall den Kaiser mit ihrem Körper geschützt. Siehe Lebenserinnerungen Mutius, BArch, N 195/2, S. 168. Siehe Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Hans-Georg von Plessen, S. 595, sowie Hull, The Entourage, S. 180 f.

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Rücksprache mit den Militär- und Marinekabinettschefs traf, eine große Rolle. Die Flügeladjutanten sollten große, schlanke und sportliche Offiziere mit gewandtem gesellschaftlichem Auftreten sein.270 In seiner Funktion als Kommandant des Kaiserlichen Hauptquartiers im Frieden und als I. Kommandant des GrHQ im Krieg war der diensttuende Generaladjutant Plessen Vorgesetzter aller diensttuenden Flügeladjutanten. Als strenger Vorgesetzter war er für alle Angelegenheiten des militärischen Gefolges des Kaisers zuständig. Er regelte nicht nur die Dienstpläne der diensttuenden Flügeladjutanten, sondern überwachte auch den Dienst gerade der jüngeren diensttuenden Flügeladjutanten. Der größte Teil der Flügeladjutanten diente außerhalb des Hofes beispielsweise als Militärattaché oder als Militärbevollmächtiger an ausländischen Höfen. Die Flügeladjutanten, die am Hof Dienst taten, trugen den Titel »Diensttuende Flügeladjutanten«. Zwischen diesen besonders ausgewählten Offizieren und ihrem Monarchen bestand ein persönliches Band, in Ausnahmefällen sogar ein »geradezu religiöses Verhältnis«.271 Überhaupt war Wilhelm II. davon überzeugt, seine Flügeladjutanten seien eine höhere Stufe des Menschen.272 Die vortragenden Generaladjutanten, der diensttuende Generaladjutant und die diensttuenden Generaladjutanten à la suite hatten in der Regel am Hof, der Armee oder der Marine zugleich ein hohes Amt inne. So waren die vortragenden Generaladjutanten Lyncker und Müller zugleich Chefs des Militäroder Marinekabinetts, Plessen als diensttuender Generaladjutant zugleich I.  Kommandant des GrHQ und Gontard als diensttuender Generaladjutant à la suite Haus- und zeitweise Hofmarschall des Kaisers. Sie hatten also zwei Ämter inne, denn neben ihren eigentlichen Amtsgeschäften hatten sie jederzeit zur persönlichen Betreuung des Kaisers zur Verfügung zu stehen. Mit der Ernennung wichtiger militärischer Dienstposteninhaber zu Generaladjutanten band der Kaiser diese Männer auch persönlich an sich und sicherte sich so ihre Treue. In ihrer Doppelfunktion hatten die Ausgewählten zugleich größere Einflussmöglichkeiten auf den Monarchen. Je nach Lage konnten sie sich auf ihr Amt zurückziehen und im richtigen Moment z.B. nicht als Kabinettschef, sondern als Generaladjutant Forderungen vorbringen. So vermochte Müller, sich auf seine Position als Generaladjutant berufend, den Kaiser während eines Berlinbesuches angesichts der klirrenden Kälte davon zu überzeugen, nicht im schlecht zu heizenden Neuen Palais, sondern im Schloss Bellevue Quartier zu nehmen.273 Den diensttuenden Flügeladjutanten, den Generalen und Admiralen à la suite sowie den Generaladjutanten bot sich also aufgrund ihrer unmittelbaren 270 271 272 273

Siehe Hull, The Entourage, S. 184. Müller, Der Kaiser, S. 188 f. Siehe Hull, The Entourage, S. 180. »25 Grad Kälte. Im Anschluß an kurzen Vortrag beim Kaiser stelle ich ihm eindringlich vor, wie wichtig es ist, daß er nicht im Neuen Palais, sondern in Berlin wohnt (Schloß Bellevue). Er nimmt diese Kompetenzüberschreitung – ich hatte gesagt, ich spräche nicht als Chef des Marinekabinetts, sondern als Generaladjutant – ruhig auf und sagt, er wolle mit Gontard (dem Hofmarschall) darüber sprechen. Um 12  Uhr kommt Gontard zu mir und sagt, daß Se. Majestät sich für Bellevue entschieden hat.« Kriegstagebucheintrag Müllers vom 9.2.1917, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 259.

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Nähe zum Monarchen und ihrer persönlichen Bindung zu ihm jederzeit die Chance, wenn sie denn wollten, den Kaiser in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Adjutantenpolitik war daher schon vor dem Krieg ein Anlass zur Sorge und Verärgerung. »Die Flügeladjutanten – und besonders eine gewisse Sorte [...]«, so der enge Vertraute und Freund des Kaisers Philipp Graf zu Eulenburg an Bülow, seien »schwerer aus dem politischen Kartenspiel zu ecartieren [entfernen] als die kompliziertesten Probleme. Sie sind im Leben unseres lieben Herren leider selbst ein Problem«.274 Waren die Flügeladjutanten auch im GrHQ im Sinne Eulenburgs ein Problem? Bevor wir uns dieser Frage zuwenden und sie für das Umfeld des gesamten Hofes stellen, ist es notwendig, die diensttuenden Flügeladjutanten während des Weltkrieges und ihren Dienst im GrHQ in den Blick zu nehmen. Gemeinsam mit dem Kaiser verlegten am 16. August 1914 seine diensttuenden Flügeladjutanten in das GrHQ nach Coblenz. Sowohl dort als auch an den anderen Standorten waren sie immer in der Nähe des Monarchen untergebracht. Mit Kriegsbeginn trat für sie jedoch eine einschneidende Veränderung ein. Plessen, wohl wissend, dass der Kaiser in Stresssituationen noch mehr als sonst üblich Wert auf eine stabile Umgebung legte, war darum bemüht, alle unangenehmen Dinge von Wilhelm II. fernzuhalten, und änderte die Diensteinteilung der diensttuenden Flügeladjutanten grundlegend. Mit dem ersten Mobilmachungstag übernahmen nur noch die lebensälteren Posteninhaber Chelius und Mutius den persönlichen Dienst beim Kaiser. Diese Entscheidung belastete nicht nur Chelius und Mutius erheblich, sie führte offensichtlich auch zu einer gewissen Verärgerung bei den jüngeren Kameraden.275 Mit Kriegsbeginn verschoben sich zugleich die Aufgaben der diensttuenden Flügeladjutanten. Noch stärker als zuvor ging es nun darum, die Stimmung des Kaisers hochzuhalten. »Unsere Aufgabe,« so Mutius in seinen Erinnerungen, »war es, ihm [dem Kaiser] im langen Verlauf des Tages dauernd Gesellschaft zu leisten, ihn nach Möglichkeit zu unterhalten und seinem Bedürfnis nach Aussprache zu genügen.« Selbstkritisch fügt Mutius noch hinzu: »Eine sehr begrenzte Tätigkeit, die scheinbar weit ab vom Kriege lag und doch, da es sich um die Person des Obersten Kriegsherrn handelte, aufs engste mit dem Krieg verknüpft war.«276 Hier gilt es festzuhalten: Angesichts des labilen physischen und psychischen Zustandes Wilhelms II. ging es nicht etwa darum, den Kaiser in militärischen Fragen zu beraten, sondern schlicht darum, ihn bei Laune zu halten. Da an den täglichen Vorträgen des Chefs des Generalstabes des Feldheeres nur der Kaiser, Lyncker sowie Plessen teilnahmen und der Kaiser gegenüber Chelius und Mutius, wenn überhaupt, nur am Rande die Lageentwicklung thematisierte, hätten beide diese Aufgabe auch gar nicht leisten können.277 An der Diensteinteilung für die diensttuenden Flügeladjutanten änderte sich bis zur Versetzung Mutius am 15. Juli 1915 nichts.278 Vieles spricht aber dafür, dass Plessen nach dem Ausscheiden von Mutius aus dem Kreis der Flügeladjutanten 274

275 276 277 278

Eulenburg an Bülow, Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd  3, Nr.  1396, S. 1945. Siehe Lebenserinnerungen Mutius, BArch, N 195/2, S. 168. Ebd., S. 208. Siehe ebd. Siehe Brief Plessens an Holzing-Berstett, 16.7.1915, Kaiser Wilhelm  II. als Oberster Kriegsherr, S. 801.

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wieder zum regelmäßigen Schichtdienst überging und wenige Monate später Estorff als ältesten diensttuenden Flügeladjutanten mit der Diensteinteilung beauftragte. Estorff sah sich aufgrund von Krankheiten, Versetzungen oder längeren Reisen immer wieder gezwungen, den Schichtdienstplan den aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Dieser wechselte bis Kriegsende mehrfach. Als aufgrund von Krankheiten und Versetzungen im Mai 1918 nur noch drei diensttuende Flügeladjutanten zur Verfügung standen, hatten diese jeweils acht Tage rund um die Uhr Dienst und anschließend vier Tage frei.279 Der Schichtwechsel erfolgte in der Regel kurz vor oder nach 12:00 Uhr. Letztendlich hatten die diensttuenden Flügeladjutanten jedoch immer Dienst, da sie jederzeit gerufen werden konnten.280 Wie sah der Alltag eines diensttuenden Flügeladjutanten aus und welchen Einfluss konnte er, wenn überhaupt, auf Wilhelm  II. ausüben? Diesen Fragen wird im Folgenden am Beispiel von Mewes nachgegangen. Warum der als Bürooffizier für Routineangelegenheit in der Operationsabteilung zuständige Hauptmann Friedrich Mewes? Diese Frage haben sich sicherlich nicht nur Mewes Kameraden in der Operationsabteilung der OHL, sondern auch einige Herren in der engeren Umgebung des kaiserlichen Gefolges gestellt, als sie erfuhren, dass Mewes dienstuender Flügeladjutant des Kaisers werden sollte, galt doch die Ernennung zum Flügeladjutanten des Kaisers als eine herausgehobene Auszeichnung und gemeinhin als ein Karrieresprungbrett.281 Widmen wir uns zuerst den Motiven des Kaisers: Im Kreis der Nachfahren von Mewes wird bis heute erzählt, Mewes sei ein unehelicher Sohn des Kaisers gewesen. Begründet wird diese Vermutung mit der Ähnlichkeit zum Kronprinzen. Dass Mewes wirklich ein illegitimer Sohn des Kaisers war, ist jedoch sehr unwahrscheinlich. In den Akten finden sich dafür keinerlei Belege und auch am Hof oder in der Presse gab es keine diesbezüglichen Gerüchte. Die Ähnlichkeiten mit Kronprinz Wilhelm gibt aber einen Anhalt, warum Wilhelm II. Mewes ausgewählt haben könnte. Sein Vorgesetzter als Kommandeur der Reichswehrbrigade 8, Generalleutnant Arnold Lequis, beschreibt Mewes in seinem Bewährungszeugnis vom 28. Dezember 1919 wie folgt: »Große, vorzügliche, militärische Erscheinung, hoch begabt, vielseitig gebildet, offener, gerader Charakter, von vornehmster Gesinnung, ausgestattet mit vorzüglichen Umgangsformen; spricht französisch, spanisch, englisch«, um zusammenfassend zu enden: »Meiner Ansicht nach eignet sich dieser vorbildliche, pflichttreue Offizier seiner ganzen Art nach als rechte Hand eines großen Mannes irgendwelcher Art [...] Weltgewand[t] und die Menschen durchschauend, dabei taktvoll und bescheiden, wird er ohne Aufsehen der schwierigsten und delikatesten Aufgaben Herr werden.«282 Ähnlich wie Lequis werden auch andere Vorgesetzte den jungen Hauptmann gesehen haben. Dem Kaiser ist der große, schlanke und sportliche, ganz dem Schönheitsideal der Zeit entsprechende Mewes immer wieder im GrHQ während Vorträgen und Mitte Januar 1916 als Begleiter Falkenhayns auf der Reise nach Nisch sicherlich nicht nur wegen seines äußeren Erscheinungsbildes und 279 280

281 282

Siehe Brief Mewes’ an seine Frau 8.5.1918, BArch, N 850/26, fol. 75. Zur zeitlichen Belastung der diensttuenden Flügeladjutanten siehe am Beispiel Mewes im Kapitel Zeit, S. 193. Siehe dazu Schönburg-Waldenburg, Erinnerungen, S. 133 ff. Bewährungszeugnis Mewes’ (Abschrift) vom 28.12.1919. Privatbesitz.

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weltgewandten Auftretens, sondern auch wegen seiner militärischen Expertise, positiv aufgefallen. Als Wilhelm II. einen neuen diensttuenden Flügeladjutanten suchte, fiel die Wahl auf Mewes. Die Versetzung Mewes’ wurde dann im kleinen Kreis besprochen und umgesetzt. So war wahrscheinlich selbst Tappen, immerhin Chef der Operationsabteilung und unmittelbarer Vorgesetzter von Mewes, nicht eingeweiht gewesen. Neben dem Kaiser waren lediglich Lyncker, Marschall, Plessen und besonders Falkenhayn involviert.283 Letzterer hat sich offenbar sehr für Mewes verwendet. Mewes schreibt dazu stolz und ein wenig verwundert seiner Frau, »daß Falkenhayn einem einen größeren Vertrauensbeweis kaum geben kann«.284 Was bewog nun Falkenhayn, sich für die Versetzung von Mewes als Flügeladjutant des Kaisers stark zu machen, verlor er doch einen jungen und belastbaren Generalstabsoffizier aus der Operationsabteilung. Offensichtlich hoffte Falkenhayn, da es im Frühjahr 1916 noch keinen Vertreter der OHL in der näheren Entourage Wilhelms  II. gab, einen engen, aber nicht zu engen Mitarbeiter in der unmittelbaren Nähe des Monarchen zu platzieren, um jenseits der Lagevorträge im täglichen Beisammensein mit dem Kaiser indirekt Einfluss auf diesen nehmen zu können; ein Sachverhalt, der angesichts der schwieriger gewordenen Position Falkenhayns im GrHQ und gegenüber dem Reichskanzler sowie Hindenburg und Ludendorff von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Letztlich konnten sowohl der Kaiser als auch Falkenhayn von dieser Versetzung nur profitieren. Der Kaiser erhielt mit Mewes einen jungen Generalstabsoffizier aus der Operationsabteilung, der über eine hervorragende militärische Ausbildung verfügte, ihn daher militärisch beraten konnte, das notwendige gesellschaftliche Auftreten beherrschte und beste Kontakte zur Arbeitsebene der OHL vorzuweisen hatte. Falkenhayn dagegen gewann einen engeren Zugang zum Thron unterhalb der Entscheidungsträgerebene. Die Wahl Mewes’ zum Flügeladjutanten war somit keine der sonst so häufigen impulsiven Entscheidungen des Kaisers, sondern mit dem Chef des Generalstabes des Feldheeres en détail abgesprochen. Mit der Entscheidung für Mewes sandte der Kaiser zugleich ein Signal nach draußen, dass auch ein bürgerlicher Artillerieoffizier in den erlesenen Kreis der diensttuenden Flügeladjutanten aufrücken konnte. Eine Anforderung, die der Kaiser an seine neuen Flügeladjutanten stellte, nämlich Fronterfahrung in einer Führungsverwendung, erfüllte Mewes jedoch nicht. Das Militärkabinett löste das Problem und versetzte ihn am 13. April 1916 ins Feldartillerieregiment 6. Mewes schrieb dazu am 1. April 1916 an seine Frau: »Nun scheint es wirklich so zu kommen wie ich es nie für möglichgehalten hätte: Ich soll wahrscheinlich Flügeladjutant bei S.M. werden [...] Dazu wird noch etwas Aufmachung gemacht. Ich werde zunächst in ein FeldartillerieRegiment mit möglichst unscheinbarer Nummer versetzt – aus politischen Gründen – um dann als richtiger Troupier an den Hof gerufen zu werden.«285 Mewes selbst wurde von seiner Versetzung völlig überrascht. Er gab gegenüber seiner Frau aber auch zu: »In mir sieht es natürlich kunterbund [sic] aus. Die Gefühle wogen hin und her [...] und man muß auch bedenken, was war 283 284 285

Brief Mewes’ an seine Frau vom 15.4.1916, BArch, N 850/32, fol. 15. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 1.4.1916, BArch, N 850/31, fol. 73. Brief Mewes’ an seine Frau vom 1.4.1916, BArch, N 850/31, fol. 73.

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man? Ein einfacher kleiner bürgerlicher Artillerieleutnant«, um als klassischer Karriereoffizier, die Karrierechance, die mit der Versetzung verbunden waren, klar erkennend hinzuzufügen: »Wenn man einmal Flügeladjutant gewesen ist, kann man auch schlecht irgendwo untergebuttert werden.«286 Nachdem Mewes offiziell am 13.  April 1916 seinen Dienst im Feldartillerieregiment 6 angetreten hatte, ernannte ihn Wilhelm II. am 15. Mai 1916 zu seinem Flügeladjutanten.287 Nach nur ca. sechs Wochen an der Front trat er Mitte Juni 1916 seinen Dienst beim Kaiser an. Damit wurde Mewes quasi zu einem Wanderer zwischen den Sphären des GrHQ. Er lebte sich schnell in der für ihn ungewohnten höfischen Umgebung ein. Nach drei Jahren in der Operationsabteilung war er froh, seinen unmittelbaren Vorgesetzten Tappen hinter sich gelassen zu haben und genoss die Vorzüge der neuen Verwendung in vollen Zügen.288 Tägliche Spaziergänge mit dem Kaiser wechselten sich ab mit Ausflügen und Ausritten sowie mit dem Dienst für den Monarchen. Begeistert erzählte er seiner Frau, er sei mit dem Kaiser auf einem wunderbaren Pferd ausgeritten,289 und er informierte sie erstaunlich offen und detailliert über die militärische und politische Entwicklung, wie er sie in seiner neuen Stellung wahrnahm. Schnell machte sich jedoch auch eine gewisse Ernüchterung über den im Laufe der Monate immer langweiliger werdenden Dienst bemerkbar. Nicht jeden Tag ereigneten sich in der Umgebung des Kaisers weltbewegende Ereignisse. Dafür gewann Mewes Einblicke in die Ränkespiele innerhalb des höfischen Gefolges, der Reichsleitung und nicht zuletzt der OHL. Mewes beobachtete aufmerksam die Menschen in seiner neuen Umgebung und charakterisierte sie mit ihren Stärken und Schwächen. Wilhelm II. war mit seinem neuen »fronterfahrenen« Flügeladjutanten sehr zufrieden. Voller Stolz nutzte er jede Chance, seinen Gästen, besonders den ausländischen, seinen neuen diensttuenden Flügeladjutanten als Generalstabsoffizier mit Fronterfahrung als Batteriechef an der Somme vorzustellen.290 Intensiv besprach er mit Mewes nicht nur die aktuelle militärische Lage, sondern erörterte mit ihm unter vier Augen im Garten sitzend militärische Organisationsfragen.291 Stolz über das Vertrauen und ein wenig erschüttert über das, was der Kaiser ihm während der Spaziergänge eröffnete, schrieb er seiner Frau: »Er [der Kaiser] machte sich über verschiedene Personen einmal ordentlich Luft. Es ist unmöglich, das im Brief wiederzugeben«292, und wenige Wochen später: »Der Kaiser entwickelte morgens und abends seine politischen Ideen, die ich aber unmöglich dem Papier anvertrauen kann.«293 Sehr schnell erkannte Mewes, dass der kaiserliche Hof nicht die nach außen projizierte heile Welt darstellte, sondern eher einer Schlangengrube glich, in der es zu überleben galt. Dazu trug auch bei, dass er nur wenige Tage nach seinem Dienstantritt die mit dem Abgang Treutlers verbundenen Vorgänge aus nächster Nähe erlebte. »Es ist jemand in Ungnade gefallen: 286 287 288 289 290 291 292 293

Ebd. Ernennungsschreiben vom 15.6.1916, Nachlass Mewes, Privatbesitz. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 26.6.1916, BArch, N 850/34, fol. 15. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 1.7.1916, BArch, N 850/43, fol. 40. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 9.9.1916, BArch, N 850/41, fol. 17 f. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 21.7.1916, BArch, N 850/43, fol. 1 und fol. 34. Brief Mewes’ an seine Frau vom 14.7.1916, BArch, N 850/34, fol. 13. Ebd., fol. 9.

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Ex[zellenz] v. Treutler, der Vertreter des AA. Gestern Abend ist er abgereist,« teilte er seiner Frau am 7.  Juli 1916 mit, um dann nachdenklich fortzufahren: »Ich muß sagen, ich hätte nicht gedacht, dass einer so schnell gestürzt werden kann. Neun Jahre ist er hier gewesen. Ja. Ja, so kann es gehen. Es wird einem ganz blümerant dabei, wenn man so etwas erlebt.«294 Bei aller Begeisterung und gleichzeitig beginnender Ernüchterung über seine neue Umgebung blieb Mewes während seiner gesamten Verwendung als diensttuender Flügeladjutant der OHL eng verbunden. Immer wieder besuchte er nicht nur zu dienstlichen Anlässen, sondern auch kurz auf eine Tasse Kaffee oder länger zu einem ausgiebigen Mittag- oder Abendessen seine ehemaligen Kameraden in der Operationsabteilung. Daran änderte sich auch nichts, als die Offiziere dort häufiger wechselten. Nur wenige Tage nachdem Mewes die Operationsabteilung verlassen hatte, festigte Falkenhayn seinen Kontakt zu Mewes und lud ihn zum Abendessen ein. Damit war für alle offensichtlich, dass der Chef des Generalstabes Mewes in seiner neuen Funktion besonders wahrnahm.295 Was Falkenhayn mit Mewes besprach, ist nicht überliefert. Auch Mewes schwieg sich darüber aus. Prinzipiell teilte er seiner Frau bei aller Offenheit solch geheime Dinge per Brief nur äußerst selten mit. Dass er jedoch schon nach wenigen Wochen ein gutes Vertrauensverhältnis zum Kaiser aufgebaut hatte, ist unverkennbar. So ging er am 20. Juli 1916, nur wenige Wochen nach seinem Dienstantritt, mehrere Stunden alleine mit dem Kaiser spazieren. Während des Spaziergangs las er dem Kaiser aus einem Brief eines an der Front stehenden Kameraden vor. Er nutzte das Interesse Wilhelms  II. und trug ihm im weiteren Gespräch in aller Ruhe seine und die Fronterfahrungen seiner Kameraden aus der Operationsabteilung vor.296 Diese Gegebenheit zeigt zweierlei. Erstens: Der Kaiser erhielt die von ihm gewünschten Berichte und Erfahrungen eines Generalstabsoffiziers mit Fronterfahrung. Zweitens: Mewes bot sich schon sehr schnell die Chance, den Kaiser vorsichtig, an den persönlichen Beratern wie dem Chef des Militärkabinetts vorbei, im Sinne der OHL zu beeinflussen. Falkenhayn vermochte jedoch die neu gewonnene Möglichkeit, auf den Kaiser einzuwirken, nicht lange zu nutzen. Nur wenige Wochen, nachdem Mewes seinen Dienst als diensttuender Flügeladjutant angetreten hatte, wurde er am 29. August 1916 als Chef des Stabes des Feldheeres durch Hindenburg abgelöst. Wieviel Wert Wilhelm II. mittlerweile auf die Meinung Mewes legte, zeigt die Tatsache, dass er einen Tag nach dem Abgang Falkenhayns nicht nur über die Umstände des Wechsels und deren Gründe dafür, sondern auch über die Stimmung im Generalstab mit Mewes auf der Terrasse für alle erkennbar auf und ab gehend ausführlich unter vier Augen sprach. Eine hochinteressante Stunde, wie Mewes seiner Frau, ohne Details zu nennen, mitteilte.297 Hindenburg war die besondere Rolle, die Mewes im Machtgeflecht des GrHQ inzwischen spielte, sofort bewusst. Kaum im GrHQ angekommen, lud er ihn zum Frühstück ein. Auch über den Inhalt der dort geführten Gespräche schwieg sich Mewes in der Regel aus. Meist bekam seine Frau nur Andeutungen zu lesen. Sicher ist, dass Mewes, wie viele andere im GrHQ, die neuen starken Männer 294 295 296 297

Brief Mewes’ an seine Frau vom 17.7.1916, BArch, N 850/43, fol. 59. Zur Bedeutung der Abendesseneinladungen siehe Kapitel Essen und Trinken, S. 223‑239. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 20.7.1916, BArch, N 850/43, fol. 3 f. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 30.8.1916, BArch, N 850/42, fol. 37 f.

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der III.  OHL in hohem Maße schätzte. Nur vier Wochen, bevor Hindenburg die Amtsgeschäfte des Chefs des Feldheeres übernahm, schrieb er nach einer Begegnung mit Hindenburg und Ludendorff völlig euphorisch an seine Frau: »Ich habe mich länger mit dem Feldmarschall unterhalten und einen unvergeßlichen Eindruck von diesem unvergleichlich großen Mann gewonnen. Ebenso hat Ludendorff mir wieder ungemein gefallen, und, was die größte Freude ist, dem Kaiser ist es ganz offensichtlich ebenso gegangen. Gestern Abend den hohen Herrn zu beobachten, wie er zwischen Hindenburg und Ludendorff saß und sich auf das angeregteste mit beiden unterhielt, war herzerfrischend. Ich habe die größten Hoffnungen für unser deutsches Vaterland daraus.«298 Angesichts des Machtkampfes zwischen Falkenhayn auf der einen sowie Hindenburg und Ludendorff auf der anderen Seite wollte Mewes aber unter keinen Umständen, dass sein Gönner Falkenhayn von seiner Begeisterung über Hindenburg und Ludendorff erfuhr. Daher hatte er diesen Brief mit dem selten von ihm verwendeten Vermerk »Streng vertraulich« versehen. Sobald Hindenburg und Ludendorff Falkenhayn abgelöst hatten, hielt er sich mit seiner Sympathie für beide auch öffentlich nicht mehr zurück. Vor diesem Hintergrund kann es dem Menschenfänger Hindenburg nicht schwergefallen sein, Mewes für sich zu gewinnen. Auch Ludendorff bemühte sich um den jungen Flügeladjutanten. Regelmäßig sprach er mit Mewes, wenn dieser die OHL besuchte. Mit der ausdrücklichen Erlaubnis Ludendorffs nahm Mewes, wenn er keinen Dienst hatte, seit Mitte September 1916 entweder an der morgendlichen oder an der nachmittäglichen Lageeinweisung in der OHL teil. Er war daher in der Regel hervorragend über die militärische Lage informiert und konnte, wenn dem Kaiser danach war, jederzeit Rede und Antwort stehen. Im Laufe der Zeit wurde er so immer mehr zu dem diensttuenden Flügeladjutanten, den der Kaiser in militärischen Fragen konsultierte, und erfüllte dessen Erwartungen. Mewes pflegte sein Verhältnis zu Hindenburg und Ludendorff durch regelmäßige Besuche in der OHL. Inwieweit im Verlauf dieser Gespräche auch über den Kaiser und dessen engere Entourage gesprochen wurde, ist nicht überliefert. Ludendorff erörterte mit Mewes nicht nur militärisch relevante, sondern ebenso politisch brisante Fragen, sodass sicherlich auch der Kaiser immer wieder Thema gewesen sein dürfte. Trotz seiner starken zeitlichen Inanspruchnahme fand Ludendorff regelmäßig Zeit, mit Mewes beispielsweise über die Stützung des monarchischen Prinzips durch die OHL299 oder offen über die Notwendigkeit der Abdankung Bethmann Hollwegs zu sprechen.300 Diese Gespräche hat Ludendorff bestimmt nicht mit jedem Hauptmann in der OHL geführt. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass er die Hoffnung hegte, Mewes werde in bestimmten politischen Fragen gegenüber dem Kaiser ähnlich argumentieren wie die III. OHL. Wie geschickt Hindenburg und Ludendorff Mewes in ihrem Sinne einspannten, zeigt ihr Handeln im Vorfeld der richtungsweisenden Besprechung über den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Am 8.  Januar 1917, einen Tag vor der Entscheidung, informierte Ludendorff Mewes, der ebenfalls den uneingeschränk298 299 300

Brief Mewes’ an seine Frau vom 29.7.1916, BArch, N 850/43, fol. 49 f. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 31.8.1916, BArch, N 850/41, fol. 52. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 5.1.1917, BArch, N 850/24, fol. 66.

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ten U-Boot-Krieg befürwortete, Hindenburg habe ihm »hoch und heilig versprochen, sich ganz für den U-Bootkrieg einzusetzen«.301 Warum sollte Ludendorff einem Hauptmann, auch wenn er diensttuender Flügeladjutant war, über die streng geheime Entscheidungsfindung in der OHL unterrichten, wenn er nicht hoffte, Mewes werde, wenn er die Chance bekam, gegenüber dem Kaiser im Sinne der OHL argumentieren. Ob Mewes vor der entscheidenden Besprechung tatsächlich mit dem Kaiser über den uneingeschränkten U-Boot-Krieg gesprochen hat, ist nicht nachweisbar, aber wahrscheinlich, denn der Kaiser holte zu diesem Zeitpunkt zu fast allen militärischen Themen Mewes’ Meinung ein. So hatte er noch am selben Abend Mewes detailliert unter vier Augen den Ablauf der Besprechung und die Bewegründe für seine Entscheidung geschildert, worauf ihn Mewes ausdrücklich zu seinem Entschluss beglückwünschte302 und in den nächsten Wochen in seiner Entscheidung immer wieder bestärkte.303 Die geschilderten Episoden zeigen, dass Mewes nach nur wenigen Monaten sowohl bei Hindenburg und Ludendorff als auch beim Kaiser eine Vertrauensposition erworben hatte, wobei er gegenüber Wilhelm II. sehr oft die Auffassungen der III. OHL vertrat. Dies ist angesichts seiner uneingeschränkten persönlichen Loyalität, die er Zeit seines Lebens Wilhelm II. entgegenbrachte, nur vor dem Hintergrund verständlich, dass er die Ansichten Hindenburgs und Ludendorffs, solange sie nicht direkt gegen den Kaiser und dessen Stellung gerichtet waren, persönlich teilte. Für ihn handelten die beiden schlicht im Sinne des Kaisers und des Reiches. Daher war es für ihn kein Loyalitätsbruch gegenüber seinem Monarchen, wenn er mit der OHL eng zusammenarbeitete. In diesem Sinne erklärte er seiner Frau, »man hat ein derartiges Vertrauen zu Hindenburg und Ludendorff, dass man ruhig und zuversichtlich zustimmt, worüber man sich früher die Haare gerauft hätte«.304 Nicht alle im GrHQ sahen Mewes so positiv wie der Kaiser und die Spitze der III. OHL. Im Umgang mit Höhergestellten freundlich und eloquent, nutzte Mewes seine neugewonnene Stellung offenbar schamlos aus, um nach »unten« zu treten. »Der Widerwärtigste der ganzen Gesellschaft aus der Umgebung des Kaisers«, so der Zahlmeister der Kavalleriestabswache Messerschmidt, »war der Hauptmann Mewes. Dieser hetzte die anderen immer auf, noch größere Ansprüche zu machen [...] Gerade dieser Hauptmann sollte doch froh gewesen sein, daß er das Glück hatte, als Bürgerlicher in diese Umgebung zu kommen, vom Charakter wenig vornehm«.305 Letztlich trug Mewes auf zwei Schultern. Auch als kaiserlicher Flügeladjutant blieb er immer der OHL verbunden und dachte und handelte des Öfteren in deren Sinne. So verschaffte er Ludendorff eine Einladung bei der Kaiserin zum Tee, der Auguste Viktoria für sein Vorgehen gegen Bethmann Hollweg gewinnen wollte.306 Damit war Mewes, wenn auch zu einem noch frühen Zeitpunkt, in die Intrige zur Ablösung Bethmann Hollwegs eingebunden. Wie eng Mewes, bis nahe an die Grenze zur Illoyalität gegenüber dem Kaiser, mit Hindenburg und Ludendorff zusammenarbeitete, verblüfft. So schrieb er, als sich die 301 302 303 304 305 306

Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 9.1.1917, BArch, N 850/24, fol. 57. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 10.1.1917, BArch, N 850/24, fol. 55. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 16.4.1917, BArch, N 850/25, fol. 30. Brief Mewes’ an seine Frau vom 12.4.1917, BArch, N 850/25, fol. 36. Tagebucheintrag Bergs vom 24.12.1918, Berg, Pro Fide, S. 841. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 2.2.1917, BArch, N 850/24, fol. 19.

