Das Heilige in der Umbanda: Geschichte, Merkmale und Anziehungskraft einer afro-brasilianischen Religion. Diss. - Kontexte, Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie, Band 39 9783767571266

Innerhalb ihres nunmehr 100-jährigen Bestehens gelang es der synkretistischen Umbanda, sich von einer spiritistischen Se

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Das Heilige in der Umbanda: Geschichte, Merkmale und Anziehungskraft einer afro-brasilianischen Religion. Diss. - Kontexte, Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie, Band 39
 9783767571266

Table of contents :
Cover
Title
Copyright
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1 Einleitung
2 Das Heilige
3 Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden
4 Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion
5 Die Manifestation des Heiligen in der Umbanda und in christlichen Kirchen
6 Die interreligiöse Konkurrenz aufgrund der Anziehungskraft der Umbanda
7 Schlussgedanken
Glossar
Tafelteil
Abbildungsnachweis
Literatur
Register

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Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie Begründet von Johannes Wirsching Herausgegeben von Bernd Oberdorfer

Sibylle Pröschild Das Heilige in der Umbanda Geschichte, Merkmale und Anziehungskraft einer afro-brasilianischen Religion

Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.

Mit 12 schwarz-weißen und 8 farbigen Abbildungen. Die Umschlagabbildung zeigt kleine Statuen eines Preto Velho und einer Preta Velha, die den umbandistischen Geistertyp der „Alten Schwarzen“ darstellen (Eigentum und Foto: Sibylle Pröschild).

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K. Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2009 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehrund Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG.

Satz: Sibylle Pröschild Layout: mm interaktiv, Dortmund Druck: buch bücher dd-ag, Birkach ISBN: 978-3-7675-7126-6

Inhaltsverzeichnis Vorwort ....................................................................................................... 9 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.2

Einleitung..................................................................................... 10 Die Umbanda als Gegenstand der Forschung ............................................13 Die Umbanda in der deutschsprachigen Literatur ....................................13 Die Umbanda in der nicht-deutschsprachigen Literatur..........................19 Ansatz und Vorgehen........................................................................................32

2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3

Das Heilige .................................................................................. 37 Definition von Religion.....................................................................................37 Momente des Heiligen ......................................................................................45 Begegnung mit dem Heiligen..........................................................................47 Aufgabe und Methoden der Religionsphänomenologie ..........................47 Das Erscheinen des Heiligen in der profanen Welt...................................50 Formen der Manifestation und Realisation des Heiligen ........................53

2.3.3.1

Manifestationen des Heiligen..........................................................................55

2.3.3.2 2.4

Realisationen des Heiligen...............................................................................59 Der menschliche Wunsch nach wechselseitigem Kontakt mit dem Heiligen .................................................................................................................62

3 3.1 3.1.1 3.1.2

Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden ............................... 66 Die Versklavung und Missionierung von Indios und AfrikanerInnen 67 Das Schicksal der UreinwohnerInnen...........................................................67 Sklavenimport aus Afrika.................................................................................70

3.1.2.1

Der transatlantische Handel mit afrikanischen Menschen .....................70

3.1.2.2

Lebensbedingung und Missionierung...........................................................72

3.1.2.3 3.2 3.2.1 3.2.2

Die Abschaffung der Sklaverei........................................................................75 Immigration und Synkretismus ......................................................................76 Einwanderung aus Europa, Nordamerika und Asien...............................76 Die Vermischung von Religionen ..................................................................79

3.2.2.1

Candomblé ...........................................................................................................81

3.2.2.2

Xangô.....................................................................................................................83

3.2.2.3

Tambor-de-Mina .................................................................................................84

3.2.2.4

Candomblé de Caboclo und Catimbó ..........................................................84

3.2.2.5

Macumba ..............................................................................................................85

6

Inhaltsverzeichnis

3.2.2.6

Quimbanda ..........................................................................................................86

3.2.2.7

Umbanda ..............................................................................................................87

3.2.2.8 3.3 3.3.1 3.3.2

Batuque .................................................................................................................89 Zulauf und Verlust – Der Wandel der religiösen Landschaft ................90 Vergleich der Anhängerzahlen .......................................................................90 Wachstum der Umbanda?................................................................................96

4 4.1 4.1.1

Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion ............... 101 Entstehung und Ausbreitung der Umbanda .............................................104 Übernommene religiöse Elemente...............................................................104

4.1.1.1

Afrikanische Wurzeln......................................................................................105

4.1.1.2

Portugiesischer Volkskatholizismus ............................................................111

4.1.1.3

Indianische Glaubensvorstellungen.............................................................114

4.1.1.4 4.1.2 4.1.3

Amerikanisch-europäischer Spiritismus .....................................................115 Die Entstehung der neuen Religion.............................................................119 Rassen- und Schichtzugehörigkeit der UmbandistInnen.......................124

4.1.3.1

Schwarze und weiße AnhängerInnen..........................................................124

4.1.3.2 4.1.4

Nicht nur aus der untersten Unterschicht..................................................126 Regionale Ausbreitung....................................................................................128

4.1.4.1

Ein städtisches Phänomen..............................................................................129

4.1.4.2 4.1.5 4.2 4.2.1

Außerhalb Brasiliens .......................................................................................132 Das Problem der Vielfalt ................................................................................133 Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda ...................136 Der umbandistische Kosmos .........................................................................138

4.2.1.1

Olorum, Tupã, Zambi – der höchste Gott.................................................141

4.2.1.2

Die Orixás...........................................................................................................144

4.2.1.3

Die typologisierten Geister.............................................................................160

4.2.1.4

Die leidenden Verstorbenen..........................................................................177

4.2.1.5 4.2.2

Die kosmologische Ordnung .........................................................................178 Die Arbeit der Geister und das Handeln der Menschen .......................182

4.2.2.1

Die Arbeitsfelder der Geister ........................................................................182

4.2.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2

Handelsbeziehungen zwischen Mensch und Geist..................................187 Gründe für die Anziehungskraft der Umbanda .......................................189 Afro-brasilianische Religionen – Widerstand und Erinnerung............190 Sicherheit und Aufstieg in der Gesellschaft ..............................................193

Inhaltsverzeichnis

7

4.3.2.1

Soziale Heimat in der Industriestadt...........................................................193

4.3.2.2 4.3.3

Die Chance des Aufstiegs ...............................................................................196 Der Umgang mit dem täglichen Leben ......................................................199

4.3.3.1

Hilfe bei Problemen des Alltags ...................................................................199

4.3.3.2 4.3.4

Flucht aus dem Alltag......................................................................................203 Die aktive Beeinflussung des Heiligen........................................................206

5 5.1 5.1.1

Die Manifestation des Heiligen in der Umbanda und in christlichen Kirchen................................................................... 209 Die Umbanda als Mittlerin des Heiligen....................................................210 Der heilige Gegenstand...................................................................................210

5.1.1.1

Objekte in und aus der Natur .......................................................................210

5.1.1.2 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5

Vom Menschen gefertigte Objekte ..............................................................215 Der heilige Ort...................................................................................................218 Die heilige Zeit ..................................................................................................226 Die heilige Zahl .................................................................................................231 Der heilige Mensch ..........................................................................................233

5.1.5.1

Jeder Mensch ist heilig ....................................................................................233

5.1.5.2

Spirituelle Hierarchie: Vom Medium bis zum/r KultleiterIn ...............237

5.1.5.3 5.1.6 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1 5.3.2

Weitere heilige Menschen? ............................................................................254 Die heilige Gemeinschaft................................................................................257 Heilige Menschen in der traditionellen christlichen Kirche .................260 Die Gemeinschaft der Heiligen in der evangelisch-lutherischen Kirche ...................................................................260 Die Heiligsprechung in der römisch-katholischen Kirche .....................263 Der Mensch als Verbündeter Gottes in der neopentekostalen IURD...267 Der Bund zwischen Gott und seinem/r Verbündeten ............................269 Anfechtung durch die Dämonen ..................................................................274

5.3.2.1

Die Ausbreitung des Reiches des Teufels ..................................................274

5.3.2.2

Die Dämonisierung anderer Religionen.....................................................276

6

Die interreligiöse Konkurrenz aufgrund der Anziehungskraft der Umbanda ............................................ 281 Das Verhältnis zwischen der Umbanda und christlichen Kirchen......281 Dialog, Selbstkritik und Lernen – Der Wunsch der evangelisch-lutherischen Kirche ...................................283

6.1 6.1.1

8

Inhaltsverzeichnis

6.1.2

6.2.1 6.2.2

Verurteilung, Umdenken und Resignation – Die schwankende Haltung der römisch-katholischen Kirche ...............288 Strikte Ablehnung – Der Kampf der IURD ..............................................295 Die Begegnung mit dem Heiligen als Grund für die Anziehungskraft der Umbanda.....................................................................298 Wechselseitiger Kontakt mit dem Heiligen? .............................................298 Die Anziehungskraft der Umbanda.............................................................305

7

Schlussgedanken ........................................................................ 309

Glossar

................................................................................................... 313

6.1.3 6.2

Tafelteil ................................................................................................... 315 Abbildungsnachweis.................................................................................. 323 Literatur ................................................................................................... 324 Register ................................................................................................... 335

Vorwort Der Anstoß zu der vorliegenden Untersuchung ergab sich aus der Verbindung zweier Interessensgebiete: Religionswissenschaft und Portugiesisch. Beide verschmelzen gleichsam in Brasilien zu einem Beschäftigungsfeld, das mich sowohl durch eine florierende religiöse Vielfalt als auch durch die portugiesische Sprache lockte. In den Mittelpunkt der Betrachtung rückte die Neureligion Umbanda, die mit ihrer raschen Ausbreitung die religiöse Landschaft Brasiliens veränderte. Um ein unvermitteltes und authentisches Bild zu erhalten, war ein Forschungsaufenthalt in diesem Land notwendig. Dieser wurde im Frühjahr 2007 realisiert und brachte mir wertvolle Einblicke in Kult und Lehre der Umbanda sowie anderer afro-brasilianischer Religionen. Zugleich erhielt ich Zugang zu vielen in Deutschland nicht verfügbaren Publikationen, auf die ich zur wissenschaftlichen Fundierung dieser Arbeit zurückgreifen konnte. Sie wurde im Juni 2008 von der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg als Dissertation angenommen. In diesem Zusammenhang gilt mein besonderer Dank Prof. Dr. Bernd Oberdorfer für die intensive Betreuung, für die Möglichkeit zu selbstständiger wissenschaftlicher Arbeit als seine Mitarbeiterin sowie für den zeitlichen Freiraum, den er mir für den Aufenthalt in Südbrasilien gewährte. Des Weiteren danke ich Prof. Dr. Godwin Lämmermann für seine Unterstützung. Beiden ist zudem für die Übernahme der Gutachten zu danken. Meinen Dank möchte ich auch dem Deutschen Akademischen Austauschdienst für das Kurzstipendium für DoktorandInnen aussprechen, das mir den Forschungsaufenthalt in finanzieller Hinsicht ermöglichte, sowie dem Ökumenischen Forschungsfonds der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland, der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands, die namhafte Druckkostenzuschüsse in Aussicht gestellt haben. Besonderen Dank schulde ich darüber hinaus den DozentInnen, StudentInnen und MitarbeiterInnen der Escola Superior de Teologia in São Leopoldo/Brasilien. Die geführten Diskussionen, erhaltenen Anregungen und vermittelten Kontakte trugen in nicht geringem Maße zum Gelingen dieser Arbeit bei. Gleiches gilt für Brígida Bantel Wihan in Porto Alegre, der ich für ihr Engagement und die Begleitung danken möchte. Mein Dank gilt nicht zuletzt meiner Familie für Zuspruch und Beistand, insbesondere Claudia Wagner und Lutz Franz für Korrekturen und Anmerkungen. Schöningen, im November 2008 Sibylle Pröschild

1

Einleitung

Am 15. November 2008 beging die Umbanda ihren 100. Geburtstag. Gemäß der Gründungslegende manifestierten sich während einer spiritistischen Sitzung im Großraum Rio de Janeiro indianische und afrikanische Geister in einigen der Medien. Da diese die Kultstätte verlassen mussten, errichteten sie am folgenden Tag ihre eigene. Der 15. November 1908 gilt demnach als der Tag, an dem sich verschiedene seit längerem in Brasilien vorfindliche religiöse Vorstellungen mischten und eine neue Religion aus ihnen hervorging. Diese reiht sich damit in die Vielzahl der synkretistischen Religionen ein, ohne sich jedoch der Integrierung noch weiterer Elemente zu verschließen. Insofern basiert die Umbanda zwar auf der eingewanderten spiritistischen, der indigenen indianischen und der bereits christlich überformten afrikanischen Grundlage, doch zeigt sie sich zugleich für asiatische, esoterische oder regionale Einflüsse offen. Obwohl die religiöse Landschaft Brasiliens aufgrund der verschiedenen kulturellen Herkunft ihrer EinwohnerInnen1 schon eine große Vielfalt aufwies, verzeichnete die Umbanda rasch starken Zulauf. Schon bald breitete sie sich innerhalb Brasiliens aus, überschritt die Landesgrenzen und fasste Fuß in Nordamerika und Europa. Als grundlegendes Moment der umbandistischen Lehre ist die Heilung von 2 Menschen zu erachten, die arbeitende Geister durchführen. Jedes Problem jeglicher Art, sei es die Gesundheit, das Geld, die Liebe oder die Arbeit betreffend, kann einem Geist vorgetragen werden, der sodann eine Behandlung an der betreffenden Person vollzieht oder ihr einen Ratschlag erteilt. Die Menge der kurierenden Geister ist ebenso vielgestaltig wie die integrierten religiösen Elemente und in mehrere Kategorien und hierarchische Stufen unterteilbar. Den höchsten Rang in der Hierarchie nehmen die mit den afrikanischen SklavInnen nach Südamerika importierten Gottheiten (’orixás‘) ein, die die Umbanda aber im Gegensatz zu ihren Schwesterreligionen wie der kubanischen Santería und dem ebenfalls brasi1

2

Geschuldet der Political Correctness und der beobachtbaren Wirklichkeit verwende ich geschlechtsneutrale Begriffe, die Männer und Frauen gleichermaßen einschließen. Hierfür halte ich das vielfach übliche Splitting (wie ’Brasilianer‘ und ’Brasilianerinnen‘) aufgrund seiner Redundanz für unökonomisch. Dahingegen ziehe ich trotz ihrer Unaussprechbarkeit die Variante des ’-In‘ vor, die zwar optisch stören mag, aber den Lesefluss nicht übermäßig hemmt. Obgleich Worte mit diesem Suffix der Movierung mit ’-in‘ ähneln, geben sie weder die weibliche korrekt noch die männliche Form überhaupt wieder. Nicht zuletzt aufgrund seiner Künstlichkeit erachte ich das Binnen-I als bisher beste Lösung für eine größtmögliche Symmetrie zwischen den Geschlechtern (zumindest in der Schriftsprache). Hinsichtlich der Pronomina sehe ich allerdings keine sinnvolle Alternative zur Differenzierung. Ihre Verwendung im Zusammenhang mit der Binnen-I-Form birgt v.a. bei der Genitivkonstruktion einige Probleme, doch nehme ich die grammatischen Mängel zu Gunsten der Lesbarkeit in Kauf. Wenn in dieser Arbeit häufig von ’dem Menschen‘ gesprochen wird, so geschieht das nicht in dem Sinn, dass pauschal die ganze Menschheit und jeder einzelne Mensch gemeint sind. Vielmehr wird der Ausdruck als Gattungsbegriff verwendet. Da eine fortwährende Spezifizierung der angesprochenen Personengruppen die Satzkonstruktionen unnötig verkomplizieren würde, sei die entsprechende Einschränkung an jeder Textstelle impliziert.

Einleitung

11

lianischen Candomblé zu personalisierten Naturkräften herabsetzt. Unterhalb dieser Stufe sind unterschiedliche Typen von Geistern (’espíritos‘) verschiedener Herkunft angesiedelt: die Indios, die alten schwarzen SkavInnen, die Kinder der weißen Herrschaften, die ZigeunerInnen, die BahianerInnen, die Ochsentreiber etc. Da sich die hierarchische Ordnung am Evolutionsgrad der Wesen orientiert, stehen die wenig entwickelten Geister der Gauner und Prostituierten wiederum eine Stufe tiefer. Auch die Geister von Verstorbenen, gleichsam als Entlehnung aus dem Spiritismus, sind Teil der umbandistischen Geisterwelt. Diese wird dominiert von einem höchsten Gott, der sich aber zurückgezogen hat und den Umgang mit den Menschen den ihm unterstellten Wesen überlässt. Jener Umgang erfolgt in der Konsultation während der öffentlichen Sitzung (’sessão‘) oder im Einzelgespräch, wenn sich der Geist manifestiert. Obwohl der/die KlientIn als vorrangige/r NutznießerIn der Heilungstätigkeit des arbeitenden Geistes erscheint, profitiert auch dieser davon. Sein Gewinn liegt darin, dass er durch die Hilfestellung für andere seine eigene Entwicklung vorantreibt. Insofern gereicht die Do-ut-des-Beziehung beiden Parteien zum Vorteil. Christliche Anklänge, die dem portugiesischen Volkskatholizismus entstammen, spielen in der Umbanda eine untergeordnete Rolle. Sie dienten während der Kolonialzeit Brasiliens und der religiösen Vorherrschaft der katholischen Kirche den AfrikanerInnen als Deckmantel, der ihnen (unbeabsichtigt) einen Freiraum für ihre Kulte schuf. Eine tiefgreifende Eingliederung des Christlichen erfolgte bei den afro-amerikanischen Kulten aber nicht und umso weniger bei der Umbanda, da sie als Religion einer jüngeren Generation auf dem christlich modifizierten Afrikanischen aufbaut und beides eigenständig weiterentwickelt. Das Prinzip des Synkretismus birgt mit seiner Flexibilität einen hohen Grad an Identifizierungsmöglichkeit, so dass eigentlich alle BrasilianerInnen, die von einer anderen Religion kommend sich mit der Umbanda beschäftigen, neben dem Neuartigen auch Vertrautes in ihr vorfinden. Mindestens ebenso hoch ist die Variabilität der unterschiedlichen Gewichtung aller Einflüsse. Mehr spiritistisch orientierten stehen mehr afrikanisch geprägte Kultstätten (’terreiros‘) gegenüber, die dennoch beide als umbandistisch einzuordnen sind. Eine höherstehende Autorität fehlt, die in einem Regelwerk die Glaubenslehre festhalten und verbindliche Weisungen erteilen könnte. Da zudem der Anschluss an eine umbandistische Vereinigung freiwillig ist, und auch hier keine übergeordneten, verbindlichen Strukturen existieren, agiert jede/r LeiterIn einer Kultstätte völlig unabhängig und richtet sie religiös und organisatorisch eigenständig aus. Von einer einheitlichen umbandistischen Lehre, Praxis und Gemeinschaft kann daher nicht gesprochen werden. Solches verwiese auf ein nicht existierendes Idealbild. Dennoch stimmen die autonomen Kultstätten in den Grundlagen, die als Eckdaten fungieren, in einem solchen

12

Einleitung 3

Grade überein, dass es trotz aller Diversität Gemeinsamkeiten gibt. Auf ihnen basieren die Darstellungen dieser Arbeit, die sich der Problematik der Uneinheitlichkeit bewusst ist und daher einen allgemeinen Überblick anstelle detaillierter Einzelbeschreibungen liefert. Das erfolgt zwar auf Kosten der individuellen Skizzierung der einzelnen Kultstätten, ermöglicht aber immerhin generelle Aussagen. Ohne solche Abstriche wäre jede Skizzierung der Umbanda immer nur die Zusammenstellung von Einzelfällen. Trotz innerlich geringer Einheitlichkeit wurde (und wird) die Umbanda von außen als eine sich schnell ausbreitende Strömung und ernste Konkurrenz für andere Religionen wahrgenommen. Als solches schätzten sie v.a. die christlichen Kirchen ein, die in Brasilien auch nach der Einführung der Religionsfreiheit die große Mehrheit der Gläubigen auf sich vereinigen. Von Konfessionen, die den Anspruch auf Absolutheit und Exklusivität erheben, wie die römisch-katholische, wurde die Umbanda folglich als Häresie verurteilt. Bei anderen christlichen Kirchen hingegen, wie der evangelisch-lutherischen, wandelte sich die anfängliche Skepsis allmählich zu interessierter Beschäftigung. Wenn man den Strom der Abwanderung stoppen und auch die gelegentliche Teilnahme von christlichen Gläubigen an umbandistischen Sitzungen unterbinden wollte, konnte man vielleicht von ihnen etwas lernen, um selbst attraktiver zu werden. Wiederum andere christliche Gemeinschaften, wie die neopentekostale Igreja Universal do Reino de Deus (IURD), lehnen jede Art von interreligiösem Dialog ab und bewerten die Umbanda als feindlichen Kult, vor dem die eigenen AnhängerInnen geschützt werden müssen. Das in den ersten Jahrzehnten stetige Wachstum der Umbanda erreicht in Brasilien seinen bisherigen Höhepunkt in der Mitte der 1970er Jahre. Ca. 15 Jahre vorher war die Kenntnis von ihr in die deutschsprachige wissenschaftliche Literatur vorgedrungen. Neben Veröffentlichungen, die allgemein die afro-brasilianischen Religionen thematisieren und die Umbanda neben ihren Schwesterkulten darstellen, erscheinen auch solche, die sich ausschließlich ihr zuwenden. Psychologische und religionswissenschaftliche Untersuchungen werden hier parallel durchgeführt und publiziert. Mit der folgenden Stagnation der Anhängerzahlen lässt auch die Aufmerksamkeit seitens deutscher WissenschaftlerInnen nach. Als Teil Brasiliens und seiner Religionen bleibt die Umbanda zwar immer in Überblickswerken berücksichtigt, auf sie fokussierte Schriften jedoch sind rar geworden. Die durch diesen Einbruch entstandene Lücke von nunmehr ca. 30 Jahren ist mittels brasilianischer (und weniger englisch- und spanischsprachiger) Publikationen auffüllbar, die jedoch nur in geringem Umfang in Deutschland zu erhalten sind und von denen noch weniger ins Deutsche (oder Englische) übersetzt wurden. 3

Inwieweit ein Bewusstsein von Gemeinschaft zwischen den Kultstätten besteht, die sich als umbandistisch bezeichnen, hängt von der Einschätzung jedes/r einzelnen LeiterIn ab. Je nach – individuell – angesetzten Kriterien, können die anderen als UmbandistInnen akzeptiert oder abgelehnt werden.

Die Umbanda als Gegenstand der Forschung

13

In gleicher Weise verhält es sich mit umbandistischer Literatur. Angesichts des 100-jährigen Jubiläums der Umbanda soll die vorliegende Arbeit dazu beitragen, mit aktuellen Daten die Rolle der Umbanda in der religiösen Landschaft Brasiliens zurechtzurücken. Dazu stützt sie sich auf brasilianische Literatur, die somit Eingang in den neuesten deutschsprachigen Stand der Forschung findet. Zudem geht sie der vielfach gestellten Frage nach dem Grund für die Anziehungskraft der Umbanda nach, um sie ausgehend von religionsphänomenologischen Betrachtungen zu beantworten.

1.1 Die Umbanda als Gegenstand der Forschung 1.1.1 Die Umbanda in der deutschsprachigen Literatur Ab dem Ende der 50er Jahre erreicht das Interesse für die brasilianischen Religionen mit afrikanischen Wurzeln die deutsche Forschung. Zu den frühen deutsch 4 verfassten Darstellungen zählen die Aufsätze von Erich Fülling (1957), Richard 5 6 Brackmann (1959) und Venâncio Willeke (1960), die in missionswissenschaftlichen Zeitschriften und einem am deutsch-brasilianischen Austausch ausgerichteten Jahrbuch erscheinen. Die beiden letztgenannten Schriften fokussieren den Blick (immerhin schon) auf die Neureligion Umbanda. 1965 veröffentlicht Ulrich Fischer seinen ersten zur Umbanda verfassten Aufsatz, dem im Abstand mehrerer Jahre weitere in deutschen wie brasilianischen 7 Publikationen nachfolgen . In „Erfüllte Sehnsucht“ legt er den Ursprung der Umbanda, ihre Wurzeln, ihre Stellung im religiösen Umfeld sowie Gründe für ihre Stärke dar und hält abschließend fest, dass sie „in immer zunehmenderem Maße 8 zu einer Frage an die christliche Kirche“ wird. In der 1970 erscheinenden Monografie eröffnet Fischer einen Zugang zur Umbanda von der praktischtheologischen Seite, indem er die liturgischen Riten beschreibt. Mit der Differenzierung nach originalen und assimilierten Kulthandlungen will er einer Tendenz 4 5 6 7

8

Vgl. Fülling, E.: Synkretistische Kulte afrikanischen Ursprungs in brasilianischen Großstädten, in: EMZ 14, 1957, S. 137–140. Vgl. Brackmann, R.W.: Der Umbanda-Kult in Brasilien, in: Staden-Jahrbuch 7/8, 1959/60, S. 157–173. Vgl. Willeke, V.: Umbanda und Christentum in Brasilien, in: ZMR 44, 1960, S. 107–114. Vgl. Fischer, U.: Erfüllte Sehnsucht. Umbanda, die jüngste und älteste Religion der Welt, in: EMZ 22, 1965, S. 116–130; ders.: Vergöttlichter Sexus. Eine Untersuchung zur Sexualtheologie der Umbandareligion, in: Estudos Teológicos 6/2–3, 1966, S. 115–130; ders.: Umbanda. Auf dem Weg zur Volksreligion. Beobachtungen und Tendenzen der neuesten Entwicklung in der Umbanda-Religion, in: EMZ 30, 1973, S. 193–201; ders.: Umbanda – Religion ohne Wenn und Aber – Das Amtsverständnis in der synkretistischen Neureligion Brasiliens, in: Lateinamerika-Studien 9, München 1982, S. 311–336. Fischer, U.: Erfüllte Sehnsucht, S. 130.

14

Einleitung

Rechnung tragen, wonach „in neuerer Zeit Versuche auftauchen, Amtshandlun9 gen der römischen Kirche zu übernehmen“ und damit die eigenen, originären zu ergänzen. Hierbei bleibt jedoch unberücksichtigt, dass diese Entwicklung sich keineswegs flächendeckend auf alle Kultstätten erstreckt und dass sie angesichts der Existenz anderer Assimilierungstendenzen, die sich mehr an candomblistischer oder spiritistischer Kultpraxis orientieren, nur einen Teil der neueren Entwicklungen wiedergibt. Die Feststellungen Fischers, der sich überwiegend auf (in sich ohnehin uneinheitliche) umbandistische Literatur stützt, durch Beobachtungen der Feldforschung zu überprüfen, wäre ein lohnenswertes Unterfangen – nicht zuletzt zur Klärung der Praxis des Abdatismus, der in insgesamt sechs Sätzen beschrieben wird, von denen jedoch nur ein einziger sich auf die Umbanda bezieht, wobei der letzte Satz über die Existenz von Esoterischem jubelt.10 11 Ein Jahr zuvor veröffentlichte Lindolfo Weingärtner 1969 mit seiner Dissertation die erste allein die Umbanda thematisierende Schrift, die sie vom Aspekt der Herausforderung für die christliche Kirche her betrachtet. In einem phänomenologischen Teil liefert Weingärtner einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung, die synkretistisch vermischten Elemente, die Kultpraxis sowie über Lieder, Gebete und Bilder. Der zweite Teil skizziert sodann die als Frontstellung bezeichnete Haltung der römisch-katholischen und der evangelisch-lutherischen Kirche gegenüber der Umbanda, fragt nach der „Anfälligkeit [...] für den Umbandismus“12 und erarbeitet theologische Leitlinien für die christliche Verkündigung. Beachtenswert ist die Untersuchung zum einen aufgrund der, wie Ingo Wulfhorst lobt, „Pionierarbeit im religionskundlichen und praktisch-missionstheologischen 13 Bereich“ und zum anderen aufgrund der empirischen Unterlegung mit Fragebögen zu Gemeindestruktur und interreligiösem Verhältnis, die hundert PfarrerInnen der IECLB beantworteten. Entgegen seiner Ankündigung, die religionswis14 senschaftlich grundlegende „‚verstehende‘ Haltung“ einzunehmen, lässt sich 15 Weingärtner eher von einer missionarischen „Position der ‚Konfrontation‘“ , wie Rainer Flasche bemängelt, leiten. 16 Unter psychologischer Perspektive analysiert Horst H. Figge die Umbanda und veröffentlicht 1973 seine Ergebnisse, die sich auf Beobachtungen in Kultstätten auf 9 10 11 12 13 14 15 16

Fischer, U.: Zur Liturgie des Umbandakultes. Eine Untersuchung zu den Kultriten oder Amtshandlungen der synkretistischen Neureligion Umbanda in Brasilien, Leiden 1970, S. 59. Vgl. ebd., S. 82. Vgl. Weingärtner, L.: Umbanda. Synkretistische Kulte in Brasilien – eine Herausforderung für die christliche Kirche, Erlangen 1969. Ebd., S. 140. Wulfhorst, I. Der „Spiritualistisch-christliche Orden“. Ursprung und Erscheinungsformen einer neureligiösen Bewegung in Brasilien, Erlangen 1985, S. 16. Weingärtner, L.: Umbanda, S. 7. Flasche, R.: Geschichte und Typologie afrikanischer Religiosität in Brasilien, Marburg a.d. Lahn 1973, S. 115. Vgl. Figge, H.H.: Geisterkult, Besessenheit und Magie in der Umbanda-Religion Brasiliens, Freiburg u.a. 1973.

Die Umbanda als Gegenstand der Forschung

15

der Governadorinsel in der Bucht von Rio de Janeiro stützen. Sein Ausgangspunkt ist die Frage nach „der Echtheit [...] behaupteter, naturwissenschaftlich noch nicht 17 genügend geklärter Phänomene psychologischer Grenzbereiche“ . Daher beschreibt Figge eher knapp, aber nicht minder treffend die Sitzungen und kultischen Einzelelemente, richtet das eigentliche Interesse jedoch auf die im Buchtitel genannte Besessenheit sowie die damit einhergehende Verkörperung der Geistrollen. Dass diese nicht – wie im Theater üblich – gespielt wird, sondern dass sich eine als wahr geglaubte Identifizierung ereignet, was Figge entschieden und zu Recht betont, scheint in europäisch-aufgeklärter Sicht vermutlich das am meisten befremdende Moment der Umbanda. In der Folgezeit nimmt die Zahl der Arbeiten, die sich ausschließlich an der Umbanda als Forschungsgegenstand orientieren, ab. Die bisher mit ihren Hauptwerken angeführten Theologen bzw. der Psychologe veröffentlichen bis 1982 noch wenige weitere Aufsätze18, ergänzt von einem soziologischen Beitrag von Angela 19 Dulle , die den sozio-kulturellen Hintergrund der Umbanda in São Paulo untersucht. Die Bedeutung der Umbanda schien damit für die deutschsprachigen AutorInnen zurückgegangen zu sein. Aus jüngster Zeit jedoch datieren zwei Magister20 arbeiten zur Umbanda. 1996 fragt Peter Zöttl nach Zufall, Magie und Schicksal, 21 während 2004 Inga Scharf da Silva den Synkretismus im städtischen Alltag untersucht. Hierbei legt sie ihre in São Paulo durchgeführten Feldforschungen zu Grunde und skizziert anhand eines Fallbeispiels „eine schwarzafrikanische Aus22 führung der Umbanda“ . Der so genannte ’Umbandomblé‘, der umbandistische und candomblistische Elemente mischt, stellt gleichsam eine neue Qualität in Fortführung des religiösen Synkretismus Brasiliens dar. Parallel zur Forschung, die sich speziell der Umbanda widmet, verläuft diejenige zu (afro-)brasilianischen Religionen insgesamt, die zeitgleich einsetzt und wieder abebbt. Innerhalb der vergleichenden religionswissenschaftlichen Betrachtungen wird notwendigerweise auch die Umbanda thematisiert, da sie im Kanon der Religionen Brasiliens nicht mehr zu übersehen ist. Zu den frühesten Schriften sind wiederum die Ende der 50er / Anfang der 60er Jahre erscheinenden Aufsätze von Fülling23 und Brackmann24 zu zählen. 1969 veröffentlicht Man-

17 18 19 20 21 22 23 24

Ebd., S. 9. Vgl. neben Fischer auch Figge, H.H.: Beiträge zur Kulturgeschichte Brasiliens unter besonderer Berücksichtigung der Umbanda-Religion und der westafrikanischen Ewe-Sprache, Berlin 1980. Vgl. Dulle, A.: Umbanda do Brasil. Sozio-kultureller Hintergrund einer Religion, in: Aktuelle Perspektiven Brasiliens, München 1979, S. 301–314. Vgl. Zöttl, P.: Zufall, Magie und Schicksal in der Umbanda-Religion Brasiliens, Hamburg 1996. Vgl. Silva, I.S.d.: Umbanda. Eine Religion zwischen Candomblé und Kardecismus. Über Synkretismus im städtischen Alltag Brasiliens, Münster 2004. Ebd., S. 202. Neben dem bereits erwähnten Aufsatz vgl. Fülling, E.: Neureligionen und Sekten im heutigen Brasilien, in: Die evangelische Diaspora 35, 1964, S. 55–67. Vgl. Brackmann, R.W.: Quimbanda-Kulte, in: Staden-Jahrbuch 9/10, 1961/62, S. 89–101.

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Einleitung 25

fred Wöhlcke eine Analyse der afro-brasilianischen Kulte, die er als religiöse marginale Gruppen innerhalb der Gesellschaft wertet und nach ihrer Funktion bei der Konfliktlösung sowie der sozialen Integration befragt. Aufgrund der soziologischen Ausrichtung und der Nebeneinanderstellung dreier Religionen, die vorsich26 tig als Typen mit einer „mehr oder weniger starken Ausprägung der Merkmale“ bezeichnet werden, erfolgt die Darlegung des jeweiligen kulturellen Systems in Wöhlckes Dissertation recht knapp. Beispielsweise umfasst die Skizzierung des umbandistischen Glaubens nur zweieinhalb Seiten. Der Wert der Arbeit liegt indessen vorrangig in den Aussagen über das soziale System und dessen interreligiöser Einordnung. Denn hier zeigt sich, auf welche Menschen mit welchem Status, welcher Rasse und welchem Geschlecht welche Religion anziehend wirkt. 27 Eine weitere religionssoziologische Schrift legt 1970 Martin Gerbert vor, der die nicht-katholischen Religionen in den Blick nimmt und sie im Kontext des sozialen Wandels Brasiliens beobachtet. Trotz der Vorgabe, den Katholizismus auszuklammern bzw. ihn lediglich auf seine Rolle in der Kolonialgesellschaft zu beschränken, bleibt die Analyse ein ambitioniertes Unterfangen, das die Bandbreite der verschiedenen Religionen abzudecken sucht. In wenigen Strichen werden Entstehung, Grundzüge, Entwicklung und Funktion von indianischen Messianismen, von afrikanischen Religionen, der Macumba, dem brasilianischen Spiritismus sowie dem Protestantismus nachgezeichnet. Im Versuch einen größtmöglichen Überblick zu erreichen, liegt jedoch zugleich (und strukturbedingt) seine Schwäche, da vieles nur angerissen, weniges aber detailliert ausgeführt werden kann. Dies gilt auch für die Umbanda. Recht fragwürdig ist zudem Gerberts Ansatz, der ein „Desintegrationsgefälle der afrikanischen Kulte“28 konstatiert, welches „in der modernen Verfallsform 29 der ‚Macumba‘ einen Tiefpunkt“ erreiche. Die neue Religion Umbanda sei dagegen dank der Verbindung mit dem Spiritismus „eine Aufwertung der afrikanischen 30 Religionen“ . Die Entwicklung von Religionen mit dem sozialen Wandel zu begründen, ohne z.B. nach individuellen Gründen der AnhängerInnen einer Denomination zu fragen bzw. diese (im Fall der Macumba) auf den „Drang, eine verzweifelte Ein31 samkeit und soziale Ortlosigkeit zu überwinden“ , reduzieren zu wollen, erscheint als eine unspezifizierte Engführung. 32 Die dritte Monografie in diesem Kontext veröffentlicht 1973 Rainer Flasche mit seiner Dissertation, in der er die Geschichte der afrikanischen Religiosität in 25 26 27 28 29 30 31 32

Vgl. Wöhlcke, M.: Analyse der afro-brasilianischen Kulte unter dem Aspekt interethnischer Marginalität, Erlangen 1969. Ebd., S. 55. Vgl. Gerbert, M.: Religionen in Brasilien. Eine Analyse der nicht-katholischen Religionsformen und ihrer Entwicklung im sozialen Wandel der brasilianischen Gesellschaft, Berlin 1970. Ebd., S. 40. Ebd. Ebd., S. 51. Ebd., S. 43. Vgl. Flasche, R.: Geschichte und Typologie.

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Brasilien darstellt und sich an einer religionswissenschaftlichen Typisierung versucht. Hierzu nimmt er eine Dreiteilung (Candomblé, Makumba und Umbanda) vor sowie eine umfassend angelegte Wiedergabe der theoretischen, praktischen und sozialen Ausdrucksformen. Beide Hauptteile der Arbeit sind jedoch von unterschiedlicher Qualität. Den ersten kann man mit Wulfhorsts Worten als „eine empfehlenswerte Zusammenfassung der religionshistorischen Voraussetzungen 33 und Entwicklungen“ beurteilen, wohingegen der zweite Teil wegen der Zuordnung und Benennung der Typen sowie deren Belege fragwürdig erscheint. Die Grenzziehung zwischen Candomblé als Priester-Typ, der Makumba als Heiler-Typ und der Umbanda als Kirchentypus mutet schlicht als zu einseitig an und stützt 34 sich zudem auf vereinfachende Annahmen. Denn keines der drei Attribute ist auch nur für eine der drei Religionen im Gegensatz zu den anderen beiden derart charakteristisch, dass daraus jeweils ein Typus abzuleiten wäre. So gehört z.B. das Prinzip der Heilung ebenso wesentlich zur Umbanda wie zur Makumba. Jene jedoch als Kirchentyp zu klassifizieren, der sich von traditioneller afrikanischer 35 Religiosität löst und dessen „Referenzsystem die katholische Kirche bildet“ , ist die Folge einer verzerrten Voraussetzung. Demnach sei der/die KultleiterIn nicht unumschränkte/r HerrscherIn der Kultstätte, sondern einer übergeordneten Organisation und deren Weisungen verpflichtet, woraus sich ein institutioneller Charakter ergebe. Außerdem lege die Umbanda „Wert auf die Alleinmitgliedschaft 36 ihrer Gläubigen“ . Wäre dem so, ließe sich eine Ähnlichkeit mit der katholischen Kirche feststellen. Die Wirklichkeit sieht allerdings anders aus, da jede Kultstätte eigenständig und unabhängig existiert. Der Zutritt zu einer Vereinigung erfolgt nur aus organisatorischen Absichten, und auch eine exklusive Anhängerschaft wird nicht gefordert. Daher ist Flasche und seinen Schlussfolgerungen zu widersprechen, die gemäß Figge „den Wunschphantasien einiger Umbanda37 Theoretiker“ , wie den Mitgliedern solcher Vereinigungen, entsprechen. Wie die Forschung speziell zur Umbanda zurückgeht, so nimmt auch das allgemeine Interesse an den afro-brasilianischen Religionen ab. Nur noch einzelne Werke erinnern im Abstand mehrerer Jahre an die vorübergehend starke Beschäf38 tigung, wie 1984 die Dissertation von Hans . Sie thematisiert die Ausbreitung der

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Wulfhorst, I.: Der „Spiritualistisch-christliche Orden“, S. 20. An der Differenzierung hält Flasche trotz verschiedener Kritik auch knapp 30 Jahre später, wenn auch in abgeschwächter Form, weiterhin fest, wie sein 2002 veröffentlichter TRE-Artikel „Umbanda“ zeigt. Hierin führt er die Typisierung von Candomblé und Macumba als Priester- und Heilertyp an, unterlässt aber jeden Hinweis auf die Umbanda als Kirchentyp; vgl. Flasche, R.: Art. „Umbanda“, in: TRE 34, 2002, S. 263–265, speziell S. 263. Vgl. auch Mattes, C.G.: Afrikanische Religiosität und die Neureligionen in Brasilien, Porto Alegre 2004. Flasche, R.: Geschichte und Typologie, S. 211. Ebd., S. 210. Figge, H.H.: Beiträge zur Kulturgeschichte, S. 15. Vgl. Horsch, H.: Die Ausbreitung afrobrasilianischer Kulte als Herausforderung für die Evangelisation Brasiliens, Erlangen 1984

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afro-brasilianischen Kulte in einem eindrucksvollen Wurf, der bei der Begegnung mit der Mentalität und Religiosität einsetzt und über die Darlegung der geschichtlichen und gesellschaftlichen sowie der religiösen und kulturellen Voraussetzungen führt. Anstelle einer Auswahl von wenigen, vielleicht nur drei Religionen (wie bei Wöhlcke und Flasche) strebt Horsch einen möglichst umfassenden Überblick an und spürt u.a. einer Sonderform, Spuren und dem Capoeira-Tanz nach. Da die afro-brasilianischen Kulte als Herausforderung für die christlichen Kirchen gelten, werden abschließend unter missionstheologischer Perspektive Antworten und Aufgaben erörtert. Horschs Ausführungen zur Umbanda nehmen elfeinhalb Seiten der sich auf 547 Seiten erstreckenden Monografie ein und unterstreichen ein soziologisches Interesse. Dementsprechend werden Kultpraxis und Gemeindestruktur als Gegenbewegung zur städtischen Umwelt gedeutet, die das Ziel der „Befreiung von Unterdrückung und Bevormundung“39 verfolgen. Beachtenswert erscheint die tabellarische Gegenüberstellung von profaner und heiliger Gesellschaft, die jedoch einer näheren Ausführung sowie genauerer Differenzierung entbehrt. Insgesamt ergeht sich die Darlegung in Allgemeinplätzen, die eher aufgereiht statt elaboriert verbunden im Raum stehen. Eine weniger detaillierte, dafür mehr theologisch orientierte Schrift zu den afrobrasilianischen Religionen, jedoch mit Schwerpunkt auf dem Candomblé, legt 40 1997 Dieter Fohr vor. Danach reißt aber auch dieser Forschungszweig so gut wie ab. Das Interesse geht gleichsam in der weiter gefassten Beschäftigung mit afroamerikanischen Religionen auf, die ganz Mittel- und Südamerika umfasst. Brasilien und seine Kulte werden auf diese Weise zu Teilbereichen in Überblickswer41 ken. Angelina Pollak-Eltz liefert 1995 eine stark differenzierte Gesamtschau, die Brasilien neben Jamaika, Haiti, der Dominikanischen Republik, den Antillen, Venezuela, Surinam und Kuba einreiht, aber immerhin acht Kulte getrennt skizziert. In zahlenmäßig eingeschränkter, aber spezialisierter Form beschreibt 2003 42 Astrid Reuter vier afro-amerikanische Religionen, davon zwei afro-brasilianische (Candomblé und Umbanda), und bietet damit das bisher neueste deutschsprachige Werk in diesem Bereich. Noch weiter gefasst ist die enzyklopädische Zusammen43 stellung in religionskundlichen Handbüchern, von denen die qualifiziertesten auch der Umbanda einen eigenen Artikel zugestehen. Insgesamt jedoch muss der deutschsprachigen Forschung ein seit Mitte der 70er Jahre schwindendes Interesse

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Ebd., S. 399. Vgl. Fohr, D.: Trance und Magie. Die afrobrasilianischen Religionen, München 1997. Vgl. Pollak-Eltz, A.: Trommel und Trance. Die afro-amerikanischen Religionen, ungek. Sonderausgabe, Freiburg i. Breisgau 2003. Vgl. Reuter, A.: Voodoo und andere afroamerikanische Religionen, München 2003. Vgl. z.B. Lanczkowski, G.: Die neuen Religionen, Frankfurt a. Main 1974, S. 167–171; Reller, H./ Kiessig, M. (Hg.): Handbuch religiöse Gemeinschaften: Freikirchen, Sondergemeinschaften, Sekten, Weltanschauungen, missionierende Religionen des Ostens, Neureligionen, 3., völlig überarb. u. erw. Aufl., Gütersloh 1985, S. 486–509.

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attestiert werden, das sich zusehends verallgemeinert und das generalisierte Breiten- dem spezifischen Tiefenstudium vorzieht. 1.1.2 Die Umbanda in der nicht-deutschsprachigen Literatur Naturgemäß muss die literarische Bearbeitung der Umbanda vorrangig in Brasilien verortet werden. Obwohl sie keine Schriftreligion mit heiligen Texten ist, sondern die Weitergabe der Lehren, Gebete und Lieder auf mündlicher Tradierung beruht, blüht das umbandistische Schrifttum. Zwar wird die Eigenständigkeit der Neureligion, die sich aus dem Spiritismus ausgliederte, durch Gründungen von Vereinigungen (seit 1939) und durch den Primeiro Congresso do Espiritismo de Umbanda (1941) deutlich, doch dauert es noch mehrere Jahre, bis auch 44 die Öffentlichkeit dies wahrnimmt. Abgesehen von den vielen Werken, die ohne 45 die Angabe des Jahres veröffentlicht wurden , sind seit dem Ende der 1940er und Beginn der 1950er Jahre viele Publikationen umbandistischer AutorInnen erhältlich. Zu den produktivsten zählen Oliveira Magno, Aluísio Fontenelle und Ema46 nuel Zespo, die z.T. mehrere Auflagen erzielten. Mit seiner ersten Schrift „Umbanda de Todos Nós“ legt Woodrow Wilson da Matta e Silva 1956 den Grundstein 47 eines neunbändigen Werkes, deren letztes 1971 erscheint. Ähnlich viele Bücher veröffentlicht Byron Torres de Freitas, der vorzugsweise mit anderen UmbandistInnen zusammenarbeitet; und auch Erstpublikationen von Lourenço Braga 48 erscheinen über den großen Zeitraum von 1951 bis 1978 hinweg. Gemeinsam beherrschen Matta e Silva, Freitas und Braga gleichsam den Markt, nicht zuletzt aufgrund mehrfacher Auflagen. Dennoch dürfen zeitgenössische und nachfolgende AutorInnen, wenngleich sie literarisch weniger tätig sind, nicht unerwähnt bleiben, wie Leopoldo Bettiol, Armando Cavalcanti Bandeira, Antônio Alves Teixeira, Marcos Scliar oder Roberto dos Santos Miranda, um nur 44 45

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So werden z.B. die bei Volkszählungen erhobenen Daten zur Religionszugehörigkeit erst 1980 nach kardecistisch und afro-brasilianisch differenziert betrachtet. Vgl z.B. Souza, J.R.d.: O poder das ervas na Umbanda: indicações na aplicação doméstica, descrição e emprêgo, banhos e defumações, Rio de Janeiro o.J.; Freitas, J.d.: Umbanda. Reportagens, entrevistas, comentários, rituais etc., Rio de Janeiro o.J. Auszugsweise vgl. Magno, O.: Umbanda – ocultismo, Rio de Janeiro 21952; ders.: Prática de Umbanda, Rio de Janeiro 1952; ders.: Pontos cantados e riscados da Umbanda, Rio de Janeiro 31953; Fontenelle, A.: A Umbanda através dos séculos, Rio de Janeiro 1953; ders.: Fundamentos de Umbanda, Rio de Janeiro 1956; Zespo, E.: O que é Umbanda, Rio de Janeiro 1949; ders.: Codificação da Lei de Umbanda, I: Parte Científica, II. Parte Pragmática, Rio de Janeiro 1951/53; ders.: Pequeno dicionário de Umbanda, Porto Alegre 1956. Vgl. z.B. Silva, W.W.d.M.e.S.: Umbanda de Todos Nós, Rio de Janeiro 1956; ders.: Umbanda do Brasil, Rio de Janeiro 1969; ders.: Macumbas e Candomblés na Umbanda, Rio de Janeiro 1971. Vgl. z.B. Freitas, B.T.d. / Pinto, T.d.S.: Fundamentos de Umbanda, Rio de Janeiro 1956; dies.: Guia e ritual para organização de terreiros de Umbanda, Rio de Janeiro 1963; Freitas, B.T.d. / Freitas, W.C.d.: Os Orixás e as Leis da Umbanda, Rio de Janeiro 1969; Braga, L.: Umbanda e Quimbanda, Rio de Janeiro 1951; ders: Fundamentos de Umbanda. Revelação religiosa, Rio de Janeiro 1978.

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einige zu nennen. In jüngster Zeit treten v.a. drei Umbandisten hervor, die seit dem Ende der 80er Jahre mit jeweils mehreren Schriften die Umbanda-Literatur bereichern: Francisco Rivas Neto, Diamantino Fernandes Trindade und Rubens 50 Saraceni. Trotz ihrer Fülle ist den umbandistischen Publikationen mit gewisser Skepsis zu begegnen, da Selbstdarstellungen selten ohne Intention verfasst werden. Hinsichtlich der Umbanda sind zumal zwei solcher Intentionen zu beobachten. Die erste wird bedingt durch die Einbettung des Kultes in die religiöse Landschaft Brasiliens. Zur Zeit ihrer Entstehung will sich die Umbanda gegen den Spiritismus und die übrigen afro-brasilianischen Kulte abgrenzen, um ihre Autonomie und Existenzberechtigung hervorzuheben. Im Laufe der Geschichte jedoch muss sie sich gegenüber Verurteilungen und Anfeindungen von Seiten christlicher Kirchen, insbesondere der katholischen und der IURD, verteidigen, um dem Vorwurf der schwarzen Magie und der Dämonolatrie zu wehren (s. 6.1). Die zweite Intention resultiert aus der Vielgestaltigkeit der einzelnen Kultstätten, die je eigene Ausprägungen hervorbringen, so dass die umbandistischen Merkmale durch die Diversität zurückgedrängt und verwässert zu werden drohen. Um dies zu verhindern und im Gegenzug einheitliche Lehren und Riten zu gewährleisten, werden Vereinigungen gegründet, Kongresse veranstaltet und Schriften veröffentlicht. Da dieses Unterfangen aber nicht frei von Konkurrenz zwischen den UmbandistInnen ist, nutzen die AutorInnen die Bühne des Buchmarkts zur Verbreitung und Stabilisierung ihres individuellen Umbandismus. In diesem Sinn ist auch die gegenseitige Legitimierung zu verstehen, wenn sich SchülerInnen auf ihre MeisterInnen berufen und deren geistiges wie literarisches Erbe fortführen.51 Die Verwendung umbandistischer Literatur soll hier keineswegs zurückgewiesen, sondern vielmehr der kritische Blick geschärft werden, um tendenziöse Inhalte, die einer apologetischen und konsolidierenden Intention folgen, entsprechend zu bewerten. Parallel zu den UmbandistInnen beschäftigen sich WissenschaftlerInnen mit der Neureligion, die mit ihrem starken Zulauf beinahe eruptiv das Panorama des religiösen Brasiliens veränderte. Und wiederum ist die Mehrheit der ForscherInnen brasilianisch, so dass der Großteil der Literatur im Original – sowie z.T. aus-

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Vgl. z.B. Bettiol, L.: A umbanda perante a crítica, Porto Alegre 1954; Bandeira, A.C.: Umbanda. Evolução histórico-religioso, Rio de Janeiro 1961; Teixeira, A.A.: O livro dos médiuns de Umbanda, Rio de Janeiro 1967; Scliar, M.: Umbanda. Magia branca, Rio de Janeiro 1971; Miranda, R.d.S.: Candomblé, umbanda e suas obrigações, Rio de Janeiro 1975. Vgl. z.B. Rivas Neto, F.: Umbanda. A proto-síntese cósmica, São Paulo 1989; ders.: Lições básicas de Umbanda, São Paulo 1991; ders.: Umbanda. O arcano dos 7 orixás, São Paulo 1993; Trindade, D.F.: Umbanda e sua história, São Paulo 1991; ders.: Umbanda. Um ensaio de ecletismo, São Paulo 1994; Saraceni, R.: Umbanda. O Ritual do Culto à Natureza, São Paulo 1995; ders.: Orixás. Teogonía de Umbanda, São Paulo 2002; ders.: Doutrina e teologia de Umbanda sagrada. A religião dos mistérios um hino de amor à vida, São Paulo 2007. Dies ist z.B. der Fall bei Francisco Rivas Neto, dem Schüler und Nachfolger von Woodrow Wilson da Matta e Silva (s. 4.1.5).

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schließlich – in portugiesischer Sprache vorliegt. Doch auch solche WissenschaftlerInnen, die nicht BrasilianierInnen sind und/oder nicht in Portugiesisch schreiben, untersuchen die Umbanda und publizieren in Französisch, Englisch oder Spanisch. Manche dieser ’fremdsprachigen‘ Werke haben sogar den Status des Klassikers erreicht oder sind für spätere Arbeiten unumgänglich. Noch bevor sich die Umbanda entwickelt, setzt Ende des 19. Jh. unter anthropologischer Perspektive die Auseinandersetzung mit den synkretistischen Religionen 52 Brasiliens ein. Ab 1896 veröffentlicht der Arzt Raimundo Nina Rodrigues mehrere Aufsätze sowie eine Schrift über die nach Brasilien gelangten afrikanischen Traditionen, die in verschiedenen Kulten weiterleben. Er gibt damit „gleichsam das Startzeichen für die volks- und völkerkundliche Aufarbeitung dieser Kultur53 phänomene“ . Dass die AfrikanerInnen ihre Wurzeln auch in der Neuen Welt pflegen, begründet Rodrigues mit der vermeintlichen Unfähigkeit jener Menschen, sich in der Fremde der dort dominierenden Kultur anzupassen. Anstatt sich in die europäisch geprägte Zivilisation Südamerikas zu integrieren, stützen sie sich auf den rückschrittlichen und primitiven Fetischismus Afrikas, worin sich ihre Minderwertigkeit und Unterlegenheit ausdrückt. Mit seiner Einschätzung steht Nina Rodrigues in der Tradition der anthropologischen und medizinischen Rassentheorien der damaligen Zeit. Eine romantisierte Gegenposition bezieht 1904 der Autor Manuel Quirino54, indem er den AfrikanerInnen Brasiliens eine besondere Wertschätzung zuerkennt. Unter der Prämisse objektiver Betrachtung stellen in den 1930er Jahren Arthur 55 56 Ramos und Edison de Souza Carneiro zum einen die afrikanischen Elemente selbst dar. Zum anderen fragen sie nach deren Bedeutung im Prozess der Inkulturation, der sich durch die Existenz verschiedener Volksgruppen auf brasilianischem Boden ereignet. In ihren Studien berücksichtigen sowohl der Anthropologe und Ethnologe Ramos als auch der Historiker Carneiro jedoch nicht nur den spezifischen Blickwinkel ihrer eigenen Disziplinen, sondern auch den der Soziologie und der Psychologie. Obwohl Ramos allgemein über „Die Negerkulturen in 57 der Neuen Welt“ forscht, richtet sich sein spezielles Interesse auf Brasilien und seine BewohnerInnen. In dem zweibändigen Hauptwerk „Introdução à Antropologia Brasileira“ (1943/47) skizziert Ramos die zahlreichen unterschiedlichen Kulturen, die er nach ’europäisch‘ und ’nicht-europäisch‘ differenziert. Zu letzteren zählt er die indianischen Kulturen, von denen er sieben im Einzelnen darstellt, sowie fünf afrikanische. Den europäischen Kulturen (v.a. portugiesisch, italienisch, 52 53 54 55 56 57

Vgl. Rodrigues, R.N.: L’Animisme Fétichiste des Nègres de Bahia, Salvador 1900. Flasche, R.: Geschichte und Typologie, S. 103. Vgl. Quirino, M.: A raça africana, Salvador 1904. Vgl. Ramos, A.: O negro brasileiro, Rio de Janeiro 1934. Vgl. Carneiro, E.d.S.: Situação do negro no Brasil, in: Estudos Afro-Brasileiros 1, 1935, S. 237– 241. So der Titel der 1947 ins Deutsche übersetzten Schrift von Arthur Ramos: „As culturas negras no Novo Mundo“, São Paulo 21946.

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deutsch, holländisch sowie slawisch) schlägt der brasilianische Ethnologe zudem die japanische und jüdische zu und benennt unter der Bezeichnung ’andere Gruppen‘ auch die arabische, nordamerikanische und die der ZigeunerInnen. Der charakterisierenden Auflistung fügt Ramos die Herausarbeitung der verschiedenartigen Beziehungen an, die sich durch eine solche Vielfalt in nur einem Land ergeben. Demnach thematisiert er einerseits auf der Ebene der Rassen die Vermischung durch sexuelle Kontakte und andererseits auf kultureller Ebene die Annäherung durch Inkulturation. Den völkerkundlichen und anthropologischen Untersuchungen folgen soziologische Arbeiten, die für die nächsten Jahrzehnte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den afro-brasilianischen Religionen dominieren. Durch den Franzosen Roger Bastide wird zudem seit den 1940er Jahren die Riege der ForscherInnen um einen Nicht-Brasilianer erweitert. In diversen Schriften thematisiert der Soziologe u.a. unterschiedliche Religionen afrikanischen Einflusses, wobei er das Betrachtungsfeld spezifizierend auf einzelne Regionen einschränkt: die Macumba in São Paulo, den Batuque in Porto Alegre und den Candomblé in Bahia.58 Die Problematik der Inkulturation greift er 1960 in dem in mehrere Sprachen übersetzten Werk 59 „Les religions africaines au Brésil“ auf und führt sie auf eine doppelte Erbschaft 60 zurück, die Brasilien aufgrund der „Einfuhr aus Portugal und Afrika“ zufiel. Ausgehend vom interkulturellen Kontakt und Austausch schließt Bastide auf die gesellschaftlichen Strukturen und sieht die afro-brasilianischen Religionen im Licht ihrer sozialen Funktion für die desintegrierten ehemaligen SklavInnen. Die Begegnung von BrasilianerInnen unterschiedlicher Herkunft und Kultur, von weißen Europäe61 rInnen und schwarzen AfrikanerInnen zieht die „Geburt einer Religion“ nach sich, so dass die Umbanda eine gegenseitige Wertschätzung verkörpert. Neben die Überblickswerke, die sich allgemein mit den synkretistischen Kulten beschäftigen, treten Einzeldarstellungen zur Umbanda, die im Zuge des wissenschaftlichen Interesses den Kontext der Religionen Brasiliens überschreitet. Ab den 50er Jahren avanciert die Umbanda zum Gegenstand religionswissenschaftlicher Tiefenstudien, und löst sich aus dem Schatten des Candomblé und des Spiritismus. Vor allem im katholisch-theologischen Bereich erfolgt die Auseinandersetzung mit der nunmehr kaum zu übersehenden Neureligion, bleibt aber der apologetischen Intention verhaftet. Wie sich die Außenwahrnehmung der spiritistischen Sekte, die als ’Niederer Spiritismus‘ bezeichnet wurde, zur eigenständigen Religi-

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Vgl. Bastide, R.: A Macumba paulista, in: Sociologia 1, 1946, S. 51–112; ders.: Le Batuque de Porto Alegre, in: Proceeding an Selected Papers of the 29. International Congress of the Americanists (ICA), Chicago 1952, S. 195–206; ders.: Le Candomblé de Bahia. Rite de Nagô, Paris 1958. Vgl. Bastide, R.: Les religions africaines au Brésil. Vers une sociologie des interpénétrations de civilations, Paris 1960. Ebd., S. 41. Ebd., S. 422.

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on namens Umbanda wandelte, belegt das umfangreiche Werk des Franziskaners 62 Boaventura Kloppenburg . Seine ablehnende Haltung gegenüber dem Spiritismus erstreckt sich auch auf die häretisch eingeschätzte Umbanda, deren Wachstum die Kirche beunruhigt 63 und Anlass zu Instruktionen für die KatholikInnen gibt. In seiner Monografie „A 64 Umbanda no Brasil“ (1961) bemüht sich Kloppenburg bei der Skizzierung von Lehre und Zeremonien zwar um Neutralität, lässt aber insgesamt keinen Zweifel daran, dass das Werk zu Recht in der Reihe ’Stimmen zur Verteidigung des Glaubens‘ erscheint. Wie wenig eine objektive religionswissenschaftliche Analyse angestrebt wird, zeigt der ostentative Gebrauch von Begriffen wie ’Verbrechen‘, ’Dä65 monolatrie‘ oder ’Lügen‘ , die einzelne Kapitel überschreiben. Durch die Neuausrichtung der katholischen Kirche in der interreligiösen Frage, die das 2. Vatikanische Konzil vorsieht, scheint dem engagierten Warner vor schädlichen Kulten und dem besorgten Beschützer der katholischen Gläubigen die Grundlage seiner Bemühungen entzogen zu sein. Denn Kloppenburgs gehäufte Publizierung über die Umbanda findet in der Stellungnahme zu den konziliaren Beschlüssen (1968) und in einem Beitrag zu einem Aufsatzband über afro-brasilianische Kulte 66 (1972) ein Ende. Zeitgleich mit der produktivsten Phase des Franziskaners hebt auch die sozialwissenschaftliche Forschung den Zusammenhang von Umbanda und Spiritismus hervor, ohne jedoch einseitige Wertungen auszusprechen. So konstatiert Cândido 67 Procópio F. de Camargo 1961 ein ’mediumistisches Kontinuum‘, dessen Pole der kardecistische Spiritismus einerseits und die Umbanda andererseits bilden. Zwischen den beiden Extremen sind andere Kulte anzusiedeln, für die das Amt des Mediums ebenfalls konstitutiv ist. Ihre Lokalisierung innerhalb des Kontinuums leitet sich vom Mischungsverhältnis der polaren Vorstellungen ab. Es ist allerdings zweifelhaft, ob das theoretische Modell in der Praxis auch außerhalb der 50 von Camargo beobachteten Kultstätten funktioniert. Denn im Gegensatz zu kardecistischen Zirkeln lassen sich umbandistische Terreiros schwerlich zu einer gleichgearteten Größe zusammenfassen, da sie bereits in sich unterschiedlich stark vom Spiritismus geprägt sind. Das Ideal eines umbandistischen Pols entspricht daher

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Neben den hier und im Abschnitt 6.1.2 angeführten Publikationen sei auf das ausgezeichnete Literaturverzeichnis in Wulfhorst, I.: Der „Spiritualistisch-christliche Orden“, S. 421–424, verwiesen. Vgl. Kloppenburg, B.: É alarmante o Crescimento do Baixo Espiritismo no Brasil, in: REB 13/2, 1953, S. 416–420; ders.: Posição católica perante a Umbanda, Petrópolis 1954. Vgl. Kloppenburg, B.: A Umbanda no Brasil. Orientação para os Católicos, Petrópolis 1961. Vgl. ebd., S. 187. 133. 161. Kloppenburg, B.: Ensaio de uma Nova Posição Pastoral perante a Umbanda, in: REB 28/2, 1968, S. 404–417; ders.: A dimensão cultural na Umbanda, in: Conferência Nacional dos Bispos do Brasil, Leste I: Macumba, 2.Aufl., São Paulo 1976, S. 60–69. Neuauflagen von Kloppenburgs Schriften seien in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt. Vgl. Camargo, C.P.F.d.: Kardecismo e Umbanda, São Paulo 1961.

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kaum der Realität, und die für die mediumistischen Kulte eröffneten Leerstellen könnten die vielfältigen Kultstätten der Umbanda selbst füllen. Abgesehen von der Neupositionierung katholischer TheologInnen reißen die wissenschaftlichen Veröffentlichungen über die Umbanda für beinahe eineinhalb Jahrzehnte ab. Obwohl Studien und Feldforschungen weiterhin durchgeführt werden, erscheinen die nächsten brasilianischen Publikationen erst in der Mitte der 1970er Jahre, lösen damit aber eine fruchtbare Phase in der Umbanda-Forschung aus. Das Verdienst der Wiederaufnahme ist vermutlich der Anthropologin Yvonne Maggie Alves Velho zuzuschreiben, deren Arbeit „Guerra de Orixá“68 (1975) vielfach rezipiert und bereits zwei Jahre später erneut verlegt wurde. Am Beispiel einer einzelnen umbandistischen Kultstätte schildert sie zum einen Riten und Funktionen der Religion und ihrer Mitglieder sowie zum anderen die Fragilität der Gemeinschaft, die sich nach nur viermonatigem Bestehen spaltet. Bereits zwei Jahre vor Velho reichte Maria Helena Vilas Boas Concone ihre 69 Dissertation „Umbanda. Uma religião brasileira“ ein, die den nationalen Aspekt der synkretistischen Religion herausarbeitet. Da die anthropologische Studie allerdings erst 1987 publiziert wird, kann sie trotz der Anfang der 70er Jahre erhobenen Daten die zeitliche Lücke nicht schließen. Sie tritt somit zeitlich ans Ende einer Mitte der 80er Jahre erfolgenden Veröffentlichungswelle, anstatt ihr voranzugehen, was wiederum eine relativ geringe Rezeption zur Folge hat. 1977 führt die US-Amerikanerin Diana DeGroat Brown sowohl die Analyse der Umbanda unter soziologischer Perspektive als auch deren Ausführung von Seiten nicht-brasilianischer ForscherInnen fort. Ihr Aufsatz „Umbanda e classes sociais“70 tritt angesichts ihrer neun Jahre später publizierten Monografie (s.u.) und der 1978 71 erscheinenden Arbeit von Renato Ortiz in den Schatten. Ortiz legt seiner Hypothese ebenfalls die Annahme eines Kontinuums zu Grunde, an deren Pole er aber anders als Camargo keine Religionen, sondern Kulturen stellt. Demnach steht die Umbanda in einem Spannungsfeld zwischen dem ’weißen Abendland‘ und dem ’schwarzen Afrika‘, zwischen den gesellschaftlichen oberen Schichten und der Unterschicht (s. 4.1.3). Insofern ereignet sich nicht nur ein religiöser Synkretismus, sondern auch ein kultureller Austausch, der Menschen unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe und sozialen Stands umfasst. Daher bevölkern die Reihen der Terreiros zwar auch afrikanisch-stämmige Besitzlose, aber ebenso hell-häutige Angehörige der Mittelschicht. Zudem weist Ortiz nach, dass „die Umbanda […] eine im Wesentlichen städtische Religion“72 ist, die mit dem Prozess der Urbanisierung und Industrialisierung Brasiliens korreliert: je größer das städtische Wachs68 69 70 71 72

Velho, Y.M.A.: Guerra de Orixá. Um Estudo de Ritual e Conflito, 2. Aufl., Rio de Janeiro 1977. Vgl. Concone, M.H.V.B.: Umbanda: uma religião brasileira, São Paulo 1987. Vgl. Brown, D.D.: Umbanda e classes sociais, in: Religião e Sociedade 1, 1977, S. 31–42. Vgl. Ortiz, R.: A morte branca do feitiçeiro negro: umbanda, integração de uma religião numa sociedade de classes, Petrópolis 1978. Ebd., S. 196.

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tum, desto mehr Terreiros entstehen. Eine Theorie, die eine Desakralisierung der brasilianischen Städte postuliert, wäre folglich widerlegt. Das Jahr 1983 markiert den Beginn einer kurzen, bisher aber der produktivsten Zeitspanne der nicht-deutschsprachigen Umbanda-Forschung. Der Jesuit Valdeli 73 Carvalho da Costa nimmt in seiner phänomenologischen Arbeit die umbandistischen Geister in den Blick, speziell die so genannten ’höheren Wesen‘ und die Orixás, und schöpft aus einer Fülle an Interviews und Beobachtungen. Zum einen liefert Costa eine fundierte Übersicht über die einzelnen, aus Afrika importierten Orixás, ihre religiöse Bedeutung und rituelle Verehrung. Zum anderen stellt er sie vergleichend neben die entsprechenden katholischen Heiligen und spürt übernommenen oder angepassten Traditionen nach. Im Hintergrund steht hierbei die Frage, in welchem Maß die synkretistische Angleichung bei den einzelnen Personen erfolgt. So konstatiert Costa beispielsweise zwischen der Orixá Iemanjá und der Jungfrau Maria eine bloß begriffliche Identifizierung, die sich nicht zu einer konzeptuellen Durchdringung steigert.74 Bei der umbandistischen Trias der höheren Wesen hingegen, die der christlichen Trinität entspricht, zeigt sich deutlich die Nachahmung, da das Verstehen der Vorlage fehlt. Costas Untersuchung insbesondere solcher Aspekte erfolgt unter christlich-theologischer Perspektive, die gleichsam das Wissen der UmbandistInnen prüft und ihnen Unverständnis bescheinigt. Da jedoch die Umbanda keineswegs eine christliche Denomination ist, die katholischen Elemente v.a. aus zweckdienlichen Gründen einflossen und die Lehre der Neureligion nur peripher tangieren, sind tiefgehende Kenntnisse weder für den umbandistischen Glauben noch den Kultus erforderlich. Die Anthropologin Patrícia Birman75 und ihr Kollege André Droogers76 arbeiten 1983/85 die Umbanda nicht mehr unter spezifischer Fragestellung auf, sondern bieten Überblicksdarstellungen mit Einführungscharakter. Dies lassen bereits die global formulierten Titel sowie die Einbindung in allgemein gehaltene Veröffentlichungsreihen (’Sammlung Erste Schritte‘ bzw. ’Reihe Religionen‘) erkennen. Birman konstatiert als umbandistisches Hauptmoment das Paradox zwischen dem 77 Einzelnen und dem Vielfachen , das in allen Bereichen der Religion begegnet: Ein Medium hat mehrere persönliche Geister unterschiedlichen Typs; ein/e Hilfesuchende/r kann von jedem konsultierten Espírito einen anderen Ratschlag erhalten; eine Geistergruppe besteht aus z.T. unzähligen Einzelwesen; die lehrmäßigen Grundzüge werden individuell ausgestaltet; die Umbanda setzt sich aus der Gesamtheit der selbstständigen Kultstätten zusammen, ohne ein formales Gebäude

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Vgl. Costa, V.C.d.: Umbanda. Os „Seres superiores” e os Orixás/Santos. Um estudo sobre a fenomenologia do sincretismo umbandístico na perspectiva da Teologia Católica, 2 Bde., São Paulo 1983. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 194 f. Vgl. Birman, P: O que é Umbanda, São Paulo 1983. Vgl. Droogers, A.: E a Umbanda?, São Leopoldo 1985. Vgl. Birman, P: O que é Umbanda, S 24.

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Einleitung

zu errichten. Dass sich dieses Paradox wie ein roter Faden durch Lehre, Mitwirkende und Organisation zieht, zeigt Birman deutlich auf. Droogers hingegen orientiert sich nicht an einer thematischen Vorgabe, sondern beantwortet systematisch seine Leitfragen nach der Herkunft der Umbanda, dem kultischen Geschehen, den agierenden Geistern, der Bedeutung der Trance sowie dem Wachstum der Religion. Dem Teil der objektiv-religionswissenschaftlichen Schilderung schließt sich ein Abschnitt an, der die Umbanda aus christlicher Sicht einschätzt. Zudem werden Anregungen für den interreligiösen Umgang geboten, der vom christlichen Ideal der Nächstenliebe geprägt sein sollte.78 Durchdrungen von diesem Tenor erschien bereits zwei Jahre zuvor ein Aufsatz, den die TeilnehmerInnen eines Hochschulseminars verfassten, das André Droo79 gers und Richard Wangen 1981 leiteten. Obgleich darin eine Darlegung der geschichtlichen Wurzeln und der gesellschaftlichen Position der Umbanda erfolgt, liegt der Schwerpunkt des studentischen Interesses auf den Funktionen der menschlichen Medien sowie der Haltung der evangelischen ChristInnen gegenüber dem umbandistischen Kult. Diejenigen Fragen also, die Kloppenburg in den 50er Jahren für die KatholikInnen beantwortete, bearbeiten TheologiestudentInnen in den 80er Jahren für die LutheranerInnen. 80 Der Veröffentlichung eines Aufsatzes von Ortiz (1984) zur Rolle der Umbanda im Zusammenspiel von Ethik, Macht und Politik schließen sich zwei weitere, die81 ser Thematik verbundene Arbeiten an. In einer Aufsatzsammlung (1985) bearbeiten u.a. Brown, Birman und Concone die Geschichte der Umbanda, den politischen Einfluss der umbandistischen Vereinigungen sowie die parteiliche Einbindung in das brasilianische Wahlgeschehen im Jahr 1982. Browns Monografie 82 „Umbanda. Religion and Politics in Urban Brazil“ , die exemplarisch die Situation in Rio de Janeiro nachzeichnet und analysiert, erscheint 1986. Neben der generellen Skizzierung von religiösen Wurzeln, Kosmologie und Ritual der Umbanda richtet die Anthropologin den Fokus auf den sozialen Aspekt von städtischen Kultstätten, die ihren gesellschaftlich niedrig stehenden Mitgliedern ein funktionierendes Netz bieten. Dieses basiert ähnlich wie in der Politik auf dem Prinzip der Gönnerschaft (’patronage relations‘), die beiden Partnern zum Vorteil gereicht. Die Existenz einer solchen Beziehung konstatiert Brown auch zwischen UmbandaKultstätten und zur gesellschaftlichen Oberschicht gehörenden PolitikerInnen. „Within the urban context, Umbanda served to facilitate the creation of vertical contacts and linkages between the two sectors of urban population“83, was Brown

78 79 80 81 82 83

Vgl. Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 85. Vgl. Droogers, A. u.a.: Umbanda. Desafio para a Igreja, in: Revista do CEM VI/1, 1983, S. 21–35. Vgl. Ortiz, R.: Ética, poder e política: umbanda, um mito-ideologia, in: Religião e Sociedade 11/3, 1984, S. 36–54. Vgl. Brown, D.D. u.a.: Umbanda e Política, Rio de Janeiro 1985. Vgl. Brown, D.D.: Umbanda. Religion and Politics in Urban Brazil, Ann Arbor 1986. Ebd., S. 198.

Die Umbanda als Gegenstand der Forschung

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anhand einiger Beispiele belegt. Zudem liegt ihr Verdienst in der Aufarbeitung der Geschichte der Umbanda, die im Spannungsfeld zwischen Politik, Gesellschaft und katholischer Kirche stattfindet. Hierzu spürt Brown auch den Anfängen der Neureligion nach und benennt als Erste mit Nachdruck eine Gründergestalt (s. 4.1.2). Mit den Publikationen Browns und der späten Veröffentlichung von Concone (1987) geht eine doppelläufige Tendenz einher. Während das Interesse an der Umbanda als Untersuchungsgegenstand von Seiten der brasilianischen WissenschaftlerInnen abebbt, setzt es sich bei Nicht-BrasilianerInnen fort. Nach der englischen (und deutschen) Literatur befindet sich die spanischsprachige auf dem Vormarsch, wie im Werk des argentinischen Anthropologen Fernando Giobellina Brumana und seiner Kollegin Elda González Martínez84. Zwischen 1981 und ’86 führen sie in São Paulo Feldforschungen durch, deren Ergebnisse 1989 übersetzt ins Englische und 1991 ins Portugiesische veröffentlicht werden. Ausgehend von Beobachtungen und Interviews ziehen Brumana / Martínez einen weiten Bogen, der die Umbanda selbst sowie ihre Position im Umfeld der brasilianischen Religionen einschließt. Indem das Hauptaugenmerk auf den ProtagonistInnen liegt, bietet die Studie eine detailreiche Schilderung aller am kultischen Geschehen beteiligten Menschen und transzendenten Wesen, seien es die agierenden UmbandistInnen oder die Geister, Gott bzw. die Verstorbenen. Beachtenswert sind die Bestrebungen der Systematisierung, mit deren Hilfe die Umbanda gegenüber anderen Religionen abgegrenzt und die AkteurInnen des so genannten Pantheons voneinander differenziert werden sollen.85 Vom Schauplatz Brasilien wendet sich in den frühen 1990er Jahren das Interesse an der Umbanda ihrer Expansion in den südamerikanischen Nachbarländern zu, wie die Arbeit der in Venezuela forschenden Anthropologin Angelina Pollak86 Eltz zeigt, die ebenfalls auf Deutsch publiziert. Nur wenige Jahre später meldet sich auch die brasilianische Umbanda-Forschung mit spezifischen Einzeldarstellungen zurück, so z.B. die 1996 erschienene Fallstudie einer umbandistischen Kultstätte im Süden von Rio de Janeiro, die sich mit der Religion Santo Daime 87 verband. 1997 werden gleich zwei Aufsätze über die Umbanda veröffentlicht, die 88 nun auch von der Geschichtswissenschaft entdeckt wird. Sechs Jahre später folgt 84

85 86 87 88

Vgl. Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, Campinas 1991. Diese portugiesische Übersetzung des Originals “Espiritus al margen. Umbanda en San Pablo. Un estudio sobre religión popular y experiencia social“ erschien vier Jahre nach der englischsprachigen Version „Spirits from the margin“. Vgl. ebd., S. 86–92. 246–254. Vgl. Pollak-Eltz, A.: Umbanda en Brasil, Caracas 1993. Vgl. Guimarães, M.B.L.: Umbanda e Santo Daime na ’Lua Branca‘ de Lumiar. Estudo de caso de um terreiro de Umbanda, in: Religião e Sociedade 17/1–2, 1996, S. 125–139. Isaia, A.C.: Umbanda e Nacionalismo no Brasil, in: Teocomunicação 27/115, 1997, S. 95–108; ders.: Os primórdios da Umbanda no Rio Grande do Sul (I), in: Teocomunicação 27/117, 1997, S. 381–394.

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Einleitung

eine experimental-psychologische Studie, die (wie schon von Droogers und Birman angerissen) das Phänomen der Trance und der Besitzung des umbandistischen 89 Mediums untersucht. Theologische Arbeiten zur Umbanda bleiben jedoch auch in der nicht-deutschsprachigen Forschung bis in die jüngste Zeit aus. Neben denjenigen Werken, die sich speziell mit der Umbanda beschäftigen, stehen immer auch solche, die die Neureligion im Kontext der afro-brasilianischen Kulte betrachten. Während aber das Tiefenstudium in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich nachließ, erfahren breiter angelegte Darstellungen einen Aufschwung. Beliebt ist hierbei der Vergleich zwischen Candomblé und Umbanda, den 1985 90 auch der Dominikaner Raimundo Cintra zieht – gleichsam als Nachfolger Kloppenburgs. Aus Sicht der katholischen Theologie jedoch lässt sich die Analyse nicht vom kirchlichen „Dialog mit den Religionen im Allgemeinen, insbesondere mit 91 den afrikanischen Religionen“ trennen, so dass mit der Darlegung zugleich eine Wertung einhergeht. 92 Anfang der 90er Jahre veröffentlicht der Soziologe Reginaldo Prandi eine Studie über den Candomblé in São Paulo, die auf einer in 60 Kultstätten durchgeführten 93 Feldforschung basiert. Ein aus dieser Arbeit ausgegliederter Aufsatz , der drei der 16 Kapitel zusammenfasst, thematisiert die Ausbreitung der Umbanda in der Stadt seit 1930, dem Jahr der Errichtung der ersten umbandistischen Kultstätte. Unterlegt von geschichtlichen und statistischen Daten zeichnet Prandi ein Bild des urbanen Lebens, das sich durch Binnenwanderung und Metropolosierung rasant und frappant verändert. Diese Auswirkungen spürt auch die Umbanda in São Paulo, deren Mitgliederzahlen seit der Ankunft des Candomblé im Jahr 1960 und der allgemeinen Popularität afrikanischer Traditionen wieder sinken. In einer neueren Untersuchung94 von 2004 stellt Prandi die beiden Religionen nicht einander gegenüber, sondern lokalisiert sie gemeinsam als Vetreterinnen der afro-brasilianischen Kulte im religiösen Markt Brasiliens. Anstelle der Lehren und Riten gibt der Soziologe in dieser Arbeit ebenso wie in den vorangegangenen die Veränderungen der demografischen, sozialen und religiösen Gegebenheiten wieder. Doch auch hier ist erkennbar, dass Prandis eigentliches Spezialgebiet der Candomblé ist, dem Betrachtungen zur Umbanda nur ergänzend zur Seite gestellt sind.

89 90 91 92 93 94

Giraldi, E.: O transe de possessão consciente na Umbanda – um exemplo para a hipótese de duas consciências-mediatas-de-outros no mesmo momento?, 2003. Vgl. Cintra, R.: Candomblé e Umbanda. O desafio brasileiro, São Paulo 1985. Ebd., S. 114. Vgl. Prandi, R.: Os Candomblés de São Paulo: a velha magia na metrópole nova, São Paulo 1991. Vgl. Prandi, R.: Modernidade com feitiçaria: candomblé e umbanda no Brasil do século XX, in: Tempo Social 2/1, 1990, S. 49–74. Vgl. Prandi, R.: O Brasil com axé: candomblé e umbanda no mercado religioso, in: Estudos Avançados 18/52, 2004, S. 223–238.

Die Umbanda als Gegenstand der Forschung

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Gegenteilig verhält es sich bei Ingo Wulfhorst, der in seinem 1995 publizierten 95 Grundlagenwerk über den Spiritismus auch die afro-brasilianischen Religionen berücksichtigt. Dabei vertritt der in München promovierte Religions- und Missionswissenschaftler, der als Pfarrer in der Evangelischen Kirche Brasiliens tätig war und an der Theologischen Hochschule in São Leopoldo lehrte, eine recht weit gefasste Definition von Spiritismus. Candomblé und Umbanda zählt er gleichsam als afro-brasilianische Varianten zu diesem Kreis, da sie Orixás und Geister anru96 fen. Dass jedoch weder die Anrufung (und Inkorporation) von Orixás ein Merkmal des Spiritismus ist, noch der Candomblé spiritistische Wurzeln hat, wird übersehen. Für die Umbanda als selbstständig gewordene und modifizierte Ausgliederung trifft eine Vielzahl der Aussagen über den Spiritismus zwar zu, doch scheinen die Grenzen und Unterschiede häufig zu verwischen. Eine klarere Differenzierung hingegen nimmt Wulfhorst sowohl in seiner auf deutsch verfassten Dissertation als auch in einer portugiesischsprachigen Schrift über Spiritismus 97 und afro-brasilianische Religionen vor. Die jüngste Skizzierung und Gegenüberstellung von Candomblé und Umbanda 98 legt 1994 Vagner Gonçalves da Silva vor. In knappen Strichen zeichnet der Anthropologe die geschichtliche Entwicklung, die bürokratische Organisierung und die gesellschaftliche Legitimierung der Neureligion nach, womit er einen raschen ersten Einblick gewährt. Gleiches gilt für die Präsentation der übernatürlichen Wesenheiten und ihrer hierarchischen Ordnung, die in Abgrenzung zum Candomblé und Spiritismus erfolgt. Silva strebt in seiner Analyse konsequent danach, aufzuzeigen, dass und wie sich „die Umbanda als Religion behaupten [kann], die 99 genuin national sein will; eine Religion nach brasilianischer Art.“ Die systematische Erarbeitung wird zudem durch mehrere Tabellen gestützt, die die Entsprechung zwischen afrikanischen Gottheiten und katholischen Heiligen, die Klassifizierung der Orixás sowie den religiösen Festkalender abbilden. Obgleich sich die Inhalte nur auf den Candomblé beziehen, treffen sie weitgehend auch auf die Umbanda zu. Einen expliziten Vergleich beider Religionen führt Silva hinsichtlich der Riten an, zu denen er neben den Kategorien Tanz und Musik (begrifflich 100 unscharf) auch Pantheon, Initiation und Ziel der Geisterverehrung zählt.

95 96 97

Vgl. Wulfhorst, I.: Espiritismo e fé cristã: onde está a diferença?, São Leopoldo 1995. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. Wulfhorst, I.: Der „Spiritualistisch-christliche Orden“; ders: Discernindo os Espíritos. O Desafio do Espiritismo e da Religiosiosidade Afro-Brasileira, São Leopoldo 1989. Dank seiner ’Zweisprachigkeit‘ ist Wulfhorst einer der wenigen WissenschaftlerInnen, die deutsche und brasilianische Literatur zum Themenbereich der afro-brasilianischen Religionen und speziell der Umbanda verwenden. 98 Vgl. Silva, V.G.d.: Candomblé e Umbanda. Caminhos da devoção brasileira, 2. Aufl., São Paulo 2005. 99 Ebd., S. 125. 100 Vgl. ebd., S. 94–97. 126 f.

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Einleitung 101

Einen weiter gefassten Blickwinkel nimmt Milton Vieira Silva (1999) ein, der das Duo Candomblé und Umbanda durch die Hinzufügung der Quimbanda ergänzt. Mit dieser Arbeit befindet er sich im Umfeld anderer, die afro-brasilianischen Kulte thematisierender Studien, ist im Gegensatz zu ihnen aber einführenden Charakters. Individuelle Schwerpunkte setzen beispielsweise die Mitte der 90er Jahre erscheinenden Aufsätze des Sozialwissenschaftlers Ari Pedro Oro, in denen er nach der Multiethnie und der internationalen Ausbreitung der Religio102 nen fragt. Der nächste Grad der Entschränkung und Entspezifizierung wird von solchen Schriften besetzt, die sich zwar noch mit den afrikanisch geprägten Religionen beschäftigen, jedoch nicht mehr allein mit den brasilianischen, sondern generell mit den lateinamerikanischen. 1982 publiziert der lateinamerikanische Rat der 103 Bischöfe eine Analyse über historische, anthropologische und soziologische Aspekte der afro-amerikanischen Gruppen. Trotz des globalen Titels werden aber nur zwei Religionen sowie nur ein Land gesondert dargelegt, nämlich Voodoo, Umbanda und Brasilien. Die unerlässlichen „pastoralen Orientierungen“ beziehen 104 sich allerdings auf die „Arbeiten mit afro-amerikanischen Gruppen“ im Allgemeinen. Ausgewogener wurde dahingegen der Sammelband „Latin American religion in motion“ von 1999 konzipiert, der die Situation in Brasilien auch, aber 105 nicht vorrangig und erst im letzten Beitrag anführt. Darin skizziert die dänische Anthropologin Tina Gudrun Jensen (stark orientiert an Prandi) in ihrem Aufsatz „Discourses on afro-brazilian religion“ die Entwicklung von De-Afrikanisierung zur Re-Afrikanisierung. Obwohl Jensen auch die Macumba erwähnt, geschieht dies eher beiläufig, während das Hauptaugenmerk auf Umbanda und Candomblé liegt. In analoger Weise verfährt Antônio Flávio Pierucci, der für das Handbuch 106 „O livro das religiões“ (2000) das Kapitel „As religiões no Brasil“ verfasst. Er listet u.a. Batuque und Xangô mit ihrer regionalen Zuordnung zwar auf, doch behandelt er ausschließlich den Candomblé und die Umbanda eingehend. Die Darlegung des in der Überschrift suggerierten Panoramas der afro-brasilianischen Religionen bleibt letztlich aus. 101 Silva, M.V.: Conhecendo os cultos afros: umbanda, quimbanda, candomblé, Curitiba 1999. 102 Vgl.. Oro, A.P.: Religiões afro-brasileiras: religiões multiétnicas, in: Fonseca, C. (org.): Fronteiras da cultura. Horizontes e territórios da antropologia na América Latina, Porto Alegre 1993, S. 78–91; ders.: Difusão das religiões afro-brasileiras do Rio Grande do Sul para os países do prata, in: ders. (org.): As religiões afro-brasileiras do Rio Grande do Sul, Porto Alegre 1994, S. 47– 73. Der letztgenannte Aufsatz erschien in einem Oro herausgegebenem Band, der die Betrachtungen auf den äußersten Süden Brasiliens beschränkt. 103 Vgl. Conselho Episcopal Latino-Americano (CELAM): Os grupos afro-americanos. Análises e pastoral, São Paulo 1982. 104 Ebd., S. 253. 105 Jensen, T.G.: Discourses on afro-brazilian religion. From de-africanization to re-africanization, in: Smith, C. / Prokopy, J. (Hg.): Latin American religion in motion, New York 1999, S. 275–294. 106 Pierucci, A.F.: As religiões no Brasil, in: Gaarder, J. / Hellern, V. / Notaker, H.: O livro das religiões, São Paulo 2000, S. 281–302.

Die Umbanda als Gegenstand der Forschung

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In neuester Zeit wird die Thematisierung der Kulte mit afrikanischem Hintergrund in den größeren Kontext der interreligiösen Begegnung bzw. Konfrontation gestellt. Wie schon frühzeitig die katholischen TheologInnen aus ihrem Blickwinkel die ’anderen‘ Religionen Brasiliens betrachteten, wenden sich nun auch die SoziologInnen und AnthropologInnen – allerdings nicht unter apologetischen Vorzeichen – dem Verhältnis der Religionen zu. Ausgelöst wurde diese Interessensverschiebung durch die aktuelle Ausbreitung der Pfingstbewegung (s. 3.3), auf die die Forschung analysierend reagiert. Dementsprechend sucht Patrícia Birman (1996) nach einer „Brücke zwischen den beiden religiösen Systemen“107, die die Konversion von Kulten, die eine Inbesitznahme des Menschen durch übernatürliche Kräfte praktizieren, und dem Pentekostalismus (speziell der Igreja Universal do Reino de Deus) erleichtert. Analog dazu konstatiert der Religionswissenschaft108 ler Oneide Bobsin (2000) den „dunklen Tod des weißen Protestantismus“ , indem AnhängerInnen und Symbole der Umbanda – und damit ein afrikanisch geprägtes Moment – den Weg in die IURD finden. Und auch Vagner Gonçalves da Silva publiziert Aufsätze (2005/07), in denen er afro-brasilianische Religionen und die 109 neue Pfingstbewegung komparativ gegenüberstellt. Der Blick in die nicht-deutschsprachige wissenschaftliche Literatur zur Umbanda spiegelt zweierlei Tendenzen: Die Veröffentlichungen verlagern sich von Monografien zu Aufsätzen, und die Darstellung der einzelnen Religion geht in vergleichenden Fragestellungen auf. In der neueren Forschung verschiebt sich das Interesse an der Umbanda von einem Tiefen- zu einem Breitenstudium, das ihre Position innerhalb der religiösen Landschaft bestimmen will. Die Veränderung dieser Landschaft jedoch wirkt sich auch auf den Beobachtungsrahmen aus, worauf zum einen das Verstummen der (mehr oder weniger apologetischen) VertreterInnen der traditionellen Kirchen folgt. Zum anderen weicht der Vergleich der afro-brasilianischen Religionen untereinander einer Konfrontation dieser mit der Pfingstbewegung. Das Schwinden spezialisierter Untersuchungen zeigt sich umso deutlicher an der geringen Anzahl von Arbeiten aus theologischer Perspektive, denen eine Flut an soziologischen und anthropologischen gegenübersteht. Dass aber der Umbanda bisher und weiterhin die Rolle einer der (beiden) wichtigsten afro-brasilianischen Religionen zukommt, ist ebenfalls unverkennbar.

107 Vgl. Birman, P.: Cultos de possessão e pentcostalismo no Brasil: passagens, in: Religião e Sociedade 17/1–2, 1996, S. 90–109; hier S. 93. 108 So der Titel eines Aufsatzes, der den Titel des Hauptwerks von Renato Ortiz (zu deutsch „Der weiße Tod des schwarzen Zauberers“) abwandelt; vgl. Bobsin, O.: A morte morena do protestantismo branco. Contrabando de espíritos nas fronteiras religiosas, in: ders: Correntes religiosas e globalização, São Leopoldo u.a. 2002, S. 39–63. 109 Silva, V.G.d.: Concepções religiosas afro-brasileiras e neopentecostais: uma análise simbólica, in: Revista USP 67, 2005, S. 150–175; ders.: Neopentecostalismo e religiões afro-brasileiras: Significados do ataque aos símbolos da herança religiosa africana no Brasil contemporâneo, in: Mana 13/1, 2007, S. 207–236.

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Einleitung

1.2 Ansatz und Vorgehen Das rasche Wachstum der Umbanda löst im religiösen und theologischen Umfeld zweierlei Wirkungen aus. Zum einen verkörpert sie eine weitere Konkurrenz auf dem Markt der Religionen Brasiliens. Vor allem christliche Gemeinschaften erachten sie als Gefahr für die Gläubigen und ihre Erlösung sowie für sich selbst und die Mitgliederzahlen. Denn die Anziehungskraft der neuen Religion bedeutet das Desinteresse an anderen Denominationen bzw. die Stagnation deren Anhängerzahlen. Zum anderen wirft die Umbanda die Frage auf, worin ihre Attraktivität besteht und weswegen sie einen solchen Zulauf findet, der sie erst zur ernstzunehmenden Konkurrentin werden lässt. Während die eine Reaktion sozusagen auf Gemeindeebene im praktisch-theologischen Bereich anzusiedeln ist, bezieht sich die andere auf den religionswissenschaftlichen. Jedoch sind beide Gebiete nicht immer gänzlich zu trennen, so dass religionswissenschaftliche Ergebnisse oftmals unter missionarischer Perspektive auf die praktisch-theologische Situation übertragen werden. Ausgehend vom Erfolg der Umbanda würde nach eigenen Mängeln gesucht sowie diese durch Umwandlung und Übernahme umbandistischer Elemente zu beheben beabsichtigt, damit man selbst erfolgreich wird. Manche Untersuchungen sind von vorneherein so ausgerichtet, dass sie andere Religionen unter dem Vorzeichen der Herausforderung für die (christliche) Mission thematisieren und dem religions- einen missionswissenschaftlichen Teil anfügen.110 Mit der vorliegenden Arbeit wende ich mich gegen eine solche Übertragung und nehme den Grund für die Anziehungskraft der Umbanda in den Blick, ohne davon aber praxisbezogene Handlungsmöglichkeiten für christliche Gemeinden ableiten zu wollen. Aufgrund der Fragestellung betrete ich ein Feld, das soziologische, psychologische und theologische ForscherInnen analysieren und dabei aus ihrer spezifischen Perspektive Hypothesen für die Attraktivität der Umbanda und afro-brasilianischer Religionen postulieren. Entgegen der Tendenz der jüngeren brasilianischen Literatur, deren Schwerpunkt auf der soziologischen Fragestellung beruht, rücke ich die theologische ins Zentrum, um neben der gesellschaftlichen auch wieder die religiöse Bedeutung der Umbanda hervorzuheben bzw. sie im deutschen Umfeld überhaupt wieder der Beschäftigung zuzuführen. In meiner Hypothese gehe ich vom Gegenstand der Religion und der Begegnung mit ihm aus: Die Anziehungskraft der Umbanda basiert demnach darauf, wie sich das Heilige manifestiert und welcher Art der Kontakt zwischen ihm und dem Menschen ist. Eine solche Vermutung äußert Kloppenburg als Erster 1953 in einem Aufsatz111 als einen von mehreren Gründen, erwähnt ihn 1961 in der Monografie112 über die Umbanda allerdings nicht mehr, sondern postuliert andere Faktoren. 110 Vgl. z.B. Kloppenburg, B.: A Umbanda no Brasil; Weingärtner, L.: Umbanda; Horsch, H.: Die Ausbreitung afrobrasilianischer Kulte; Droogers, A.: E a Umbanda?. 111 Vgl. Kloppenburg, B.: É Alarmante, S. 419. 112 Vgl. Kloppenburg, B.: A Umbanda no Brasil.

Ansatz und Vorgehen

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In qualitativ hermeneutischem Vorgehen untersuche ich ausschließlich umbandistische Phänomene, nicht zuletzt, weil ein Breitenstudium, das andere afroamerikanische Religionen einbezieht, trotz vieler Ähnlichkeiten den hier zu setzenden Rahmen sprengen würde. Um jedoch der Konkurrenzsituation, die die Umbanda eröffnet, Rechnung zu tragen, werden drei christliche Konfessionen als vergleichende Referenzen herangezogen, wobei ich mich aber auf nur einen phänomenologischen Aspekt konzentriere. Dem religionswissenschaftlichen methodischen Ideal der Epochē folgend strebe ich gegenüber den verschiedenen angeführten Religionen größtmögliche Objektivität und wertfreies wissenschaftliches Verständnis an. Dementsprechend werden auch solche Erscheinungsformen, die auf europäisch-aufgeklärte BetrachterInnen etwa fremdartig wirken, nicht in ihrer Wahrheit und Bedeutung für die gläubigen AnhängerInnen der jeweiligen Religion in Zweifel gezogen. Meine Darlegungen zur Umbanda stütze ich zum überwiegenden Teil auf zweierlei Grundlagen: Feldforschung vor Ort und brasilianische Literatur. Während eines mehrwöchigen Aufenthalts war es mir im Frühjahr 2007 möglich, verschiedene Kultstätten unterschiedlicher afro-brasilianischer Religionen im Raum Porto Alegre kennenzulernen und an Sitzungen teilzunehmen. Neben meinen Beobachtungen führte ich offene Interviews mit KultleiterInnen, PriesterInnen und Medien. Fragebögen mit vorgegebenen Antwortschemata, wie von der empirischen Sozialforschung favorisiert, waren hingegen nicht sinnvoll. Es hätte dazu der randomisierten Auswahl einer Stichprobe aus einer definierten Grundgesamtheit bedurft, um eine Repräsentativität der Aussagen zu erzielen. Solches war jedoch nicht möglich. Indessen orientierte ich mich an einem vorher erarbeiteten Frageleitfaden, der entsprechend der zu klärenden Sachlage eine situationsbezogene Präzisierung erfuhr. Da Tonbandaufnahmen oder Notizen die InterviewpartnerInnen irritiert hätten, wurde darauf verzichtet und anschließend Gedächtnisprotokolle angefertigt. Gleiches gilt für die Gespräche, die ich mit WissenschaftlerInnen, StudentInnen sowie Angestellten der Escola Superior de Teologia in São Leopoldo führte. Auf diese Weise erhielt ich von Nicht-UmbandistInnen sowohl Informationen über deren Erfahrungen als auch kritische Anmerkungen zu meinen Erlebnissen und Arbeitshypothesen. Die Hilfestellung erstreckte sich zudem auf wertvolle Hinweise zur Literaturund Archivrecherche, der zweiten Grundlage der vorliegenden Untersuchung. Da mir an der theologischen Hochschule die Nutzung der gut sortierten Bibliothek offen stand, konnte ich auf ein umfangreiches Spektrum brasilianischer Literatur zurückgreifen: zur Umbanda selbst, zur religiösen Landschaft Brasiliens sowie zu demografischen Daten. Neben wissenschaftlichen Schriften finden sich Publikationen von umbandistischen AutorInnen, deren Eigendrucke und Zeitungen. Angesichts dieser Bandbreite, die Monografien wie Aufsätze, ältere wie aktuelle, umbandistische wie wissenschaftliche Publikationen umfasst, stehen deutsche Bibliotheken zurück. Da darüber hinaus aus dem Kreis der verwendeten brasilianischen

34

Einleitung

Literatur beinahe alle Werke dieses Themenkomplexes nur in portugiesischer (selten auch in spanischer) Sprache vorliegen, stammen die Übersetzungen der 113 angeführten Zitate von mir. Der Inhalt nicht weniger Schriften gelangt folglich einzig auf dem Weg der Verwendung durch andere zur Kenntnis einer deutschsprachigen Öffentlichkeit. Der nun anschließende Teil (Kap. 2) dieser Arbeit legt die religionswissenschaftliche und -phänomenologische Basis dar, indem das Heilige gleichsam religionsübergreifend in seinen Momenten und Erscheinungsformen beschrieben wird. Daran knüpfen Ausführungen über den menschlichen Wunsch nach wechselseitigem Kontakt mit dem Heiligen an. Im folgenden Teil (Kap. 3), der den zweiten Themenstrang einführt, richtet sich der Blick auf Brasilien und seine Religionen. Da keine Religion als ahistorische Gegebenheit begann (gründungsmythische Selbstaussagen seien hier ausgeschlossen) und dies umso mehr auf die Umbanda als einen synkretistischen Kult zutrifft, muss hier eine geschichtliche Übersicht vorausgeschickt werden. Ihrer Entstehung auf dem Boden Brasiliens und der Vermischung von Elementen mehrerer im Land vorherrschender Religionen verdankt die Umbanda den Ruf als „echte brasilianische Religion“114. Von den Referenztraditionen jedoch, welche die Wurzeln der Umbanda begründen, ist nur eine seit frühester Zeit dort ansässig, wohingegen alle anderen den Weg nach Südamerika erst zurücklegen mussten. Die Darstellung verbindet die Geschichte des Landes, seiner BewohnerInnen und der Religionen, wozu sie in der Kolonialzeit einsetzt und den Bogen bis in die jüngere Vergangenheit schlägt. Anhand von Daten zur Religionszugehörigkeit wird die aktuelle Entwicklung der religiösen Landschaft Brasiliens unter besonderer Berücksichtigung der Umbanda aufgezeigt. Im nächsten Teil (Kap. 4) erfolgen die spezielle Auseinandersetzung mit der Umbanda und die Zusammenführung der in den beiden vorangegangenen Teilen thematisierten Stränge. Eingangs werden die äußeren Eckdaten der neuen afrobrasilianischen Religion wie die religiösen Wurzeln, die Entstehung, die Ausbreitung und die Charakteristik ihrer Anhängerschaft dargelegt. Daraufhin skizziere ich die spezifische Ausprägung des Heiligen in der Umbanda, d.h. die Menge von übernatürlichen Wesen und Kräften, die als das ’Ganz Andere‘ empfunden werden. Um die im deutschen Raum eher unbekannte Neureligion, ihre Lehre und Praxis verstehen zu können, scheint es mir unerlässlich, auf die einzelnen in der transzendenten Welt der Umbanda existierenden Geister sowie ihr Wirken einzugehen. Insofern kann dieser Abschnitt als Gesamtschau über die Religion, ihre Merkmale und inneren Zusammenhänge gelten. Dem schließt sich die Darlegung 113 Ebenso nehme ich auch die Übersetzung aus dem Französischen (wie bei Bastide) vor. Es wird angezeigt, wenn ich in einem Zitat nicht die Hervorhebungen des/r AutorIn übernehme. Enthält demnach ein Zitat Hervorhebungen, die in der Fußnote nicht erläutert werden, so stammen sie von dem/r AutorIn selbst. Finden sich zudem einem Zitat Einfügungen in eckigen Klammern, so wurde dies von mir vorgenommen. 114 Birman, P.: O que é Umbanda, S. 69.

Ansatz und Vorgehen

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diverser Forschungshypothesen an, die nach den Gründen für die Anziehungskraft der Umbanda fragen. Aufgrund der perspektivischen Bandbreite werden theologische wie soziologische Ansätze analysiert und auf ihre Plausibilität hin befragt. Der folgende Teil (Kap. 5) nimmt die Manifestation des Heiligen in den Blick. Hier wird die Umbanda in Hinsicht auf sechs Erscheinungsformen (Gegenstand, Ort, Zeit, Zahl, Mensch, Gemeinschaft), die das Heilige repräsentieren, untersucht. Da mit dem Erfolg immer auch Konkurrenz einhergeht, erweitere ich die Darstellung um die Manifestation des Heiligen in christlichen Kirchen Brasiliens. Um jedoch nicht in eine weitläufige Betrachtung abzugleiten und die thematische Fokussierung aufzuweichen, konzentriere ich mich nur auf diejenige Erscheinungsform, von der nach umbandistischem Glauben das Sakrale in besonderer Weise vermittelt wird, nämlich den heiligen Menschen. Da sich der Typus des heiligen Menschen wiederum in mehrere einzelne untergliedern lässt, ziehe ich jeweils nur einen davon zu Vergleichszwecken heran. Aus der Vielzahl der christlichen Gemeinschaften wähle ich zwei traditionelle sowie eine neopentekostale, ebenfalls in Brasilien entstandene Kirche. Der anschließende Teil (Kap. 6) stellt die Umbanda in den interreligiösen Vergleich mit den drei bereits besprochenen Kirchen. Hierzu arbeite ich das Verhältnis jener christlichen Konfessionen gegenüber der Umbanda heraus, um den Grad der Konkurrenz zu messen. Außerdem befrage ich sie in komparativer Perspektive nach der Qualität der Begegnung mit dem Heiligen, die jede der Religionen auf ihre spezifische Art ihren AnhängerInnen eröffnet. Als Fazit leite ich die Begründung meiner Hypothese ab, dass in der Manifestation des Heiligen die Anziehungskraft der Umbanda ruht. In den Schlussgedanken (Kap. 7) richtet sich der Blick erneut auf die Konkurrenzsituation zwischen den Religionen Brasiliens und den aktuellen Verlauf der Fronten im Ringen um Dominanz und Attraktivität.

2

Das Heilige

Die Beschäftigung mit dem Heiligen setzt die Frage nach seiner Bedeutung für die Religionen voraus. Der religionswissenschaftliche Blick, der nach einer übergreifenden Definition von Religion sucht, fällt auf die konkurrierenden funktionalistischen und substanzialistischen Ansätze. Innerhalb des letzteren sind sowohl das Heilige als auch die Gottheiten als Gegenstände zu verorten, denen in jeder Religion eine spezifische Gewichtung zukommt. So nimmt in der Umbanda das Heilige, das nicht auf das Göttliche beschränkt ist, eine zentrale Stellung ein, weshalb es in seinen Momenten dargestellt wird. Dabei orientiert sich diese Untersuchung am klassisch gewordenen Werk „Das Heilige“ von Rudolf Otto115, das die Religionswissenschaft bis heute beschäftigen sollte. Otto beschreibt die verschiedenen, auch kontrastierenden Gefühle, die das so genannte ’Ganz Andere‘ bei dem ihm begegnenden Menschen hervorruft. Wie diese Begegnung erfolgen kann, schildert die Menge der möglichen Erscheinungsformen des Numinosen in der profanen 116 Welt. Diese wurde von Friedrich Heiler in seiner religionsphänomenologischen Arbeit „Erscheinungsformen und Wesen der Religion“ umfassend und detailliert zusammengestellt. Auf der Ebene der Erscheinungswelt der Religion lässt sich wiederum zwischen Manifestationen und Realisationen differenzieren, die in individueller Gestaltung zum Repertoire jeder Religion gehören. In welcher Form auch immer sich das Übernatürliche im Diesseits zeigt, die Begegnung mit ihm vermag einen Menschen zum Glauben zu führen sowie darin zu bestärken. Demnach kann die Manifestation des Heiligen als Erfüllung eines menschlichen Wunsches gelten. Im Folgenden soll diesen angeführten Aspekten und Faktoren nachgegangen werden.

2.1 Definition von Religion Zu den grundlegenden Fragen der Religionswissenschaft gehören die nach dem Wesen und der Definition von Religion. Aufgrund der Allgemeinheit dieses Begriffs und der vergleichenden Perspektive der Religionswissenschaft weist deren Fragestellung jedoch über die Grenzen der einzelnen Glaubensrichtungen hinaus und erstreckt sich auf alle religiösen Gruppen. Trotz aller vorfindlicher Verschiedenheit sucht sie nach dem umfassenden Gemeinsamen, um zu einer möglichst allgemeinen, aber gültigen Antwort zu gelangen. Hierbei eröffnen sich verschiedene Zugänge, nämlich von Seiten der Funktion von Religion für die Gesellschaft und von Seiten des Gegenstands der Religionen.

115 Vgl. Otto, R.: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Nachdruck der ungekürzten Sonderausgabe, München 1979, München 1991. 116 Vgl. Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen der Religion, 2., verb. Aufl., Stuttgart u.a. 1979.

Definition von Religion

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Zum funktionalen Ansatz, der sich wiederum in einzelne Theorien aufspaltet, von denen hier zwei stellvertretend skizziert werden, ist die Religionskritik Ludwig Feuerbachs von 1857 zu zählen. Demnach schafft sich der Mensch selbst die Religion ausgehend von dem Wunsch, seine Begrenztheit und Abhängigkeit von der Natur zu überwinden. Dieser „Wunsch ist Ausdruck eines Mangels, einer Schranke, eines Nicht, sei es nun eines Nicht-seins oder Nicht-habens oder Nicht117 könnens“ . Allerdings verharrt der Mensch nicht beim bloßen Wünschen, sondern strebt aktiv nach Kompensation seiner misslichen Lage. Daher „schöpft [er] aus sich und nur aus sich den Wunsch und die Vorstellung eines Wesens, das von all dieser Pein und Mühseligkeit frei, das stets seines Erfolgs gewiß, ohne Schwierigkeit und Abhängigkeit, ohne Verzug kann oder thut, was es wünscht oder 118 will“ . Somit begegnet der begrenzte Mensch seinem Unvermögen, indem er das Vermögen auf ein Objekt außerhalb seiner selbst projiziert, das er ’Gott‘ nennt. Um die Gottheit aber gedanklich zu entwickeln und zu entfalten, orientiert sich der Mensch an sich selbst als Vorbild und denkt den Gott als personales Wesen, das anthropomorph, also als Ebenbild des Menschen gestaltet wird. Daher rühren auch die zu beobachtenden Differenzen hinsichtlich der Gotteskonzeptionen und ausgestaltungen in den diversen Religionen, da sie auf die Verschiedenheit der jeweiligen Kulturräume, die ihre jeweils eigenen Gottheiten hervorbringen, zurückzuführen sind. Die Existenz von Gottheiten verdankt sich folglich dem menschlichen Wunsch und Unvermögen, selbst göttlich zu sein. „Könnte der Mensch, was er will, so würde er nun und nimmermehr einen Gott glauben, aus dem einfachen Grunde, weil er selbst Gott wäre“119. Er würde sodann den zuvor geschaffenen Gott wieder beseitigen, der seine Funktion zwar erfüllt hätte, nun aber überflüssig geworden wäre. In seinem funktionalistischen Ansatz von 1939 hingegen sieht Bronislaw Malinowski den Menschen eingebunden in einen Komplex von Kulturphänomenen, in denen sich das menschliche Verhalten äußert. Dieses wiederum wird durch die Bedürfnisse des Menschen gesteuert, allen voran durch die primären, biologischen Bedürfnisse, die der Selbst- oder Arterhaltung dienen. Um diese zu befriedigen, entwickelt sich ein System von Kultur, das seinerseits in der Entwicklung fortschreitet: Mit Hilfe von Gegenständen und Symbolen sollen die biologischen Defizite des Menschen auf instrumentelle Weise ausgeglichen und kompensiert werden. Zudem leiten sich von den primären Bedürfnissen akzessorische, kulturelle Bedürfnisse ab, die ihrerseits zu befriedigen sind. Insofern erscheint Kultur als „ein instrumenteller Apparat, durch den der Mensch in die Lage versetzt ist, mit den besonderen konkreten Problemen, denen er sich in seiner Umwelt und im

117 Feuerbach, L.: Theogonie nach den Quellen des classischen, hebräischen und christlichen Altertums, Leipzig 1857, S. 56. 118 Ebd., S. 57 f. 119 Ebd., S. 65.

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Lauf der Befriedigung seiner Bedürfnisse gegenüber gestellt sieht, besser fertig zu 120 werden“ . Im Zuge der Gewährleistung des Versorgungssystems einer Gemeinschaft eröffnen sich also auch technische, wirtschaftliche, ethische, gesetzgeberische und religiöse Bedürfnisse, die mittels der Kultur zu befriedigen sind. Der Religion – ebenso wie der Magie – als einem dieser akzessorischen Bedürfnisse schreibt Malinowski die Funktion zu, das rationale Denken zu ergänzen, das sich in Vorhersagungen als wenig verlässlich erwiesen hat. „Um die Lücken des menschlichen Wissens zu überbrücken und um die blinden Stellen bei der Beurteilung von Geschick und Bestimmung auszufüllen, kam der Mensch zur Annahme übernatürlicher Mächte.“121 Somit widmet sich die Religion menschlichen Grundproblemen und bietet in Glaubenssätzen Orientierungshilfe in der Welt und Hoffnung bei ausweglos erscheinenden, die Existenz betreffenden Situationen. Alltägliche Probleme hingegen fallen in den Zuständigkeitsbereich der rationalen Wissenschaft und – wenn auch in schwindendem Maße – der Magie. Folglich ergänzen sie sich zu einem harmonischen Gefüge und tragen auf ihre je eigene Weise „zur Lösung 122 der kulturellen Gesamtaufgabe“ bei. Analog zu den religiösen Bedürfnissen, da sie sich von den biologischen Mängeln ableiten, entstand der Glaube an die Existenz von Gottheiten als sekundäres Phänomen der Sorge des Menschen um die Erhaltung seiner selbst. Neben die nach der Funktion fragenden Theorien sind diejenigen zu stellen, die vom substanzialistischen Ansatz ausgehend die Religion gemäß ihrem Gegenstand definieren. Als ein solcher kann die Verehrung einer bzw. mehrerer Gottheiten betrachtet werden. Besonders in der abendländischen Tradition nimmt die Existenz einer Gottheit eine konstituierende Stellung ein, die wesentlich zur Religion gehört. Jedoch ist gemäß Friedrich Heiler „Religion [...] keine bloße Vorstellung von Gott, sondern Umgang mit dem in mannigfachen Erscheinungen gegenwärtigen Gott“123. Ein solcher Umgang kann sich in betender und verehrender Hinwendung zum göttlichen Gegenüber, in der Durchführung kultischer Riten sowie in der Annahme einer gemeinsamen (Heils-)Geschichte äußern. Aber auch die sittliche Lebensführung des Menschen mag als Ausdruck des Glaubens an Gott und der Orientierung an dessen Vorgaben erscheinen. Günter Lanczkowski geht in seiner Definition von Religion noch darüber hinaus, indem er konstatiert, dass sie „ein unableitbares Urphänomen [sei], eine Größe sui generis, die konstituiert wird durch die existentielle Wechselbeziehung zwischen der Gottheit einerseits, deren Manifestationen der Mensch erfährt, und

120 Malinowski, B.: Die Funktionaltheorie, in: ders.: Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur und andere Aufsätze, Frankfurt a. Main 1975, S. 19–44, hier S. 21 f. 121 Ebd., S. 42. 122 Stolz, F.: Grundzüge der Religionswissenschaft, 3., durchges. Aufl., Göttingen 2001, S. 30. 123 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 455.

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andererseits den Reaktionen des Menschen“ . Demnach ließe sich die Religion aufgrund ihrer Unableitbarkeit nicht auf eine ursprünglichere Größe zurückführen und als Urphänomen nicht von der Erfahrung Gottes als zum Menschen gehörend trennen. Diese Gottheit wird oftmals als personales Wesen wahrgenommen, das über einen Namen, eine bestimmte Gestalt sowie einen eigenen Willen verfügt. Meist agiert sie als Gegenüber des Menschen und verfügt über größere Kräfte und mehr Wissen als jener. In polytheistischen Religionen sieht sich die Gottheit zudem anderen, ähnlich gearteten Gottheiten neben- und gegenüber gestellt. Doch auch mit der Welt tritt Gott in eine Relation, indem er sie geschaffen hat und/oder weiterhin in ihr wirkt. In manchen Religionen allerdings, wie dem vielfach als Beispiel angeführten Buddhismus, spielen Gottheiten eine untergeordnete und eher marginale Rolle125, wenn nicht sogar ganz auf ihre Existenz und Verehrung verzichtet wird. Insofern wäre unter der Prämisse, dass eine Gottheit als ein wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil von Religion gelte, jenen Glaubensrichtungen die Titulierung ’Religion‘ abzusprechen. Dies ist auch das Ergebnis der Definition, die Wilhelm Schmidt 1930 in seinem religionsgeschichtlichen Vergleich „Ursprung und Werden der Religion“ für die subjektive Seite von Religion formuliert. Demnach ist sie „Wissen und Fühlen der Abhängigkeit von einem (oder mehreren) außerweltlichen persönlichen Mächten, zu denen man in ein beiderseitiges Verhältnis tritt“126. Solches trifft auf die späteren buddhistischen Ausformungen, wie den Mahāyāna zu, der die Vorstellung von Gottheiten aus dem Hinduismus übernahm und ihnen eine durchaus erlösende Funktion zuschreibt. Für den ursprünglichen Buddhismus zieht Schmidt den Schluss, dass er Philosophie statt Religion sei, und nimmt somit dessen Ausklammerung zu Gunsten des postulierten Religionsbegriffs billigend in Kauf. Angesichts der Schwierigkeiten jedoch, die Gottheit als zentrales und konstitutives Moment aller Religionen zu fassen, wird dieser Anspruch zu Anfang des 20. Jh. auf die Eigenschaft der Heiligkeit übertragen. Dieser Ansatz spricht dem Heiligen zu, diejenige religiöse Substanz mit universaler Gültigkeit zu sein, da es sowohl in theistischen als auch in Gott-losen Religionen anzutreffen sei. Somit erfolgt hier eine Unterordnung des Göttlichen unter das Heilige. Nathan Söderblom eröffnete 1913 mit dem Artikel „Holiness“ in der Encyclopaedia of Religion and Ethics die Auseinandersetzung um den Stellenwert des Heiligen in den Religionen und hält fest: „Holiness is the great word in religion; it is even more

124 Lanczkowski, G.: Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 1980, S. 23. 125 Vgl. die Gottheiten im Buddhismus, die lediglich eine Stufe im Geburtenkreislauf einnehmen, die zwar höher ist als die der Dämonen und Tiere, von der aus sie aber – anders als die Menschen – nicht ins Nirvana gelangen können. Stattdessen wird dem Buddha die Ehre der Götter zuteil, indem sie sich um sein Sterbelager versammelt haben (Mahaparinirvana-Sutra V, 4–6). 126 Schmidt, W.: Ursprung und Werden der Religion. Theorien und Tatsachen, Münster 1930, S. 3 f.

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essential than the notion of God“ . Daraus leitet er die Konsequenz ab, dass Religion auf Gottesbegriff und -existenz verzichten könne und trotzdem Religion bliebe. „Not the mere existence of the divinity, but […] its power, its holiness, is what 128 religion involves.“ Insofern kommt dem Heiligen in der Religion eine wesentlich höhere Bedeutung zu als der Gottheit, da manche Religionen durchaus ohne einen Gottesbegriff konstituiert sind. Wo aber Gottheiten existieren und verehrt werden, geschieht dies nach Söderblom als sekundäre Erscheinung von Religion und als spätere religionshistorische Entwicklung, die der Heiligkeit zeitlich nachfolgt. So skizziert er in seinem Werk „Das Werden des Gottesglaubens“ beispielsweise, wie sich aus der Wertschätzung eines Gegenstands die Verehrung einer Gottheit entwickelte. Indem nämlich jenes Objekt als Nahrung oder Kulturgut für den Menschen einen hohen Stellenwert einnimmt und ihm eine übermenschliche, besondere Wirkungen hervorrufende „Heiligkeitskraft“129 innewohnt, wird es mittels Riten zu bewahren und zu fördern gesucht. Aus der Ahnung des Übernatürlichen entwickelte sich sodann die Vorstellung einer zugehörigen und zuständigen Gottheit, wie im Falle von Getreide die griechische Göttin Demeter oder die mexikanische Maisgöttin Centéotl. Die Riten für den Gegenstand wurden daraufhin auf die Gottheit übertragen. Diese Nachzeitigkeit lässt sich auch daran beobachten, dass die Opferriten mancher Religionen auch ohne Anrufung und Vermittlung von 130 Gottheiten wirken. Söderbloms Arbeit trat jedoch in den Hintergrund angesichts der 1917 erfolgenden Veröffentlichung von „Das Heilige“, dem vielfach diskutierten Hauptwerk von Rudolf Otto. Ebenso wie vor ihm Schleiermacher verortet er die Wahrnehmung von Religion im Bereich des Gefühls, also im Irrationalen. Denn trotz rationaler Bemühungen, die Gottheit in klaren Begriffen zu definieren, erschließen und erschöpfen sie nicht das Wesen der Gottheit. Die Rationalität erfährt hier ihre Begrenzung durch das Irrationale, da Religion und das ganz Eigene „des religiösen Erlebens [...] nicht in ihren rationalen Aussagen aufgeht“131. Zwar übersteigt die religiöse Erfahrung die Rationalität, ist aber dennoch nicht antirational. Gleiches trifft auf das Heilige, das Numinose zu, indem es nicht nenn- und lehrbar ist, sondern ausschließlich durch Erörterung und Anregung ins Bewusstsein treten kann. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher hatte 1799 in seinen fünf Reden „Über die Religion“ seinen Religionsbegriff in Abgrenzung zu Metaphysik und Moral, zu 127 Söderblom, N.: Art. „Holiness (General and Primitive)“, in: ERE VI, 3. Aufl., 1955, S. 731–741, hier S. 731. 128 Ebd., S. 731. 129 Söderblom, N.: Das Werden des Gottesglaubens, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1929, Hildesheim u.a. 1979, S. 90. 130 Vgl. hierzu den Ritus, neue Bauten durch das Einmauern eines Lebewesens in ihrer Haltbarkeit zu steigern. Die Heiligkeitskraft des Lebens soll somit auf den Bau übergehen. Ein göttliches Eingreifen oder Mitwirken ist hierbei nicht vorgesehen. 131 Otto, R.: Das Heilige, S. 4.