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Krise um Bethmann Hollweg Anfang Juli 1917 weiter zuspitzte, seiner Frau: »Merkwürdigerweise haben Hindenburg und Ludendorff gar keine Ahnung, wie fest sie sitzen und daß S.M. sie gar nicht fallen lassen kann. Sie glauben, das wäre möglich.«307 Angesichts des guten Verhältnisses zu Hindenburg und Ludendorff ist es wahrscheinlich, dass Mewes sie über Machtkonstellationen in der engeren Umgebung des Kaisers laufend unterrichtete, wie aus einem Brief an seine Frau vom 18. März 1917 hervorgeht: »Der gestrige Tag hat mir auch die Augen geöffnet, wo die Seele des Widerstands gegen die OHL sitzt. Als nämlich Plessen Valentini aufforderte, sich neben Hindenburg zu setzen, sagte der Chef des Zivilkabinetts: das ist für mich völlig ausgeschlossen. Alle ordentlich denkenden Leute waren außer sich. Vielleicht ist es gut, daß so einmal Klarheit geschaffen ist. Es ist natürlich nicht verborgen geblieben.«308 Sicherlich speisten sich die Informationen die Hindenburg und Ludendorff über ihre Gegner in der engeren Entourage des Kaisers besaßen, im Besonderen über Valentini, auch aus Hinweisen von Mewes. Wilhelm II. hat offensichtlich nie an der Loyalität von Mewes gezweifelt, auch wenn er gewiss von der engen Verbindung Mewes’ zur III. OHL wusste. Bestimmt hat er über Mewes indirekt auch Hindenburg und Ludendorff Nachrichten zukommen lassen. So teilte er ihm Mitte März 1917 mit, ihm säge die OHL zu viele verdiente Kommandierende Generale ab, er wolle aber deswegen nichts unternehmen, wenn es »der Alte« (Hindenburg) als richtig erachte.309 Mewes’ Nähe zur III.  OHL blieb auch der engeren Entourage des Kaisers nicht verborgen und wurde von ihr zunehmend mit Skepsis betrachtet. Valentini fühlte sich sogar zu Recht von Mewes beobachtet.310 Daher forderte man Mewes auf, nicht alle Einladungen der III.  OHL anzunehmen, um üble Nachrede zu vermeiden.311 Hindenburg störte sich jedoch nicht an den Vorbehalten des Hofes. Er lud Mewes einfach immer wieder zum Abendessen ein und hofierte ihn, indem er ihm sogar den Ehrenplatz zwischen sich und Ludendorff zuwies.312 Wie wichtig Mewes für die OHL und auch für den Kaiser als Bindeglied zwischen beiden war, zeigte sich daran, dass Mewes in Homburg über eine eigene Telefonverbindung direkten Zugang zu Hindenburg und Ludendorff hatte und diese sowohl von der OHL als auch von ihm intensiv genutzt wurde.313 Wenn der Kaiser sich in Homburg aufhielt, telefonierte er mehrfach am Tag meistens mit Ludendorff. War Mewes mit dem Kaiser in Kreuznach, sprach er persönlich bei Ludendorff vor, zu dem er ein vertrauensvolles Verhältnis entwickelte. Dabei wurden auch innenpolitische Probleme des Reiches nicht ausgeklammert, und es

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Brief Mewes’ an seine Frau vom 3.7.1917, BArch, N 850/26, fol. 13 f. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 18.3.1917, BArch, N 850/25, fol. 78. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 15.3.1917, BArch, N 850/25, fol. 83. Siehe Kapitel Intrigen und Gerüchte, S. 183. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 7.1.1917, BArch, N 850/24, fol. 61. Wer genau an Mewes mit dieser Forderung herangetreten ist, lässt sich aus Mewes’ Briefen nicht ermitteln. Es liegt jedoch nahe, dass Plessen in seiner Funktion Mewes zur Zurückhaltung aufforderte. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 21.1.1917, BArch, N 850/24, fol. 37 f. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 5.5.1917, BArch, N 850/26, fol. 105.

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erstaunt, wie offen Ludendorff mit Mewes über seine innenpolitischen Absichten sprach.314 Außer zu Hindenburg und Ludendorff hielt Mewes auch seinen engen Kontakt zu Bauer aufrecht, zu dem er seit seiner Zeit in der Operationsabteilung ein gutes Verhältnis hatte. Die Bedeutung von Mewes in seiner Position als Flügeladjutant des Kaisers für die OHL wurde einmal mehr offenbar, als er sich mit dem Gedanken an eine Frontversetzung trug. Als Bauer davon erfuhr, reagierte er hochgradig verärgert, hielt ihm eine Standpauke und erklärte, er dürfe jetzt nicht weggehen.315 Mewes war offensichtlich für die OHL eine unverzichtbare Informationsquelle, sodass Bauer deutlichen Druck auf Mewes ausübte, damit dieser seine Dienststellung nicht aufgab. Auf Dauer ließ sich Mewes jedoch von diesem Gedanken nicht abbringen, zumal im Sommer 1917 mit Hauptmann Sigurd von Ilsemann ein ständiger Vertreter der OHL beim Kaiser ernannt worden war. Mewes ertrug zwar das Hofleben immer weniger, aber, und das ist besonders interessant, in erster Linie fürchtete er bei einem weiteren Verbleib als Flügeladjutant ohne längere Fronterfahrung um seine Karriere. Mit Argusaugen beobachtete er daher den Karriereaufbau seiner unmittelbaren Konkurrenten in der OHL, wie z.B. des Majors Bodo von Harbou.316 Mewes erkannte offensichtlich, dass zukünftig militärischer Professionalismus für seine berufliche Zukunft wichtiger sein würde als die Tätigkeit als »Hofschranze«. Lag es daran, dass Mewes aus erster Hand einerseits den Machtverfall des Kaisers, anderseits den Machtzuwachs der OHL erlebte? Leider geben uns seine Briefe darüber keine Auskunft. Wahrscheinlich spielten alle angeführten Gründe eine Rolle für seine Entscheidung. Wichtig war: Mewes wollte weg, weg von dem militärischen Gefolge des Kaisers an die Front, am besten als I. Generalstabsoffizier einer Division. Folgerichtig betrieb er seit dem Frühjahr 1918 konsequent seine Versetzung. Mehrere Alternativen standen im Raum. Eine zeitweilige Abordnung in den Generalstab, der Posten des Militärattachés in Madrid317 oder eine Verwendung im Truppengeneralstab kamen in Frage. Nach einem Gespräch mit Marschall erhielt er Mitte Mai 1918 Klarheit. Nach Rücksprache mit dem Generalstab plante das Militärkabinett, ihn im Truppengeneralstabsdienst zu verwenden. Angesichts der aktuellen militärischen Lage könne eine Versetzung mit Rücksicht auf den Kaiser noch nicht sofort erfolgen. Im Verlauf des August 1918 wurde Mewes erst kommandiert und ab dem 16. November 1918 als I. Generalstabsoffizier in die 12. Infanteriedivision versetzt.318 314 315 316 317

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Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 8.4.1917, BArch, N 850/25, fol. 46. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau von 1917, BArch, N 850/26, fol. 99. Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 8.7.1918, BArch, N 850/23, fol. 2 f. Der Posten des Militärattachés in Madrid kam für ihn trotz seiner Spanischkenntnisse nicht in Frage, da er mit einem sehr hohen Eigenkostenanteil verbunden war, den Mewes nicht leisten konnte. In der Folgezeit war er erst mit der 12. Infanteriedivision und ab dem 4.6.1919 mit der Reichswehrbrigade 8 im Grenzschutz in Schlesien eingesetzt. Trotz intensiver Bemühungen wurde Mewes nicht in die Reichswehr übernommen, seine enge Verbundenheit mit dem ehemaligen Kaiser mag hierbei eine Rolle gespielt haben. Am 15.5.1920 wurde er aus der sogenannten Vorläufigen Reichswehr entlassen. Nur wenige Wochen nach seiner Verabschiedung verlieh ihm die Universität für seine Studie »Die Entwicklung des

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Als der Kaiser am 9. November 1918 ins Exil in die Niederlande floh, begleitete ihn daher nicht Mewes, sondern sein Nachfolger Ilsemann. Mewes hielt auch, als Wilhelm  II. im Exil in Doorn lebte, unbeirrbar am ehemaligen Kaiser fest und diente ihm als Adjutant.319 Als Dank ernannte ihn Wilhelm II. am 15. Juni 1928 unter Verweis auf die ihm im Krieg geleisteten ausgezeichneten Dienste als Flügeladjutant und seine unerschütterliche Treue über den Krieg hinaus zum Königlich Preußischen Oberstleutnant.320 Dass am 27. Juli 1954 in Nürnberg ein überzeugter, bis zuletzt seinem Kaiser treu ergebener Monarchist zu Grabe getragen wurde, davon zeugen die einleitenden Worte von Mewes’ Todesanzeige: »Am 24. Juli 1954 verschied der Kgl. Preuß. Oberstleutnant a.D.321 und Diensttuende Flügeladjutant Weiland Seiner Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm II.«322 Neben Mewes ernannte der Kaiser noch weitere jüngere Offiziere zu diensttuenden Flügeladjutanten. Wahrscheinlich um von der Popularität der erfolgreichen Kaperfahrten des Hilfskreuzers »Möwe« zu profitieren, berief Wilhelm II., gegen den Widerstand Müllers, dessen Kommandanten Korvettenkapitän Nikolaus Graf zu Dohna-Schlodien zu seinem Flügeladjutanten. Müller war über die geplante Ernennung so verärgert, dass er dem Kaiser erklärte, »der Graf Dohna [sei] wegen seiner etwas einseitigen Begabung von Dienststellen mit scharf konzentrierter Tätigkeit, auch von der Flotte, nicht gewünscht [...], aber, fügte ich etwas boshaft hinzu – zum Flügeladjutanten lange es noch immer.«323 Mewes war von dem neuen Flügeladjutanten und Seehelden, wie er seiner Frau schriftlich mitteilte, dagegen positiv überrascht: »Er macht einen sehr sympathischen Eindruck. Ich glaube, man wird, ›gut mit ihm können‹ [...] Vor allem macht er einen bescheidenen Eindruck. Wie sich nun dieser größte Pirat des Jahrhunderts mit dem Leben hier abfinden wird, das ist ein Experiment, dem ich mit Spannung entgegensehe.«324 Als Mewes im Juli 1918 schließlich an die Front versetzt wurde, folgte ihm am 1. August 1918 Hauptmann von Ilsemann nach. Dieser war dem Kaiser nicht nur wegen der erwünschten körperlichen Attribute – groß, schlank und sportlich –, sondern über Monate durch seine Vorträge als Vertreter der OHL beim Kaiser positiv aufgefallen. Ilsemann verblieb an des Kaisers Seite bis zu dessen Tod im Doorner Exil.

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mexikanischen Bankwesens, speziell der deutschen Bankgründungen in Mexiko« am 7.6.1920 den Doktortitel. So diente Mewes nachweislich zumindest vom 18.11. bis 15.12.1932 als Adjutant des Kaisers in Doorn. Siehe Diensteinteilung des Hofmarschall- und Adjutantendienstes vom 31.8.1932, Privatbesitz. Vgl. Ernennungsschreiben vom 15.6.1928, BArch, N 850/18, fol. 30. Für Mewes, der am 26.8.1939 zum Wehrdienst bei der Rüstungsinspektion des Wehrkreises XIII einberufen, am 1.8.1940 zum Major und am 1.2.1942 zum Oberstleutnant z.V. befördert worden war, zählte offensichtlich die rechtlich nicht bindende Beförderung durch den ehemaligen Kaiser mehr als die Beförderungen während des Zweiten Weltkrieges. Todesanzeige Mewes’, BArch, N 512/22. Tagebucheintrag Müllers vom 7.5.1918, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 374. Hier muss Müller ein zeitlicher Zuordnungsfehler unterlaufen sein, denn Dohna-Schlodien bezog seit dem 13.6.1917 die Flügeladjutantenzulage und ist schon im Telefonverzeichnis des GrHQ vom Mai 1917 als Flügeladjutant verzeichnet. Siehe Aktenvermerk vom 13.6.1917, BArch, RM 2/74, fol. 126, sowie Telefonverzeichnis GrHQ vom Mai 1917, BArch, PH 3/4, fol. 3. Brief Mewes’ an seine Frau vom 26.3.1917, BArch, N 850/25, fol. 61.

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Neben Ilsemann und Mewes taten 1918 noch Estorff, Moltke, DohnaSchlodien und Hirschfeld Dienst als diensttuende Flügeladjutanten. Chelius war schon am 27.  März 1917, für alle überraschend, auch für ihn selbst, zum Generalgouvernement nach Belgien kommandiert worden.325 Wie sah der Dienst der diensttuenden Flügeladjutanten während des Krieges in der Regel aus? Ihr Dienst war gänzlich angepasst an die Bedürfnisse des Kaisers. Wie im Frieden aßen sie grundsätzlich gemeinsam mit dem Kaiser, begleiteten ihn bei seinen Spaziergängen und Ausritten, hackten Holz und standen jederzeit zu seiner Unterhaltung bereit. Dazu mussten sie dieselben Zeitungen lesen wie er. Ging der Kaiser seinen Pflichten nach, regelten sie in dem neben dem Arbeitszimmer des Kaisers gelegenen Adjutantenzimmer die tägliche Büroarbeit.326 Einer der Adjutanten musste dabei immer das Tagebuch der Adjutantur führen.327 Letztlich hat sich an dem von Schönburg-Waldenburg für die Friedenszeit beschriebenen »gepflegten Nichtstun« wenig geändert. Dies traf vor dem Hintergrund der räumlichen wie persönlichen Enge des GrHQ noch stärker auf die FlügeladjutantenPolitik zu. Angesichts der wenigen zivilen Momente besaßen die diensttuenden Flügeladjutanten in dem im Krieg weitestgehend militärischen Gefolge des Kaisers noch mehr Möglichkeiten, auf den Monarchen einzuwirken, als im Frieden. Während der viel kritisierte Einfluss der Kabinettschefs oft ein direkter war, erfolgte der der diensttuenden Flügeladjutanten subtiler. Sie hielten dem Monarchen keine Lagevorträge, sie erzählten, wie Mewes oder Ilsemann, die ihrer Ansicht nach wichtigen Neuigkeiten aus der OHL und in entspannter Atmosphäre, etwa beim Holzhacken, sicherlich auch so manchen militärischen Tratsch. Dabei konnte der stete Tropfen auf Dauer mehr bewirken als die vielen offiziellen Lagevorträge. Zusammen mit den diensttuenden Flügeladjutanten, die als Kammerherren, bessere Sekretäre und »Schatten« des Kaisers ihren Dienst rund um die Uhr verrichteten, war immer einer der älteren diensttuenden Generaladjutanten zum Dienst eingeteilt. Die Rollenverteilung zwischen dem »kleinen« und dem »großen« diensttuenden Flügeladjutanten, oder wie es offiziell hieß: »ersten« und »zweiten« Dienst, verdeutlichte Schönburg-Waldenburg am Beispiel einer kaiserlichen Ausfahrt. Der diensttuende Flügeladjutant des ersten Dienstes begleitete den Kaiser im kaiserlichen Wagen. Der diensttuende Flügeladjutant des zweiten Dienstes folgte im zweiten Wagen und hatte beim Aussteigen dem Kaiser sofort zu helfen und an seiner linken Seite Aufstellung zu nehmen.328 Im Laufe des Krieges nahmen die diensttuenden Flügeladjutanten vermehrt Aufgaben der diensttuenden Generaladjutanten wahr, da nur noch Chelius als solcher für den täglichen Dienst zur Verfügung stand. Der während des Krieges zum diensttuenden Generaladjutanten ernannte Gontard war als Hausmarschall, der in den ersten Kriegsjahren auch noch die Aufgaben des Hofmarschalls von Konteradmiral Oskar Graf von Platten-

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Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 28.3.1917, BArch, N 850/25, fol. 58. Siehe Ilsemann, Der Kaiser in Holland, S. 15. Von den Tagebüchern der Kriegsjahre ist lediglich der Band des Jahres 1918 erhalten geblieben. Siehe dazu Kaisertage, S. 12 f. Siehe Schönburg-Waldenburg, Erinnerungen, S. 135.

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Hallermund329 übernehmen musste, nicht in der Lage, die täglichen Pflichten eines diensttuenden Generaladjutanten zu erfüllen. Gontard war in seiner Doppelfunktion nicht nur für die persönliche Betreuung des Monarchen, sondern gleichfalls für die Unterkunft und die Räumlichkeiten des Kaisers im GrHQ, die Organisation des Haushaltes, z.B. der Küche und der Diener, sowie für den Ablauf der Empfänge und Abendessen zuständig. Gontard hatte als Erzieher aller Söhne Wilhelms II. eine Vertrauensposition in der kaiserlichen Familie inne und galt noch dazu als Vertrauensmann der Kaiserin.330 Beflissen kümmerte er sich unaufhörlich um Wilhelm II. und »umgab«, wie Treutler ausführt, »den Kaiser rührend, wie eine Frau, mit zartester Sorgfalt«.331 Gontard, der Wilhelm II. als Hofmarschall auch ins Exil in die Niederlande begleitete, gehörte sicherlich zu den Persönlichkeiten in der näheren Umgebung des Kaisers, die das Ohr des Kaisers hatten. Inwieweit er dies nutzte, um beispielsweise die Interessen der Kaiserin beim Kaiser vorzutragen oder sogar durchzusetzen, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Der diensttuende Generaladjutant Plessen hatte als I.  Kommandant des GrHQ die zentrale Position im militärischen Gefolge des Kaisers inne. Rein äußerlich erfüllte der 1,90  Meter große, schlanke, elegante und schneidige Plessen sogar im hohen Alter von über 70  Jahren332 idealtypisch alle körperlichen Anforderungen, die Wilhelm  II. an seine Flügeladjutanten stellte. Als langjähriger Flügeladjutant Wilhelms  I., der ihn ausgesprochen schätzte und als besondere Ehre zum Kommandeur des prestigeträchtigsten Regiments der preußischen Armee, des 1.  Garderegiments zu Fuß, ernannt hatte, beherrschte Plessen die ungeschriebenen Spielregeln des Hofes perfekt. Er war der preußische Hofgeneral schlechthin, der im Gegensatz zu vielen Hofschranzen seine militärischen Fähigkeiten in den deutschen Einigungskriegen überzeugend unter Beweis gestellt hatte. Auch Wilhelm  II. schätzte Plessen und übernahm ihn daher als diensttuenden Flügeladjutanten. 1892 ernannte er ihn, unter Berufung auf die treuen Dienste, die er seinem Großvater geleistet hatte, zum Kommandanten seines Hauptquartiers und fordert ihn auf, ihm allezeit »ein guter Camerad wie lieber Freund [zu] sein«.333 Plessen nahm diese Aufforderung so ernst, dass er sie in seiner bedingungslosen Treue zu Wilhelm II. zu seiner Lebensmaxime erhob. Er stellte fortan sein ganzes Leben zu jeder Tages- und Nachtzeit, sei es in Berlin, auf Reisen oder später im GrHQ, in den Dienst an seinem Kaiser. Auch die kleinsten Handlangertätigkeiten, mit denen ihn Wilhelm II. betraute, erledigte er umgehend. Dem Wohlbefinden seines Monarchen ordnete er seine persönlichen Befindlichkeiten weitestgehend unter. Im GrHQ wurde dies mit 329

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Platten-Hallermund war mit Kriegsbeginn als Seeoffizier reaktiviert worden. Nach Verwendungen im Werftdepartement bis Januar 1915 und im Marinekorps bis Mitte 1916 kehrte er in seine alte Verwendung als Hofmarschall ins GrHQ zurück. Er begleitete den Kaiser als Hofmarschall auch in dessen Exil in Doorn. Siehe Mutius, Lebenserinnerungen, BArch, N 195/2, S. 186. Treutler, Die graue Exzellenz, S. 176. Siehe Mutius, Lebenserinnerungen, BArch, N 195/2, S.  185  f. Der am 26.11.1841 geborene Plessen war bei Kriegsende mit 77  Jahren der älteste aktive Soldat des Ersten Weltkrieges. Zit. nach Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Hans-Georg von Plessen, S. 597.

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einer Mischung aus Respekt und Unverständnis gesehen, so auch von Mewes: »Plessen, der im Hause bei seinen Enkeln Windpocken hat, wohnt hier in den sogenannten Communs. Unbegreiflich! Aber der alte Herr kann nach 80jähriger Gutmütigkeit einfach nicht anders. Er denkt immer, er versäumte etwas.«334 Ob Plessen wirklich so dachte, sei dahingestellt. Auf jeden Fall war er in seiner uneingeschränkten Hingabe, Afflerbach spricht hier sogar von Liebe in Form von großer Anhänglichkeit sowie von »unaussprechlicher Dankbarkeit«, bereit, alles für den Kaiser zu tun und jegliche Kränkungen und Demütigungen zu ertragen. Der Kaiser selbst hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu seinem diensttuenden Flügeladjutanten. Einerseits hob er Plessen durch Beförderungen hervor und ehrte ihn durch Ordensauszeichnungen; andererseits, der bedingungslosen Hingabe Plessens gewiss, behandelte er ihn barsch, häufig auch verächtlich, als besseren Lakaien und Laufburschen und demütigte ihn im Beisein Außenstehender.335 Obwohl Plessen sich immer wieder ungerecht behandelt fühlte und über seine stillose Entlassung empört war – er wurde »nach 54 Dienstjahren mit ›einem drei Zeilen langen Schreibmaschinenwisch‹ verabschiedet« –,336 blieb er Wilhelm II. »in unkonditionierter Ergebenheit verbunden«.337 Folgerichtig delegierte er im Gegensatz zu Gontard, der ganz in seinen Aufgaben als Hof- und Hausmarschall aufging, seine Aufgaben als I.  Kommandant, mit Ausnahme unter anderem der Führung der Flügeladjutanten, an den II. Kommandanten des GrHQ und konzentrierte sich im Wesentlichen ganz auf seine Pflichten als diensttuender Generaladjutant. Welche Pflichten waren das? Sie waren in keiner Vorschrift fixiert. Sie ergaben sich, wie bei den diensttuenden Flügeladjutanten, aus der Vorgabe, dem Kaiser jederzeit für alles Erdenkliche zur Verfügung zu stehen. Das eröffnete Plessen als diensttuendem Generaladjutanten alle nur denkbaren Optionen. Er konnte sich in alle den Kaiser betreffenden Belange einbringen und als sein langjähriger enger Vertrauter Einfluss auf ihn ausüben. Schon zu Lebzeiten Plessens fragten sich viele Zeitgenossen, ob und in welchem Ausmaß er tatsächlich auf die Entscheidungen Wilhelms II. einwirkte, zumal auch die engere Umgebung Plessens die intellektuellen Fähigkeiten des Generalobersten in Frage stellte. So hält Mutius in seinen Lebenserinnerungen fest, Plessen sei »weder an Verstand noch Stärke des Charakters überragend«,338 repräsentiere aber für den Kaiser die militärische Tradition seines Großvaters. Andere diskreditierten Plessen als »völlig greisenhafte« Erscheinung, da ihm jegliche körperliche wie geistige Frische fehle.339 Dieser Vorwurf entbehrt jedoch jeder Grundlage, denn Mutius, der, wie dargestellt, Plessen sehr wohl kritisch sah, beschreibt ihn als »gewandt wie jugendlich frisch trotz seiner siebzig Jahre«.340 Nichtdestoweniger war Plessen wegen seines Alters, vor allem aber wegen seiner politischen Einstellung ein Anachronismus im Gefolge des Kaisers. Sowohl in der 334 335

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Brief Mewes’ an seine Frau vom 4.5.1918, BArch, N 850/23, fol. 81. Siehe Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Hans-Georg von Plessen, S. 614, Zitat ebd. Siehe ebd., S. 628. Ebd., S. 629. Mutius, Lebenserinnerungen, BArch, N 195/2, S. 186. Siehe Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Hans-Georg von Plessen, S. 591. Mutius, Lebenserinnerungen, BArch, N 195/2, S. 185.

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Innen- als auch in der Außenpolitk vertrat er zutiefst reaktionäre Vorstellungen, und obwohl im höfischen Umgang für seinen Takt bekannt, ließ er in politischen Dingen oft die gebotene kluge Zurückhaltung vermissen. Als entschiedener Reaktionär altpreußischer Prägung war er ein, wenn nicht sogar das Einfallstor für reaktionäre Kräfte innerhalb des persönlichen Gefolges, sodass Bauer ihn wegen seiner Treue zum Kaiser und seiner Vaterlandsliebe lobte,341 während Treutler ihn als »vollkommene Niete« bezeichnete, die einen unheilvollen Einfluss auf den Kaiser gehabt habe.342 Hatte Plessen wirklich den von Treutler apostrophierten unheilvollen Einfluss auf den Kaiser? Oder wurde und wird sein Einfluss überschätzt? Unbestritten hatte Plessen jederzeit Zugang zum Monarchen, unbestritten hat er bei manchen personalpolitischen Entscheidungen Partei ergriffen, jedoch seine Vorstellungen nur gelegentlich auch durchgesetzt343, und unbestritten hat er, wo er es als notwendig erachtete, so beim Sturz von Bethmann Hollweg und auch beim Sturz von Valentini, gnadenlos intrigiert. Dies tat er nicht, um sich persönliche Vorteile zu sichern, sondern aus der festen Überzeugung heraus, gegen den »Linkstrend« im Kaiserreich angehen zu müssen, um so die Monarchie und den Kaiser zu schützen. Wie so viele andere war er felsenfest überzeugt, das Richtige zu tun. Das feine Florett war dabei nicht die Waffe seiner Wahl, sondern oft eher der plumpe Säbel. So verweigerte er Bethmann Hollweg demonstrativ den Handschlag und desavouierte ihn damit öffentlich344, oder er verärgerte den Kriegsminister Generalleutnant Adolf Wild von Hohenborn, als er ein ausdrücklich streng vertraulich-persönliches Gespräch, in dem jener Zweifel an Falkenhayns operativen Fähigkeiten geäußert hatte, sofort dem Kaiser eröffnete.345 Müller und Berg waren sich in ihrer Beurteilung weitgehend einig. Berg beschrieb Plessen als »von bester Gesinnung beseelt, aber ganz ohne Einfluß«, und erklärte: »Der Kaiser wurde im Gegenteil meist ungeduldig, wenn Plessen etwas sagte oder anregte.«346 Müller hingegen, den Plessen als ihm im GrHQ innerlich am nächsten stehend bezeichnete,347 hielt ihn schlicht für einen »Hofnarr«,348 der zudem auch noch »byzantinisch schwätzte«.349 Müller und Berg mögen aus ihrer Warte heraus Plessens Möglichkeiten gering geschätzt haben, doch, und hier ist Afflerbach uneingeschränkt zuzustimmen, abgesehen von dem nicht messbaren Einfluss auf den Kaiser während der vielen Gespräche entre nous ist Plessens Position mit Blick auf die Absetzung Falkenhayns sowie den Sturz von Bethmann

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Siehe Bauer, Der große Krieg, S. 77. Siehe Treutler, Die graue Exzellenz, S. 176. Siehe Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Hans-Georg von Plessen, S. 605. Siehe Kriegstagebucheintrag Müllers vom 22.3.1917, Müller, Regierte de Kaiser?, S. 267. Siehe Eintrag Wild von Hohenborns in seinen Aufzeichnungen vom 28.8.1916, BArch, N 44/2, fol. 205. Friedrich v. Berg als Chef des Geheimen Zivilkabinetts 1918, S. 105 Siehe Kriegstagebucheintrag Plessens vom 30.12.1914, Kaiser Wilhelm  II. als Oberster Kriegsherr, S. 714. Dieser Tagebucheintrag offenbart, dass entweder Plessens Menschenkenntnis zu wünschen übrig ließ oder Müller seine wahre Meinung über Plessen gut verbergen konnte. Kriegstagebucheintrag Müllers vom 19.3.1917, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 12. Kriegstagebucheintrag Müllers vom 14.6.1918, ebd., S. 383.

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Hollweg und Valentini nicht zu unterschätzen,350 zumal der eigentlich verhängnisvolle Einfluss des diensttuenden Generaladjutanten mit desaströsen Folgen für das Kaiserreich nicht dessen Intrigen, sondern seine konsequent betriebene Abschottung Wilhelms  II. von der Realität des Krieges war. Schon wenige Tage nach Kriegsbeginn hatte er die Losung ausgegeben, das persönliche Gefolge müsse angesichts des labilen Gemütszustandes Wilhelms alles dafür tun, dessen Stimmung hochzuhalten.351 An dieser Linie hielt er unbeirrt fest, auch auf die Gefahr hin, negative Meldungen zu filtern. Zudem verfuhr der bedingungslose Optimist gemäß der Devise, dem Kaiser nur positive Nachrichten zu übermitteln. Diese bedenkliche Strategie wurde in Teilen zwar auch von anderen Angehörigen des persönlichen Gefolges geteilt, von Plessen jedoch am nachhaltigsten betrieben. So untersagte Plessen General Wilhelm Groener ausdrücklich, dem Kaiser in einem Vortrag die volle Wahrheit über die Lage zu sagen.352 Besonders schwerwiegend wirkte sich Plessens überbordender Optimismus verknüpft mit seiner Abschottungspolitik Anfang Oktober 1918 aus, als er nach einem Frontbesuch an den Kaiser telegrafierte, die Stimmung an der Front sei günstig. Müller nahm Plessens Meldung skeptisch auf: »Plessen telegraphiert immer Günstiges,« schrieb er in sein Tagebuch, um mit einer klaren Schuldzuweisung und einer deutlichen Spitze hinzuzufügen: »Er sieht auch immer Günstiges und weil er das tut, trägt er mit Schuld an der jetzigen Lage.«353 Erschwerend kam noch hinzu, dass er den Kaiser in dem Glauben bestärkte, über außergewöhnliche militärische Fähigkeiten zu verfügen. So führte die Lobhudelei Plessens über die Verdienste Wilhelms II. für die Ausbildung der Armee zu der Fehlperzeption des Kaisers, die Armee würde seine Lehren über den Angriff nicht umsetzten und scheitere deswegen immer wieder.354 Nicht etwa die »liberale Clique« Müller, Valentini und Treutler sowie in Teilen Lyncker baute also in erster Linie die von den reaktionären Kreisen um den Kronprinzen bezeichnete chinesische Mauer um den Kaiser auf, sondern der Mann, den sie in ihre Intrigen zum Fall dieser Mauer einbanden, um dann selbst einen in ihrem Sinne guten Schutzwall gegen linke Tendenzen und Schwarzmalerei zu errichten. Wie realitätsblind und verblendet Plessen die Lage auch am Kriegsende bewertete, zeigt seine Reaktion auf den Vorwurf Groeners am 9. November 1918, der Gang Wilhelms ins Exil sei die Folge der Desinformation des Kaisers während des Krieges. »Seine Majestät«, so Plessen, »sind jahrelang belogen worden,« um dann in Tränen auszubrechen, als Groener ihm fragend vorwarf: »Was glauben sie denn von wem?«355

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Siehe Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Hans-Georg von Plessen, S. 618‑621. Siehe Kriegstagebucheintrag Müllers vom 6.8.1914, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 44. Die Tatsache, dass Groener vermutete, sein Widerspruch habe zu seiner kurze Zeit später erfolgten Versetzung aus dem Kriegsamt geführt, offenbart, welchen Einfluss Groener Plessen in Personaldingen zugestand. Siehe Afflerbach, Politisch-Biographische Skizze des Generalobersten Hans-Georg von Plessen, S. 617. Kriegstagebucheintrag Müllers vom 5.10.1918, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 427. Siehe Kriegstagebucheintrag Müllers vom 28.5.1915, ebd., S. 105. Zit. nach Groener, Lebenserinnerungen, S. 463, Anm. 15.

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6. Heer Das Heer stellte mit den Chefs der obersten Waffenbehörden, vor allem aber mit der Obersten Heeresleitung die umfassendste Formation des GrHQ. Im Gegensatz zu seinem Pendant in der Marineführung, dem Staatssekretär des RMA, war der Kriegsminister356 gemäß dem Mobilmachungsplan ad personam im GrHQ eingeplant. Folgerichtig trat Falkenhayn bei Kriegsbeginn mit seinem mobilen Stab zum GrHQ.357 Das Ministerium in Berlin mit rund 700 Offizieren führte sein Stellvertreter General Franz Gustav von Wandel. Wie im Frieden hatte der Kriegsminister auch im Krieg keine Kommandogewalt inne. Das Kriegsministerium blieb weiterhin die für Personal, Ausrüstung, Ausbildung und Bewaffnung zuständige oberste Militärverwaltungsbehörde, es entwickelte sich jedoch zur maßgebenden Verbindungstelle zwischen Zivilverwaltung und OHL und zur obersten Instanz der wirtschaftlichen und militärischen Mobilmachung.358 Auch nach seiner Ernennung zum Chef des Generalstabes des Feldheeres am 14.  September 1914 behielt Falkenhayn in Personalunion das Amt des Kriegsministers zunächst bei. Er vereinte in seiner Person die beiden wichtigsten Ämter des Heeres – eine Machtfülle, die Tirpitz in der Marine vergeblich anstrebte. Aufgrund wachsender Kritik an seiner Führung sah sich Falkenhayn schon nach wenigen Monaten, am 20.  Januar 1915, gezwungen, das Amt des Kriegsministers seinem Vertrauten Wild von Hohenborn zu übergeben. Dieser verblieb mit seinem Stab im GrHQ und hielt engen Kontakt zu Falkenhayn. Falkenhayns Adjutant, Oberleutnant Hans Henning Pentz, charakterisierte Wild von Hohenborn als »liebenswürdig und faul«. Er sei, obwohl er qua Amt nach Berlin gehört habe, »fröhlich im Hauptquartier« geblieben, um Falkenhayn, was wohl auch häufig geschah, zu beraten.359 Im Rahmen des Revirements nach der Übernahme der OHL durch Hindenburg wurde Wild von Hohenborn, der als absoluter Parteigänger Falkenhayns galt, von General Herrmann von Stein abgelöst.360 Dieser verlegte den Sitz des Kriegsministers zurück nach Berlin und kam nur zu wichtigen Besprechungen ins GrHQ. Dort verblieb bis Kriegsende nur noch eine kleine Vertretung des Kriegsministeriums. Der Rückzug des Kriegsministers aus der OHL belegt den Machtverlust, den dieser schon kurz nach der Übernahme der Amtsgeschäfte der III. OHL erfuhr.

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Der preußische Kriegsminister war de facto Reichskriegsminister. Die Formation Kriegsminister umfasste gemäß Stärkenachweisungen nach der Mobilmachung neben dem Kriegsminister sechs Offiziere: seinen Vertreter und Chef des Stabes des Kriegsministers im GrHQ Oberst Heinrich Scheüch, die Adjutanten Falkenhayns sowie drei Stabsoffiziere. Dazu traten neun höhere und untere Beamte sowie 47 Unteroffiziere und Mannschaften. Letztere waren in erster Linie Kraftwagenführer und Trainsoldaten. Siehe D.V.E. 219a, Stärkenachweisungen, S. 3. Zum Kriegsministerium im Krieg siehe Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd  5, S.  200; Cron, Geschichte, S.  28  f.; neuerdings Stachelbeck, Deutschlands Heer und Marine, S. 113 f. Siehe Schreiben von Hans Henning von Pentz an Karl Heinz Janssen vom 12.11.1959, BArch, N 128/7, S. 9. Stein wurde am 9.10.1918 durch Scheüch abgelöst.

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Preußisches Kriegsministerium 1918 Kriegsminister bis Oktober 1918 Generalleutnant Hermann von Stein ab Oktober 1918 Generalleutnant Heinrich von Scheüch

Zentraldepartement (ZD)

Versorgungs- und Justizdepartement (CD)

Allgemeines Kriegsdepartement (AD)

Remonte-Inspektion (RI)

Truppendepartement (TD)

Sanitätsdepartement (SD)

Armeeverwaltungsdepartement (BD) Unterkunftsdepartement (UD)

Quelle: Cron, Geschichte des Deutschen Heeres, S. 36 f.

Kriegsamt (K) A. Kriegsersatz- und Arbeitsdepartment (ED) B. Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt (Wumba) C. Kriegsrohstoffabteilung (KRA) D. Abt. für Ein- und Ausfuhr (AB)

© ZMSBw

09145-02

Die umfassendste Formation des GrHQ war die OHL, die im Krieg zum wichtigsten Führungsinstrument des Heeres avancierte.361 Sie entstand per Mobilmachungsbestimmungen aus den mobilgemachten Anteilen des Großen Generalstabes. Zu Kriegsbeginn gliederte sich die OHL in die Zentralabteilung, die Operationsabteilung, die politische Abteilung, die Nachrichtenabteilung und die Sektion IIIb.362 Die Zentralabteilung363 war zuständig für Verwaltung, Organisation und Personalführung in der OHL. Die Nachrichtenabteilung, seit dem 20. Mai 1917 hieß sie Abteilung Fremde Heere, wertete, nicht zuletzt auch auf Grundlage der Erkenntnisse des geheimen Nachrichtendienstes der Sektion IIIb, die Kräfteverteilung, Organisation und Kriegführung der gegnerischen Streitkräfte aus. Dazu erstellte sie täglich für die Operationsabteilung sowie den Chef des Generalstabes des Feldheeres die aktuelle Feindlage. Erster Chef der Nachrichtenabteilung war Oberstleutnant (ab Januar 1917 Oberst) Richard Hentsch.364 Die Sektion IIIb führte während des Krieges Nicolai.365 Die Aufgaben dieser Sektion weiteten sich ab August 1914 immer mehr aus. Ursprünglich nur mit geheimer Nachrichtengewinnung und Spionageabwehr betraut, kamen schon mit Kriegsbeginn die Verantwortung für die Presse- und die Propagandaarbeit 361 362 363

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Siehe Stachelbeck, Deutschlands Heer und Marine, S. 114. Siehe Epkenhans [u.a.], Walter Nicolai – Annäherung an einen Unbekannten, S. 21. Die Zentralabteilung der OHL leitete bis zum 26.3.1916 Karl von Fabeck (zunächst als Oberstleutnant, ab dem 24.7.1915 als Oberst), danach bis Kriegsende Hans Tieschowitz von Tieschowa (als Oberstleutnant, ab dem 18.8.1918 als Oberst). Ihm folgte ab Mai 1915 bis Kriegsende Major Leopold von Rauch. Nicolai wurde am 27.1.1918 zum Oberstleutnant befördert.

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der OHL hinzu.366 Folgerichtig wurde sie im Juni 1915 zu einer eigenständigen Abteilung aufgewertet. Die Politische Abteilung, am 10. Februar 1916 umbenannt in Militärpolitische Abteilung, beobachtete die Politik aller am Krieg beteiligten Mächte sowie der neutralen Staaten. Zugleich bearbeitete sie völkerrechtliche Fragen und stand jederzeit im engen Kontakt mit der politischen Leitung des Kaiserreiches.367 Das Gravitationszentrum der OHL war die aus der 2. (deutschen) Abteilung des Großen Generalstabes hervorgegangene Operationsabteilung. Sie war zugleich das Büro für die persönlichen Schreiben des Generalstabschefs des Feldheeres. Dem Chef der Operationsabteilung oblag nicht nur die Beratung des Chefs des Generalstabes des Feldheeres in allen operativen Belangen, sondern auch die Umsetzung von dessen operativen Ideen in praktikable Operationspläne. Zu diesem Zweck überwachten die Offiziere der Operationsabteilung alle für die Kriegführung notwendigen Bereiche des Heeres, wie Ausrüstung, Ausbildungsstand, Gliederung und Bewaffnung. Zu Kriegsbeginn verfügte die Operationsabteilung über die Abteilungen O  I, O  II sowie O  T.368 Die wichtigste Unterabteilung war O  Ia. Sie war zuständig für die Operationen auf dem Hauptkriegsschauplatz im Westen und befasste sich mit dem klassischen Kerngeschäft des Generalstabs. Ihr Abteilungsleiter Oberstleutnant, ab dem 26.  Juni 1915 Generalmajor Tappen war zugleich Chef der Operationsabteilung.369 O Ib, geführt von Major Gustav von Bartenwerffer, war zuständig für die Führung des Kriegstagebuchs und den Schriftverkehr mit dem Admiralstab, dem Auswärtigen Amt, der Presse und der Nachrichtenabteilung. Zuständig für die Kriegsgliederung des Feldheeres, den Schriftverkehr mit dem Kriegsministerium und für Karten war O Ic. Diese leitete Hauptmann Erich Freiherr von dem Bussche-Ippenburg. Die Abteilung O  II, geleitet von Major, seit dem 18. August 1918 Oberst Bauer, war anfänglich zuständig für die Operationen an der Ostfront und eventuell notwendig werdende 366

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Zur Tätigkeit der Abt. IIIb und Nicolais während des Krieges siehe Epkenhans [u.a.], Walter Nicolai – Annäherung an einen Unbekannten, S. 33‑51. Ihr Chef war zu Kriegsbeginn Oberstleutnant, ab dem 5.9.1914 Oberst Wilhelm von Dommes. Ihm folgte vom 21.10.1914 bis zum 10.2.1916 Hans Tieschowitz von Tieschowa. Danach übernahm Oberst, seit dem 16.9.1917 Generalmajor Paul von Bartenwerffer bis Kriegsende die Abteilung. Zur Gliederung der Operationsabteilung siehe das »Hilfsbuch zur Benutzung der Registratur des Sachgebietes 4/5 bezüglich der zu verwaltenden Akten der OHL, 1914‑1918«, BArch, RH 18/v. 473, fol. 58 f. Ursprünglich war geplant, dass Ludendorff im Mobilmachungsfall die Operationsabteilung führen sollte. Mit seiner Versetzung als Regimentskommandeur nach Düsseldorf am 27.1.1913 wurde diese Mobilmachungsverfügung aufgehoben und Ludendorff als Oberquartiermeister der 2. Armee eingeplant. Siehe dazu Ludendorff, Mein militärischer Werdegang, S. 158 f., sowie Nebelin, Ludendorff, S. 102. Die von Ludendorff propagierte Erklärung, er sei wegen des von ihm vertretenen großen Rüstungsprogramms versetzt worden, hält einer genaueren Untersuchung nicht stand. Ludendorff stand aufgrund der Anciennität zur Beförderung zum Generalmajor an. Da er bis dahin nur als Kompaniechef und nicht als Bataillonskommandeur Soldaten geführt hatte, brauchte er dringend eine Führungsverwendung in der Truppe. Siehe Uhle-Wettler, Erich Ludendorff, S. 73. Auch die Einplanung zum Oberquartiermeister einer Armee im Mobilmachungsfall entsprach dem gängigen Personalentwicklungsprogramm der Armee.

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Operationen gegen Dänemark im Norden. Sie wuchs zeitweise auf bis zu vier Unterabteilungen an. Ihr Aufgabenfeld erweiterte sich um die Kriegswirtschaft, die schwere Artillerie sowie das Munitionswesen. Hauptmann Hans Koeppen führte die Abteilung O T. In ihr Aufgabengebiet fielen die technischen Truppen, die Luftschiffe sowie der Fernmeldeverkehr. Falkenhayn löste diese Abteilung Ende 1914 auf und verteilte die Arbeitsgebiete auf andere Abteilungen. Überhaupt wurde die Operationsabteilung bis 1918 mehrfach umgegliedert. Neue Arbeitsfelder entstanden, andere wurden umverteilt. Die Arbeitsgebiete wechselten oder überlagerten sich zudem seit Beginn des Krieges laufend. Das betraf besonders die Unterabteilung Sektion O Ib, die wohl Mitte 1916 aufgelöst und am 15. September 1918 mit erweitertem Aufgabengebiet wieder aufgestellt worden ist. Seit Mitte Juli 1915 bestand die Operationsabteilung aus den beiden Abteilungen O I und O II. Neben dem Chef des Generalstabes des Feldheeres hatte der Chef der Operationsabteilung die Schlüsselposition innerhalb der OHL inne. In der I. und II. OHL war dies Tappen, der 1913 Ludendorff als Chef der 2. Abteilung nachgefolgt war und mit Beginn der Mobilmachung die Führung der Operationsabteilung übernahm. In operativen Fragen war Tappen sowohl Moltkes d.J. als auch Falkenhayns rechte Hand. Ihm oblag es, nicht nur die operativen Ideen des Chefs des Generalstabes des Feldheeres umzusetzen, sondern mit eigenen operativen Vorschlägen an Moltke oder Falkenhayn heranzutreten. In den ersten Kriegstagen in Coblenz erweckte Tappen den Eindruck, seiner Aufgabe gewachsen zu sein. Mewes hob gegenüber seiner Frau ausdrücklich hervor, Tappen strahle trotz seiner großen Verantwortung eine wundervolle Ruhe aus.370 Mewes’ Wertschätzung schlug jedoch sehr schnell ins Gegenteil um. Nachdem die Euphorie der ersten Kriegstage nach der Niederlage an der Marne verflogen war, war er von Tappens Fähigkeiten schon nicht mehr so überzeugt. An seine Frau schrieb er die prophetischen Worte: »Ich sehe schon kommen, daß wir uns den Ludendorff noch hierher holen.«371 Der Meinungsumschwung Mewes’ setzte sich in den folgenden Monaten stetig fort. Immer deutlicher erkannte Mewes Schwächen bei Tappen. Unter Stress reagierte dieser immer gereizter und ließ den Druck an seinen Untergebenen aus. Von Ruhe und Ausgeglichenheit war sehr bald keine Rede mehr. Wegen seiner andauernden Übellaunigkeit und »Knatschigkeit« gaben ihm die Offiziere der Operationsabteilung den Spitznamen »Knatsch«.372 Nicht nur die unerträgliche Arroganz sowie die Launenhaftigkeit und Gereiztheit seines Chefs ärgerten Mewes, sondern auch dessen unverschämter Umgang mit seinen Untergebenen. Wie ein roter Faden durchziehen Mewes’ Briefe Beschwerden über Tappens schikanöse Menschenführung.373 Im Sommer/Herbst 1915 eskalierte die Situation: »In der [Operations-]Abteilung ist eine Krise ausgebrochen, die schon lange in der Luft lag. T. ist derartig reizbar, daß beim besten Willen nicht mehr 370 371 372 373

Siehe Brief Mewes’ an seine Frau vom 24.8.1914, BArch, N 850/29, fol. 67 f. Brief Mewes’ an seine Frau vom 12.9.1914, BArch, N 850/29, fol. 2. Siehe Mewes’ Brief an seine Frau vom 18.7.1915, BArch, N 850/30, fol. 37 f. »Tappen«, so Mewes am 9.8.1915 in einem Brief an seine Frau, »ist furchtbar launisch. Sein Verhältnis zu uns ist so schlecht, wie es eigentlich nur sein kann. Alles schimpft. Erleichtert wird einem der Dienst dadurch nachgerade nicht«, BArch, N 850/30, fol. 84. Siehe auch Mewes’ Brief an seine Frau vom 7.9.1915, BArch, N 850/29, fol. 86.

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mit ihm auszukommen ist. Heute haben Bussche und Harbou dran glauben müssen. Er hat sich aber auch geradezu pöbelhaft gegen sie benommen, daß die Abteilung geschlossen gegen ihn steht, muß er merken und weiß es auch. Ich glaube kaum, daß es einen mehrgehassten Mann gibt unter den Soldaten. Na, Schwamm drüber, man muß im Interesse der Sache eben auskommen so gut oder vielmehr [so] schlecht es geht.«374 Im Laufe der nächsten Monate begann Mewes, Tappen geradezu zu hassen. Er bezeichnete ihn gegenüber seiner Frau als Ekel375 und sei froh, wenn Tappen auf Dienstreise gehe, dann werde die Flagge hochgezogen und alle lebten auf.376 Im Verlauf der nächsten Monate entspannte sich die Situation in der Operationsabteilung offensichtlich nicht. Im Gegenteil, Mewes wurde seiner Frau gegenüber immer deutlicher. Als Tappen im März 1916 zu einer längeren Frontreise aufbrach, hoffte er anfangs, Tappen werde felddienstunfähig zurückkommen377, um dann nach dessen Rückkehr seiner Frau zu schreiben: »Eine mitleidige Kugel [für Tappen] hat sich nicht gefunden.«378 Tappens Verhalten spaltete die Operationsabteilung. Während Mewes’ Sicht auf seinen Vorgesetzten von den meisten Offizieren geteilt wurde, antichambrierten Bussche, Harbou und Boehm zur Verärgerung der anderen Offiziere anfangs offen mit Tappen.379 Bauer dagegen ging noch härter mit Tappen ins Gericht als Mewes. Er kritisierte im Gegensatz zu Mewes scharf dessen taktische und operative Fähigkeiten.380 Aus der wohl gegenseitigen Aversion erwuchs im Laufe der Monate eine Feindschaft, die den Krieg überdauern und in einem Ehrenverfahren gipfeln sollte, als Tappen Bauer wegen seiner persönlichen Angriffe auf Pistolen forderte.381 Die angespannte, teilweise vergiftete Stimmung in der Operationsabteilung belastete nicht nur die persönlichen Beziehungen der Offiziere, sondern auch die der Ehefrauen untereinander. So forderte Mewes, der mit seiner Frau bisher einen freundschaftlichen Kontakt zum Ehepaar Harbou gepflegt hatte, seine Gattin auf, den Kontakt zu Harbous Ehefrau einzuschränken. »Es ist schade,« so Mewes am 26. Januar 1915, »daß eine gewisse Entfremdung eintritt, aber das läßt sich nicht vermeiden. Er [Harbou] tut so, als wenn er die Abteilung regiert und großmütig seine Brocken ans Volk verteilt [...] Dazu bin ich mir zu gut und der Meinung bist du auch, das weiß ich! Es wäre mir lieb, wenn Du ihm nicht darüber schreibst.«382 Als Tappen auch seine letzten Verbündeten verärgert hatte, verbesserte sich langsam wieder das Verhältnis zwischen Harbou und Mewes. Aber zu Boehm, der wei374 375 376

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Brief Mewes’ an seine Frau vom 6.9.1915, BArch, N 850/29, fol. 89. Siehe Mewes’ Brief an seine Frau vom 14.11.1915, BArch, N 850/38, fol. 6. »Wir sind heute sehr guter Laune. Die Abwesenheit von Tappen wirkt auf uns wie die Befreiung aus einem Albdruck. Es ist zu nett [...] wenn dies, mit Erlaubnis zu sagen, Schwein nicht da ist. Na, der Kerl ist es nicht wert, dass man sich in einem Briefe an seine geliebte Frau länger mit ihm beschäftigt.« Siehe Mewes’ Brief an seine Frau vom 15.11.1915, BArch, N 850/38, fol. 7. Siehe Mewes’ Brief an seine Frau vom 10.3.1916, BArch, N 850/31, fol. 66. Mewes’ Brief an seine Frau vom 18.3.1916, BArch, N 850/31, fol. 61. »Man ärgert sich darüber«, schrieb Mewes am 23.1.1915 an seine Frau, »wie der Chef mit Bussche und Harbou immer kliqut, es ist zu übel! Für die Stabsoffiziere der Abteilung ist es geradezu eine Beleidigung.« BArch, N 850/36, fol. 21. Siehe Vogt, Oberst Max Bauer, S. 45. Siehe ebd., S. 595, Anm 37. Mewes’ Brief an seine Frau vom 26.1.1915, BArch, N 850/36, fol. 23.

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terhin Tappen jeden Wunsch von den Lippen ablas und so zur persona gratissima aufstieg, blieb sein Verhältnis gespannt.383 Wie Mewes nach seiner Versetzung als Flügeladjutant mit einer gewissen Schadenfreude feststellte, nutzte Boehms Antichambrieren ihm nichts. Als er einmal Tappen widersprach, strafte dieser ihn umgehend ab, sodass Boehm sogar um seine Versetzung ersuchte.384 Aber nicht nur in der Operationsabteilung, auch im Stab des Chefs des Stabes des Generalquartiermeisters Generalmajor Eugen Zoellner385 und bei den Offizieren des Feldmunitionschefs Generalleutnant Ludwig Sieger gab es große Probleme mit der Menschenführung, die die Arbeit der jeweiligen Bereiche belasteten. Folgerichtig knallten in beiden Abteilungen die Sektkorken, als Zoellner und Sieger Mitte Juni 1916 versetzt wurden. Mewes, mittlerweile Flügeladjutant des Kaisers, bemerkte dazu seiner Frau gegenüber: »Die Leute des Generalquartiermeisters sind außer sich vor Freude, dass Zoellner weggekommen ist. Der sich einer geradezu Tappenschen Beliebtheit erfreute. Auch Sieger, der Munitionschef, der nicht so sehr ersprießlich wirkte und Bauer seine letzten Haare wegärgerte, ist fort. Beide haben Divisionen bekommen.«386 Dass mit Tappen offenbar der falsche Mann auf einem zentralen Posten in der OHL saß, sprach sich schnell im GrHQ herum. So fragte sich nicht nur Treutler schon nach wenigen Wochen, ob Tappen, gerade vor dem Hintergrund der angeschlagenen Gesundheit Moltkes d.J., seinen Aufgaben gewachsen war.387 So mancher wünschte sich daher trotz der anfänglichen Siegeseuphorie schneller als gedacht Ludendorff mit seinem Führungswillen und Führungsanspruch als Chef der Operationsabteilung anstelle des als »pomadig«388 geltenden Tappen. Mit der Zeit schwoll die Kritik an Tappen an. Mutius, der mit ihm auf der Kriegsakademie eine Sitzbank geteilt hatte und ihn in den drei gemeinsam verbrachten Jahren als bescheidenen Menschen in Erinnerung hatte, war erstaunt über die Selbstherrlichkeit, die Tappen als Chef der Operationsabteilung an den Tag legte. Zugleich sprach er, wie Bauer, Tappen die Fähigkeit des operativen Denkens ab. Mutius beantwortet auch die Frage, warum gerade Tappen an die zentrale Schaltstelle im Großen Generalstab aufgerückt war: Er sei nur wegen seiner im Frieden unter Beweis gestellten hohen Arbeitsleistung der Nachfolger Ludendorffs geworden. Für den Krieg sei er jedoch als bürokratischer Friedensoffizier der falsche Mann gewesen, denn hätte ein anderer wie Generalmajor Hans von Seeckt oder Groener die Operationsabteilung in den entscheidenden Stunden an der Marne und in den Wochen zuvor geführt, wäre der Feldzug anders verlaufen.389 Ähnlich sah es Wild von Hohenborn. Er klagte, Falkenhayn könne mit Tappen nicht über operative Probleme reden, da dessen Gesichtskreis nicht

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Siehe Mewes’ Brief an seine Frau vom 22.11.1915, BArch, N 850/38, fol. 13. Siehe Briefe Mewes an seine Frau vom 2. und 4.8.1916, BArch, N 850/42, fol. 23 und 35. Seit Januar 1917 Ritter von Zoellner. Brief Mewes’ an seine Frau vom 27.6.1916, BArch, N 850/34, fol. 8. Schon in Coblenz waren erste Gerüchte an das Ohr Treutlers gedrungen, Tappen sei nicht der richtige Mann auf dem so verantwortungsvollen Posten des Chefs der Operationsabteilung. Siehe Treutler, Die graue Exzellenz, S. 166. Siehe dazu Jessen, Verdun, S. 55. Mutius, Lebenserinnerungen, BArch, N 195/1, fol. 83 f.

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über die täglichen Abendmeldungen hinausgehe.390 Pentz, der Wilds Rolle im GrHQ eher kritisch bewertete, musste zugeben, dass dieser »immerhin ein höheres Niveau [hatte] als der Chef der Operationsabteilung«.391 Auch Groener ließ kein gutes Haar an den Fähigkeiten Tappens: »Ebenso wie Moltke ist nun auch Falkenhayn an Tappens geistiger Inferiorität gescheitert. Tappens Energie und Arbeitsleistung sind anzuerkennen, es geht ihm aber jegliche militärische Phantasie und das operative Verständnis ab.«392 Drastischer kann die Kritik am Chef der Operationsabteilung, dem Gehirn der OHL, nicht ausfallen. Angesichts dieser geballten Kritik sowohl an der Menschenführung als auch an den operativen Fähigkeiten stellt sich die Frage, warum Moltke und Falkenhayn Tappen nicht abgelöst haben? Schätzten sie dessen operative Fähigkeiten positiver als Tappens Kritiker? Bemerkten sie die schlechte Stimmung in der Operationsabteilung und Tappens Defizite in der Menschenführung überhaupt? Auf diese Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten. Offenbar waren Falkenhayn die Probleme in der Operationsabteilung jedoch zu Ohren gekommen. Mit der Versetzung Oberst Fritz von Loßbergs im Januar 1915 in die Operationsabteilung versuchte er wohl, die Probleme in seinem zentralen Zuarbeitungsbereich zu klären. Loßberg sollte, als Abteilungschef zuständig für die Unterabteilungen Ia, Ib und Ic, Tappen entlasten und ihn vertreten.393 Zugleich wollte Falkenhayn sehen, ob Loßberg die Aufgaben des Chefs der Operationsabteilung besser erledigen würde als Tappen. Loßberg erkannte jedoch sehr schnell, dass Tappen, der in ihm einen Konkurrenten witterte, ihn wenn irgend möglich ausbremste, seine Befugnisse beschnitt und jedes selbstständige Handeln konsequent unterband. Mewes und andere Offiziere in der Operationsabteilung hofften, Loßberg werde Tappen verdrängen und ihm nachfolgen, nur erfüllte der als bester Chef des Stabes einer Armee geltende Loßberg die in ihn gesetzten Erwartungen nicht. Falkenhayn musste erkennen, das Loßberg, als dieser Tappen während einer Frontkommandierung für mehrere Monate vertrat, die Operationsabteilung schlechter führte wie jener. Ende September 1915 wurde der sonst so »vortreffliche Loßberg«394 daher als Chef des Stabes der 3. Armee an die Front zurückversetzt. Tappen hatte sich in dem internen Machtkampf gegen seinen Vertreter auf ganzer Linie durchgesetzt und blieb im Amt. Dieser Vorgang heizte in der Operationsabteilung die Gerüchteküche gewaltig an, denn weder Tappen noch Falkenhayn hatten es für angebracht gehalten, ihren engsten Mitarbeitern die offizielle Begründung für Tappens Kommandierung mitzuteilen, nämlich dass Tappen bei der 7. Armee als Chef des Stabes eine Offensive über die Aisne prüfen und gleichzeitig Fronterfahrung sammeln werde.395 Tappen, der den Hintergrund seiner Kommandierung wohl ahnte, erklärte lediglich, eine wichtige Aufgabe warte seiner. Es verwundert angesichts der Stimmung innerhalb 390

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Siehe Tagebuchaufzeichnung Wild von Hohenborns vom 4.11.1915, Wild von Hohenborn, Briefe, S. 101. Schreiben von Hans Henning von Pentz an Karl Heinz Janssen vom 12.11.1959, BArch, N 128/7, S. 9. Tagebucheintrag Groeners vom 29.8.1916, Groener, Lebenserinnerungen, S. 552. Siehe Loßberg, Meine Tätigkeit im Weltkriege, S. 127 f. Schreiben von Hans Henning von Pentz an Karl Heinz Janssen vom 12.11.1959, BArch, N 128/7, Einzelheiten. Siehe Der Weltkrieg 1914‑1918, Bd 7, S. 310, 316 f.