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Spekulation und Praxis entfaltet. Er führt stattdessen die Religion auf die Erfahrung des Menschen zurück. „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, [...] von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen 132 lassen.“ Zugleich verortet er die Religion im Gemüt, das jene hervorbringt und 133 trägt, und kennzeichnet sie als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ . Das Erahnen jenes Unendlichen jedoch richtet sich auf Gott als das absolute und ewige Sein, das alles bedingt. Dementsprechend ist Gott auch als Ursprung des Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit anzusehen, das der fromme Mensch Gott gegenüber empfindet. In Auseinandersetzung mit Schleiermacher entwirft Otto, da ihm das von diesem formulierte Gefühl der Abhängigkeit zu wenig präzise und treffend er134 scheint , den alternativen Begriff des ’Kreaturgefühls‘. Hierin sieht er das Gefühl der Kreatur ausgedrückt, „die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht ge135 genüber dem was über aller Kreatur ist“ . Wie jenes übermächtige Gegenüber jedoch beschaffen ist, lässt sich nicht (in rationalen Begriffen) aussagen. Wenn es aber dem Menschen begegnet, reagiert dieser mit Scheu, der sodann das Kreaturgefühl als Wirkung nachfolgt. Auf die Übermächtigkeit und Überlegenheit des Gegenübers antwortet der Mensch also mit dem Gefühl seiner eigenen Abwertung zur schlechthinnig abhängigen Kreatur. Otto unterlegt seine Ausführungen mit dem Zitat Abrahams (Gen 18,27): „Ach siehe, ich habe mich unterwunden, zu reden mit dem Herrn, wiewohl ich Erde und Asche bin“. Indem Otto den Gegenstand des Heiligen dem des Göttlichen vor- und überordnet, postuliert er hierin das die Religionen wesentlich konstituierende Element. Es „lebt in allen Religionen als ihr eigentlich Innerstes und ohne es wären sie garnicht Religion“136. Zudem soll dem Menschen das Gefühl des Numinosen bereits a priori, gleichsam als Anlage des Geistes gegeben sein. Otto stellt daher fest, dass 132 Schleiermacher, F.D.E.: Über die Religion, Reden an die gebildeten unter ihren Verächtern, in der Ausgabe von R. Otto, 7., durchges. Aufl., Göttingen 1991, S. 49. 133 Ebd., S. 51. 134 Nach Otto übersieht Schleiermacher, dass wir in Bezug auf das Göttliche immer nur in Analogie sprechen können. Insofern wäre das Abhängigkeitsgefühl nur ein analoges, das sich qualitativ von den natürlichen Abhängigkeitsgefühlen unterscheiden müsste. Schleiermacher nehme hingegen nur graduelle Unterscheidungen vor. Des Weiteren kritisiert Otto, dass Schleiermacher Ursache und Reflex bzw. Wirkung des religiösen Gefühls verwechsele. Im Gefühl nehme der Mensch wahr, dass er selbst in eigentümlicher Weise bestimmt werde und abhängig sei. Weiter schließe er auf die Ursache jenes Gefühls und somit auf Gott als dessen Urheber. Folglich sei das religiöse Gefühl dem Bewusstsein von Gott zeitlich als Ausgangspunkt vorgeordnet, wobei nach Otto hier aber eine Nachzeitigkeit in Form der Wirkung vorliegen müsste. Darüber hinaus attestiert er Schleiermacher eine begriffliche Unschärfe. Indem nämlich die Abhängigkeit auf Seiten des Menschen eine Allursächlichkeit auf Seiten Gottes vorsehe, werde diese Beziehung rational fassbar und verlasse die Ebene des Irrationalen und somit des Gefühls (vgl. Otto, R.: Das Heilige, S. 9–11. 23). 135 Ebd., S. 10. 136 Ebd., S. 6.

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in der Gattung Mensch die Vorbestimmtheit zu Religion angelegt und somit universal, d.h. von der Art und Ausprägung der Religion selbst unabhängig ist. Die Veranlagung wäre sogar durch Ahnen und Suchen zu einem religiösen Trieb zu entwickeln. Bei einer Begegnung des Menschen mit dem Heiligen ist jenem sodann das Verständnis und die Erkenntnis des Numinosen ebenfalls a priori möglich. Allerdings nimmt Otto keine inhaltliche Füllung bzw. Definition des Numinosen vor, sondern hält es bewusst abstrakt. Stattdessen umschreibt er es via negationis und ausgehend von den Reaktionen, die es beim Menschen hervorruft (s.u.). Auf diese Weise lässt sich das Moment des Heiligen in allen Religionen, so auch im Buddhismus, wiederfinden und sogar bei AtheistInnen, die ein (un-) bestimmtes Gefühl des Ergriffenseins verspüren. Demnach liegt „die Breitenwirkung Ottos [...] in dem hohen Abstraktionsgrad des von ihm verwendeten Begriffes begründet“137. Trotz der vielfachen Rezeption und Zustimmung zog der Ansatz Ottos zahlreiche Kritik auf sich, die bereits kurz nach der Veröffentlichung ein- und sich bis in neuere Zeit fortsetzte. So merkt Joseph Geyser 1921 in seiner philosophischen Studie „Intellekt oder Gemüt?“ an, dass Otto mit pseudo-psychologischen Begründungen argumentiere, wenig differenziert urteile oder sogar ganz auf die Begründung seiner Aussagen verzichte. Während Otto die Wahrnehmung Gottes strikt auf den irrationalen Bereich, nämlich das Gefühl beschränkt, postuliert Geyser ausdrücklich, dass „der Gebrauch der Verstandeskräfte genügt, um sich Gottes bewußt zu werden, ihn zu verehren und sich ihm hinzugeben, ja auch, um in heiliger Scheu vor ihm zu erbeben“138. Darüber hinaus lässt Otto z.B. im Dunkeln, warum er das menschliche Bewusstsein vom übermächtigen Gegenüber mit dem Numinosen identifiziert und wieso sich das Gefühl der Abhängigkeit vom Heiligen qualitativ unterscheidet von anderen erlebten, natürlichen Gefühlen. Friedrich Karl Feigel greift Geysers Kritik auf und führt sie 1948 in seiner Abhandlung „Das Heilige“ weiter. Dementsprechend fügt er u.a. hinzu, dass das numinose Gefühl dem Qualitätsunterschied zum Trotz dennoch ein natürliches Gefühl sein könne, und fragt, „was [...] man sich überhaupt unter ‚nicht natürlichen‘ Gefühlen vorstellen“139 solle. Außerdem bemängelt er Ottos durchgängige Unklarheit und das Belegen von Behauptungen wiederum durch Behauptungen. Die Suche nach einer universalen religiösen Grunderfahrung sowie deren Nachweis wurde dennoch fortgeführt, wie die Forschung von Mircea Eliade belegt, der das Heilige in seiner Ganzheit und Vielfalt darzustellen beabsichtigt. Mit seinem 1949 erschienenen Werk „Die Religionen und das Heilige“ bietet er einen 137 Sundermeier, T.: Was ist Religion? Religionswissenschaft im theologischen Kontext. Ein Studienbuch, Gütersloh 1999, S. 16. 138 Geyser, J.: Intellekt oder Gemüt? Eine philosophische Studie über Rudolf Ottos Buch „Das Heilige“, Freiburg i. Breisgau 1922, S. 16. 139 Feigel, F.K.: Das Heilige. Kritische Abhandlung über Rudof Ottos gleichnamiges Buch, 2., durchges. Aufl., Tübingen 1948, S. 14.

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umfassenden Einblick in mannigfaltige Formen von Hierophanien in verschiedenen Religionen. Hierbei gliedern sich die Erscheinungsweisen des Heiligen in je eine kosmische, biologische und räumliche Ebene sowie in die des Mythos. Solche Unterteilung sucht nach den Strukturen, in denen sich das Sakrale manifestiert, um sodann allgemeiner „aufzuzeigen, worin Religion der Sache nach besteht und 140 was sie offenbart“ . Dazu geht Eliade von dem Unterschied zwischen dem Sakralen und dem Profanen aus und konstatiert, dass das Sakrale das Profane nicht nur zurückdränge, sondern auch aufzuheben beabsichtige. Als bevorzugte Materialquelle des Belegens und Veranschaulichens der religiösen Phänomene schöpft Eliade aus dem indischen Kulturraum, was seiner intensiven Beschäftigung mit Indien bereits zu Studienzeiten geschuldet sein dürfte. Insgesamt stoßen zwar die beiden hier skizzierten substanzialistischen Ansätze auf Schwierigkeiten, doch finden beide – sei der Anspruch auf Universalität aufgrund der Gottesidee oder des Heiligen formuliert – sowohl AnhängerInnen als auch GegnerInnen. Solche Unterschiedlichkeiten und Kontroversen mögen daher rühren, dass „die ‚Substanz‘ von Religion gerade nicht konstant, sondern in hohem Maße variabel“141 ist. Im Christentum wie in der Umbanda sind sowohl die Existenz eines Gottes als auch Ausprägungen des Heiligen zu konstatieren, allerdings mit unterschiedlichem Stellenwert für die jeweilige Religion. Für das Christentum sind beide Elemente als wesentliche Konstituenten zu bewerten. Gott ist nicht nur Schöpfer und Lenker der Welt, sondern steht in Beziehung zum Menschen, dessen Heilsziel im Zusammensein mit Gott besteht. Das Heilige wiederum begegnet nicht zuletzt im Heiligen Geist, der dritten trinitarischen Person, der unter den Menschen wirkt. Gemäß dem umbandistischen Glauben hingegen gilt Gott ebenfalls als Schöpfer, doch hat er sich von der Welt zurückgezogen. Daher erfolgt aktuell zwar noch dessen rituelle Anrufung als höchster Macht, eine Verehrung und Hinwendung in Nöten unterbleibt aber. Diese kommt dagegen den zahlreichen Geistern zu, die Ratschläge erteilen und sich in menschlichen Medien inkorporieren, in denen das Heilige direkt begegnet. Aufgrund der verschiedenen Gewichtung, die diese beiden Religionen Gott jeweils zuschreiben, richte ich in dieser Arbeit das Hauptaugenmerk auf das Heilige, das in beiden Religionen eine gleichermaßen konstitutive Position einnimmt.

2.2 Momente des Heiligen Der Grad der Rezeption und Diskussion um Rudolf Ottos Schrift „Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationa140 Eliade, M.: Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte (Gesammelte Werke in Einzelausgaben), Frankfurt a. Main 1986, S. 15. 141 Stolz, F.: Grundzüge der Religionswissenschaft, S. 22.

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len“ spiegelt sich u.a. in der Häufigkeit ihrer Drucklegung wider. So erschien bereits 1926, weniger als zehn Jahre nach der ersten Veröffentlichung, die 15. Auflage. 1963 erreichte das Werk die 35. Auflage, dem sich sodann Sonderausgaben anschlossen, die jedoch ihrerseits wieder nachgedruckt wurden. Das jüngste Erscheinungsdatum ist 2004 anzusetzen. Dass Otto auch im fremdsprachigen Ausland rezipiert wurde und wird, zeigen die Übersetzungen in zahlreiche Sprachen 142 wie neuerdings (2007) ins brasilianische Portugiesisch. Des Weiteren wird die anhaltende „Diskussion um das ‚Heilige‘“ vom gleichnamigen Aufsatzband belegt, der 1977 erschien und im Abschnitt ’IV. Die Auseinandersetzung um Rudolf Ot143 tos Theorie des Heiligen‘ explizit und in fünf Beiträgen thematisiert. Aufgrund der hohen Resonanz, die bejahend wie ablehnend auf Ottos Ansatz hin erfolgte, ist diesem die Bezeichnung als ’klassisch‘ nicht abzusprechen. Sein Hauptwerk, in dem er vielfach, zustimmend und kritisierend, auf Schleiermachers „Reden über die Religion“ zurückgriff, wurde letztlich selbst mit diesen verglichen (z.B. von Adolf von Harnack). Zudem ist es Ottos Leistung, dass „der Schleierma144 chersche Religionsbegriff in eine universelle Perspektive gerückt“ wurde. Zwar ist jene Theorie heute nicht mehr als allgemein gültig anzusehen, aber dennoch ist das Verdienst Ottos, die Momente des Numinosen zusammenzustellen und zu definieren bzw. zu umschreiben, nicht in Frage zu stellen. Aus diesem Grund schließe ich mich in der folgenden Darstellung den Ausführungen Ottos an, um die Merkmale des Heiligen zu skizzieren. Ausgehend von dem bereits genannten Kreaturgefühl, das der Mensch bei der Begegnung mit dem Numinosen erlebt, sowie von weiteren Gefühlsreaktionen des Menschen sucht Otto auf deren Auslöser zu schließen. Diesen erblickt er im Gefühl des Mysterium tremendum, des schauervollen Geheimnisses, das im Gegensatz zu allem bereits Bekannten steht. In seiner Fremdheit und Unerklärtheit erscheint es als das ’Ganz Andere‘, das Otto nicht nur als (auch begrifflich) unfassbar, sondern auch als paradox und antinomisch charakterisiert. Dennoch oder gerade deswegen ruft es beim Menschen erstarrendes Staunen hervor, da er sich einem übernatürlichen, sich gänzlich von ihm selbst unterscheidenden Objekt gegenüber sieht. Zugleich löst es tremor (’Zittern, Beben‘) aus, eine religiös qualifizierte Furcht oder Scheu – nach Otto das „Gefühle eines ‚Unheimlichen‘, das fremd und neu in den Gemütern der Urmenschheit auftauchte, [von dem] ist alle religionsgeschichtliche Entwicklung ausgegangen“145. Während sich dieses Grauen, das außerhalb des natürlichen Bereichs liegt, in primitiven Religionen als dämoni142 Otto, R: O sagrado: Os aspectos irracionais na noção do divino e sua relação com o racional, São Leopoldo u.a. 2007. 143 Colpe, Carsten (Hg.): Die Diskussion um das „Heilige“, Darmstadt 1977. 144 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 12. 145 Otto, R.: Das Heilige, S. 16. Das Moment des Unheimlichen lässt Otto hier bereits anklingen, indem er es – ohne dies weiter auszuführen – in die Nähe von Furcht, Grauen und Scheu platziert. Eine gesonderte Behandlung folgt allerdings unter dem Aspekt des Ungeheuren; vgl. S. 53 ff.

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sche Scheu äußert, ist es in höher entwickelten Religionen als Götter-Glaube oder gar reiner Gott-Glauben anzutreffen – wenn auch in fortschreitend geadelter Form. Allen drei Ebenen von Religion ist der unheimliche, unnahbare und furchtbare Charakter des Numens, der den Menschen erschauern lässt, zu Eigen. Da das Kreaturgefühl die eigene, menschliche Niedrigkeit bewusst macht, impliziert es majestas, die Übermacht bzw. Übergewalt des Gegenübers als auslösendes Moment. Dieses wird zudem – in Analogie zu Schleiermacher – als schlechthinnig erfahren und durch die Furcht zu tremenda majestas ergänzt. In Form von Aktivität, Dynamik und Eifern wirkt sich ein weiterer wesentlicher und wesenhafter Aspekt des Heiligen auf den Menschen aus: die Energie. Indem sie „Lebendigkeit Leidenschaft [...] Wille Kraft Bewegung Erregtheit Tätigkeit Drang“146 bedeutet, ist auch sie auf jeder Stufe von Religion vertreten. Den bisherigen Ausführungen zufolge lässt sich das Numinose als ein Furcht erregendes, übermächtiges und energiereiches Ganz Anderes beschreiben, wenn es auch aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Ebene des Irrationalen nicht zu (be-) greifen ist. Solche wirkungsvollen Eigenschaften drängen den sie erfahrenden Menschen von sich ab, so dass er zurückweichen und sich abwenden müsste. Allerdings konstatiert Otto für die Religionsgeschichte – ohne dies anhand von Beispielen zu untermauern – eine gleichzeitig auf den Menschen wirkende Anziehungskraft. Er fühlt sich zum Numinosen hingezogen und von ihm berückt. Hierin erscheint ein weiterer Aspekt des Heiligen, nämlich als fascinans, das lockende Wunderbare und reizende Wundervolle. Lobpreisend und andächtig, feierlich und überschwänglich kann die menschliche Reaktion erfolgen und spiegelt „ein seltsam mächtiges Erleben eines Gutes das nur die Religion kennt und [...] in jedem echten Gefühl religiöser Beseligung [lebt]“147 wider. Aus dem Zusammenspiel von schauervollem Tremendum und wundervollem Fascinans lässt sich eine so genannte Kontrast-Harmonie ableiten. Diese kennzeichnet den Doppelcharakter des Mysteriums des Heiligen, der jedoch inhaltlich positiv zu bewerten ist. Solch positive Eigenschaften schreibt Otto, die Ausführungen über das Moment des Fascinans abschließend, dem Göttlichen an sich zu, indem er es als „das Höchste 148 Stärkste Beste Schönste Liebste [...] zu allem, was ein Mensch gedenken mag“ , schildert. Ein nächstes, bereits angedeutetes Moment des Numinosen stellt dessen Ungeheuerlichkeit dar. Der zu Grunde liegende Begriff ist im griechischen δεινός gege146 Ebd., S. 27. 147 Ebd., S. 48 f. 148 Ebd., S. 52. Dieser Formulierung schließt Otto an, „daß Es [das Göttliche] nicht nur Grund und Superlativ sei alles Gedenkbaren“ (ebd.), womit er stark an den Gottesbegriff Anselms von Canterbury erinnert: Gott sei „etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann“. Trotz der Ähnlichkeit verfolgen beide Theologen unterschiedliche Absichten. Während Anselm mittels dieses Ausspruchs das Dasein Gottes zu beweisen beabsichtigt, zielt Otto auf eine annähernde Beschreibung des Göttlichen in menschlichen analogen Begriffen, wobei Gott aber weiterhin „eine Sache für sich bleibt“ (ebd.).

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ben, das zum einen etwas Furchtbares und zum anderen etwas Großes, Gewaltiges bezeichnet. Hierin wiederum kann das Adjektiv seinen Bezugsgegenstand als erstaunlich, tüchtig oder Ehrfurcht gebietend charakterisieren. Jenen Ausdrücken ist nach Otto die Bedeutung des Unheimlichen immanent, was beim Menschen das Gefühl des Nicht-geheuer-seins angesichts der Begegnung mit dem Numinosen auslöst. Die räumliche Größe spielt hier eine untergeordnete, sekundäre Rolle. Ausgehend vom Kreaturgefühl des Menschen lässt sich noch ein weiterer Rückschluss auf den dieses verursachenden Gegenstand ziehen. Indem der Mensch nämlich seine eigene Abwertung und die seines Daseins erfährt, stellt sich bei ihm – nach Ottos These – zugleich das Gefühl der Profanität ein. Während der Mensch dieses als seinen Unwert erachtet, erblickt er in dem ihm entgegengesetzten und über ihm stehenden Numinosen den absoluten Wert. Diesem spricht er Heiligkeit zu („Tu solus sanctus“) und huldigt ihm demütig in Lobpreis, Respekt und Gehorsam. Solches Verhalten ist allerdings nicht als Folge von Zwang seitens des Numinosen zu werten, sondern wird vom Menschen selbst aus „innerlichste[r] obligatio, [...] aus anerkennender Beugung gegenüber heiligstem Wert“149 vollzogen. Um aber diesen Wert begrifflich zu fassen, führt Otto die Bezeichnung als Augustum ein und bestimmt ihn zum Wesensmoment nicht nur des Numinosen, sondern auch von Religion.

2.3 Begegnung mit dem Heiligen 2.3.1 Aufgabe und Methoden der Religionsphänomenologie Um zur Bestimmung des Wesens von Religion zu gelangen, entwickelte sich im 19. Jh., basierend auf dem Vergleich von Denominationen und unter Berücksichtigung der historisch-philologischen Perspektive, die religionswissenschaftliche Disziplin der Religionsphänomenologie. Anders als der ihr vorangehende religionsgeschichtliche Vergleich jedoch, der auf die Ablehnung oder Aneignung fremder religiöser Elemente abzielte, dient der Vergleich der Religionsphänomenologie als hermeneutisches Mittel. Auf diese Weise soll das Wesen von Religionen und religiösen Erscheinungen erfasst und verstanden werden. Darüber hinaus zeigt diese Disziplin die Vielschichtigkeit von Religion auf und dient als Hilfestellerin, „die Religion in ihrem Selbstverständnis zu verstehen und ihr Sinnpotential auszusagen, das Leben hier und in seinem Transzendenzbezug zu bewältigen“150. Hierin verhindert die Religionsphänomenologie die Reduzierung von Religion auf ihre Funktion in der und für die Gesellschaft sowie als bloßer Kulturträgerin.

149 Ebd., S. 69. 150 Sundermeier, T.: Was ist Religion?, S. 30.

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Als Ausgangspunkt solcher Untersuchungen fungieren die Phänomene, also „die Mittel religiöser Botschaft, sich mitzuteilen, und [...] diejenigen, diese Mittei151 lung aufzunehmen“ . Hierbei richtet sich das Interesse auf die religiösen Intentionen der Phänomene, die die Verbindung zwischen dem Sakralen und dem Profanen herstellen und gewährleisten. Zugleich unterscheiden sie sakrale Handlungen und Objekte von ihren profanen Entsprechungen, so dass z.B. der Bibel im Christentum der Wert des heiligen Buches zukommt, der sie von anderen geschichtlichen oder künstlerischen Werken abhebt. Die einzelnen religiösen Erscheinungsformen lassen sich trotz ihrer je eigenen Ausprägungen, die jedoch unter dem vergleichenden Blickwinkel nicht übersehen oder gar nivelliert werden dürfen, in Kategorien zusammenfassen. Dahingehend ist es Aufgabe der Religionsphänomenologie vergleichend zu betrachten, „abstrakte, idealtypische Begriffe zu bilden und Regelmäßigkeiten, Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung aufzuweisen“152. Das religiöse Phänomen, das sich dem Menschen zeigt, wird von dem/r PhänomenologIn reflektiert, mit bisherigen Kenntnissen verglichen, strukturiert und beschrieben. Bei dieser Vorgehensweise ist methodisch allerdings eine wertneutrale Haltung angemessen, die der Rolle eines/r ZuhörerIn entspricht. Eine beurteilende und wertende Klassifikation und Erläuterung unterbleiben jedoch ebenso wie die Identifikation mit den AnhängerInnen der untersuchten Religionen. Denn im Gegensatz zur Religionsphilosophie fragt die Religionsphänomenologie nicht hinter die Erscheinungsformen zurück, sondern „kümmert sich nur um die Phänomene, d.h. um das Sich Zeigende; es gibt für sie kein ‚Dahinter‘ des Phänomens“153, so dass sie sich auf allein dessen Intention und Bedeutung beschränkt. Zudem werden die Erscheinungen nicht einer rein rationalen und naturwissenschaftlichen Betrachtung unterzogen, denn „eine Entmythologisierung gehört nicht zu den legitimen Aufga154 ben der Religionsphänomenologie“ . Somit praktiziert sie eine objektive Zurückhaltung (’Epochē‘) und vermeidet subjektive Urteile. Jene Verfahrenweise der Epochē birgt allerdings methodische Schwierigkeiten, da jede/r BeobachterIn eigene Voraussetzungen und Interessen notwendigerweise mitbringt. Indem er/sie sich innerlich den Phänomenen verschiedener Religionen zuwendet, nimmt er/sie zugleich einen wertenden Standpunkt ein. Hierbei wird man von dem Wunsch angetrieben, fremdreligiöse Erscheinungsformen möglichst gänzlich zu durchdringen und zu verstehen. Dies kann jedoch extreme Folgen nach sich ziehen, nämlich zum einen das vollständige Hineinversetzen und Aufgehen in der untersuchten Religion bei gleichzeitiger Abwendung von den eigenen religiösen Wurzeln. Diesem Exotismus steht zum anderen die Identifizierung 151 Stolz, F.: Grundzüge der Religionswissenschaft, S. 217. 152 Wach, Joachim: Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung, neu hrsg. u. eingel. v. C. H. Grundmann, Waltrop 2001, S. 186. Wach spricht hier von der formalen Religionssystematik. 153 Leeuw, G.v.d.: Phänomenologie der Religion, 2., durchges. u. erw. Aufl., Tübingen 1956, S. 774. 154 Lanczkowski, G.: Einführung in die Religionsphänomenologie, Darmstadt 1978, S. 15.

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fremder Elemente mit den eigenen bzw. mit bekannten gegenüber, was ebenso zum Missverstehen führen kann wie eine Dämonisierung des Unbekannten. Mit dem Ziel des Verstehens ist die „Epochē aber […] nicht das Verhalten des kalten Zuschauers. Sie ist im Gegenteil der liebevolle Blick des Liebhabers auf den gelieb155 ten Gegenstand.“ Aufgrund der letztlichen Unmöglichkeit völliger Indifferenz gibt es zwar keine vollkommene Durchführung der Epochē, aber immerhin die Bemühung um eine größtmögliche Annäherung. Um mithilfe des religionswissenschaftlichen Vergleichs zum Wesen von Religion und zur Intention der Phänomene vorzudringen, eröffnen sich wiederum verschiedene Methoden mit differierenden Schwerpunkten und Ergebnissen. So ist es bereits häufig praktiziert worden, die Religionen nach geografisch-historischen 156 Aspekten zu ordnen. Auf diese Weise werden die Religionen eines Gebietes und in ihrer Abhängigkeit zusammengestellt, von der eher primitiven Religion zur weiter entwickelten fortschreitend. Eine andere Methode begegnet in der Klassifizierung von Religionen gemäß unterschiedlichen Typen, wie sie auch in religionsphilosophischen und -psychologischen Werken Anwendung findet. So fungiert beispielsweise der Gottesbegriff als distinguierendes Merkmal, das die monotheistischen von den heno- oder pantheistischen Religionen trennt. Ebenso werden Unterscheidungen entsprechend dem Verhältnis zur Welt (sei es weltbejahend oder -verneinend), den psychologischen Spezifika (als mystische, ästhetische oder rationale Religion) sowie unter soziologischer Perspektive (als Stammes-, Reichs- oder Universalreligionen) vorgenommen. Beide Methoden bezeugen die hohe Varietät und Vielfalt von Religion, indem diese hinsichtlich ihren jeweils gemeinsamen und unterschiedlichen Strukturen nebeneinander gestellt werden. Jedoch neigt der breit gefächerte Überblick zum Verlust der Tiefendimension und der Frage nach dem allen Religionen gemeinsamen Wesen. Solche Abschweifungen beabsichtigt eine dritte, von Friedrich Heiler konzipierte Methode zu umgehen, wenn sie die Religionen in ihrer Gesamtheit hinsichtlich der Erscheinungen, Vorstellungen und Erlebnisse untersucht, die ihrem Gegenstand entsprechen.157 Dieses Modell ist in Form konzentrischer Kreise zu denken, die sich um die göttliche Wirklichkeit als den Mittelpunkt der Religion gruppieren. Als Deus absconditus bleibt die Göttlichkeit dem Menschen in ihrem Myste155 Leeuw, G.v.d.: Phänomenologie der Religion, S. 783 [Hervorhebung weggelassen]. 156 Vgl. u.a. das Werk des Begründers der Religionsphänomenologie P.D.C.d.l. Saussaye: Lehrbuch der Religionsgeschichte, 2 Bde., Freiburg i. Breisgau 1887/9; H.v. Glasenapp: Die fünf grossen Religionen, 2 Bde., Düsseldorf 1951/2. 157 Vgl. Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 19 ff. Heiler geht von diesem Modell aus, um durch die von ihm postulierten Welten der Religion auf ihr Wesen zu schließen. In seiner additiven Darstellung gelingt ihm allerdings nicht, zu diesem Wesen vorzudringen („Auf der Suche danach sind die älteren Phänomenologen bis hin zu F. Heiler gescheitert“, Sundermeier, T.: Was ist Religion?, S. 23). Aber dennoch ist Heiler die Leistung der umfangreichen Zusammenstellung nicht abzusprechen, in der er die mannigfaltigen Erscheinungsformen unzähliger Religionen systematisch und differenziert ordnet.

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rium gänzlich unzugänglich, wohingegen sie sich als Deus revelatus erfahrbar macht. Aber obwohl die göttliche Wirklichkeit vom Menschen weder gänzlich zu fassen noch zu sagen ist, entsprechen dessen Ausdrucksformen jener Göttlichkeit in einer analogia entis. Der innere Kern der Religion wird von drei nacheinander zu durchschreitenden Kreisen umgeben, die trotz der vorgenommenen Separierung und Aufgliederung nicht losgelöst und unabhängig voneinander existieren, sondern in konstitutiver, enger Verbindung stehen. Den äußersten Ring bilden die sinnlichen Erscheinungen. Hierin ist „das institutionelle Element der Religion“158 zusammengefasst, das dem Menschen sinnenhaft wahrnehmbar begegnet und einen von den Sinnen getragenen Umgang mit der Göttlichkeit ermöglicht. Dementsprechend sind hier Kultgegenstände, der heilige Ort und die heilige Zeit ebenso zu verorten wie die heiligen Menschen und Gemeinschaften. Zudem erscheint das Heilige in Riten und Kulthandlungen sowie in heiligem Wort und heiliger Schrift. Von dieser Ebene ausgehend gelangt man zur geistigen Vorstellungswelt, die das rationale Moment der Religion repräsentiert. Hier werden Gedanken, Bilder und Ideen entfaltet, die Gott selbst, seine Offenbarung und Schöpfung sowie die Erlösung und die letzten Dinge betreffen. Am nächsten an der göttlichen Wirklichkeit ist die psychische Erlebniswelt, das mystische Element, angesiedelt. Sie verkörpert jene „religiösen Wertgefühle, welche bei der Begegnung des Menschen mit heiligen Objekten und beim Vollzug der heiligen Handlungen [d.h. mit der sinnlichen Erscheinungswelt] ausgelöst werden“159. Der Mensch reagiert mit Furcht und Ehrfurcht, Freude und Eifer sowie Liebe, Glaube und Hoffnung, die sich auf das Göttliche richten. Doch er kann auch zu außerordentlichen Erlebnissen gelangen wie Inspiration, Vision, Audition, Glossolalie oder Ekstase, die sich auch körperlich auswirken. 2.3.2 Das Erscheinen des Heiligen in der profanen Welt Indem Rudolf Otto das Numinose als das ’Ganz Andere‘ benennt, drückt er die Unmöglichkeit aus, es begrifflich und erschöpfend zu fassen. Zudem verdeutlicht er die Distanz und den Unterschied des Heiligen zur menschlichen Welt und Umgebung. Dabei spielt es eine eher marginale Rolle, wie geartet das Numinose ist, ob als Gottheit oder unpersönliche Macht. Denn sowohl den Religionen, die einen Gottesbegriff kennen, als auch den Religionen ohne einen solchen (sofern ihnen der Status Religion zu sein nicht abgesprochen wird), ist dieser Gegensatz wesentlich eigen. So erachtet auch Söderblom „real religion may exist without a definitive conception of divinity, but there is no real religion without a distinction between holy and profane“160. Somit stehen sich also das Heilige, verbunden mit dem religi158 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 19. 159 Ebd., S. 21. 160 Söderblom, N.: Art. „Holiness“, S. 731.

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ösen Leben, und das Profane, verbunden mit dem weltlichen Leben, gegenüber. 161 Doch in genau dieser profanen Welt mit ihren „Fenstern zur Transzendenz“ begegnet das Heilige dem Menschen – trotz der unendlichen Differenz. Der Mensch nimmt die konkrete Gegenwart des Numinosen auf irrationale Weise wahr und reagiert auf diese Begegnung mit unterschiedlichen Gefühlen, die wiederum auf Momente des Heiligen zurückschließen lassen. Damit der Mensch jedoch zur Kenntnis der numinosen Macht gelangen kann, bewegt diese nicht nur sein Gefühl, sondern zeigt sich ihm auch auf plastische, sinnenhaft wahrnehmbare Weise. Solche Hierophanien gehören nach der Heilerschen Kategorisierung in den Bereich der Erscheinungswelt, da sie sichtbar, hörbar und ertastbar sind.162 Das Heilige erscheint und manifestiert sich somit in der profanen Umgebung des Menschen, bleibt allerdings gänzlich dem Profanen verschieden. Eine solche Hierophanie kann sich in Gegenständen wie Lebewesen ereignen, die einerseits ganz anders werden, nämlich heilig, andererseits aber bleiben, was sie bisher waren. Heilige Steine offenbaren somit das Numinose, sind aber weiterhin Steine und aus profaner Sichtweise nicht von anderen Steinen unterschieden. Wer in einem Stein hingegen das Heilige erkennt, sieht „seine unmittelbare Realität in eine übernatürliche verwandelt“163 und verehrt ihn darumwillen. Diese Verehrung jedoch gilt nicht dem Stein in seiner Eigenschaft als Stein, sondern dem sich darin manifestierenden Heiligen. Indem es sich des Steines bedient, zeigt sich dem/r religiösen BetrachterIn im Stein nunmehr das Ganz Andere. Aufgrund der Vielzahl der Religionen eröffnet sich eine Vielfalt an Hierophanien, dank derer auf Aussagen hinsichtlich ihrer Modalität zurückgeschlossen werden kann. Zudem belegen sie das mannigfaltige und universale religiöse Welterlebnis der Menschen, die trotz der sie umgebenden Profanität in einem geheiligten Kosmos leben können. In dieser Fülle sind lokale wie überregionale, wenn nicht gar Kulturen übergreifende Phänomene anzutreffen. Während beispielsweise der Fuji nur den JapanerInnen als heiliger Berg gilt, ist der Gedanke des göttlichen Urpaares Himmel und Erde in der Mythologie u.a. in Afrika und Indonesien sowie bei den IndianerInnen und GriechInnen verortet. Jedoch bleibt zu beachten, dass das Heilige an die Situation des Menschen gebunden ist, in der es sich ihm offenbart. Da diese Situation aber nur von begrenzter Dauerhaftigkeit ist und der Hierophanie somit das Moment des Historischen innewohnt, ist auch deren Gültigkeit auf einen bestimmten Zeitraum terminiert. So erhält z.B. die kultische 161 Berger, P.L.: Sehnsucht nach Sinn, Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit, 2. Aufl., Frankfurt a. Main u.a. 1995, S. 147. 162 Demnach müssten auch Visionen und Auditionen zur Erscheinungswelt zählen, da auch sie den Sinn des Sehens bzw. Hörens reizen. Dennoch erachtet Heiler sie als – immerhin außergewöhnliche –religiöse Erlebnisformen, da sie eines wahrnehmbaren Objekts ermangeln, so dass das Gegenüber halluziniert wird. Auch die in diesem Rahmen stattfindenden Zwiegespräche führt der Mensch „mit der vermeintlich gegenwärtigen höheren Macht“ (Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 553 [Hervorhebung S.P.]). Eine Hierophanie ereignet sich folglich nicht. 163 Eliade, M.: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957, S. 9.

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Verehrung der Mutter Erde in einer vom Ackerbau geprägten Gesellschaft eine größere Intensität und Ausgestaltung als in voragrarischer Zeit. Die jeweilige Hierophanie kann also durch eine konkurrierende abgelöst werden, die in umfas164 senderer Weise „eine universelle Modalität des Sakralen darstellt“ . Insofern stehen neben den lokalen und situationsbezogenen die allgemeinen und universellen Formen der Manifestation des Heiligen. Derjenige Mensch, dem sich das Heilige in außergewöhnlichen Phänomenen offenbart, nimmt eine besondere, nicht erklärbare Macht wahr, die die menschliche und natürliche Sphäre übersteigt. Sie erscheint als „geheimnisvolles Zentralreservoir aller mystischen Kräfte, als eine Art allgegenwärtigen, unsichtbaren Flui165 dums“ . Nicht zuletzt aufgrund des fremdartigen und unergründlichen Charakters jener heiligen Kraft wirkt sie zudem ambivalent, nämlich „zugleich wertvoll 166 und gefährlich, segenspendend und fluchbringend“ . Eine solche Heiligkeitskraft ist in zahlreichen Religionen – verbunden mit individuellen Ausdifferenzierungen – unter unterschiedlichen Termini existent: ’wakanda‘ (bei den Sioux), ’ngai‘ (bei den Massai), ’joja‘ (bei den AustralierInnen), ’axé‘ (bei den Afro-AmerikanerInnen) oder ’heill‘ (bei den GermanInnen). Der in die Religionswissenschaft übernommene Begriff ’mana‘ stammt von den MelanesierInnen, die damit eine mysteriöse, fließende Kraft bezeichnen, die sich zwar physisch äußert, aber übernatürlicher Natur ist. Mana kann von Individuen besessen und weitergegeben werden, ohne dass es selbst – personale oder impersonale – Gottheit wäre. Demnach können Steine, die im Ackerland liegen, als Träger von Mana eine gute Ernte bewirken. Letztlich wohnt all jenen Objekten Mana inne, die der Mensch als schöpferisch, wirkungsvoll und dynamisch erfährt. Aber auch dem Menschen selbst ist es möglich, Mana zu erlangen, um es sodann Nutz bringend anzuwenden, nämlich durch Opferung eines Lebewesens. Entsprechend der von Otto konstatierten Kontrast-Harmonie wirkt das Sakrale nicht nur berückend und attraktiv. Denn während man einerseits Nähe und Anteil am Heiligen sucht, fürchtet man anderseits die Integration in die andere, höhere ontologische Sphäre, die das Verlassen des profanen Bereichs bedeutet. Das menschliche Verhalten dem Heiligen gegenüber erscheint somit ambivalent, wobei jedoch auch das Sakrale selbst einen ambivalenten Charakter hat. Manche Sprachen belegen dies durch die Doppeldeutigkeit des Begriffs, wie z.B. im lateinischen ’sacer‘ (’geweiht, heilig‘ und ’verwünscht, verflucht‘). Sowohl das Heilige als auch das Unreine167 gehören nicht der profanen Welt an, weshalb sie von dieser isoliert sind und der Kontakt gefahrvoll und folglich verboten ist. Das Prädikat solcher 164 165 166 167

Eliade, M.: Die Religionen und das Heilige, S. 25. Schmidt, W.: Ursprung und Werden der Religion, S. 153. Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 29. Zur Zusammengehörigkeit und Differenzierung der Begriffe ’heilig‘ und ’unrein‘ vgl. Wundt, W.: Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte, Bd. 2: Mythus und Religion, 2. Teil, Leipzig 1906, S. 308–318.

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Außerordentlichkeit kann Lebewesen, Gegenständen sowie Handlungen zukommen, die sodann mit dem polynesischen Terminus ’tabu‘ bezeichnet werden. Der Kategorie des Hervorgehobenen zugeordnet und somit tabuisiert, sind Hierophanien, fremdartige Phänomene und außergewöhnliche Situationen bzw. Elemente im Leben des Menschen, da hier eine besonders hohe Konzentration von Kräften innewohnt. Folglich reiht sich eine Vielzahl von Tabus und Verboten u.a. an Geburt und Geschlechtlichkeit, Krankheit und Tod. Die Nichtbeachtung sowie das Übertreten eines Tabus jedoch können sich vehement auf die Gesundheit des Menschen auswirken. „Namentlich Hautkrankheiten, Geschwüre oder Ausschläge, gelten […] als die Folgen unerlaubter Berührung“168, die selbst den Tod nach sich ziehen kann. Mithilfe nachfolgender Sühneund Reinigungszeremonien sollen diese Auswirkungen sodann aufgehalten und ihre Schädlichkeit begrenzt werden. Die Funktion des Gegenzaubers eignet ebenso den vorbereitenden Riten, die – sofern der Kontakt nicht gänzlich untersagt oder verpönt ist – den Menschen für den Umgang mit dem Heiligen und Unreinen präparieren, so dass er unversehrt bleibt. Für die Aufgabe, mit dem Tabu in Kontakt zu treten werden einige zu PriesterInnen oder SchamanInnen erwählt, die sich durch Besonderheiten von den übrigen unterscheiden und eigentlich bereits dadurch isoliert sind. Ihre Andersartigkeit kann sich physisch zeigen, z.B. in hässlichem Aussehen, oder auch während ritueller Übungen erweisen, was jedoch eine positive Aufwertung der Abgeschiedenheit vom Gewöhnlichen bedeutet. 2.3.3 Formen der Manifestation und Realisation des Heiligen Neben jener eher groben Unterteilung von Religion in die vier so genannten ’Welten‘ nimmt F. Heiler zahlreiche weitere Kategorisierungen des Stoffs in einzelne Untergruppen vor. Hinsichtlich der für diese Arbeit in besonderem Maße zu beleuchtenden Erscheinungswelt findet sich eine Aufteilung in drei Sektoren169, die in sich wiederum mehrfach unterteilt sind. In einem der drei Bereiche fasst er heilige Objekte, Raum, Zeit und Zahl zusammen, denen er die heilige Handlung beiordnet. Denn auf das sinnenfällige Erscheinen des Göttlichen in den Gegenständen reagiert der Mensch mit dem Wunsch, jenes Göttliche zu berühren, mit ihm umzugehen sowie dessen Zuwendung zu erfahren. „Er verlangt nach dem Tun Gottes am Menschen, und zugleich will er selbst von Gott nicht nur nehmen, 170 sondern ihm auch geben und schenken.“ Hieraus erwächst der Kultus als wech-

168 Ebd., S. 310. 169 Diese Dreiteilung führt Heiler zwar in der Vorstellung seiner Methode der konzentrischen Kreise an (Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 19 f.), berücksichtigt sie jedoch nicht in der Gliederung des Werkes. Hier stehen sie vereint unter dem Kapitel ’A. Erscheinungswelt der Religion‘ auf gleicher Ebene (Kapitel ’II. Der heilige Gegenstand‘ bis ’X. Die heilige Gemeinschaft‘) nebeneinander (ebd., S. VIIff). 170 Ebd., S. 177.

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selseitige heilige Handlung. Damit eng verbunden ist ein weiterer Sektor, nämlich der des Wortes und der Schrift, als geschriebene Form des Wortes. Die Ligation rührt nach Heiler daher, dass das Wort (λεγόμενον) die Handlung (δρώμενον) begleitet. „Die Rede macht die heilige Handlung zu dem, was sie ist: ‚accedit ver171 bum ad elementum et fit sacramentum‘ (Augustin, in Joan. 80, 3).“ Zum dritten Bereich zählt der Mensch, der als einzelne Person heilig ist, der aber auch einer Gemeinschaft angehören kann, die ihrerseits das Heilige übermittelt. Eine ausführlichere Begründung sowohl der Aufteilung in drei Sektoren als auch der Zuordnung der einzelnen Erscheinungsformen zum jeweiligen Sektor lässt Heiler leider vermissen. Seinen lückenhaften Erläuterungen ist vermutlich die anderweitige Aufteilung der Erscheinungswelt der Religion geschuldet, über die Günter Lanczkowski in seiner „Einführung in die Religionsphänomenologie“ referiert. In den Ausführungen zu dem von Heiler vorgenommenen „Überblick über die Stoffülle“172 gibt Lanczkowski eine zweiteilige (sic!) Gliederung der Erscheinungswelt wieder. In den Bereich der ’Manifestationen des Sakralen‘ rechnet er den heiligen Raum, die heilige Zeit und die heiligen Gegenstände, zu denen auch der Mensch und die Gemeinschaft gehören. Dahingegen fallen die heilige Handlung und das heilige Wort in den anderen Bereich der ’Realisationen des Sakralen‘. Lanczkowski nimmt also eine Umverteilung vor, die den Angaben Heilers widerspricht, und führt neue Bezeichnungen ein. Dennoch leuchtet beides m.E. in gewissem Maße ein. Manifestation des Heiligen Heiliger Gegenstand, Heiliger Raum, Heilige Zeit, Heilige Zahl,

Realisation des Heiligen Heilige Handlung, Heiliges Wort

Heiliger Mensch, Heilige Gemeinschaft Die zweiteilige Gliederung der Erscheinungswelt der Religion nach Günter Lanczkowski; abgewandelt von der dreiteiligen Vorlage Heilers.

Die enge Verbundenheit von Handlung und Wort hat bereits Heiler selbst hervorgehoben, so dass sich hier die Frage eröffnet, warum sie trotz ihrer Nähe verschiedenen Sektoren angehören. Indem Lanczkowski sie aber zusammenrückt, unterstreicht er seine Definition der Realisation des Heiligen als „Schaffung und Erhal173 tung eines religiösen Phänomens [...], die menschlicher Initiative entspringen“ . Den Sektor des heiligen Menschen und der heiligen Gemeinschaft gesellt er hingegen dem des Gegenstands, des Ortes, der Zeit und der Zahl hinzu. Deren aller Heiligkeit führt er nämlich auf göttliche Offenbarung zurück, die beispielsweise 171 Ebd., S. 266. 172 Lanczkowski, G.: Religionsphänomenologie, S. 15. 173 Ebd., S. 37.

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einen Berg zu einem heiligen werden lässt. Daher handelt es sich nach Lanczkowski um „eine spontane Manifestation des Heiligen im profanen Raum auf 174 Grund einer unmittelbar vorangegangenen Theophanie“ . Wenn Heiler, was er allerdings nicht begründet, den Menschen und Personengruppen als eigenständigen Sektor betrachtet, so könnte dies auf die Scheu zurückzuführen sein, diesen – wie z.B. die Tiere – zu den Gegenständen zu zählen bzw. ihnen gleichzustellen. In der folgenden Darstellung stütze ich mich hinsichtlich der Erscheinungen von Religion auf die von Heiler in detaillierter und umfassender Weise aufgeführten Formen. Allerdings übernehme ich nicht dessen – wenig begründete – dreigliedrige Unterteilung, sondern die von Lanczkowski vorgenommene zweigliedrige. Zwar gibt sie die Heilersche Vorlage verfälscht wieder, doch erscheint sie mir schlüssiger und ihre Verwendung für diese Arbeit sinnvoller. Auch wenn Heiler Gott als den Gegenstand von Religion konstatiert, sind seine Aussagen ebenso auf das begrifflich weiter gefasste Heilige zu übertragen. Die nachfolgenden Ausführungen sind demnach für das Göttliche wie das Sakrale gültig. 2.3.3.1

Manifestationen des Heiligen

Die Wirklichkeit des Göttlichen lässt sich in besonders sinnfälliger Weise anhand sicht- und greifbarer Gegenstände wahrnehmen, die auf die unsichtbare und nicht fassliche Größe hinter ihnen verweisen. „Gott benutzt gemäß der sinnlich-geistigen Doppelorganisation des Menschen die äußeren geschaffenen Dinge dazu, um ihn zu seiner Erkenntnis und Liebe zu führen: per sensibilia ad invisibilia.“175 Zwar wird den Objekten Verehrung zuteil, aber nicht aufgrund ihrer selbst, sondern wegen dessen, was sie repräsentieren bzw. aufgrund ihrer besonderen Herkunft. Nur hierauf beruht ihre heilige Bedeutung. Zahlreiche religiöse Überlieferungen jedoch zeugen von der Anbetung der Gegenstände, als seien sie selbst das Göttliche. Eine solche Idolatrie missachtet den Verweischarakter der einzelnen Objekte, in denen sich die transzendente Gottheit zwar offenbart, sich aber keineswegs erschöpft. Zugleich bedeutet es die Reduzierung und Beschränkung der Gottheit auf ein isoliertes Objekt. Dies erscheint in besonderem Maße in solchen Religionen undenkbar, die Gott als den Schöpfer der Welt erachten, die sein Werk, nicht aber er selbst ist. Innerhalb der Vielzahl an heiligen Gegenständen lassen sich die natürlichen von denen, die der Mensch gemacht hat (z.B. Fetisch, Stab, phallische Symbole, Götterbilder), unterscheiden. Hinsichtlich der Manifestationen des Heiligen in der Natur sind weitere Einteilungen möglich, wenn auch nicht von Heiler vorgenommen. Mircea Eliade benennt in seinem Überblickswerk „Die Religionen und das Heilige“ Himmel, Wasser, Erde und Steine als kosmische Ebenen, während er

174 Ebd., S. 38. 175 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 34.

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Sonne, Mond, Geschlecht, Vegetation und Ackerbau den „biologischen Hieropha176 nien“ zuordnet. Unter diese Kategorien ist ein Großteil der von Heiler aufgezählten Erscheinungen zu subsumieren, so z.B. Blitz, Donner und Wind zur himmlischen Ebene. Doch sperren sich andere Manifestationen gegen die Eingliederung in Eliades System, wie z.B. Feuer und Tierwelt. Im Zuge des Erscheinens des Heiligen in der profanen Umwelt des Menschen verändert sich auch der Schauplatz der Hierophanie in einen heiligen Ort. Auf diesen Ort überträgt sich die Sakralität des Ereignisses und „prägt sich so dem 177 Raum ein, dass [es] stets präsent bleibt“ . Hier tritt das Unendliche in die Endlichkeit ein und geht mit ihr eine dauerhafte Verbindung ein wie z.B. an Wallfahrtsstätten. Demnach wird der heilige Raum von der ihn umgebenden Profanität gesondert, und er strukturiert aus religiöser Sicht die Welt in eine heterogene. An solcher Stätte wohnt gleichsam die Macht, was der Mensch erkennt, „er sucht 178 sie oder meidet sie, trachtet sie zu stärken oder abzuschwächen“ . Jedoch offenbart sich der heilige Ort selbst dem Menschen, dem hierbei lediglich die Rolle des Entdeckers zukommt. So kann beispielsweise die Lage einer Eremitenklause oder eines künftigen Gotteshauses durch Tierzeichen bestimmt werden. Ein solcher Bau verdeutlicht, dass sich die sakrale Manifestation nicht auf ein einmaliges Geschehen beschränkt, sondern permanent besteht, so dass sich der Ort als „eine 179 unversiegliche Quelle der Macht und Heiligkeit“ auszeichnet. Dies eignet allerdings auch offenen Räumen wie Bergen, Steinkreisen und Quellen. Ebenso wenig homogen wie den Raum erfährt der religiöse Mensch die Zeit, da auch sie sich in eine profane und heilige gliedert. Im Gegensatz zu jener aber ist diese reversibel, da sie in religiösen Festen wiederholt und das Vergangene (illud tempus) zur Gegenwart wird. Somit erfolgt eine kontinuierliche, meist periodische Vergegenwärtigung der ursprünglichen sakralen Zeit, wie sie erstmals in Erscheinung trat. „Denn die heilige Zeit, in der dieses Fest sich abspielt, hatte es vor den im Fest gefeierten göttlichen gesta noch nicht gegeben.“180 Demnach werden in der jeweiligen Religion Elemente und Gegebenheiten aus der Gründungszeit wiederholt, die nicht selten in eine mythische Urzeit fällt. Die Vorbereitung auf ein sol176 Eliade, M.: Die Religionen und das Heilige, S. 16. Diese Unterteilung führt Eliade im Vorwort zwar an, berücksichtigt sie im Verlauf des Werkes aber kaum, so dass die Behandlung von Sonne und Mond zwischen den kosmischen Hierophanien Himmel und Wasser angesiedelt ist. Zudem mutet die Zuordnung z.B. der Sonne zur biologischen statt kosmischen Ebene merkwürdig an, zumal eine Erläuterung im Vorwort unterbleibt. Stattdessen begründet Eliade diese Gliederung eher andeutungsweise an späterer Stelle, wenn er auf Seiten der Himmelsgottheiten die Tendenz konstatiert, „aus dem Vordergrund des religiösen Lebens zurückzutreten und magisch-religiösen Mächten oder Göttergestalten Platz zu machen, die aktiver, wirkender und dem ‚Leben‘ näher, unmittelbar verbunden sind“ (ebd., S. 152). 177 Sundermeier, T.: Was ist Religion?, S. 68. 178 Leeuw, G.v.d.: Phänomenologie der Religion, S. 445. 179 Eliade, M.: Die Religionen und das Heilige, S. 424. Solche Konstanz von heiligen Orten kann sowohl den Wechsel von Generationen und Stämmen sowie von Religionen überdauern. 180 Eliade, M: Das Heilige und das Profane, S. 40.

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ches Fest ist geprägt von Tabus, Reinigungs- und Bußriten, da sich auch hier ein Übergang ereignet. Von der profanen wird in die heilige Zeit übergeleitet, an die sich wiederum, aber nun ausleitende Übergangsriten anschließen. Der in Festen gefeierte Zeitablauf kann sich an Daten der Natur orientieren (wie beim Ernteoder Sonnenfest), aber auch heilsgeschichtliche Eckpunkte zur Grundlage haben (wie den Tod und die Auferstehung einer Gottheit). Dabei bleibt jedoch die Dauer jener heiligen Zeitabschnitte variabel, da sie neben einzelnen Tagen auch Jahre oder sogar Weltperioden umfassen können. Das Prädikat der Heiligkeit beschränkt sich allerdings nicht nur auf den Zeitraum von Festen, die aus dem ganzen Ablauf in besonderer Weise herausragen, sondern „jede Periode, jeder Zeitpunkt hat eigene Individualität, eigene Mächtigkeit“181, die sich in der Personifikation einzelner Daten widerspiegeln (wie bei den häufig in der Kunst personhaft dargestellten Jahreszeiten). Sowohl der heilige Raum als auch die heilige Zeit lassen sich im Maßstab der Zahl ausdrücken und festhalten. Zugleich kommt der Zahl selbst Heiligkeit zu, indem sie als Symbol einer übernatürlichen Gewalt gilt (z.B. 15 als die Zahl Ištars) 182 und „Objekten, mit denen sie in Verbindung steht, übernatürliche Kraft“ verleiht (z.B. 28 als Zahl des Mondumlaufs). Mithilfe der heiligen Zahl wird das Unermessliche messbar. Zu den beliebtesten und sehr häufig verwendeten Zahlen gehören drei und sieben sowie neun und zwölf als Vielfache von drei. Die spielerische und spekulative Komponente in Zahlenmystik und -symbolik bleibt hierbei unverkennbar. Der von einer als sakral erlebten Umwelt umgebene Mensch ist zudem selbst der Heiligung fähig, indem er am transzendenten Leben teil hat. Dies äußert sich zum einen in der Nachahmung und im Nachvollzug von Handlungen, die in früher, mythischer Zeit von göttlichen Vorbildern gestiftet und ausgeführt worden sind (z.B. rituelles Essen). Insofern steht dem profanen das sakrale Erleben gegenüber. Zum anderen gelten Körperteile des Menschen als mikrokosmische Entsprechungen von makrokosmischen Strukturen (z.B. das Auge als Sonne) und enthalten je eigene Heiligkeitskraft. Eine besondere Sakralität eignet den Menschen, die innerhalb einer Gemeinschaft eine spezielle Rolle inne haben, sei es in der Familie die Mutter, im Volk der König, der Priester oder die Prophetin. Solche Positionen werden zumeist aufgrund von Berufung oder Begabung angetragen und als Beruf eingenommen, um anderen zu dienen und zu helfen. Jedoch manifestiert sich das Heilige in ihnen ebenso wie in hilfsbedürftigen Menschen wie Armen, Fremden und Kranken. Indem sie als Inkarnation der Gottheit gelten, der Gutes zu erweisen ist, begründen sie den sozialen Umgang zwischen den Menschen. Mit der zuwendenden Liebe geht darüber hinaus die Furcht vor Verfluchung einher, die ein zurückgewiesener Hilfesuchender aussprechen könnte. Einen ähnli-

181 Leeuw, G.v.d.: Phänomenologie der Religion, S. 437. 182 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 162.

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chen Schaden (z.B. Krankheit) können auch tote Menschen verursachen, wenn sie sich vernachlässigt und ungeehrt fühlen. Sie verfügen über eine heilige Macht, die sich den verehrenden Lebenden als Schutz erweist. Der Tod des Menschen erscheint als eine Phase seiner Existenz und fügt sich in eine Reihe von Abschnitten, die das religiöse Leben kennzeichnen: Der leiblichen Geburt folgt eine geistige, die den Menschen vollkommen macht; nach der Kindheit tritt der Mensch in die Jugendzeit ein; durch die Hochzeit wechselt der Mann in die Gruppe der Famili183 enväter. All diese Übergänge markieren ontologische und soziale Veränderungen, so dass die bestehenden Spannungen mithilfe von Ritualen entschärft werden. Zugleich verdeutlicht die Initiation eine fortschreitende Entwicklung, die sich auf Erfahrungen, Reife und Erkenntnisse stützt und den/die InitiandIn zum/r Wissenden und zum/r in der jeweiligen Phase Neugeborenen macht. Im Zuge der Durchschreitung verschiedener Lebensphasen gelangt „die menschliche Existenz [...] durch eine Reihe von Übergangsriten, durch aufeinanderfolgende Initiationen 184 zu ihrer Fülle.“ Neben den heiligen individuellen Menschen sowie den unterschiedlich starken Ausprägungen von individueller Religion lässt sich auch die Heiligkeit menschlicher Gemeinschaften konstatieren. Im Gegensatz zu dem Bund, der geschlossen und daher ’gemacht‘ wird, ist die Gemeinschaft etwas unbewusst Gegebenes, dem man nicht beitritt sondern gehört. Demnach bietet sie dem/r Einzelnen im Kollektiv Schutz und Sicherheit, während er/sie „nichts [ist] ohne die Andern. […] Der 185 von der Gemeinschaft Abgeschnittene kann nicht leben“ . Darüber hinaus tradiert sie Überlieferungen, stiftet Kontinuität und gewährleistet die Identität der Gruppierung. Solches gilt für die Ehe als die kleinste sakrale Gemeinschaft wie für die Sippe und sogar für den Staat. Der Zusammenschluss kann nach verschiedenen Kriterien erfolgen wie Alter, Geschlecht, Rasse, Volk, Beruf und Stand. Sowohl die Aufnahme in den Kreis (wiederum durch Initiation) als auch der Zusammenhalt werden in kultischen Riten besiegelt und bezeugt. Jedoch nicht nur die Riten und die kultische Verehrung folgen hierbei bestimmten Abfolgen und Regeln, sondern auch die Gemeinschaft an sich ist von Normen und Rechten geprägt. Somit stehen neben den Geboten und Tabus, die das Verhalten des Menschen gegenüber dem Göttlichen regeln, solche Vorschriften, die allein das zwischenmenschliche Verhalten betreffen. Auch sie werden erachtet als von Gott stammend und seinen Willen repräsentierend, was sich in besonderem Maße auf ihre Stellung und Gültigkeit auswirkt. Die Vorstellung 183 Ereignisse wie Geburt, Pubertät, Heirat und Tod zählen auch in desakralisierten Gemeinschaften zu den Konstituenten des Lebens, die jeweils mit Traditionen und Bräuchen behaftet sind. Allerdings entbehren sie des religiösen Charakters, auch wenn sie auf diesem Hintergrund ursprünglich gründen. Somit kommt diesen Eckdaten und Übergängen des Lebens lediglich eine Bedeutung im individuellen und familiären Bereich zu, ohne jedoch für die größere Gemeinschaft von Relevanz zu sein. 184 Eliade, M: Das Heilige und das Profane, S. 106. 185 Leeuw, G.v.d.: Phänomenologie der Religion, S. 271 f.

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nämlich, „daß die sozialen und rechtlichen Ordnungen, die das menschliche Zusammenleben erhalten und tragen, von der Gottheit gesetzt sind, […] verleiht so 186 den für sie geltenden Normen die absolute Verbindlichkeit göttlicher Gesetze“ . Sie sind daher nicht nur zu achten und einzuhalten, sondern auch unveränderlich und sakral. Insofern bestehen innerhalb der heiligen Gemeinschaft ebenso heilige sittliche Normen und Werte, die einerseits den Zusammenhalt untereinander als auch das Wohlwollen des Göttlichen gewährleisten. Somit erhält das Heilige auch eine ethische, vom Göttlichen initiierte Dimension. 2.3.3.2

Realisationen des Heiligen

In der gleichen Weise sinnenfällig wie die Manifestationen – und daher ebenso zur Erscheinungswelt zu rechnen – sind die Realisationen des Heiligen. Während jedoch erstere auf einer unvermittelten Hierophanie gründen, setzen letztere bereits die Vertrautheit mit dem Heiligen sowie die Initiative des Menschen für weitere Beziehungen voraus. Demnach „handelt es sich um eine menschliche Realisation, um eine heilige Handlung, deren Motivation durch göttlichen Willen bereits auf Tradition beruht“187. Hierin spiegelt sich die dynamische Dimension des Umgangs des Menschen mit dem Göttlichen, wobei jener nicht beim statischen Schauen stehen bleibt. Stattdessen strebt er nach einem beiderseitig aktiven Verhältnis, in dem die AkteurInnen wechselseitig geben und nehmen. Der Mensch schafft sich somit einen Handlungsspielraum sowie die vielleicht nur latent gehegte Hoffnung auf Beeinflussung des Göttlichen. In zahlreichen und mannigfaltigen heiligen Handlungen tritt der Mensch aktiv in Kontakt mit dem Heiligen, wie in kultischen Riten wiederholt zu beobachten ist. Insbesondere in Phasen des Übergangs werden apotropäische Riten angewandt, um dämonische Geister und Kräfte zu vertreiben oder zumindest abzuwehren. Hierzu dienen Gesten, Lärm, Blicke, vor dem Bösen ausspucken oder es mit Fesseln binden, das Umkreisen des Heiligen, womit der Schutz gegen feindliche Einwirkungen gewährleistet sein soll. Der Ritus der Räucherung hingegen hat sowohl abwehrenden als auch anziehenden und reinigenden Charakter. In letzterer Hinsicht fungiert das Räuchern ebenso wie Wasser, Blut, Askese oder Feuer, indem es von schädigenden Einflüssen und Mächten befreit. Es beseitigt gleichsam ein Tabu, macht den Menschen rituell rein und bereitet ihn auf den Kontakt mit dem Heiligen vor (so das Fasten). Ebenfalls über eine eliminatorische Wirkung verfügen Handlungen wie die Übertragung von Sünde auf Gegenstände, Tiere oder Menschen, das Wegfegen des Übels sowie einzelne Kleiderordnungen. Manche Kulte sehen eine völlige oder partielle Entblößung vor, die sich auch auf alle oder nur einzelne Kleidungsstücke (wie den Gürtel) beziehen kann. „Losgelöst von dem unreinen gewöhnlichen Le-

186 Baetke, W.: Das Heilige im Germanischen, Tübingen 1942, S. 42. 187 Lanczkowski, G.: Religionsphänomenologie, S. 38.

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ben sollte der Mensch vor die Gottheit treten, wie ein vom Leben noch nicht be188 flecktes Kind“ . Andere Religionen praktizieren das genaue Gegenteil, wenn sie den Körper als zu bedeckende Profanität ansehen, dessen Glieder zu verhüllen sind (wie beispielsweise die Hände). Während der Mensch schädigende dämonische Mächte abwehren will, sucht er gleichzeitig die Nähe des Göttlichen und die Einigung mit ihm. Diese Gemeinschaft mit dem manifestierten Heiligen kann sich im Berühren oder Küssen eines sakralen Objekts ereignen, was wie die Segnung bzw. Weihe der Übertragung des kraftvollen Mana dient. Solches geschieht zudem im Tanz, dem in kultischen Handlungen eine vielfache Funktion zukommt, von denen jedoch der Umgang mit Geistern und Gottheiten im ekstatischen Tanz wohl am bedeutendsten ist (u.a. in indianischer Tradition). Eine umso innigere Kommunion mit der Gottheit begegnet in der geschlechtlichen Vereinigung (ἱερός γάμος), in der ein Mensch stellvertretend für den Gott agiert. Ebenso leiblich-sinnenhaft hat der Mensch Anteil am Göttlichen in der substanziellen Einigung. „Die göttliche Substanz wird der menschlichen ‚einverleibt‘; die Seele wird durch den Genuß von heiliger Speise und heiligem Trank vergottet.“189 Zwar auch körperlicher Art – jedenfalls für die DarstellerInnen –, jedoch für die ZuschauerInnen in erster Linie visueller Art ist das Mysteriendrama. Hierin werden Leben und Wirken der übernatürlichen Mächte nachgeahmt wiedergegeben, begleitet von Tanz und Rezitationen. Auch dieses Geschehen zielt auf die Sicherung und Steigerung des göttlichen Wohlwollens und Zuspruchs. Diesen Zweck erfüllt auch das Opfer, das die Richtung des Gebens und Nehmens umkehrt, indem diesmal nämlich der Mensch statt der Gottheit etwas hingibt und die Gottheit statt des Menschen etwas annimmt. Dem Opfer geht jedoch zumeist eine Gabe seitens des Heiligen an den Menschen voraus, der somit etwas zuvor Empfangenes seinem Eigentümer zurückgibt. Geopferte Gaben sollen dem personal gedachten Numinosen gefallen und es erfreuen, womit sich der Mensch entweder für eine erfahrene Zuwendung bedankt oder Gutes zu erhalten erhofft. Daher sind die dargebrachten Gegenstände für die Gottheit vermeintlich nützlich (wie die Nahrung für Totengeister) und dem Menschen oftmals wertvoll (wie beim Erstlingsopfer). „Der Kult ist wie die Antwort auf die Epiphanie des Gottes, er enthält in sich die Geschichte dieser Ankunft, d.h. den Mythus“190. Doch nicht nur zum Mythos, sondern auch zu anderen mannigfaltigen Formen des heiligen Wortes steht die heilige Handlung in enger, untrennbarer Verbindung. Allerdings kann dem sakralen Wort, sei es mündlich oder schriftlich, auch losgelöst von der Handlungsebene Heiligkeitskraft innewohnen. Die Rezitation des Wortes erfolgt oftmals gesungen oder geflüstert, was sie vom profanen Sprechen unterscheidet. Dies bezweckt auch 188 Herrmann, P.: Altdeutsche Kultgebräuche, Jena 1928, S. 11. 189 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 248. 190 Leeuw, G.v.d.: Phänomenologie der Religion, S. 469.

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Das Heilige

die Einführung einer sakralen, liturgischen Sprache, die den Inhalt des Gesprochenen für die HörerInnen unverständlich macht und somit das Mysterium des Ganz Anderen bewahrt. Allerdings begegnet häufig die Tendenz zu freier, charismatischer Rede, um der formelhaften Erstarrung entgegenzuwirken, so dass in der Kulthandlung auch individuell formulierte Gebete gesprochen werden. Umso freier und übernatürlich erscheint die Zungenrede, die, sofern sie sich als silbisches Lallen artikuliert, jede sprachliche Regelhaftigkeit durchbricht und auflöst. Dementsprechend zeigt sich in der Glossolalie „die religiöse Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache in ähnlicher Weise wie im mystischen Schweigen“191. Das wortlose Gebet, das Nichtaussprechen des Gottesnamens oder das Verstummen in Ehrfurcht sind nur einige Beispiele für die nahe Grenze der Sprache, die das Göttliche nur partiell in Worte kleiden kann. In seiner geheimnisvollen Gänze übersteigt das Heilige jedes sprachliche Fassungsvermögen und mündet in Schweigen. Jedoch bedient sich das Heilige, um in der profanen Welt zu erscheinen, auch des Menschen und dessen sprachlicher Mittel. So offenbart sich das Göttliche entweder direkt oder mittelbar in Orakeln (wie Loswurf, Eingeweideschau oder Sternbeobachtung), was von SeherInnen und PriesterInnen entschlüsselt wiedergegeben wird. In solchen Divinationen, die dem gläubigen Menschen einen Blick auf sein Schicksal eröffnen, teilt die Gottheit vermeintlich ihren Willen mit.192 Dies ereignet sich auch im prophetischen Wort, das die Gottheit durch den Mund des/r ProphetIn redet und das dadurch ebenfalls über göttliche Kraft verfügt. Somit artikuliert sich das Heilige selbst, während dem Menschen lediglich die Funktion des vermittelnden Sprachrohrs zukommt. Während das Göttliche hier als das Subjekt der Rede auftritt, wird es in Legende, 193 Allegorie und Mythos zum Objekt der Rede. Sie stellen das Verhältnis zwischen Gott und Mensch dar, unterweisen lehrmäßig und wiederholen Geschehnisse der Anfangszeit der Religion. Das Wort hingegen, das der Mensch an das Heilige richtet, kann als sprachlich unklassifizierter Laut oder als kunstvoll gedichteter 191 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 274. 192 Die in der Divination beobachteten Zeichen werden auf die Gottheit als deren Urheber zurückgeführt. Allerdings wird die vermeintliche Mitteilung des Heiligen nicht als irreversibel angesehen, so dass eine mehrfache Befragung des Orakels innerhalb kurzer Zeit erfolgt. Wenn also die göttliche Nachricht nicht dem Gewünschten entspricht, wird solange befragt, bis die günstige Antwort sich einstellt (vgl. Lévy-Bruhl, L.: La mentalité primitive, 2. Aufl., Paris 1922, S. 143 ff.). 193 Diese Differenzierung ist so allerdings nicht bei Heiler ausgeführt, sondern begrifflich unscharf vermengt. Seine Kategorie ’Wort von Gott‘ (Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 275– 306) richtet sich augenscheinlich auf Gott als Subjekt des Wortes, wie die Analogie zur „zuvorkommenden Gnade Gottes“ (S. 275) suggeriert. Auf die Aktion Gottes antwortet der Mensch mit einer Reaktion, nämlich dem von Heiler nachfolgend behandelten ’Wort zu Gott‘ (S. 306–332). Jedoch findet sich in den Worten von Gott wie z.B. in der Legende, im Mythos oder in der Allegorie kein Hinweis auf Gott als Sprecher dieser Worte. Vielmehr „handelt [der Mythos] von Gottes Leben und Wirken“ (S. 283), und der „Gegenstand [der Legende] ist [...] der heilige, fromme Mensch in seinem Umgang mit Gott“ (S. 291). Demnach wird hier über Gott als Objekt gesprochen. Diesen Unterschied übergeht Heiler leider.

Der menschliche Wunsch nach wechselseitigem Kontakt mit dem Heiligen

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Lobpreis gestaltet sein. In diesen beiden Ausdrucksformen sowie in der Beschwörung oder im Gelübde ist die wirkmächtige Kraft aktuell vorhanden, die der Schrift wiederum dauerhaft innewohnt. Bereits die Schriftzeichen an sich gelten als heilig und von einer übernatürlichen Kraft erfüllt, so dass sich analog zur Zahlen- die Buchstabenmystik entwickelte. Zudem halten die Zeichen sakrale Worte fest – angefangen bei einfachen Zauberformeln mit punktueller Relevanz bis hin zu Textsammlungen mit ewig währender Heiligkeit und göttlicher Autorität.

2.4 Der menschliche Wunsch nach wechselseitigem Kontakt mit dem Heiligen Mit der Erscheinung des Heiligen in der profanen Welt ereignet sich eine Verbindung zwischen Jenseits und Diesseits, Transzendenz und Immanenz, Ewigkeit und Zeitlichkeit, Unendlichkeit und Begrenztheit. Auf die Manifestation des Sakralen folgt die Reaktion des Menschen, so dass aus einem ersten Kontakt – trotz der Differenz beider Parteien – eine aktive wechselseitige Beziehung und gemeinsame Geschichte erwächst. In besonders elementarer Weise erlebt der Mensch das Heilige in Gegebenheiten der Natur, die seinem Lebenserhalt dienen: Heilige Erde erweckt Totes zum Leben, heiliges Feuer bekämpft Seuchen und heiliges Wasser stärkt die Lebenskraft. Zugleich werden diese drei Elemente als fruchtbar und somit Nahrung bzw. Leben bewirkend erfahren. Andere Hierophanien, v.a. kosmische Phänomene, sind als Willensäußerung des anthropomorph gedachten Göttlichen zu werten. So erscheint der Regenbogen als zustimmendes Zeichen, während im Gewitter der Donner als Zorn und der Blitz als Strafe gedeutet werden. Analog dazu lassen das Ausbleiben von fruchtbringenden Niederschlägen sowie die Überschwemmung infolge sintflutartiger Regenfälle auf die Missgestimmtheit der Gottheit rückschließen. Mithilfe solcher Erscheinungen greift folglich das Heilige nach Ansicht des vor-naturwissenschaftlichen Menschen in die irdischen Abläufe ein und teilt sich mit. Da der menschliche Glaube an das Numinose, seine Existenz, Macht und Wirksamkeit häufig mit Zweifeln einhergeht, liegt der Gedanke nicht fern, den Gegenstand und die Richtigkeit des Glaubens beweisen – oder zumindest untermauern – zu wollen. „Mag sein, daß das Streben nach Gewißheit ein in der menschlichen Natur tiefverwurzeltes Bedürfnis ist.“194 Um dies zu befriedigen, können neben kognitiven Beweisführungen auch die von Rudolf Otto favorisierten religiösen Erfahrungen mit dem Ganz Anderen in Dienst genommen werden. In einem fortlaufenden Streben würde letztere Vorgehensweise zum Wunsch nach einem immer neuen, quantitativ und/oder qualitativ gesteigerten Erleben des 194 Berger, P.L.: Sehnsucht nach Sinn, S. 141.

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Das Heilige

Heiligen führen, das die vielleicht schon wieder verloren gegangene Gewissheit bekräftigen oder wiederherstellen soll. Dies könnte dermaßen gestaltet sein, dass das Heilige sich einerseits besonders häufig für den Menschen wahrnehmbar manifestiert und/oder sich andererseits besonders deutlich zeigt. Dadurch würden zudem die Beziehungen zum Sakralen gefestigt, die den Charakter von „‚trans195 zendenten Sozialbeziehungen‘“ hätten, sofern das Heilige personal und relational z.B. als Vater, Schwester oder UrahnIn gedacht würde. Überspitzt formuliert bedeutet dies, dass der/diejenige leichter und sicherer zum Glauben finden und ihn halten kann, wenn ihm/ihr das Numinose mehrfach und eindrücklich begegnet – in letzterem Fall also nicht nur in den genannten Naturphänomenen, sondern auch in anderen Gegenständen, in Orten, Zeiten, Zahlen, Menschen und Gemeinschaften. Aus diesen Begegnungen ergibt sich üblicherweise eine Kommunikation, die idealerweise in ein wechselseitiges Gespräch mündet. Wer zum Heiligen betet, hofft auf eine baldige Antwort. Erfolgt sie, kann dies zur Festigung des Glaubens beitragen; umso mehr, wenn sie auch von Dritten wahrnehmbar ist. Dadurch erhält das Phänomen eine objektive Komponente, die die Realität der Erfahrung plausibler macht und dem Eindruck der Illusion wehrt. Bleibt die Antwort aber aus, so kann dies die Destabilisierung des Glaubens bewirken. An das Streben nach religiösen Erfahrungen und Antworten des Sakralen ist zumeist deren Herbeiführung aus eigener Kraft gekoppelt. Anstatt das Heilige fern und jenseitig verweilen zu lassen, soll es nahe und ins Diesseits geholt werden, wozu unzählige Riten dienen. Ebenso wenig untätig bleibt derjenige Mensch, der sein Leben als vom Sakralen bestimmt und geleitet glaubt, und der sich daher an den Hierophanien sowie ihren Deutungen orientiert. Den Zorn der Gottheit sucht er zu vermeiden und ihr Wohlwollen zu mehren, um somit selbst glücklicher und gesicherter zu leben. Demnach vertieft der Mensch die Beziehung zum Heiligen und folgt dessen Willen und Verboten. Hierin jedoch verharrt er weder in abwartender Passivität, noch lässt er sich wie ein handlungsunfähiges Objekt in seinem Geschick treiben. Vielmehr übernimmt der Mensch einen aktiven Part, indem er sich dem Sakralen zuwendet und darumwillen agiert. Er will „sich aufs innigste mit dem Göttlichen berühren, einigen, an seiner Lebenskraft und Herrlichkeit teilnehmen“196. Somit versucht der Mensch an Schutz, Segen, Heil und Hilfe, die er vom Heiligen für sich erhofft, in gewisser Weise mitzuwirken. Diese positiven Einflüsse betreffen alle Lebensbereiche des menschlichen Umfelds: Schutz gegen Feinde und Unwetter, Segen für Saat und Vieh, Heil für die Gemeinschaft und das eigene Ergehen, Hilfe in Unsicherheit und Not. Aber auch Abwehr des Bösen, Verhinderung von Missernte und Schaden für andere können gewünscht werden, um die eigene Existenz zu bewahren und zu verbessern. 195 Helle, H.J.: Religionssoziologie. Entwicklung der Vorstellungen vom Heiligen, München u.a. 1997, S. 9. 196 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 176 f.

Der menschliche Wunsch nach wechselseitigem Kontakt mit dem Heiligen

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Die Hinwendung des Menschen zum Sakralen lässt sich am Beispiel des Opfers deutlich nachvollziehen, da ihm in der sinnenfälligen Ausgestaltung – mit Tanz und Gesang – verschiedene Funktionen zukommen. Zum einen soll es die Gottheit preisen, ihre Gnade gewinnen und einer formulierten Bitte im Sinne des Do-utdes-Prinzips Nachdruck verleihen. Als solches ist auch das Sühneopfer zu beurteilen, das die missgestimmte und daher Schaden zufügende Gottheit versöhnen soll. Zur Darbringung des Opfers begibt man sich zu jenem heiligen Ort, in dem sich das Sakrale manifestiert und somit am nächsten ist. Indem der Mensch bittend auf das verehrte Heilige zugeht, sucht er es zu beeinflussen – unterstützt von geopferten Gaben. Wenn sich sodann die Erfüllung der Bitte ereignet oder ausbleibt, erkennt der Mensch darin die Reaktion des Heiligen auf das erbrachte Opfer. Anhand dieser Mitteilung kann er wiederum auf die Qualität der Gaben rückschließen und sie gegebenenfalls anpassen. Nach Erhalt des Erbetenen entbietet der Mensch der gebenden Macht seinen Dank, so dass er erneut opfert (im Sinne von dabas-ergo-do). Aufgrund der vermeintlich erfahrenen Wirksamkeit eines Opfers jedoch scheint die Gottheit Gaben von Seiten des Menschen sogar zu erwarten, und „verlangt […] die Anerkennung ihres Rechtes“197. Auch in anderen Erscheinungen offenbart das Göttliche seine Absichten sozusagen auf Anfrage des Menschen, wie in Prophezeiungen und Ordalien, und entzieht sich nicht dem wechselseitigen Kontakt. Demnach ist die Beziehung zwischen Mensch und Heiligem in ihrer Gegenseitigkeit durchaus von Geben und Nehmen, Fordern und Erfüllen von beiden Parteien geprägt. Das Sakrale wirkt auf den Menschen ein und verlangt Gehorsam, während der Mensch versucht, auf das Sakrale Einfluss zu nehmen und es nach seinen Wünschen zu lenken. Insofern folgen beide Parteien ähnlichen Handlungsstrukturen, wenn auch das Heilige ungleich mächtiger, größer und geheimnisvoller ist als der Mensch. Dennoch bleibt es für ihn in gewissem Maße erreichbar, indem es sich manifestiert, realisiert und auf Bitten eingeht.

197 Herrmann, P.: Altdeutsche Kultgebräuche, S. 8.

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Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden

Nach der phänomenologischen Annäherung an das Heilige rückt als zweite Prämisse die religiöse Landschaft Brasiliens in den Blick. Die Entdeckung Südamerikas durch die PortugiesInnen im Jahr 1500 sollte die Kultur und Bevölkerungsstruktur des Kontinents vollständig und dauerhaft verändern. Das anfänglich geringe Interesse der ErobererInnen verwandelte sich in die systematische Besiedelung und landwirtschaftliche Nutzung der Kolonie. Portugiesische EinwandererInnen erhielten Ländereien und wurden zu HerrInnen über die versklavten Indios. Da die Urbevölkerung stark dezimiert wurde, importierte man AfrikanerInnen als Arbeitskräfteersatz. Mit dem Einzug der europäischen und afrikanischen Kulturen gelangten auch verschiedene Religionen in die Neue Welt. Und wie die PortugiesInnen über die EinwohnerInnen anderer Abstammung herrschten, so sollte auch ihr katholischer Glaube der vorherrschende sein. Trotz der missionarischen Bemühungen seitens der Jesuiten existierten jedoch die Religionen der Indios und AfrikanerInnen weiter. Die religiöse Vielfalt erfuhr eine deutliche Erweiterung, als im frühen 19. Jh. die Immigration aus anderen europäischen Ländern, Nordamerika sowie Asien einsetzte und weitere christliche Konfessionen, der Spiritismus, der Islam, das Judentum sowie der Buddhismus Brasilien erreichten. Doch auch unabhängig von der Zuwanderung nahm die Diversität der Denominationen zu, indem sich Synkretismen herausbildeten und Abspaltungen ereigneten. So formten sich aus dem innerbrasilianischen, interkulturellen Kontakt Kulte mit afrikanischer, katholischer und/oder indianischer Prägung. Basierend auf diesen drei Pfeilern sowie dem Spiritismus als viertem bildete sich Anfang des 20. Jh. die Umbanda. Aktuell lässt sich die Menge der Religionen kaum überblicken. So stehen neben der römisch-katholischen Kirche z.B. über 20 protestantische Kirchen, von denen einige erst seit ca. 30 Jahren existieren. Um die Umbanda in ihren Merkmalen und in ihrer Rolle als Konkurrentin für die anderen Religionen verstehen zu können, ist ein geschichtlich orientierter Überblick unerlässlich. Er soll zum einen die Entstehung der kulturellen Vielfalt nachzeichnen, die die Grundlage für die religiöse bildet. Zum anderen werden mehrere afro-brasilianische Kulte vorgestellt, die durch synkretistische Vermischung entstanden sind und zu deren Kreis die Umbanda zählt. Abschließend richtet sich der Blick auf den Wandel der religiösen Landschaft, indem er die Anhängerzahlen im Zeitraum von 1960 bis 2000 vergleicht und kritisch die Datenlage zur Umbanda betrachtet.

Die Versklavung und Missionierung von Indios und AfrikanerInnen

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3.1 Die Versklavung und Missionierung von Indios und AfrikanerInnen 3.1.1 Das Schicksal der UreinwohnerInnen Auf seiner Fahrt nach Indien entdeckte Pedro Álvares Cabral am 22.4.1500 im westlichen Atlantischen Ozean Land, das er für die portugiesische Krone in Besitz nahm und ’Ilha da vera cruz‘ (’Insel des wahren Kreuzes‘) nannte. Die ersten Begegnungen mit den UreinwohnerInnen verliefen durchweg friedlich: Man tauschte Geschenke und Waren, errichtete zusammen ein Kreuz und feierte gemeinsam Gottesdienst. Dass die Indios an der christlichen Messe aktiv teilnahmen, d.h. sich gleichzeitig mit den PortugiesInnen setzten, niederknieten, aufstanden und die Hände erhoben, verleitete manche der ErobererInnen zu der Annahme, es „fehlt diesem Volke, um ganz Christen zu sein, nichts weiter als die Kenntnis unserer Sprache, denn sie faßten unser Tun wie wir selbst auf“198. Die Differenz zwischen Nachahmung und Verinnerlichung, die hier verklärend übersehen wird, zieht sich kontinuierlich durch die Geschichte der Missionierung in Brasilien. Der schnellen Taufe folgte nur in seltenen Fällen eine Unterweisung in Glaubensinhalten, so dass das Christsein mit dem Getauftsein und der sichtbaren Durchführung von Ritualen gleichzusetzen war. Am 2.5.1500 setzten die PortugiesInnen ihren Weg fort, wobei zwei Gefangene zurückblieben, um die Sprache der Indios zu erlernen und zu späterem Zeitpunkt als Dolmetscher zu fungieren. Seeleute und AbenteurerInnen folgten ihnen nach und legten damit nicht nur den Grundstein für die Existenz verschiedener Rassen und Völker in Brasilien, sondern auch für deren Vermischung, indem sie sexuelle Verbindungen mit den Eingeborenen eingingen. Portugal erachtete das eroberte Gebiet als Hersteller und Lieferanten von Luxusgütern, die auf dem europäischen Markt verkauft und der Krone Geld einspielen sollten. Zu den begehrten Waren zählte neben Papageien, Affen und indianischen SklavInnen auch das rötliche Holz ’Pau brasil‘, das letztlich zum Namensgeber des Landes wurde. An den Handel knüpfte der portugiesische König jedoch das fortschreitende Vordringen entlang der brasilianischen Küste, so dass diese in verschiedenen Expeditionen erschlossen und durch die Errichtung von Forts gesichert wurde. Diesem Vorrücken der EntdeckerInnen hatte die bedrängte Urbevölkerung wenig entgegenzusetzen hatte, da die verschiedenen indianischen Stämme verstreut lebten und vielfach untereinander verfehdet waren. Ein gemeinsamer, überregionaler Zusammenschluss zur Abwehr der Eindringlinge erfolgte somit nicht.

198 Zit. aus: Andrä, H.: Der Brief des Pero Vaz de Caminha über die Entdeckung Brasiliens 1500, in: Staden-Jahrbuch 4, 1956, S. 67–100, hier S. 84.

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Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden

Die von den PortugiesInnen bisher nicht beabsichtigte Besiedelung Brasiliens wird 1532 begonnen, ausgelöst durch politische und wirtschaftliche Faktoren. Zum einen stagnierte der Handel mit Asien, zum anderen zeigten NichtIbererInnen Interesse an Südamerika, initiierten Übergriffe und stifteten Indianerstämme zu Unruhen an. Der Aufbau von landwirtschaftlicher Nutzung und von permanenten Siedlungen, v.a. im Küstenbereich, sollten das Land für die portugiesische Krone erhalten und sichern sowie die „endgültige Besitznahme und 199 Kolonisation“ anzeigen. Als BewohnerInnen und ArbeiterInnen sah der König seine eigenen Landsleute vor. Da allerdings Anfang des 16. Jh. nur ca. 1 Mio. Menschen in Portugal lebten, musste zur Umsetzung dieses Vorhabens auf die ca. 3 Mio. indianischen UreinwohnerInnen zurückgegriffen werden. Als billige Arbeitskräfte setzte man sie im Anbau von Wein, Weizen und Zuckerrohr ein und entlohnte sie mit Messern oder Glasperlen. Obgleich die Indios schon bei der Abholzung und dem Transport des Pau brasil arbeiteten, wirkte die Ausweitung der agrarischen Produktion auch auf ihre Situation. Aus punktueller Beschäftigung wurde systematische, und aus zeitlich begrenzter Arbeit wurde dauerhafte. Der „Wunsch, die Indianer ohne Rücksicht auf humane Erwägungen schamlos zum eigenen wirtschaftlichen Nutzen ausbeuten zu können“200, bestimmte die Haltung der KolonistInnen gegenüber den Eingeborenen. Und auch die anfängliche Sympathie der EuropäerInnen für die Indios und deren Naturverbundenheit schlug in Abneigung gegenüber den primitiven Wilden um. Dies gipfelte in der Diskussion, ob die Indios überhaupt Vernunft besäßen und als vollgültige Menschen zu betrachten wären. Ihre Stellung als Arbeitskräfte verschlechterte sich zudem entscheidend, da sie – geschuldet der fortschreitenden Agrarisierung und Geldnot des Königs – zu Sklaven degradiert wurden, die darüber hinaus leicht zu fangen waren. Im Jahr 1549 gelangten die ersten Jesuiten in die südamerikanische Kolonie, um die Christianisierung und Zivilisierung ihrer BewohnerInnen zu betreiben. Als selbsternannte Anwälte der misshandelten und ausgebeuteten Eingeborenen kämpften die Jesuiten gegen die Gier der SiedlerInnen und für die Menschenrechte der Indios. Um deren Freiheit zu bewahren und sie vor Versklavung zu schützen, errichtete man Dörfer (port. ’aldeias‘), in denen die UreinwohnerInnen zwangsweise angesiedelt wurden. Solche Missions-Aldeias201 erleichterten überdies auch die Missionierungstätigkeit. Trotz ihres protegierenden Einsatzes standen die Jesuiten der allgemein praktizierten Sklaverei jedoch ambivalent gegenüber. Weder griffen sie dagegen ein, noch verzichteten sie selbst auf SklavInnen. Allerdings bemühten sie sich, eine ausufernde und ungerechtfertigte Versklavung zu verhin-

199 Jacob, E.G.: Grundzüge der Geschichte Brasiliens, Darmstadt 1974, S. 166. 200 Prien, H.-J.: Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika, Göttingen 1978, S. 166. 201 Prien befürwortet zu Recht die Bezeichnung ’Missions-Aldeia‘, um sie von der ursprünglichen indianischen Siedlung begrifflich zu unterscheiden, vgl. ebd., S. 183.

Die Versklavung und Missionierung von Indios und AfrikanerInnen

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dern, wodurch sie aber mit den wirtschaftlichen Interessen der KolonisatorInnen in Konflikt gerieten. Um den Bedarf an billigen Arbeitskräften zu decken, unternahmen die PortugiesInnen Raubzüge und fingen die SklavInnen ein. Des Weiteren kauften sie den Indios ihre ebenfalls eingeborenen Gefangenen ab, die als Opfergaben vorgesehenen waren, und schürten Stammesfeindschaften, um die Zahl solcher Gefangenen zu steigern. Da aber unzählige Indios in den kriegerischen Auseinandersetzungen starben, die sie untereinander und mit den ErobererInnen führten, vergrößerte sich der Mangel an Arbeitskräften, was weitere Gefangennahmen nach sich zog. Im Zuge dieser Entwicklung fürchteten die Jesuiten auch um die Sicherheit der in den Missions-Aldeias lebenden Eingeborenen und um die Realisierung eines christlichen Brasiliens. Sie befürworteten daher den Import afrikanischer SklavInnen202, ohne dessen Ausmaße erahnen zu können oder gar beabsichtigt zu haben. Dennoch ist den Jesuiten nicht abzusprechen, dass sie Menschenleben gegeneinander abwogen, und dass in ihren Augen „die Sklaverei der Schwarzen 203 [...] Freiheit für die Indios“ bedeutete. Trotz einiger Rechte, die der indigenen Bevölkerung zeitweilig eingeräumt wurden, erkannte man ihnen weder die volle Menschenwürde noch Bodenbesitz zu. Auch die Intervention des Papstes, als er 1639 die Berücksichtigung der Menschenrechte der Indios anmahnte sowie für Sklavenhandel und -besitz mit Exkommunikation drohte, verfehlte ihr Ziel. Die Bemühungen der Jesuiten um eine Behandlung der Indios nach christlich-ethischen Maßstäben und um die Verwirk204 lichung ihrer „Vision einer indigenen Kirche“ auf brasilianischem Boden scheiterten endgültig 1759, als sie aufgrund ihrer Einmischung in die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Belange ausgewiesen wurden. Nicht nur im Kampf um Gefangennahme oder Freiheit, sondern auch in der Versklavung starben viele Indios. Importierte Krankheiten führten reihenweise zum Tod, die Arbeit setzte der ohnehin schwachen körperlichen Konstitution ebenso zu wie die schlechte Behandlung durch AufseherInnen und HerrInnen. Auch wenn diese einen unerschöpflichen Vorrat an günstig zu erwerbenden SklavInnen vermuteten, verringerte die hohe Sterberate die Zahl der indigenen Bevölkerung drastisch. Wo die Indios nicht ausgerottet wurden oder nicht ihre Freiheit gegen ein Leben in Sklaverei tauschen wollten, dort zogen sie sich zurück. Die freien Überlebenden flüchteten ins wenig zugängliche, unerforschte Hinterland und überließen den EuropäerInnen den Küstenstreifen. Zwar schwanken die Daten über die Zahl der brasilianischen UreinwohnerInnen um 1500 (ca. 1–10 Mio. 202 Vgl. Görgen, H.M.: Brasilien. Landschaft, politische Organisation, Geschichte, Nürnberg 1971, S. 208. 203 Bosl, K.: Die Sklavenbefreiung in Brasilien, eine soziale Frage für die Kirche? Die Katholische Kirche und das Ende der Sklaverei in der Kaffeeprovinz São Paulo. 1871–1888, Stuttgart 1999, S. 44. 204 Ebd., S. 39.

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Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden 205

bzw. 5–13 Mio.) und heute (ca. 460.000 bzw. 350.000) , doch belegen sie deren Niedergang, der mit der Eroberung und Besiedelung durch die PortugiesInnen einsetzte. 3.1.2 Sklavenimport aus Afrika

3.1.2.1

Der transatlantische Handel mit afrikanischen Menschen 206

Indem 1538 die „erste Schiffsladung mit Menschenfracht“ in Brasilien landete, begann die dreieinhalb Jahrhunderte dauernde Epoche der transatlantischen Sklaventransporte, die mehrere Millionen Schwarze in die Neue Welt brachten. Um überhaupt die Ware Mensch zu erhalten, konnten die PortugiesInnen auf bestehende Strukturen des afrikanischen Sklavenhandels zurückgreifen, ohne ihn zu initiieren. Jedoch gaben sie ihm durch Intensivierung und Systematisierung eine neue Qualität, die den Handel unüberschaubar und Kontinente übergreifend machte. Politische Ereignisse und wirtschaftlicher Bedarf prägen die Epoche der Sklavenimporte und gliedern sie in drei Perioden. 207 1. Von den 30er Jahren des 16. Jh. bis zur Mitte des 17. Jh. erfolgte der Sklavenhandel zwischen Afrika und Amerika in recht geringem Umfang. Trotz Steuererleichterung, die die portugiesische Krone 1559 für den Kauf von afrikanischen SklavInnen gewährte, wurden bis zum Ende des 16. Jh. nur ca. 12.000–15.000 Schwarze nach Brasilien gebracht. Bis 1650 stieg die Zahl der Importe auf ca. 208 200.000. 2. Analog zum wirtschaftlichen Wachstum seit der Mitte des 17. Jh. stiegen der Bedarf an SklavInnen sowie deren Einfuhr, um sie auf Plantangen, im Bergbau, in 205 Die Angaben stützen sich auf Daten der Fundação Nacional do Índio (jeweils erstgenannte Zahl) sowie von Survival International; vgl. http://www.funai.gov.br/funai.htm und http://www.survivalinternational.de/stammesvolker/brasiliens. 206 Faber, G.: Brasilien. Weltmacht von morgen, 4., neubearb. u. erg. Aufl., Tübingen 1981, S. 60. 207 Vgl. hierzu Loth, H.: Sklaverei. Die Geschichte des Sklavenhandels zwischen Afrika und Amerika, Wuppertal 1981, S. 11. Im Gegensatz zu Loth datiere ich die zeitliche Grenze zwischen der 2. und 3. Periode nicht auf 1807/8, sondern auf 1831. Zwar verbot England 1807 den Sklavenhandel und die -einfuhr in seine kolonialen Gebiete, aber erst 1831 untersagte Brasilien den Import von SklavInnen. 208 Die Zahlenangaben bzgl. der nach Brasilien deportierten afrikanischen SklavInnen orientieren sich an der detaillierten und umfangreichen Übersicht in: Santos, A.M.B.d.: Die Sklaverei in Brasilien und ihre sozialen und wirtschaftlichen Folgen. Dargestellt am Beispiel Pernambuco (1840– 1889), München 1985, S. 35–49. Während Santos einerseits sehr genaue Daten verwendet (z.B. gelangten 1846 genau 50.324 SklavInnen nach Brasilien, vgl. S. 45), rechnet sie andererseits mit Überschlagszahlen (z.B. wird die Ziffer der in den ersten 50 Jahren des 17. Jh. importierten Schwarzen auf 200.000 geschätzt, vgl. S. 41), was beides der jeweiligen Quellenlage geschuldet ist. Jedoch mutet diese Mischung aus präzisen Daten und groben Schätzungen merkwürdig an, wenn sie innerhalb einer Rechnung benutzt werden, die ihrerseits mit einem genauen Ergebnis abschließt (insgesamt wurden 3.314.990 SklavInnen nach Brasilien importiert, vgl. S. 49).

Die Versklavung und Missionierung von Indios und AfrikanerInnen

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der Viehzucht oder im Herrenhaus einzusetzen. Die Nachfrage der PortugiesInnen wurde durch die AfrikanerInnen bedient, und in den fast 200 Jahren bis 1830 ca. 2.830.000 SklavInnen verschifft. 3. Zwar wurde 1831 die Sklaveneinfuhr verboten, doch setzte sie sich der Illegalität und den Sanktionen zum Trotz fort. Erst mit dem bekräftigenden Gesetz zum Verbot des Sklavenhandels im Jahr 1850 verebbte der Import. In den über 50 Jahren bis 1888, als man die Sklaverei abschaffte, gelangten immerhin ca. 490.000 AfrikanerInnen nach Brasilien. Obwohl im Allgemeinen die „Angaben über die Zahl der (bis 1850) eingeführten Sklaven [...] erheblich, und zwar zwischen 2,3 und 18 Millionen“209 schwanken, kommt die nach obigen Angaben berechnete Zahl von über 3,5 Mio. der wahrscheinlichen, aber nicht genau rekonstruierbaren Ziffer wohl relativ nahe. Aufgrund der regen Nachfrage beschränkte sich der Handel nicht auf einzelne Gebiete Afrikas, sondern erfasste weite Teile und Regionen. An der Westküste wurden zentrale Märkte errichtet, wo die auch im Landesinneren gefangenen Menschen von örtlichen HändlerInnen gesammelt und den portugiesischen KäuferInnen übergeben wurden. Ausgehend vom nordwestlichen Afrika verlagerten sich die Liefergebiete fortschreitend nach Süden und Osten: Im 16. Jh. bezog man die SklavInnen aus dem Raum um das heutige Guinea und schritt im 17. Jh. an der nördlichen Küste des Golfs von Guinea voran. Mit dem hohen Bedarf im 18. Jh. erstreckten sich die Herkunftsgebiete auf das Nigerdelta, den Sudan, das Kongobecken und Moçambique. Im 19. Jh. konzentrierte man sich wieder auf die bewährte Sklavenküste, die Angola-Kongo-Region und die südöstliche Küste. Entsprechend der weiten Streuung der Herkunftsregionen der von Afrika nach Amerika deportierten Schwarzen gehören diese weder einer einheitlichen Bevölkerungs- noch Kulturgruppe an, sondern gliedern sich in drei kulturelle Lager210. Zur sudanesischen, nicht-islamisierten Kultur sind die im nordwestafrikanischen Raum siedelnden Yoruba (Nagô), Dahome (Gêge) und Fanti-Aschanti (Mina) zu zählen. Man schätzte die Yoruba als kräftige und fleißige ArbeiterInnen sowie als die intelligentesten unter den AfrikanerInnen, so dass man sie bevorzugt als städtische HaussklavInnen verwendete. Die Fanti-Aschanti hingegen wurden aufgrund ihrer schwächeren körperlichen Konstitution gern als Dienstboten eingesetzt. Eine zweite Gruppe bildeten die Bantu aus dem Angola-Kongo-Raum und Moçambique. Die SklavenhändlerInnen erachteten sie als „physisch robuster, jedoch geistig rückständig, weshalb man vorwiegend ihre Eignung für harte Feldarbeit anpries“211. Die dritte Gruppe stellten die muslimischen Kulturen bestehend aus den Haussá mit sudanesischer Herkunft sowie den Mandinga und Peuhl mit hamitischer und semitischer Abstammung. Als SklavInnen waren die islamisierten Haussá wegen ihrer Kraft und ihres Fleißes zwar begehrt, doch widersetzten sie 209 Wöhlcke, M.: 500 Jahre Brasilien. Die Entstehung einer Nation, Strasshof 2000, S. 30. 210 Vgl. hierzu Ramos, A.: Die Negerkulturen in der Neuen Welt, S. 147 f. 211 Reuter, A.: Voodoo, S. 15.

70

Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden

sich häufig der Arbeit und initiierten u.a. religiös motivierte Aufstände, so dass ihr Marktwert abnahm und sie z.T. sogar nach Afrika zurückgebracht wurden. 3.1.2.2

Lebensbedingung und Missionierung

Zu den ersten Prozeduren, die die afrikanischen SklavInnen bei ihrer Ankunft in Brasilien erlebten, gehörte die Taufe. Da die portugiesische Krone die enge Verbindung mit der römisch-katholischen Kirche auch in der Kolonie fortführen wollte, beschränkte sie den Zugang ausschließlich auf KatholikInnen. Dies galt sowohl für ImmigrantInnen als auch für SklavInnen. Allerdings lag die Hürde, um zu demonstrieren, dass man katholisch war, nicht übermäßig hoch. „Wenn ein Fremder nur das Vaterunser, das Ave-Maria und das Credo beten und das Kreuz 212 schlagen konnte, war er im Brasilien der Kolonialzeit schon willkommen.“ Für die importierten AfrikanerInnen hingegen reichte zumeist die Taufe aus, weil sie möglichst schnell verkauft werden und dann bereits katholisch sein sollten. Aufgrund des Zeitmangels führten die Missionare Massentaufen durch und verschoben die zugehörige Katechese auf später, wenn die SklavInnen ihre Arbeitsstätte erreicht hätten. Ohne die sakramentale Handlung des Priesters zu verstehen oder die Glaubensinhalte zu kennen, wurden die AfrikanerInnen in die Kirche eingegliedert. Das diente zwar deren Wachstum, jedoch nicht der Verbreitung des Evangeliums. Teils noch an Bord des Schiffes, teils direkt nach dem Betreten brasilianischen Bodens fand der Verkauf der menschlichen, rechtlosen Ware statt. Hier wurden die sozialen Bindungen der AfrikanerInnen ebenso wenig berücksichtigt wie bei ihrer Gefangennahme in der Heimat und ihrer Einschiffung gen Amerika. Wenn noch Stammes- und Familienangehörige auf demselben Schiff waren, so trennte man an Land auch Mütter und Kinder. Es sollte „keine Ansammlung einer großen Zahl von Sklaven des gleichen Volkes oder Stammes“213 in einer Region geben, um Verbindungen zwischen den Schwarzen und Revolten zu verhindern. Die Möglichkeit, die SklavInnen auch auf dem inneramerikanischen Markt zu vermieten, verpfänden und zu verkaufen, trug darüber hinaus zu ihrer Verstreuung bei. Der Verlust der familiären und kulturellen Wurzeln stellte jedoch gleichzeitig einen Neuanfang dar, indem die AfrikanerInnen nach neuem sozialen Rückhalt in den gegebenen Strukturen suchen mussten. Die Lebensbedingung eines/r SklavIn lässt sich knapp zusammenfassen: „Ausbeutung seiner Arbeitskraft, schlechte Ernährung, harte Strafen, mangelnde Hygiene und Gesundheitspflege, hohe Sterblichkeit“214. Die Entlassung in die Freiheit war an sich zwar möglich, doch selten. An jedem neuen Arbeitsort trafen die Afri212 Freyre, G.: Herrenhaus und Sklavenhütte. Ein Bild der brasilianischen Gesellschaft, mit einer Einleitung von H.M. Görgen, Stuttgart 1982, S. 51. 213 Jacob, E.G.: Grundzüge der Geschichte Brasiliens, S. 73. 214 Görgen, H. M.: Brasilien, S. 209.

Die Versklavung und Missionierung von Indios und AfrikanerInnen

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kanerInnen auf andere, mit denen sie z.T. kaum mehr als das Schicksal gemeinsam hatten: Sie stammten aus unterschiedlichen geografischen und kulturellen Regionen, gesellschaftlichen Schichten, religiösen Gemeinschaften und sprachen verschiedene Sprachen. Somit stellte die auf diversen Märkten zusammengekaufte Sklavenschaft eine gänzlich entwurzelte Gruppierung innerhalb der brasilianischen Gesellschaft dar. Gemeinsamkeiten mussten erst gesucht und Beziehungen aufgebaut werden. Die HerrInnen beschäftigten ihre SklavInnen auf Plantagen oder in Bergwerken im Landesinneren, als ’Mädchen für alles‘ in den Küstenstädten oder als Bedienstete innerhalb des Hauses. Dabei können allerdings Arbeitsanforderung, Behandlung und Freiraum erheblich variieren. In der Landwirtschaft dauerte die Arbeitszeit vom frühen Morgen bis in die Nacht, in der Zuckersiederei während der Ernte bis zu 18 Stunden, und Vergehen wie kurze Arbeitsunterbrechungen wegen Erschöpfung wurden mit Peitschenhieben bestraft. Verstümmelungen durfte eine Strafe allerdings nicht nach sich ziehen, damit der/die ArbeiterIn nicht unbrauchbar wurde. Außerhalb der Arbeitszeit überließ man die SklavInnen sich selbst, wodurch sich ihnen ein gewisser Freiraum für kulturelle und gesellschaftliche Kontakte und Betätigungen bot. Nächtliche Versammlungen aber, die zur Verehrung der heimatlichen Gottheiten und Geistwesen dienten, waren ihnen weitgehend verboten. Aus den Reihen der FeldsklavInnen flohen viele ins unwegbare Hinterland, wo sie Siedlungen (’Quilombos‘) errichteten und sich mit der indigenen Bevölkerung vermischten. Die im Haus der HerrInnen tätigen SklavInnen wie Ammen, Diener und Spielgefährten für die Kinder führten ein vergleichsweise angenehmes Leben, da sie meist milder behandelt wurden. Aufgrund der räumlichen und persönlichen Nähe aber achteten die christlichen Herrschaften in besonderer Weise darauf, dass „ihre Haussklaven getauft waren, denn man fühlte so etwas wie ein abergläubisches Unbehagen, ‚Heiden‘ oder ‚Mauren‘ im Hause zu haben, selbst wenn diese nur Sklaven waren“215. Der größte Freiraum stand denjenigen SklavInnen offen, die in den Städten außerhalb des Hauses arbeiteten. Als LastenträgerInnen, HandwerkerInnen, BotInnen oder ZwischenhändlerInnen waren sie „einer deutlich geringe216 ren Sozialkontrolle unterworfen und hatten breitere Handlungsspielräume“ , die zudem Kontakte zu SklavInnen der gleichen Herkunft erlaubten. Insofern konnten sie recht leicht ihre in die Neue Welt importierte afrikanische Identität, Kultur und Religion in gemeinschaftlicher Weise praktizieren und pflegen. Im Gegensatz zu den Missions-Aldeias für die Indios richteten die Jesuiten für die AfrikanerInnen keine Schutzräume ein, denn ihre Freiheit galt es nicht zu bewahren. Immerhin widerfuhr denjenigen, die in den Klöstern als SklavInnen arbeiteten, eine bessere Behandlung als denen auf den Plantagen und im Bergbau,

215 Freyre, G.: Herrenhaus und Sklavenhütte, S. 416. 216 Reuter, A.: Voodoo, S. 21.

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Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden

so dass der Arbeitsplatz Kirche selbst einen Schutzraum darstellte. Hier konnte zudem die christliche Missionierung gewährleistet werden, wohingegen sich die Priester bei der beabsichtigten Unterweisung außerhalb ihrer Mauern verschiedenen Widrigkeiten gegenüber sahen. Es fehlten Zeit und Personal, Felder sowie Minen lagen z.T. weit und verstreut im Landesinneren, und manche PlantagenbesitzerInnen wollten ihren SklavInnen nicht für den zweitägigen Unterricht bei einem Reiseseelsorger freigeben. Immerhin wurden sie sonntags und an katholischen Feiertagen von der Arbeit befreit. Am Gottesdienst nahmen die AfrikanerInnen, die ja nominell christlich waren, von den hinteren Bänken der Kirche bzw. vom Vorplatz aus teil, ahmten weiterhin die Handlungen ohne sie zu verstehen nach und verbrachten den restlichen Tag weitgehend sich selbst überlassen. Sie begingen dann ihre eigenen Feiern, sangen, trommelten, tanzten und festigten die sozialen Beziehungen untereinander. Zugleich hatten solche Feste kultischen Charakter, da religiöse Riten zelebriert, die afrikanischen Gottheiten verehrt und der eigenen AhnInnen gedacht wurde. Im ländlichen Brasilien lebte somit im Schatten des christlichen Feiertags der Glaube der importierten AfrikanerInnen weiter und führte trotz der Diversität zu einer religiösen Reorganisation. In den Städten hingegen öffnete sich den SklavInnen wiederum ein größerer Freiraum, da sie sich wie die europäischen HerrInnen in Bruderschaften zusammenzuschließen konnten. Diese waren „von offizieller Seite dazu gedacht, Schwarze, ob SklavInnen oder Freie, in den Katholizismus lusitanischer Prägung und in das herrschende Gesellschaftssystem einzugliedern“217. Die ursprünglich politische Organisationsform erhielt einen religiösen Charakter, indem ihr ein Priester vorstand und sie sich um eine/n Heilige/n als PatronIn formierte. Da jede Bruderschaft Zugangskriterien aufstellte, wurden die Schwarzen nicht nur weitgehend von den Weißen getrennt, sondern auch untereinander nach Herkunft separiert. Insofern verfuhren diese Zusammenschlüsse konträr zur Politik, die die AfrikanerInnen kulturell und sozial isolieren wollte. Die Bruderschaften unterwanderten dies gleichsam, indem sie Menschen gleicher Sprache und Heimat zusammenführten. „Das Wichtige war, dass die Bruderschaft […] dem Sklaven einen Ort eröffnete, wo dieser sein konnte, was er war: afrikanisch, kolonisiert, arm, aber vereint mit seinen Brüdern.“218 In dieser neuen Gemeinschaft feierten die städtischen SklavInnen Gottesdienste, erhielten katholischen Unterricht und lernten christliche Gebete und Lieder. Allerdings bot sich hier der ideale Nährboden, sich neben den Elementen des iberischen Volkskatholizismus auch den afrikanischen Kulten zu widmen. Die Stiftung von Gemeinschaft vollzog sich äußerlich unter christlichen Vorzeichen, innerlich jedoch unter afrikanischen. Und in diesem Rahmen verstanden es die SklavInnen, „Bestandteile ihrer traditionellen Religiosität so zu ‚verpacken‘, daß sie einen christlichen Anschein erweckten oder aber heimlich 217 Bosl, K.: Die Sklavenbefreiung in Brasilien, S. 61. 218 Hoornaert, E.: Pressupostos antropológicos para a compreensão do sincretismo, in: Revista de cultura vozes 71/7, 1977, S. 43–52; hier S. 45.

Die Versklavung und Missionierung von Indios und AfrikanerInnen

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219

weiter gepflegt wurden“ . Wer annahm, dass die Missionierung in den Bruderschaften die AfrikanerInnen wirklich zu KatholikInnen machen würde, erlag einer Illusion. 3.1.2.3

Die Abschaffung der Sklaverei

Auf Drängen Englands verbot das seit 1822 unabhängige Kaiserreich Brasilien im Jahr 1831 den transatlantischen Sklavenhandel. Da das Einhalten des Verbots nur partiell kontrolliert wurde, setzte sich der Handel in Form von Schmuggel fort. Das Bestehen der Sklaverei selbst blieb davon aber unberührt, denn der Kaiser „wußte nur zu gut, daß Brasiliens Plantagenwirtschaft auf der Sklavenarbeit beruhte und bei einer plötzlichen Änderung der Verhältnisse zusammenbrechen 220 mußte“ . Daran änderte auch ein Gesetz von 1850 nichts, das erneut den Sklavenhandel verbot, und dem eine nun strenge Überwachung sowie Sanktionen bei Verstößen folgten. Mit schwindendem Import stieg der Mangel an Arbeitskräften und fiel die agrarische Produktion. Den wirtschaftlichen Interessen zum Trotz verabschiedete die Krone schrittweise weitere Gesetze, die den SklavInnen zugute kamen. Ab 1862 war beim Verkauf von SklavInnen zu beachten, dass Ehepaare sowie Eltern und Kinder nicht getrennt wurden. Männliche Sklaven, die zum Militärdienst tauglich waren, erhielten ab 1866 mit ihren Ehefrauen die Freiheit. 1871 folgte das ’Gesetz des freien Bauches‘, dass die neugeborenen Kinder von versklavten Eltern im Alter von 21 Jahren freigelassen werden sollten. Seit 1885 erhielten SklavInnen die Freiheit, die das Alter von 60 Jahren überschreiten. Die Sklavenhaltung an sich bestand zwar weiterhin, doch war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sich aufgrund der Gesetze von selbst erledigen würde. Dennoch wurde der Prozess beschleunigt, da zum einen im Volk der Unmut über die Sklaverei wuchs, und sich zum anderen die ökonomischen Produktionsbedingungen änderten, die „neue und freiere Arbeitsverhältnisse“221 anstelle der immer teurer werdenden Sklavenarbeit verlangte. In Abwesenheit des Kaisers unterzeichnete Prinzessin Isabel, die vorübergehend die Regierungsgeschäfte führte, am 13.5.1888 das ’Goldene Gesetz‘, das alle SklavInnen Brasiliens mit sofortiger Wirkung in die Freiheit entließ. Die Abschaffung der Sklaverei bedeutete zugleich das Ende der Monarchie. Die finanziell geschädigten PlantagenbesitzerInnen entzogen dem Kaiser ihre Unterstützung, und die republikanische Bewegung nutzte dessen politische Schwächung, um mithilfe des Militärs die Macht zu 219 Prien, H.-J.: Volksfrömmigkeit in Lateinamerika. Überlegungen von der Kirchengeschichte her, in: ders.: Das Evangelium im Abendland und in der Neuen Welt. Studien zu Theologie, Gesellschaft und Geschichte, zum 65. Geburtstag des Autors hrsg. v. H.-M. Barth u. M. Zeuske, Frankfurt a. Main 2000, S. 399–418, hier S. 404. 220 Faber, G.: Brasilien, S. 87. 221 Görgen, M.H.: Brasilien, S. 231.

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übernehmen. Am 15.11.1889 wurden der Kaiser abgesetzt und die Republik ausgerufen. So wie sich die Jesuiten gegen die Versklavung von Indios eingesetzt hatten und 1759 ausgewiesen wurden, führte die Abschaffung des Sklavensystems 1889 zur Absetzung und Vertreibung der Krone. Unbedacht blieb im Zuge der geschichtlichen Ereignisse allerdings das künftige Ergehen der ehemaligen SklavInnen. Weder gab es ein Konzept für ihre Integration in die brasilianische Gesellschaft noch für ihre Versorgung. So fanden sie – wenn überhaupt – geringqualifizierte und -geachtete Arbeit, schliefen auf der Straße oder in Holzbaracken ohne Strom bzw. fließend Wasser und lebten in heruntergekommenen, verlassenen Gegenden. „In diesen Gemeinschaftsunterkünften […] sah sich der Schwarze befreit vom Herren, aber nicht von der Unterdrückung und der Armut.“222 So schlecht die AfrikanerInnen während der Sklaverei zwar gelebt hatten und so gut ihre Freilassung gemeint war, sie verloren damit ihre bisherigen gesicherten Lebensumstände und mussten nun in einer sich schnell wandelnden Gesellschaft nach Orientierung und Halt suchen.

3.2 Immigration und Synkretismus 3.2.1 Einwanderung aus Europa, Nordamerika und Asien Lange bevor Brasilien im frühen 19. Jh. zu einem beliebten Einwanderungsland avancierte, kamen ForscherInnen, AbenteurerInnen, Gefangene, Adlige u.a. verschiedener Nationalitäten, Kulturen und Religionen dorthin. Entsprechend Brasiliens Status einer portugiesischen Besitzung stammte der Großteil der ersten nichtindigenen BewohnerInnen aus dem Mutterland. Begleitet wurden sie bereits seit der Entdeckung von einigen anderen Landsleuten wie dem Florentiner Amerigo Vespucci, dem deutschen Landsknecht Hans Staden oder den deutschen Kaufleu223 ten Peter Roesel und Heliodor Eoban Hesse Zum Unmut Portugals ließen sich 1555 französische ImmigrantInnen in der Bucht von Guanabara nieder, in der heute Rio de Janeiro liegt. Sie schufen damit 224 „eine Auswanderungsmöglichkeit für die Reformierten und Kalvinisten“ , von denen zwei Jahre später ca. 300 eintrafen. Darunter befanden sich zudem 14 kalvinistische SchweizerInnen. 1565 jedoch vertrieben die PortugiesInnen die Eindringlinge wieder, wozu sie von den Jesuiten Unterstützung erhielten. Da diese eine Ausbreitung des Protestantismus fürchteten, organisierten sie indianische Hilfstruppen und spalteten die französisch-indianische Allianz. Eine spätere kurz222 Silva, V.G.d.: Candomblé e Umbanda, S. 52. 223 Vgl. Oberacker, K.H.jr: Der deutsche Beitrag zum Aufbau der brasilianischen Nation, São Paulo 1955, S. 41 f. 224 Jacob, E.G.: Grundzüge der Geschichte Brasiliens, S. 172.