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der Operationsabteilung nicht, dass Mewes mit seiner Vermutung, Falkenhayn wolle Tappen durch Loßberg ersetzen, gar nicht so falsch lag: »Ich denke, daß Falkenhayn erstmal sehen will, wie er mit Loßberg fertig wird und sich noch nicht binden will. In 14 Tagen wird er sich wohl entscheiden, glaube ich. Dann wird er aber rücksichtslos Tappen fallen lassen, wenn Loßberg ihm in den Kram paßt. Na, wir werden es ja erleben.«396 Auch nach seiner Rückkehr hielt es Tappen nicht für angebracht, seine Mitarbeiter über seinen Auftrag zu informieren. »Die ganze Sache ist etwas schleierhaft, vielleicht war es doch eine größere Erkundung«,397 spekulierte daher Mewes. Diese Episode zeigt, dass Tappen, und sicherlich auch Falkenhayn, nicht zuletzt um die internen Machtkämpfe zu verschleiern, die Geheimhaltung oder die Geheimniskrämerei selbst gegenüber den engsten Mitarbeitern auf die Spitze trieb und damit erst recht Raum für Spekulationen bot. Hätte Falkenhayn den Offizieren der Operationsabteilung eröffnet, Tappen werde zur Gewinnung von Fronterfahrung für einige Monate an die Front versetzt, hätte er allen Gerüchten den Nährboden entzogen und seine wahre Absicht, Loßberg als Chef der Operationsabteilung zu prüfen, perfekt verschleiert. Loßberg, der ebenfalls die operativen Fähigkeiten Tappens als sehr gering einschätzte, bewertete, wie Mutius, Tappens Eitelkeit und Bestreben, seine Stellung als Chef der Operationsabteilung unter allen Umständen zu behaupten, als charakterliche Defizite.398 Zutiefst bedauerte Loßberg die Tatsache, die eigentlich für den Kriegsbeginn geplante Unterstellung der Operationsabteilung und der Eisenbahnabteilung unter Ludendorff als Oberquartiermeister sei nicht umgesetzt worden.399 Zumindest Groener hat Falkenhayn offensichtlich auf die eingeschränkten operativen Fähigkeiten Tappens angesprochen. Seinen Einwand fegte Falkenhayn jedoch mit den Worten vom Tisch: »Sie irren sich, in operativen Dingen hat Tappen gar keinen Einfluß auf mich. Aber er ist für mich ein vortrefflicher Registrator.«400 Eine Behauptung, die Groener so nicht stehen ließ. Er war fest davon überzeugt, dass Tappen Falkenhayn bei operativen Entscheidungen weitgehend bestimmt habe.401 Tappen wiederum bestritt nach dem Krieg jeglichen Einfluss auf die operativen Entscheidungen Falkenhayns.402 Letztlich hielt Falkenhayn an Tappen fest, da er für sich keinen eigenständigen operativen Berater einforderte und Tappen die alltägliche Arbeit perfekt und weitgehend geräuschlos administrierte. Zudem schätzte der Kaiser Tappen. Er schlug sogar vor, Hindenburg solle bei Tappen in die Schule gehen.403 Die ernüchterndste Aussage in der Causa Tappen stammt vom Chef des Militärkabinetts, der, von Müller auf Tappen angesprochen, erklärte, Tappen »sei immer noch der Beste.«404

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Mewes’ Brief an seine Frau vom 10.3.1915, BArch, N 850/31, fol. 11. Mewes’ Brief an seine Frau vom 13.3.1915, BArch, N 850/31, fol. 39. Siehe Loßberg, Meine Tätigkeit im Weltkriege, S. 152. Ebd., S. 127. Aufzeichnung Groeners vom 25.9.1914, Groener, Lebenserinnerungen, S. 188, Anm. 4. Siehe ebd., S. 187 f. Siehe Afflerbach, Falkenhayn, S. 233. Siehe Wild von Hohenborns Brief an seine Frau vom 27.8.1915, Wild von Hohenborn, Briefe, S. 84. Kriegstagebucheintrag Müllers vom 23.8.1916, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 214.

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Wie und mit welchem Personal arbeitete die Operationsabteilung unter Tappen? Die Diensteinteilung der Operationsabteilung zu Kriegsbeginn offenbart für heutige Verhältnisse ein erstaunliches Bild. Neben Tappen waren lediglich vierzehn Generalstabsoffiziere in der Abteilung eingesetzt. Auch die Dienstgradhöhe unterscheidet sich von heutigen höchsten Führungsstäben mit drei Majoren, neun Hauptleuten und Rittmeistern sowie drei Oberleutnanten signifikant.405 Diese wenigen Generalstabsoffiziere erledigten die anfallenden Fragen der Landkriegführung aller Kriegsschauplätze. Während der Oberbefehlshaber Ost im Normalfall nur generelle Weisungen erhielt, führte der Chef des Generalstabes des Feldheeres die an der Westfront stehenden Verbände über die Operationsabteilung direkt. In der Operationsabteilung herrschte unter Tappen eine klare Hierarchie. Lediglich er und die älteren Offiziere wie Bauer waren intensiv mit der Ausarbeitung operativer Planungen betraut. Diese lagen damit in den Händen weniger Offiziere, die wiederum Falkenhayn im Wesentlichen nur zuarbeiteten. Weiterführende Denkschriften wie sein Nachfolger Oberstleutnant Georg Wetzell hat Tappen offenbar nicht erarbeitet. Die Operationsabteilung war nicht die operative Zentrale, die man in der OHL erwarten konnte, auch wenn die Generalstabsoffiziere das anders wahrnahmen. Die jüngeren unter ihnen waren in die operativen Planungen, wenn überhaupt, nur am Rande eingeweiht und erledigten das Tagesgeschäft. Sie aktualisierten die Lagekarten, erstellten Befehle, übernahmen den Telefondienst während der vielen Nacht- und Bereitschaftsschichten und führten das Geheimjournal des Chefs des Großen Generalstabes auch im Krieg weiter. Sehr schnell hielt sogar die Bürokratisierung Einzug in der Operationsabteilung. So stieg mit dem Übergang zum Stellungskrieg die Anzahl der Meldungen von der Front exorbitant an. Tappen sprach davon, dass er täglich vier Stunden aufwandte, um alleine die Eingänge zu lesen.406 Obwohl bei Weitem nicht alle Ein- und Ausgänge erfasst wurden, verzeichnete allein Mewes bis Mitte März 1915 fast 11 000 Journalnummern.407 Arbeitstage von bis zu siebzehn Stunden waren in der Operationsabteilung keine Seltenheit. Auffällig ist, dass mit Ausnahme Harbous, der an der Eroberung Lüttichs beteiligt war, und für kurze Zeit Loßbergs keiner der in der Operationsabteilung eingesetzten Offiziere selbst nach einem Kriegsjahr über Fronterfahrung verfügte. Dies lag nicht zuletzt an Tappen, der alle Versuche der Generalstabsoffiziere der Operationsabteilung, sich versetzen oder zumindest zeitweise kommandieren zu lassen, abblockte, weil er sein eingespieltes Team behalten wollte. Mewes, der bei aller Kritik an Tappen zugab, dass dieser kolossal eingearbeitet sei und über eine schnelle Auffassungsgabe verfüge,408 teilte in dieser Frage Tappens Standpunkt: »Von uns lässt Tappen aber meiner Überzeugung nach keinen dauernd los. Ich würde es, offen gestanden, auch nicht tun. Man muß in der Operationsabteilung 405

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Dies waren die Majore Bauer, von Redern und von Bartenwerffer, die Hauptleute und Rittmeister Boehm, Bulcke, Freiherr von dem Bussche-Ippenburg, Geyer, von Harbou, Koeppen, Mewes, Poten, Wagner sowie die Oberleutnante von Rosenberg-Gruczinski und von Wallenberg. Siehe Großes Hauptquartier Oktober 1914, Nachlass Graevenitz, HStAS, M 660/095, Bü 61. Siehe Tappen, Kriegserinnerungen, BArch, RH 61/986, S. 32. Siehe Mewes’ Brief an seine Frau vom 15.3.1915, BArch, N 850/31, fol. 23. Siehe Mewes’ Brief an seine Frau vom 2.4.1915, BArch, N 850/32, fol. 47.

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eine eingespielte Gesellschaft haben. Wenn man in einem so feinen großen Mechanismus an der empfindlichsten Stelle herumfummelt, kommt doch nichts Gutes dabei heraus.«409 Die Operationsabteilung blieb unter der Führung Tappens auch dann weitestgehend von Versetzung verschont, als im Herbst 1914 zum Aufbau der neuaufgestellten Divisionen viele junge Generalstabsoffiziere von der OHL an die Front versetzt wurden.410 Die OHL bestand beileibe nicht nur aus der für die Kriegführung sehr wichtigen Operationsabteilung. Als erster Gehilfe und Vertreter des Chefs des Generalstabes des Feldheeres fungierte in den ersten Kriegsjahren der Generalquartiermeister. Zu Kriegsbeginn war dies Generalleutnant Hermann von Stein. Dann wechselte der Dienstposteninhaber aus unterschiedlichen Gründen mehrfach. Vom 16.  November 1916 bis Kriegsende hatte Generalleutnant Viktor Hahndorff den Posten inne.411 Der Generalquartiermeister war zuständig für die Heeresversorgung, das Eisenbahn- und Etappenwesen, die Rechtspflege sowie das Veterinär- und Sanitätswesen. Dazu verfügte er über einen eigenen Chef des Generalstabes, der in seinem Bereich unter anderem neben dem Veterinärwesen auch die Rechtspflege führte. Die Militärseelsorge unterstand dem Generalquartiermeister dagegen nicht. Sie wurde nach den Weisungen des Kriegsministeriums von katholischen und evangelischen Feldpröpsten geleitet.412 Zur Erfüllung dieser Aufgaben waren dem Generalquartiermeister verschiedene Dienststellen unterstellt, etwa der für die Sicherheit und Versorgung des GrHQ zuständige »Zweite Kommandant413 des GrHQ« Hahnke414 und die Dienststelle »Geheime Feldpolizei«. Letztere hatte die Aufgabe, die in den Etappengebieten lebende Bevölkerung zu überwachen sowie Sabotage und Spionage zu verhindern. Sie arbeitete eng mit der Abteilung IIIb des Chefs des Generalstabes des Feldheeres zusammen. Ihr Chef während des Krieges war Feldpolizeidirektor

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Ebd., fol. 61 f. »Die Sache kam so plötzlich, daß die Leute zum Teil schon 2 Stunden, nachdem sie den Befehl erhalten hatten, abfahren mußten.« Mewes’ Brief an seine Frau vom 23.10.1914, BArch, N 850/28, fol. 34. Nachdem Stein am 14.9.1914 zum Kommandieren General des XIV. Reservekorps ernannt worden war, folgte ihm Mitte September Generalmajor Werner Eugen von Voigts-Rhetz nach. Nach dessen plötzlichem Tod am 19.11.1914 übernahm Wild von Hohenborn bis zum 20.1.1915 den Dienstposten. Sein Nachfolger wurde bis 16.12.1916 Generalleutnant Hugo Freiherr von Freytag-Loringhoven. Vgl. Cron, Geschichte, S. 11, und Cron, Die Organisation des deutschen Heeres, S. 9. Zusätzlich zu der Stabswache wurden im Kriegsverlauf weitere Einheiten, u.a. ein Landsturmbataillon, zum Schutz des GrHQ dem II. Kommandanten des GrHQ unterstellt, der zugleich Disziplinarvorgesetzter der Mannschaften und Unteroffiziere des GrHQ war. Aufgrund der zunehmenden Luftbedrohung wurden die ursprünglich vorhandenen drei Ballonabwehrgeschütze und der Scheinwerferzug durch zwei Flugabwehrbatterien und eine Flugabwehrscheinwerferabteilung ersetzt. Zudem unterstanden dem II.  Kommandanten die Feldintendantur u.a. mit dem Kraftwagenpark und der Kriegskasse des GrHQ. Vgl. Cron, Geschichte, S. 13. Zu Kriegsbeginn waren neben dem Kommandanten drei Offiziere und 13 Unteroffiziere und Mannschaften in diesem Bereich eingesetzt. Siehe D.V.E. 219a, Stärkenachweisungen, S. 8. Hahnke hatte diesen Dienstposten bis zum 1.5.1917 inne. Sein Nachfolger bis Kriegsende war Major Leopold Freiherr von Münchhausen.

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Maximilian Bauer.415 Auch ein Feldgendarmeriekommando mit sieben Soldaten und sechs Reitenden Feldjägern für Kurieraufgaben dienten im GrHQ.416 Das Feldeisenbahnwesen leitete 1914 Groener.417 Sein Aufgabenfeld umfasste die Wartung, den Aus- und Neubau des Schienen- und Wasserstraßennetzes, darüber hinaus aber auch die Organisation der Eisenbahntransporte für die Front und die Etappe.418 Groener blieb auch nach seiner Versetzung als Leiter des Kriegsernährungsamtes Ende Mai 1916 bis zu seiner Ernennung zum Kommandeur der 33.  Infanteriedivision am 16.  August 1917 Chef des Feldeisenbahnwesens.419 Das operative Geschäft übernahm bis Kriegsende Oberst Erich Freiherr von Oldershausen. Das Feldsanitätswesen an der Front und in der Etappe lag während des Krieges in den Händen von Generalstabsarzt Professor Dr.  Otto von Schjerning.420 Er verantwortete die sanitätsdienstliche Sicherstellung im Kriegsgebiet.421 Nur bis zum 7.  Dezember 1914 leitete Generalmajor William Balck als Chef die Feldtelegrafie.422 Diesem oblag die Regelung der Fernmeldeverbindungen der OHL.423 Auch der für die Verpflegung und Versorgung des Heeres zuständige Generalintendant des Feldheeres mit der Feldintendantur424 war dem Generalquartiermeister unterstellt. Zu Kriegsbeginn hatte Generalmajor Roderich von Schöler diesen Dienstposten inne.425 Der Chef des Feldmunitionswesens war Sieger. Zuständig für den Nachschub von Munition und Waffen, diente er ebenfalls unter dem Kommando des Generalquartiermeisters. Wegen seiner zentralen Bedeutung unterstellte sich Falkenhayn Sieger am 10. Mai 1915 unmittelbar. Die III. OHL löste schließlich diese Stelle am 23. September 1916 auf und schlug die Aufgaben der von Bauer geleiteten Abteilung II der Operationsabteilung zu426. Dem Feldoberpostmeister 415

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Die Dienststelle umfasste neben Bauer sieben Feldpolizeikommissare, 30 Schutzleute sowie sechs Trainsoldaten und zwölf Kraftwagenführer. Siehe D.V.E. 219a, Stärkenachweisungen, S. 16. Siehe ebd., S. 15. Gemäß ebd., S.  11, waren neben Groener zu Kriegsbeginn sechs Offiziere in dieser Abteilung eingeplant, 18 Offiziere waren als Beauftragte des Chefs des Feldeisenbahnwesens den Armeeoberkommandos zugeteilt. Zur Organisation der militärischen Eisenbahnverwaltung vor dem und im Krieg siehe Sarter, Die deutschen Eisenbahnen. Vgl. Groener, Lebenserinnerungen, S. 333‑335, 370‑375. In seinem Stab im GrHQ waren fünf Sanitätsoffiziere, vier Sanitätsoffiziere sowie elf Mannschaftssoldaten eingeplant. Vgl. Hubatsch, Großes Hauptquartier, S.  434; Cron, Die Organisation des deutschen Heeres, S. 10 f. Die Nachfolger Balcks waren Oberst von Wolff und bis Kriegsende Hesse. Gemäß D.V.E. 219a, Stärkenachweisungen, S. 6, waren sechs Offiziere und höhere Beamte sowie 16 Unteroffiziere und Mannschaften für die Abteilung vorgesehen. Zusammen waren in beiden Bereichen 20 Offiziere und 46 Unteroffiziere, untere Beamte und Mannschaften zu Kriegsbeginn eingeplant. Siehe D.V.E. 219a, Stärkenachweisungen, S. 13 f. Ihm folgte ab dem 27.4.1916 Generalmajor Arthur Freiherr von Lüttwitz nach. Vom 2.1.1917 bis Kriegsende hatte Generalmajor Ernst von Eisenhart-Rothe den Dienstposten inne. Vgl. Cron, Geschichte, S. 17. Sieger war zuvor Anfang Juni abgelöst worden und wurde am 14.6.1916 Kommandeur der 16. Reservedivision.

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Oberpostrat Georg Domizlaff oblag während der gesamten Kriegsdauer die Regelung und Überwachung der Feldpost.427 Während die wichtigsten Obersten Waffenbehörden und die Chefs der technischen Spezialgebiete, wie beispielsweise der Chef des Feldeisenbahnwesens am 30.  September 1916, der Chef des Feldflugwesens,428 der Inspekteur der Ballonabwehrkanonen,429 der Chef des Feldeisenbahnwesens sowie der Chef der Feldtelegraphie, letzterer unter Umbenennung in Chef des Nachrichtenwesens am 12.  September 1917, im Rahmen der Neuorganisation der OHL durch Hindenburg und Ludendorff direkt dem Chef des Generalstabes des Feldheeres unterstellt wurden,430 traten im Kriegsverlauf andere Dienststellen als Außenstelle der OHL unter das Kommando des Generalquartiermeisters, wie der Befehlshaber der Truppen in Luxemburg,431 der Chef des Kriegsvermessungswesens,432 die Deutsche Vertretung im besetzten Italien,433 der Beauftragte für den östlichen Kriegsschauplatz,434 die Militärbergwerksdirektion Valenciennes,435 der Beauftragte für den westlichen Kriegsschauplatz,436 der Beauftragte des Generalquartiermeisters für Pferdeangelegenheiten,437 der Beauftragte des Generalquartiermeisters für Beute und Sammelwesen,438 der Beauftragte des Generalquartiermeisters in

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Vgl. Hubatsch, Großes Hauptquartier, S. 434. Die im März 1915 geschaffene Dienststelle, zuständig für die Ausbildung und Organisation der Flieger, führte seit dem 27.3.1915 Oberstleutnant Hermann von der Lieth-Thomsen. Die wachsende Bedeutung der Luftstreitkräfte veranlasste Hindenburg und Ludendorff zu einer Neuorganisation des Flugwesens. Die III. OHL schuf unter dem Kommando von Generalleutnant Erich von Hoeppner am 8.10.1916 die ihr direkt unterstellte Dienstelle des Kommandierenden Generals der Luftstreitkräfte. Vom 1.7.1915 war Major Hugo Grimme Inspekteur der Ballonabwehrkanonen. Die Dienststelle wurde am 8.10.1916 dem Kommandierenden General der Luftstreitkräfte unterstellt. Vgl. Cron, Geschichte, S. 17 f. Diese Dienststelle trat am 6.2.1915 unter das Kommando des Generalquartiermeisters. Die zu Kriegsbeginn herrschende dezentrale Organisation des Vermessungswesens erwies sich im Laufe des Krieges als unzureichend. Aus diesem Grund wurde am 4.7.1915 die Stelle Chef des Kriegsermessungswesens im GrHQ geschaffen. Ihr Chef während des Krieges war Major Siegfried Boelcke. Die am 15.2.1918 eingerichtete deutsche Vertretung in Italien hatte nach Abzug der 14.  Armee die Aufgabe, die deutschen Interessen an der Kriegsbeute auf diesem Kriegsschauplatz gegenüber der k.u.k. Armee zu vertreten. Die am 10.1.1917 aufgestellte Dienststelle vertrat die Interessen des Generalquartiermeisters im Generalgouvernement Warschau und im Verwaltungsgebiet des Oberbefehlshabers Ost. Mit Abschluss des Waffenstillstandes wurde sie schon nach einem Jahr wieder aufgelöst. Dieser am 12.9.1917 dem Generalquartiermeister unterstellten Dienststelle oblag die Führung der Bergwerksverwaltungen von Mons und Valenciennes. Diese am 27.12.1916 eingerichtete Dienststelle koordinierte die Verwaltung und Bewirtschaftung der besetzten Gebiete im Westen. Die am 21.2.1918 im Vorfeld der geplanten deutschen Offensive im Frühjahr 1918 installierte Dienststelle koordinierte den Pferdebedarf des Heeres. Vor dem Hintergrund der angespannten Versorgungslage und als die erwartete Beute aus den im Verlauf der deutschen Offensive eroberten französischen Gebiete nicht die Erwartungen der OHL erfüllte, wurde am 4.8.1918 der Beauftragte des Generalquartiermeisters für Beute und Sammelwesen zur Kontrolle der anderen Dienststellen installiert.

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Berlin439 sowie der General der Munitionskolonnen und Trains.440 Hinzu trat angesichts der wachsenden Bedeutung der Motorisierung im Heer am 15. Dezember 1916 der neugeschaffene Chef des Feldkraftfahrwesens.441 Zu Beginn des Krieges eher von nachrangiger Bedeutung, daher der II. Staffel des GrHQ zugeteilt, gewannen die dem Chef des Generalstabes des Feldheeres unterstellten Dienststellen General der Fußartillerie im GrHQ und General des Ingenieur- und Pionierkorps im GrHQ im weiteren Kriegsverlauf mit dem Wechsel vom Bewegungs- zum Stellungskrieg immer größere Bedeutung. Dem General des Ingenieur- und Pionierkorps442 unterstanden die im Kriege enorm anwachsenden Sonderdienste der Pioniertruppe443. Zwischenzeitlich unbesetzt, wurde die Dienststelle am 21. August 1918 in »General der Pioniere beim Chef des Generalstabes des Feldheeres« umbenannt.444 Der General der Fußartillerie im GrHQ war zuvorderst Berater des Chefs des Generalstabes des Feldheeres in technischen Belangen der schweren Artillerie.445 Die Artillerieführer an der Front waren ihm nicht unterstellt. Am 28. März 1917 umbenannt in »Generalinspekteur der Artillerieschulen und General der Artillerie Nr. 1«, war er ab diesem Zeitpunkt für die gesamte schießtechnische Ausbildung der Artillerie zuständig.446 Mit Kriegsbeginn stieg der Chef des Generalstabes der Armee Moltke447, da er nun auch die Führung der im Frieden selbstständigen sächsischen, württembergischen und bayerischen Bundeskontingente übernahm, für die Dauer des Krieges zum Chef des Generalstabes des Feldheeres auf und verlegte mit dem größten Teil des Großen Generalstabs ins GrHQ. In Berlin verblieben unter Führung

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Die Wiederaufnahme des Handels mit den neu entstandenen Staaten des ehemaligen Zarenreiches machte eine enge Koordination der OHL mit den Zentralbehörden in Berlin notwendig. Daher entsandte der Generalquartiermeister am 2.6.1918 einen Beauftragten in die Hauptstadt. Zur Organisation des Munitionsnachschubes an der Front wurde diese Dienststelle unter Führung von Oberst Hans Föst am 24.7.1918 aufgestellt. Bis Kriegsende führte Oberst Hermann Meyer diese Dienststelle. Vgl. Cron, Geschichte, S. 13. Von Kriegsbeginn mit einigen Unterbrechungen bis zum 3.7.1917 führte General Eberhard von Claer, danach bis Kriegsende Generalmajor Kurt Marschall von Bieberstein die Dienststelle. In seinem Stab waren drei Offiziere und 17 Unteroffiziere und Mannschaften eingeplant. Siehe D.V.E. 219a, Stärkenachweisungen, S. 7. Vgl. Cron, Geschichte, S. 16. Von Kriegsbeginn bis zum 15.10.1917 hatte General der Artillerie Ludwig von Lauter, danach Generalleutnant Alfred Ziethen den Dienstposten inne. Vgl. Cron, Geschichte, S. 15 f. In seinem Stab waren drei Offiziere und 17 Unteroffiziere und Mannschaften eingeplant. Siehe D.V.E. 219a, Stärkenachweisungen, S. 7. Moltke d.J. war ein Neffe des Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke d.Ä. Er wurde 1906 Nachfolger von Generaloberst Alfred Graf von Schlieffen, dem Chef des Großen Generalstabes. Moltke wurde nach der Niederlage in der Marneschlacht am 14.9.1914 von Falkenhayn abgelöst. Diesem folgte am 29.8.1916 Hindenburg als Chef des Generalstabes des Feldheeres nach, der diesen Posten bis zum 29.6.1919 innehatte.

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Chefs des Stellvertretenden Generalstabes der Armee,448 der seine Weisungen vom Chef des Generalstabes des Feldheeres erhielt, lediglich die Teile des Großen Generalstabes, die dessen friedensmäßige Aufgaben bearbeiteten.449 Seit Moltke d.Ä. war der Große Generalstab kontinuierlich vergrößert worden. Nach der letzten Organisationsveränderung 1910 unterstanden fünf Oberquartiermeistern 17 Abteilungen. Im Großen Generalstab dienten vor Kriegsbeginn 113 Generalstabsoffiziere und eine nicht bestimmbare Zahl zum Großen Generalstab kommandierter Offiziere.450 Der dienstälteste Oberquartiermeister fungierte als Generalquartiermeister und Vertreter des Generalstabschefs. Aufgrund ihrer Zuständigkeit für die Mobilmachungspläne und die Aufmarschanweisungen nahm die 2. (deutsche) Abteilung die Schlüsselstellung im Großen Generalstab ein.451 Vom Gehirn, dem Großen Generalstab mit Sitz am Königsplatz  6 in Berlin, gingen die Nervenverbindungen zu den Generalstabsoffizieren des Truppengeneralstabs, die als Synapsen in allen höheren Kommandobehörden eingesetzt waren. Diese konnten sich auf dem sogenannten Generalstabsdienstweg in allen fachlichen Fragen direkt an den Chef des Stabes oder sogar an den Chef des Großen Generalstabes wenden.452 Der regelmäßige Wechsel zwischen Truppengeneralstab und Großem Generalstab und damit oft einhergehend zwischen Führungs- und Stabsverwendungen garantierte eine umfassende Ausbildung der Generalstabsoffiziere.453 Ursprünglich eine Abteilung des preußischen Kriegsministeriums, war der preußische Generalstab unter Moltke d.Ä. nach den Siegen von 1866 und 1870/1871 neben dem Militärkabinett und Kriegsministerium als »Reichsgeneralstab«454 somit zu einer zentralen, sich im ständigen Konkurrenzkampf mit diesen befindlichen Schaltstelle des deutschen Militärsystems avanciert.455 Obwohl der Chef des Generalstabes der Armee erst 1883 das Immediatrecht erhalten hatte und der Generalstab bis ins Frühjahr 1918456 mit dem Kriegsministerium formal nicht gleichgestellt war, hatte er die

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Vom 30.12.1914 bis 18.6.1916 übernahm Moltke d.J. die Amtsgeschäfte des Chefs des stellvertretenden Generalstabes. Ihm folgte vom 12.9.1916 bis Kriegsende Generalleutnant Hugo Freiherr von Freytag-Loringhoven nach. Dies waren neben der Zentralabteilung in erster Linie die Landesaufnahme. Siehe zur Gliederung des stellvertretenden Generalstabs Cron, Die Organisation des deutschen Heeres, S. 178‑180, sowie Cron, Geschichte, S. 287 f. Siehe Schmidt-Richberg, Generalstäbe, S. 18. Siehe ebd., S. 34. Siehe ebd., S. 37. Zur Auswahl und Ausbildung der Generalstabsoffiziere siehe Grawe, Deutsche Feindaufklärung, S.  34‑37; Millotat, Das preußisch-deutsche Generalstabssystem, S. 86‑92; Bergh, Heer, S. 167‑180. Nach der Reichsgründung 1817 behielt nur Bayern einen eigenen Generalstab. Im Frieden unterstand er dem bayerischen Kriegsministerium, lehnte sich aber in seiner Arbeitsweise und der Ausbildung der Generalstabsoffiziere an den Großen Generalstab an. Württemberg und Sachsen entsandten ihre Offiziere zum preußischen Generalstab nach Berlin. Dieser übernahm mit Gründung des Deutschen Reiches die Aufgaben eines gesamtdeutschen Generalstabs. Zur Geschichte des preußischen Generalstabs siehe die konzise Darstellung von Grawe, Deutsche Feindaufklärung, S. 28‑30. Am 3.4.1918 wurde der Generalstab in den Rang einer Zentralbehörde erhoben.

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alleinige Planungskompetenz für die Mobilmachung und den Aufmarsch sowie für die Operations- und Kriegführung der deutschen Landstreitkräfte inne. Aufgrund der Kommandogewalt des Kaisers war der Große Generalstab der parlamentarischen Kontrolle entzogen und nur dem Kaiser verantwortlich, der den Chef des Generalstabes der Armee ernannte. Dieser war nicht nur für die planmäßigen Vorbereitungen der Mobilmachung und der Operationsführung im Kriegsfall zuständig, sondern auch für die Ausbildung der Generalstabsoffiziere. Zudem oblagen ihm die Landesaufnahme und die Vermessung. Letztlich führte der Generalstabschef jedoch nur das für die Operationsführung zentrale Fachressort. Weisungsbefugnis über andere Dienststellen der Armee im Frieden, wie z.B. über die Kommandierenden Generale der Armeekorps, besaß der Chef des Generalstabes der Armee nicht. Die Autorität des Generalstabschefs speiste sich daher zum einen aus den Erfolgen des Generalstabes während der Reichseinigungskriege, zum anderen aus dem persönlichen Ansehen des jeweiligen Amtsinhabers. Die Bedeutung, die man vonseiten der Politik dem Posten des Chefs des Generalstabes der Armee zumaß, zeigen die mahnenden Worte, die Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow während der Beratungen über die Nachfolge Schlieffens an Wilhelm II. gerichtet haben soll: »Seine Majestät kann einmal einen schlechten Reichskanzler haben; das wird sich wieder ausgleichen lassen. Er kann einmal einen schlechten Kriegsminister haben, denn das bringt die Armee nicht aus den Fugen. Aber der Kaiser muß unter allen Umständen stets den besten Mann als Chef des Generalstabes haben, da der Ausgang eines Krieges, den wir jeden Tag haben können, von der Wahl des Führers der Armee abhängt.«457 Die Wahl des Generalstabschefs, der im Krieg als Chef des Generalstabes des Feldheeres die deutschen Truppen zum Sieg führen sollte, war folgerichtig von geradezu existenzieller Bedeutung für das Kaiserreich. Hat Wilhelm II. vor und während des Krieges die richtige Wahl getroffen? Hat er den Kandidaten ausgewählt, der als Feldherr, wie Schlieffen forderte, »etwas von dem Salböl Samuels abbekommen«458 hatte? Die Zustimmung des Monarchen war nur noch bei erheblichen Unstimmigkeiten zwischen der OHL und anderen höheren militärischen Führern, Differenzen mit Verbündeten, Meinungsverschiedenheiten zwischen der politischen und militärischen Führung oder zentralen militärstrategischen Entscheidungen gefordert.459 Die nach außen vertretene juristisch korrekte Sprachregelung, der Kaiser sei der »Feldherr« und der Chef des Generalstabes des Feldheeres nur sein »Ratgeber«,460 war nur eine für die Öffentlichkeit aufrechterhaltene Fiktion, die im Laufe des Krieges immer mehr verblasste. Formell hatte der Chef des Generalstabes des Feldheeres zwar keine Befehlsgewalt, letztlich

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Einem, Erinnerungen, S.  149. Einem gibt in seinen Erinnerungen diese Äußerungen Bülows aus dem Gedächtnis wieder. Auch wenn die wörtliche Widergabe in Frage steht, decken sich Einems Ausführungen mit Aussagen aus Bülows Denkwürdigkeiten, Bd  2, S. 182‑184. Siehe auch Schmidt-Richberg, Generalstäbe, S. 26. Schlieffen, Gesammelte Schriften, Bd 1, S. 10. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd  5, S.  199; Stachelbeck, Deutschlands Heer und Marine, S. 103. Siehe Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd 5, S. 199.