Immigration und Synkretismus

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zeitige Besetzung (1612–15) sowie vereinzelte Überfälle im 18. Jh. folgten zwar noch, doch war einer französischen Besiedelung gewehrt. 1630 landeten HolländerInnen im nordöstlichen Pernambuco und importierten ebenfalls afrikanische SklavInnen. Diese, die Indios oder gar die KatholikInnen zu missionieren, lag den HolländerInnen jedoch fern. Während sie eine freie Religionsausübung postulierten, hielten die katholischen Priester Predigten „gegen die225 ses ‚Ketzervolk‘“ . Anstatt sich dem Umfeld zu öffnen und Mischehen einzugehen, blieben die protestantischen EinwandererInnen unter sich. Im Jahr 1654 endete die holländische Eroberung allerdings, nachdem PortugiesInnen, AfrikanerInnen und Indios gemeinsamen dagegen gekämpft hatten. Obwohl die meisten nach Europa zurückkehrten, blieben einige Familien in Brasilien. Insgesamt stellte Brasilien für fremdländische ArbeiterInnen, die die Auswanderung in eine neue Heimat erwogen, drei Jahrhunderte lang eine unwirtliche Gegend dar und besaß nur eine geringe Anziehungskraft. Bauersleute fanden keinen Zugang zu kultivierbaren Böden, da diese weitgehend den GroßgrundbesitzerInnen gehörten und mit SklavInnen bewirtschaftet wurden. HandwerkerInnen hatten in den wenigen Städten kaum Beschäftigung, und AbenteurerInnen suchten ihr Glück in Ländern mit viel versprechenderen wirtschaftlichen Ressourcen. Mit dem Beginn des 19. Jh. hingegen änderte sich die Lage. 1808 emigrierte der portugiesische Hof auf der Flucht vor Napoleon nach Brasilien, 1817 heiratete der Kronprinz eine habsburgische Prinzessin und erklärte 1822 die Unabhängigkeit der Kolonie. Neben der politischen Förderung, MigrantInnen nach Südamerika zu holen, bewirkten die ökonomischen Veränderungen dasselbe. Je mehr sklavenfreundliche Gesetze verabschiedet wurden, desto mehr Arbeitsplätze wurden auch für EinwandererInnen frei. Einige der Volksgruppen aus Europa, Nordamerika und Asien, die in Brasilien eine neue Heimat suchten, werden im Folgenden angeführt. Die spätere Kaiserin Leopoldine setzte mit ihrer Ankunft in Brasilien die systematische und in großem Stil angelegte Einwanderung von EuropäerInnen in Gang. Zu ihrem Gefolge gehörten u.a. deutsche und österreichische ForscherInnen, KünstlerInnen sowie Gelehrte und Soldaten, HandwerkerInnen sowie ArbeiterInnen in Landwirtschaft und Industrie kamen nach. Im Süden des Landes gründeten die Deutschen seit 1824 ihre Siedlungen, die sie Novo Hamburgo, Frankental oder Blumenau nannten. Die Mehrheit der EinwandererInnen war protestantischen Glaubens, wie in der Kolonie São Leopoldo (ca. drei Viertel), die zum Zentrum der evangelischen Immigration und zum Sitz der heutigen Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (IECLB) aufstieg. Mit der Verfassung wurde 1824 zudem eine Art Religionsfreiheit verabschiedet, die so lange galt, wie die Fassade von Kultstätten keine religiösen Symbole aufwiesen.226

225 Ebd., S. 178. 226 Vgl. Silva, V.G.d.: Candomblé e Umbanda, S. 48.

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Diese kultische Liberalität trägt der Einwanderung vieler Nicht-KatholikInnen Rechnung, eröffnet aber gleichzeitig auch den afrikanischen Religionen einen gewissen Schutzraum, obgleich dies nicht die Intention des auf die christlichen Konfessionen ausgerichteten Gesetzes war. Die vollen staatsbürgerlichen Rechte standen jedoch weiterhin nur den KatholikInnen zu. Die in Europa existierende Vielfalt der Nationen und Konfessionen übertrug sich durch die Migrationsbewegung auch auf Südamerika: Die NeubewohnerInnen Brasiliens stammten in vielen Fällen aus den überwiegend katholischen Ländern Italien, Spanien und Polen, hingegen weniger häufig – aber doch unübersehbar – aus Ländern mit anglikanischer, lutherischer oder kalvinistischer Bevölkerung wie England, Schweden, der Schweiz und Frankreich. Mit den französischen ImmigrantInnen kam zudem der Spiritismus kardecistischer Prägung, der in Brasilien eine starke Rezeption erfuhr. Durch die Einwanderung aus Nordamerika verstärkte sich die Tendenz der religiösen, speziell christlichen Pluralisierung, indem u.a. baptistische, methodistische, adventistische und pentekostale MissionarInnen hinzukamen. Anders als die deutschstämmigen ProtestantInnen zeigten die nordamerikanischen eine deutliche antikatholische Haltung und Polemik, womit sie beitrugen, dass „die Monopolstellung der katholischen Kirche, obwohl nach wie vor Staatsreligion, [...] so endgültig aufgebrochen“227 wurde. Mit der Immigration von RussInnen ab dem späten 19. Jh. hielten auch das orthodoxe Christentum sowie das Judentum Einzug in Brasilien. Die Bezeichnung als ’RussIn‘ weist allerdings gewisse Unschärfen auf, da unter diesem Begriff auch EinwandererInnen aus der Ukraine, dem Baltikum und Polen registriert wurden. Analog verhielt es sich mit den ’TürkInnen‘, die eigentlich aus Syrien und dem Libanon stammten, ihre Länder aber bis 1920 dem türkischen Reich angehörten. Als orthodoxe und katholische ChristInnen sowie MuslimInnen erweiterten sie zwar nicht das religiöse, aber das ethnische Spektrum. Wie jedoch die Religionszugehörigkeit die Inkulturation in der neuen Heimat beeinflussen kann, zeigt sich u.a. daran, dass „die katholischen Libanesen sich im allgemeinen leichter einen Weg in die brasilianische Gesellschaft zu bahnen wissen als ihre nichtkatholischen Landsleute“228. Erst seit dem Beginn des 20. Jh. wanderten auch JapanerInnen ein, die den chronischen Arbeitskräftemangel auf den Kaffeeplantagen auffangen sollten. Im Zuge des rasanten Wachstums der Bevölkerung von 17 Mio. (1890) auf 30 Mio. 229 (1920) , dem wegen wirtschaftlicher Einbußen eine recht geringe Zahl an Arbeitsplätzen gegenüber stand, führte man 1934 eine Zuwanderungsbeschränkung für jedes Land ein. Obwohl damit keine allgemeine Ausgrenzung spezifischer Ethnien oder Religionen beabsichtigte war, richtete sich die Quote doch gegen die 227 Goldstein, H.: Gott und seine Brasilianer, in: Briesemeister, D. (Hg.): Brasilien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt a. Main, S. 464–480, hier S. 467. 228 Besselaar, J.J.v.d.: Brasilien. Anspruch und Wirklichkeit, Wiesbaden 1970, S. 163. 229 Vgl. Jacob, E.G.: Grundzüge der Geschichte Brasiliens, S. 218.

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JapanerInnen. Das lag wiederum nicht an ihrer asiatischen Kultur oder der buddhistischen Kultpraxis, sondern an ihrem Desinteresse an Brasilien und der isolierenden statt integrierenden Haltung. Mit der Einwanderungswelle ab dem 19. Jh. erlebte die Besiedelung Brasiliens nach der Eroberung durch die PortugiesInnen und dem Import von AfrikanerInnen eine neue Qualität. Mit den Menschen aus Europa, Nordamerika und Asien versammelte sich fast ’die ganze Welt‘ im südamerikanischen Land. Die Niederlassung dort erfolgte uneinheitlich, nämlich sowohl individuell neben den bisherigen BewohnerInnen als auch in eigens errichteten, den Angehörigen einer Ethnie vorbehaltenen Wohngebieten. Dementsprechend verlief die Auseinandersetzung mit der Umwelt heterogen. Während die einen isoliert auf ihren Kulturinseln lebten, vollzogen die anderen den Prozess der Inkulturation. Solches fiel den ImmigrantInnen romanischer Abstammung zwar leichter als denen germanischer, slawischer, asiatischer, semitischer oder arabischer Herkunft, doch setzte ab dem 19. Jh. auch die Brasilianisierung der Bevölkerung ein. 3.2.2 Die Vermischung von Religionen Da mehrfach die kulturellen und familiären Bindungen der importierten AfrikanerInnen getrennt wurden, setzte sich an jedem Arbeitsort die Menge der SklavInnen aus Menschen zusammen, denen weder die Stammeszugehörigkeit, die Sprache oder die Religion gemeinsam waren. Verfügte ein kleiner Betrieb nur über wenige SklavInnen, so passten diese sich häufig den katholischen Herrschaften an. Auf großen Plantagen mit bis zu 1000 SklavInnen hingegen, konnten sich Gruppen mit der Herkunft als konstituierendem Merkmal formieren. Unter der Sklavenschaft übernahmen sie „wegen ihrer zahlenmäßigen Majorität oder der Überlegenheit ihrer Mythologie, oder weil sie den einzigen Priester stellten, die Führung“230. Die anderen SklavInnen passten sich dem weitgehend an, setzten aber auch Eigenes in der Gemeinschaft durch. Insofern ereignete sich auf südamerikanischem Boden ein Prozess der innerafrikanischen Auseinandersetzung, Annäherung und Vermischung. Im ländlichen Raum führten die SklavInnen ihre sich homogenisierenden Traditionen fort und zelebrierten mit Musik und Tanz ihren afrikanischen Glauben. Da der religiöse Gehalt dieser Praktiken von katholischer Seite nicht erkannt wurde, unterband man sie nicht. Bei den Feiern zu Ehren eines/r christlichen Heiligen erweckten die SklavInnen durchgehend den Anschein, als folgten sie dem obligatorischen katholischen Ritus. Für die äußerliche Wahrnehmung traf das auch zu, wohingegen der eigentlich gefeierte Inhalt weniger katholischer als vielmehr afrikanischer Natur war. Anstelle des/r Heiligen verehrten sie eine Gottheit aus Afrika, die in ihren Eigenschaften und Attributen der offiziell gehuldigten Gestalt 230 Gerbert, M.: Religionen in Brasilien, S. 18.

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ähnelte (s. 4.2.1). In diesem Nebeneinander der Riten und Traditionen lag der Grundstein für die Vermischung afrikanischer mit katholischen Glaubensvorstellungen. Parallel verlief die Entwicklung in den städtischen Bruderschaften, auch wenn hier die Missionierung intensiver betrieben wurde als auf dem Land. Durch regelmäßige Versammlungen förderten die Priester die kultische Gemeinschaft sowie das Verstehen des katholischen Glaubens. Dennoch bot sich den AfrikanerInnen der Freiraum, an ihren alten Vorstellungen und Bräuchen festzuhalten und sie zu praktizieren. Indem der portugiesische Volkskatholizismus einen idealen Deckmantel darstellte, konnten unter seiner Obhut afrikanische Kulte gepflegt werden, ohne dass es von außen auffiel. Anstelle einer von kirchlicher Seite intendierten Konversion vermischten die SklavInnen die Religionen und überzogen ihre eigenen importierten mit einer „christlichen Firnisschicht“231. Der Schritt von der Koexistenz zum Synkretismus war ein kleiner und aus den afrikanischen wurden afro-brasilianische Religionen. Die Trennung von Kirche und Staat vollzog sich in Brasilien erst 1890. Bis dahin sahen sich die AnhängerInnen von Kulten mit afrikanischen Wurzeln polizeilicher Repression ausgesetzt. Zu Beginn der Republik jedoch erklärte man „Kultfreiheit, garantierte den religiösen Vereinigungen das Recht, Güter zu erwerben, 232 [...] und verbot die staatliche Unterstützung irgendeiner Kirche“ . Somit sah sich die römisch-katholische Kirche ihrer staatskirchlichen Privilegien entledigt und auf den Status von Vereinen, gleichgesetzt mit den anderen Denominationen, degradiert. Trotz der rechtlichen Freiheit blieben aber solche Religionen verboten, die mit Magie und Zauberei in Zusammenhang gebracht wurden. Sie galten weiterhin als illegal, wurden geächtet und polizeilich verfolgt, was sich bis in die Mitte des 20. Jh. fortsetzte. Die religiöse Vermischung vollzog sich keineswegs einheitlich, sondern hing ab vom kulturellem Hintergrund der AfrikanerInnen, dem Grad der internen Anpassung, dem Siedlungsgebiet sowie dem Kontakt mit anderen Religionen und Weltanschauungen. Neben katholischen Einflüssen konnten auch indianische, spiritistische oder esoterische in den synkretistischen Prozess einbezogen und auf verschiedene Weise gemischt werden. Zum einen entstanden gänzlich neue Religionen, die sich deutlich von den Referenzreligionen unterschieden, und zum anderen gingen solche hervor, in denen ein Kult die anderen beherrscht und den Rahmen bestimmt.233 Aufgrund der beiden Formen von Synkretismus sowie der diversen hineinspielenden Komponenten entwickelte sich eine bunte Vielfalt afrobrasilianischer Religionen. 231 Fischer, U.: Zur Liturgie, S. 98. 232 Prien, H.-J.: Die Geschichte des Christentums, S. 550. 233 Vgl. die Unterscheidung bei Quack, A.: Art. „Enkulturation / Inkulturation“, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 2, hg. v. H. Cancik / B. Gladigow / M. Laubscher, Stuttgart u.a. 1990, S. 283–289, hier S. 288.

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Trotz der Diversifikation haben sich dank der gemeinsamen Wurzeln einige gemein-afrikanische Glaubensinhalte und Praktiken in jedem dieser synkretistischen Kulte erhalten: die Verehrung von afrikanischen Gottheiten und Geistern, die mit katholischen Heiligen identifiziert wurden; die Inkorporation dieser übernatürlichen Wesen in menschlichen Medien; die erteilten Ratschläge mit helfendem, statt moralischem Charakter. Diese Ähnlichkeiten finden sich auch in anderen afro-amerikanischen Religionen wie dem haitianischen Voodoo und der kubanischen Santería. Nachfolgend werden die gängigen afro-brasilianischen Religionen in einem kurzen Überblick skizziert, um die synkretistische Vielfalt aufzuzeigen. Hierzu halte ich mich an äußere Gegebenheiten wie religiöse Wurzeln, Geschichte oder Bezeichnung, ohne aber die differenzierten Glaubensinhalte und Rituale wiederzugeben. Eine eindeutige Abgrenzung wird allerdings durch die scheinbar beliebige Verwendung der Bezeichnungen erschwert. Außenstehende verfahren nicht selten nach dem Prinzip der Synekdoche, indem sie mit dem Namen nur eines Kultes eigentlich alle meinen. KultleiterInnen hingegen, die ihren Terreiro völlig eigenständig ausrichten, können nach eigenem Ermessen eine Bezeichnung wählen, sich aber von anderen Kultstätten gleichen Namens stark unterscheiden. Wissend um die Individualität jedes einzelnen Terreiro betrachte ich die generellen Gemeinsamkeiten der Kulte. 3.2.2.1

Candomblé

Bis zur Ankunft – und nachfolgenden Umsiedlung nach Rio de Janeiro – des portugiesischen Königshofs im Jahr 1808 war Salvador de Bahia nicht nur die Hauptstadt, sondern auch einer der wichtigsten südamerikanischen Häfen des transatlantischen Sklavenhandels. Aufgrund der großen Anzahl ankommender und bleibender Sklaven aus Afrika, deren relativer Bewegungsfreiheit und ihres Zusammenschlusses in Bruderschaften gilt Salvador de Bahia „als ‚Wiege‘ der afrobrasilianischen Religionen“234. In diesem städtischen, vorindustriellen Milieu entstand der Candomblé, der als allgemeiner Ober- bzw. Typbegriff sowohl traditionale afro-amerikanische Kulte (darunter Tambor-de-Minas sowie Xangô) als auch eine singuläre Religion (mit ihren divergierenden Subgruppen, den ’Nationen‘) bezeichnet. Es entwickelten sich mannigfaltige Candomblé-Nationen, in denen mal die Traditionen der Yoruba, mal der Gêge und mal der Bantu dominierten. Ihre unterschiedlich starke Anpassung an die neue Umgebung korreliert mit dem Grad der Reinheit der überformten afrikanischen Religionen, wobei die „Kulte des Typ Candomblé [...] in nur geringem Maße durch synkretistische Beiträge nicht-afrikanischer Religionen verändert worden“235 sind. Stattdessen ereig-

234 Reuter, A.: Voodoo, S. 72. 235 Wöhlcke, M.: Analyse der afro-brasilianischen Kulte, S. 26.

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nete sich eine mehr intertribale Assimilation zwischen den afrikanischen Gruppen. Denn während sich die Bantu gegenüber den ihnen in Brasilien begegnenden 236 Einflüssen offener verhielten , isolierten sich die Yoruba in höherem Maße und erhielten ihre Religion weitgehend von fremden Elementen frei. Ähnlich ereignete sich die innerafrikanische Angleichung, in der die Bantu religiöse Vorstellungen der Yoruba in die genuin eigenen übernahmen; in anderer Richtung fand so gut wie kein Austausch statt. Somit setzte sich auf afrikanischer Ebene „in allen Teilen 237 Brasiliens der Nagô (Yoruba)-Kult durch“ , und auf synkretistischer Ebene hat sich „im Candomblé von Bahia [...] der Kult der Yoruba am reinsten und reichsten 238 erhalten“ . Die Herkunft und Bedeutung des Namens ’Candomblé‘ ist unsicher, kann aber – angesichts der Yoruba-Dominanz beinahe ironischerweise – aus dem Wortschatz der Bantu abgeleitet werden, der als ’candombe‘ sowohl einen Tanz als auch die 239 im Kult verwendeten Trommeln bezeichnet. Andererseits lässt sich der Begriff aus der Sprache der (ebenfalls wie die Yoruba) sudanesischen Ewe als ’Gemein240 schaftsküchenherd‘ erläutern. Gemäß der inhaltlichen Komponente erscheinen beide Herleitungen vorstellbar; einerseits wegen der in allen afro-brasilianischen Kulten benutzten und benötigten Schlaginstrumente; andererseits aufgrund der in kultureller und religiöser Hinsicht gemeinschaftsstiftenden Funktion einer Herdstelle als Treffpunkt der entwurzelten AfrikanerInnen. Indem sie sich noch als SklavInnen im Candomblé zusammenschlossen, galt dieser in der Anfangszeit als „marginale Gruppe [...] und er hat auch als Zentrum der Konspiration und Revolte ganz deutlich den starken ethnischen Konflikt zum Ausdruck gebracht, dem sich die in ihm organisierten Personen ausgesetzt sahen“241. Im Zuge der Industrialisierung und Abolition jedoch wandelte sich der Candomblé in seiner Funktion zu einer sozial integrierenden religiösen Gemeinschaft mit traditionell afrikanischer Ausrichtung. Dementsprechend haben sich das tradierte sudanesische Glaubensgebäude sowie die rituelle Praxis weitgehend, zudem in 236 Je nach Einschätzung des Synkretismus’ an sich variiert auch die Meinung über die Anpassung der Bantu an die neuen kulturellen Gegebenheiten. Wer nämlich den Synkretismus pejorativ und als Schwäche betrachtet, urteilt über die Assimilation der Bantu „als Beleg mangelnder Befähigung zum widerspruchsfreien Denken“ (Reuter, A.: Voodoo, S. 75). Wer hingegen den Synkretismus als eine Leistung ansieht, die Verschiedenes zu vereinen vermag, erachtet die Anpassung als Stärke und „Ausdruck interkultureller Kompetenz“ (ebd.). Aufgrund ihrer Offenheit konnten die Bantu zudem ihrerseits auf die Umgebung einwirken, so z.B. in sprachlicher Form. 237 Gerbert, M.: Religionen in Brasilien, S. 37. 238 Ebd. [Hervorhebung weggelassen]. 239 Vgl. Piepke, J.G.: Die afro-brasilianischen Kulte. Herausforderung des Heilsmonopols der Katholischen Kirche in Lateinamerika, in: Theologie der Gegenwart 36, 1993, S. 196–208, hier S. 200. 240 Vgl. Figge, H.: Westermanns Wörterbuch der Ewe-Sprache. Eine Fundgrube für die brasilianische Sprachwissenschaft, in: Staden-Jahrbuch 23/24, 1975/76, S. 153–166, hier S. 153 ff. Der Begriff ist ein Kompositum aus ’ka‘ (’Gruppe, Gemeinschaft‘), ’do‘ (’Herd, Kochstelle, Küche‘) und ’mlé‘ (’Herd‘). 241 Wöhlcke, M.: Analyse der afro-brasilianischen Kulte, S. 210.

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bensgebäude sowie die rituelle Praxis weitgehend, zudem in afrikanischer Sprache erhalten. Die ersten Candomblé-Kultstätten datieren in die Zeit um 1800, wie z.B. der ’Terreiro Da Casa Branca do Engenho Velho‘ (’Kultstätte des weißen Hauses der alten Zuckermühle‘) in Salvador, der von einer Gruppe aus versklavten und freigelassenen Yoruba, Angehörigen der ’Irmandade de Bom Jesus dos Martírios‘ ge242 gründet wurde. Die Abschaffung der Sklaverei 1888 setzte eine Wanderung der Freigelassenen vom plantagenreichen Norden in den industrialisierten Süden Brasiliens in Gang, die auch die Ausbreitung des Candomblé bewirkte. Wiederum erfolgte eine Auseinandersetzung mit einer neuen Umgebung, die weitere Ausprägungen, Filiationen und Abspaltungen hervorrief. 3.2.2.2

Xangô

Große Ähnlichkeiten zum Candomblé weist der in Pernambuco beheimatete Xangô auf, der z.T. auch als regionale Varietät der bahianischen Schwesterreligion gilt und sich in erster Linie auf die Traditionen der sudanesischen Kulte der dominanten Nagô und der Gêge gründet. Im zur modernen Großstadt aufgestiegenen Recife, dem Hauptort Pernambucos, bildeten die entwurzelten, ehemaligen SklavInnen das städtische, veramte Proletariat. Ihre Armut spiegelte sich in der Ausübung ihrer Religionen wider, so z.B. in der dürftigen Ausstattung der Terreiros und den geringeren Opfergaben. Doch auch auf die Inhalte der Religion mit ihren Mythen und Geistern wirkte sich die wirtschaftliche Not der Schwarzen aus. So wurde beispielsweise die ursprünglich mehrjährige Initiationszeit auf drei bis zwölf Monate verkürzt243, wodurch sich auch die Kenntnisse der InitiandInnen und künftigen Medien über Mythologie, Geisterwelt und Kultpraxis reduzierten. Der finanzielle Mangel der afrikanisch-stämmigen Unterschicht führte somit in 244 religiöser Hinsicht zur „Abweichung von der ‚Hochform‘ des Candomblé“ und 242 Für das Gründungsdatum kommt nach Angaben der Stadt Salvador de Bahia der Zeitraum zwischen 1788 und 1830 in Frage. Gegen ein frühe Datierung um 1788, dem Zeitpunkt der Ankunft der ersten Yoruba und Ketu in Bahia, spricht m.E., dass sich der synkretistische Prozess in seinen Ausformungen erst allmählich ereignet. Die vom brasilianischen Schriftsteller Jorge Amado vorgenommene Datierung des Terreiros, dem er ein Bestehen seit „mehr als 300 Jahren“ zuspricht, scheint jedoch zu weit gegriffen (vgl. Amado, J.: Bahia de Todos os Santos. Guia das ruas e dos mistérios da cidade do Salvador, 14.a Edição, São Paulo 1967, S. 173; die erste Ausgabe erschien 1935). 243 Vgl. Bastide, Roger: Le Candomblé de Bahia, S. 29. 244 Gerbert, M.: Religionen in Brasilien, S. 38. Allerdings bleibt Gerbert bei der Betrachtung der Veränderung des Candomblé hin zum Xangô nicht bei neutralen Begriffen zur Beschreibung der Entwicklung stehen. Stattdessen spricht er von einer „Verarmung der Mythologie und des Kultes“ (ebd.), die den Xangô als minderwertig gegenüber dem hier beinahe idealisiert dargestellten Candomblé erscheinen lässt. Gerberts Hinweis auf die Auffüllung von „entstandenen Lücken mit fremden indianischen oder christlichen Elementen“ (ebd., S. 39) verstärkt diesen Eindruck noch, demzufolge die Reinheit der afrikanischen Tradition als Stärke gilt, synkretisti-

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Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden

nachfolgend zur Verarmung des afrikanischen Anteils der Religion. Das verlorene geistige Erbe füllte der Xangô durch die Integrierung von christlichen und indianischen Inhalten auf, so dass er im synkretistischen Prozess – im Gegensatz zum Candomblé – auf einer fortgeschritteneren Stufe steht. Die Bezeichnung zeugt jedoch weiterhin von den vorrangigen religiösen Wurzeln, da sie mit dem Namen des afrikanischen Gewittergottes identisch ist. 3.2.2.3

Tambor-de-Mina

In den nordöstlichen Regionen Pará und Maranhão ist der Kult Tambor-de-Mina angesiedelt, der ebenfalls auf afrikanischen Ursprüngen basiert. Darauf verweist bereits die Bezeichnung als ’Trommel von Mina‘, die sich auf „die Herkunft der Sklaven [bezieht], die im portugiesischen Fort São Jorge da Mina in Westafrika gefangen waren, bevor sie nach Brasilien verschifft wurden“245. ’Minas‘ wurden dementsprechend die aus jenem Gebiet stammenden Angehörigen der FantiAschanti genannt. Sie zählen auch zur sudanesischen Völkergruppe, sind aber von den Yoruba (Nagô) und den Dahome (Gêge) zu unterscheiden. Zu den frühen Terreiros gehört der um die Mitte des 19. Jh. in São Luís gegründete Kult ’Casa das Minas‘, dessen Name manchmal irrigerweise zur Benennung der ganzen Reli246 gion verwendet wird. 3.2.2.4

Candomblé de Caboclo und Catimbó

In den bisher behandelten synkretistischen Kulten bilden die afrikanischen Religionen die dominierende Grundlage, zu der Elemente anderer Religionen in unterschiedlich starker Ausprägung hinzugetreten sind. Im Candomblé de Caboclo und Catimbó hingegen stellen die indianischen Traditionen die zentrale Referenz dar, wohingegen afrikanischen und katholischen Einflüssen eine periphere Rolle zukommt. Die Begegnung mit indianischen Vorstellungen fiel bei den Bantu, die den Yoruba vermeintlich an Intelligenz nachstanden, auf fruchtbaren Boden, woraufhin sich in Bahia der Candomblé de Caboclo herausbildete. Als brasilianische Variante des Candomblé de Angola wurden die Geister der Indios, die Caboclos/as, in den Rang der Orixás erhoben und ersetzten die Gottheiten Afrikas. Insofern stellt hier das afrikanische Moment die Grundstruktur, die mit indianischen Inhalten gefüllt wird. Der Catimbó wiederum legt das Gewicht auf indianische Traditionen des brasilianischen Nordostens, in die er katholische wie afrikanische Elemente in gerinsche Vermischung mit nicht-afrikanischen Religionen hingegen als Schwäche und Folge des „Überlieferungsverfalls“ (ebd.); vgl. hierzu die Kritik in 1.1.1. 245 Silva, V.G.d.: Candomblé e Umbanda, S. 83. 246 Vgl. Wöhlcke, M.: Analyse der afro-brasilianischen Kulte, S. 23.

Immigration und Synkretismus

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gem Umfang integrierte. Allerdings gründet der Catimbó nicht auf den ursprünglichen indigenen Kultformen, sondern entwickelte sich aufgrund einer romantischverklärten Idee vom edlen Wilden nach rousseauschem Vorbild. Die Entfernung von den autochthonen Wurzeln zeigt sich zudem im Namen des Kultes, der sich von der rituell gebrauchten Tabakspfeife ableitet, die im Portugiesischen ’cachimbo‘ genannt wird. 3.2.2.5

Macumba

Terreiros der Macumba finden sich entlang des brasilianischen Küstenstreifens in den städtischen Vororten, treten jedoch vermehrt in Metropolen wie São Paulo oder Rio de Janeiro auf. Die Macumba basiert auf den Traditionen der Bantu, die jedoch nicht in größtmöglicher Reinform zu erhalten angestrebt wird. Im Gegensatz zu den Yoruba gelten die Bantu nicht nur als physisch robuster, sondern auch als anpassungsfähiger gegenüber äußeren Einflüssen. Auf diese Weise kann jeder Kontakt mit anderen Glaubensvorstellungen zu deren Integration in die afrikanischen Strukturen führen.247 Dementsprechend fanden auch Elemente der Yoruba, die von Nord- nach Südbrasilien wanderten, Eingang, ohne allerdings eine Vorrangstellung einzunehmen oder gar die Macumba durch den Candomblé zu ersetzen. Ebenfalls trugen katholische und indianische Einflüsse zur synkretistischen Anreicherung bei. 248 Während ’Macumba‘ anfänglich „Neger-Gottesdienste und -Zauberfeste“ bezeichnete, wurde der Begriff später auf Kulte übertragen, die auf BantuVorstellungen beruhten und sich mit sudanesischen und nicht-afrikanischen Elementen mischten. Dabei schwingt jedoch oftmals ein pejoratives Konnotat mit, das die Macumba mit jenem identifiziert, „was man als ‚primitiv‘ afrikanisch 249 verachtete, zugleich aber fürchtete, vor allem die berüchtigte ‚schwarze Magie‘“ . Ein solches Verständnis wird zudem von einigen Begriffserklärungen genährt, auch wenn sie unterschiedliche Wortstämme zu Grunde legen. So kann der Kultname z.B. auf die Wurzel ’cumba‘ (’Tänzer, Hexer‘) oder ’kiumba‘ (’herum250 streifender, böser Geist‘) zurückgehen , die durch das Präfix ’ma‘ den Plural ausdrücken. Als Alternative gilt der Verbalstamm ’mba‘ (’tun, machen, ordnen, formen‘), so dass ’Macumba‘ die schlechte Auswirkung einer getätigten Sache wäre. Weit neutraler hingegen ist diejenige Variante, derzufolge ’Macumba‘ „im

247 Gerberts Einschätzung der Macumba als „synkretistische[r] Verfallsform der afrikanischen Religionen“ (Gerbert, M.: Religionen in Brasilien, S. 42) geht zu weit, indem er soziologische Faktoren in den Vordergrund rückt und diese auf den theologischen Bereich überträgt. 248 Ramos, A.: Die Negerkulturen in der Neuen Welt, S. 175. 249 Reuter, A.: Voodoo, S. 91. 250 Vgl. Carneiro, E.: Candomblés de Bahia, 3. Aufl., Rio de Janeiro 1961, S. 18; Brackmann, R.: Quimbanda-Kulte, S. 91.

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Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden

afrikanischen Moçambique und auf Madagaskar einen Baum bezeichnet, unter 251 dem die Eingeborenen religiöse Versammlungen abhalten“ . Heute fungiert die Kultbezeichnung als eine Art Oberbegriff, unter dem unzählige Kulte je eigener Ausprägung versammelt sind, was die Macumba an sich gleichsam unbeschreibbar erscheinen lässt. Von der unüberblickbaren Diversität ist der Schritt jedoch nicht weit, keine deutlichen Grenzen und übergeordneten Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Kulten mehr zu erkennen. Aufgrund dieser Tendenz wird der Name häufig (und undifferenziert) zu größtmöglicher Allgemeinheit hin erweitert und als pars pro toto verwendet, um generell die afro-brasilianischen Religionen zu bezeichnen. Das mag dem Bedürfnis nach einem griffigen Sammelbegriff analog zu anderen Religionsgemeinschaften wie ’Christentum‘ oder ’Hinduismus‘ geschuldet sein, verzerrt aber die Wirklichkeit. 3.2.2.6

Quimbanda

Auf die sprachliche Wurzel ’mba‘ ist der Begriff ’Quimbanda‘ zurückzuführen, mit dem die Bantu den Wahrsager, Heiler, Zauberer oder Medizinmann bezeichnen.252 In Brasilien jedoch wird der Name häufig mit schwarzer Magie und Hexerei in Zusammenhang gebracht und auch synonym für ’Macumba‘ verwendet. Aufgrund der diagnostizierten Ähnlichkeit zwischen beiden Kulten sowie der prinzipiell unscharfen Abgrenzbarkeit wird die Quimbanda in Überblicksdarstellungen zu afro-brasilianischen Religionen entweder kaum beachtet oder vorzugs253 weise der Macumba zugeordnet. Darüber hinaus findet sich auch die Absprechung der Eigenständigkeit, wonach die Quimbanda lediglich „eine Kultvariante innerhalb der Umbanda dar[stellt], die durch die (im Wesentlichen nur spirituelle) Verschiedenartigkeit der angerufenen und verkörperten Geister charakterisiert 254 ist“ . Demnach wurden unliebsame Geistergruppen aus der Umbanda, um diese

251 Lanczkowski, G.: Die neuen Religionen, S. 167. 252 Vgl. Brackmann, R.: Quimbanda-Kulte, S. 91. 253 Indem Wöhlcke die Quimbanda zum Typ Macumba zählt, reicht ihm eine kurze Begrifferklärung aus (Wöhlcke, M.: Analyse der afro-brasilianischen Kulte, S. 80). In noch geringerem Maße verfährt Flasche, der im Kapitel ’Der Heiler-Typ: Makumba‘ vom dem Quimbanda – neben anderen Begriffen, z.B. Umbanda, Embanda, Mubanda – als weitere Bezeichnung für den Macumbeiro spricht, ohne dies jedoch überhaupt zu kommentieren (Flasche, R.: Geschichte und Typologie, S. 162. 174). Horsch hingegen widmet im Rahmen der ’Erklärungsversuche der afrobrasilianischen Kultnamen‘ der ’Kimbanda‘ einen eigenen Unterpunkt, der auch die Aufgaben und Praktiken des Zauberers benennt (Horsch, H.: Die Ausbreitung afrobrasilianischer Kulte, S. 370); doch eine ausführlichere Thematisierung unterbleibt. Silva wiederum erwähnt in seinem kurzen Streifzug durch die afro-brasilianischen Kulte die Quimbanda nicht einmal (Silva, V.G.d.: Candomblé e Umbanda, S. 82–93). 254 Figge, H.H.: Geisterkult, S. 127. Figge sieht in der Quimbanda eigentlich eine „realiter inexistente Sekte“ (ebd.), die „nur in den Köpfen der gläubigen Umbandisten und derer, die wiederum ihnen Glauben schenken“ (ebd.) besteht. Andererseits jedoch bewertet er sie als kultische Variante mit einem gewissen Existenzanspruch. Wie eng die Quimbanda allerdings mit der Umbanda –

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rein zu halten, ausgegliedert und in die als Subgruppe firmierende Quimbanda eingefügt. Als die in der Quimbanda vorrangig verehrten Geister gelten gemeinhin die Exus und die Pomba Giras, die als Teufel und Prostituierte abgebildet sind. Da man beide für die VerursacherInnen von Schaden hält, denen zudem große Macht eignet, beurteilt man die Quimbanda schnell als Kult der schwarzen Magie. Allerdings bedeutet dies eine unzulässige Engführung, da Exus und Pomba Giras weder ausschließlich Böses tun, noch die einzigen Geister im quimbandistischen Kosmos sind oder nur hier ihren Platz haben. Indem die Quimbanda Elemente des Candomblé und der Umbanda vermischt, steht sie gleichsam zwischen diesen beiden Kulten, was im Synonym ’Linha cruzada‘ (’gekreuzte Linie‘) zum Ausdruck kommt. Eine größere Nähe zur Umbanda ließe sich von der ebenfalls synonymen Bezeichnung ’Umbanda cruzada‘ ableiten, was aber durch eine Untersuchung von einzelnen Kultstätten zu überprüfen wäre. Die Autonomie als eine unabhängige afro-brasilianische Religion ist der Quimbanda jedoch nicht abzuerkennen. 3.2.2.7

Umbanda

Ausgehend von Rio de Janeiro entwickelte sich die Umbanda, die aufgrund ihres vergleichsweise späten Gründungsjahres einer neuen Generation von afroamerikanischen Religionen angehört. Im Gegensatz zum Candomblé liegen die Anfänge der Umbanda im frühen 20. Jh. Obwohl auch sie auf den importierten afrikanischen Glaubensvorstellungen basiert, haben diese bereits eine zweifache Modifizierung durchlaufen. Neben und nach der intertribalen Vermischung, in der sich die Bantu-Traditionen255 noch am stärksten erhalten haben, erfolgte eine interreligiöse. Die sodann in die Umbanda einfließenden afrikanischen Elemente waren demzufolge im Vorfeld katholisiert. Die Entstehung der jungen Religion im südlichen Brasilien verhinderte nicht, dass sie zudem indianische Inhalte integrierte, obgleich dies eher für den Norden typisch ist. Allerdings sind diese Einflüsse ebenso wie im Catimbó vom genuinen Kult der Indios weit entfernt und von romantischen Idealen verwischt. anstelle der Macumba – verbunden ist, zeigt ihre Lokalisierung als ein Kultelement in Figges Dissertation über die Umbanda. 255 In der Umbanda dominieren hinsichtlich der afrikanischen Grundlagen – trotz intertribaler Synkretisierung – die Vorstellungen der Bantu, auch wenn diese nach Camargo als überbewertet erscheinen (vgl. Camargo, C.P.F.d.: Kardecismo e Umbanda, Sao Paulo 1961, S. 34 ff.). Die aber von Reuter vorgenommene Einordnung der Umbanda als ’Tochter‘ oder ’Enkelin‘ des Candomblé (vgl. Reuter, A.: Voodoo, S. 91), der vorwiegend auf Yoruba-Tradition beruht, gibt eine unscharfer Beobachtung wieder. Obgleich Entsprechungen in einigen Merkmalen existieren und obwohl der Begriff ’Candomblé‘ auch undifferenziert die afro-brasilianischen Kulte in Südbrasilien bezeichnen kann (vgl. Wöhlcke, M.: Analyse der afro-brasilianischen Kulte, S. 56), ist eine direkte Abhängigkeit der Umbanda vom Candomblé nicht zu konstatieren.

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Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden

Abgesehen von der spezifischen Gewichtung im Zuge der Synkretisierung hebt sich die Umbanda von den Schwesterreligionen durch ihre spiritistischen Grundzüge ab. In der Mitte des 19. Jh. hielt der aus Europa importierte Spiritismus in Brasilien Einzug und gelangte in der kardecistischen Prägung zu religiöser Bedeutung. Aus der Begegnung von bisheriger afro-brasilianischer Religiosität und neuer spiritistischer Lehre ging die Umbanda als Symbiose hervor. Zwar finden sich auch in der Macumba in zunehmendem Maße Spuren des Spiritismus, doch weit geringer und weniger konstituierend als in der Umbanda. Es kursieren zahlreiche Übersetzungs- und Interpretationsvarianten, die den Namen der Religion herleiten und erklären wollen, wozu sie auf unterschiedliche sprachliche und kulturelle Kontexte zurückgreifen. Gemäß der Intention, die Umbanda auf möglichst alte Ursprünge zurückzuführen, sehen die Gläubigen in ihr „eine der größten Strömungen des menschlichen Denkens, die auf der Erde seit mehr als hundert Jahrhunderten existieren, [und] deren Wurzel von den alten Religionen und Philosophien Indiens stammt“256. Dieser Herkunft zufolge liegt mit dem Begriff ’Umbanda‘ vermeintlich ein Sanskrit-Wort vor, das sich von ’aum257 bandhâ‘ herleitet und ’die Grenze im Unbegrenzten‘ bedeutet. Dahingegen übersetzt eine andere Variante die Bezeichnung frei aus dem Portugiesischen als ’eine Fahne‘, wodurch die Einheit der synkretistischen Religion betont werden soll. Somit fungiere der Name als Programm und benenne „die eine und unteilbare Religion der Umbanda [...], die unter ihrer Fahne die vielfältigen Kulte vereinen 258 will“ . Allerdings lautet ’eine Fahne‘ im Portugiesischen ’uma bandeira‘, weshalb die Herleitung auf großzügigem Umgang mit Grammatik und Wortschatz der romanischen Sprache basiert. Darüber hinaus wollen christlich-motivierte Erklärungen in dem Namen des 259 Kultes den eines Engels in ähnlichem Rang wie Michael oder Raphael sehen . Andere setzen den Begriff mit der Trinität gleich und gliedern ihn in drei Silben, 260 die je eine Hypostase meinen: ’um‘ (’Vater‘), ’ban‘ (’Sohn‘), ’da‘ (’Heiliger Geist‘) . Eine etymologische Abhängigkeit der ’Umbanda‘ vom Bantu-Begriff ’Quimbanda‘, der den Medizinmann und Priester bezeichnet, scheint dahingegen trotz oder wegen ihrer Schlichtheit nahe liegender.

256 So formuliert auf dem Ersten Kongress des Spiritismus der Umbanda; zit. nach Kloppenburg, B.: A Umbanda no Brasil, S. 48. 257 Vgl. Bastide, R.: Les religions africaines, S. 446. 258 Fischer, U.: Zur Liturgie, S. 5. 259 Vgl. Bastide, R.: Les religions africaines, S. 446. Im Gegensatz dazu sieht Braga den Begriff ’Umbanda‘ lediglich als durch die sieben Erzengel hervorgebrachte Wortschöpfung; vgl. Braga, L.: Umbanda e Quimbanda, S. 19. 260 Vgl. Maciel, S.P.: Alquimia de Umbanda. O poder vibratório difusão em fraternidade, 3. Aufl., Rio de Janeiro o.J., S. 9.

Immigration und Synkretismus

3.2.2.8

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Batuque

In naher Verwandtschaft zu Candomblé und Xangô steht der im südlichsten brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul angesiedelte Batuque, der als dritte 261 regionale Variante einer Religion angesehen wird. Tatsächlich entwickelte er sich in Abhängigkeit von der nordbrasilianischen Kultpraxis und bildete eigene, lokal gefärbte Aspekte heraus. Trotz solcher individuellen Abweichungen ähneln Batuque und Xangô einander mehr als dem Candomblé. Während die afrikanischen, intertribal vermischten Wurzeln von diesem in besonderem Maße bewahrt werden, sind sie in jenen weniger umfassend erhalten. Im Vergleich zum Candomblé erscheinen die in Xangô und Batuque vorfindlichen afrikanischen Mythen und Riten bereits verflacht. Diesen Verlust jedoch gleichen sie durch die Aufnahme nicht-afrikanischer Vorstellungen aus, was zudem einen neuen religiösen Reichtum, basierend auf der Vielfalt, begründet. Die Bezeichnung ’batuque‘ leitet sich von den im Kult verwendeten Trommeln gleichen Namens ab, benennt aber auch einen religiösen Tanz. Über die Anfänge der Religion lassen sich nur Vermutungen anstellen, die in der Hypothese zusammenfließen, „dass der erste Batuque-Tempel in [der Stadt] Rio Grande gegründet wurde, vor 130–150 Jahren, durch eine Frau, die frei war [und] aus dem Nordosten, vielleicht Pernambuco, kam“262. Der letztgenannte Hinweis verdankt sich der Ähnlichkeit zum Xangô. Dass die Gründungsperson eine freie Frau, d.h. eine ehemalige Sklavin, war, erschließt sich zum einen von der Dominanz der Frauen als Leiterinnen afrikanischer Kulte. Zum anderen fordert die Leitung einer Kultstätte viel Zeit, die von SklavInnen weder aufzubringen noch nach eigenem Ermessen einzuteilen ist. Das erste Auftreten des Batuque wird in den Zeitraum 1840–60 datiert, als in der südlichen Provinz sehr viele schwarze SklavInnen und Freie lebten, von denen auch welche aus dem Norden abgewandert waren. Eine besonders hohe Konzentration fand sich in Rio Grande, der südlichsten Stadt Brasiliens, die noch heute zahlreiche alte KultleiterInnen als den Ort ihrer religiösen Herkunft benennen.

261 Entgegen der gemeinhin üblichen Einteilung, die diese drei Kulte als zusammengehörig einschätzt, nimmt Wöhlcke eine andere Gruppierung vor. Demnach rechnet er den Xangô zum Typ Candomblé, da er vermeintlich „nur in geringem Maße durch Synkretismen mit nichtafrikanischen Religionen in [...] [seinen] kulturellen und sozialen Mustern verändert worden“ (Wöhlcke, M.: Analyse der afro-brasilianischen Kulte, S. 23) sein soll. Den Batuque hingegen zählt er – ebenso wie einen „puritanisierten“ Xangô und Candomblé – als „die ihnen ähnlichen Kulten anderer Benennung“ (ebd., S. 12 f.) zu den Umbanda-Kulten. Weiterführende Ausführungen unterbleiben leider. Letztlich ist Wöhlckes Klassifizierung als obsolet und Sondermeinung zu werten. 262 Correa, N.F.: Panorama das religiões afro-brasileiras do Rio Grande do Sul, in: Oro, Ari Pedro (org.): As religiões afro-brasileiras do Rio Grande do Sul, Porto Alegre 1994, S. 9–46, hier S. 24; nach Correa auch die folgende Argumentation. Da der Aufsatz 1994 erschien, ist die genannte Zeitspanne aus heutiger Sicht um zehn bis zwanzig Jahre umzudatieren.

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Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden

3.3 Zulauf und Verlust – Der Wandel der religiösen Landschaft 3.3.1 Vergleich der Anhängerzahlen Im Zuge der langen Geschichte als Einwanderungs- und Sklavenimportland trafen in Brasilien Menschen verschiedenster Religionen aufeinander, die einerseits an ihren Traditionen festhielten und andererseits neue religiöse Formen hervorbrachten. Während die nationale Vielfalt allmählich zu einer brasilianischen Nation verschmolz, bestand die religiöse Vielfalt weiterhin und spaltete sich sogar noch auf. Diese Dynamik ist besonders bei den afro-brasilianischen Religionen sichtbar, die durch die unterschiedliche Gewichtung der übernommenen Elemente immer weitere Synkretismen hervorbringen konnten (und weiterhin können). Die protestantische Bewegung hingegen, die zahlreiche konfessionelle Abspaltungen bereits in ihrer frühesten Phase erlebte, erscheint heute beinahe noch weniger einheitlich als die Menge der afro-brasilianischen Kulte. Bisher differenzierte man sie etwas oberflächlich und nicht durchgehend stringent nach Einwandererkirchen (wie die evangelisch-lutherische und die reformierte) und Missionskirchen (z.B. die methodistische und die baptistische).263 Mit dem Auftreten der Pfingstbewegung jedoch (ab 1910) und spätestens seit ihrer rasanten Ausbreitung (ab den 1970er Jahren), die mit weiteren Neugründungen einherging, fächerte sich die protestantische religiöse Landschaft auch in jüngerer Zeit zusehends auf. Wie einschneidend diese Entwicklung wirkt, verdeutlicht der „Atlas der religiösen Mitgliedschaft und sozialen Indikatoren in Brasilien“, der die Ergebnisse der Volkszählung des Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE) vom Jahr 2000 zusammenfasst, da er in der Übersicht zwischen ’Evangelische insgesamt‘, ’pfingstlerische Evangelische‘ und ’Evangelische der Mission‘ unterscheidet.264 Letzterer Begriff bezieht sich auf die seit Jahrhunderten ansässigen Religionsgruppen, die bisher – in Abgrenzung zu den Evangelikalen – als ’historischer‘ oder ’traditioneller Protestantismus‘ bezeichnet wurden. Als weitere Mitgliedschaften führt jene Tabelle nur noch die Spalten ’Katholiken‘, ’Andere Religionen‘ und ’Ohne Religion‘ an. Trotz des allgemeinen Sprachgebrauchs ist der Begriff ’KatholikIn‘ auch in Brasilien nicht automatisch syn263 Vgl. Prien, H.-J.: Die religiöse Situation in Brasilien nach dem Ende des katholischen Monopols. Der brasilianische Nordosten, in: ders.: Das Evangelium im Abendland und in der Neuen Welt. Studien zu Theologie, Gesellschaft und Geschichte, zum 65. Geburtstag des Autors hrsg. v. H.M. Barth u. M. Zeuske, Frankfurt a Main 2000, S. 419–438, hier S. 424. Prien führt als weitere Gruppierung die Glaubensmissionen an. Diesen drei Ausprägungen innerhalb des historischen Protestantismus stellt er die Evangelikalen gegenüber, von denen die Pfingstbewegung „am spektakulärsten ist“ (S. 425). 264 Vgl. Jacob, C.R. u.a. (org.): Atlas da filiação religiosa e indicadores sociais no Brasil, Rio de Janeiro u.a. 2003, S. 34. Die Verwendung der Bezeichnung ’Evangelische der Mission‘ wird leider nicht begründet, was sie im Kontext der anderen evangelischen Konfessionen nicht weniger irritierend macht.

Zulauf und Verlust – Der Wandel der religiösen Landschaft

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onym für ’AnhängerIn der römisch-katholischen Kirche‘ (Igreja Católica Apostólica Romana). Zwar trifft dies auf 99,5% der brasilianischen KatholikInnen zu, doch existieren darüber hinaus die landesweit verbreitete Igreja Católica Brasileira (500.000 Gläubige) und die beinahe ausschließlich auf São Paulo und Rio de Janeiro beschränkte Igreja Católica Ortodoxa (38.000 Gläubige). Unter der Kategorie ’Andere Religionen‘ versammelt der Atlas einige der sozusagen noch übrigen Denominationen Brasiliens, wobei er zwischen 15 Positionen differenziert – die gleiche Anzahl wie innerhalb der Pfingstbewegung. Neben Judentum, Buddhismus, Spiritismus, Esoterik und Islam werden u.a. die Zeugen Jehovas, die MormonInnen, die indigenen Religionen sowie Candomblé und Umbanda genannt. Andere afro-brasilianische Kulte bleiben unaufgezählt bzw. sind unter diesem Oberbegriff zusammengefasst. Auf diese Weise spiegelt eine vergleichende Aufstellung der religiösen Mitgliedschaft, die nur zwischen fünf oder sechs Kategorien unterscheidet, eine scheinbar unkomplizierte religiöse Landschaft wider, die sich eigentlich jedoch in eine Vielzahl von Möglichkeiten zergliedert. Die nachfolgenden Diagramme sollen den Wandel jener Landschaft von 1960 bis 2000 nachzeichnen, wozu ich die Übersicht jenes Atlas in seiner allgemeinen Form weitgehend übernehme. Die Spalte der ’Evangelischen der Mission‘ lasse ich jedoch weg, da sie aus den anderen beiden Angaben zu den protestantischen Gläubigen erschließbar ist. Allerdings spezifiziere ich die Kategorie der ’anderen Religionen‘, indem ich ihr die Untergruppe ’kardecistisch und afro-brasilianisch‘ zur Seite stelle.265

265 Die im Folgenden angeführten Daten stützen sich, soweit nicht anders erwähnt, auf drei Quellen: 1. den Atlas da filiação religiosa, hg. v. C.R. Jacob; 2. Länderbericht Brasilien 1994, hg. v. Statistischen Bundesamt, Wiesbaden, Stuttgart 1994; beide stützen sich wiederum auf 3. die von IBGE durchgeführten Volkszählungen. Die von mir zum Zweck der gegenseitigen Ergänzung zusammengefügten Angaben weisen jedoch einige Uneinheitlichkeiten auf, so dass eine gewisse kritische Distanz bei ihrer Betrachtung angeraten ist. Während der Atlas die Zahlen bis auf die Einerzahl hin angibt, beschränkt sich das Bundesamt auf Rundungen, indem es als Einheit 1000 verwendet. Darüber hinaus richtet es den Blick speziell auf die römisch-katholischen statt auf die Allgemeinheit der KatholikInnen und fasst die Religionslosen und diejenigen, die keine Angabe machten, zusammen. Der Atlas von 2000 hingegen widerspricht sich selbst mancherorts mit einigen Daten (und auch deren Umrechung in Prozentangaben), indem er die Zahl der Mitglieder in ’Anderen Religionen‘ in der vergleichenden Übersicht auf 5.409.218 (S. 34) bzw. in der differenzierteren Auflistung innerhalb dieser Gruppe auf 4.688.354 (S. 103) beziffert. Zur Angabe des Anteils des Kardecismus und der afro-brasilianischen Religionen übernahm ich für die Jahre 1960 und 1970 die Daten des Bundesamtes (daher die auf 1000 gerundete Zahl), während ich für die Jahre 1980 – 2000 die vom IBGE vorliegenden Prozentsätze um der Vergleichbarkeit willen in Prozentwerte umrechnete. Trotz mancher Unstimmigkeiten haben die Daten zwar nicht den Wert einer absoluten Gültigkeit, wohl aber einen hinweisenden Charakter, indem sie die Größenordnung der religiösen Anhängerschaften richtig aufzeigen und tendenzielle Entwicklungen verdeutlichen.

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Abb. 1:

Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden

Verteilung der Religionen 1960 in Prozent von der Gesamtbevölkerung

Betrachtet man ausschließlich die Anzahl der katholischen BrasilianerInnen, so steigt sie im Laufe der vier Jahrzehnte kontinuierlich an und hat sich beinahe verdoppelt. Im Vergleich zur Größe der Gesamtbevölkerung jedoch nimmt die Zahl der KatholikInnen ebenso kontinuierlich ab und hat sich um ein Fünftel verringert. Trotz des vermehrten Zulaufs müssen die katholischen Kirchen (allen voran die römisch-katholische) demnach den Verlust von AnhängerInnen verzeichnen. Zwar nehmen Bevölkerung und KatholikInnen zahlenmäßig zu, aber seit 1970 diese nur um 1,3%, jene hingegen um 2%. Ausgehend vom Wachstum der letzten registrierten Periode zwischen 1991 und 2000 lässt sich die Entwicklung auf das Jahr der nächsten avisierten Volkszählung im Jahr 2010 hochrechnen. Dann wären nur noch ca. 65% der BrasilianerInnen katholisch.266 Sie würden damit immer noch die größte religiöse Gruppe stellen, letztlich aber nur noch fast zwei Drittel der BürgerInnen umfassen.

266 Vgl. Jacob, C.R.: Atlas da filiação religiosa, S. 15.

Zulauf und Verlust – Der Wandel der religiösen Landschaft

Abb. 2:

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Verteilung der Religionen 1970 in Prozent von der Gesamtbevölkerung

Eine gegenläufige Tendenz zu den katholischen durchlaufen die protestantischen Kirchen, die sowohl die absolute Zahl ihrer Mitglieder als auch den Prozentsatz im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung steigerten. Innerhalb von 40 Jahren wuchsen sie von eher unbedeutenden 2,8 Mio. (1960) auf 26,4 Mio. (2000) und von 4,0% auf 15,6%. Wie beachtlich diese Entwicklung ist, spiegelt die Überblickstabelle des Atlas da filiação religiosa wider, indem sie ab dem Jahr 1980 nicht mehr nur die Daten des – in dieser Verallgemeinerung ohnehin nicht existierenden – Protestantismus angibt, sondern durch eine gleichsam interne Differenzierung ergänzt. Dadurch wird deutlich, welcher der zwei übergeordneten evangelischen Gruppierungen sich dieser Erfolg verdankt und wie stark sich die religiöse Landschaft Brasiliens letztlich veränderte. „Bis Mitte des 20. Jh. war das Luthertum der größte der protestantischen brasilianischen Zweige, die ’historisch‘ genannt wurden.“267 Die Zählung von 2000 hingegen sieht die Religion der deutschen ImmigrantInnen mit 1 Mio. Gläubigen nur noch auf dem dritten Rang – 1991 war es noch der zweite – innerhalb dieser Gruppe, übergeholt von den BaptistInnen (3,1 Mio.) und nunmehr auch den AdventistInnen (1,2 Mio.). Der Verlust der einen Kirche wird demnach vom Zuwachs einer anderen zahlenmäßig aufgewogen, wobei die ’Evangelischen der Mission‘ in den letzten zwei Dekaden relative Konstanz (1980: 3,4%; 1991: 3,0%) bis leichtes Wachstum (2000: 5,0%) verzeichnen können. Eine weit größere Steigerung der Mitgliederzahlen erlebte die brasilianische Pfingstbewegung, die heute die zweitstärkste Gruppe nach der katholischen Kirche stellt. Während die pentekostalen Kirchen 1980 noch 0,2 Mio. weniger AnhängerInnen hatten als die konkurrierende evangelische Gruppierung, übertrafen 267 Pierucci, A.F.: „Bye bye, Brasil“– o declínio das religiões tradicionais no Censo 2000, in: Estudos Avançados 18/52, 2004, S. 17–28, hier S. 23.

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Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden

sie diese 1991 bereits um 4,4 Mio. und 2000 um 9,5 Mio. Umso deutlicher zeigt sich die Anziehungskraft der ’pfingstlerischen Evangelischen‘ anhand ihrer jährlichen Wachstumsrate, die sich in der letzten hier mit Daten gestützten Dekade auf 8,3% belief, wohingegen die Bevölkerung lediglich um 2% zunahm. Doch ebenso wie die anderen Kategorien setzt sich auch die Pfingstbewegung aus mehreren Kirchen zusammen, von denen die seit 1970 entstandenen ein neupfingstlerisches Lager bilden. Dieses „wuchs, erlangte Sichtbarkeit und erstarkte im Laufe der 268 folgenden Dekaden“ , angeführt von seiner erfolgreichsten Vertreterin, der 1977 gegründeten Igreja Universal do Reino de Deus. Unter allen evangelischen Kirchen ist sie im Jahr 2000 mit 2,1 Mio. Mitgliedern die viertstärkste. Rang eins nimmt die, wenn man so sagen will, altpentekostale Assembléia de Deus (8,4 Mio.) ein. Die Dominanz der Pfingstkirchen, die zudem die Ränge drei und fünf besetzen, vor den historischen evangelischen Kirchen wird nur durch die BaptistInnen durchbrochen, die immerhin die zweitgrößte Denomination bilden. Die evangelisch-lutherische Kirche hingegen fällt in diesem Vergleich auf den siebten Platz zurück.

Abb. 3:

Verteilung der Religionen 1980 in Prozent von der Gesamtbevölkerung

In der Volkszählung von 2000 sinken mit 89,5% die Anhängerzahlen der beiden großen christlichen Gruppen erstmals unter die 90%-Marke. Den Verlust der katholischen Kirchen glichen die protestantischen Denominationen bisher soweit aus, dass sie sich gemeinsam zwischen 97,1% (1960) und 92,3% (1991) bewegten, wobei die fallende Tendenz sich deutlich abzeichnete. Trotz ihrer Gewinne jedoch vermochten die Pfingstkirchen – zumindest noch – nicht, diese Entwicklung zu stoppen. Die durch ihre Schwächung entstandene Lücke könnte prinzipiell von erstarkenden anderen Religionen ausgefüllt werden. Allerdings stieg die Zahl ihrer 268 Mariano, R.: Expansão pentecostal no Brasil: o caso da Igreja Universal, in: Estudos Avançados 18/52, 2004, S. 121–138, hier S. 123.

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Mitglieder und somit ihr prozentualer Anteil an der Gesamtbevölkerung weniger stark als man annehmen könnte. In den vierzig hier verglichenen Jahren vermehrten sie sich von 1,6 Mio. (1960) auf 5,4 Mio. (2000), also von 2,3% auf nur 3,2%. Innerhalb dieser Kategorie stellt im Jahr 2000 der Spiritismus mit 2,2 Mio. die 269 größte Gruppe, gefolgt von den 1,1 Mio. als NeuchristInnen bezeichneten Zeugen Jehovas. Gemäß den offiziellen Daten sind sie die einzigen der ’anderen Religionen‘, die über eine Million AnhängerInnen umfassen. Weit weniger, aber mehr als jeweils 100.000 Mitglieder zählen (in dieser Rangordnung) die Umbanda, der Buddhismus, die MormonInnen, eine Gruppe von mehreren neuen orientalischen Religionen und der Candomblé. Insofern wird das Spektrum der stärkeren unter den nicht-katholischen und nicht-protestantischen Religionen von der spiritistischen und einigen orientalischen, neu-christlichen sowie afro-brasilianischen Religionen gebildet. Abgesehen vom überaus dominanten Christentum nehmen demnach die anderen Weltreligionen in Brasilien einen fast zu vernachlässigenden Status ein. Der Buddhismus hat immerhin ca. 215.000 AnhängerInnen vorwiegend asiatischer Herkunft, das Judentum ca. 87.000, der Islam ca. 27.000 und der Hinduismus ca. 3.000. Die Religionen der Indios hingegen, denen angesichts der Eroberungs- und Besiedlungspolitik der portugiesischen HerrscherInnen eine vehemente Dezimierung widerfuhr, zählen nur noch ca. 17.000 Gläubige.

Abb. 4:

Verteilung der Religionen 1991 in Prozent von der Gesamtbevölkerung

Nachdem weder die ’anderen Religionen‘ noch die evangelischen Konfessionen so viele Mitglieder hinzugewinnen, wie die katholischen Kirchen verlieren, sind die 269 Unter der Bezeichnung ’neuchristliche Religionen‘ fasst der Atlas da filiação religiosa (S. 101 ff.) die Zeugen Jehovas, die MormonInnen und die Legião da Boa Vontade (Legion des guten Willens) zusammen. In ähnlicher Weise wird der Oberbegriff ’orientalische Religionen‘ benutzt, der sich auf den Buddhismus und neue Religionen wie z.B. Seicho No Ie bezieht. Der Hinduismus bleibt in den Ausführungen seltsamerweise unerwähnt, wird in der Übersicht aber angeführt.