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leitete er, wie Ludendorff treffend ausführte, jedoch die Operationen nach dem Willen des Kaisers selbstständig.461 Mit der faktischen Ausschaltung des Obersten Kriegsherrn begann der schleichende Aufstieg des Generalstabes des Feldheeres zur bestimmenden Militärbehörde des Kaiserreichs im Kriege. Bereits nach wenigen Wochen begann sich der Begriff »Oberste Heeresleitung« als Bezeichnung für den Großen Generalstab einzubürgern462, hinter der die Person des Chefs des Generalstabes des Feldheeres mit der Zeit verschwand. In den Krieg trat das Deutsche Reich mit Moltke d.J. als Chef des Großen Generalstabes ein. Der Kaiser hatte sich, gegen so manchen Widerstand,463 bewusst für den Neffen Moltkes d.Ä. als Nachfolger Schlieffens entschieden, da er ihn einerseits aus seiner langjährigen Zeit als Flügeladjutant persönlich schätzte, andererseits er seinen eigenen »Moltke« haben wollte.464 Moltke d.J., unsicher, ob er dieser Aufgabe gewachsen war, bat zwar den Kaiser von seiner Ernennung Abstand zu nehmen, doch dieser lehnte Moltkes Ansinnen ab. Ob Wilhelm II. wirklich Lyncker, der sich wie andere auch gegen die Ernennung Moltkes ausgesprochen hatte, zusagte, Moltke im Kriegsfall durch General Colmar Freiherr von der Goltz zu ersetzten, lässt sich nicht belegen.465 Falls der Kaiser diese Zusage je gegeben haben sollte, so hielt er sich zu Kriegsbeginn nicht daran. Am 3. August 1914 trat das Kaiserreich mit Moltke als Chef des Generalstabes des Feldheeres in den Krieg ein. Sehr schnell stellte sich heraus, dass Moltke mit der Komplexität und der Führung eines Millionenheeres und des Generalstabes überfordert war. Es lag in seiner Persönlichkeit begründet, dass er eher zögerlich führte und einen, man könnte sagen: kooperativen Führungsstil pflegte.466 Nach der Niederlage an der Marne (5.‑9.  September 1914) wurde er am 14. September 1914, vordergründig aus gesundheitlichen Gründen, als Chef des Generalstabes des Feldheeres abgelöst und durch Kriegsminister Falkenhayn ersetzt. Dieser leitete die II. OHL bis zum 29. August 1916. In seine Amtszeit fielen die Niederlage bei Ypern 1914, die Stellungskämpfe im Westen und die Schlacht von Verdun 1916, aber auch die erfolgreiche Offensive bei Gorlice-Tarnów 1915 im Osten und der siegreiche Feldzug gegen Serbien im selben Jahr. Wie arbeitete Falkenhayn, wie führte er die OHL und nicht zuletzt: wie war sein Verhältnis zu seinem Obersten Kriegsherrn? Die großen operativ-strategischen Linien legte Falkenhayn, ohne sie vorher zu diskutieren, selbst fest.467 So verfestigte sich schnell der Eindruck, der »einsame Feldherr« Falkenhayn treffe seine Entscheidungen selbstherrlich und auch 461 462

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Vgl. Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen, S. 203. Am 13.10.1914 wurde der erste offizielle Heeresbericht mit »Oberste Heeresleitung« unterzeichnet. Siehe Deist, Voraussetzungen, S. 138. Einflussreiche Kreise um General Bruno von Mudra hatten sich für General Colmar Freiherr von der Goltz als Nachfolger Schlieffens stark gemacht. Siehe Krethlow, Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz Pascha, S. 250‑259; Röhl, Wilhelm II., Bd 3, S. 338‑340; Mombauer, Helmuth von Moltke and the Origins of the First World War, S. 55‑58. Siehe Krethlow, Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz Pascha, S. 255. Siehe ebd. Siehe Groß, Mythos und Wirklichkeit, S. 115. Siehe Afflerbach, Falkenhayn, S. 234.

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sein engster Stab sei am Entscheidungsprozess nur am Rande beteiligt. Dies traf auf die meisten Generalstabsoffiziere in der Operationsabteilung sicherlich zu, denn Falkenhayn besprach sich in der OHL lediglich mit wenigen Vertrauten, wie z.B. Wild von Hohenborn, Groener, Freytag-Loringhoven oder Tappen. Letzterer teilte wiederum seinen Mitarbeitern nur die nötigsten Informationen mit. Geheimniskrämerei wurde in der OHL unter Falkenhayn und Tappen großgeschrieben. In operativen Detailfragen ließ sich Falkenhayn jedoch beraten und war auch sachlichen Argumenten gegenüber zugänglich. Auffallend ist, dass er zur Beratung des Öfteren auf die Fachexpertise einiger weniger ausgewählter Fachleute von außerhalb der Operationsabteilung, beispielsweise auf Kuhl oder Seeckt, zurückgriff, als auf die Kompetenz seiner eigenen Mitarbeiter zu setzen. So ließ er beispielsweise um die Jahreswende 1914/1915 im Vorgriff auf die Entscheidung, ob im Westen oder im Osten angegriffen werden sollte, durch Seeckt die Optionen eines Angriffs im Westen prüfen.468 Auffällig ist, dass Falkenhayn mit seiner Amtsübernahme weder in der Operationsabteilung noch in anderen Abteilungen der OHL einen größeren Personalumbau vornahm.469 Er vertraute gerade in der Operationsabteilung dem eingespielten Team. Falkenhayn selbst leistete wie seine Mitarbeiter ein sehr hohes Arbeitspensum. Der Arbeitstag begann meist gegen 08:00 Uhr und endete spät in der Nacht. Neben einer festen Besprechung am Vormittag mit seinen Abteilungschefs der OHL470 nahm Falkenhayn meist ca. um 22:00  Uhr den Abendvortrag von Tappen entgegen, dem sich oft längere Aussprachen über anstehende Probleme anschlossen.471 Anfangs hielt Falkenhayn, wenn er und der Kaiser sich im GrHQ aufhielten, ebenso wie sein Vorgänger und später seine Nachfolger Hindenburg und Ludendorff zwischen 12:00 und 13:00 Uhr einen Lagevortrag vor Wilhelm  II. Im Laufe der folgenden Monate trug Falkenhayn schließlich manchmal nur noch einmal die Woche dem Kaiser persönlich vor. An anderen Tagen ließ er sich sogar von Offizieren der Operationsabteilung vertreten.472 Im Gegensatz zu seinem Vorgänger fuhr Falkenhayn regelmäßig zu Besprechungen zu den Armeeoberkommandos, um sich einen persönlichen Eindruck vor Ort zu machen.473 Im Umgang mit Untergebenen wirkte Falkenhayn unnahbar, oft geradezu arrogant.474 Es fiel ihm schwer, die Gefolgschaft seiner Untergebenen zu erlangen. Auch gegenüber Politikern tat sich Falkenhayn schwer. Im Gegensatz zu Hindenburg, der als OberOst und im GrHQ regelmäßig mit Politikern und der Presse verkehrte, diese einlud und letztlich auch um deren Gunst buhlte, beschränkte sich Falkenhayn nur auf die notwendigsten Kontakte zur zivilen Welt des

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Detailliert zu Falkenhayns operativer Entscheidungsfindung siehe ebd., S. 286‑293 und S. 360‑375, sowie neuerdings Jessen, Verdun, S. 11‑68. Siehe Zwehl, Erich von Falkenhayn, S. 73. Siehe Loßberg, Meine Tätigkeit im Weltkriege, S. 128. Siehe Tappen, Meine Kriegserinnerungen, S. 65. Siehe Colomb, Erster Weltkrieg, S. 20, sowie Zwehl, Erich von Falkenhayn, S. 74 f. Teilweise hielt sich Falkenhayn nur für wenige Tage im Monat im GrHQ auf. Siehe dazu die Tagebuchnotizen von Pentz, BArch, N 128/1. Vgl. Zwehl, Erich von Falkenhayn, S. 7‑10.

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Kaiserreichs.475 So musste Nicolai beispielsweise erhebliche Überzeugungsarbeit bei Falkenhayn leisten, damit dieser die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Berlin durch den Dekan der Philosophischen Fakultät Hans Delbrück im GrHQ akzeptierte.476 Falkenhayn ging ganz in seiner Aufgabe als Feldherr auf. Die Wahl des erst 53 Jahre alten Falkenhayn, der früh schon die Operationsführung Moltkes d.J. offen kritisiert hatte,477 zum Chef des Generalstabes des Feldheeres war auf Vorschlag Lynckers und Marschalls erfolgt. Beide sollten in den folgenden Monaten in allen Krisen und bei allen Intrigen an ihm festhalten. Mewes begrüßte die Entscheidung anfangs ausdrücklich und begründete sie seiner Frau gegenüber mit den Worten: »Mit Falkenhayn ist dan[n] auch ein frischer Wind eingezogen. Moltke, der doch schon recht alt ist und nicht mehr die nötige Verantwortungsfreudigkeit besitzt, braucht einen Mann, der ihn etwas stützt, und da macht denn Falkenhayn einen sehr guten, bestimmenden und frischen Eindruck. Wir sind alle sehr froh über die Tatsache.«478 Doch nicht alle teilten seine Begeisterung. Nach den unter hohen Verlusten gescheiterten Offensiven in Flandern im Oktober/November 1914 formierte sich von politischer sowie militärischer Seite Widerstand gegen Falkenhayn. Er hatte nämlich aus der Niederlage den Schluss gezogen, ein Siegfrieden sei unmöglich, da die Entente in ihrer bestehenden Form militärisch nicht zu besiegen sei. Als Konsequenz aus dieser Lagebeurteilung forderte er folgerichtig den Reichskanzler zu einer politischen Lösung auf. Ziel müsse ein Separatfrieden mit dem Zarenreich sein, um anschließend alle Kräfte auf Frankreich und besonders auf den »Erzfeind« Deutschlands, Großbritannien, zu konzentrieren. Weder Bethmann Hollweg noch andere hohe Militärs, etwa der Kronprinz von Bayern oder Hindenburg, teilten diese Überzeugung, die Falkenhayn, der wenige Monate zuvor den Krieg noch uneingeschränkt unterstützt, ja sogar gefordert hatte, mit den Worten zuspitzte: »Wenn wir den Krieg nicht verlieren, haben wir ihn gewonnen.«479 Wie überzeugt Falkenhayn von seiner Lagebeurteilung war, zeigt seine Empfehlung auf dem Höhepunkt der deutschen Offensive im Osten im Juli 1915 an Bethmann Hollweg. Er forderte ihn unmissverständlich auf, unbedingt »einen Separatfrieden mit Rußland abzuschließen, selbst unter Verzicht auf jeden Landerwerb.«480 Solche pessimistischen Töne wollten jedoch weder der Reichskanzler noch seine militärischen Widersacher hören. Sie setzten weiterhin auf Sieg und betrieben die Ablösung Falkenhayns.481 Wilhelm II., der Falkenhayn sehr schätzte, hielt, unterstützt von Lyncker und Marschall, jedoch unbeirrt an ihm fest. Zu Falkenhayn hatte der Kaiser eine persönliche Beziehung, die er dessen Nachfolgern Hindenburg und Ludendorff nie entgegenbrachte.482 Falkenhayn, hochgewachsen und schlank, körperlich durchtrainiert, intelligent und eloquent 475

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Schreiben von Hans Henning von Pentz an Karl Heinz Janssen vom 12.11.1959, BArch, N 128/7, S. 3. Detailliert hierzu der Eintrag Nicolais vom 25.7.1915, Nicolai, Geheimdienst, S. 185 f. Vgl. Afflerbach, Falkenhayn, S. 184. Mewes’ Brief an seine Frau vom 16.9.1914, BArch, N 850/29, fol. 4 f. Schreiben von Hans Henning von Pentz an Karl Heinz Janssen vom 12.11.1959, BArch, N 128/7, S. 6. Brief Hans Henning von Pentz an die Redaktion der FAZ vom 3.1.1958, N 128/7. Siehe Kapitel Intrigen und Gerüchte, S. 178‑183. Siehe Groener, Lebenserinnerungen, S. 215.

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im Auftreten, kam wohl dem von Wilhelm II. favorisierten Idealbild eines preußischen Edelmannes sehr nahe.483 Falkenhayn selbst hatte dagegen keine hohe Meinung von seinem Monarchen. Er brachte ihm lediglich formalen, jedoch keinen persönlichen Respekt entgegen.484 Trotzdem bestand zwischen Wilhelm  II. und Falkenhayn, wie Riezler kritisch vermerkte, ein geradezu »mystisches Verhältnis«, welches den enormen Einfluss Falkenhayns auf den Kaiser erkläre.485 Dabei verfolgte Falkenhayn eine klare Linie im Umgang mit dem Kaiser. Er war nicht bereit, seinem Obersten Kriegsherrn einen auch nur ansatzweise gewichtigen Einfluss auf die Operationsführung zuzugestehen.486 Falkenhayn, der gegenüber Untergebenen und Politikern extrem abweisend auftreten konnte, verstand es dagegen, den Kaiser »geschickt zu nehmen« und ihm seine Meinung »aufzuzwingen«. Wie souverän Falkenhayn im Umgang mit Wilhlem  II. agierte, führte Plessen bewundernd in seinem Tagebuch aus: »F[alkenhayn] hat S.M. dabei einen sehr guten Eindruck gemacht! Es war vorherzusehen, dass der sehr geschickte General durch seine forsche, soldatische Art und mit dem Akzent darauf, dass ja nicht er, sondern S.M. es sei, welcher die Befehle an die Armeeführer übermittele – der Kaiser für F[alkenhayn] sofort gewonnen war.«487 Das Verhältnis zwischen dem Obersten Kriegsherrn und seinem obersten militärischen Berater funktionierte auch deswegen reibungslos, weil in operativstrategischen Fragen der Landkriegführung weitgehend Einigkeit zwischen beiden herrschte. Als Günstling Wilhelms II. war Falkenhayn, zumal bei der Vielzahl seiner Gegner, völlig abhängig von der Unterstützung Marschalls und Lynckers, besonders jedoch vom Wohlwollen des Kaisers. Als er dieses verlor, zog er sofort die Konsequenzen und bat um seine Ablösung. Ihm folgte Hindenburg nach, dem Ludendorff als Erster Generalquartiermeister zur Seite gestellt wurde. An der Spitze der OHL standen nun mit Hindenburg ein fast 70-jähriger Vertreter des konservativ-preußischen Militäradels, der als junger Leutnant schon 1866 an der Schlacht von Königgrätz teilgenommen hatte, sowie ein 51-jähriger, extrem leistungsorientierter bürgerlicher Generalstabsoffizier, der Prototyp des karrierebewussten Gewaltmanagers, mit einem nationalistisch geprägten Weltbild.488 Zusammen bildeten sie die III.  OHL. Nicht nur in der Heimat, auch im GrHQ wurde dieser Wechsel von vielen Offizieren ausdrücklich begrüßt. Wilhelm  II. hatte lange gezögert, Hindenburg und Ludendorff als seine engsten Berater ins GrHQ zu berufen. Aus unterschiedlichen Gründen bereiteten ihm beide Unbehagen. Hindenburg neidete er einerseits die mit dessen Erfolgen verbundene Popularität, andererseits sah er in ihm einen undankbaren Intriganten, der ihn zu seinem eigenen Vorteil erpresste.489 Instinktiv fühlte der Kaiser, dass Hindenburg, falls er eher als Symbol und weniger als Feldherr den 483 484 485 486 487

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Siehe Ritter, Staatskunst, Bd 3, S. 55. Siehe Afflerbach, Falkenhayn, S. 235. Siehe Tagebucheintrag Riezlers vom 11.7.1915, Riezler, Tagebücher, S. 283. Afflerbach, Falkenhayn, S. 235. Tagebucheintrag Plessens vom 16.1.1915, Kaiser Wilhelm  II. als Oberster Kriegsherr, S. 725. Siehe Stachelbeck, Deutschlands Heer und Marine, S. 52. Siehe Afflerbach, Falkenhayn, S. 231.

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Posten des Chefs des Generalstabes des Feldheeres wahrnahm, eine Gefahr für seine Rolle als Monarch darstellte.490 So fiel Falkenhayns Warnung, Hindenburg sei ein »neuer Wallenstein«491, bei Wilhelm II. auf fruchtbaren Boden. Ludendorff dagegen war dem Kaiser aufgrund seines Auftretens und seiner Persönlichkeit zutiefst zuwider. Ob Wilhelm  II., wie immer wieder kolportiert wird, wirklich ausrief: »Wenn ich nur diese Feldwebelfresse nicht mehr sehen müsste«492, ist nicht hinreichend belegt. Ausgeschlossen ist eine solche Äußerung nicht: Er sah in ihm einen brutalen Mann, der noch schlimmer sei als Tirpitz.493 Trotzdem versuchte der Kaiser, zu Ludendorff ein gutes persönliches Verhältnis aufzubauen, vergebens: Ludendorff trat ihm gegenüber kühl, eher ablehnend auf.494 Wahrscheinlich fürchtete sich der Kaiser sogar vor dem forschen, fast schon unverschämten Willensmenschen, der einerseits das monarchische Selbstverständnis Wilhelms in Frage stellte,495 den er andererseits aber für die Kriegführung so dringend benötigte. Mit seiner Meinung über Ludendorff stand der Kaiser nicht alleine. Bei aller Euphorie gab es auch andere Stimmen, die von Anfang an Ludendorff als dem starken Mann der III. OHL kritisch gegenüberstanden. So fürchtete Marschall, Ludendorffs Ehrgeiz werde ihn dazu treiben, den Krieg bis zum bitteren Ende zu führen und somit die Monarchie zu gefährden.496 Auch Groener, der sich von Hindenburg und Ludendorff neuen Schwung für die Kriegführung versprach, war sich der Schattenseiten des Ludendorffschen Charakters sowie dessen begrenzter operativ-strategischer Fähigkeiten bewusst. Er notierte schon im Herbst 1915 nach einem Besuch bei OberOst in sein Tagebuch: »Ludendorff [ist] ein zwar kluger, energischer, aber derart rabiater, nur sein eigenes Ich voranstellender Kerl, daß man ihn nächstdem fürs Narrenhaus reif halten möchte [...] Der Feldherrn-Ruhm Ludendorffs ist nicht weit her – Rezepte und Routine, vom alten Schlieffen her geerbt, vom vornehmen Geist des alten Herrn ist nichts auf Ludendorff übergegangen. Ich hätte früher Ludendorff höher eingeschätzt; hielt ihn wenigstens für einen anständigen Charakter.«497 Die Kritik an Ludendorffs charakterlichen Defiziten verstummte auch nach dem Krieg nicht.498 Wie funktionierte das Dioskurenpaar Hindenburg und Ludendorff als III.  OHL? Wie war ihr Verhältnis untereinander? Und nicht zuletzt, wie war ihr Verhältnis zu Wilhelm  II.? Hindenburg bezeichnete die Beziehung zu 490 491

492 493

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497 498

Siehe Pyta, Hindenburg, S. 213. Siehe Kriegstagebucheintrag Kronprinz Rupprechts vom 2.7.1916, Rupprecht von Bayern, Mein Kriegstagebuch, S. 494. Olden, Hindenburg, S. 119. Siehe Kriegstagebucheintrag Weizsäckers vom 10.7.1918, Weizsäcker, Die WeizsäckerPapiere, S. 272. Siehe Breucker, Die Tragik Ludendorffs, S. 45. Siehe Niemann, Kaiser, S. 116. Siehe Kriegstagebucheintrag Groeners vom 28.8.1916, Groener, Lebenserinnerungen, S. 316. Kriegstagebucheintrag Groeners vom 26.10.1915, Groener, Lebenserinnerungen, S. 544. Afflerbach sieht sogar paranoide Züge im Charakter Ludendorffs. Siehe Afflerbach, Falkenhayn, S. 217.

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Ludendorff nur wenige Monate nach Kriegsende als eine »glückliche Ehe« und führte zugleich aus, in einer solchen guten Beziehung sei das jeweilige Verdienst kaum abzugrenzen.499 Ganz im Sinne des von Hindenburg selbst forcierten Persönlichkeitskultes und charismatischen Führungsstils stand Ludendorff in diesem nach außen als untrennbare Einheit propagierten Führungsgespann lange im Schatten des Generalfeldmarschalls. Erst im Frühjahr 1918 trat Ludendorff daraus zumindest teilweise hervor. Bis dahin galt er im Deutschen Reich als der kluge Berater und »treue Gehilfe«, der die Gedanken Hindenburgs ganz im Sinne eines Chefs des Stabes in konkrete Operationsplanungen umzusetzen hatte. Nur wenigen war bekannt, wie es in der Realität in der OHL aussah: Die Eingeweihten im GrHQ wussten schon lange, dass Ludendorff der eigentliche Generalstabschef war und Hindenburg lediglich seinen Namen und seinen Ruhm in die »Ehe« mit einbrachte,500 und die »Insider« an der Front erlebten jeden Morgen, wenn das Telefon klingelte und Ludendorff am anderen Ende der Leitung oft schroff und unverschämt zur Befehlsausgabe schritt und das von ihm propagierte »Führen mit Auftrag« selbst konterkarierte, wer in der OHL in operativ-strategischen Fragen das Sagen hatte. Das Binnenverhältnis zwischen dem Chef des Generalstabes des Feldheeres und seinem Ersten Quartiermeister war zudem in keiner Weise so harmonisch, wie es nach außen propagiert wurde. Wie in einer guten Ehe knirschte es auch in dieser Beziehung. Das Bild des passiv zuhörenden Hindenburg traf sicherlich auf die rein militärischen Belange innerhalb der OHL zu. Hindenburg hatte sich schon zu Zeiten von OberOst aus den tagespolitischen operativ-strategischen Entscheidungen zurückgezogen und hielt daran auch als Chef des Generalstabes des Feldheeres fest. Völlig davon überzeugt, die militärischen Angelegenheiten: die Fortentwicklung der Taktik oder die operativ-strategischen Entscheidungen, lägen bei Ludendorff in sehr guten Händen, hielt sich Hindenburg sogar bei den Planungen und der Durchführung der deutschen Offensiven 1918 weitgehend zurück. Bei diesen für das Kaiserreich so entscheidenden Offensiven nahm Hindenburg, wie bei wichtigen militärischen Entscheidungen zuvor, lediglich den Platz des »wohlwollenden Beobachters« ein.501 Seiner eigenen limitierten operativen Befähigung war sich Hindenburg wohl bewusst. Sein Interesse galt verstärkt seinem Bild vor der Geschichte. So gesehen greift der Vergleich zwischen dem unpolitischen Hindenburg und dem politischen Ludendorff zu kurz. Wenn es um seine Außendarstellung und seinen Geltungsanspruch ging, agierte Hindenburg sogar ausgesprochen politisch. So lange nach außen der Schein gewahrt blieb, stellte sich Hindenburg Ludendorff auch nicht entgegen, sondern gewährte seinem ersten Gehilfen alle Freiheiten im Rahmen der operativen Kriegführung. War seine Autorität jedoch gefährdet, reagierte Hindenburg energisch und, wenn es sein musste, erbarmungslos. So unterstrich er seine dominante Stellung gegenüber Ludendorff immer wieder, indem er ihn öffentlich als seinen ersten Gehilfen bezeichnete und ihm so seinen Platz zuwies.502 Ludendorff war sich seiner Stellung in dieser doch so ungleichen Konstellation bewusst und registrierte sehr wohl, dass die mediale Vermarktung 499 500

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Hindenburg, Aus meinem Leben, S. 68. Siehe Kriegstagebucheintrag Groeners vom 30.8.1916, Groener, Lebenserinnerungen, S. 321. Siehe Pyta, Hindenburg, S. 328. Siehe Pyta, Hindenburg, S. 198‑202.

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zu seinen Lasten ging. »Aber das Zurückstehen,« so Ludendorff in einer von ihm gestrichenen Passage seiner Memoiren, »ist mir nicht leicht gefallen. Ich habe auch meinen Ehrgeiz. Der Feldmarschall wurde gefeiert und ließ sich feiern, und ich war still.«503 Ludendorff wusste, dass seine Autorität letztlich nur dem politisch instrumentalisierten Mythos Hindenburgs geschuldet war; er befand sich daher in einem Dilemma, welches er bis Kriegsende nicht zu lösen vermochte. Vor diesem Hintergrund gelang es ihm auch nicht, sich der medialen Selbstinszenierung Hindenburgs zu entziehen, obwohl er sich der möglichen Konsequenzen für seine Person bewusst war.504 Das herkömmliche Bild der »glücklichen Ehe«, in der Hindenburg lediglich die Rolle einer nickenden Pagode und Ludendorff die des herrischen Ehemanns und der treibenden Kraft innehatte,505 ist daher unzutreffend. Das klassische, immer wieder gerne verbreitete Bild des passiven Hindenburg, der von dem aggressiven und militärisch überaus befähigten Ludendorff beherrscht wurde, entsprach nicht der Realität. Deutlich zeigte sich das im Oktober 1918, als Hindenburg trotz aller Schwüre, immer mit seinem Ersten Generalquartiermeister gemeinsam zu handeln, im Gegensatz zu Ludendorff nicht um seine Ablösung bat. Letztlich fiel es Hindenburg nicht schwer, seinen langjährigen Gefährten fallen zu lassen. »Papa Hindenburg«, so Flottenchef Scheer an seine Frau am 28. Oktober 1918, »hat sich nicht lange gesträubt, als er gebeten wurde zu bleiben ›als Palladium und Heros des deutschen Volkes‹. Er kam gestern [...] ganz guter Dinge in Spa an. Der Weggang seines langjährigen treuen Beraters hat ihn nicht sehr tief getroffen. Er ist eine sehr einfache Natur, indem er, von einem altmodischen Gottesgnadentum erfüllt, der Überzeugung ist, die Königstreue und die Gottesfurcht erfordern das, und so ist er aller Gewissenskonflikte ledig.« Scheer fügt noch hinzu: »Möglich auch, daß ihm die selbständige, herrische Art Ludendorffs auch allmählich unbequem geworden war.«506 Pyta beschreibt Hindenburgs Rolle zutreffend im Sinne Max Webers als die eines charismatischen Herrschers, der eben nicht im Schatten des übermächtigen Ludendorff stand.507 Die Rollenverteilung in der Führungsspitze spiegelt sich auch im Tagesablauf Hindenburgs und Ludendorffs wider: auf der einen Seite der alte Hindenburg, der sich um die Repräsentation innerhalb des GrHQ und nach außen kümmerte, auf der anderen Seite der Workaholic Ludendorff, der nicht selten einen 20-Stunden-Tag absolvierte und an und über die Grenzen der physischen und psychischen Belastung ging. Das Verhältnis zwischen Hindenburg und Ludendorff zu Wilhelm  II. war ambivalent. Einerseits respektierte Hindenburg Wilhelm  II. aus seiner preußisch-monarchistischen Grundhaltung als seinen Monarchen. Dies hinderte ihn, wie Ludendorff, andererseits jedoch nicht, zur Durchsetzung ihrer Ziele, so 503 504

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Zit. nach Pyta, Hindenburg, S. 200 f. Beispielhaft hierfür steht das berühmte, von Hugo Vogel gemalte Doppelportrait Hindenburgs und Ludendorffs, das Hindenburg als Schlachtenlenker im Sinne Moltkes d.Ä. und Ludendorff als seinen Führungsgehilfen inszenierte. Siehe Pyta, Hindenburg, S. 137‑140. Siehe Olden, Hindenburg, S. 111, 115. Brief Scheers an seine Frau vom 28.10.1918, Scheer, Mein lieber Schatz!, Dok. 40, S. 151. Siehe Pyta, Hindenburg, S. 289‑291.

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z.B. bei den von ihnen gegen den Willen des Kaisers erzwungenen Rücktritten von Bethmann Hollweg und Valentini, mit ihrer eigenen Demission zu drohen. Billigend nahmen sie in Kauf, dadurch die Autorität ihres Monarchen zu unterminieren und ihn zu demütigten. Ludendorffs Verhältnis zu Wilhelm II. war kühl. Im Gegensatz zu Falkenhayn hat er sich offensichtlich nie darum bemüht, eine unverkrampfte Beziehung zu seinem Monarchen herzustellen. Immer wieder verärgerte er ihn mit seinem schroffen und abweisenden Auftreten sowie seinen vom Kaiser zu Recht als Erpressung empfundenen Rücktrittsdrohungen. Für ihn stand nicht wie bei dem monarchisch-preußisch orientierten Hindenburg Wilhelm II., sondern wie er selbst schrieb, das Vaterland im Vordergrund.508 Die immer wieder erfolgreich eingesetzte Drohung mit dem Rücktritt war ein Wesensmerkmal des Umgangs des Dioskurenpaares mit dem Obersten Kriegsherrn und dessen Beratern. Wohl wissend, dass sie die letzte Chance des Kaisers für eine siegreiche Beendigung des Krieges waren, drängten Hindenburg und Ludendorff ihn mit dieser Vorgehensweise immer stärker in die Defensive und in den Hintergrund. Wilhelm II. floh immer häufiger aus dem GrHQ, um den Problemen zu entgehen. Die Zahl der regelmäßigen Lagevorträge des Chefs des Generalstabes beim Kaiser reduzierte sich drastisch. Die Kommunikation mit Wilhelm II. lief verstärkt über den Flügeladjutanten Mewes und nach dem Sturz Valentinis in Teilen über dessen Nachfolger Berg. Der persönliche Kontakt zwischen Hindenburg und Ludendorff mit ihrem Obersten Kriegsherren reduzierte sich immer mehr auf das Notwendigste. Die Entscheidung für Hindenburg und Ludendorff machte den Weg frei für eine auf die totale Mobilmachung der personellen, materiellen und geistigen Ressourcen zielende Radikalisierung der Kriegführung. Ludendorff dehnte seine Machtfülle unter den wachsamen Augen Hindenburgs konsequent nicht nur auf weitere Bereiche des Militärs, wie das Kriegsministerium, sondern auch auf die Politik aus. Spätestens mit den erzwungenen Rücktritten Bethmann Hollwegs und Valentinis war eine neue Dimension des militärischen Einflusses im Kaiserreich erreicht. Das bis heute weit verbreitete Bild einer stillen Militärdiktatur Ludendorffs nach dem Sturz Bethmann Hollwegs ist jedoch zu korrigieren. Ludendorffs Aufstieg zum vermeintlich mächtigsten Mann im Kaiserreich führte nicht zu einer völligen Gleichschaltung aller bisher konkurrierenden politisch-militärischen Machtzentren.509 So beschränkte sich seine militärische Zuständigkeit nur auf die Landkriegführung. Die Seekriegführung oblag der Kaiserlichen Marine, deren Oberbefehl sich Wilhelm II. ausdrücklich vorbehielt und den er erst mit der Bildung der SKL im Sommer 1918 aufgab. Auch in der Innen- und Außenpolitik konnte Ludendorff gegen die Reichstagsmehrheit nicht schalten und walten, wie er wollte. Nicht zuletzt blieben Hindenburg und der Kaiser schlichtweg formal seine Vorgesetzten. Dies zeigte sich, als Wilhelm II. ihn am 26. Oktober 1918 entließ und Hindenburg, zur großen Verärgerung Ludendorffs, weiter im Amt blieb. Überhaupt hat Hindenburg zwar in operativen Fragen Ludendorff weitgehend frei agieren lassen, dagegen in politischen und anderen Belangen die Fäden

508 509

Siehe Brief Ludendorffs an Moltke d.J. vom 15.8.1915, Zechlin, Ludendorff, S. 346. Siehe dazu Stachelbeck, Deutschlands Heer und Marine, S. 52 f.

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in der Hand behalten, wohl wissend, dass letztendlich Wilhelm II. doch alle Pläne billigen musste. Mit der Ernennung Hindenburgs zum Chef des Generalstabs des Feldheeres am 29. August 1916 wurde für Ludendorff als voll mitverantwortlichem Berater des Generalstabschefs in allen operativ-strategischen Fragen die Stelle des Ersten Generalquartiermeisters geschaffen. Dadurch war zum ersten Mal in der neueren deutschen Militärgeschichte die Verantwortung für alle Handlungen der OHL und damit die Führung des Krieges auf zwei militärische Führer gleichermaßen aufgeteilt worden. Dieses Konstrukt diente in erster Linie der Außendarstellung, denn wie schon während der gemeinsamen Zeit an der Ostfront übernahm Ludendorff die taktisch-operative Leitung der Kriegführung. Um diese in seinem Sinne zu gewährleisten und die OHL an die sich wandelnden Erfordernisse der Kriegführung anzupassen, setzte Ludendorff in den nächsten Wochen und Monaten einschneidende organisatorische und personelle Veränderungen in der OHL um.510 Er straffte den Führungsapparat, gliederte ihn um und richtete ihn nach außen auf Hindenburg als Chef des Generalstabes des Feldheeres, letztlich aber auf seine Person aus. Wie zuvor Falkenhayn verhinderte er jeden Versuch der politischen Führung, Einfluss auf die Operationsführung zu gewinnen. In diesem Sinne trug er dem Kaiser vor, der, wie zu Falkenhayns Zeiten, lediglich ausgewählte Informationen zu operativ-strategischen Fragen erhielt. Hindenburg und Ludendorff verteilten nicht nur die Aufgabengebiete neu und gliederten um, sondern sie besetzten Schlüsselstellungen mit handverlesenen, ihnen treu ergebenen Offizieren und strafften den gesamten Führungsapparat. Lediglich Offiziere wie Nicolai oder Bauer, deren Loyalität Ludendorff sich sicher war, verblieben in ihren Positionen oder stiegen sogar auf.511 Dagegen musste Tappen, der ehemalige Protegé Ludendorffs, gehen. Tappen hatte zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht realisiert, dass seine Mitarbeiter mittlerweile geschlossen gegen ihn und Falkenhayn standen, und war daher erschüttert, als die Offiziere der Operationsabteilung mit wehenden Fahnen in das Lager Hindenburg-Ludendorff wechselten. Da er sich in seiner selektiven Wahrnehmung keiner Schuld bewusst war, führte er das Verhalten seiner Untergebenen nicht auf seine Person, sondern auf Falkenhayns Menschenführung zurück, der sich 510

511

Der von Ludendorff umgesetzte gewaltige personelle Umbruch hatte schon unter Falkenhayn begonnen. So schrieb Mewes, als Flügeladjutant des Kaisers die Entwicklung im Sommer 1916 aus der Distanz beobachtend, seiner Frau am 20.7.1916: »Der Wechsel in den Genst.Stellen ist jetzt so schnell, daß Esdorff und ich das aperÇu prägten: eine besondere Uniform sei eigentlich nicht mehr nötig, es genügte eine rote Rose im Knopfloch. Wenn die verblüht ist, ists mit der Herrlichkeit für den Betreffenden auch vorbei. Es kommt durch dieses Verfahren [...] eine große Unruhe in alles und die Verantwortlichkeit des Oberbefehlshabers, das, wofür sie eigentlich da sind, kommt garnicht zur Geltung.« Brief Mewes’ an seine Frau vom 20.7.1916, BArch, N 850/43, fol. 3 ff. Jüngere Offiziere im Dienstgrad Major bis Oberstleutnant gewannen als Folge dieser Personalpolitik und der von Ludendorff umgesetzten Totalisierung des Krieges in den Bereichen Propaganda, Politik und Kriegswirtschaft an Einfluss. Nicht wenige dieser jungen Stabsoffiziere zählten später zu der sogenannten OHL-Clique, die im Reichswehrministerium Karriere machten und die Geschicke der Reichswehr sowie die Politik der Weimarer Republik wesentlich mitbestimmenten, etwa der spätere Chef des Truppenamtes Wetzell oder der spätere Reichskanzler Major Kurt von Schleicher.

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in seinem Stab wenig Liebe erworben habe. Aus Verärgerung darüber habe er keinen seiner Offiziere gebeten, ihm in seiner neuen Verwendung als Chef des Stabes der Heeresgruppe Mackensen zu folgen.512 Für Tappen übernahm Major, ab dem 18. Dezember 1917 Oberstleutnant Georg Wetzell offiziell die Abteilung. In der Realität leitete dieser nur die Unterabteilung O  Ia (Operationen), da Ludendorff, um alle taktisch-operativen Fäden in der Hand zu behalten, die Operationsabteilung und O I persönlich führte. Ludendorff räumte Wetzell jedoch deutlich mehr Freiheiten ein als Falkenhayn Tappen. So legte Wetzell selbstständige Entwürfe und Denkschriften sowohl für den Angriff gegen Italien als auch für die Offensiven 1918 in Frankreich vor, die Ludendorff teils akzeptierte, teils umwandelte oder ablehnte.513 Wetzell wurde dabei maßgeblich vom Chef Ic, Major Alfred von Vollard-Bockelberg, unterstützt.514 Die neue Führungsstruktur war keineswegs perfekt. Sie besaß eine eindeutige Schwachstelle. Ludendorff hatte als Erster Generalquartiermeister keine persönliche Befehlsgewalt über die Armee. Diese oblag alleine Hindenburg als Chef des Generalstabes des Feldheeres. Ludendorff umging dieses Problem, indem er auf dem Generalstabsweg an den höheren Truppenführern und Oberbefehlshabern vorbei täglich mit den Generalstabschefs an der Front telefonierte. Diese »Chefwirtschaft« verärgerte im Laufe der nächsten Jahre immer wieder die Frontbefehlshaber. Dazu trug nicht zuletzt auch Ludendorffs schroffer und bevormundender Führungsstil bei.515 Unter Ludendorff verstärkte sich zugleich die schon unter Falkenhayn allmählich aufgekommene Zweiteilung der OHL in eine operative und in eine für die Versorgung und Verwaltung zuständige Gruppe. Zu der operativen Gruppe gehörten neben der Operationsabteilung die Nachrichtenabteilung, die Abteilung IIIb sowie im weitesten Sinne die wichtigsten Obersten Waffenbehörden. Behörden und Abteilungen, die nicht direkt der Kriegführung und der dafür zwingend notwendigen Versorgung und Verwaltung dienten, wurden an ihre Heimatstandorte zurückverlegt.516 Ausgehend von seiner Überzeugung, die Operationsabteilung habe sich auf den Hauptkriegsschauplatz zu konzentrieren und die Versorgung mit Waffen und Munition für die weitere Kriegführung sei von ausschlaggebender Bedeutung, organisierte Ludendorff auch die Operationsabteilung um. Die Zuständigkeit für die Operationen auf dem Balkan, im Osmanischen Reich und im Kaukasus gliederte er aus der Operationsabteilung aus und übertrug sie der am 15. August 1916 neuaufgestellten Abteilung B unter Oberstleutnant Hermann Ritter Mertz von Quirnheim517. Nach Auflösung der Stelle des Chefs des Feldmunitionswesens am 23. September 1916 fasste er alle für die Kriegswirtschaft zentralen Aufgaben in der Abteilung O II zusammen. Deren Chef Max Bauer profilierte sich in den folgenden Monaten als der entscheidende Fachmann für die von Hindenburg und Ludendorff im Rahmen des »Hindenburgprogramms« angestrebte Reorganisation 512 513

514 515 516 517

Siehe Tappen, Kriegserinnerungen, BArch, RH 61/986, S. 207. Siehe Müller, Vernichtungsgedanke, S.  83‑87, 158‑174; Zabecki, The German 1918 Offensive, S. 76, 103‑106. Siehe Tagebucheintrag Bergs vom 31.3.1918, Berg, Pro Fide, S. 561. Vgl. Epkenhans [u.a.], Walter Nicolai – Annäherung an einen Unbekannten, S. 24. Siehe Hubatsch, Großes Hauptquartier, S. 434 f. Am 14.12.1916 zum Oberst befördert.

Generalquartiermeister

Oberst Hans Föst

General der Munitionskolonnen und Trains

Beauftragter für das Beute- und Sammelwesen

Beauftragter in Berlin

Beauftragter in Pferdeangelegenheiten

Beauftragter für den östlichen Kriegsschauplatz

Beauftragter für den westlichen Kriegsschauplatz

Deutsche Vertretung im besetzten Italien

Militärbergwerksdirektion Valenciennes

Abteilung I: Oberst Wilhelm Heye Operationsführung, Organisation, Ausbildung, Bewaffnung des Heeres (zugeteilt: Vertreter der Seekriegsleitung) Abteilung II: (mit Operationsabteilung Munitionswesen) Oberst Max Bauer Kriegswirtschaftsfragen, Beschaffung Kriegsgerät, Munitionsverteilung Abteilung B: Oberst Hermann Mertz v. Quirnheim Operationen Balkan Generalmajor Paul v. Bartenwerffer

Chef des Feldeisenbahnwesens

Militärpolitische Angelegenheiten

Generalmajor Hans Hesse

Chef des Nachrichtenwesens

Generalleutnant Alfred Ziethen

Generalinspekteur der Artillerieschießschulen und General der Artillerie Nr. 1

Oberst Erich v. Oldershausen

© ZMSBw 09149-02

Vertreter der OHL beim Reichskanzler

Generalmajor Detlof v. Winterfeldt ab 2.10.18 Oberst Hans v. Haeften

Major Edwin v. Stülpnagel Propaganda In- und Ausland

Auslandsabteilung OHL in Berlin

Major Emil Würtz

Kriegspresseamt

General der Pioniere

Generalmajor Kurt Marschall v. Bieberstein

Oberstleutnant Walter Nicolai Geheimer Nachrichtendienst, Spionageabwehr, Presse, Propaganda mit Vaterländischem Unterricht

stellv. Generalstab der Armee

Militärbevollmächtigte bei den Verbündeten

Außenstellen der OHL

General der Infanterie Hugo Frhr. v. Freytag-Loringhoven Akten, geheimer Nachrichtendienst, Karten, Kriegserfahrungen, Beutegut Major Siegfried Boelcke

Generalleutnant Ernst v. Hoeppner

Kommandierender General der Luftstreitkräfte

Oberste Waffenbehörden

Chef des Kriegsvermessungswesens

Abteilung IIIb

Operationen

Abteilung Fremde Heere

Major Leopold Rauch Organisation/Kräfteverteilung der Gegner

Oberst Hans Tieschowitz v. Tieschowa Personal, Organisation, Verwaltung

Zentralabteilung

Generalstabsabteilungen

Quellen: Cron, Die Organisation des deutschen Heeres im Weltkriege, S. 12 – 24; BArch, RH 18/2520, Übersicht Oberste Heeresleitung und Struktur Generalstab des Feldheeres, Stand 1.10.1918.

Oberst Hermann Meyer

Chef des Feldkraftfahrwesens

Befehlshaber der Truppen in Luxemburg

Feldpolizeidirektor Maximilian Bauer

Geheime Feldpolizei

Generalstabsarzt Prof. Otto v. Schjerning

Chef des Feldsanitätswesens

Geheimer Postrat Georg Domizlaff

Feldoberpostmeister

Major Leopold v. Münchhausen u.a. unterstellt: Infanterie- und Kavalleriestabswachen

2. Kommandant Großes Hauptquartier

Generalmajor Ernst v. Eisenhart-Rothe

Generalintendant

Generalleutnant Wilhelm Hahndorff

General der Infanterie Erich Ludendorff

Erster Generalquartiermeister

Generalfeldmarschall Paul v. Hindenburg

Chef des Generalstabes des Feldheeres

Generalstab des Feldheeres bei der Obersten Heeresleitung, Stand 1.10.1918

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der Kriegswirtschaft. Als Folge der von den beiden betriebenen gesamtgesellschaftlichen Mobilisierung und Totalisierung des Krieges gewann zudem Nicolai als Leiter der Abteilung  IIIb unter der III.  OHL an Bedeutung. Nicolai überließ das nachrichtendienstliche Kerngeschäft seiner Abteilung verstärkt seinem Stellvertreter und konzentrierte sich im Rahmen der politischen, militärischen und gesellschaftlichen Anstrengungen auf die für die III. OHL immer wichtiger gewordene Presse-, Propaganda- und Kommunikationspolitik. Hier erwarb er sich wie Bauer den Rückhalt Ludendorffs, war aber ebenso wie dieser als Gesicht der repressiven Pressearbeit auf Gedeih und Verderb mit Ludendorff verbunden.518 Während sich Wetzell in taktisch-operativen Fragen als unentbehrliche rechte Hand Ludendorffs bei den Truppenführern einen Namen machte, galten Nicolai und Bauer außerhalb der OHL als »graue Eminenzen«, da sie im Wesentlichen nicht auf militärischem, sondern auf politischem Gebiet aktiv waren. Intern waren sich die drei wesentlichen Stützen Ludendorffs nicht immer grün. Loyal wohl nur sich selbst gegenüber, intrigierte Bauer nicht nur gegen Falkenhayn und bei Kriegsende gegen Ludendorff, sondern auch innerhalb der OHL wann und wo er nur konnte. So war Wetzell für ihn lediglich ein Pedant und fleißiger Handlanger mit taktisch und technisch teils eigenartigen Vorstellungen.519 Folgerichtig kam es immer wieder über taktisch-operative Fragen zu Streitigkeiten zwischen Bauer und Wetzell. Völlig unterschiedlich war die wechselseitige Wahrnehmung von Bauer und Nicolai. Während Bauer Nicolais Pressearbeit nur in Ansätzen kritisierte und ihn sonst als einen treuen, fleißigen, hilfsbereiten Arbeiter mit hohem Pflichtgefühl charakterisierte,520 fällte Nicolai, wie so viele andere, ein vernichtendes Urteil über Bauer. »Oberstleutnant Bauer war sehr begabt und vielseitig, bis zur Schmeichelei verbindlich im Umgang. Er war darum aber nicht ehrlich und zuverlässig, keine Persönlichkeit und ohne Willen zur Verantwortung [...] Seine Herkunft kenne ich nicht, bestimmt war er keine vornehm veranlagte Persönlichkeit.«521 Im September 1918 kam es zwischen beiden sogar zu einem offenen Konflikt, als Nicolai Bauer wegen seiner Intrigen gegen ihn zur Rede stellte. Trotz der Neuorganisation im Sommer/Herbst 1916 und der bis Kriegsende noch folgenden Umorganisationen blieb die Arbeitsbelastung in der Operationsabteilung hoch. Weiterhin wurden die zentralen operativen Entscheidungen nur von wenigen Offizieren, wie Wetzell oder auch Bauer, für Ludendorff aufbereitet, der letztlich, und hier Falkenhayn ähnlich, die wichtigen Entscheidungen selbst traf. Die Masse der Generalstabsoffiziere erledigte, wie unter Tappen, die schon beschriebenen routinemäßigen Arbeitsabläufe. Die Diensteinteilung der Operationsabteilung vom 1. Oktober 1918 offenbart den unter Ludendorffs Ägide konsequent durchgesetzten Personalwechsel. Nur noch wenige Offiziere, wie Bauer, Geyer, Harbou oder Bussche, taten noch Dienst in der Operationsabteilung. Mit 25  Generalstabsoffizieren, fast alle mit Fronterfahrung, hatte sich die Zahl der in der Operationsabteilung eingesetzten Generalstabsoffiziere zwar fast verdoppelt, an die Zahlen heutiger Führungsstäbe reichten diese aber bei Weitem nicht heran. Auch an der Dienstgradhöhe hat 518 519 520 521

Siehe Epkenhans [u.a.], Walter Nicolai – Annäherung an einen Unbekannten, S. 33‑62. Siehe Bauer, Der große Krieg, S. 112. Siehe ebd., S. 37 f. Erinnerungen Nicolais zum 1.6.1915, Nicolai, Geheimdienst, S. 178.

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sich im Vergleich zu 1914 wenig geändert. So wurden die Abteilungen O  I, O II und B von Obersten, die Unterabteilungen O Ia, O Ib, O Ic und O Id nur von einem Oberstleutnant und drei Majoren geführt522. O Ia unterstanden fünf Hauptleute523, O Ib vier Hauptleute,524 O Ic ein Major und zwei Hauptleute525 und O Id zwei Hauptleute.526 In O II und der ihr unterstellten O Mun waren drei Majore und zwei Hauptleute527, in der Abteilung B sogar nur ein Hauptmann eingesetzt.528 Nach dem Scheitern der deutschen Offensiven 1918 und der alliierten Gegenoffensive ab Ende Juli 1918 setzte ein Machtverlust Ludendorffs ein, welcher sich in der Führung der Operationsabteilung widerspiegelt. Wetzell, der wegen der Niederlagen nicht mehr zu halten war, musste am 25. September 1918 Major Joachim von Stülpnagel weichen. Zugleich wurde mit Oberst Wilhelm Heye wieder ein Chef O  I eingesetzt.529 Auch weiterhin blieb diese Abteilung zuständig für Operationsführung, Ausbildung, Bewaffnung, Organisation und Kriegsgliederung des Heeres. Die während des Krieges stark vergrößerte Abteilung O II gab ab dem 15. September 1918 viele ihrer Aufgabengebiete an die neugegründete Unterabteilung O Id ab.530 Damit war der Abgesang Bauers, wie Weizsäcker nach seiner Versetzung ins GrHQ treffend vermerkte, eingeleitet. Ludendorff war bei aller Umorganisation der OHL bewusst, dass angesichts der Komplexität des modernen industriellen Krieges ein frontnaher Führungsstab für die Kriegführung nicht ausreichte. Es bedurfte einer engen Koordinierung mit dem Kriegsministerium, das für die personelle und materielle Rüstung zuständig war. Die Zusammenarbeit zwischen der OHL und dem Kriegsministerium hatte in den ersten Kriegsjahren in Teilen zu wünschen übriggelassen. Die schon vor dem Krieg offensiv zur Schau gestellte Abneigung der Angehörigen des Großen Generalstabes gegenüber den Offizieren des Kriegsministeriums, auch gegenüber den dort eingesetzten Generalstabsoffizieren, hatte zu persönlichen Verstimmungen geführt, die während des Krieges nicht gänzlich verschwanden. Auch hier hatte Tappen eine unglückliche Rolle gespielt. Der im Kriegsministerium eingesetzte Major und spätere Generalmajor Max van den Bergh kritisierte die Geheimniskrämerei der OHL, die Tappen zur Wissenschaft erhoben habe. So 522

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O Ia (Operationen) Major Joachim von Stülpnagel, O Ib Major Alfred von VollardBockelberg, O Ic Major Erich Freiherr von dem Bussche-Ippenburg sowie O Id Oberstleutnant Ernst Frahnert. Siehe Diensteinteilung der Operationsabteilung des Chefs des Generalstabes des Feldheeres vom 1.10.1918, BArch, RH 18/2520. Die Hauptleute Hermann Geyer, Adalbert von Wallenberg, Günther von Poseck, Walther Wever sowie Oberleutnant Kurt-Jürgen Freiherr von Lützow. Weizsäcker war seitens der SKL dieser Unterabteilung zugeteilt. Siehe Diensteinteilung der Operationsabteilung des Chefs des Generalstabes des Feldheeres vom 1.10.1918, BArch, RH 18/2520. Die Hauptleute von Lengerke, von Goßler, von Sick und Gottfried von Vietinghoff gen. Scheel. Major Hans Georg von Waldow, Hauptmann Poten und Hauptmann Oskar von Linsingen. Hauptmann Queis und Hauptmann von Bülow. In O II waren Major Bodo von Harbou und Hauptmann Henning, in der unterstellten O Mun Major Otto Muths, Major von Ellerts und Hauptmann Meyer eingesetzt. Hauptmann Gerhard von Nostitz-Wallwitz. Vgl. Der Weltkrieg 1914‑1918, Bd 14, S. 594 f. Siehe dazu Diensteinteilung der Operationsabteilung des Chefs des Generalstabes des Feldheeres vom 1.10.1918, BArch, RH 18/2520.

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habe sich der Chef des Feldmunitionswesens bei ihm darüber beklagt, er werde nicht über die operativen Absichten der OHL informiert. Folgerichtig könne er nicht für den richtigen Munitionsnachschub sorgen.531 Wenn schon innerhalb der OHL der Informationsaustausch nicht reibungslos funktionierte, verwundert es nicht, dass die Zusammenarbeit zwischen OHL und Kriegsministerium in vielen Bereichen zu wünschen übrig ließ. Dass der Generalstab das Ministerium nur unzureichend über seine Planungen informierte, hatte jedoch schon Tradition. So hat Moltke Kriegsminister Generaloberst Karl von Einem erst 1912, also sieben Jahre nach der Entstehung des »Schlieffenplans«, in die operativen Planungen des Großen Generalstabes eingeweiht.532 Eine koordinierte Vernetzung von OHL und Kriegsministerium erfolgte auch in den ersten Kriegsjahren nicht in dem notwendigen Ausmaß. Unter Hindenburg und Ludendorff änderte sich das. Die III. OHL, die sich als Zentrale der Kriegführung sah, griff zuerst nur vereinzelt, dann immer stärker in die Belange des Kriegsministeriums ein und zwang Wild von Hohenborn mehr oder weniger seinen Dienstsitz wieder im Ministerium in Berlin zu nehmen. Wie kompromisslos Ludendorff vorging, kann man den Worten Mewes’ an seine Frau entnehmen: »Ludendorff schafft mächtig, den kleinen Kriegsminister hat er schon feste an die Wand gedrückt, daß er Öl gibt. Er reist heute nach Berlin ab. L[udendorff] scheint ihm bedeutet zu haben, daß es da mehr für ihn zu tun gäbe, als tatenlos im Hauptquartier herumzusitzen.«533 Da sich aus Sicht der III.  OHL die bisherige dezentrale Organisation kriegswirtschaftlicher Aufgaben in den ständigen Auseinandersetzungen des Kriegsministeriums mit der Industrie und anderen Behörden nicht bewährt hatte, plante sie zur Durchsetzung des von ihr ins Leben gerufenen »Hindenburgprogramms« und zur Steuerung der Kriegswirtschaft eine zentrale Steuerungsbehörde außerhalb des Kriegsministeriums: das Kriegsamt. Wegen des Widerstands des Kriegsministers und des Reichskanzlers konnte sich die III. OHL mit ihrer Idee jedoch nicht durchsetzen und musste akzeptieren, dass das Kriegsamt formal dem Kriegsminister unterstellt wurde.534 Die Hoffnung, mit dem Kriegsamt das Kompetenzgerangel in der Rüstungspolitik zu beseitigen und die Rüstungsproduktion signifikant zu steigern, erwies sich als Trugschluss, und die Bildung des Kriegsamtes verschärfte das bürokratische Chaos durch neue Zuständigkeitskämpfe noch, zumal auch die III. OHL, und hier besonders Bauer, in immer größerem Umfang gegen den Chef des Kriegsamtes Groener intrigierte und ihn letztlich, als die erwünschten Erfolge nicht eintraten, ablöste.535 Wie schon an anderen Punkten aufgezeigt, gelang es der III. OHL nicht, ihren kompromisslosen Machtanspruch durchzusetzen und das auch im Bereich der Heeresführung existierende polykratische Chaos zu beenden. Unter der III.  OHL nahm der Krieg gesamtgesellschaftliche Formen an, da Hindenburg und Ludendorff verstärkt in die politische und wirtschaftliche Führung des Kaiserreichs eingriffen. Sie setzten gemeinsam mit dem Admiralstab 531

532 533 534 535

Siehe Berghs Brief an den Präsidenten des Reichsarchivs vom 25.1.1927, BArch, RH 61/893, fol. 6. Siehe dazu Ritter, Staatskunst, Bd 2, S. 261, sowie Groß, Mythos und Wirklichkeit, S. 143. Brief Mewes’ an seine Frau vom 3.9.1916, BArch, N 850/41, fol. 6. Siehe Stachelbeck, Deutschlands Heer und Marine, S. 113 f. Siehe Groener, Lebenserinnerungen, S. 367‑374.

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den uneingeschränkten U-Boot-Krieg durch, der zum Kriegseintritt der USA führte, und versuchten nach dem Zusammenbruch Russlands, mit einer letzten großen Offensive im Westen den Siegfrieden zu erzwingen. Am Ende scheiterte die Offensive und infolge der erfolgreichen alliierten Gegenoffensiven des Herbstes 1918 musste Deutschland um Waffenstillstand ersuchen. Im Zuge der Auseinandersetzungen um diesen entließ Wilhelm  II. am 26.  Oktober 1918 Ludendorff und übertrug dessen Aufgaben Groener. Gemeinsam mit Hindenburg organisierte Groener die Rückführung und die Demobilisierung des Heeres, den Grenzschutz im Osten und die Bekämpfung revolutionärer Unruhen in Deutschland. Die IV.  OHL wurde schließlich, nachdem Hindenburg im Nachgang zum Abschluss des Versailler Friedensvertrages am 25. Juni 1919 zurückgetreten war, am 30. September 1919 aufgelöst.

7. Kaiserliche Marine Während das Heer mit dem Generalstab und dem Kriegsministerium trotz aller Ressortstreitigkeiten die Friktionen in Grenzen halten konnte, waren diese Streitigkeiten innerhalb der Kaiserlichen Marine seit der Auflösung des Oberkommandos der Marine 1899 und der damit verbundenen Neustrukturierung der Marineführung stetig gewachsen. Mit dem Marinekabinett, dem Admiralstab und dem erstarkten RMA existierten zu Kriegsbeginn drei dem Kaiser direkt unterstellte Behörden mit Immediatrecht. Die Führung des Seekrieges war Aufgabe des Admiralstabes. Im Frieden war er wie der Große Generalstab eine reine Planungsbehörde, besaß jedoch weder das Ansehen noch die Autorität des Großen Generalstabs, der mit den historischen Siegen bei Königgrätz und Sedan seine Leistungsfähigkeit überzeugend unter Beweis gestellt hatte. Die einzige zentrale befehlsführende Stelle in der Kaiserlichen Marine war Wilhelm  II. in seiner Funktion als Oberster Kriegsherr und Oberbefehlshaber seiner Marine. Tirpitz, auf dessen Drängen die Neuorganisation erfolgte, hatte gemäß dem Grundsatz »Divide et impera« eine Umstrukturierung der obersten Marinebehörden durchgesetzt, die seine Macht als Staatsekretär des RMA erheblich erweiterte. Damit hatte er sich die notwendige Bewegungsfreiheit zur Verwirklichung seiner Flottenpläne gesichert. Zugleich hatte er den Grundstock zu vielfachen Kompetenz- und Ressortstreitigkeiten zwischen den verschiedenen Marinedienststellen gelegt, die in den folgenden Jahren alle versuchten, ihre Vorstellungen für die Zukunft der Marine sowie der Seekriegführung durchzusetzen, indem sie danach strebten, die Gunst des Kaisers zu erlangen. Diesem fehlte jedoch bei allem Interesse an der Marine in vielen Dingen die Sachkompetenz und eine klare Führungslinie, sodass die »Allerhöchsten Willensbekundungen meist das Ergebnis eines vom Augenblick eingegebenen Impulses, kaiserlicher Gunst oder der individuellen Autorität, die sich der jeweilige Ressortchef zu verschaffen wusste«,536 waren.

536

Forstmeier, Aus der Geschichte des deutschen Flottenkommandos, S. 15.

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Die Marineleitung im Ersten Weltkrieg

Deutscher Kaiser und König von Preußen Staatssekretär des Reichmarineamts

1. 2. 3. 4.

Alfred von Tirpitz (8.6.1897 – 15.3.1916) Eduard von Capelle (15.3.1916 – 11.8.1918) Paul Behncke (interimistisch 11.8. – 7.10.1918) Ernst Karl August Klemens Ritter von Mann (7.10.1918 – 13.2.1919)

Chef des Admiralstabs 1. 2. 3. 4.

Hugo von Pohl (1.4.1913 – 2.2.1915) Gustav Bachmann (2.2. – 3.9.1915) Henning von Holtzendorff (4.9.1915 – 7.8.1918) Reinhard Scheer (Chef der Seekriegsleitung 7.8. – 14.11.1918)

Chef der Hochseeflotte

1. 2. 3. 4.

Friedrich von Ingenohl (1.2.1913 – 31.1.1915) Hugo von Pohl (1.2.1915 – 15.1.1916) Reinhard Scheer (15.1.1916 – 7.8.1918) Franz von Hipper (7.8. – 13.12.1918)

Chef des Marinekabinetts

1. Georg Alexander von Müller (1.4.1908 – 28.11.1918; ab 28.10.1918 beurl.) 2. Karl von Restorff (28.10. – 28.12.1918)

Chef der Marinestation der Ostsee 1. 2. 3. 4.

Gustav Bachmann (24.2.1914 – 2.2.1915) Friedrich von Ingenohl (2.2. – 13.8.1915) Gustav Bachmann (3.9.1915 – 13.12.1918; ab 30.10.1918 beurl.) Wilhelm Souchon (30.10.1918 – 17.3.1919)

Chef der Marinestation der Nordsee

1. Günther von Krosigk (15.7.1914 – 8.1.1919; am 22.3.1915 formell ernannt)

Chef des Kreuzergeschwaders

1. Maximilian Graf von Spee

Oberbefehlshaber der Ostseestreitkräfte

1. Prinz Heinrich von Preußen (bis Februar 1918)

Kommandeur Mittelmeerdivision

1. Wilhelm Souchon

Sonderkommando Marine Türkei

1. Guido von Usedom

Kommandeur Marinekorps Flandern

1. Ludwig von Schröder

Quellen: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd 5, S. 259; Die deutsche Seekriegsleitung im Ersten Weltkrieg, Bd 1, S. 13.

© ZMSBw

09147-02

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Der Verlierer dieser Entwicklung war der Admiralstab. Im Vergleich zum Großen Generalstab hatte er mit dem Kommando der Hochseeflotte (KdH), das mit dem Aufbau der Hochseeflotte immer mehr an Bedeutung gewann, einen Konkurrenten, der für sich ebenfalls die Führung des Seekrieges reklamierte, denn die Flotte wollte im Kriegsfall auf keinen Fall von frontfernen Offizieren vom grünen Tisch geführt werden.537 Tirpitz, dem weder an einem starken Admiralstab noch an einem starken KdH gelegen war, untergrub erfolgreich alle Bemühungen beider Dienststellen, mehr Gewicht in der Marineführung zu erlangen. Die Versuche des Admiralstabes, sich am Vorbild des Großen Generalstabes orientierend mehr Selbstständigkeit zu verschaffen, vermochte er dabei so wirksam zu unterdrücken, dass der Admiralstab bei Kriegsbeginn auf eine reine Studienbehörde reduziert war. Zeitweise war die Position des Admiralstabes in den Vorkriegsjahren sogar so schwach, dass dessen Chef sein Immediatrecht einbüßte.538 Mit Kriegsbeginn zeigte sich schlagartig die Untauglichkeit der von Tirpitz geschaffenen Friedensorganisation der Marine für den Kriegsfall. Plötzlich zur entscheidenden Stelle für die Führung des Seekrieges avanciert, war der Admiralstab dazu weder personell noch materiell angemessen ausgestattet, geschweige denn ausreichend befähigt.539 Als verantwortliches Organ der Seekriegführung nahm Admiralstabschef Pohl seinen Dienstsitz im GrHQ. Im Gegensatz zum Heer übergab der Kaiser dem Admiralstabschef jedoch nicht die Befehls- und Kommandogewalt in operativen Fragen, sondern beharrte auf seinem alleinigen Führungsanspruch. Er wollte die Kaiserliche Marine persönlich führen. Zu Pohls Leidwesen fand sich zu Kriegsbeginn auch noch Tirpitz im GrHQ ein, obwohl das RMA dort nur mit einem Stabsoffizier vertreten sein sollte.540 Müller hatte die Anwesenheit von Tirpitz im GrHQ gegen den Widerstand des Auswärtigen Amtes bei Wilhelm II. durchgesetzt, da Pohl bei einem Lagevortrag am 30. Juli 1914 eine unglückliche Figur abgegeben hatte.541 Im Vergleich zur OHL war der Admiralstab nur mit einer kleinen Dependance im GrHQ vertreten. Während für die Kriegführung der Landstreitkräfte im Stab des Chefs des Generalstabes des Feldheeres zu Kriegsbeginn allein 40 Offiziere und höhere Beamte sowie 120 Unteroffiziere, Mannschaften und untere Beamte eingeplant waren, war zur Unterstützung des mit der Führung des Seekrieges beauftragten Admiralstabschefs kein Stab vorgesehen. Pohl stand neben seinem Adjutanten lediglich ein Dezernent zur Verfügung, der die Verbindung zum Admiralstab in Berlin hielt. Insgesamt umfasste die Dienststelle Admiralstab im GrHQ neben dem Chef des Admiralstabes zwei Offiziere, fünf höhere Beamte sowie 15 Unteroffiziere und Mannschaften.542 Die Marine war daher zwar mit 537 538 539 540

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Siehe ebd., S. 18. Siehe Hubatsch, Der Admiralstab, S. 145. Vgl. Groß, Die Seekriegführung, S. 347‑349. Dazu traten gemäß Stärkenachweisungen ein Geheimer Kanzleisekretär, zwei Burschen, ein berittener Trainsoldat als Pferdepfleger und vier Kraftwagenführer. Vgl. D.V.E. 219a, Stärkenachweisungen, S. 4. Siehe Tagebucheintrag Hopmans vom 30.7.1914, Hopman, Das ereignisreiche Leben eines »Wilhelminers«, S.  406  f., Anm.  243. Müller hat diese Entscheidung später sehr bereut. Siehe Tagebucheintrag Müllers vom 10.8.1914, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 46. Siehe D.V.E. 219a, Stärkenachweisungen, S. 6b.