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Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden

verbleibenden BrasilianerInnen offenkundig solche, die sich als religionslos bezeichnen. Während sie bis 1970 nicht einmal 1% der Bevölkerung ausmachten, nahmen sie im Zeitraum von 1980 bis 2000 stetig auf 7,4% zu und bilden somit, um weiterhin in den Kategorien des Atlas da filiação religiosa zu sprechen, nach den katholischen und pentekostalen Kirchen die drittstärkste Gruppe. Ein sehr hoher Anteil der Religionslosen lebte im Jahr 2000 im Raum der Großstädte Rio de Janeiro, São Paulo, Salvador und Recife. Jedoch beschränkt sich diese Entwicklung nicht ausschließlich auf die städtischen Gebiete, sondern ergriff innerhalb der Dekade 1991–2000 in besonderem Maße die ländlichen Gegenden Rondônia, Acre, Roraima und Pará. Die Selbsteinschätzung, ’ohne Religion‘ zu sein, ist allerdings nicht synonym mit ’atheistisch‘, da die brasilianische Volksreligiosität ein sehr gedehnter Begriff sein kann. „So glaubt zweifellos ein gewichtiger Teil der Personen, die sich religionslos nennen, an Gott, ohne jedoch an den religiösen Institutionen teilzunehmen und ohne sich als Angehöriger einer konfessionellen Gemeinschaft zu fühlen.“270 Dies vorausgesetzt, sind nicht alle Religionslosen gänzlich ohne Religion und ist der Atheismus keineswegs in gleicher Weise auf dem Vormarsch wie die Pfingstbewegung. Stattdessen scheint aber das Bewusstsein, zwischen privater und institutionalisierter Religiosität zu differenzieren, geschärft oder akzeptiert zu sein.

Abb. 5:

Verteilung der Religionen 2000 in Prozent von der Gesamtbevölkerung

3.3.2 Wachstum der Umbanda? Obwohl die Kategorie ’andere Religionen‘ über die Jahre hinweg einen leichten Anstieg der Mitgliederzahlen der dort zusammengefassten Denominationen verzeichnet, bleiben die auf die gemeinsam betrachtete Gruppe von Kardecismus und 270 Jacob, C.R.: Atlas da filiação religiosa, S. 115.

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afro-brasilianischen Kulten entfallenden Prozentsätze recht konstant. Sie variierten innerhalb von vier Jahrzehnten lediglich um 0,4% Prozentpunkte. Doch ist das Zahlenverhältnis zwischen diesen beiden Parteien keineswegs ausgewogen, denn das Wachstum der einen wird mit der Dezimierung der anderen ausgeglichen. Hierbei nahm der Spiritismus von 0,7% (1980) auf 1,3% (2000) zu, wohingegen die Religionen mit afrikanischen Wurzeln von 0,6% (1980) auf 0,3% (2000) sanken. Letztere umfassen gemäß der Volkszählung von 2000 ca. 525.000 AnhängerInnen, von denen der Großteil (ca. 397.000) umbandistisch ist. Im Vergleich aller sich zu einer Glaubensgemeinschaft bekennenden BrasilianerInnen belegt die Umbanda demnach den 14. Rang. Die höchsten Wachstumsraten werden der Umbanda für die 70er Jahre, speziell 1974–76 zugeschrieben.271 Diese Tendenz deutete sich bereits in der vorangegangenen Dekade an, als zwischen 1964 und 1967 die Anhängerzahlen von ca. 93.000 272 auf 240.000 stiegen. Seit 1980 jedoch nehmen sie stetig ab, und im Zeitraum von 1991–2000 verlor die Umbanda sogar ein Fünftel ihrer Mitglieder. Ihr enormer Rückgang wirkt sich demnach statistisch auch auf die Gruppe der afrobrasilianischen Religionen insgesamt aus. Aufgrund des Ausmaßes der Mitgliederverluste stellt der Soziologe Antônio Flávio Pierucci die Umbanda in eine Reihe mit dem Katholizismus und dem Luthertum. Indem ihnen der fortschreitende Verlust der Anhängerschaft gemein ist, konstatiert Pierucci den Niedergang der traditionellen Religionen Brasiliens. Dies deutet er als „feste Schritte […] auf dem Weg der kulturellen Distraditionalisierung des Landes“273. Ohne die Stichhaltigkeit seiner These anzweifeln zu wollen, halte ich ihre Stützung auf die Umbanda für riskant. Zum einen irritiert die Klassifizierung als eine traditionelle Religion, auch wenn dies in der brasilianischen Soziologie üblich ist. Zum anderen scheint Pierucci die Anhängerzahlen, die das Ergebnis der Volkszählungen sind oder auf anderen offiziellen Erhebungen beruhen, für völlig korrekt zu halten. Eine kritische Hinterfragung dieser Daten ist aber v.a. bei den afro-brasilianischen Religionen unbedingt erforderlich, um nicht ein verzerrtes Bild der religiösen Landschaft zu gewinnen und dieses sodann zu verfechten. Es gibt verschiedene Gründe, die nahe legen, dass die Anzahl der UmbandistInnen um einiges größer ist, als die demografischen Zählungen erkennen lassen. Allem voran wird die Frage aufgeworfen, wer UmbandistIn ist. Nur die Medien, die KultleiterInnen und die zahlenden Mitglieder? Und sind nicht eigentlich auch die mehr oder minder regelmäßig an den Sitzungen teilnehmenden und die 271 Vgl. Negrão, L.N.: Entre a cruz e a encruzilhada, São Paulo 1996, S. 113. 272 Vgl. Pierucci, A.F.: „Bye bye, Brasil“, S. 24. Aus diesem Aufsatz stammen auch die nachfolgenden Daten, wobei Pierucci sich seinerseits auf die Angaben des IBGE stützt. Das Phänomen der raschen Ausbreitung der Umbanda gelangte in der Zeit um den Jahrzehntwechsel auch in Deutschland zur Kenntnis, wie mehrere deutschsprachige Veröffentlichungen zeigen, vgl. Fischer, U.: Erfüllte Sehnsucht, S. 116 f.; Weingärtner, L.: Umbanda, S. 20–23; Flasche, R.: Geschichte und Typologie, S. 176. 273 Pierucci, A.F.: „Bye bye, Brasil“, S. 27.

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Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden

Hilfe der Geister in Anspruch nehmenden BrasilianerInnen irgendwie auch UmbandistInnen? Indem es abgesehen von den Medien keine feste Gemeinde gibt, sondern die Klientel stark flukturiert, fehlen weitgehend die verlässlichen und offensichtlichen Anhaltspunkte, anhand derer sich der/die Befragte eindeutig als UmbandistIn oder lediglich SympathisantIn bezeichnen kann. Neben dem Problem der Selbsteinschätzung kann zudem die Ausrichtung des Terreiro für Unklarheit sorgen. Denn indem die Umbanda aus dem Spiritismus hervorging, ist in manchen Kultstätten das kardecistische Element ausgeprägter als in anderen, was sich zudem in ihrem Namen widerspiegeln kann (z.B. Grupo Espírita de Umbanda Pai Joaquim, Tenda Espírita Umbandista Caboclo Rompe Mata274). Eine Selbstbezeichnung dieser Gläubigen als SpiritistInnen statt UmbandistInnen, zumal auch die Grenzen nicht unbedingt immer gekannt werden, verwundert da wenig. Da darüber hinaus die Umbanda keine exklusive Religionszugehörigkeit fordert, stellt sie ihren AnhängerInnen frei, ob sie sich mehr umbandistisch, spiritistisch oder christlich fühlen, bzw. ist an einer Einteilung dieser Art nicht interessiert. Alle können zur Umbanda kommen und weiterhin ihre bisherige Religion praktizieren. Für die BrasilianerInnen jedoch ist neben dem Identifizierungsgrad nicht selten auch das mit der jeweiligen Religion konnotierte Prestige ausschlaggebend, um nach außen hin eine Zugehörigkeit zu deklarieren. Indem sie getauft sind, christliche Feiertage begehen und Gottesdienste besuchen, sehen sie sich auch trotz ihrer Teilnahme an umbandistischen Sitzungen zugleich und vielleicht vorrangig als KatholikInnen. Die Zahl derjenigen, die sich „als katholisch bezeichnen, weil sie eben getauft sind, ohne jedoch den katholischen Glauben zu kennen oder danach zu leben“275, schätzt Boaventura Kloppenburg für die Zählung von 1980 auf 70% der brasilianischen Bevölkerung. Was aber aus umbandistischer Sicht keinen Widerspruch erregt, ist aus christlicher undenkbar. Gleichzeitig ChristIn und Andersgläubige/r zu sein, schließt sich hier aus. Außerdem hat die Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche eine traditionelle Dimension, da sie lange Zeit die eigentlich unangefochten vorherrschende Religion Brasiliens war. Aus ihrer Stellung erst als einzig erlaubter und sodann als dominanter Religion resultierte, dass katholisch zu sein die Norm war und man sich – zumindest äußerlich – zum Katholizismus bekannte. Dies fiel wiederum dadurch leichter, wenn man als Maßstab die rituelle Beteiligung anlegte. Hätte hingegen die Kenntnis dogmatischer Lehren als Kriterium gegolten, so hätte der Rückgang der katholischen Anhängerzahlen wahrscheinlich schon früher eingesetzt und wäre rasanter erfolgt. 274 Vgl. Kloppenburg, B.: A Umbanda no Brasil, S. 50. 275 Wulfhorst, I: Schmelztiegel der Religionen, in: Brakemeier, G. (Hg.): Glaube im Teilen bewahren. Lutherische Existenz in Brasilien, Erlangen 1989, S. 48–69, hier S. 50. Wulfhorst nennt als prominente Vertreterin dieser Haltung Menininha de Gantois, die Kultleiterin eines traditionsreichen und bekannten Candomblé-Terreiro, die „sich in der Volkszählung selbstverständlich als katholisch bezeichnet habe“ (ebd.).

Zulauf und Verlust – Der Wandel der religiösen Landschaft

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Unter den Gründen, die eine/n UmbandistIn veranlassen, in der Zählung eine andere Religion anzugeben, darf die Erfahrung der Repression nicht unterschätzt werden. Obwohl die Macht der katholischen Kirche Ende des 19. Jh. eingeschränkt wurde, wirkte sie noch lange einschüchternd nach; und die Verfolgung afro-brasilianischer Religionen durch öffentliche Organe war bis weit ins 20. Jh. hinein spürbar. Trotz der gesetzlichen Anerkennung und Gleichbehandlung „erleiden [sie] weiterhin Aggressionen, heute weniger durch die Polizei und mehr 276 durch ihre pentekostalen Rivalen“ (s. 6.1.3). Insofern löste die eine Religionsgruppe die andere hinsichtlich der Verurteilung einer dritten ab. Nicht zuletzt aufgrund der kontinuierlichen Ablehnung und der damit verbundenen Vorurteile ziehen viele AnhängerInnen der Umbanda es vor, sich nicht als solche zu erkennen zu geben. Auch wenn sie auf diese Weise keine falschen Angaben machen, da sie sich ja fast immer zugleich katholisch fühlen, wird doch die tatsächliche Situation verfälscht. Dem versuchte die Volkszählung von 2000 erstmals entgegenzuwirken, indem sie für die Beantwortung der Frage „Welches ist Ihre Religion oder Kult?“ keine Vorschläge vorgab, sondern völligen Freiraum ließ (drei Zeilen à 21 Zeichen). Dadurch war es dem/der Befragten zudem möglich, mehrere Religionen einzutragen, wovon allerdings lediglich ca. 10.000 Personen Gebrauch machten. 277 Dass aber die Zahl der BrasilianerInnen, die gleichzeitig zwei Religionen angehören, dermaßen gering ist, erscheint wenig realistisch. Näher liegt hingegen, dass sie es nicht gewöhnt sind, sich so zu bezeichnen, und/oder sich nicht trauen. Denn bei erlebten Repressionen und Vorurteilen erscheint es nicht gänzlich abwegig, selbst einem anonymen Fragebogen nicht immer die ganze Wahrheit mitzuteilen. Ausgehend von diesen Aspekten sind die Daten der Zählungen durchaus kritisch und hinsichtlich der afro-brasilianischen Religionen als untertrieben zu werten. Die Dunkelziffer der UmbandistInnen dürfte demnach weit über den jeweiligen offiziellen statistischen Angaben liegen. Trotz der gravierenden Abweichungen der gezählten und vermuteten Daten gleichen sie einander in der zunehmenden bzw. abnehmenden Tendenz. Daher sind die Volkszählungen, obwohl eine synchrone Betrachtung manche Verzerrungen in sich birgt, wegen der an den Angaben abzulesenden Entwicklungen durchaus wertzuschätzen. Als vermeintlich stichhaltiger Indikator der Dunkelziffer könnte im Gegensatz zur (anonymen) Befragung die Zahl der Terreiros dienen, da sie einen gewissen Bedarf vermuten lässt. Für das Jahr 1952 wird brasilienweit die Existenz von ein paar tausend Terreiros veranschlagt.278 Bereits 1960 seien allein in Rio de Janeiro 2500 Terreiros 279 ansässig , und in São Paulo mehr als 2000 Terreiros mit „bei sehr vorsichtiger 280 Schätzung […] mindestens 200.000 ‚praktizierende[n] Umbandisten‘“ . Damit 276 277 278 279 280

Prandi, R.: O Brasil com axé, S. 225. Jacob, C.R.: Atlas da filiação religiosa, S. 9. Brackmann, R.: Der Umbanda-Kult in Brasilien, S. 169. Brackmann, R.: Quimbanda-Kulte, S. 97. Weingärtner, L : Umbanda, S. 21.

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Religiöse Vielfalt auf brasilianischem Boden

beträgt die inoffizielle Zahl der UmbandistInnen in dieser Großstadt bereits mehr als das Doppelte der von der offiziellen Volkszählung für ganz Brasilien veranschlagten ca. 93.000. Zehn Jahre später wird die Anhängerzahl – wiederum vorsichtig und sogar be281 scheiden – auf 20–30% der Bevölkerung geschätzt, also zwischen 18,6 und 28 Mio. Menschen. Demnach wäre im Jahr 1970 die Zahl der UmbandistInnen größer gewesen als die aller (sich in der Zählung dazu bekennenden) PfingstlerInnen Brasiliens im Jahr 2000. Die Einbußen der Umbanda machen allerdings auch nicht vor der Dunkelziffer halt, so dass man in jüngster Zeit „ca. 120.000 Kultstät282 ten [...] und etwa zwölf bis 13 Millionen Anhänger“ zählt. Damit liegt die Umbanda aber immer noch vor der (wiederum gemäß der Zählung) mitgliederstärksten Pfingstkirche, der Assembléia de Deus mit ihren 8,4 Mio. Gläubigen. Schenkt man dieser Schätzung Glauben und vergleicht sie mit den Ergebnissen der Daten von 2000, so nähme die Umbanda in der Rangfolge der einzelnen Religionen Brasiliens, ohne dass diese zu größeren Gruppen zusammengeschlossen sind, nach der römisch-katholischen Kirche den zweiten Rang ein. Aus diesem Grund ist die Umbanda, auch wenn ihre Anhängerzahlen rückläufig sind und die der pentekostalen Kirchen rasant steigen, noch viele Jahrzehnte nach ihrer Gründung zu den erfolgreichsten Denominationen der religiösen Landschaft Brasiliens zu zählen, und darf nicht zu Gunsten der Pfingstbewegung aus dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Beschäftigungsfeld verdrängt werden.

281 Vgl. Dulle, A.: Umbanda do Brasil, S. 301. 282 Flasche, R.: Art. „Umbanda“, S. 263. Dieser Artikel erschien im Jahr 2002, so dass Flasches Datierung „heute“ durchaus noch aktuell gilt. Es bleibt aber leider unklar, auf welche Quelle er sich mit dieser Angabe stützt – zumal die jüngste von ihm angegebene Literatur (Fohr, D.: Trance und Magie) aus dem Jahr 1997 stammt, diese aber keine Angabe hinsichtlich der Anhängerzahl macht. Daher ist auch diese vermutete Dunkelziffer mit Vorsicht zu betrachten.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Die Umbanda tritt mit dem Anspruch auf, wie ihre AnhängerInnen nicht müde werden zu betonen, eine brasilianische Religion und offen für alle zu sein. Damit bezieht sie sich auf zweierlei. Zum einen entstand sie auf brasilianischem Boden, was sie von den zahlreichen zu verschiedenen Zeiten eingewanderten Religionen unterscheidet. Zum anderen ist sie „das Ergebnis eines einzigartigen historischen 283 Aufeinandertreffens [...], das sich nur in Brasilien ergab“ . Aus der Verschmelzung der Religionen der eingeborenen Indios, der importierten AfrikanerInnen, der erobernden PortugiesInnen sowie des Spiritismus’ der immigrierten EuropäerInnen ging die Umbanda hervor. In dieser vermischten Vielfalt spiegelt sie die drei vornehmlichen Hautfarben der BrasilianerInnen wieder, die darüber hinaus auch die Konzeption der Geister prägen. Demzufolge gibt es Indio-Geister, AfrikanerInnen-Geister und Kinder-Geister (s. 4.2.1.3), die ihrerseits die rote, schwarze und weiße Hautfarbe sowie die indigene amerikanische, die afrikanische und die europäische Rasse und Kultur repräsentieren. Neben diesen drei zentralen GeisterTypen kennt die Umbanda zahlreiche weitere, die häufig ebenfalls auf eine bestimmte regionale und kulturelle Herkunft verweisen, z.B. die bahianischen und die ZigeunerInnen-Geister. Ihr Auftreten belegt, dass die synkretistische Eingliederung u.a. von Elementen anderer Religionen nicht mit der Gründung der Umbanda abgeschlossen wurde, sondern ihre Fortsetzung fand und noch findet, so z.B. durch die Aufnahme von Hindu- oder Buddha-Geistern. Allerdings sind dies nur periphere Wesen, die sich selten manifestieren, weshalb sowohl ihre Bedeutung als auch die Bedeutung ihrer Religionen für das umbandistische System weit hinter den vier konstituierenden Grundpfeilern zurückbleiben. Trotz ihrer selbst propagierten nationalen Ausrichtung wird die Umbanda von religionswissenschaftlicher Seite als ’afro-brasilianische‘ Religion gehandelt. Die Umbanda ist jedoch weniger afrikanisch geprägt als der Candomblé oder die Quimbanda, was sich bereits an der Kultsprache abzeichnet. Anstatt der afrikanischen Termini beispielsweise für die Ibeji und Eguns verwendet die Umbanda die portugiesischen Begriffe ’crianças‘ und ’sofredores/as‘, um die Geister der Kinder und der leidenden Verstorbenen zu benennen. Auch VertreterInnen von Candomblé und Quimbanda, die ihre eigene Religion als ’afro-brasileiro‘ bezeichnen, lehnen eine solche Charakterisierung bei der Umbanda ab und nennen sie ’brasileiro‘. Tatsächlich ist die Umbanda nicht direkt aus afrikanischen Traditionen hervorgegangen. Diese wurden durch den Candomblé vermittelt, wobei dieser seinerseits den Synkretismus mit dem iberischen Volkskatholizismus bereits vollzogen hatte. Insofern kann die Umbanda als sekundär afrikanisch gelten. Davon abgesehen ging sie aus einem spiritistischen Zirkel hervor, so dass sie auf dem 283 Pierucci, A.F.: As religiões no Brasil, S. 299.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Fundament des Kardecismus entstand. Auf die Nähe von Umbanda und Spiritismus lassen auch lange nach ihrer Gründung verschiedene Terreiro-Namen schließen. Sofern man jedoch die Umbanda einem größeren religiösen Kontext zuordnen will, um auf diese Weise die Zusammenhänge zu spezifizieren, erscheint die Bezeichnung als ’afro-brasilianisch‘ noch am ehesten treffend. ’Brasilianisch‘ ist zuwenig aussagekräftig; ’christlich‘ scheidet von vornherein aus, da der Kern des Evangeliums nicht getroffen wird; ’spiritistisch‘ hingegen wäre möglich. Da jedoch trotz der spiritistischen Herkunft und wegen der candomblistischen Mittlerschaft die afrikanischen Elemente in der Umbanda am schwersten wiegen und sie am meisten prägen, ist auch meiner Meinung nach dem Präfix ’afro‘ der Vorzug zu geben. Eine weitere Spezifizierung befürwortet Ingo Wulfhorst, indem er den Begriff ’afro-indo-brasilianisch‘284 verwendet und sich damit von der Masse der umbandistischen und religionswissenschaftlichen Literatur absetzt. In diesem Ausdruck stellt er der bedeutendsten, afrikanischen Konstituente die in geringem Grad relevante indianische zur Seite. Um einiges treffender halte ich dagegen den bislang nicht benutzten Begriff ’afro-spiritistisch(-brasilianisch)‘. Je genauer man aber die Art der Umbanda in einer das Gewicht der konstituierenden Faktoren kategorisierenden Wendung zu greifen beabsichtigt, desto länger müsste sie wohl werden. Daher führe ich hier diese Diskussion nicht weiter, sondern schließe mich dem gängigen Begriff ’afro-brasilianisch‘ an. Anstatt sich als eine neue Religion und als Produkt des industrialisierten Zeitalters zu betrachten, verlegt die Umbanda ihre Wurzeln in die mythische Zeit der Frühphase der Erdgeschichte. Demnach entwickelte sie sich ursprünglich in Lemurien, erlebte den Niedergang von Atlantis und zersplitterte dann in unzählige Einzelreligionen. Als solche lebte sie u.a. im antiken Ägypten, in Mesopotamien und im fernen Osten (Indien, China, Nepal, Tibet, Mongolei) fort. Die damaligen Völker erachten die heutigen UmbandistInnen als diejenigen, „die in Überbleibseln Grundlagen über die Umbanda bewahrt haben“285. Trotz der vergangenen Jahrhunderte bestehe noch immer eine Verbindung zu diesen Epochen, was u.a. durch Reinkarnationen und Geister-Typen gewährleistet sei. So lasse sich die determinierte Beziehung zwischen einem Medium und seinem persönlichen Geist darauf zurückführen, dass sie in einem früheren Leben Geschwister gewesen seien. Die Umbanda-Kultleiterin Águida aus São Leopoldo beispielsweise begreift sich als einstige Tochter eines Pharaos im alten Ägypten. Ebenso wie ihre damalige Schwester durchlief sie zahlreiche Reinkarnationen. Inzwischen jedoch hat diese Schwester einen höheren Entwicklungsgrad erlangt, so dass sie nicht weitere irdische Leben durchlaufen muss. In der heutigen Zeit erscheint sie unter dem Namen Zimba Zootokiniti do Congo ihrer ehemaligen Schwester Águida als Geist

284 Wulfhorst, I.: Schmelztiegel der Religionen, S. 60. 285 Rivas Neto, F.: Lições básicas, S. 24.

Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

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einer Preta Velha. Die damals geknüpfte Verbindung besteht demnach durch die 286 Jahrhunderte hindurch. Die mythische Wiege Lemurien wird mit dem historischen Entstehungsgebiet Brasilien in zweierlei Weise verknüpft. Einerseits konstatieren die UmbandistInnen, dass „die Umbanda ein alter Kult ist, der in Brasilien wiedergeboren wur287 de“ . Darauf scheint auch seine Bezeichnung hinzuweisen, sofern man sie auf ein portugiesisches Kompositum (uma ’eine‘, banda ’Fahne‘) zurückführt. Diese Variante tritt neben die anderen etymologischen Erklärungsversuche des Religionsnamens. Andererseits identifizieren die brasilianischen Gläubigen ihr Land mit dem Zentrum Lemuriens, wohingegen die Naturwissenschaft dieses Zentrum als eine Landbrücke zwischen Indien und Madagaskar lokalisiert. Sowohl die sprachliche als auch die geografische Erläuterung zielen augenscheinlich darauf ab, die originäre Brasilianität der Umbanda hervorzuheben. Diesem Charakteristikum sind alle integrierten und synkretisierten Elemente jedweder Herkunft untergeordnet, so dass die uralte Neureligion zwar brasilianisch ist, aber zugleich auch hinduistisch, chinesisch, ägyptisch, okkultistisch, kabbalistisch und rosenkreuzerisch.288 Ausgehend von einer allgemeinen Analyse der Religionen in Brasilien, die im Zuge der geschichtlichen Entwicklung ins Land gebracht oder dort entwickelt wurden, richtet sich in der nachfolgenden Darstellung der Blick speziell auf die Umbanda und ihre Merkmale. Die Darlegungen des ersten Abschnitts (4.1) gehen ihrer Entstehung und Ausbreitung nach, referieren die vorrangigen vermischten religiösen Elemente, zeigen die soziale Stellung ihrer AnhängerInnen auf und verfolgen ihre Expansion über die städtischen Grenzen des Großraums Rio de Janeiro hinaus. In einem zweiten Teil (4.2) wird das Heilige in der Umbanda skizziert, das innerhalb des umbandistischen Kosmos unzähligen Wesenheiten unterschiedlicher Gruppen eignet und deren Kontakt zum Menschen durch Handelsbeziehungen geprägt ist. Der letzte Abschnitt (4.3) gibt schließlich eine Auswahl der bisherigen wissenschaftlichen Ansätze wieder, die die Anziehungskraft der Umbanda aus soziologischer und theologischer Perspektive zu begründen suchten.

286 Nach einem Gespräch mit einem Priester im Terreiro Tumpiz, gegründet und von der Kultleiterin Águida, geführt am 29.3.2007. 287 Oxumarê, S.d. / Oxossi, R.d.: O homem, os espíritos e o espiritismo, Porto Alegre 1997, S. 105. 288 Vgl. Bettiol, L.: A umbanda perante a crítica, S. 12. Würde hier nun die Frage gestellt, was die Umbanda eigentlich nicht ist, wäre sie kaum zu beantworten. Einerseits steht den UmbandistInnen frei, ihren Terreiro individuell zu prägen und aus anderen Religionen Elemente für sich auszuwählen. Andererseits trifft die jeweilige Auswahl selten den gesamten Kern einer Religion, so dass vorwiegend Äußerlichkeiten in die Umbanda einfließen. So beten die UmbandistInnen zwar ein abgewandeltes Vater Unser, sehen in Jesus Christus aber nicht den Sohn Gottes, durch dessen Tod die Menschen gerechtfertigt sind. Dementsprechend sind sie nicht als christlich zu bezeichnen, und auch das angeführte Zitat geht, wenn man die überzogene Darstellung übersieht, in seiner Aussage zu weit.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Insgesamt soll ein analytischer Überblick über die Umbanda gewährleistet werden, der ihre Glaubensinhalte in den gesellschaftlichen Kontext Brasiliens einordnet.

4.1 Entstehung und Ausbreitung der Umbanda 4.1.1 Übernommene religiöse Elemente 289

Gemäß dem Selbstverständnis der UmbandistInnen ist ihre Religion weder in der Moderne entstanden noch aus der Verschmelzung verschiedener religiöser Elemente hervorgegangen. Stattdessen datiert ihr Anfang in die Zeit von Lemurien vor tausenden von Jahren. In Lemuriens zentraler Region entwickelte sich – u.a. durch Außerirdische, die Lemurien besuchten – die Umbanda. Sie galt als vollständige Erkenntnis und vereinigte Religion, Philosophie, Wissenschaft und Kunst in sich. Auf das lemurische Volk folgte das atlantidische, das jedoch im Lauf der Zeit an Stärke und Größe verlor, was sich wiederum auf die Umbanda auswirkte. Sie wurde abgeschwächt, verfälscht und in die Komponenten Religion, Philosophie, Wissenschaft und Kunst aufgesplittert. Des Weiteren gliederten sich Religionen aus jener korrumpierten Umbanda heraus. Anstatt als synkretistische Neureligion aufgefasst zu werden, verkörpert die Umbanda in den Augen ihrer AnhängerInnen eine alte Urreligion, denn „in Wirklichkeit entstanden alle anderen Religionen aus den Verfälschungen der Umbanda, was mitten in Atlantis begann.“290 Die historische Betrachtung jedoch hält dem mythisch geprägten Bild entgegen, dass sich die Umbanda durchaus als eine neue, auf der Integration verschiedener Elemente basierende Religion verstehen lässt. Sie steht damit im Kontext anderer synkretistischer Kulte, von denen sie sich aber durch Auswahl und Gewichtung der individuell vermischten Referenzreligionen abhebt. Mit den übrigen afrobrasilianischen Kulten teilt die Umbanda die Wurzeln, die aus afrikanischen, indianischen und christlichen Traditionen entlehnt wurden. Ein erster Unterschied ergibt sich jedoch bereits aus der späteren Entstehung der Umbanda, in der das afrikanische Moment nicht nur als ein aus mehreren Stammesreligionen vermischtes eingeht, sondern durch die römisch-katholische Missionsarbeit eine christliche Überformung erfahren hatte. Insofern war die Entstehungsmatrix zweidimensional, nämlich afro-christlich, jedoch durch einen gewissen indianischen Einfluss ergänzt. Die eigentlich charakteristische Differenz zu allen afro-amerikanischen Schwesterkulten beruht allerdings auf dem Stellenwert des amerikanisch-europäischen Spiritismus. Zwar fällt er weniger stark ins Gewicht als die afrikanischen 289 Vgl. hierzu Rivas Neto, F.: Lições básicas, S. 23. 290 Ebd. Gemäß diesem Ansatz würde sich die Frage, was die Umbanda eigentlich nicht ist, mit ’nichts‘ beantworten lassen.

Entstehung und Ausbreitung der Umbanda

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Traditionen, doch ist sein Einfluss unübersehbar. Dass die Umbanda zudem gleichsam auf spiritistischem Boden entstand, tut das Übrige. Ungeachtet der abweichenden Einschätzung von UmbandistInnen und WissenschaftlerInnen hinsichtlich der Ausgliederung bzw. Verschmelzung von religiösen Elementen aus der bzw. in die Umbanda werden die vier wichtigsten Wurzeln anschließend kurz skizziert. Dies erfolgt in Konzentration auf die für diese Arbeit relevanten Inhalte der Umbanda. Einzelne esoterische, asiatische, okkulte oder sonstige Momente, die die Umbanda in geringerem Maße beeinflussen, bleiben hier aufgrund ihrer peripheren Bedeutung unberücksichtigt. 4.1.1.1

Afrikanische Wurzeln

Während der ca. 350 Jahre andauernden Verschiffung von schwarzen SklavInnen nach Brasilien, fungierten die Guinea-Küste und die Kongo-Region als vorrangige Rekrutierungsgebiete und Handelsplätze. Gemäß dieser breiten geografischen Streuung der Einzugsbereiche gehörten die gefangenen und verkauften AfrikanerInnen verschiedenen Kulturen an: der sudanesischen, der islamisierten und der Bantu-Kultur (s. 3.1.2), die sich wiederum in Stämme und Völker differenzierten. Angekommen in der Neuen Welt entwickelten sie sich bedingt durch die kolonialen Bedingungen in unterschiedlicher Weise, wobei hinsichtlich des kulturellen Austauschs die islamisierten Gruppen, genannt Malê, eine geringe, später sogar verlöschende Wirkung entfalteten. Mit der Unterwerfung des Königreichs Ghana (im heutigen Mali) 1076 durch den Islam drang dieser auf dem afrikanischen Kontinent weiter vor und eroberte sudanesische, hamitische und semitische Völker. Indem deren Angehörige als SklavInnen deportiert wurden, brachten sie als Erste den Islam nach Südamerika. Doch mischten sich die Malê weder mit anderen LeidensgenossInnen, noch nahmen sie ohne Widerstand ihre Versklavung hin. Stattdessen wehrten sie sich in Revolten und Fluchten gegen dieses Schicksal und blickten herab auf „ihre nichtmohammedanischen Unglücksgefährten, die sie für minderwertig hielten“291, da sie nicht mitkämpften. Aufgrund dieser Reaktion gegen die Eingliederung in die brasilianischen Strukturen sperrten sie sich auch dem katholischen Einfluss gegenüber. Nach der Aufhebung der Sklaverei lebten die afrikanischen MuslimInnen weiterhin so isoliert, dass mit ihrem Tod auch ihre 292 Kultur in Brasilien ausstarb, „ohne merkliche Spuren hinterlassen zu haben“ . Dementsprechend gründet keine afro-brasilianische Religion auf islamischen Traditionen. Anders verhält es sich mit den anderen beiden Kulturkreisen. Innerhalb der in sich differenzierten sudanesischen Kulturgruppe übernahmen die Yoruba gegenüber den Dahome und den Fanti-Ashanti in der neuen Heimat die Vorherrschaft. Deren eigene, ohnehin z.T. recht ähnliche Traditionen gingen

291 Ramos, A.: Die Negerkulturen in der Neuen Welt, S. 173. 292 Flasche, R.: Geschichte und Typologie, S. 63.

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somit weitgehend in denen der Yoruba auf, was ansatzweise schon in Afrika erfolgt war. Der Hauptgrund dieses Assimilierungsprozesses unter Dominanz der Yoruba liegt in ihrem hohen Entwicklungsgrad, der sich auch gegenüber den Bantu-Angehörigen durchsetzte. Nicht zuletzt aufgrund der hohen Einfuhrquote von Schwarzen aus den Angola-Kongo-Gebieten herrschte über lange Zeit hinweg die Meinung vor, dass die afrikanischen SklavInnen Brasiliens ausschließlich Bantu seien. Dieses pauschale Urteil ging auf die deutschen Naturforscher Johann Baptist von Spix und Carl Friedrich Philipp von Martius zurück, die 1817 im Gefolge der künftigen Kaiserin Südamerika erreichten.293 Zahlreiche erhaltene Elemente z.B. in Folklore, Religion, Kunst und Sprache schienen diese Auffassung zu stützen. Allerdings vermochten auch die zahlenmäßig stark vertretenen Bantu nicht, sich gegen die sudanesischen Yoruba (zumal bereits verbunden mit den Dahome) durchzusetzen, sondern glichen sich ihnen in vielerlei Aspekten an. Zum gemeinsamen religiösen Gut verschiedener afrikanischer Kulturen gehört die Vorstellung eines Götterhimmels, in dem ein Hochgott die höchste Stellung einnimmt, den die Yoruba ’Olorún‘ (auch ’Olofi‘ oder ’Olodumare‘), die Bantu ’Zambi‘ und die Dahome ’Mawu‘ nannten. ’Olorún‘ bedeutet übersetzt ’Besitzer des Himmels‘, und er gilt als der Schöpfer der Welt und der Lebewesen, der sich aber „veranlaßt durch menschliche Normwidrigkeit zurückgezogen“294 hat. Daher verlor er seine Bedeutung als unmittelbarer Ansprechpartner und seine Verehrung im Kult. „Yet there are no temples of Olorun (or Olodumare) in Yoruba country, 295 and no priests dedicated to his service.“ Lediglich die Anrufung und das Opfer für niedrigere Gottheiten oder Geistwesen können in vermittelnder Funktion solches für den Hochgott implizieren. Die ihm unterstellten Mittlergestalten werden ’Orisha‘ (Yoruba) bzw. ’Vodun‘ (Dahome) genannt, die die Kräfte des Kosmos und dadurch auch die Menschen lenken und beeinflussen. Viele der Orishas erscheinen als Personifikationen von Naturkräften und -phänomenen, die sich z.B. im Blitz, im Meer oder in Krankheiten manifestieren können. Andere Orishas sind vergöttlichte Ahnen, so dass auf diese Weise die Verstorbenen weiter existieren und mit den Lebenden in ungebrochenem Zusammenhang bleiben. Im mythischen Pantheon der Yoruba stehen die einzelnen Orishas in verwandtschaftlichen und hierarchischen Beziehungen zueinander, wobei jeder für einen bestimmten Bereich zuständig ist. Aufgrund ihrer Vielzahl wird im Folgenden nur eine Auswahl der bekannteren und wichtigeren Orishas näher vorgestellt. Der mächtigste Orisha Obatalá (auch Orishalá oder Oshalá) wirkte an der Erschaf-

293 Vgl. Spix, J.B.v. / Martius, C.F.P.v.: Reise in Brasilien, auf Befehl Sr. Majestät Maximilian Joseph I., Königs in Bayern, in den Jahren 1817–1820 gemacht und beschrieben, 3 Bde., München 1823–31. 294 Dammann, E.: Art. „Afrika III. Afrikanische Religionen“, in: TRE 1, 1977, S. 716–747, hier S. 720. 295 Parrinder, G.: West African religion. A study of the beliefs and practices of Akan, Ewe, Yoruba, Ibo, and Kindred People, London 1969, S. 21.

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fung der Welt mit, indem er vom Hochgott hinunter geschickt wurde „to bring the first earth, and he spread it abroad with the help of a hen and a pigeon [...] Later 296 he created human bodies into which God placed breath.“ Am schöpferischen Wirken hat je nach Tradition zudem Odudúa (auch Odúa) Anteil, eine Gottheit, die je nach Region männlich oder weiblich gedacht wird. In manchen Mythen erscheint sie als Mutter von sieben Orishas, darunter Obatalá als Erstgeborenem. Andere sehen in Odudúa den Ausführenden des Schöpfungsauftrags, nachdem Obatalá diese Aufgabe abgelehnt hatte. Im Gewittergott Shangô finden die Yoruba den einstigen König der Stadt Oyó wieder, während in ihm zugleich der Dahome-Gott Khebiosô aufgegangen ist. Er herrscht nun über den Donner und trägt als Symbol eine Doppelaxt auf dem Kopf. Ihm werden Tapferkeit und Eitelkeit zugesprochen sowie eine hohe Anziehungskraft auf weibliche Orishas. Von mehreren ihm nachgesagten Gefährtinnen nimmt Oyá (auch Yansan) die zentrale Position ein, die die Personifikation des Flusses Niger darstellt. Da sie ebenfalls mit Gewitter in Zusammenhang gebracht wurde, stellt man sie sich Angst einflößend, unerschrocken, fürchterlich anzusehen und sogar bärtig vor. „Thunder and lightning are attributed to Shangô, violent thunderstorm and rending of trees to Oyá.“297 Die anderen beiden Frauen von Shangô sind ebenfalls Wassergöttinnen und mit Flüssen gleichen Namens identifiziert: Obá (auch Ovia) und Oshún. Letztere gilt als überaus tapfer und aufgrund ihrer Schönheit sozusagen als das afrikanische Pendant der griechischen Aphrodite. Manche Mythen sehen in ihr die Mutter von Yemoja (auch Yemanya), der Göttin des Meeres, die von Frauen um Fruchtbarkeit angerufen wird. In anderen Traditionen dreht sich diese verwandtschaftliche Beziehung um, indem Yemoja „is 298 called mother of all deities“ – somit auch von Oshún –, die aus der Verbindung mit dem Gott des Festlands hervorgegangen sind. In der Vorstellungswelt der Yoruba hat der Orisha Ogun (bei den Dahome Gu, bei den Ashanti Ta Yao) das Schmelzen von Eisen erfunden und war somit der erste Schmied. Dementsprechend „he is worshipped by blacksmiths (silver and gold included) and generally by all users of iron implements, therefore by warriors 299 and hunters“ . Er nimmt damit im Pantheon die Position des Gottes des Eisens, des Kriegs und der Jagd ein. Ebenfalls als Gott der Jagd, aber auch der Wälder gilt der Orisha Oshôssi, während die Landwirtschaft in den Zuständigkeitsbereich von Oko (auch Osain) fällt, für den die Bienen als Boten arbeiten. Ein weit verbreiteter Kult entwickelte sich um Shopona (auch Omolú oder Sapata), den Gott der Erde und der Blattern. „He is commonly hailed as Lord or King of the Earth, and [...] is 300 feared as the god who sends the scourge of smallpox“. In den Zwillingsgotthei296 297 298 299 300

Ebd., S. 27. Epega, D.O.: The basis of Yoruba religion, Ijebu-Ode 1973, S. 34. Parrinder, G.: West African religion, S. 45. Epega, D.O.: The basis of Yoruba religion, S. 25. Parrinder, G.: West African religion, S. 41.

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ten der Ibeji findet sich das hohe Ansehen von Zwillingen wieder, die über magische Kräfte verfügen sollen, die jedoch durch das danach geborene Kind noch übertroffen werden. Die Funktion eines Sendboten zwischen Götter- und Menschenwelt übernimmt Eshu (auch Elegbara oder Legba), dem die Öffnung und Schließung von Wegen obliegt. Daher erhält er zu Beginn eines Rituals das erste Opfer, damit er die anderen Orishas herbeiruft und ihnen den Weg zu den Menschen freimacht. Eshu gilt, wenn man sich ihm widersetzt, als boshaft und zornig, weshalb er oftmals als Teufel und Urheber von allem Bösen erachtet, also in die Nähe jüdisch-christlicher Vorstellungen vom personifizierten Bösen gerückt wird. Dies ist jedoch schon aufgrund der ambivalent angelegten Charaktere der afrikanischen Geister und Gottheiten unzulässig, demzufolge Eshu nicht nur als ausschließlich böse gilt. Vielmehr sieht man in ihm auch einen Beschützer speziell von Häusern und Dörfern, der Feinden den Zugang verwehrt. Da er zudem gerne Streiche spielt, ist er auch als Gauner und Schelm bekannt, was sich in seinem Namen widerspiegelt: trickster divinity301. Mit der Tradition der Bantu kam auch deren Geister- und Gespensterkult nach Brasilien und verbreitete sich dort. Von dem bösen Geist Cariapemba fühlten sich die SklavInnen häufig verfolgt oder gar besessen. Das Gespenst Calundu begegnete mit Vorliebe Frauen, und Zumbi – keinesfalls zu verwechseln mit Zambi – wirkte vorzugsweise in der Nacht. Hinsichtlich der systematischen Erfassung des Verhältnisses von Hochgott und untergeordneten Geistwesen stellt sich die Frage nach mono- oder polytheistischem Glauben der AfrikanerInnen. In Richtung Monotheismus verweist die Übertragung des Namens des obersten Gottes auf den christlichen Gott als Ergebnis der christlichen Missionierung. Demzufolge würden die Orishas als Manifestationen des einzig existierenden Gottes gelten. Geht man jedoch davon aus, dass die Geister ihre Fähigkeiten vom Hochgott übertragen bekommen, und betrachtet sie in einem auf ihn ausgerichteten, hierarchischen Beziehungsgeflecht, so könnte man hier einen „Polytheismus innerhalb eines monotheistischen Rahmens“302 konstatieren. Allerdings ist der christliche Einfluss nicht so stark, dass er nachhaltig die genuin afrikanischen Vorstellungen bestimmt, und jene These wenig wahrscheinlich. Die Hinwendung der Menschen zu den Orishas erfolgt in kultischer und ritueller Praxis in vielerlei Hinsicht, so in Tanz und Musik, in Anrufung und Opferung. Letztere kann in Form eines noch so kleinen Geschenks wie z.B. Nüssen oder Schnecken dargebracht werden, ist aber unerlässlicher Bestandteil der Verehrung. Hinsichtlich der Opfergaben sind allerdings weitgehend die Symbole, Zuständigkeiten und Vorlieben eines jeden Orishas zu berücksichtigen, so dass jeder indivi301 Bedeutung des Namens Elegbara aus der Sprache Igbo, vgl. Oduyoye, M.: The vocabulary of Yoruba religious discourse, Ibadan 1971, S. 30. 302 Pollak-Eltz, A.: Trommel und Trance, S. 26.

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duelle Gegenstände oder Speisen erhält. Im Kult der Göttin Oyá „the objects of worship representing her are two naked swords and the horns of a buffalo be303 smeared with camwood“ . Yemoja hingegen werden u.a. Yamswurzeln und Geflügel dargebracht. Aber auch im täglichen Leben spielen die übernatürlichen Wesen eine Rolle, so sind Haustüren mit Bildern, die auf Eshu verweisen, durchaus verbreitet. Eshus Funktion gleicht dann der eines wilden Hundes, „that will rarelay bite the hand that feeds it but, it is hoped, may be relied upon to attack 304 any evil that approaches“ . Wie bereits im Fall von Eshu angedeutet, eignet allen Orishas die Fähigkeit, Gutes oder Böses zu tun, Glück oder Unglück zukommen zu lassen; ihr Einsatz hängt auch vom Menschen ab. Dieser sichert sich die Unterstützung der Gottheiten und Geister, indem er sie durch Anrufung, Verehrung und Opfer wohlgesonnen stimmt. Solches bezwecken u.a. kleine Geschenke, die man an den Gräbern der Verstorbenen darbringt, um deren Hilfsbereitschaft für die Verwandten zu erhalten. Somit verfügt der Mensch über gewisse Möglichkeiten, die Geister zu beeinflussen und zu manipulieren, was zum Nutzen seiner selbst aber auch zum Schaden anderer gereichen kann. Werden die Riten jedoch falsch oder in zu geringem Umfang durchgeführt, kann der Mensch auch Zorn auf sich ziehen. Aufgrund eines gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisses hat die menschliche Manipulation der Geistwesen für diese eine essenzielle Bedeutung. „Der Orixá bedarf der Opfer der Menschen, denn mit ihrer Verehrung wächst seine Kraft“305. Unterbleibt hingegen die Anrufung, die Konsultation oder gar die Erwähnung seines Namens, schwinden seine Kräfte. Für die Ahnengeister beispielsweise kommt diese Nichtbeachtung einem zweiten, nun aber tatsächlichen und gänzlichen Tod gleich. In den Bereich der fetischistischen Magie ist die Opfergabe Ebó einzuordnen, die aus einem Gefäß mit unterschiedlichen Beigaben wie einem toten Tier, einer Kerze, Münzen, Alkohol, Maisbrei o.a. besteht. An einem Ort, der in besonderem Maße dem entsprechenden Orisha zugeordnet ist, wird der Ebó sodann platziert; im Falle von Yemoja vorzugsweise am Meeresufer, in Bezug auf Eshu an einer Wegkreuzung. Dies soll wiederum bewirken, die Orishas günstig zu stimmen, damit sie die Vorhaben der Menschen unterstützen. Da sie sich allerdings auch gegen andere richten können, um ihnen Böses zuzufügen, eignet sich Ebó zugleich für schwarzmagische Praktiken. Ein weiterer Bestandteil der afrikanischen Glaubenswelt begegnet im Wahrsagen, dessen am meisten verbreitete Variation das Ifa-Orakel darstellt und das auch die Dahome unter der Bezeichnung ’Fa‘ von den Yoruba übernommen haben. Das Ifa-Orakel entstammt dem Mythos nach vom Orisha Orunmila mit dem bezeichnenden Namen ’der Himmel kennt das Schicksal‘ und dient zur Enthüllung der 303 Epega, D.O.: The basis of Yoruba religion, S. 34. 304 Parrinder, G.: West African religion, S. 56. 305 Gerbert, M.: Religionen in Brasilien, S. 36.

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Vergangenheit und der Sicht in die Zukunft. Durchführung sowie Deutung des Orakels obliegen dem/r OrakelpriesterIn (’Babalawo‘), bei dem/r die Gläubigen – Männer wie Frauen – Rat und Hilfe suchen. Dies geschieht v.a. dann, „wenn sie wichtige Entscheidungen zu treffen haben [...] so etwa vor Reisen, Verlobungen, 306 Hochzeiten und Geburten“ . Bereits für neugeborene Kinder wird das Orakel befragt, um Informationen über ihr Schicksal zu erhalten. Neben solchen freudigen Daten im Leben gibt aber auch der Krankheitsfall Anlass zur Konsultation des Orakels, das dann die Diagnose erstellen und Heilmittel benennen soll. Letztlich erstreckt sich seine Funktion jedoch auf alle allgemeinen Angelegenheiten des täglichen Lebens, die man – ebenso wie die besonderen – mithilfe jenseitiger Unterstützung zu bewältigen hofft. Zur Befragung des Ifa-Orakels werden 16 Nüsse oder Kaurimuscheln geworfen, die insgesamt 256 unterschiedliche Figuren (’Odu‘) bilden können. Jedes dieser Muster trägt eine eigene Bezeichnung und ist mit einer Unmenge von Geschichten und Redensarten (schätzungsweise 1680 je Muster) verbunden, die der/die OrakelpriesterIn in mehrjähriger Ausbildung erlernt hat. „The subject is a very vast one, and it is safe to say that there is no one babalawo living who knows all the 1,680 sayings attached to each odu“.307 Eine andere mit dem Ifa-Orakel konkurrierende Methode der Weissagung stellt die spiritualistische Séance dar, die den Kontakt zu Verstorbenen ermöglicht. Als vermittelnde Person tritt ein Medium ein, das sowohl im Namen des/r fragenden Lebenden als auch des/r antwortenden Toten spricht und die Nachrichten weiterleitet. Der Ort der Séance ist hierbei frei wählbar, denn „the soul of a dead person may be consulted anywhere from the hour of death, regardless of the place of 308 death“ . Wiederum andere Sitzungen, die denen ein/e Hilfesuchende/r bei einem Orisha um Rat und Hilfe nachfragt, ermöglichen dessen Inkorporation in einem/r PriesterIn. Dieses, von den Bantu als ’Quimbanda‘ bezeichnete Medium, fungiert hier nun selbst als Sprecher des Orisha, dem es exklusiv zugeordnet ist. Eine solche Befähigung jedoch erfordert allerdings eine Vorbereitungszeit, die mit verschiedenen Auflagen und Restriktionen, wie der Enthaltung von bestimmten Speisen verbunden ist. Den Abschluss bildet die in einer Zeremonie gefeierte Initiation, bei der der Initiand „Anteil an der Kraft seines Orischas [gewinnt], der sich nun in seinem Kopf aufhält“309. 4.1.1.2

Portugiesischer Volkskatholizismus

Neben dem Katholizismus, den Ordensangehörige nach Südamerika brachten, hielt dort in der Kolonialzeit auch der von katholischen LaiInnen gelebte Glaube 306 Jungraithmayr, H.: Das Orakel von Ife. Reflexion über das verborgene Afrika (vorgetragen am 30. Oktober 1997), Stuttgart 1988, S. 178. 307 Epega, D.O.: The basis of Yoruba religion, S. 5. 308 Parrinder, G.: West African religion, S. 150. 309 Pollak-Eltz, A.: Trommel und Trance, S. 40 [Hervorhebung weggelassen].

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Einzug. Indem sich nämlich portugiesische Familien in Brasilien niederließen und ihre Religiosität bewahrten, lebte diese über Generationen hinweg fort. Allerdings unterschied sie sich in mancherlei Hinsicht von der offiziellen römischen Lehre, indem sie die Inhalte anders gewichtete, den Kult anders gestaltete und auch nicht-orthodoxe Elemente integrierte. Diese Religiosität ist in erster Linie als geselliger Familienkult zu betrachten, der sich wiederum individuell ausformen kann und keinen starren Regeln unterliegt. Aufgrund dieser spezifischen Veränderungen hat diese Strömung den Charakter eines portugiesisch geprägten, in Brasilien übernommenen Volkskatholizismus.310 Darin begegnet ein „Christentum sanft und lyrisch, mit vielen phallischen und animistischen Reminiszenzen der heidnischen 311 Religionen verquickt“ . Im Mittelpunkt steht die Verehrung der Heiligen, zu denen ein persönliches Verhältnis aufgebaut und gepflegt wird. Sowohl in überregionalen Festen als auch in individueller Anrufung erfolgt die verehrende Hingabe des Menschen an die Heiligen, denen besondere Wirkkräfte und Wundertätigkeit zugeschrieben werden. Wegen dieser Fähigkeiten bittet ein/e Gläubige/r eine/n Heilige/n in diversen Lebenslagen um Hilfe, so z.B. beim Auffinden von verlorenen Gegenständen, in 312 Liebesdingen, oder bei der Heilung von Krankheit . Als Gegenleistung im Sinne des Do-ut-des-Prinzips legt die Person vorab ein Gelübde ab oder bringt Geschenke dar wie Parfum, Schmuck oder Nahrungsmittel. Gleiches kann auch nach vollbrachter Leistung erfolgen, um den Dank auszudrücken. Neben Votivgaben kennt die Volksfrömmigkeit auch immaterielle Dankesbezeugung wie den SanktGonçalo-Tanz, bei dem die Heiligenfigur während des Tanzens an das geheilte 313 Körperteil gehalten wird. Darüber hinaus etablierte sich eine neuere Form der Danksagung, indem nämlich „die brasilianische Presse eine recht eigenartige und täglich erscheinende Sammlung von kleinen Inseraten, für die es eine eigene Rub314 rik ‚Religiöse Mitteilungen‘ gibt“ , veröffentlicht. Da jedoch die Beziehung zwischen bittendem/r Gläubigen und angerufenem/r Heiligen geschäftlicher Art ist, 310 Die oftmals begegnende Bezeichnung dieser Form des Katholizismus als ’iberisch‘ (vgl. z.B. Flasche, R.: Geschichte und Typologie, S. 46), ist etwas unscharf, da dies die spanische Ausprägung mit einschließt. Diesem gegenüber jedoch gilt der portugiesische Populärkatholizismus als „elastisch, minder streng als der spanische, vermenschlicht“ (Arciniegas, Germán: Kulturgeschichte Lateinamerikas, München 1966, S. 135). 311 Freyre, G.: Herrenhaus und Sklavenhütte, S. 53. 312 Da Krankheiten als verursacht von bösen Mächten oder schädlichen Einflüssen gelten, sollen sie mithilfe des/r für die jeweilige Krankheit zuständigen Heiligen vertrieben werden. Diese Form der Krankheitsbekämpfung kann für jene Gläubige, denen die Konsultation von ÄrztInnen aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist, die einzige ’Medizin‘ darstellen. Vgl. Araújo, Alceu Maynard: Folclore Nacional, Bd. 3: Ritos, sabença, linguagem, artes e técnicas, São Paulo 1964, S. 17 f. 313 Vgl. Queiroz, M.I.P.d.: Der Sankt-Gonçalo-Tanz, in: Staden-Jahrbuch 6, 1958, S. 113–122, hier S. 118. 314 Arnau, F.: Der verchromte Urwald. Licht und Schatten über Brasilien, 5. Aufl., Gütersloh 1967, S. 224.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

zieht auch das Nichterfüllen des Gebets Konsequenzen nach sich. Verweigert ein/e Heilige/r die Hilfe, wird er/sie im günstigen Fall nur geschmäht und im ungünstigen bestraft. Die ihn/sie darstellende Statue wird dann vom bevorzugten an einen vermeintlich unangenehmen Ort gestellt. Durch einen solchen Zusammenhang „reduziert sich [der Glaube] wesentlich auf das Zutrauen zu einem Heiligen oder ganz massiv zu einem Gnadenbild, die einen Wunsch erfüllen sollen. Und dieser 315 Glaube wird förmlich von der Gebetserhörung abhängig gemacht.“ Beinahe parallel zur Diversität der Angelegenheiten, die sich fromme Personen von dem/r Heiligen geregelt wünschen, verhält sich deren Zahl. Trotz pluriformer Zuständigkeiten (vgl. den Heiligen Sebastian u.a. als Patron der BogenschützInnen, TöpferInnen, Sterbenden und Helfer gegen Seuchen und Religionsfeinde) steigt die Anzahl der Heiligen ins Unermessliche und sorgt für eine Mehrfachbelegung der Tage des Heiligenkalenders. Neben der weltweiten Verehrung der kanonisierten Heiligen steht die regional begrenzte von Seliggesprochenen sowie von – bisher – nicht offiziell anerkannten Personen (z.B. der Jesuitenpater João Batista Reus). Gleichsam eine Multiplizierung erfährt die Gottesmutter Maria, wenn sie unter 126 verschiedenen Namen316 angerufen wird, die wiederum mit einem je eigenen Zuständigkeitsbereich und bildlichen Darstellungen verbunden sind (z.B. Nossa Senhora da Glória). Ähnlich verhält es sich mit der Person Jesu Christi, die als Senhor (’Herr‘) zahlreicher Gebiete und Orte verehrt wird (z.B. Nosso Senhor do Bonfim). Demzufolge ist „für den Volkskatholizismus [...] ein Pantheon von 317 ‚Heilanden‘, Jungfrauen, Aposteln und Heiligen“ typisch. Darüber hinaus schätzen die frommen PortugiesInnen eine sinnenfällige materielle Ausgestaltung der Verehrung und des Kultes, worüber die geistige und intellektuelle Komponente ein wenig in den Hintergrund treten. Die Bandbreite der Gegenstände reicht von kleinen bis lebensgroßen Statuen, von schlichten Kerzen bis wächsernen Körperteilen, von einzelnen Blumen bis überbordenden Gebinden, von kitschigen Bildchen bis künstlerischen Darstellungen. Daher äußert sich die religiöse Praxis vorrangig in der Teilnahme an Amtshandlungen, an kirchlichen Festen und Prozessionen. Sie fungieren zugleich als Gemeinschaft stiftende und erhaltende Veranstaltungen, bei denen die z.T. in Brasilien verstreut lebenden portugiesischen Familien und -mitglieder aus verschiedenen sozialen Schichten zusammentreffen. Der Frömmigkeit wird in Gesängen, Tänzen, szenischen Darstellungen – sozusagen als Verkündigung in schauspielerischer statt predigender Form – Ausdruck verliehen und erhält beinahe jahrmarktähnlichen Charakter. Zu einer Art Volksfest weiten sich auch die Pro315 Prien, H.-J.: Volksfrömmigkeit in Lateinamerika, S. 416. 316 Vgl. die Auflistung unter http://pt.wikipedia.org/wiki/Lista_dos_Nomes_de_Maria. 317 Prien, H.-J.: Heiligenverehrung in Lateinamerika und lateinamerikanische Heilige, in: ders.: Das Evangelium im Abendland und in der Neuen Welt. Studien zu Theologie, Gesellschaft und Geschichte, zum 65. Geburtstag des Autors hrsg. v. H.-M. Barth u. M. Zeuske, Frankfurt a. Main 2000, S. 355–376, hier S. 360 [kursive Hervorhebung weggelassen].

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zessionen aus, bei denen eine Figur des/r geehrten Heiligen, die oft von fast menschlicher Größe ist, durch den Ort getragen wird. Das Bestreben, die Figur zumindest ein kurzes Stück zum Zeichen der Ehrerbietung zu tragen, sie zu berühren oder gar zu küssen, zeugt „von der Vorstellung einer Materialisierung des 318 ‚sanctum‘ in den Bildern“ . Ähnlich verhält es sich im privaten Bereich, indem viele PortugiesInnen gleichsam eine/n Hausheilige/n haben. Innerhalb der Wohnung ist ihm/r eine Nische, ein Altar oder sogar eine Kapelle gewidmet, wo meist eine Figur steht oder ein Bild hängt und schmückendes Beiwerk liegt. Hier wendet sich der/die Gläubige dem/r persönlichen Heiligen zu, bittet um Hilfe, bringt Geschenke, pflegt den Platz und – wenn nötig – führt Bestrafungen durch. Indem das Heilige als in der Statue bzw. im Bild manifestiert geglaubt wird, ist dieser Raum für solche Tätigkeiten ideal. Auf diese Weise lässt sich zudem die Bindung zu dem/r Heiligen stärken, so dass der Mensch einen umso höheren Anreiz schaffen kann, damit sein Gebet erhört wird. Gegenüber einer solchen privatisierten, ikonolatrischen und damit praktisch-anschaulichen Ausgestaltung der portugiesischen Volksfrömmigkeit hat der offizielle Katholizismus Roms das Nachsehen. Weitere Abweichungen vom römischen Katholizismus treten in der Neigung zu Aberglauben und Magie auf, die als Relikte der religiösen Traditionen der früheren BewohnerInnen Portugals fortleben und durch die weltweiten Erkundungszüge erweitert wurden. Allgemein verbreitet ist der Glaube, dass es Hexen gibt, von denen die bösen vorzugsweise das Blut von Kindern trinken und die guten sich heilend und wahrsagend betätigen. Zum abergläubischen Repertoire sind auch die gefürchteten Werwölfe zu zählen sowie schützende Amulette.319 Zudem glaubt man, dass manche Heilige die Fähigkeit der Wetterregulierung beherrschen, wozu sie durch das Sprechen magischer Formeln bewegt werden sollen. „In der Geschichte Brasiliens ist solches magisches Handeln von Anfang an 320 praktiziert worden.“ Entsprechend dem Streben, das alltägliche, profane Leben selbst magisch gestalten und mit entsprechender Hilfestellung bewältigen zu können, wird die sakrale Sphäre in den Dienst genommen. Durch manipulatives Vorgehen hofft man, die Zuwendung des/r jeweils angesprochenen Heiligen zu erreichen, was sich zum Wohle des Menschen auswirken soll. Wird er jedoch von Unheil getroffen, lässt dies Rückschlüsse auf ein gestörtes Verhältnis zu dem/r Heiligen zu, das es zu beheben gilt. Die Volksfrömmigkeit ist demzufolge vor allem funktional ausgerichtet, material ausgestaltet und eröffnet die Hoffnung, das Leben mit Hilfe der Heiligen aus eigener Kraft verbessern zu können.