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sehr viel weniger Personal als die OHL, dafür aber mit einem deutlich höheren Konfliktpotenzial im GrHQ vertreten. Als sich schon nach wenigen Wochen abzeichnete, dass der Kaiser seiner Führungsaufgabe nicht nachkam, stieg der vorher fast zur Bedeutungslosigkeit degradierte Admiralstab zur entscheidenden Instanz des Seekrieges auf. Dieser Aufgabe war er jedoch nicht gewachsen. Zudem besaß er im Gegensatz zur OHL im Heer nicht das Vertrauen der Flottenführung, die die Operationsplanung der Hochseeflotte selbstständig durchführen wollte. Tirpitz, der nicht nur das Führungschaos in der Marineführung, sondern auch das Scheitern des mit dem Flottenbau verbundenen strategischen Konzepts der Kaiserlichen Marine zu verantworten hatte, versuchte, sich mit Kriegsbeginn sofort an die Spitze der Marine zu setzten. Der »Vater der Lüge«,543 wie ihn seine Gegner spöttisch nannten, stellte dabei seine eigene Person deutlich in den Vordergrund.544 Unterstützung in seinen Bemühungen, zum Oberbefehlshaber der Marine ernannt zu werden, erhielt er von Teilen des Seeoffizierkorps. Tirpitz und seine Unterstützer hofften, der Kaiser würde für die Marine eine ähnliche Regelung des Oberbefehls akzeptieren wie für die Armee. Tirpitz’ Bemühungen stießen von Anfang an auf erbitterten Widerstand. Nicht nur Wilhelm II. lehnte sein Ansinnen ab, auch Müller, Bethmann Hollweg und Jagow taten mit kräftiger Unterstützung Treutlers alles, um Tirpitz’ Einfluss auf die Seekriegführung und den Kaiser zu minimieren.545 Folgerichtig scheiterte er mit der Forderung, die von ihm selbst durchgesetzte Organisation der Marine zu ändern und Admiralstab sowie RMA unter seiner Führung zu einem Oberkommando der Marine zu vereinigen. Müller, aber auch andere empfanden es geradezu als eine Zumutung, dass der Kaiser den Oberbefehl zugunsten Tirpitz’ abgeben sollte.546 Pohl wurde lediglich angewiesen, vor Immediatvorträgen die Meinung des Staatssekretärs einzuholen und dessen eventuell abweichende Überzeugungen vorzutragen.547 Tirpitz ließ sich davon nicht abschrecken. Nicht zuletzt auf seine Initiative wurde sein Widersacher Pohl am 2.  Februar 1915 Nachfolger des wegen der Niederlage an der Doggerbank abgelösten Flottenchefs Admiral Friedrich von Ingenohl. Dieser Personalwechsel offenbart zweierlei: Erstens setzte Tirpitz sein Ränkespiel auch während des Kriegs im GrHQ fort und zweitens trat durch die »Beförderung« Pohls die vom Flottenkommando offensichtlich gefühlte Unterordnung des Admiralstabes deutlich zutage.548 Tirpitz, der sich gleich zu Kriegsbeginn mit dem Kaiser restlos überworfen hatte, ließ in seinen Bemühungen nicht locker, zumal er den Verantwortlichen, an der Spitze Bethmann Hollweg, aber auch Müller und dem Kaiser vorwarf, sie wollten die Flotte nicht einsetzen.549 Der »Vater der Flotte«, der erkennen musste, dass er im GrHQ keine angemessene Aufgabe hatte, begann zu poli-

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545 546 547 548 549

Tagebucheintrag Riezlers vom 1.10.1914, Riezler, Tagebücher, S. 211. »Für Tirpitz [ist] die Marine Selbstzweck.« Tagebucheintrag Riezlers vom 20.7.1914, Riezler, Tagebücher, S. 188. Siehe Salewski, Tirpitz, S. 94 f. Siehe Fischer, Admiral, S. 219. Siehe Hubatsch, Der Admiralstab, S. 162. Siehe Hubatsch, Der Admiralstab, S. 168. Siehe Salewski, Tirpitz, S. 99.

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tisieren und zu intrigieren, um sein Lebenswerk zu retten.550 Zudem forderte er, ebenso wie Bachmann, die konsequente Umsetzung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges. Als das Auswärtige Amt nach der Versenkung der »Lusitania«, ohne ihn zu konsultieren, den Forderungen von US-Präsident Woodrow Wilson nachgab und die Einstellung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges durchsetzte, reichte er seinen Abschied ein, den der Kaiser wutentbrannt ablehnte.551 Wenige Wochen später war Tirpitz’ Schicksal besiegelt, als der Kaiser ihm mitteilen ließ: »Ich muß deshalb zu meinem lebhaften Bedauern auf Ihre regelmäßige beratende Mitwirkung auf diesem zum Arbeitsfeld des Admiralstabs gehörenden Gebiete verzichten und Sie von einer Verantwortung entbinden, welche Sie als schweren seelischen Druck empfinden müssen.«552 Als Tirpitz am 6.  März 1916 zu einer weiteren Besprechung über die erneute Eröffnung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges nicht hinzugezogen wurde, meldete er seinem Obersten Kriegsherren zwei Tage später, krankheitshalber sehe er sich gezwungen, seine Amtsgeschäfte niederzulegen. Diese unverblümte Rücktrittsdrohung beantworte Wilhelm II. mit der Aufforderung, Tirpitz möge seinen Rücktritt einreichen. Der Aufforderung des Kaisers kam der Staatssekretär des RMA unverzüglich nach.553 Damit endete die militärische Karriere des »Vaters der Flotte«. Mit Tirpitz’ Abgang hörten die Machtkämpfe um die Führung der Marine vorerst auf, bevor sie zu Beginn des letzten Kriegsjahres erneut aufbrachen. Pohl, von Tirpitz wegen seiner bürgerlichen Herkunft herablassend als »kleiner Mann«554 bezeichnet, war es wegen des Widerstands Tirpitz’ auch nicht gelungen, den Admiralstab vergleichbar der OHL als operativ-strategische Führungszentrale der Marine durchzusetzen. Dieses Unterfangen schlug nicht zuletzt auch deswegen fehl, weil Wilhelm II. nicht bereit war, den Oberbefehl über die Kaiserliche Marine an den Admiralstabschef abzugeben. Alle Versuche der Admiralstabschefs, dies zu ändern, scheiterten in den folgenden Monaten und Jahren am Widerstand des Kaisers. Mit den Worten: »Sie haben Mich zu beraten und dabei ihre Auffassung nachdrücklich zu vertreten. Ist dies geschehen und Meine Entscheidung gefallen, so wird es ihre Aufgabe, für die Ausführung Meiner Befehle nach besten Kräften zu sorgen,«555 wies Wilhelm  II. den Nachfolger Pohls, Bachmann, einen erklärten Parteigänger von Tirpitz, im Sommer 1915 unmissverständlich in seine Schranken. Nachdem Bachmann wegen unüberwindlicher Differenzen über den uneingeschränkten U-Boot-Krieg schon am 5.  September 1915 als Admiralstabschef abgelöst worden war, wurde mit Holtzendorff ein anfänglich erklärter Gegner des uneingeschränkten U-Boot-Krieges Admiralstabschef. Auch er scheiterte mit dem Versuch, die Kompetenzen des Admiralstabes zu erweitern. Am 26. Juni 1917 wies der Chef des Marinekabinetts Holtzendorff im Auftrag 550

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Siehe Michael Epkenhans, Vom Seekadetten zum Vizeadmiral. Stationen einer Karriere im wilhelminischen Deutschland, in: Hopman, Das ereignisreiche Leben eines »Wilhelminers«, S. 55. Siehe Tagebucheintrag Müllers vom 28.8.1915, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 125. Zit. nach Salewski, Tirpitz, S. 109. Siehe Scheck, Alfred von Tirpitz, S. 40‑43, sowie Tagebucheintrag Müllers vom 9.3.1916, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 163 f. Tagebucheintrag Hopmans vom 10.11.1914, Hopman, Das ereignisreiche Leben eines »Wilhelminers«, S. 493. Zit. nach Hubatsch, Großes Hauptquartier, S. 446.

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des Kaisers, der seinen Oberbefehl über die Marine unter keinen Umständen in Frage gestellt sehen wollte, nachdrücklich darauf hin: »Der Admiralstab ist nicht die Kriegsleitung, sondern nur das Organ Sr. Majestät für die Kriegsleitung.«556 Vor diesem Hintergrund sah der neue Chef des Admiralstabes keinen Sinn mehr, im GrHQ zu verbleiben, und verlegte Anfang 1916 zurück an den ständigen Dienstsitz des Admiralstabes nach Berlin.557 Damit war der Admiralstab wieder vollständig in der Hauptstadt versammelt. Lediglich Kapitän z.S. Friedrich von Bülow vertrat, jedoch ohne Entscheidungsbefugnis, den Chef des Admiralstabes im GrHQ. Als einziger hochrangiger Marineoffizier verblieb somit bis kurz vor Kriegsende der Chef des Marinekabinetts im GrHQ. Diese Tatsache sicherte wiederum Müller einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Kaiser in Marinefragen. Holtzendorffs Rückzug nach Berlin war jedoch nicht nur den Kämpfen innerhalb der Marine geschuldet. Er sah sich letztlich weder vom Kaiser noch von dem Chef des Generalstabes des Feldheeres ausreichend wahrgenommen und zog daraus die Konsequenz. Admiralstab und OHL lebten im GrHQ, wie in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, nebeneinanderher. Vertreter beider Institutionen trafen sich zwar ab und an zum Essen und geselligen Beisammensein, Ideen für eine aufeinander abgestimmte Kriegführung oder gar für eine wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Gesamtstrategie wurden aber trotz des offensichtlichen Scheiterns der unabhängig und ohne Kenntnis voneinander ausgearbeiteten Kriegspläne von Armee558 und Marine559 nicht entwickelt. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die schon zu Friedenszeiten existierenden wechselseitigen Vorurteile auch im Krieg weiter gepflegt wurden. So waren Heeresoffiziere und besonders Generalstabsoffiziere für viele Seeoffiziere »Kommißhengste«560, und die im GrHQ regelmäßig praktizierten sonntäglichen Paraden nach dem Gottesdienst empfand Hopman als »Militarismus«.561 Besonders verärgert waren die Seeoffiziere über die offen zur Schau gestellte Hochnäsigkeit der Armee gegenüber der Marine. Noch zehn Jahre nach dem Krieg ärgerte sich der Leiter des Marinearchivs Vizeadmiral a.D. Eberhard von Mantey maßlos über das Verhalten des Generalstabes: »Der Generalstab stand auf dem Standpunkt ›Macht Eueren Dreck alleine, Ihr habt uns schon durch Euere Flottenvermehrung im Frieden gestört und im Kriege wollen wir von Euch nicht belästigt sein und vor allen Dingen

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560

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Ebd. Vgl. Hubatsch, Großes Hauptquartier, S. 430. Siehe Der Schlieffenplan. Im Gegensatz zu der von Tirpitz zum Dogma erhoben Annahme, die Royal Navy werde im Kriegsfall eine enge Blockade der deutschen Küste durchführen und so der Hochseeflotte die Möglichkeit zu einer Entscheidungsschlacht bieten, praktizierte die englische Flotte außerhalb der Reichweite der deutschen Großkampfschiffe eine wirksame Fernblockade, ohne das Risiko eines Kampfes mit der Hochseeflotte einzugehen. Damit erwies sich auch das strategische Konzept Tirpitz’ als Fehlplanung. Siehe Michael Epkenhans, Vom Seekadetten zum Vizeadmiral. Stationen einer Karriere im wilhelminischen Deutschland, in: Hopman, Das ereignisreiche Leben eines »Wilhelminers«, S. 51. Siehe Tagebucheintrag Hopmans vom 25.10.1914, ebd., S. 475.

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zeigen, daß es ohne Euch geht‹ [...] Ich habe immer empfunden, daß der Generalstabsoffizier tabu war und daß die Marine ihm völlig Hekuba war.«562 Mantey hatte Recht. Der Generalstab führte seinen Landkrieg und dabei kam die Marine bestenfalls am Rande vor. Gemeinsame Operationen wurden wie vor dem Krieg nicht ventiliert. Daran hatte auch die Anwesenheit des Chefs des Admiralstabes im GrHQ nichts geändert. Dieser wurde zwar zeitgerecht über die Planungen der OHL informiert, jedoch nur sehr selten in die Planungsprozesse einbezogen. Das GrHQ erfüllte damit eine für seine Existenz zentrale Aufgabe nicht. Hier wurde, obwohl es die wichtigsten militärischen und politischen Entscheidungsträger des Kaiserreichs auf engstem Raum versammelte, keine aufeinander abgestimmte Strategie für das Kaiserreich zur Führung des Krieges entwickelt. Dies lag sicherlich an dem über Jahrzehnte anerzogenen freundlichen und wechselseitigen Desinteresse von Armee und Marine, aber auch an einem gewissen Misstrauen zwischen den Führungsspitzen beider Teilstreitkräfte. In erster Linie lag es aber am Versagen Wilhelms II. Es wäre seine Aufgabe gewesen, die divergierenden Einzelinteressen zielgerichtet in einem umfassenden Strategieansatz zusammenzuführen. Dazu war er wohl weder intellektuell noch von seiner militärischen Ausbildung her in der Lage. Was aber noch viel schlimmer wog: Er zeigte mit wenigen Ausnahmen kein Interesse daran, diese zentrale Aufgabe des Obersten Kriegsherrn wahrzunehmen. Folgerichtig führten Marine und Armee bis auf wenige Ausnahmen in den nächsten Jahren weiterhin ihren eigenen Krieg im Krieg. Nur in einem einzigen Punkt überschnitten sich die Interessen von Armee und Marine: im U-Boot-Krieg. Weder der Generalstab noch die Marineführung hatten dem U-Boot-Krieg vor Kriegsbeginn große Bedeutung beigemessen: die Marine, weil sie ganz im Sinne von Tirpitz ausschließlich auf die Entscheidungsschlacht gegen die Royal Navy in der Nordsee fixiert war und für die wenigen vorhandenen U-Boote563 kein hinreichend taktisches-operatives Konzept abseits der Unterstützung der Flotte entwickelt hatte, und der Generalstab, weil er prinzipiell kein gesteigertes Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Marine hatte und sich nicht in deren interne Belange einmischte. Eine Ausnahme im Generalstab bildete Falkenhayn. Er erwog schon 1907 im Falle eines Krieges mit Großbritannien den Einsatz von Kleinen Kreuzern, Minen und U-Booten gegen den britischen Seehandel.564 Es verwundert daher nicht, dass Falkenhayn nur wenige Tage, nachdem er Moltke als Chef des Generalstabes des Feldheeres abgelöst hatte, von der Marine den Einsatz von U-Booten gegen die britischen Truppentransporte forderte und Ende 1914 eine U-Boot-Blockade Großbritanniens als Reaktion auf die seiner Überzeugung nach völkerrechtswidrige britische Seeblockade ins Auge fasste.565 562

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Brief Manteys an Hollweg vom 16.4.1929, zit. nach ebd., S.  50, Anm.  192. »Völlig Hekuba«: nach einer Anspielung im »Hamlet« (II, 2) auf Homers »Ilias«, in der Hektor seiner Gattin Andromache gegenüber äußert, das Leid seiner Trojaner und sogar das seiner Mutter Hekuba bekümmere ihn weniger als das ihre; hier gebraucht im Sinne von: das ist mir einerlei. Zu Kriegsbeginn bestand die deutsche U-Boot-Waffe aus der I. U-Flottille mit den älteren Booten U 5‑U 18 und der II. U-Flottille mit den moderneren Booten U 19‑U 24. Siehe Afflerbach, Falkenhayn, S. 376. Siehe ebd.

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Als die Entscheidungsschlacht ausblieb und die Hochseeflotte auf Befehl des Kaisers nicht offensiv eingesetzt werden durfte, setzte sich auch in der Marine immer stärker die Meinung durch, der U-Boot-Krieg sei das wirksame Mittel zur Bekämpfung des britischen Handels. Die erhebliche Gefährdung, der die U-Boote bei einem Vorgehen gemäß der Prisenordnung ausgesetzt waren, bewog die Marineführung, alle Schiffe, sowohl feindliche als auch neutrale, die ein zuvor zur Sperrzone erklärtes Seegebiet befuhren, ohne Vorwarnung zu versenken. Trotz des Widerstandes des Auswärtigen Amtes wurde der uneingeschränkte U-BootKrieg am 18. Februar 1915 erstmals eröffnet, jedoch nach der Versenkung der »Lusitania« und der Drohung der USA, in den Krieg einzugreifen, im September 1915 wieder eingestellt. Falkenhayn unterstützte in diesen Tagen die Forderung des Reichskanzlers, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg zu beenden, da er als Folge eines Kriegseintritts der Vereinigten Staaten aufseiten der Entente einen Wechsel von Rumänien und Bulgarien in das Lager der Gegner fürchtete. Als die Lage auf dem Balkan geklärt war und Falkenhayn seine Planungen für den Angriff auf Verdun forciert hatte, änderte er seine Meinung. Nun trat er offensiv für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg zur Unterstützung der Offensive im Westen ein. Zur Abstimmung der gemeinsamen Planungen von OHL und Admiralstab fand am 30. Dezember 1915 eine der seltenen gemeinsamen Besprechungen zwischen den höchsten Vertretern von Armee und Marine statt, in der über strategische Fragen der Kriegführung gemeinsam und gleichberechtigt gesprochen wurde. Falkenhayn hatte sich zu dieser Besprechung bereit erklärt, obwohl das Verhältnis zu Tirpitz von gegenseitiger Abneigung geprägt war566; Falkenhayn nahm ihm den Schlachtflottenbau übel und mochte seine dozierende Art nicht.567 Die Marinevertreter erklärten Falkenhayn, nach ihren Berechnungen werde der uneingeschränkte U-Boot-Krieg Großbritannien nach sechs bis acht Monaten zum Einlenken zwingen. Falkenhayn glaubte den Ausführungen der Marinevertreter und bestritt in der Folgezeit sogar das Recht Bethmann Hollwegs, die Zahlen der Marine in Frage zu stellen.568 Wer nun erwartet hatte, dieser erste Ansatz einer engeren Zusammenarbeit zwischen Generalstab und Admiralstab wäre fortgesetzt und in der Folgezeit zumindest eine gemeinsame Strategie von Armee und Marine entwickelt worden, sah sich getäuscht. Als der Kaiser, der in die Gespräche zwischen Generalstab und Admiralstab nicht eingebunden und in dieser für die deutsche Kriegführung zentralen Frage bislang nur durch Passivität hervorgetreten war, letztlich den Argumenten Bethmann Hollwegs folgte und im März 1916 die Einführung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges ablehnte, brachen die engeren Kontakte zwischen Admiralstab und Generalstab wieder ab. Warum setzten sie ihre Zusammenarbeit nicht weiter fort, obwohl Falkenhayn doch davon überzeugt war, mit dem Landkrieg alleine keine Entscheidung herbeiführen zu können? Dies lag zum einen daran, dass die gemeinsame Schnittmenge ihrer Interessen lediglich den uneingeschränkten U-Boot-Krieg betraf, der Kaiser seine Entscheidung getroffen hatte, die Ressortegoismen wieder überwogen und weiterhin offensichtlich gar kein Interesse an einer weiterführenden Zusammenarbeit bestand. Zum anderen versagte der Kaiser in seiner Führungsrolle. Er, der vor dem Krieg schon nicht die Chance genutzt hatte, General- und Admiralstab am 566 567 568

Siehe dazu Tirpitz, Politische Dokumente. Deutsche Ohnmachtspolitik, S. 165 f. Siehe Treutler, Die graue Exzellenz, S. 205. Siehe Afflerbach, Falkenhayn, S. 384.

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Beispiel der operativen Planungen für einen eventuellen Krieg gegen Dänemark zur Zusammenarbeit zu zwingen,569 unternahm nichts – sei es aufgrund seiner Faulheit oder weil er die Notwendigkeit einer gemeinsamen strategischen Zusammenarbeit, in der auch die politische Leitung eingebunden gehörte, schlicht nicht verstand. So blieb es bei dem polykratischen Chaos des Kaiserreiches auch im Krieg. Mit Errichtung der III.  OHL veränderte sich die Lage grundlegend. Hindenburg und Ludendorff setzten sich aus der Erkenntnis heraus, dass nur der uneingeschränkte U-Boot-Krieg Deutschland noch eine Siegchance eröffnete, zusammen mit dem Admiralstab mit aller Macht genau dafür ein. Das gemeinsame Vorgehen war nun von Erfolg gekrönt. Trotz des ablehnenden Votums Bethmann Hollwegs befahl Wilhelm  II. für den 1.  Februar 1917 die erneute Eröffnung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges. Doch auch nach diesem gemeinsam errungenen Erfolg kam es in den Folgemonaten nicht zu einer engeren Zusammenarbeit. Beide Teilstreitkräfte führten mit wenigen Ausnahmen weiterhin ihren eigenen Krieg. So begannen Admiralstab und OHL im Juli 1916, das gewaltsame Vorgehen der Entente gegen Griechenland im Sommer 1916 vor Augen, Operationspläne für einen Angriff auf Dänemark und später auf Norwegen auszuarbeiten, falls die Briten Dänemark oder Norwegen besetzen würden. Hier stießen nun unterschiedliche operative Vorstellungen aufeinander: Der Admiralstab forderte eine Bodenoffensive zur Eroberung Jütlands, die die OHL aufgrund der militärischen Gesamtlage für ausgeschlossen hielt. Zudem begann sofort der Streit über die Frage des Oberbefehls. In allen Punkten setzte sich letztlich der Führungsanspruch der OHL durch.570 Während es beim Fall »J«, dem Einmarsch in Dänemark, lediglich um Operationsplanungen ging, arbeiteten Admiralstab und OHL bei der Eroberung der Baltischen Inseln im Herbst 1917, dem »Unternehmen Albion« sowie der Besetzung der Åland-Inseln und Finnlands 1918 eng zusammen,571 wobei die Marine, wie im Falle der ÅlandInseln und Finnlands, nur Transportdienste leistete und die Gründe für die Zusammenarbeit beim »Unternehmen Albion« nicht etwa einem gemeinsamen gesamtstrategischen Interesse, sondern vorrangig Eigeninteressen von Admiralstab und OHL entsprangen.572 Nachdem Tirpitz’ Nachfolger Capelle seinen Dienstsitz im März 1916 wieder ins RMA nach Berlin verlegt hatte, blieb als einziger hochrangiger Vertreter der Marine Müller im GrHQ. Deutlicher konnte ihr Bedeutungsverlust im Ersten Weltkrieg kaum zutage treten. Obwohl die OHL, rein kontinental denkend und die begrenzten Möglichkeiten der Marine mittlerweile realistisch einschätzend, von einem großen Sieg der Hochseeflotte keine Entscheidung des Krieges erhoffte, erwartete sie von ihr wenigstens den Willen zur Schlacht, nicht mehr und nicht weniger. Angesichts der schweren, mit hohen Verlusten verbundenen Kämpfe um Verdun empfand man in der OHL den Einsatz der Flotte als eine Selbstverständlichkeit. Dem vermeintlichen Sieg in der Skagerrakschlacht Ende Mai 1916 maß die OHL daher lediglich eine propagandistische, jedoch keinerlei strategische Wirkung bei. Aber selbst die propagandistische Wirkung wurde im 569 570 571 572

Siehe dazu Salewski, Weserübung. Siehe Groß, German Plans, S. 155‑167. Siehe Groß, Die Seekriegführung, S. 124‑148. Siehe Groß, Unternehmen »Albion«.

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Heer noch relativiert. So konzedierte Oberst Max Hoffmann der Eroberung des Fort Vaux eine große moralische Wirkung auf die Entente, während er von dem Sieg in der Skagerrakschlacht lediglich begeistert war.573 Der Chef der Hochseeflotte Scheer und dessen Chef des Stabes Trotha waren, wie viele andere Seeoffiziere auch, über das mangelnde Durchsetzungsvermögen der Marineführung sowie über den im Kriegsverlauf rapide fortschreitenden Bedeutungsverlust der Marine entsetzt. Sie sahen die Ursachen für diese Entwicklung zum einen in der falschen Führungsorganisation, zum anderen in der mangelnden Präsenz ihrer Spitzenvertreter im GrHQ. Sie strebten eine der OHL vergleichbare Leitung der Seekriegführung an, die ihren Sitz im GrHQ nehmen sollte. Nach langen, mit Intrigen gekoppelten Kämpfen setzten sie im Sommer 1918 ein durchgreifendes Revirement der Marineführung durch:574 Holtzendorff musste am 27. August 1918 zugunsten von Scheer seinen Dienstposten als Chef des Admiralstabes räumen. Dieser wurde nun Chef der neugebildeten SKL, die mit dem aus dem Admiralstab hervorgegangenen, vergrößerten Stab ihren Sitz im GrHQ nahm. Damit einhergehend gab der Kaiser seinen Anspruch auf den Oberbefehl über die Marine auf. Scheer konnte nun »direkte Befehle mit der Unterschrift ›von Seiten der Seekriegsleitung‹ an die Verbände oder einzelne Befehlshaber pp. geben.«575 Der Kaiser als Oberbefehlshaber war damit faktisch ausgeschaltet. Er hatte nur noch den nominellen Oberbefehl inne. Dass Wilhelm II. sich dieser Tatsache bewusst war, sich aber notgedrungen der auf eine zentrale Kommandostelle hinauslaufenden Entwicklung gefügt hatte, zeigt seine Bemerkung gegenüber Kapitän z.S. Magnus von Levetzow, als dieser sich bei ihm als neuer Chef des Stabes meldete: »Bilden Sie sich aber nicht ein, daß sie nun allein zu regieren haben, ich bin auch noch da.«576 Hindenburg und Ludendorff begrüßten die Errichtung der SKL im GrHQ und erklärten, sie wollten sie in allen Belangen unterstützen. Hindenburg führte zusammenfassend aus: »Wir wollen treu zusammenhalten.«577 Scheer war von der Stimmung im GrHQ anfangs sehr angetan. Seiner Frau schrieb er: »Der ganze Ton in Spa ist sehr zuversichtlich, nicht etwa bramarbasierend, sondern ruhige Gelassenheit, keine Spur von Nervosität. Levetzow, der zum ersten Mal so was mitmacht, war schwer begeistert.«578 Weizsäcker dagegen ließ sich von der euphorischen Stimmung seiner Kameraden nicht mitreißen. Im Nachgang zum gemeinsamen Abendessen mit Hindenburg vermerkte er in seinem Tagebuch kritisch: »Der Feldmarschall erzählt mit großem Namensgedächtnis und mit Humor aus seinen kriegsgeschichtlichen Erinnerungen. Er lebt doch sehr in der Vergangenheit.«579 Mit der Schaffung der SKL als zentraler Kommandostelle in der Marine hatte der seit der Ära Tirpitz schwelende Streit um die Spitzengliederung in der Marine sein vorläufiges Ende gefunden. Eine der OHL vergleichbare Institution für die 573 574

575

576 577 578 579

Siehe Hoffmann, Die Aufzeichnungen, S. 120. Zur Bildung der SKL und den damit verbundenen internen Kämpfe und Intrigen siehe Groß, Die Seekriegführung, S. 357‑390. Chef des Kaiserlichen Marinekabinetts an Chef des Admiralstabs der Marine, GrHQ Spa, den 11.8.1918, Die deutsche Seekriegsleitung, Bd 4, Dok. 636, S. 115. Brief Scheers an Trotha (Abschrift) vom 16.8.1918, BArch, N 239/24, fol. 71 f. Brief Levetzows an Trotha (Abschrift) vom 16.8.1918, BArch, N 239/24, fol. 75. Brief Scheeres an seine Frau vom 12.9.1918, Scheer, Mein lieber Schatz!, Dok. 14, S. 100. Tagebucheintrag Weizsäckers vom 11.9.1918, Weizsäcker, Die Weizsäcker-Papiere, S. 284.

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Kriegsgliederung des Admiralstabes der Marine (1.10.1918)

Chef des Admiralstabes der Marine Admiral Reinhard Scheer

Stellvertretender Chef des Admiralstabes

Kapitän zur See Friedrich v. Bülow

Stab der Seekriegsleitung im Großen Hauptquartier

Zentralabteilung Organisation des Admiralstabes

Kapitän zur See Magnus v. Levetzow

Op I Überwasser-, Luftund Landkrieg Op Ia Bearbeitung aller operativen Angelegenheiten Kriegstagebücher Verteilung und Organisation der Seestreitkräfte Op Ib Meldungen Küstenverteidigung Führung d. Operationskarten Kriegstagebuch SKL Pressezensur Typenfragen Handelsschifffahrt

Op II U-Boot-Krieg Op IIa Bearbeitung aller operativen Angelegenheiten Kriegstagebücher Verteilung und Organisation der U-Boot-Streitkräfte Op IIb Meldungen Listenführung Führung d. Operationskarten Pressezensur Typenfragen

Abteilung III Organisation Abteilung IV Militärpolitik Abteilung V Presse Abteilung VI Adjutantur Abteilung VII Verbindungsoffizier SKL/OHL Quelle: Hubatsch, Der Admiralstab, S. 252.

A

Fremde Marinen

AI A II A III A IV AV

Westen Osten Mittelmeer Übersee U-Handelskrieg

B

Militärpolitik

BI B II B III B IV

U-Krieg (polit.) Bundesgenossen Wirtschaftskrieg Völkerrecht

D

Personal und Material

DI D II D III D IV DV D VI

Material Signal Personal Admiralstabsausbildung Schiffsmaschinen Luftschiffe, Minen

G

Spionageabwehr

G I Organisation der feindlichen Nachrichtendienste G II Bearbeitung der Spionageabwehr

N

Nachrichtenabteilung

NI N II N III N IV

Erkundung – Kassenwesen Agenten

P

Presse

PI P II P II P IV

Zensur Neutrale Länder Vaterländischer Unterricht Aufklärungstätigkeit

© ZMSBw

09146-03

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Marine war entstanden. Nach außen sichtbar wurde dies, als der Kaiser die SKL durch Allerhöchste Kabinettsorder vom 16.  September 1918, ebenso wie die OHL, in den Rang einer Zentralbehörde erhob.580 Scheer begnügte sich jedoch nicht mit dem Aufbau der SKL. Er ersetzte Capelle am 18. September 1918 durch Admiral Paul Behncke. Als sich herausstellte, dass die Werftindustrie mit Behnke keine Chance sah, das von Scheer in Anlehnung an das Hindenburgprogramm initiierte Scheerprogramm581 zu verwirklichen, setzte der neue Chef der SKL Behnkes Absetzung nach nur vier Tagen im Amt durch.582 Sein Nachfolger wurde Vizeadmiral Ernst von Mann Edler von Tiechler, der wie seine Vorgänger nicht im GrHQ seinen Dienstsitz nahm. Nicht nur in der Sache, auch im Ton näherten sich die führenden Männer der SKL der Führung der OHL an. Zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen verkehrten sie mit den anderen Marinedienststellen in einem schroffen Befehlston, den sie sich wenige Wochen zuvor von Holtzendorff nicht hätten gefallen lassen. In Teilen der Marine wurde ihr Verhalten daher als diktatorisch empfunden.583 Im Laufe des August verlegte die SKL schrittweise in das GrHQ. Weizsäcker trat als Verbindungsoffizier der SKL zur OHL auf den Plan. Den in das GrHQ übergesiedelten Stab der SKL führte Levetzow. Dem bisherigen Chef der Operationsabteilung der Hochseeflotte unterstanden sieben Abteilungen. Angelehnt an die Gliederung der OHL bildeten die für die operative Seekriegführung zentralen Abteilungen Op I und Op II den Kern der SKL. Während Op I mit seinen Unterabteilungen Op Ia und Op Ib für die Überwasserkriegführung und die Zusammenarbeit mit der OHL zuständig war, fiel die Führung des U-BootKrieges in den Zuständigkeitsbereich von Op II mit ihren Unterabteilungen O IIa und O  IIb. Die Abteilungen  III bis V waren verantwortlich für Organisation, Militärpolitik und Presse. In der Abteilung  VI war die Adjutantur und in der Abteilung  VII der Verbindungsoffizier der SKL zur OHL Weizsäcker aufgehängt. Alle anderen Abteilungen des Admiralstabes, wie beispielsweise die Nachrichtenabteilung oder die Abteilung für fremde Marinen, verblieben in Berlin.584 Mit wie vielen Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften die Marineführung wenige Monate vor Kriegsende in das GrHQ übersiedelte, ist nicht zu ermitteln. Sicher ist jedoch: Scheer baute im Rahmen eines großen Personalrevirements nicht nur die Führungsspitze der Marine um, sondern versetzte ausschließlich hochqualifizierte Offiziere in die SKL. So wechselten fast 50 % aller Kommandanten und I. Offiziere ihren Dienstposten. Die Hochseeflotte verlor so zulasten des Aufbaus der SKL wichtige Führungspersönlichkeiten an Bord

580 581

582

583

584

RMA an den Reichskanzler, 16.9.1918, BArch, RM 3/2729, fol. 82. Mit dem Scheer-Programm sollte die U-Boot-Produktion signifikant gesteigert werden. Siehe dazu Groß, Die Seekriegführung, S. 330‑340. Über die Umstände der so schnellen Entlassung Behnkes und den Umgang mit seiner Person durch Scheer siehe Groß, Die Seekriegführung, S. 393‑395. Siehe Herwig, Das Elitekorps des Kaisers, S. 184, sowie Granier, Magnus von Levetzow, S. 43. Zur Gliederung der SKL mit Stand 1.10.1918 siehe Hubatsch, Der Admiralstab, S. 252‑254.

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der Großkampfschiffe; ein Umstand, dessen Auswirkungen auf die Meuterei in der Marine nicht unterschätzt werden darf.585 Durch die persönliche Fühlungnahme zwischen Offizieren der SKL und der OHL im GrHQ ließen sich viele Probleme leichter lösen, ja die SKL unterstützte Operationen der OHL gerade auf den Nebenkriegsschauplätzen bereitwillig. Dennoch wurde das von Levetzow und Scheer angestrebte gleichberechtigte Nebeneinander586 bis Kriegsende nicht erreicht. Dies lag zum einen an den auf allen Kriegsschauplätzen sich überstürzenden Ereignissen, zum anderen war das seit Langem aufgebaute Misstrauen der OHL gegenüber der Marineführung, trotz aller Bemühungen der SKL und des Treueschwurs Hindenburgs, in so kurzer Zeit nicht abzubauen. So blieb Ludendorff gegenüber Scheer weiterhin zurückhaltend, teilweise sogar abweisend587 – eine Tatsache, der sich Scheer wohl bewusst war.588 Dies lag sicherlich auch daran, dass trotz aller wechselseitigen Zustimmung die OHL mit ihrem Programm zur Steigerung der Panzerproduktion und die SKL mit dem »Scheerprogramm« zur Erhöhung der U-Boot-Produktion auf dieselben personellen und materiellen Ressourcen zugreifen wollten. Dass die OHL dabei keine Rücksicht auf die Marine nahm, zeigte sich, als sie Anfang November der SKL eröffnete, das »Scheerprogramm« für ihr eigenes großes Tankprogramm einschränken zu wollen.589 Wie ernst Hindenburgs vollmundiger Treueschwur wirklich zu nehmen war, erkannte Scheer, als Ludendorff ihm nach Eröffnung der Waffenstillstandsforderungen zu verstehen gab, die Marine müsse wohl den Großteil der Zeche durch die Auslieferung der Flotte zahlen.590 Spätestens jetzt musste man in der SKL und im Flottenkommando erkennen, dass die OHL kompromisslos ihre Eigeninteressen jederzeit vor die Interessen der Marine setzte. Zugleich erkannten die führenden Köpfe der SKL, dass die Zukunft der Marine auf dem Spiel stand. Den Bezug zur politischen und militärischen Realität hatte die SKL völlig verloren; sie plante, ganz auf die Existenzsicherung der Marine fixiert, zur Durchsetzung ihrer Partikularinteressen auf Grundlage eines unverhüllten politisch und moralisch bedenklichen Ressortegoismus nun einen letzten Flottenvorstoß. Im »heldenhaften Kampf« sollte ein Zeichen für die Notwendigkeit der Flotte gesetzt werden, um die Zukunft der Marine zu sichern, ihren Machtanspruch im Deutschen Reich zu wahren und die herausgehobene Stellung des Seeoffizierkorps zu sichern. Die Ausführung des Planes führte zur Meuterei in der Hochseeflotte und zu einem Ehrverlust der Marine. Paradoxerweise sicherte er aber, zumindest in Teilen, die Zukunft der Marine, denn die Verfechter einer starken Marine in der Weimarer Republik konnten immer behaupten, die Marine sei nicht auf See, sondern wie die Armee durch den Dolchstoß der Sozialisten besiegt worden.591

585

586

587 588 589 590 591

Zu den personellen Rochaden und Veränderungen in der Kaiserlichen Marine im Sommer 1918 siehe Groß, Die Seekriegführung, S. 390‑395. Siehe Brief Weizsäckers an seinen Vater vom 6.8.1918, Weizsäcker, Die Weizsäcker-Papiere, S. 272. Siehe Tagebucheintrag Müllers vom 29.9.1918, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 421. Siehe Deist, Die Politik der Seekriegsleitung, S. 189. Siehe Groß, Die Seekriegführung, S. 339. Vgl. Deist, Die Politik der Seekriegsleitung, S. 192‑194. Siehe Groß, Eine Frage der Ehre?, S. 356‑365, sowie Groß, Die Seekriegführung, S. 442.

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8. Reichskanzler und Auswärtiges Amt Von ziviler Seite waren neben dem Chef des Zivilkabinetts der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg sowie der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Gottlieb von Jagow592 mit ausgewählten Mitarbeitern im GrHQ vertreten. Zusammen bildeten sie die »Formation Reichskanzler und Auswärtiges Amt« im GrHQ. Hierzu gehörten zu Kriegsbeginn der Adjutant des Reichskanzlers Oberleutnant Ulrich Freiherr von Sell, dem am 31. August 1914 Legationssekretär Ernst Lothar Julius Graf von Zech nachfolgte. Hinzu traten zeitweise der Botschaftsrat Gerhard von Mutius, der Hofrat Rudolf Ostertag sowie der Sekretär und Berater des Reichskanzlers Kurt Riezler. Seitens der Wilhelmstraße gehörten der Formation im Laufe des Krieges der Legationsrat Werner Freiherr von Grünau, der Legationsrat Kurt von Lersner, der Gesandte Wilhelm von Stumm, der Botschaftsrat Wilhelm von Radowitz sowie zwei Chiffreure und mehrere Kanzleidiener an. Bis gegen Ende des ersten Kriegsjahres blieben der Reichskanzler und der Staatssekretär des AA mit ihren engsten Mitarbeitern fast die ganze Zeit im GrHQ. Danach hielten sie sich immer häufiger in Berlin auf. Denn hier war der Reichstag, hier waren die Ministerien und die Verwaltung, die das Kaiserreich im Innern zusammenhielt. Folgerichtig erachteten Bethmann Hollweg und seine Nachfolger ihre Präsenz in der Hauptstadt als wichtiger als die im GrHQ. Schließlich kamen sie nur noch zu wichtigen Besprechungen und Vorträgen in das GrHQ, nicht zuletzt, weil die Sitzungen des Reichstages sie in Berlin banden. Trotzdem hat Bethmann Hollweg an zwei für ihn zentralen Punkten Einfluss auf die Kriegführung zur See und auf dem Land genommen. Dies waren zum einen die Verschiebung des Schwerpunktes der Landkriegführung von der Westan die Ostfront, zum anderen die Verhinderung des uneingeschränkten U-BootKrieges. Nachdem die Verluste während der Offensive in Flandern im Herbst 1914 angestiegen waren und Falkenhayn, der einen Siegfrieden als unrealistisch erachtete, einen Separatfrieden mit Russland forderte, versuchte Bethmann Hollweg erfolglos, zuerst über Plessen und dann über Lyncker, Falkenhayn zum Abbruch der verlustreichen Kämpfe um Ypern zu bewegen und den Schwerpunkt an die Ostfront zu verlegen.593 An diesem Ansinnen hielt er trotz der Widerstände Falkenhayns mit Unterstützung Hindenburgs und Ludendorffs fest. Letztlich gab Falkenhayn auch angesichts der schwierigen Lage der Donaumonarchie nach und verlegte den Schwerpunkt 1915 an die Ostfront. Damit war der Konflikt zwischen der Siegfrieden-Strategie Bethmann Hollwegs sowie Hindenburgs und Ludendorffs auf der einen und der Separatkrieg-Strategie Falkenhayns auf der anderen Seite nicht entschieden, sondern nur verschoben. Eine endgültige Entscheidung gab es erst, als Hindenburg und Ludendorff Falkenhayn abgelöst hatten. Auf einem anderen Feld der Kriegführung hatte Bethmann Hollweg von Anfang an klar Position bezogen – dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Aus 592

593

Jagow wurde am 22.11.1916 entlassen und durch Arthur Zimmermann ersetzt. Ihm folgte Kühlmann nach. Dessen Nachfolger Paul von Hintze übergab die Amtsgeschäfte am 3.10.1918 an Wilhelm Solf, der das Amt bis zum 13.12.1918 ausübte. Siehe Afflerbach, Falkenhayn, S.  219. Riezler hatte im Auftrag des Reichskanzlers im Oktober 1914 ein Gutachten verfasst, welches für eine Schwerpunktverlagerung an die Ostfront eintrat. Siehe Riezler, Tagebücher, S. 227, Anm. 2.

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Angst vor einem Kriegseintritt der USA lehnte er diesen kategorisch ab und setzte alle Hebel in Bewegung, um ihn zu verhindern. Diesen Kampf verlor er jedoch, als Hindenburg und Ludendorff, die wenige Monate zuvor mit ihm gemeinsam Falkenhayn gestürzt hatten, kurze Zeit nach ihrer Amtsübernahme zu der Erkenntnis kamen, nur der uneingeschränkte U-Boot-Krieg könne noch einen Sieg garantieren. Mit der Entscheidung zu seiner Eröffnung im Januar 1917 verlor Bethmann Hollweg jeglichen Einfluss auf die Kriegführung von Armee und Marine. Er und seine Nachfolger wurden seit dem Frühjahr 1917 von der OHL und der Marineführung nur noch über deren Entscheidungen informiert. Als die besagte Entscheidung fiel, war Bethmann Hollwegs wichtigster Mann im GrHQ, der Gesandte Treutler, schon seit sechs Monaten vom Kaiser aus vorgeschobenen gesundheitlichen Gründen des GrHQ verwiesen gewesen. Treutler war mit dem Rückzug der politischen Führung aus dem GrHQ zunächst als Vertreter des Reichskanzlers und des Auswärtigen Amtes im GrHQ verblieben. Er führte nicht nur die »Formation Reichskanzler und Auswärtiges Amt«, sondern gehörte zum Allerhöchsten Gefolge des Kaisers. Die Wahl Treutlers war ein geschickter Schachzug Bethmann Hollwegs, denn jener war ein guter Bekannter des Kaisers. Treutler, der ursprünglich Berufsoffizier werden wollte, hatte unter Wilhelm II. bei den Gardehusaren in Potsdam gedient. Aus dieser Zeit stammte sein fast freundschaftliches Verhältnis zum Kaiser, der ihn duzte und scherzhaft »Treutlerchen« nannte.594 Als Treutler nach einem Sturz vom Pferd seine Offizierkarriere aufgeben musste und in den diplomatischen Dienst wechselte, machte er, protegiert von Wilhelm  II., schnell Karriere. In all den Jahren bestand der gute Kontakt zum Kaiser weiter, der ihn regelmäßig auch mit heiklen Sonderaufträgen betraute. So musste er in dessen Auftrag den Kronprinzen auf einer Indienreise begleiten und Wilhelm II. regelmäßig über das Verhalten seines Sohnes Bericht erstatten. Treutler war über das Verhalten des Kronprinzen erschüttert. Am 27. Januar 1911, dem Geburtstag des Kaisers, notierte er in sein Tagebuch: »Gott segne den Kaiser! Wie viel wichtiger noch – wenn möglich – ist mir sein Leben, seit ich den Nachfolger so gut kenne.«595 Da Treutler die amourösen und politischen Eskapaden des Thronfolgers nicht verschwieg und darob mit dem Kronprinzen in Konflikt geriet, war das Verhältnis Treutlers zu Kronprinz Wilhelm nach der Indienreise nachhaltig gestört.596 Dies sollte sich noch rächen, denn Treutler hatte sich in dem Thronfolger regelrecht einen Gegner gemacht, der in den folgenden Jahren und besonders während des Krieges jede Chance nutzte, um bei seinem Vater Front gegen ihn zu machen. Seit 1912 weilte Treutler als preußischer Gesandter am bayerischen Hof. Trotzdem nahm er als Vertreter des Auswärtigen Amtes an den Reisen des Kaisers teil und wurde mit Kriegsbeginn als Vertreter des Reichskanzlers und des Auswärtigen Amtes ins Allerhöchste Gefolge des Kaisers befohlen. Mit dem Rückzug Bethmann Hollwegs und Jagows aus dem GrHQ war er dann der einzige hochrangige diplomatische Vertreter im GrHQ, der jederzeit Zutritt zum Monarchen hatte. Welche Pflichten oblagen Treutler in dieser verantwortungsvollen Stellung? Er trug Wilhelm II., wenn irgend möglich täglich, die relevanten Vorgänge der auswärtigen Beziehungen des Kaiserreichs vor. Zugleich nahm 594 595 596

Siehe Treutler, Die graue Exzellenz, S. 19. Ebd., S. 144. Zu den amourösen und politischen Eskapaden des Thronfolgers siehe ebd., S. 165‑170.

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er eine Mittlerfunktion zwischen dem Reichskanzler und dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes sowohl zum Kaiser als auch zur OHL und dem Admiralstab ein. Treutler konnte sich dabei der vollen Rückendeckung aus der Reichskanzlei und der Wilhelmstraße sicher sein. Bethmann Hollweg vertraute Treutler so uneingeschränkt, dass er ihm sogar genehmigte, neben der offiziellen Linie des Auswärtigen Amtes, wenn er es als notwendig erachte, eine davon abweichende persönliche Meinung dem Kaiser kundzutun.597 Zudem hatte Treutler schnell in den Kabinettschefs die Persönlichkeiten in der engeren Entourage des Kaisers erkannt, die, wenn überhaupt, Einfluss auf den Monarchen hatten. Daher suchte er konsequent die Nähe zu Müller, Lyncker und Valentini, mit denen er auch persönlich sehr gut auskam: »Mit den drei Kabinetten stand ich brillant.«598 Auf den täglichen Spaziergängen, an denen noch Reischach, ein alter Jugendfreund Treutlers, teilnahm, »benutzte ich«, so Treutler, »diese Gelegenheit, um diese Herren – soweit ich es tun durfte – politisch auf dem Laufenden zu erhalten [sic], eine Tätigkeit, die sich – in aller Bescheidenheit sei es gesagt – bezahlt gemacht hat.«599 Auch wenn Treutler nicht konkret ausführte, wann und an welcher Stelle seine Überzeugungsarbeit Früchte trug, offenbarte er als Einziger aus dem persönlichen Gefolge des Kaisers, wie Politik in dessen engerer Umgebung gemacht wurde. Geschickt galt es, Bündnisse mit Gleichgesinnten zu schmieden, um zum einen im Sinne seiner Vorgesetzten in Berlin die richtige politische Überzeugung zu verbreiten und zum anderen den Kampf um das Ohr und die Gunst des Kaisers zu gewinnen – und dies alles in geduldiger, täglicher, oft mühsamer Kleinarbeit. Auf allen diesen Feldern tat sich Treutler besonders hervor. Zudem war er ein begnadeter Strippenzieher, der die Klaviatur des politischen Ränkespieles, und wenn es darauf ankam der Intrige, hervorragend beherrschte. So war er, auch wenn sein persönlicher Beitrag, wie bei allen Intrigen, nur schwer messbar ist, am Sturz Bülows, Falkenhayns und Tirpitz’ nicht unwesentlich beteiligt.600 Bei all seinen Intrigen stand Treutler uneingeschränkt treu zu seinem Kaiser. Umso mehr war er getroffen, als der Kaiser ihm, nach eigener Ansicht völlig grundlos und unerwartet stillos, seine Gunst entzog. Aber nicht immer war Treutler mit seinem Vorgehen erfolgreich. Der Versuch, den erklärten Befürworter des uneingeschränkten U-Boot-Krieges und Tirpitzvertrauten Bachmann zu einer Meinungsänderung zu bewegen, scheiterte. Auf Wunsch Müllers empfing dieser Treutler, kurz nachdem er als Admiralstabschef im GrHQ Quartier genommen hatte. Bachmann hegte von Anfang an den Verdacht, Müller habe das Gespräch nur arrangiert, um ihn auf den politisch richtigen Kurs zu bringen. Bachmann empfand Treutlers Besuch als unangenehm und sah in der Zusammenarbeit zwischen Müller und Treutler eine »Gesellschaft auf gegenseitige Beweihräucherung«. Auch persönlich machte Treutler auf Bachmann einen schlechten Eindruck. »Je länger«, so Bachmann in seinem Tagebuch, »er bei mir war, desto komischer wirkte er mit seinem speckigen Bonvivantgesicht und seiner karikierten grauen Husarenuniform [...] Abgesehen davon, daß ich nun doch auf

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Siehe Treutler, Mappe 21 Koblenz, PA, Treutler 2, S. 12. Ebd., S. 13. Ebd. Siehe dazu Treutler, Die graue Exzellenz, S. 22.

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einmal einen feldgrau berittenen Diplomaten kennen gelernt hatte, tat mir die Zeit, die mir [sic] sein Besuch gekostet hatte, schmerzlich leid.«601 Nicht nur Bachmann empfand Treutlers Verhalten und seine Aktivitäten als unangemessen. Treutler war unter seinen Zeitgenossen höchst umstritten. Für die meisten Offiziere im GrHQ und die reaktionären Kräfte im Kaiserreich war er ein rotes Tuch, eine der Persönlichkeiten, wenn nicht die Persönlichkeit, die den Kaiser mit falschen Informationen versorgte. Mutius hielt ihn zwar für einen ehrenwerten, aber geistig nicht überragenden Mann, der von seiner persönlichen Ergebenheit zum Kaiser profitiere. 602 Der Kronprinz machte aus seiner Abneigung keinen Hehl. Treutler wäre, so der Thronfolger gegenüber Hopman, »der Schlappeste von allen, ein Kerl wie ein Pfund Wurst, und dabei hätte er den größten Einfluß«.603 Wild von Hohenborn sah in Treutler einen »entsetzlichen Flaumacher«.604 Während Bethmann Hollweg große Stücke auf Treutler hielt und dessen Vertreter in München Wilhelm Freiherr von Schoen ihn als den freimütigsten Mann in der engeren Umgebung des Kaisers erachtete605, fiel Riezler Bewertung zurückhaltend aus. »Treutler«, so Riezler, »vertritt die Politik mit Anstand, aber wohl zu schwach an Geiste, ohne Imponierung«, um dann mit der so oft bei Riezler anzutreffenden Arroganz zu folgern: »Wäre für einen wirklich Gebildeten leicht, in dieser doch profund ungebildeten Umgebung.«606 Für Müller wiederum war Treutler ein hochgeachteter und im GrHQ sehr geschätzter Mann, der loyal zum Kaiser stand und die Interessen Bethmann Hollwegs immer korrekt vertrat.607 Letztlich nahm Treutler als ranghöchster Diplomat und Vertrauter Bethmann Hollwegs eine wichtige Rolle im Gefolge des Kaisers ein, aber ob er wirklich »unumstritten die wichtigste Persönlichkeit«608 im kaiserlichen Gefolge war, wie Karl-Heinz Janßen ausführt, darf bezweifelt werden. Denn im Umfeld des Kaisers agierten und agitierten viele wichtige Persönlichkeiten, wobei Treutler sicher einer derjenigen war, der die Intrige unzweifelhaft brillant beherrschte und zugleich das Ohr des Kaisers besaß. Schlechterdings waren sich fast alle darin einig, dass Treutler als »graue Exzellenz«, oft im Hintergrund, die Fäden zog. Je nach der politischen und persönlichen Couleur bewertete man seine Aktivitäten positiv oder lehnte sie kategorisch ab. Am Beispiel Treutlers offenbart sich die wechselseitige negative Wahrnehmung bis hin zur offenen Verachtung zwischen Offizieren und Beamten im GrHQ. Für diese waren die Generalstabsoffiziere arrogante Halbgötter, für jene waren die Beamten verweichlichte arme Gestalten. So nahm Riezler den für ihn offen601 602

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Tagebuch Bachmanns, Eintrag vom 10.2.1915, BArch, MSg 1/764. »Geistig war er allerdings kein Adler, aber der Kaiser hatte Vertrauen in seine persönliche Ergebenheit aus der gemeinsamen Zeit bei den Gardehusaren.« Mutius, Lebenserinnerungen, N 195/2, S. 188. Aufzeichnung Hopmans über einen Besuch beim Kronprinzen in dessen Hauptquartier in Stenay, 4.2.1915, Hopman, Das ereignisreiche Leben eines »Wilhelminers«, S. 563. Siehe Treutler, Die graue Exzellenz, S. 215. Siehe ebd., S. 19. Tagebucheintrag Riezlers vom 11.7.15, Riezler, Tagebücher, S. 283. Nachtrag zum Kriegstagebucheintrag Müllers vom 6.6.1916, Müller, Regierte der Kaiser?, S. 202. Siehe die Einleitung von Karl-Heinz Janßen zu Treutler, Die graue Exzellenz, S. 21.

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sichtlichen Hochmut der Generalstabsoffiziere der Operationsabteilung als komisch wahr,609 während Mewes seiner Frau voller Stolz und mit einer gehörigen Portion Arroganz schrieb: »An die Generalstabsoffiziere der Operationsabteilung traue sich aus Ehrfurcht niemand heran und das Hofgeschmeiß wird miserabel behandelt.«610 Die Befindlichkeiten zwischen Diplomaten und Offizieren begannen schon am Anreisetag nach Coblenz, als die Diplomaten sich nach Bad Ems abgeschoben fühlten und im weiteren Verlauf des Krieges immer wieder feststellen mussten, dass die OHL eisern entweder über die Vorgänge an der Front schwieg oder nur erwünschte Details weitergab und so die politische Reichsleitung bewusst in Unwissenheit hielt.611 Die Offiziere fanden es immer besonders lächerlich, wenn die Beamten des Auswärtigen Amtes und der Reichskanzlei im GrHQ in Uniform auftraten. Die Kritik beider Seiten entzündete sich an Äußerlichkeiten: hier der Offizier mit dem schneidenden Barraston, dort der unsportliche, körperlich vielleicht sogar missgestaltete Politiker. Dies zeigt sich besonders an den Charakterisierungen Jagows und Bethmann Hollwegs. So pflegte Bachmann seine Vorurteile und nahm in seinem Tagebuch kein Blatt vor den Mund. Für ihn war Jagow ein »kleine[s] verhutzelte[s], etwas schiefbucklige[s] Männchen«, das mit seinem ausdrucklosen Gesicht und seiner leierigen Sprache keinen vorteilhaften Eindruck auf ihn machte, um dann vom Äußeren auf den Wert als Politiker zu schließen: »Das also ist der Leiter unserer auswärtigen Politik! Wenn das Äußere bei ihm nicht sehr täuscht, ist – fürchte ich – unsere Auslandspolitik nicht in den besten Händen.«612 Auch Bethmann Hollweg überzeugte den Admiralstabschef nicht: »Der Reichskanzler machte auf mich keinen vorteilhaften Eindruck, weder äußerlich noch in seinem Verhalten. Er ist ein plumper Körper von schlechter Haltung und schwerfälligem Gang. In seiner Uniform sieht er wie ein alter Train-Wachtmeister aus. Der Gesichtsausdruck ist schlaff, die Züge sind schwammig und gedunsen. Dauernd rauchte er Zigaretten, die er in braungefärbten zitternden Händen hält.«613 Während Bachmann ungerührt von körperlichen auf geistige Schwächen schloss, zeichnete Mewes anfangs ein deutlich differenzierteres Bild des Reichskanzlers: »Der Reichskanzler ist persönlich ganz besonders nett. Man hat von ihm den Eindruck eines uranständigen vornehm denkenden Mannes. Körperlich ist er eine Ruine. Ein ganz merkwürdig durchfurchtes nervös zuckendes Gesicht, aber ein eindrucksstarker bedeutender Kopf.«614 Wahrscheinlich unter dem Einfluss von Hindenburg und Ludendorff änderte er seine Meinung, denn im Sommer 1917 nannte er Bethmann Hollweg abwertend »Syndedikon615 von und zu Fischschleim«.616 Überhaupt nahm Mewes im Laufe der Zeit die Diplomaten 609 610 611 612 613 614 615

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Siehe Tagebucheintrag Riezlers vom 11.7.1915, Rietzler, Tagebücher, S. 283. Siehe Mewes’ Brief an seine Frau vom 24.8.1914, BArch, N 850/29, fol. 66. Siehe Tagebucheintrag Riezlers vom 18.8.1914, Riezler, Tagebücher, S. 196. Tagebucheintrag Bachmanns vom 11.2.1915, BArch, MSg 1/764. Tagebucheintrag Bachmanns vom 14.2.1915, BArch, MSg 1/764. Brief Mewes’ an seine Frau vom 31.7.1916, BArch, N 850/43, fol. 46. Markenname eines im Kaiserreich gebräuchlichen, auf Fischleimgrundlage hergestellten Klebstoffs. Brief Mewes’ an seine Frau vom 31.7.1916, BArch, N 850/25, fol. 53.

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immer weniger ernst. Machte er anfangs lediglich die unter den Offizieren weit verbreiteten Witze über die Diplomaten: »Dum-Dum Geschoß – ein Geschoß, das durch die Köpfe von 2 Diplomaten geht,«617 stellte er zwei Jahre später im Zusammenhang mit der Festlegung der Kriegsziele den Diplomaten ein schlechtes Zeugnis aus: »Die Herren Diplomaten haben sich – wie immer willenlos – fast allen Anforderungen der OHL gefügt, die durch den Admiralstabschef wirksam unterstützt wurde. Vorbereitet und überlegt hatten sie scheinbar recht wenig, dazu scheinen die Herren der W.[ilhelm] Straße keine Zeit zu haben.«618 Aber nicht nur vonseiten der Offiziere wurden die Angehörigen der Reichskanzlei und der Wilhelmstraße kritisiert. Auch der unsoldatische und unbürokratische Riezler hielt sich nicht mit Kritik am eigenen Umfeld zurück: Die Diplomaten wären nicht in der Lage, ihrer Routine zu entrinnen. Zudem hielt sich Riezler, den die Engstirnigkeit und die politische Unbildung der Offiziere nach eigener Aussage teilweise zum Verzweifeln brachte619 und der mit dieser Meinung nicht alleine stand, in seinem Tagebuch mit kritischen Äußerungen zu Bethmann Hollweg und Jagow nicht zurück. So jammere Bethmann Hollweg nicht nur zu viel, er treffe auch kaum Entscheidungen.620 Zudem sei er zwar geachtet bei der militärischen Führung, flöße dieser jedoch keine Angst ein und es gelinge ihm nicht, Freundschaften aufzubauen.621 Über Jagow fällte Riezler ein vernichtendes Urteil. Ebenso wie Bachmann verband er negative körperliche Attribute mit charakterlichen und intellektuellen Fähigkeiten. Jagow sei »wie früher, klug, kahl verdorben, etwas mesquin und bösartig wie die körperlich Benachteiligten«.622 Die Diffamierung von Menschen aufgrund körperlicher Behinderungen und von nicht dem geltenden Männlichkeitsideal entsprechenden Merkmalen war also nicht nur bei den Militärs, sondern auch bei vermeintlich liberalen Diplomaten verbreitet.623 Der Machtverlust der politischen Führung des Kaiserreichs spiegelt sich in der Personalpolitik wider. Nach der Ablösung Treutlers übernahm sein Stellvertreter Grünau dessen Aufgaben. Dies führte zu einem gewissen Unverständnis im GrHQ, denn so sehr Wilhelm II. Grünau als Persönlichkeit offenbar schätzte, war er doch kein politisches Schwergewicht wie sein Vorgänger. Als Legationsrat stand er mit seinem Rang nicht auf Augenhöhe mit seinen vergleichbaren militärischen Konterparts im GrHQ, oder um mit Müller zu sprechen: »Bei aller persönlichen Eignung des klugen und taktvollen Herren hat es mich doch gewundert, daß der Kanzler nicht einen höheren Beamten, der der 617 618 619

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Ebd., fol. 6. Ebd., fol. 11 f. Siehe die Einleigung von Karl-Dietrich Erdmann, Kurt Riezler – ein politisches Profil