318 Ebd., S. 361. 319 Vgl. hierzu Langhans, F.P.d.A.: Antropologia luso-atlântica, Bd. 2: Estudo das „maneiras de viver“ do homem português, Lissabon 1970, S. 89–113. 320 Horsch, H.: Die Ausbreitung afrobrasilianischer Kulte, S. 184.

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4.1.1.3

Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Indianische Glaubensvorstellungen

Die einzige nicht-importierte Religion, die zudem nicht aus synkretistischer Vermischung hervorgegangen ist, begegnet in der Lebenswelt der indigenen Bevölkerung Brasiliens, die sowohl hinsichtlich ihrer Anzahl als auch ihrer regionalen Verbreitung zurückgedrängt wurde. Mit Ankunft der europäischen ErobererInnen und christlichen MissionarInnen sahen sich die Indios zugleich mit einer neuen Kultur konfrontiert, auf die sie in unterschiedlicher Weise reagierten. Die einen widersetzten sich standhaft und erfolgreich der kulturellen und religiösen Überformung, indem sie sich weit ins schwer zugängliche Binnenland zurückzogen. Indem sie dann auch weiterhin den Kontakt zur Zivilisation mieden, erhielten sie die autochthone Lebensweise z.T. bis heute. Die anderen fügten sich in den Umbruch und passten sich an die neuen, von außen herangetragenen Strukturen an, so dass sie die ursprünglichen Traditionen allmählich verloren. Durch das vornehmliche Bemühen der Jesuiten um die Indios (s. 3.1.1), die nicht nur christianisiert sondern auch beschützt werden sollten, wurde jener Prozess beschleunigt. Dieser führte letztlich dazu, dass diese Indios keine nominellen, d.h. lediglich getauften ChristInnen blieben, die nur äußerlich der neuen Religion anhingen. Vielmehr erfolgte eine „integrative Verarbeitung der christlichen Fremdelemente“321 und somit deren innerliche und strukturelle Rezeption, die den alten indigenen Glauben ablöste. Allerdings lebt er – dieser Entwicklung zum Trotz – in einzelnen Praktiken weiter, die die christianisierten UreinwohnerInnen noch immer durchführen. Zu solchen gehört v.a. die Art und Pflege der Beziehung zu den Verstorbenen. Im Moment des Todes stirbt nach indianischen Vorstellungen zwar der Körper des Menschen, nicht aber seine Seele, die weiterhin auf der Erde weilt. Allerdings wird allgemein befürchtet, dass sie es vermag, auch in negativer Form auf das Leben der Hinterbliebenen einzuwirken. Solches versuchen die Lebenden zu verhindern, indem sie den Toten ein Trank- und Speiseopfer darbringen, um dessen Seele zu besänftigen und zu ihr ein positives Verhältnis zu stiften. Ebenfalls via Opfer gestaltet sich der Kontakt zu den Geistern und Gottheiten, der als ein Geben und Nehmen zu beschreiben ist. Der Mensch gibt in Form eines Blut- oder Tieropfers bzw. eines Opfertischs das, was die Gottheit annehmen soll, damit diese ihrerseits das gibt, worum der Mensch sie bittet. In diesem Aspekt ähneln sich indianische, afrikanische sowie volkskatholische Vorstellungen und Praktiken in frappierender Weise. Eine weitere Parallele besteht in der Vielzahl von mythischen Geistwesen, die den Menschen „teils freundlich, teils feindlich gesinnt“322 sind. Sie wohnen in Wäldern, auf Bergen und an Gewässern, woraus sich wiederum gewisse Verbindungen ergeben – so bei Tupã, dem Gott des Donners und des Blitzes, und Yara, der 321 Fohr, D.: Trance und Magie, S. 48. 322 Weingärtner, L.: Umbanda, S. 37.

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Flussnymphe. Ebenfalls Sonne und Mond, personifiziert als Guaraci und Jaci, finden bei den Indios eine rituelle Verehrung. Da die Waldgeister Anhangá und Jurupari, die in verlassenen Dörfern siedeln, als böse galten, sahen christliche BeobachterInnen sie oft als Dämonen an. Dementsprechend erachteten die Jesuiten die Corupira als „furchterregende Geister, die die Indios im Wald anfielen, 323 wobei sie bestimmte Orte wie die Wegkreuzungen bevorzugten“ . Zu den religiösen Elementen der Indios zählt auch ihre Affinität zur Magie, mit deren Hilfe z.B. die Kräfte der Geister in Fetischen gebündelt und nutzbar gemacht werden können. Indem aber zu jedem Zauber ein Gegenzauber existiert, fächert sich die indianische Magie in eine schwarze und weiße auf. Der die Magie ausübende Pajé wird demnach entweder als Hexer oder als Medizinmann und Heiler angesehen. Während ersterer einen Schaden, z.B. Krankheit hervorruft, soll letzterer ihn wieder aufheben. Zu den vornehmlichen Aufgaben gehört zudem der Kontakt zur übernatürlichen Welt und ihren Wesen, sie zu sehen und den diesseitigen Menschen das Geschaute mitzuteilen. Meist wird die Schau bewusst herbeigeführt, sei es aus sich selbst heraus durch Askese, Konzentration und Trance, oder mithilfe eingenommener Drogen. „Manchmal manifestieren sich diese ‚anderen‘ Dimensionen ganz plötzlich und unerwartet“324. Ähnlich verhält es sich in der Initiation des Pajé, die in ritueller Zeremonie, aber auch spontan durch das Auftreten von Halluzinationen oder Krämpfen erfolgen kann. Nicht zuletzt aufgrund seiner Fähigkeiten und Funktion als Geisterbeschwörer, Wahrsager und Berater nimmt der Pajé eine der höchsten Positionen in der indianischen Kultpraxis ein. 4.1.1.4

Amerikanisch-europäischer Spiritismus

Der Spiritismus reicht in seinen Anfängen in die 2. Hälfte des 18. Jh. zurück, so z.B. mit der Sphärenspekulation von Emanuel Swedenborg und der Lehre des animalischen Magnetismus von Franz Anton Mesmer, und wird im 19. Jh. vom ’Seher von Poughkeepsie‘, Andrew Jackson Davis, theoretisch aufgearbeitet. Dennoch verdankt diese okkulte Bewegung ihre Ausbreitung den ’Klopfgeistern‘ (’raps‘), die sich 1848 im Haus des Methodisten John Fox in den USA zu schaffen machten. Mittels Klopfzeichens schienen sich die Geister von Verstorbenen mitzuteilen, weshalb hierin die „Manifestationen einer bisher unbekannten Wirklichkeit“325 gesehen wurden. Diesem erstmaligen Kontakt folgten zahlreiche Séancen, die sich dem ’spirit rapping‘ widmeten und mit den Geistern – seit 1850 via Ti-

323 Ramos, A.: Introdução à Antropologia Brasileira, Bd. 1: As culturas não-européias, 2. Aufl., Rio de Janeiro 1951, S. 93. 324 Reichel-Dolmatoff, G.: The Shaman and the Jaguar. A study of narcotic drugs among the Indians of Colombia, Philadelphia 1975, S. 75. 325 Wulfhorst, I.: Der „Spiritualistisch-christliche Orden“, S. 22. Wulfhorst hält dieses Datum für die „Geburtsstunde“ des Spiritismus (ebd., S. 21), berücksichtigt aber nicht die vorangegangene Entwicklung.

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scherücken – kommunizierten. Das Interesse am Spiritismus war jedoch weniger religiöser als vielmehr (para-)wissenschaftlicher Art, wodurch die postmortale Trennung von Seele und Leib sowie die Möglichkeit der Kommunikation über die Todesgrenze hinweg bewiesen werden sollte. Zudem positionierte sich die spiritistische Bewegung als Kind der Aufklärung außerhalb von dogmatisierter Theologie und institutionalisierter Kirche, stand aber auch dem „säkularisierten materia326 listischen Denken“ kritisch gegenüber. Indem der Spiritismus nach Europa gelangte, erfuhr er eine Modifizierung und religiöse Ausformung durch den Franzosen Léon Hippolyte Dénizard Rivail (1804–1869). Dieser sah sich als Reinkarnation des keltischen Druiden Allan Kardec, dessen Namen Rivail als Pseudonym annahm. Hiervon leitet sich auch der Begriff ’Kardecismus‘ ab. Als Gründungsdatum dieser spirituellen Strömung gilt das erstmalige Erscheinen von Kardecs „Le livre des esprits“ im Jahr 1857. Weitere Veröffentlichungen folgten ebenso wie eine kontroverse Rezeption, denn während „das kardecistische Schrifttum in Spanien 1861 einem Autodafé zum Opfer fiel, kam es in Brasilien zwischen 1865 und 1883 zu einer wahren Flut von Publikationen“327. Bereits 1884 erfolgte die Gründung der ’Federação Espírita Brasileira‘, der sich allerdings nicht alle entstandenen spiritistischen Einzelgruppierungen anschlossen. Doch angesichts der steigenden Anhängerzahl und Diversität hinsichtlich Organisation und Inhalten wurden die Bestrebungen nach grundsätzlicher Übereinstimmung mit der Lehre Kardecs forciert und 1949 durch die Fede328 ração beschlossen. Somit erhielten Kardecs Werke „Le livre des esprits“ und „Le 329 livre des médiums“ normative Geltung. Aufgrund seiner weltanschaulichen Basis breitete sich der Kardecimus rasch in der brasilianischen Oberschicht europäischer Abstammung aus, also bei AkademikerInnen, Intellektuellen und in hohen militärischen Kreisen, erreichte wegen seiner therapeutischen und mystischen Ausrichtung aber auch die Mittelschicht. Dabei knüpfte der Spiritismus an bereits existierende Bewegungen sowie die Disposition der BrasilianerInnen an, auf die heilende Funktion von Magie (z.B. das Kurieren von kranken Körperteilen) zu vertrauen. So erzielt der Spiritismus letztlich die gleiche Wirkung wie die afrikanischen und indianischen Traditionen, wenn auch die Ursachen in unterschiedlicher Weise gesehen und begründet werden. 326 Ebd., S. 21. 327 Gerlitz, P.: Art. „Spiritismus“, in: TRE 31, 2000, S. 695–701, hier S. 697. 328 Vgl. Kardec, A.: Das Buch der Geister. Enthaltend die Grundsätze der spiritistischen Lehre über die Unsterblichkeit der Seele, die Natur der Geister und ihre Beziehungen zu den Menschen, die sittlichen Gesetze, das gegenwärtige und das künftige Leben, sowie die Zukunft der Menschheit, Zürich 1886. 329 Vgl. Kardec, A.: Das Buch der Medien. Ein Wegweiser für Medien und Anrufer über Art und Einfluß der Geister, die Theorie ihrer verschiedenen Kundgebungen, die Mittel zum Verkehr mit der unsichtbaren Welt und der möglichen Schwierigkeiten, denen man beim Experimentalspiritismus begegnen kann. Anweisungen für den experimentellen Spiritismus, Freiburg i. Breisgau 1964.

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Zudem greift Kardec christliche, speziell neutestamentliche Lehren auf, die er 330 spiritistisch interpretiert und in „L’ Evangile selon le Spiritisme“ darlegt. Gemäß dieser Verbundenheit versteht sich der kardecistische Spiritismus nach den Offenbarungen Moses und Jesu Christi als dritte Offenbarung, die das göttliche Gesetz (auch Naturgesetz) wieder entdeckt und erneuert hat. Dessen Quintessenz stellt das von Jesus verkündete Gebot zur Nächstenliebe dar, die als der Heilsweg zur spirituellen Erlösung gilt. Dementsprechend „erhebt der Spiritismus die Wahrheit ‚Außerhalb der Nächstenliebe kein Heil‘ zum Grundsatz, also Gleichheit unter den Menschen vor Gott, Toleranz, Gewissenfreiheit und gegenseitiges Wohlwollen!“331. Sowohl der Nächstenliebe, die schon zu allen Zeiten und in allen Kulturen bekannt gewesen sein soll, als auch dem Kardecismus kommen demnach der Anspruch auf Universalität zu. Denn indem er in spirituell erneuerter Form die Nächstenliebe verkündigt, die zugleich in allen Religionen verbreitet ist, betrachtet 332 sich der Kardecismus als die „einzige wahre Religion“ . Außerdem zeichne er sich dadurch aus, dass die Geister auch durch viele Medien jenseitige Botschaften mitteilen, anstatt dass sich nur ein prophetischer Geist in Einzelpersonen inkarnieren und verkünden würde, wie im Fall von Mose und Jesus. Sogar von der Bibel selbst leitet Kardec die Legitimation und Vorrangstellung seiner Lehre ab, indem er sie mit dem verheißenen, nun gekommenen Geist der Wahrheit (Joh 16,13) gleichsetzt. Aus dieser Perspektive ist „die Zeit [...] nahe, wo man anerkennen wird, daß der Spiritismus auf Schritt und Tritt aus dem Wortlaut der Heiligen Schrift hervorgeht“333. Die spiritistische Lehre entwirft ein dualistisches, von der Gnosis entlehntes Weltbild, das sich in eine materielle, sichtbare und eine immaterielle, unsichtbare gliedert. Beide Welten wurden nach spiritistischer Auffassung von Gott als erster Ursache hervorgebracht. Kardec verband „die spiritistische Grundanschauung mit 334 der Reinkarnationslehre“ , die er ebenso wie die Karma-Theorie aus dem hinduistischen Kontext übernahm und umformte. Demnach durchlaufen die Geister verschiedene Evolutionsstufen auf dem Weg der Läuterung, dessen Ziel die endgültige Vervollkommnung ist. Als eine Durchgangsstation fungiert auch die Erde, auf der die Geister sich vorübergehend inkarnieren und in eine körperliche Hülle 335 schlüpfen. Auf diesem „‚Planet der Sühne‘“ unterliegen sie diversen Prüfungen, 330 Vgl. Kardec, A.: L' évangile selon le spiritisme. Contenant l'explication des maximes morales du Christ. Leur concordance avec le spiritisme et leur application aux diverses positions de la vie, Paris 1974. 331 Kardec, A.: Das Buch der Medien, S. 13. Den Ausspruch Cyprians von Karthago ’salus extra ecclesiam non est‘ wertet Kardec als einen Grundsatz, „der die Trennung und Erbitterung zwischen den einzelnen Sekten nährt und erhält, und der schon viel Blutvergießen auf der Welt gekostet hat“ (ebd.). 332 Kardec, A.: Das Buch der Geister, S. 304 f. 333 Ebd., S. 297. 334 Fohr, D.: Trance und Magie, S. 162. 335 Wulfhorst, I.: Espiritismo e fé cristã, S. 41.

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nach deren Bestehen sie wieder in ihren geistigen Zustand exkarnieren. In erneut inkarnierten Existenzen, die sich aus dem zuvor jeweils gesammelten Karma ergeben, haben die Geister immer wieder die Möglichkeit, nach höheren Entwicklungsstufen zu streben. Das Vermeiden jener Prüfungen jedoch führt zwar auch zur Exkarnation. Der exkarnierte Geist fühlt sich aber weiterhin mit seiner irdischen Existenz verbunden, so dass er als so genannter ’leidender Geist‘ umherirrt und den Lebenden Schaden zufügt. Mit einer neuen Inkarnation vermag jedoch auch dieser Geist eine weitere Stufe in Richtung Vollendung zu erreichen. Jene besteht darin, den Status eines reinen, geläuterten Geistes in Gottesnähe zu erlangen und dadurch nicht mehr dem Reinkarnationskreislauf unterworfen zu sein (hierin vergleichbar dem Nirvana). Dennoch können sich die Geister zur Erfüllung des so genannten ’Missionsauftrags‘ erneut inkarnieren, um so den Geistern auf niedrigeren Stufen zu helfen sowie „den auf Erden Lebenden Weisungen zu geben und die Menschheit auf eine höhere Entwicklungsstufe zu führen“336. Gott selbst hingegen lenkt die Welten, befindet sich aber in großer Distanz zu den Menschen und steht ihnen somit nicht unterstützend zur Seite. In den Séancen wird sowohl der Kontakt zu den Geistern gewahrt, z.B. in vorgetragenen Geistmitteilungen, als auch immer wieder neu durch Medien hergestellt. Inkorporiert sich ein Geist, wird er im Folgenden von dem/r VersammlungsleiterIn befragt, wobei die guten Geister Ratschläge bei Sorgen und Problemen erteilen sowie beruhigend und heilend wirken. Leidende Geister jedoch bedürfen selbst der Therapie, um die irdischen Bindungen loszulassen. Hierzu leitet ihn der/die SpiritistIn an, damit der Geist frühere Fehler erkennen und sich freiwillig „dazu entschließen könne, Jesus anzuerkennen und dem Rat [...] guter Geister zu folgen“337. Erst dadurch gelangt er auf den Weg der Evolution hin zur Vollendung zurück. Ebenfalls sollen Menschen sich und ihren Lebensweg erkennen, um von einer Krankheit geheilt zu werden. Deren Ursache liegt nach spiritistischer Ansicht oftmals in ungünstigem Karma oder in der Besessenheit von einem leidenden Geist. Dieser kann von Medien mittels einer Handbewegung, die negative Fluide abstreift, entfernt und der/die Betroffene somit geheilt werden. Aufgrund der vielfältigen Entlehnungen, die im Kardecismus vorgenommen werden, ist diese Strömung als synkretistische Zusammensetzung verschiedener religiöser Elemente zu betrachten. Jedoch erfolgt die jeweilige Übernahme z.T. in stark verzerrter Form, wie sich anhand der Nächstenliebe zeigt. Im Gegensatz zum christlichen Verständnis des Gebots besteht „der Zweck der spiritistischen Nächstenliebe [...] ganz einfach in einem evolutionistisch verstandenen ‚Punktesammeln‘ aufgrund guter Taten“338. Hierin verbindet Kardec vordergründig die 336 Gerlitz, P.: Art. „Spiritismus“, S. 698. Dieser selbstlose Einsatz von höheren oder erhöhten Wesen erinnert im christlichen Bereich an die Funktion von katholischen Heiligen sowie im Mahâyâna-Buddhismus an die unterstützenden Bodhisattvas. 337 Wulfhorst, I.: Der „Spiritualistisch-christliche Orden“, S. 34. 338 Fohr, D.: Trance und Magie, S. 163.

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christliche mit der hinduistischen Lehre, benutzt jedoch von ersterer nur die Terminologie, die sodann auf andere Inhalte übertragen wird. Mit der Entwicklung der Umbanda wird nun der Kardecismus selbst zu einem synkretistisch aufgegriffenen Element, das seinerseits Überformungen unterliegt. 4.1.2 Die Entstehung der neuen Religion Die Entstehung der Umbanda Anfang des 20. Jh. fällt in die Zeit der Ersten Republik. Auf politischer Ebene lösten mehrere Militärdiktaturen einander ebenso ab wie nachfolgende zivile Regierungen, ohne jedoch eine Demokratie zu errichten. In wirtschaftlicher Hinsicht sahen sich die Vereinigten Staaten von Brasilien einerseits dem Rückgang der Exporte von Zucker und Kautschuk sowie dem Preisverfall durch Überproduktion auf dem Kaffeesektor gegenüber. Andererseits führte die Abschaffung der Sklaverei zu „steigende[m] Geldbedarf für Lohnzahlungen an die freien Arbeitskräfte“339, wodurch neben finanziellen Verlusten die hohen Ausgaben zu Buche schlugen. Der Erste Weltkrieg hingegen bedeutete für Brasilien den Aufschwung der Industrie, die erhöhte Ausfuhr von Waren, die Einwanderung von AusländerInnen, den Ausbau der Verkehrsverbindungen und die zunehmende Verstädterung. Gleichzeitig ergaben sich auf gesellschaftlicher Ebene die Entstehung der Industriellen-Schicht, der Aufstieg des Mittelstands und das Wachstum des Proletariats. In den Nachkriegsjahren brachen die Exportzahlen wiederum ein und bewirkten eine erneute finanzielle und innenpolitische Krise. Diese führte in die Revolution von 1930 und in die Diktatur von Getúlio Vargas. Bereits die nach der Unabhängigkeit von Portugal verabschiedete Verfassung von 1824 schrieb die kultische Freiheit fest, die auch den nicht-katholischen Religionen einen gewissen Spielraum ließ. Die Umformung Brasiliens vom Kaiserreich zur Republik brachte 1890 die Trennung von Kirche und Staat mit sich, in deren Zuge „die römische Kirche [...] ihre privilegierte Stellung als Staatskirche einbüßte“340. Die verschiedenen Religionen Brasiliens genossen nun Freiheit und Gleichwertigkeit sowie Freiraum zur Existenz und Ausbreitung. Gesetzlich sanktionierte Repressionen hatten allerdings diejenigen Kulte zu erwarten, die illegale Praktiken 341 durchführten. Als solche listeten die Artikel 156–158 des Dekrets 874 des Strafgesetzbuches von 1890 u.a. die Tätigkeit als HeilerIn, MagierIn, SpiritistIn und WahrsagerIn auf. Unter dem Verdacht, gegen das Gesetz zu verstoßen, standen demnach per se die AnhängerInnen afro-brasilianischer Religionen, da jene verbotenen Handlungen für sie essenzielle Bestandteile der Kultausübung darstellten. Polizeiliche Übergriffe, Anklagen und Verurteilungen zu Gefängnishaft waren demnach ihr Los. 339 Jacob, E.G.: Grundzüge der Geschichte Brasiliens, S. 217. 340 Prien, H.-J.: Die Geschichte des Christentums, S. 551. 341 Vgl. dazu Maggie, Y.: O medo do feitiço – verdades e mentiras sobre a repressão às religiões mediúnicas, in: Religião e Sociedade 13/1, 1986, S. 72–86, hier S. 74.

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1934 wurde in Rio de Janeiro die polizeiliche Registrierung von Religionen mit afrikanischem Hintergrund eingeführt, was für sie eine Einschränkung ihres religiösen Freiraums bedeutete. „Theoretisch erlaubte ihnen die Registrierung die legale [Kult-]Ausübung; konkret jedoch zog es die Aufmerksamkeit der Polizei auf 342 sich und erhöhte die Möglichkeit der Einschüchterung und Nötigung.“ Störung der Sitzungen, Durchsuchung der Terreiros, Konfiszierung der kultischen Gegenstände, Verhaftung der AnhängerInnen, Erpressung von Schutzgeld waren in jener Zeit – und nicht nur in Rio – üblich. Mit Beendigung der Diktatur unter Vargas und dem Beginn der Militärdiktatur 1964 veränderten sich nicht nur die politischen Umstände, sondern auch die Situation der bislang verdächtigen Religionen. Die Einschränkung der politischen Rechte und religiösen Freiheit wurde aufgehoben, und die polizeiliche Registrierung der Terreiros ging in eine zivile über. Bis zu diesem Zeitpunkt verstanden es die afro-brasilianischen Religionen nicht nur, die institutionalisierte Repression zu überdauern, sondern sie breiteten sich regional aus, und brachten sogar neue Spielarten hervor. In diesem Kontext war auch die Umbanda entstanden und expandiert – trotz der weiterhin omnipräsenten römisch-katholischen Kirche, trotz der bestehenden Anzahl und Vielfalt der afrobrasilianischen Religionen und trotz der widrigen gesetzlichen Umstände. Hinsichtlich des Gründungsjahrs bzw. -jahrzehnts konkurrieren zwei verschiedene Versionen: Während die Forschung oftmals die 1920er Jahre als Beginn des umbandistischen Kultes betrachtet343, votieren v.a. die UmbandistInnen für das Jahr 1908 und benennen als Gründungsdatum den 15.11. Dieser Tag, der mit dem Jahrestag der Ausrufung der Republik 1889 zusammenfällt und deswegen ein 344 nationaler Feiertag ist, wird in den Terreiros als ’Dia Nacional da Umbanda‘ bzw. Geburtstag gefeiert. Als Gründerfigur – sofern überhaupt in der ohnehin uneinheitlichen Literatur erwähnt – könnte Zélio Fernandino de Moraes (1891– 1974) betrachtet werden, der in Niterói, einem Vorort von Rio de Janeiro, den ersten umbandistischen Terreiro eröffnete. Hierin handelte er gemäß der Weisung und Prophezeiung zweier inkorporierter Geister. Wegen einer Krankheit, deren medizinische Behandlung erfolglos verlaufen war, hatte Zélio auf Anraten seines Vaters einen kardecistischen Tempel aufgesucht. „While there, Zélio was visited by the spirit of a Jesuit priest, who revealed to him that his illness was spiritual and was the sign of a special mission. He was to be the founder of a new religion, a true Brazilian religion“345. Zudem kündigte 342 Brown, D.D.: Uma história da Umbanda no Rio, in: dies. u.a.: Umbanda e Política, Rio de Janeiro 1985, S. 9–42, hier S. 14. Vgl. im Folgenden auch S. 35. 343 Zu den neueren Schriften, die die Entstehungszeit der Umbanda in die 1920er Jahre legen, gehören u.a. Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 10; Prandi, R.: Os candomblés de São Paulo, S. 48; Silva, V.G.d.: Candomblé e Umbanda, S. 110. 344 ’Nationaltag der Umbanda‘; vgl. Almanaque Umbandista, n. 5, zusammengestellt v. J. Edson Orphanake, São Paulo 1992, S. 6. 345 Brown, D.D.: Umbanda, S. 39. Die Angaben basieren auf einem Interview von Brown mit Zélio de Moraes.

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der jesuitische Geist den Besuch eines anderen Geistes an, der als persönlicher Mentor weitere Anweisungen geben sollte. Bald nach der tatsächlich eingetretenen Heilung manifestierte sich während einer spiritistischen Sitzung am 15.11.1908 der angekündigte Geist in Zélio. Gleichzeitig mit diesem Indio-Geist namens Caboclo das Sete Encruzilhadas inkorporierten in anderen Medien ebenfalls indianische und afrikanische Geister. Da sie aber in den Augen der SpiritistInnen als wenig entwickelte Geister galten, sollten sie den Zirkel verlassen. Am folgenden Tag manifestierte sich der Caboclo erneut und beauftragte Zélio mit der der Gründung einer neuen Religion namens Umbanda sowie einer eigenen Kultstätte. Neben dem ersten Terreiro ’Tenda Espírita Nossa Senhora da Piedade‘ sollten die hinzugewonnen AnhängerInnen weitere sieben Kultstätten als Fundamente der neuen Religion bilden. Insofern benennt die Legende den 16.11. zwar als den Tag der ersten Gründung, doch den 15.11. als den Tag der ersten Vermischung von spiritistischen, afrikanischen und indianischen Elementen. Obwohl die Umbanda heute gemeinhin als afro-brasilianische Religion klassifiziert wird, entstammen sie und ihre frühesten leitenden Personen aus dem spiritistischen Umfeld. Enttäuscht vom hoch entwickelten und statischen Kardecismus wandten sich Zélio und seine ersten BegleiterInnen den afrikanischen Vorstellungen zu, da sie diese als anregender, vielfältiger und wirkmächtiger erlebten. Allerdings wirkten nicht alle religiösen Elemente anziehend auf diese ehemaligen SpiritistInnen, die zudem der weißen Mittelschicht angehörten, wie z.B. das Opfern von Tieren oder die Ansiedelung der Terreiros in den Favelas. Zur ’Verbesserung‘ wählten sie einzelne, bereits synkretisierte afrikanische Momente aus und fügten sie mit ihrem spiritistischen Hintergrund zusammen. „Umbanda [...] came to express the preferences and dislikes of these founders“346. Dass Zélio de Moraes bereits zu sehr frühem Zeitpunkt eine bedeutende Rolle im Prozess der Entstehung der Umbanda innehatte, ist nicht umstritten. Allerdings bleibt fraglich, ob er tatsächlich ihr Gründer war oder ’lediglich‘ einer der PionierInnen. Denn es gab auch parallele Entwicklungen, indem z.B. der Kardecist Benjamim Figueiredo unüblicherweise den Geist Caboclo Mirim empfing. Dies machte „es ihm unmöglich [...], seine ‚Arbeit‘ mit den Kardecisten fortzusetzen, die diese Gattung von Geist ablehnen, weil sie sie für zu unrein halten, den Fortschritt der Menschheit zu unterstützen“347. Daraufhin verließ Figueiredo den spiritistischen Kreis und gründete 1924 in Rio de Janeiro die ’Tenda Espírita Mirim‘. Jedoch beschränkte sich das Phänomen, den europäisch geprägten Spiritismus mit indianischen und/oder afrikanischen Elementen anzureichern, nicht auf den Großraum um Rio. Beinahe zeitgleich (1926) eröffnete Otacílio Charão im südlichen Rio Grande das ’Centro Espírita Reino de São Jorge‘, in dem sich Caboclos/as und Pretos/as Velhos/as manifestierten. Zélios Kultstätte hingegen be-

346 Ebd., S. 40. 347 Ortiz, R.: A morte branca, S. 38.

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stand nach Darstellung Ortiz’ zwar schon seit 1908, jedoch ging sie erst um 1930 348 von kardecistischen zu umbandistischen Praktiken über. Die Forschungen der Anthropologin Diana Brown (ab 1966) und des Soziologen Renato Ortiz (ab 1972) setzen zu einem Zeitpunkt ein, an dem sich die Umbanda, unabhängig davon, ob man 1908 oder die 1920er Jahre als Anfangszeit bestimmt, schon lange konsolidiert und etabliert hat. Zuvor erschienene Schriften – akademische wie umbandistische – spiegeln hinsichtlich der Frage nach der Gründergestalt der Umbanda allerdings ein anderes Bild. Arthur Ramos und Roger Bastide beispielsweise erwähnen in ihren klassisch gewordenen, soziologischen Studien349 weder Zélio de Moraes noch dessen Terreiro. Ebenso verhält es 350 sich mit umbandistischen AutorInnen wie Waldemar Bento oder João de Freitas. Das von der União Espiritista de Umbanda herausgegebene „Journal de Umbanda“ jedoch führt beide gelegentlich an, spricht aber hierbei Zélio keine Position zu, die über die Leitung und Gründung einiger Terreiros hinausginge. Einzelne Notizen thematisieren seine lange Tätigkeit und Verdienste für die Religion, bezeichnen ihn als ’Opa der Umbanda‘ und berichten von seiner Auszeichnung für 351 49 Jahre der Medienschaft im Mai 1958. Die Gründung der Umbanda wird dahingegen nicht auf ihn zurückgeführt. Eine Rolle Zélios in institutionell tragender Funktion lässt sich aus diesem Befund laut Emerson Giumbelli nicht ableiten. Stattdessen folgert er, „dass die Zentralität von Zélio de Moraes im Entstehen der Umbanda eine spätere Konstruktion 352 zu Beginn der Dekade von 1960 ist“ . Die Anfänge der Umbanda als neuer Religion und namentlich ihre Gründergestalt seien trotz nachfolgender Forschungen nicht mehr greifbar. Dies ändere auch nicht die von Brown vorgenommene Identifizierung Zélios als den Gründer, die letztlich nur eine Annahme war. „I cannot be sure that Zélio was the founder of umbanda, [...] although Zélio’s centro and those founded by his associates were the earliest I found that had self-consciously identi353 fied themselves as Umbanda“ . Für einen Großteil der UmbandistInnen jedoch ist es von geringerem Interesse, wenn nicht gar irrelevant, von wem ihre Religion wann gegründet wurde. Sie sehen die eigentlichen Ursprünge der Umbanda in frühesten, nicht erinnerbaren Zeiten. Ihre Grundlagen verbreiteten sich seitdem über Länder, Völker und Rassen, die sich letztlich in Brasilien vereinten. Zunächst durch den ’Movimento umbandista‘ sollte die uralte Religion wieder aufleben und sodann durch das Wirken des Caboclo das Sete Encruzilhadas wieder hergestellt werden. Den Zeitpunkt der Res-

348 349 350 351

Vgl. ebd. Vgl. Ramos, A.: O negro brasileiro; Bastide, R.: Les religions africaines. Vgl. Bento, W.: A magia no Brasil, Rio de Janeiro 1939; Freitas, J.d.: Umbanda. Vgl. Giumbelli, E.: Zélio de Moraes e as origens da umbanda no Rio de Janeiro, in: Silva, V.G.d.: Caminhos da Alma. Memória afro-brasileira, São Paulo 2002, S. 185–217, hier S. 194. 352 Ebd. 353 Brown, D.D.: Umbanda, S. 38.

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tauration der Umbanda bestimmte jedoch die übernatürliche Welt. Um ihre Vorgaben zu erfüllen, benutzte der Caboclo den 17-jährigen Zélio als seinen ’Appa354 rat‘. Demnach kann nach umbandistischem Verständnis Zélio de Moraes nicht als Gründer der Umbanda gelten (und noch weniger verehrt werden), sondern nur als ausführender Part in der langen Geschichte dieser Religion. Ausgehend vom Raum Rio de Janeiro erstreckte sich die Umbanda auf umliegende Groß- und Kleinstädte und breitete sich kontinuierlich aus. Schon früh zeichnete sich die Anziehungskraft der Umbanda ab, indem sie aus verschiedenen „Kreisen der anderen Typen afrikanischer Religiosität, im volkstümlichen Spiri355 tismus und selbst im Vulgärkatholizismus“ regen Zulauf fand. Daher erscheint 356 die Bezeichnung dieser Bewegung als „Winkelsekte“ unter geschichtlicher Perspektive als irreführend und unzutreffend. Allerdings brachte die Verbreitung der Umbanda eine uneinheitliche kultische Diversifikation hervor, die sich mit steigender Anhängerzahl und Terreirogründungen immer weiter ausdifferenzierte. Denn wie schon zuvor die PionierInnen um Zélio de Moraes bei der Entwicklung der neuen Religion ein Wahlrecht wahrgenommen hatten, indem sie aus den afrikanischen Kulten manche Elemente übernahmen und andere nicht, so konnten auch nachfolgende Terreiro-GründerInnen verfahren und gemäß ihren Vorlieben und Abneigungen auswählen bzw. ausschließen. Auf diese Weise setzt sich auch im Verlauf der Geschichte der Umbanda die stark individualistische Komponente ihrer AnhängerInnen und Kultstätten fort, was ihr Auftreten als einheitliches Gebilde weitgehend und dauerhaft verhindert (s. 4.1.5). 4.1.3 Rassen- und Schichtzugehörigkeit der UmbandistInnen

4.1.3.1

Schwarze und weiße AnhängerInnen

Neben ihrem schnellen Anwachsen überrascht die Umbanda durch die Zusammensetzung ihrer Anhängerschaft, die sich auffällig von anderen afro-brasilianischen Religionen unterscheidet. Vielfach im Gegensatz zu jenen, deren Mitglieder zum überwiegenden Teil farbig sind und aus der Unterschicht stammen, zieht die neue Religion Menschen verschiedener Rassen und Schichten an. Bis zum Beginn des 20. Jh. herrschte – plakativ dargestellt – in Brasilien eine Trennung nach Rassen und Religionen, die eine gewisse Zuordnung sichtbar werden ließ: Der Spiritismus wurde bevorzugt von Weißen praktiziert, die indigenen Religionen von Indios und die afrikanischen Kulte von Schwarzen – und über all dem schwebte der (Deck-)Mantel des Katholizismus. Mit dem Synkretismus der Umbanda allerdings kam es nun deutlich (im Gegensatz zu vorherigen zögerlichen 354 Vgl. hierzu Rivas Neto, F.: Lições basicas, S. 24–26. 355 Flasche, R.: Geschichte und Typologie, S. 176. 356 Fischer, U.: Erfüllte Sehnsucht, S. 116.

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Verbindungen) zu einem gemeinsamen Engagement von Menschen verschiedener Rassen. Aufgrund ihrer prinzipiellen Offenheit ermöglichte die Umbanda einen doppelläufigen Prozess, in dem weiße und schwarze Traditionen und Praktiken sich gegenseitig beeinflussten und färbten. Diese dynamische Bewegung nennt Renato 357 Ortiz ’Embranquecimento‘ (angelehnt an Roger Bastide) und ’Empretecimento‘ , also das ’Weiß werden‘ und ’Schwarz werden‘ des/r jeweils anderen. Ersteres erscheint gleichsam wie ein Wunschtraum der farbigen Bevölkerung Brasiliens, die im gesellschaftlichen System in der Regel die niedrigste Position einnimmt. Führende Stellungen besetzten auch nach Beendigung von Sklaverei und Monarchie die aus Europa stammenden Weißen. Die ehemaligen SklavInnen hatten seitdem nur geringe Chancen, gesellschaftlich aufzusteigen und die soziale Inferiorität zu verlassen, so z.B. durch Fußball. Auch heute, zu Beginn des 21. Jh., hat sich das Verhältnis zwischen den Nachkommen von EuropäerInnen und AfrikanerInnen weitgehend erhalten. Schenkt man dem brasilianischen Fernsehen Glauben, so bilden die Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe in der Gesellschaft eine zu vernachlässigende Minderheit. Nachrichtensprecherinnen, Programmansager, Journalistinnen und sogar die Schauspieler in Werbefilmen sind Weiße. Farbige treten kaum auf. Diese Tradition zementieren auch die in Brasilien produzierten Sendungen, wie z.B. die im Jahr 2001 ausgestrahlte Serie „Porto dos milagres“. „Die 50 wichtigsten Darsteller der telenovela sind [...] weißhäutig, nur sechs Schwarze und Mulatten tauchen in der Liste der Darsteller auf“358 – und dies, obwohl die Geschichte in Bahia angesiedelt ist, dem Bundesstaat mit dem größten Prozentsatz an farbigen Menschen. Die berufliche, gesellschaftliche und finanzielle Karriere scheint den Weißen vorbehalten zu sein. Da wundert es wenig, dass sich die Dunkelhäutigen heller wünschen und sogar als heller einschätzen. Denn je weißer man ist, desto besser die Perspektive. Dementsprechend erhofft sich der/die unterprivilegierte Farbige, indem er/sie in der Umbanda spiritistische Riten praktiziert, sich der weißen Oberschicht immerhin ein wenig anzunähern. Denn „der Kardecismus, eine Religion, die sich als Wissenschaft präsentiert und die sodann viele Anhänger in der mittleren und oberen Klasse hatte, bedeutete viel Ansehen“359. Ebenfalls dient dem Ziel des Weißer-Werdens die Integration magischer Elemente europäischer oder orientalischer 360 Herkunft wie Astrologie, Talismane oder der Davidstern . Trotz der vermeintli357 Vgl. Ortiz, R.: A morte branca, S. 30–41. Da die Terminologie eine typisch brasilianische ist und sich im Deutschen m.E. nur mit holprig konstruierten Begriffen wiedergeben lässt, behalte ich in diesem Fall die portugiesischen Ausdrücke bei. 358 Goerdeler, C.D.: KulturSchock Brasilien, 2., aktualisierte Aufl., Bielefeld 2004, S. 107 [Hervorhebung weggelassen]. 359 Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 15. 360 Eine Abbildung des Davidsterns ziert beispielsweise den Einband des Catecismo de Umbanda: contendo sob a forma de perguntas e respostas, a doutrina da Fé de Umbanda, 3. Aufl., Rio de Janeiro o.J.

Entstehung und Ausbreitung der Umbanda

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chen Vorzüge für die benachteiligten Schwarzen birgt der Prozess des Embranquecimento zugleich die Gefahr der Zersetzung afro-brasilianischer Traditionen. Wenn hingegen weiße BrasilianerInnen der Mittelschicht, die sich der Umbanda zuwenden, hier auf spiritistische Elemente stoßen, ist ihnen wegen der originären Verankerung des Spiritismus im weißen Umfeld sogleich der Weg erleichtert, sich in der neuen Religion heimisch fühlen zu können. Dies ist das Verdienst der PionierInnen der Umbanda, die die Bewegung des Empretecimento initiierten und das farbige Moment für weite Teile der Gesellschaft sichtbar machten. Allerdings betont Ortiz, es handele sich beim Empretecimento „um die Akzeptanz der sozialen schwarzen Tatsache, und nicht um die Wertschätzung der schwarzen Traditionen“361. Darauf würde auch das wählerische Vorgehen der KardecistInnen hinweisen, die sich weniger an der Korrektheit und Spezifik der afrikanischen Glaubensinhalte und Praktiken orientierten. Stattdessen folgten sie ihren Vorlieben, als sie z.B. einen Teil des afrikanischen Pantheons übernahmen, das Tieropfer hingegen ausschlossen. Andere afro-brasilianische Religionen wie Batuque und 362 Quimbanda praktizieren das rituelle Opfern von Tieren auch noch heute. Zudem substituierten die frühen UmbandistInnen die afrikanischen Ausdrücke durch portugiesische, so dass die Kultsprache für alle verständlich war. Im Gegensatz zu den mehr afrikanisch ausgerichteten, synkretistischen Religionen findet daher die Umbanda einen prozentual höheren Anklang bei BrasilianerInnen nicht-afrikanischer Abstammung. Bereits Ende der 60er Jahre war diese Tendenz sichtbar, wie Manfred Wöhlcke in seiner Untersuchung zur interethnischen Marginalität afro-brasilianischer Religionen nachweist. Die AnhängerInnen sowohl des Candomblé als auch der Macumba sind „zum allergrößten Teil Neger und dunkle Mulatten“363, auch wenn sich eine gewisse Zunahme anderer Rassen beobachten lässt. Bei der Umbanda ist diese Entwicklung deutlicher erkennbar, denn es „finden Weiße und in geringerem Maße Angehörige anderer Rassen zunehmend Zugang [und] im Moment stellen wohl Mulatten die größte Zahl der 364 Gläubigen“ , nicht die Schwarzen. Die Bewegung spiegelt sich zum einen in den Menschen wider, die bei der Umbanda Hilfe suchen und daher die Geister konsultieren. Sie frequentieren den Terreiro meist nicht regelmäßig, sondern situationsbedingt. Zum anderen gehören in steigendem Maß Weiße dem festen UmbandaPersonal an, sei es als Medien oder als KultleiterInnen. Auf eine weiße Priesterin mit blonden Haaren und blauen Augen zu treffen, ist demnach auch keine Seltenheit, wobei die Wahrscheinlichkeit im Bundesstaat Rio Grande do Sul, wo sich die deutschen ImmigrantInnen bevorzugt niederließen, höher liegt als in Bahia oder im tiefsten Amazonasgebiet. 361 Ortiz, R.: A morte branca, S. 30. 362 Die Opferung eines Ziegenbocks und zahlreicher Hühner erlebte ich bei einem Quimbanda-Fest für Exu am 30.3.2007 in Porto Alegre. 363 Wöhlcke, M.: Analyse der afro-brasilianischen Kulte, S. 89, vgl. auch S. 42. 364 Ebd., S. 71.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Allerdings lassen sich aufgrund des Umstands der relativ hohen Anzahl hellhäutiger UmbandistInnen einige wissenschaftliche Thesen, die das Entstehen und Überleben der afro-brasilianischen Kulte begründen, nicht auf die Umbanda anwenden. So haben beispielsweise Raimundo Nina Rodrigues und Roger Bastide ausschließlich die AfrikanerInnen bzw. deren Nachkommen im Blick, wenn sie die Kulte als sozialen Raum betrachten, der auf den Erinnerungen an Afrika und auf dem Kampf gegen die Sklaverei basiert (s. 4.3.1). Warum die afro-brasilianischen Religionen dann aber auch Weiße in ihren Reihen zählen, ist mit diesen Thesen nicht zu klären – umso weniger, wenn sich die Rolle der Weißen nicht auf organisatorische und finanzielle Aufgaben beschränkt, sondern sie auch zentrale Positionen und die spirituelle Leitung eines Terreiro innehaben. 4.1.3.2

Nicht nur aus der untersten Unterschicht

Gemäß ihrem Anspruch, eine Religion für alle BrasilianerInnen zu sein, will die Umbanda nicht nur Menschen aller Rassen, sondern auch aller sozialen Schichten in sich vereinigen. Auch in dieser Hinsicht beobachtete Wöhlcke einen signifikanten Unterschied der Umbanda gegenüber Candomblé und Macumba. Deren Mitglieder und InteressentInnen „stammen mit wenigen Ausnahmen aus der untersten Unterschicht“365 und leben in ungesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen. Sofern sie überhaupt einen Beruf haben bzw. ausüben, arbeiten sie als Näherinnen, Straßenverkäufer, Wäscherinnen oder Lastenträger. Demgegenüber „verteilen sich die Adepten der Umbanda jedoch auf die obere Unterschicht (Dienstmäd366 chen, Arbeiter, niedere Angestellte)“ . Obwohl also die Klientel aller afrobrasilianischen Kulte aus der brasilianischen Unterschicht stammt, befinden sich die UmbandistInnen an deren oberen Rand. Ein signifikanterer Unterschied zwischen diesen Kulten besteht allerdings darin, dass es in der Umbanda neben den sozial niedrig gestellten AnhängerInnen „auch eine relativ große Präsenz von 367 Personen aus höheren Klassen“ gibt. Jedoch ist auch hier erneut darauf hinzuweisen, dass diese Beobachtung eine allgemeine Tendenz widerspiegelt, die in den einzelnen umbandistischen Terreiros unterschiedlich realisiert sein kann. Außerdem ist auch die Lage des Terreiro zu berücksichtigen, die sich auf die Zusammensetzung der Klientel auswirkt. In armen Stadtteilen oder Favelas sind sowohl weiße als auch reiche farbige BrasilianerInnen eher selten anzutreffen. Zudem hat in den dort lokalisierten Kultstätten das Embranquecimento weniger Gewicht, so dass sie mehr afrikanisch als spiritistisch geprägt sind. In Terreiros, die hingegen in besser situierten Vierteln liegen, halten sich weiße und farbige Mitglieder meist die Waage, wenn nicht gar die Anzahl derjenigen europäischer Abstammung überwiegt. In solchen Kultstätten 365 Ebd., S. 43; vgl. auch S. 89. 366 Ebd., S. 71. 367 Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 16.

Entstehung und Ausbreitung der Umbanda

125

überrascht es dann auch nicht, wenn weniger Elemente afrikanischer Herkunft in die rituelle Feier Eingang gefunden haben. So ersetzen manche KultleiterInnen beispielsweise das Trommeln der KultmusikerInnen durch das Abspielen von CDs oder verzichten ganz auf Musik. Auch das Tanzen der Medien während der Trance gehört nicht notwendigerweise zum Ablauf einer umbandistischen Sessão dazu. Als Indikator für die finanzielle Stellung der UmbandistInnen – und zugleich des Terreiro – fungieren oftmals Anzahl und Fabrikat der Autos, die während einer Kultsitzung in der Straße parken. Die Anziehungskraft der Umbanda, mit der sie selbst in gehobenen gesellschaftlichen Schichten ihre AnhängerInnen findet, belegen zudem „umbandistische Stadtverordnete und Parlamentsmitglieder, die nicht zuletzt aufgrund ihres religiösen Hintergrunds gewählt wurden“368. Dies war der Fall bei Átila Nunes, einem Journalisten mit Jura-Abschluss aus der Mittelschicht Rios, einem Umbandisten mit politischen Ambitionen. Um seinen politischen Aufstieg zu verwirklichen, halfen ihm zahlreiche Kontakte zu Terreiros und Föderationen, die er zuvor seinerseits unterstützt hatte. Indem er 1947 das erste umbandistische Radioprogramm gründete, bot Nunes den UmbandistInnen eine neue mediale Plattform für Werbungen und Bekanntmachungen. In der Sendung ’Melodias de Terreiros‘ wurden verschiedene rituelle Lieder aus diversen Kultstätten gespielt sowie soziale und religiöse Veranstaltungen angekündigt. Aufgrund des Erfolgs weitete man das Programm von der anfänglichen 15-minütigen Sendezeit pro Woche auf 4 Stunden zweimal pro Woche im Jahr 1969. Die União Espírita de Umbanda do Brasil (UEUB), der Nunes angehörte, propagierte – sozusagen im Gegenzug – in ihrem ’Journal de Umbanda‘ seine Aktivitäten. Insofern gereichte die Kooperation beiden Parteien, die ihr je eigenes Medium betrieben, zum Vorteil: Die UmbandistInnen, allen voran die UEUB, steigerten durch Nunes’ Programm ihren Bekanntheitsgrad und ihre Mitgliederzahl. Nunes gewann durch die Zeitungsartikel ebenfalls an Bekanntheit und knüpfte persönliche Kontakte nicht nur zu UmbandistInnen in führenden Positionen in Föderation oder Terreiro, sondern auch zu den normalen Mitgliedern und SympathisantInnen. Dies wiederum nützte ihm bei 368 Flasche, R.: Art. „Umbanda“, S. 263. Allerdings gibt auch diese Begebenheit nur eine beobachtete Tendenz wieder, die der Umbanda zu Eigen ist. Sie besagt keinesfalls eine Exklusivität. Die Annahme, dass ausschließlich in den Reihen der Umbanda Politiker anzutreffen seien, wäre eine Verzerrung der Wirklichkeit. Umso verzerrter wäre die Vermutung, dass allein zur Umbanda sich PolitikerInnen und sozial Höhergestellte hingezogen fühlten. Solches widerlegt z.B. die Liste der GratulantInnen, die der Candomblé-Priesterin Mãe Menininha do Gantois ihre Aufwartung machten. Als sich am 26.2.1972 ihr Antritt als Kultleiterin des renommierten Terreiro do Gantois in Salvador zum 50. Mal jährte, erschienen zu den Feierlichkeiten neben RepräsentantInnen anderer Terreiros auch Honoratioren aus Politik und Kunst: der Schriftsteller Jorge Amado, der Fotograf Pierre Verger sowie der damalige Gouverneur, der Senator, der Präfekt von Bahia und der Konsul der USA. Hierin zeigt sich exemplarisch die Wertschätzung der afro-brasilianischen Kultur, die sich in der Person von Mãe Menininha do Gantois bündelt; vgl. Santos, J.T.d.: Menininha do Gantois: a sacralização do poder, in: Silva, V.G.d.: Caminhos da Alma. Memória afrobrasileira, São Paulo 2002, S. 133–151; speziell S. 144.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

seinen Wahlkampagnen, die er im Zuge der Bewerbungen um öffentliche Ämter betrieb. Als erster Umbandist wurde er 1958 zum Stadtrat und 1960 zum Abgeordneten des Staates Guanabara gewählt. Die religiöse umbandistische Klientel wurde für Átila Nunes zur politischen Klientel, die ihn vermutlich erst in zweiter Linie wegen seines politischen Programms wählte. In erster Linie erhielt er die Unterstützung der umbandistischen WählerInnen um seiner Religionszugehörigkeit willen. „It doesn’t matter what party he belonged to; he was an Um369 bandista.“ 4.1.4 Regionale Ausbreitung Nicht zufällig entsteht die Umbanda zu Beginn des 20. Jh. – in einer Phase des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs. Der Jahrhunderte lang währenden monarchistischen Herrschaft als Kolonie und Kaiserreich folgten die Wirren der Ersten Republik. Nach 48-jähriger Konstanz unter Kaiser Pedro II. lösten sich von 1889 bis 1930 insgesamt 13 Präsidenten im Amt ab. SklavInnen wurden durch KontraktarbeiterInnen ersetzt, die Industrie ausgeweitet und der Kapitalismus durchgesetzt. Die von der Arbeit auf den Plantagen befreiten SklavInnen suchten sodann Arbeit in den städtischen Industrien, die vorwiegend im südlichen Brasilien angesiedelt waren. Somit zog das neue politische System auch eine Wandlung der gesellschaftlichen Strukturen und die Vergrößerung der Städte nach sich, die den Entstehungshintergrund der Umbanda bildeten. 4.1.4.1

Ein städtisches Phänomen

Inwieweit Urbanisation, Industrialisierung und Umbanda zusammenhängen und korrelieren, zeigt Renato Ortiz anhand des Vergleichs verschiedener 1970 erhobener Daten auf.370 Ausgehend von der Verteilung der brasilianischen Bevölkerung (gesamt ca. 93 Mio.) auf die fünf verschiedenen Regionen lassen sich erste regionale Unterschiede konstatieren (s. Tabelle). Die Mehrheit der BrasilianerInnen lebt zu jener Zeit in städtischen Gebieten (ca. 56%), während im ländlichen Raum ’nur‘ ca. 41 Mio. Menschen wohnen. Hinzu kommt, dass einige Bundesstaaten und Regionen stärker besiedelt sind als andere. Dem großflächigen Norden mit knapp 4% steht die relativ kleine Gegend im Süden mit fast 18% der Gesamtbevölkerung gegenüber. Mit Abstand die meisten Menschen hingegen leben im Nordosten 369 Wiedergabe des Zitat eines Umbandisten, in: Brown, D.D.: Umbanda, S. 186. Hier stellt Brown zwei weitere umbandistische Politiker vor, deren Erfolg sie – ebenso wie den von Nunes – auf die gönnerhaften Beziehungen zwischen UmbandistInnen und PolitikerInnen zurückführt; ebd., S. 167–194. 370 Vgl. hierzu Ortiz, R.: A morte branca, S. 46–49. Ortiz greift hier den Ansatz von C.P.F.d. Camargo auf; vgl. Camargo, C.P.F.d.: Kardecismo e Umbanda. Insbesondere hinsichtlich der Religionszugehörigkeit können die Daten von der Realität abweichen, so dass sie nur, aber immerhin als Beleg einer Tendenz fungieren.

Entstehung und Ausbreitung der Umbanda

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(30%) und Südosten (43%). Stellt man neben diese Angaben den Energieverbrauch jeder Region, so zeichnen sich noch deutlichere Unterschiede ab. Die hinsichtlich ihrer Fläche und Besiedelung stark verschiedenen Gebiete des Nordostens und Südens halten sich bezüglich des Energieverbrauchs die Waage (je knapp über 9%). Während jedoch der Norden lediglich 1% der produzierten Energie verbraucht, konsumiert allein der Südosten fast 79%. „Wenn man weiß, dass der größte Teil dieses Verbrauchs durch die Industrie verursacht ist, kann man eine Idee der unterschiedlichen Grade der Industrialisierung der brasilianischen Regionen ha371 ben.“ D.h. dass der am meisten bevölkerte und somit urbanisierte südöstliche Raum die größte industrielle Entwicklung auf sich vereinigt. Genau hier wohnen brasilienweit die meisten UmbandistInnen. Region

Norden

% der Bevölkerung

% des Energieverbrauchs

% der umbandistischen Bevölkerung

3,86

1,02

0,12

Nordosten

30,18

9,12

5,14

Südosten

42,78

78,63

80,71

Mittelwesten

5,44

1,77

12,70

Süden

17,71

9,44

1,33

Angaben für das Jahr 1970; nach: Ortiz, R.: A morte branca, S. 47 f.

Zwar differenziert die Zählung von 1970, wenn sie nach der Verteilung verschiedener Religionen auf städtische und ländliche Gegenden fragt, nicht nach Umbanda, afro-brasilianischer Religion oder Spiritismus, sondern fasst sie vielmehr zu einer Gruppe zusammen, doch ist die sich hieraus ergebende Aussage nicht ohne Bedeutung. Der Zahl von ca. 178.000 Gläubigen dieser Gruppe auf dem Land (15%) stehen ca. 1 Mio. StädterInnen (85%) gegenüber. Dahingegen ist die Verbreitung der KatholikInnen weit ausgewogener: 45% ländlich, 55% städtisch. Was sich im urbanen Raum als dem von SpiritistInnen, CandomblistInnen etc. bevorzugten Siedlungsgebiet bereits andeutet, zeigt sich explizit im Vergleich der Verteilung der UmbandistInnen auf die fünf Regionen (s. Tabelle). Im Norden lebt nicht einmal 1% der umbandistischen BrasilianerInnen, wohingegen ca. 81% im Südosten wohnen. Die zweitgrößte Anzahl findet sich im Süden mit fast 13%. Greift man unabhängig von der Region diejenigen Bundesstaaten mit dem höchsten Anteil an UmbandistInnen heraus, so stellen Minas Gerais, Rio de Janeiro, 371 Ortiz, R.: A morte branca, S. 47.

128

Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

São Paulo (alle im Südosten) und Rio Grande do Sul (im Süden) 85% der Gesamtzahl. Gemäß diesen Daten ist die von Ortiz konstatierte Korrelation erkennbar: „Je urbanisierter und industrialisierter die Regionen sind, desto größer wird die 372 Anzahl der umbandistischen Anhänger sein.“ In weniger entwickelten Gegenden leben hingegen weniger UmbandistInnen, so dass die Datenlage der Umbanda eine Korrelation zwischen der Anzahl der AnhängerInnen und dem Phänomen der Verstädterung sowie der Industrialisierung bestätigt. Auch 30 Jahre später belegt die aktuelle Zählung diese Beobachtung. Gemäß der im Jahr 2000 durchgeführten Datenerhebung lebt die Mehrheit der UmbandistInnen in den Regionen Süden und Südosten, jedoch finden sich kaum welche im Norden. Innerhalb dieser Gegenden ist zudem deutlich eine Konzentration auf die Städte im Gegensatz zum ländlichen Raum festzustellen. 113.000 umbandistische AnhängerInnen und somit die meisten UmbandistInnen leben in Rio de Janeiro. „Es überrascht indessen der Umstand, dass Porto Alegre das zweitwichtigste Zentrum dieser religiösen Praxis ist mit mehr als 60.000 Gläubigen, und dass sich ihr Einfluss auf den Süden von Rio Grande do Sul erstreckt.“373 Erst an dritter Stelle findet sich São Paulo, die bevölkerungsreichste brasilianische Stadt, in der 41.000 UmbandistInnen wohnen. Mit ihrem Entstehen und ihrer erfolgreichen Ausbreitung in urbanem Umfeld scheint die neue synkretistische Religion den Bedürfnissen der städtischen BrasilianerInnen zu entsprechen. Angesichts des wirtschaftlichen Wandels, der eine Veränderung der sozialen Strukturen nach sich zieht, ergeben sich auch für die Religionen neue Situationen und Anfragen seitens der Menschen. Wenn jedoch eine Religion, wie z.B. der Katholizismus, statisch am Alten festhält und dadurch keine Unterstützung mehr bietet, suchen die Gläubigen neue Wege und Kulte. Von einem Besuch im Terreiro versprechen sie sich eben jene Orientierung und Antworten, die sie suchen. Dieses Bedürfnis tritt in stark industrialisierten Gegenden vermehrt auf, indem die Kultstätten hier eine große Zahl Menschen anziehen. Nach der These von Cândido P.F.d. Camargo sind es v.a. ZuwandererInnen aus den ländlichen Gebieten, die in der fremden Großstadt nach Sicherheit suchen und sie in der Umbanda zu finden hoffen.374 Sie soll das Überleben in der industrialisierten Stadt gewährleisten, worin Camargo die Anziehungskraft der Umbanda sieht (s. 4.3.2). Trotz der skizzierten Beobachtungen existiert die Umbanda aber nicht notwendigerweise und ebenso wenig ausschließlich in urbanen und industrialisierten Gegenden des Südostens. Entsprechend den Daten aus dem Jahr 2000 leben zwar ca. 214.000 UmbandistInnen – und somit die Mehrheit – in Rio de Janeiro, Porto 375 Alegre und São Paulo, doch stellen sie damit nur ca. 54% der Gesamtzahl. „In372 373 374 375

Ebd., S. 46. Jacob, C.R.: Atlas da filiação religiosa, S. 101. Vgl. Camargo, C.P.F.d.: Kardecismo e Umbanda. Die Angaben ergeben sich aus den Daten in Jacob, C.R.: Atlas da filiação religiosa, S. 101. 103.

Entstehung und Ausbreitung der Umbanda

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dem sie für die neue städtische Bevölkerung anziehend ist, breitete sich die Umbanda rasch über Brasilien aus; heutzutage ist sie auch in kleinen Städten im Lan376 desinneren präsent.“ Dementsprechend siedeln Teile der anderen 46% bzw. der übrigen ca. 182.000 umbandistischen Gläubigen sowohl in Kleinstädten, wenn nicht gar auf dem Land, als auch außerhalb des Südostens im Mittelwesten und Nordosten. Berücksichtigt man zudem die Dunkelziffer der UmbandistInnen, die ihre Zugehörigkeit in der Zählung nicht angeben, vertieft sich dieser Eindruck. Aufgrund dieser letztlich weitgefächerten Ausbreitung, die über lokale Beschränkungen hinausgeht, erscheint die Umbanda auch als bedeutsames Phänomen innerhalb der ganzen brasilianischen Kultur. 4.1.4.2

Außerhalb Brasiliens

Die geografische Expansion der Umbanda geht zudem über die nationalen Grenzen hinaus. Insofern wandelte sich die Rolle Brasiliens vom Importeur, die es über Jahrhunderte innehatte, seit den letzten Jahrzehnten zum Exporteur von Religionen. Wie nämlich die verschiedenen Denominationen mit den ImmigrantInnen und SklavInnen nach Brasilien gelangten und sich dort zu neuen vermischten, so erreichen sie in neuerer Zeit andere Länder, indem BrasilianerInnen auswandern. Jedoch erfolgt die Ausbreitung auch durch ’Missionsreisen‘, die brasilianische Medien vorzugsweise in benachbarte Staaten unternehmen. Dementsprechend weisen Uruguay und Argentinien, die im Süden angrenzen, eine besonders hohe Anzahl an Terreiros auf. Dies bestätigen die Untersuchungen, die der Anthropologe Ari Pedro Oro in Rio Grande do Sul durchgeführt und 1994 veröffentlicht hat. Hierzu stützt er sich auf die Daten der vier rio-grandensischen Föderationen afrobrasilianischer Religionen und ihrer im Ausland registrierten Terreiros. In Uruguay existieren 49 (davon 34 in Montevideo) Kultstätten, die in einer der beiden umbandistischen Föderationen beheimatet sind, und bilden damit die stärkste Gruppe afro-brasilianischer Provenienz. In Argentinien hingegen sind nur 47 Umbanda-Terreiros registriert (davon 37 in Buenos Aires), während die anderen exportierten afro-brasilianischen Religionen zahlenmäßig überwiegen. Betrachtet man diesen Export im Allgemeinen, finden sich in Uruguay 91 (davon 70 in Montevideo) und Argentinien 313 (davon 253 in Buenos Aires) afro-brasilianische Kultstätten.377 Nur wenige Jahre später (im Jahr 2000) konstatiert Oro das Dreifa376 Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 18. 377 Vgl. Oro, A.P.: Difusão das religiões brasileiras, S. 59 f. Es ist allerdings zu beachten, dass nicht alle existierenden Terreiros tatsächlich in Föderationen eingegliedert sind, sondern auch durchaus eingeständig und unabhängig arbeiten. Dies gilt zum einen für Rio Grande do Sul, wo ca. 15.000 Mitglieder zu den vier Föderationen afro-brasilianischer Religionen (dieses sind: União de Umbanda do Rio Grande do Sul, Congregação Espiritualista de Umbanda do Rio Grande do Sul, Afro-Bras und Afro-Rito) zählen, während sich die Gesamtzahl der rio-grandensischen Terreiros auf ca. 80.000 beläuft (vgl. ebd., S. 57). Zum anderen trifft diese die Daten betreffende Unschärfe auch auf die urugayanischen und argentinischen Terreiros zu.

130

Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

che dieser Angaben, wenn er für Uruguay die Existenz von ca. 300 und für Argen378 tinien von ca. 1000 Terreiros anführt. Die hohe Zahl von Gründungen ist jedoch nicht allein auf missionierende BrasilianerInnen zurückzuführen, denn eine Vielzahl der argentinischen Terreiros wurde von uruguayischen Medien initiiert. In andere südamerikanische Länder sind die afro-brasilianischen Kulte zwar weniger weit vorgedrungen, jedoch ebenfalls deutlich sichtbar wie z.B. in Bolivien, Chile, Peru, Paraguay und Venezuela. Zudem fanden sie Eingang in Nordamerika und Europa. Hierzu gehören sieben Kultstätten in Spanien (v.a. in Madrid, Barcelona und auf Teneriffa), zwei in Portugal, eine in Holland, eine in Italien und eine in den USA. Darüber hinaus ist eine große Präsenz nicht registrierter Terreiros in anderen Ländern (z.B. Kanada) und mehreren Städten oder Orten festzustellen. Allein in Portugal sollen ca. 100 Zentren von Umbanda und Candomblé bestehen379 und auch in Deutschland existieren einzelne Terreiros, wie die umbandistische Casa de Oxum in Berlin. „In der Mehrheit sind die Leiter der Terreiros in 380 diesen Ländern Brasilianer oder Latein-Amerikaner.“ Doch nicht nur als KultleiterInnen, sondern auch beschränkt auf ihre mediumistische Funktion agieren sie in jenen Ländern als BeraterInnen oder WahrsagerInnen (so z.B. argentinische Medien in den USA). Trotz dieser weiten Ausbreitung, die immerhin drei Kontinente erfasst, sind die afro-brasilianischen Religionen weder die einzigen von Brasilien exportierten noch die erfolgreichsten. Diese Stellung gebührt nämlich den Pfingstkirchen, die auch auf brasilianischem Boden gegründet wurden, sich aber in der kurzen Zeit ihres Bestehens auf bereits fünf Kontinente erstrecken. Als international überaus erfolgreich sind v.a. die beiden neopentekostalen Kirchen: die Igreja Pentecostal Deus é Amor (gegründet 1962 in São Paulo) und die Igreja Universal do Reino de Deus (gegründet 1977 in Rio de Janeiro). Ihnen gehören Gemeinden in fast allen amerikanischen Ländern an sowie in Europa, Afrika und Asien. Allein die Igreja Universal do Reino de Deus (s. 5.3) ist in über 80 Ländern vertreten, u.a. mit Niederlassungen in Deutschland wie in Berlin, Frankfurt am Main und München. 4.1.5 Das Problem der Vielfalt Die Eröffnung eines Terreiro ist jedem/r umbandistischen PriesterIn möglich. Um zur Priesterschaft zu gelangen, ist üblicherweise zuvor die Laufbahn als Medium in einem Terreiro zu absolvieren (s. 5.1.5). In einer strengen Hierarchie untersteht das Medium (Filho/a-de-santo) seinem/r KultleiterIn (Pai-/Mãe-de-santo) und wird 378 Vgl. Oro, A.P.: Religiões brasileiras transnacionais, in: Cipriani, R. / Eleta, P. / Nesti, A. (org.): Identidade e mudança na religiosidade latino-americana, Petrópolis 2000, S. 277–290, hier S. 281. Angaben, die die einzelnen afro-brasilianischen Religionen differenzieren, unterbleiben leider. 379 Vgl. Hugarte, R.P.: Los espiritus pertinaces, Montevideo 1991, S. 75. 380 Oro, A.P.: Religiões brasileiras transnacionais, S. 281.

Entstehung und Ausbreitung der Umbanda

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von ihm/r ausgebildet. Am Ende dieser Ausbildung kann das zum Priester aufgestiegene Medium nun einen eigenen und völlig autonomen Terreiro gründen und als Kultleiter nun selbst Medien schulen. Zudem liegt es einzig bei ihm, ob die Tradition, deren Teil es bis dahin war, in Kontinuität fortgesetzt, oder ob eine Verschiebung der Schwerpunkte vorgenommen werden soll. Letzteres könnte auch zur Übernahme neuer religiöser Elemente und zu neuen Vermischungen führen. Wie auch immer sie gestaltet wird, die Neugründung ist eine Abspaltung vom Bestehenden, die sich mit jedem ausgebildeten Medium ereignen kann. Und jede neue Aufnahme von Medien in einen Terreiro kann die sukzessive Auffächerung in weitere Filial-Terreiros nach sich ziehen. Auf diese Weise entstehen unzählige, vornehmlich kleine, aber unabhängige Kultstätten. Als höhere Autoritäten mögen über den KultleiterInnen höchstens ihre ehemaligen Pais-/Mães-de-santo stehen. Allerdings kann die Gründung eines eigenen Terreiro auch von UmbandistInnen durchgeführt werden, die nicht zuvor als Medium tätig waren. Da sie aber somit weder eine Reputation vorweisen noch sich auf eine Autorität berufen können, wird eine solche Neueröffnung nicht gern von anderen KultleiterInnen gesehen. Durch die Vielheit der unabhängigen KultleiterInnen wird zudem eine Vielfalt der umbandistischen Lehre provoziert. Selbst zwei Pais-/Mães-de-santo, die aus demselben Terreiro hervorgegangen sind, können in der Ausprägung ihrer je eigenen Kultstätte stark voneinander abweichen. Der religiöse und kulturelle Hintergrund eines/r jeden LeiterIn wirkt sich auf seine/ihre Lehre aus, was die Verschiedenheit zwischen den Terreiros vermehrt und vertieft. Neue Lieder oder Geistergruppen, eine stärkere spiritistische Ausrichtung oder mehr katholische Riten sind nur Beispiele für die Individualität, die einen Terreiro gegenüber anderen unterscheidet. Dieser Variantenreichtum kann so weit führen, dass sich UmbandistInnen zwar gegenseitig als solche erachten, in elementaren Angelegenheiten wie Glaubensfragen, Liturgie und Ritus aber differieren. Während Vielgestaltigkeit, sofern sie in einem normierenden Rahmen geschieht, durchaus Gewinn bringend ist, verwässert sie jedoch die Umbanda durch ungezügelte Neubildungen. Dieser Gefahr sowie der Heterogenität sollte der Zusammenschluss zu einer übergeordneten Organisation entgegenwirken. Daher kam man 1941 auf dem ’Primeiro Congresso Brasileiro de Espiritismo de Umbanda‘ zusammen „in der Absicht, das Ritual zu vereinheitlichen und die Dogmatik zu systematisieren“381. Hierzu war die Einsetzung eines übergeordneten Entscheidungsorgans erforderlich, das über den Einzelaktivitäten und Sonderlehren der unzähligen Terreiros stehen sollte. Ein weiteres, mehr politisches Ziel stellte das Auftreten als geschlossener Verband gegenüber dem Staat und seinen Repressionen gegen die afrobrasilianischen Religionen dar. Insofern beabsichtigte die Föderation als Mediatorin zwischen Terreiros und Staat zu agieren. Zudem bot sie ersteren einen gewissen Schutz gegen letzteren. „An eine Föderation angeschlossen zu sein bedeutete 381 Bastide, R.: Les religions africaines, S. 444.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

und bedeutet noch für die Terreiros eine Garantie gegen die polizeilichen Überfäl382 le.“ Allerdings verfolgten diese Ziele nicht nur eine, sondern mehrere Organisationen, die sich bereits bis 1950 gebildet hatten. Anstatt aber die angestrebte Einheit und Zentralisation zu erreichen, bewirkten sie eine weitere Zerstreuung und Trennung. Auch ein Zusammenschluss der Föderationen scheiterte, so dass sie auch weiterhin konkurrierend statt gemeinschaftlich handeln. Das Ziel, einheitliche und übergreifende Lehrsätze und -inhalte verbindlich zu verabschieden, misslang den zahlreichen Vereinigungen. Denn eine übergeordnete religiöse Hierarchie beschneidet notwendigerweise die religiöse Autonomie eines/r jeden KultleiterIn. In organisatorischer Hinsicht jedoch werden die Föderationen, die auf nationaler Ebene (z.B. Confederação Espírita Umbandista) sowie auf bundesstaatlicher Ebene (z.B. Liga Umbandista de São Jerônimo do Estado de São Paulo) bestehen, eher akzeptiert und ihre Hilfe in Anspruch genommen. Sie versorgen die KultleiterInnen „mit Unterstützung anlässlich der legalen Registrierung, mit Anwälten und mit bürokratischem Beistand im Fall von Repression oder Zuwiderhandlung gegen die Freiheit der Religionsausübung“383. Zudem bieten die Vereinigungen Fortbildungskurse über Lehre und Kult an, übernehmen die Organisation von religiösen Veranstaltungen wie Feiern und Prozessionen sowie von Festivals. Solche dienen nicht nur der Anwerbung neuer Mitglieder (seien es einzelne UmbandistInnen oder ganze Terreiros), sondern auch dem Austausch untereinander. Auf solchen Zusammenkünften sehen und hören die UmbandistInnen des einen Terreiro die Riten und Lieder, die Praktiken und Gebete des anderen. Individuelle Handlungen können somit weitergegeben und aufgenommen werden, was wiederum die Kommunikation fördert und verbreitet. Auf diese Weise bewirkt dieser Austausch eine gewisse Angleichung und Homogenisierung der Kulte. Die Föderationen besitzen demnach doch die z.T. nur unterschwellig wahrgenommene Möglichkeit, die Vereinheitlichung der in ihnen zusammengeschlossenen Terreiros voranzutreiben. Gleiches beabsichtigen auch andere Institutionen und Medien auf ihre je eigene Weise. Die umbandistische Literatur strebt danach, die bisher mündlich weitergegebenen Traditionen schriftlich zu fixieren und zu standardisieren. Hierzu beschreibt sie einerseits die praktische Gestaltung des kultischen Lebens, so z.B. in Gebetsbüchern und Zusammenstellungen von Liedern, und andererseits die Lehre der Umbanda. Solche Darlegungen richten sich an den umbandistischen „Irmão de Fé“384, den ’Glaubensbruder‘ und den/die potenzielle/n KultleiterIn, um ihm/r die Religion zu erklären und Handlungsanleitungen zu geben. Ein weiteres Ansinnen besteht darin, die „synkretistische Neureligion für möglichst weite Kreise 385 akzeptabel“ zu machen. Hier kommen die eventuellen Neumitglieder und auch 382 383 384 385

Birman, P.: O que é Umbanda, S. 100. Brown, D.D.: Uma história da Umbanda no Rio, S. 21 f. Rivas Neto, F.: Lições basicas, S. 33. Fischer, U.: Zur Liturgie, S. 2.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

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wissbegierigen Nicht-UmbandistInnen als AdressatInnen in den Blick. All diese Aspekte dienen zugleich dem übergeordneten Ziel, „unsere Terreiros zu verein386 heitlichen“ . Allerdings erschwert die hohe Zahl der Veröffentlichungen von unterschiedlichen umbandistischen Lehrbüchern, die die Vereinheitlichung entspre387 chend ihren je eigenen Normen herbeiführen wollen, dieses Unterfangen. Um die Kompetenz des/r AutorIn zu belegen und seine/ihre Lehre zu legitimieren, werden an den Anfang seiner/ihrer Schrift nicht nur lobende Vorworte gestellt, sondern auch Bescheinigungen der Autorisation durch den/die renommierte/n (ehemalige/n) KultleiterIn. Zeitungen, Radiosendungen und Fernsehprogramme verfolgen die gleichen Absichten, indem sie der Umbanda eine Informationsplattform einrichten. Darüber hinaus fördern sie den gegenseitigen Austausch und ermöglichen die Annäherung in Punkten der praktischen Gestaltung wie der theoretischen Inhalte. Eine weitere Maßnahme, die die Einheitlichkeit vorantreiben und die Qualität der Umbanda gewährleisten soll, ist die Einführung von Diplomen, die auf speziellen Schulen wie z.B. der ’Initiationshochschule der Umbanda von Brasilien‘ von künftigen KultleiterInnen erworben werden sollen. Da dies zudem die Alphabetisierung und Lesekompetenz der umbandistischen PriesterInnen erfordert, knüpft sich an die Verschriftlichung der Lehren ein erzieherischer und bildungspolitischer Ertrag. Gleichzeitig rückt jedoch das vornehmlich mit der Mündlichkeit einhergehende Charisma der Autoritätspersonen in den Hintergrund und somit eine wichtige Gemeinsamkeit mit den afrikanischen Religionen. Stattdessen nähern sich die einzelnen, vormals lediglich in Föderationen verbundenen Terreiros nun in Liturgie und Kultpraxis aneinander an. Der äußeren Angleichung folgt somit eine innere, aber wiederum von außen regulierte. Zwar wird der Gebrauch von Agenden und Handbüchern nahe gelegt, doch nicht verbindlich vorgeschrieben. Insofern existiert weiterhin ein gewisser Spielraum für die individuelle Gestaltung und Auslegung umbandistischer Traditionen, nicht zuletzt aufgrund der verfochtenen Eigenständigkeit zahlreicher KultleiterInnen.

4.2 Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda Wie bereits mehrfach angeführt, stellt die neue brasilianische Religion eine Mischung aus verschiedenen Religionen dar, deren Inhalte und Bestandteile in unterschiedlichem Grad Eingang in die Umbanda fanden. Zudem variiert die Gewich386 Rivas Neto, F.: Lições basicas, S. 41. 387 Die 1970 getroffene Feststellung von Ulrich Fischer, dass man „heute eine gewisse Konzentrierung des schon viele tausend Bände umfassenden Schrifttums beobachten“ (Fischer, U.: Zur Liturgie, S. 2) könne, halte ich in sich für widersprüchlich. Wie kann eine solche Menge von Literatur, die von UmbandistInnen verschiedener, autonomer Terreiros und verschiedener, konkurrierender Föderationen verfasst wurde (und zweifelsohne noch wird), eine einheitliche Lehre wahren? Wird auf diese Weise nicht eher der Diversifizierung Vorschub geleistet?

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

tung eben jener übernommenen Elemente zwischen den einzelnen umbandistischen Terreiros und den Vereinigungen. Da zudem mehrere Föderationen nebeneinander stehen und keinen übergeordneten Dachverband gebildet haben, sind weder in organisatorischer noch in lehrmäßiger Hinsicht die Einheit oder die Einheitlichkeit der Umbanda zu erkennen. Dies wird durch den Mangel an ur388 sprünglichen oder heiligen Schriften zumal angesichts der Vielfalt der mündlichen Tradierung noch verstärkt. Dank der mündlichen Weitergabe von heiligen Texten gelangten die Mythen der afrikanischen Gottheiten und die Legenden der katholischen Heiligen nach Brasilien. Auf die gleiche Weise erhielt man auch das Andenken der indianischen und eigenen AhnInnen. Erst im Zuge des Strebens nach Vereinheitlichung wurden die mündlichen Überlieferungen schriftlich festgehalten, jedoch wiederum von mehreren AutorInnen, die – wenn überhaupt – unterschiedlichen Föderationen angehörten. Eine allgemeine und übergreifende Autorisation bzw. Normierung der Zusammenstellungen erfolgte nicht. Insofern setzt sich die Diversität in ihrer weitgehenden Unverbindlichkeit sowie die Gefahr der redaktionellen Veränderung, die bereits den mündlichen Quellen zu Eigen ist, auf verschriftlichter Ebene fort. Die für die Religionswissenschaft ergiebigen Quellen begrenzen sich jedoch nicht auf die bisher genannten, sondern erstrecken sich auch auf den averbalen Bereich. Dieser steht bei den umbandistischen Sitzungen im Vordergrund, während Lesen oder Sprechen einen geringen Stellenwert einnehmen, der zudem nicht zum eigentlichen Ablauf einer Sessão gehört, sondern ihr lediglich vorgeschaltet ist. Nur die gesungenen Lieder (pontos cantados), die die Inkorporation eines Geistes vorbereiten, geben tradierte Texte wieder. Ansonsten erfolgt die Musik ebenso häufig rein instrumental, da es z.B. für jeden Orixá eigene Melodien und Rhythmen gibt. In gleicher Weise tradieren kultische Gegenstände, Kleidungen und Zeichnungen (pontos riscados) religiöse Botschaften. Allerdings werden auch sie in unterschiedlich geprägten Terreiros unterschiedlich oft eingesetzt. Ein Kanon verbindlicher Glaubensinhalte der Umbanda besteht demnach ebenso wenig wie eine einheitliche Organisation. Schlösse eine Vereinigung einen zugehörigen Terreiro wegen falscher Lehren aus, so bestünde dieser eigenständig – wie viele andere auch – weiter. Letztlich verkörpert der einzelne Terreiro eine autonome Größe, der der/die eigene KultleiterIn als höchste Autorität vorsteht. Solche Unabhängigkeit macht es jedoch schwierig, die Identität der Umbanda zu wahren bzw. Häresien auszuschließen. Obwohl man zwar streng genommen nicht von der Umbanda sprechen kann, lässt sich doch eine gewisse Einheitlichkeit in 388 Gemäß der Unterteilung der heiligen Schriften in verschiedene Grade ist der Umbanda die Ermangelung von ’Heiligen Schriften ersten und zweiten Grades‘ wie beispielsweise im Judentum Tora und Midrasch nicht abzusprechen. Werden jedoch Gebete oder Heiligenlegenden als ’Heilige Schriften dritten Grades‘ eingestuft, so verfügt auch die Umbanda über heilige Schriften. Allerdings ist fraglich, ob hier nicht besser allgemeiner von ’religiösen Texten‘ gesprochen werden sollte (vgl. Hock, K.: Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 2002, S. 31 f.).

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ihren Grundsätzen konstatieren, die in diesem Kapitel skizziert werden. Sie gewährleisten ein Mindestmaß an Kontinuität und Übereinstimmung der zahlreichen Terreiros trotz ihrer Vielfalt und unterschiedlichen Prägungen. Der Ausschluss von häretischen Strömungen ist m.E. allerdings nicht zu vollziehen, solange es keine übergeordnete bindende Instanz gibt, die die völlige Eigenständigkeit der KultleiterInnen übertrifft, und solange es keine Kriterien gibt, die notwendigerweise mit der Titulierung ’Umbanda‘ verbunden sein müssen. Hierzu wäre ein Kanon von heiligen Schriften ein hilfreiches, wenn auch nicht erschöpfendes Instrumentarium. Im Folgenden wird sich dem Heiligen in der Umbanda von Seiten seiner wesenhaften Ausprägung sowie seiner tätigen Wirkweise genähert. Im umbandistischen Kosmos ist die Menge der ’ganz anderen‘ Wesenheiten versammelt, die bei dem/r Gläubigen Gefühle des Schreckens und der Faszination hervorrufen. Diese Menge setzt sich aus einer großen Vielzahl und bunten Vielfalt von transzendenten Wesen zusammen. Sie sind durch individuelle Charakteristika voneinander unterscheidbar, durch qualitative Stereotypen in ein hierarchisches System eingegliedert und durch Handelsbeziehungen mit den UmbandistInnen verbunden. Es soll diesen Aspekten nachgegangen werden, um ein Bild von den Glaubensinhalten und Praktiken wiederzugeben, ohne die die Manifestation des Heiligen in der Umbanda nicht verstehbar wäre. 4.2.1 Der umbandistische Kosmos Um die Wesen zu benennen, die den umbandistischen Kosmos bevölkern, werden oftmals Bezeichnungen wie ’Geister‘, ’Wesenheiten‘, ’Gottheiten‘, ’höhere oder übernatürliche Seinsweisen‘ verwendet.389 Zudem dienen diese Begriffe der Klassifizierung, und eine undeutliche Abgrenzung oder gar der synonyme Gebrauch der 389 Das Problem der Vielzahl ist nicht nur den Bezeichnungen der Wesen, sondern auch ihrer Schreibung zu Eigen. Vor allem bei Eigennamen treten mehrere Varianten nebeneinander, so z.B. bei dem Geist der Jagd und des Waldes. Sein Name wird zwar immer gleich ausgesprochen, kann aber unterschiedlich geschrieben werden: Oxóssi, Oxossi, Oxosse. Diese Uneinheitlichkeit ist der Mündlichkeit der Umbanda und der afrikanischen Traditionen geschuldet. Allerdings kennen auch solche Religionen, die sich auf eine heilige Schrift stützen, die variantenreiche Schreibung eines Namens, wie z.B. Hiob. Solches tritt vermehrt bei Übersetzungen auf, wenn auch die Eigennamen den orthografischen Regeln der jeweiligen Sprache angepasst werden. Dies wirkt sich bei der portugiesischsprachigen Umbanda z.B. dahingehend aus, dass sie den Laut / / im Anlaut und intervokalisch mit /x/ wiedergibt: Shangô > Xangô; Orishá > Orixá. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass auch die Schreibung der afrikanischen Begriffe nach phonetischem Prinzip erfolgt, und somit nur eine von mehreren Varianten darstellt. Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten beschränke ich mich in diesem Abschnitt auf die Verwendung von nur einer Schreibung pro Bezeichnung oder Namen. Dementsprechend verzichte ich hier darauf, die afrikanische Göttin Yansan von dem umbandistischen Geist Iansã hinsichtlich der grafischen Umsetzung ihres Eigennamens zu unterscheiden. Insofern verwende ich für die afrikanischen Begriffe nur die in der Umbanda übliche Schreibung und setze voraus, dass es dem/der LeserIn gelingt, sie mit den Versionen des Abschnitts 4.1.1 zu identifizieren.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Bezeichnungen steigert unweigerlich die Verwirrung angesichts der Vielfalt jener Wesen. Des Weiteren zieht die Absicht, von ihrer Gesamtheit zu sprechen, häufig den Begriff ’Pantheon‘ nach sich. Es ist jedoch fraglich, ob es sich hier wirklich um einen Pantheon im strengen Sinne handelt, d.h. ob diese Wesen bzw. wenigstens mehrere von ihnen Gottheiten sind. Dies zu entscheiden hängt m.E. ausschließlich von der Bewertung der Orixás ab. Wie diffizil und variantenreich deren Einschätzung ist, beobachtet Horst H. Figge im Zuge seiner Feldforschungen und konstatiert: In der Umbanda besteht keinerlei Einigkeit darüber, wer und was ein Orixá ist, obwohl die Geister dieser Kategorie in allen Kultstätten als die höchsten inkorporierbaren Wesen verehrt werden und wohl nicht zu Unrecht als Gottheiten bezeichnet werden können.390

Diese Unklarheiten werden mit zunehmender Beschäftigung mit den Postulaten und Erläuterungen von UmbandistInnen und WissenschaftlerInnen noch gesteigert, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen. In seiner Darlegung „Deuses da África e do Brasil“ eröffnet Jr. Sangirardi einen 391 tiefen Einblick in die Welt der „Götter, die von Afrika gekommen sind“ und Eingang fanden in Candomblé und Umbanda. Dementsprechend stellt er 14 Gottheiten vor, deren Titulierungen (das Göttliche implizierend) variieren: Iansã als Göttin der Winde und der Stürme, Iemanjá als Königin des Meeres, Ossaim als Herr des Laubes, Oxalá als der Größte von allen Orixás oder Oxóssi als Numen der Jagd. Aufgrund ihrer Vielzahl und Göttlichkeit ist demnach durchaus von einem ’expliziten Polytheismus‘ und einem umbandistischen ’Pantheon der O392 rixás‘ zu sprechen. Die Bezeichnung als ’Orixá‘ ist jedoch nicht immer allein den aus Afrika importierten Gottheiten vorbehalten. Auch Wesen wie die Geister von Indios, Kindern oder alten SklavInnen, die in mindestens ebenso fundamentaler Weise zum religiösen Kosmos gehören, werden des Öfteren zu den Orixás gezählt. So z.B. von Fernando G. Brumana und Elda G. Martínez in ihrem Werk „Marginália Sagrada“. Hierin greifen sie Beobachtungen ihrer Feldforschung auf, derzufolge es verschiedene Typen von Orixás gibt, die einander über- bzw. untergeordnet sind. Der inflationären Ausweitung des Begriffs ’Orixá‘ wirken sie mit der Differenzierung als ’santidades‘ (’Heiligkeiten‘) und ’entidades‘ (’Wesenheiten‘)393 entgegen. Beiden 390 Figge, H.H.: Geisterkult, S. 37. 391 Sangirardi Jr.: Deuses da África e do Brasil. Candomblé e Umbanda, Rio de Janeiro 1988, S. 19; sowie S. 131. 149. 99. 181. 93. 392 Vgl. Pierucci, A.F.: As religiões no Brasil, S. 293. 300. 393 Vgl. Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 249–252. Die beschränkte Verwendung des Begriffes ’Wesenheit‘ halte ich für zu engführend, da dieser Ausdruck zu allgemein und zu wenig spezifisch ist. Eine gewisse begriffliche Unschärfe bzw. geringe Differenzierung weisen leider auch die Standardwerke von Patrícia Birman „O que é Umbanda“ und Renato Ortiz „A morte branca do feiticeiro negro“ auf.

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Gruppierungen schreiben Brumana/Martínez das Prädikat der Sakralität (nicht der Göttlichkeit!) zu, wenn auch in unterschiedlichem Grad, und beide bilden zusammen den Pantheon der Umbanda. Aus diesem schließen sie aber sowohl Gott (!) als auch die Geister der Verstorbenen aus. Gegenüber dem von Sangirardi formulierten Pantheon erfuhr der von Brumana/Martínez konstatierte einen enormen numerischen Zuwachs. In jener Generalisierung verwendet auch der Umbandist Francisco Xavier da Silva in „Saravá Umbanda“ die Bezeichnung ’Orixá‘. Seiner Konzeption nach „ist als Orixá angesehen jede und jedwede Wesenheit der höheren Sternenwelt“394, also z.B. die heiligen MärtyrerInnen der katholischen Kirche als höhere und die Pretos/as Velhos/as als niedrigere Orixás. Die so genannten ’Geister des Lichts‘, die dem karmischen Gesetz unterworfen und im materiellen Körper inkarniert waren, können ebenfalls zu Orixás werden. Nicht zu den Orixás zu rechnen sind nach Silva hingegen Gott als der oberste Leiter der Umbanda, sein Sohn Jesus Christus, dessen Mutter Maria, die Engel, Erzengel und die Serafim. Trotz der Vielfalt treten in dieser umbandistischen Kosmologie keine Gottheiten auf, sondern nur ein (trinitarisch gedachter; s.u.) Gott. Indem die Umbanda als Monotheismus auftritt, widerspricht sie dem Bestehen eines Pantheons überhaupt. Auch Cavalcanti Bandeira, ebenfalls Umbandist, geht von der Existenz eines einzigen, allmächtigen Gottes395 aus, dem die Orixás untergeordnet sind. Solches betont auch Figge, indem er klarstellt, dass „eine Mehrzahl von Gott (Deus) [...] 396 völlig undenkbar“ ist. Die Bezeichnung der vielen Orixás als ’Gottheiten‘ (port. ’deidades‘) hingegen sei – nach eingangs zitierter Formulierung – nicht unrechtmäßig. Trotz ihrer Pluralität liege hierin weder ein Pantheon noch Polytheismus vor. Weitere Ausführungen, die das Verhältnis zwischen Deidades/Gottheiten und Deus/Gott näher bestimmen würden, unterbleiben leider. Ähnlich vage drückt sich Renato Ortiz aus, der vom „‚Abstieg‘ der afrikanischen Götter [deuses]“ spricht und dass das Medium „durch die Gottheit [divin397 dade] ergriffen“ wird. Dies verwirrt umso mehr, wenn man bedenkt, dass nicht der oberste Gott sich inkorporiert, sondern die ihm unterstellten Orixás, Caboclos/as und Pretos/as Velhos/as. Andernorts erklärt Ortiz die Orixás explizit als 398 „Geister, die das Universum verwalten“ . Dies spielt auf ihre Degradierung an, die sie während ihrer Übersiedelung von Afrika nach Brasilien von Gottheiten zu Geistern erlitten. Hierin wirkt sich die spiritistische Tradition aus, die den Kon394 Silva, F.X.d.: Saravá Umbanda, Rio de Janeiro 1965, S. 41; vgl. im Folgenden S. 43 ff. 395 Vgl. Bandeira, A.C.: O que é a Umbanda. Ensaio histórico doutrinário, Rio de Janeiro 1971, S. 99. 396 Figge, H.H.: Geisterkult, S. 31. 397 Ortiz, R.: A morte branca, S. 63. Der Begriff ’Abstieg‘, den Ortiz im Text selbst hervorhebt, bezeichnet die Inkorporation eines Geistes im menschlichen Medium. Die Geister begeben sich demnach von ihrer oberhalb anzusiedelnden Welt zu der Welt des Menschen und des Physischen herab. 398 Ebd., S. 72.

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takt des Mediums nur zu verstorbenen Geistern, nicht aber zu Gottheiten kennt. Insofern sind die Orixás in der Umbanda auf einer Ebene zwischen dem höchsten Gott und den Verstorbenen anzusiedeln. Auf genau dieser Ebene bewegen sich zum einen die ehemaligen Gottheiten sowie zum anderen die Caboclos/as, Pretos/as Velhos/as, Crianças und Exus/Pomba Giras – wenn auch nicht gleichwertig. Eine Differenzierung dieser beiden Gruppierungen erfolgt in allen Entwürfen, wenn auch mithilfe unterschiedlicher Terminologie: Sei es, dass sie alle als (höhere oder niedrigere) Orixás angesehen werden oder dass nur den aus Afrika importierten Wesen, die dort göttlich waren, diese Titulierung zukommt. Die anderen firmieren lediglich als namentlich nicht weiter klassifizierte Geister. Mit letztlich nur einem Gott kann demnach von einem umbandistischen Pantheon keine Rede sein. Die übrigen Wesen lassen sich vielmehr unter dem Begriff ’Geister‘ zusammenfassen. Um diese Espíritos zu klassifizieren, bestehen zahlreiche Möglichkeiten, sei es nach Anzahl, Herkunft, ob die Geister tatsächlich lebten oder welchen Entwicklungsgrad sie innehaben. In der nachfolgenden Darstellung werde ich diese Kriterien aufnehmen und ineinanderfügen. Hinsichtlich der Reihenfolge orientiere ich mich an der durch die Entwicklungsstufen gegebenen Hierarchie, weshalb ich zuerst den Gott und zuletzt die Geister der Verstorbenen thematisieren werde. Dazwischenliegend stelle ich einige derjenigen Geister vor, die als Gottheiten von Afrika nach Brasilien kamen. Ihnen behalte ich die Bezeichnung ’Orixá‘ vor. Daran füge ich die Charakterisierung der weithin lediglich als ’Geister‘, aber unter keiner namentlich benannten Kategorie laufenden Wesen an. Um diese begriffliche Lücke zu schließen, fasse ich die Caboclos/as, Pretos/as Velhos/as etc. unter dem Oberbegriff der ’typologisierten Geister‘ zusammen. Dadurch soll ihre Zusammengehörigkeit trotz bestehender Unterschiede und ihre Abgrenzung gegenüber den anderen Geistergruppen in den Vordergrund gestellt und das System des umbandistischen Kosmos verdeutlicht werden. 4.2.1.1

Olorum, Tupã, Zambi – der höchste Gott

Die Bezeichnung Gottes als „Deus supremo“399 verdeutlicht seine Vorrangstellung gegenüber den unzähligen in der Umbanda verehrten Geistern sowie seinen Platz an der Spitze der Hierarchie. Ihn ’Gott‘ zu nennen, resultierte aus der Machtposition der katholischen Kirche im kolonialisierten Vielvölkerstaat Brasilien. Gegenüber dem von den ChristInnen verwendeten Gattungsbegriff traten die von AfrikanerInnen und Indios tradierten Eigennamen ihres Gottes zurück, blieben jedoch – ebenso wie der Begriffsinhalt – erhalten. Dadurch wird der höchste Gott auch heute noch in den Terreiros je nach Ausprägung verschieden benannt: ’Olorum‘ (aus Nigeria), ’Tupã‘ (von den Tupinambá-Indios) oder ’Zambi‘ (aus Angola und dem Kongo). 399 Oxumarê, S.d. / Oxossi, R.d.: O homem, os espíritos e o espiritismo, S. 53.

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Dieser höchste Gott schuf die Welt und alle Dinge. Er gilt als Schöpfer und „Quelle von allem, was unsere Sinne wahrnehmen können, und auch vom Kos400 mos“ . Nach Vollendung des Schöpfungswerks zog sich Gott allerdings zurück und entfernte sich von seinen Geschöpfen, anstatt in ihre Geschicke einzugreifen (Deus otiosus). Diese Aufgabe fiel den ebenfalls von ihm geschaffenen und ihm untergeordneten Orixás zu. In dieser Konzeption spiegeln sich afrikanische Glaubensvorstellungen wider, die ihrerseits einen entfernten Schöpfer und das Wirken ihm unterstellter Wesen (die in Afrika allerdings als Gottheiten erachtet wurden) kannten. Trotz seiner Zurückgezogenheit wird der Gott der Umbanda nicht vergessen, sondern in das kultische Geschehen eingebunden – wenn auch in peripherer Rolle. Ihm gelten häufig die Eröffnungs- und Abschlussgebete einer Kultsitzung, und auch das gesprochene Vaterunser in umbandistischer Fassung ist an ihn gerichtet. Allerdings erfährt dieses genuin christliche Gebet unter umbandistischer Perspektive eine gewisse Modifizierung, ohne dass diese jedoch zu einer Norm würde. Jede/r UmbandistIn kann das Vaterunser als Vorlage benutzen und es individuell neu formulieren. Dementsprechend existieren viele Varianten nebeneinander, ohne dass es zu einer Standardisierung käme. Als ein mögliches Beispiel wird nachfolgend die Version der KultleiterIn Tala dem biblischen Text gegenübergestellt, um zu veranschaulichen, welche Passagen in welcher Weise umbandistisch abgewandelt werden können.401

400 Saraceni, R.: Umbanda, S. 57. 401 Tala ist Priesterin und Kultleiterin des Templo Universal das Paz Pai Francisco de Luanda Tala in Porto Alegre. Am Eingang zu ihrem Gelände, auf dem sich zahlreiche Tempel befinden, hängt das von ihr formulierte Gebet. Die Übersetzung stammt von mir. Der brasilianische Bibeltext ist der Homepage der IECLB entnommen; vgl. http://www.luteranos.com.br/biblia/portugues/mateus_6.html.

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Vergleich des Vaterunsers in umbandistischer und christlicher Version Version von Tala

Übersetzung der Version von Tala

Mt 6, 9–13

Pai nosso que está no céu,

Vater unser, der im Himmel ist,

Pai nosso que estás nos céus,

santificado seja o vosso santo nome;

geheiligt sei Euer heiliger Name;

santificado seja o teu nome;

venha a nós o vosso reino do bem,

Euer Reich des Guten komme zu uns,

venha o teu reino,

seja feita a vossa vontade,

Euer Wille geschehe,

seja feita a tua vontade,

assim na terra como no espaço e em todos os mundos habitados;

so auf der Erde wie im Raum und in allen bewohnten Welten;

assim na terra como no céu;

dai-nos hoje o pão do corpo e da alma;

gebt uns heute das Brot des Körpers und der Seele;

o pão nosso de cada dia nos dá hoje;

dai-nos o sublime sentimento de perdão para quem nos ofende;

gebt uns das erhabene Gefühl der Vergebung für den, der uns schädigt;

e perdoa-nos as nossas dívidas,

e não deixeis sucumbir as tentações da matéria nem dos maus espíritos;

und lasst uns nicht den Versuchungen der Materie oder der bösen Geister erliegen;

assim como nós também temos perdoado aos nossos devedores;

e enviai-nos Senhor um raio da vossa divina luz.

und schickt uns, Herr, einen Strahl Eures göttlichen Lichts.

e não nos deixes entrar em tentação; mas livra-nos do mal.

Im übrigen Verlauf einer Kultsitzung spielt der höchste Gott keine Rolle. Zwar wird häufig seine Existenz und Allmacht mündlich bezeugt, eine tätige Hinwendung zu ihm und eine praktische Inanspruchnahme seiner Macht erfolgt aber nicht. Sein Platz in der Umbanda ist somit rein rhetorischer Natur. Gott bleibt entfernt, unbehelligt und ausgeschlossen von den Nöten und Bedürfnissen der Menschen in ihrem alltäglichen Leben. Sie wenden sich in solchen Fällen an die ihm unterstellten Geister, die im Gegensatz zu ihm auch inkorporieren. Ihnen gebührt die Anrufung, Konsultation und rituelle Verehrung. Hierin zeichnet sich nicht nur eine Analogie zu den afrikanischen Riten, sondern auch zum Volkskatholizismus ab. Die katholischen Heiligen werden – nicht nur in Brasilien – in misslichen Situationen angerufen, um Hilfe gebeten und mit Dankesgaben bedacht. Sie „werden gesehen als Mittler zwischen dem Heiligen und dem Profanen;

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indem sie den Menschen näher sind, erhalten sie eine besondere Verehrung, die 402 oftmals selbst den Schöpfer der Welt in den Schatten stellt“ . Die Parallelen zum Christentum – in diesem Fall nicht nur zum katholischen – gehen jedoch darüber hinaus, indem der Gott der Umbanda trinitarisch konzipiert ist. „Die göttliche Trinität [...] wird repräsentiert durch Olorum mit seinen 403 direkten Emanationen, Oxalá und Orumilá (Ifá)“ . Der oberste Gott OlorumTupã-Zambi erscheint hierbei also als der Vater, während Oxalá, der höchste aller Orixás, mit Jesus Christus und somit dem Sohn gleichgesetzt wird. Das Orakel 404 Ifá, „der Bote der ‚Götter‘“ , entspricht dem Heiligen Geist. Allerdings bleibt diese umbandistische Trinität oberflächlich und ohne Bedeutung im Glauben oder religiösen Leben der UmbandistInnen. Sie ist letztlich nur eine Nachahmung der christlichen Trinität, ohne diese aber gedanklich zu erfassen oder systematisch zu durchdringen. Die vom Jesuiten Valdeli Carvalho da Costa geführten Inter405 views mit UmbandistInnen zeigen dies deutlich. Manchmal werden unter den trinitarischen Personen auch Jesus, Maria und Joseph verstanden. 4.2.1.2

Die Orixás

In Afrika als Gottheiten verehrt, erfuhren die mit den SklavInnen importierten Orixás in der Umbanda eine Herabstufung zu Geistern. Als solche sind sie aber weiterhin „Figuren der höchsten Heiligkeit und [...] mehr als die Geister der To406 ten“ , denen im kardecistischen Spiritismus noch die zentrale Rolle zukam. Angelehnt an den Kardecismus findet sich in der Umbanda zudem die Unterscheidung zwischen materieller und immaterieller Welt, in denen sich sowohl die Menschen als auch die Geister der verschiedenen Kategorien bewegen. Während jedoch die Menschen in der physischen Welt leben und an einen physischen Körper gebunden sind, haben alle Espíritos einen astralen Körper und wohnen in der astralen Welt. Zu ihnen sind zum einen die Orixás und die typologisierten Geister und zum anderen die verstorbenen Menschen zu zählen, da sie ihren materiellen Körper verlassen und desinkarnieren.407 Nachdem aber Caboclos/as und Pretos/as Velhos/as – trotz ihrer Typologisierung – als Individuen mit Eigennamen und Biografien auftreten, gelten auch sie 402 403 404 405

Ortiz, R.: A morte branca, S. 72. Oxumarê, S.d. / Oxossi, R.d.: O homem, os espíritos e o espiritismo, S. 54. Silva, W.W.d.M.e.: Umbanda do Brasil, S. 39. Costa, V.C.d.: Umbanda, Bd. 2, S. 343–365. Nach Costa lauten die Namen der umbandistischen trinitarischen Personen Obatalá, Oxalá und Ifá. Von den befragten UmbandistInnen wird Obatalá mit Gott identifiziert („Obatalá é Deus“, S. 345). Da Matta e Silva hingegen nennt Obatalá als den Sohn des höchsten Gottes, der in Brasilien den Namen Oxalá erhielt („Obatalá – O filho de Olorum“; Silva, W.W.d.M.e.: Umbanda do Brasil, S. 39). 406 Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 251. Hier wird der Superlativ von ’alto‘ verwendet („figuras da mais alta sacralidade“). 407 Vgl. Rivas Neto, F.: Lições basicas, S. 33.

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als Menschen, die zu früherer Zeit gelebt haben. Aus dem Zyklus der Wiedergeburten und Reinkarnation sind sie allerdings ausgeschieden, indem sie einen höheren Entwicklungsgrad erreicht haben. Auf der höchsten Entwicklungsstufe 408 allerdings stehen die Orixás, „Heilige, die nie ‚inkarnierten‘“ . Sie haben demnach nie als Menschen gelebt und waren nie mit einem physischen Körper verbunden. Stattdessen wirken sie – angelehnt an ihre afrikanische Herkunft – in der 409 Natur und personifizieren sie, so dass die Orixás auch als „forças da natureza“ bezeichnet werden. Als solche Kräfte wurden sie in der Umbanda aufgrund esoterischen Einflusses als Vibrationen verstanden, die sich z.B. in Naturphänomenen äußern. Somit gelten das Hochwasser von Flüssen und dadurch ausgelöste Über410 schwemmungen als „forças da natureza vibrando“ . Trotz ihrer umbandistischen Dematerialisierung kennt man (z.T. nur ungefähr) Biografien der Orixás, nämlich die tradierten afrikanischen Mythen. Ausgehend von dieser Glaubensgrundlage, wird die oftmalige Identifizierung der Orixás mit den katholischen Heiligen nicht nur in Frage gestellt, sondern sogar unmöglich. Denn alle in der katholischen Kirche in den Heiligenstand erhobenen Personen sind ihrzufolge Menschen, die tatsächlich gelebt haben. Zudem sind alle Orixás mit Herrschaftsbereichen über die Natur ausgestattet, wenn nicht gar als Kräfte oder Elemente der Natur selbst angesehen. „Alles in unserer Welt sind Orixás oder ist an sie gebunden“411. Insofern entspricht beispielsweise Iemanjá, der afrikanischen Göttin des Meeres, in der Umbanda das Salzwasser als ihr Ort, an dem sie auch kultisch verehrt wird. Dennoch bestehen Gemeinsamkeiten zwischen Heiligen und Orixás aufgrund ihrer Funktion als AnsprechpartnerInnen für Hilfe suchende Gläubigen sowie aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften und Attribute. Daher fiel es den afrikanischen SklavInnen nicht schwer, in den Heiligen der katholischen Kirche ihre Gottheiten wiederzuerkennen. Den Gott der Krankheiten und der Heilkunst Omulu mit dem Heiligen Rochus, der Pestkranke heilte und selbst an der Pest erkrankte, zu assoziieren, lag nahe. Somit konnten die AfrikanerInnen trotz der Missionierung ihren Glauben beibehalten – sozusagen unter katholischen Vorzeichen. Aber sogar die gegenseitige Übernahme von Traditionen ist zu beobachten.412 408 Birman, P.: O que é Umbanda, S. 31. Birman gibt hier mit leicht ironischem Unterton wieder, was die umbandistischen Bücher lehren. „Scheinbar ist alles sehr einfach“; ebd. Dementsprechend verwendet sie das Verbum ’sein‘ in Konditional I, das in der indirekten Rede benutzt wird und distanziert sich somit von der Aussage. Vollständig übersetzt lautet der Satz: „Die Orixás wären Heilige, die nie ‚inkarnierten “. 409 ’Naturkräfte‘; Auszug aus einem Interview mit einer Umbanda-Kultleiterin, in: Bobsin, O.: Entrevista com a sacerdotisa de umbanda Mãe Águida, in: Wulfhorst, I. (org.): Espiritualismo / espiritismo: desafios para a Igreja na América Latina, São Leopoldo 2004, S. 43–54, hier S. 44. 410 ’Vibrierende Naturkräfte‘; Auszug aus einem Interview mit einem Umbanda-Priester, in: Costa, V.C.d.: Umbanda, Bd. 2, S. 371 [Hervorhebung weggelassen]. 411 Oxumarê, S.d. / Oxossi, R.d.: O homem, os espíritos e o espiritismo, S. 54. 412 Wie sich die katholischen und afro-brasilianischen (Candomblé und Umbanda) Traditionen durchdringen können, weist Hermann Brandt deutlich am Vergleich der heiligen Barbara und

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

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Allerdings erfolgt mit dieser scheinbaren Gleichsetzung nie eine vollständige Ineinssetzung. Es ist nicht der Heilige Georg, der sich im Medium inkorporiert, sondern immer nur und ausschließlich der Orixá Ogum. Zwar können in den Gebeten der afrikanische wie der christliche Name gleichwertig nebeneinander stehen, doch richtet sich der Inhalt dieser Texte nicht an die katholische, sondern 413 an die umbandistische Person. Dies verdeutlicht das nachfolgende Beispiel : Gütiger Heiliger Hieronymus, Euer Name Xangô, in den Terreiros der Umbanda, erweckt die reinsten Erregungen. Beschützt uns, Xangô, gegen die rohen Fluiden der bösen Geister; unterstützt uns in den Momenten des Kummers; entfernt von unserer Person alle Übel, die von den Arbeiten der Schwarzen Magie hervorgerufen wurden. Wir bitten Euch auch, Heiliger Hieronymus, von Eurem mildtätigen Einfluss Gebrauch zu machen bei den Sinnen derjenigen, die durch Ehrgeiz, Unkenntnis oder Bosheit das Übel gegen ihre Brüder betreiben, indem sie die elementaren und niedrigen astralen Kräfte benutzen.

Demnach bleibt die Entsprechung auf der Ebene der Eigennamen, berührt aber nicht die Tiefe und Persönlichkeit der Individuen. Und auch der an diesem Punkt häufig konstatierte Synkretismus ist letztlich nur ein sprachlicher, nicht aber ein tatsächlicher. Daher kann lediglich von einer „Liierung von Orixás und Heiligen“ (Horst H. Figge) oder „katholischen ‚Maskierung‘ ihrer afrikanischen Orixás 414 durch die importierten Sklaven“ (Hermann Brandt) gesprochen werden. Aus dem katholischen Kontext übernommen und als Geister in die Lehre integriert begegnen in der Umbanda auch Engel, seien es die Erzengel der Bibel, Schutzengel oder gewöhnliche Engel. Ihre Aufgabe besteht darin – ganz traditionell und im Sinne ihrer aus dem Griechischen stammenden Bezeichnung –, den Menschen die Nachricht Gottes, der Güte und der Wahrheit zu bringen. Zugleich gewährleisten sie das harmonische Funktionieren des Universums und kümmern 415 sich um die Sicherheit und das Wohlergehen der Menschen. Die Erzengel Gabriel, Michael und Raphael führen jeweils eine der sieben Linien an, denen die Myriaden von umbandistischen Geistern zugeordnet sind (s.u.). Für jeden einzelnen Menschen ist wiederum ein Schutzengel zuständig, von denen es sieben gibt. Sie sind der individuelle, persönliche Orixá, unter dessen spirituellem Schutz „alle 416 inkarnierten Wesen“ – also nicht nur die UmbandistInnen – stehen. Im Gegensatz zu den anderen Geisterkategorien, in denen die Zahl ihrer Angehörigen unbegrenzt ist, sind die Orixás Einzelfiguren. Es gibt unzählige Pretos/as Velhos/as, aber nur eine einzige Oxum. Auch die Anzahl der Orixás ist determi-

413 414

415 416

ihrem Pendant Yansã nach. Vgl. Brandt, H.: Die heilige Barbara in Brasilien. Kulturtransfer und Synkretismus, Erlangen 2003, speziell S. 79–91. Nunes, J.d.A.: Orações da Umbanda, 4. Aufl., Rio de Janeiro o.J., S. 36. Figge, H.H.: Geisterkult, S. 37; Brandt, H.: Die heilige Barbara, S. 63. Eine detaillierte Gegenüberstellung von Orixás und Heiligen findet sich auch in Costa, V.C.d.: Umbanda, Bd. 2, S. 365– 404. Vgl. Oxumarê, S.d. / Oxossi, R.d.: O homem, os espíritos e o espiritismo, S. 47 ff. Rivas Neto, F.: Lições basicas, S. 99.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

niert und gegenüber den afrikanischen Ursprüngen stark gesunken. „Während es [...] in Afrika ca. 400 Orixás gibt, überlebten nur einige 20 von ihnen in Brasi417 lien.“ Eine Auswahl der Orixás der Umbanda werde ich im Folgenden kurz vorstellen. Dabei orientiere ich mich an der Übersicht von Diana Brown, die sie418 ben verschiedene Beispiele der sieben kosmischen Linien nebeneinander stellt. Von diesen exemplarischen Linien sind wiederum sieben nach einem Orixá benannt. Alle zitierten Quellen kennen die Linien von Oxalá, Iemanjá, Ogum, Oxóssi und Xangô; drei von ihnen führen auch eine Linie von Oxum ins Feld; und nur ein Autor benennt eine Linie von Iansã. Gemäß der Häufigkeit ihres Auftretens und dessen Reihenfolge erfolgt ihre kurze Charakterisierung. Dies wird anschließend in tabellarischer Form, in die ich noch einige weitere populäre Orixás aufnehme, grafisch verdeutlicht. 4.2.1.2.1

Oxalá

Die Statue von Oxalá nimmt den höchsten Platz am Altar ein; sein Herrschaftsbereich sind alle Orte, in besonderem Maße aber Himmel und Licht; in seine Farbe Weiß sind alle Medien immer gekleidet. Allein diese drei Beispiele geben die hohe Stellung und Bedeutung Oxalás in Kultstätte und -sitzung wieder und huldigen ihm als dem „Orixá von größter Heiligkeit“419. Seine Spitzenstellung in der kosmologischen Hierarchie, in der er lediglich unterhalb des ohnehin entfernten Gottes, aber oberhalb der anderen Orixás und aller anderen Geister rangiert, wird somit sichtbar gemacht.

417 Pierucci, A.F.: As religiões no Brasil, S. 294. 418 Brown, D.D.: Umbanda, S. 58. Auf die Mitglieder dieser und der drei anderen in dieser Tabelle aufgeführten Linien (Linie von Kosmas und Damian, Linie der Seelen und Linie des Orients) gehe ich bei den ’Typologisierten Geistern‘ ein. Das Prinzip der Linien erläutere ich unter ’Kosmologische Ordnung‘ in diesem Kapitel. 419 Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 232. Hier wird der Superlativ von ’grande‘ verwendet („o Orixá de máxima sacralidade“; Hervorhebungen weggelassen).

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

Abb. 6:

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Der Rang Oxalás spiegelt sich in der Anordnung der Statuen auf dem Altar wider. Während ihm der höchste Platz zukommt, stehen Statuen von Maria, Iemanjá, einem Seepferd, Xangô sowie drei Caboclos (v.r.) tiefer.

An ihn werden zusammen mit dem höchsten Gott Gebete in besonderen Momenten der Zeremonie gerichtet, wie das immer gesprochene Eingangs- und Schlussgebet einer Sitzung. In dieser Gemeinsamkeit scheint ein Teil der (vermeintlichen) Trinität durch, wie auch die Liierung Oxalás mit Jesus Christus verdeutlicht. Beide Namen werden synonym verwendet und einzelne Eigenheiten Jesu gingen auf Oxalá über: Sein Festtag ist der 25.12., und als der ihm geweihte Wochentag gilt in Anlehnung an den Kreuzestod der Freitag. Zudem sehen die UmbandistInnen im Kreuz das Symbol Oxalás, halten sich an die katholische Fastenzeit und begehen den Karfreitag. An diesem Tag wird durchgehend auf dem Gelände des Terreiro von Mestra Tala an einem nachgebildeten Sarg, in dem eine Jesus-(Oxalá-)Statue liegt, gebetet und zugleich der Rosenkranz in der Hand bewegt. Daneben stehen zwei weitere Statuen: Jesus-Oxalá, das Kreuz auf der Schulter tragend, und Maria mit einem Dolch in der Brust. Etwas abseits ist ein Tisch aufgebaut, auf dem Brot und Wein als dargereichte Speisen für Jesus-Oxalá liegen. Die sichtbaren Zeichen des christlichen Abendmahls, in denen Jesu eigener Leib und eigenes Blut präsent sind und für die Menschen gegeben werden, haben in der Umbanda eine andere

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Richtung angenommen. Hinsichtlich dieser Elemente wird aus dem christlichen Geber ein/e umbandistische/r NehmerIn. Die Synkretisierung von afrikanischem mit christlichem Gott zeigt sich in dessen plastischer und bildlicher Darstellung. Denn auch wenn die namentliche Bezeichnung variiert, so gibt es doch nur eine Art der Abbildung in menschlicher Gestalt: helle Hautfarbe, braune Haare und von der Mehrheit der ChristInnen als Jesus identifizierbar. „Oxalá ist Jesus, und als solcher ist er bildhaft repräsentiert 420 in jedem Terreiro.“ Eine afrikanisch aussehende Statue von Oxalá ist auch in Geschäften mit (afro-)religiösen Artikeln nicht erhältlich. Dennoch existieren Zeichnungen, die Oxalá im Candomblé darstellen, wenn er in einem Medium inkorporiert ist und dieses die entsprechenden Insignien wie Schwert und Schild oder einen Stab mit Glöckchen trägt. 4.2.1.2.2

Iemanjá

Für die Königin des Meeres Iemanjá existiert zwar mehr als nur eine katholische Entsprechung (Nossa Senhora dos Navegantes, Nossa Senhora da Glória), doch wird sie eher selten in deren äußeren Erscheinungsbildern dargestellt. Vielmehr kennt man sie als groß gewachsene, sehr weibliche und attraktive Frau mit schwarzen Haaren, die in hellblauem Kleid dem Meer entsteigt. Aufgrund ihrer Verbindung zu dem Element Salzwasser sind ihrer Linie die Geister der Seefahrer zugeordnet. Die yorubanische Mythologie sieht Iemanjá als Mutter in der urzeitlichen Kosmo- und Theogonie, indem sie (das Wasser) und ihr Bruder Aganju (die Erde), die Kinder von Obatalá und Odudua, sich vereinigten und den Sohn Orungã (die Luft) hervorbrachten. Auf der Flucht vor ihrem Sohn, der mit ihr eine inzestuöse Beziehung führte und fortsetzen wollte, brach sie tot zusammen. Aus ihrem Bauch wurden sodann mehrere Orixás geboren, darunter Oxóssi, Xangô, Oxum und Ogum. Ihre Mutterrolle spiegelt sich auch in den umbandistischen Liedern wider. Wird Iemanjá-Maria jedoch gemeinsam mit Oxalá-Jesus besungen, verändert sich ihr im Christentum tradiertes Verhältnis. „Iemanjá ist unsere Mutter und Oxalá ist unser Vater. Ich kam hierher, um zu Jesus und zur Jungfrau Maria zu beten.“421 Anstatt Mutter und Sohn werden sie hier zu Mutter und Vater. Beachtet man zudem die afrikanischen Mythen, in denen Iemanjá die Tochter von Obalatá ist, den die einen UmbandistInnen als Gott-Vater und die anderen als den Sohn (namens Oxalá) kennen, so greift die Verzerrung der Beziehungen noch weiter. Als Ort kultischer Verehrung Iemanjás dient jedweder Strand. Hier werden die Opfergaben für sie abgelegt und die ihr gewidmeten Sitzungen abgehalten, sofern sie außerhalb des Terreiros stattfinden. Zudem ereignet sich an den Stränden von

420 Ebd., S. 233 [Hervorhebung weggelassen]. 421 Velho, Y.M.A.: Guerra de Orixá, S. 75.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

147

Rio de Janeiro „ihr zu Ehren [...] die grandioseste Manifestation brasilianischer 422 Volksfrömmigkeit“ . Am 31.12. werden Kerzen entzündet und kleine Boote mit Opfergaben ins Meer gelassen. Als Geschenke an Iemanjá fungieren weiße Blumen, Toilettenartikel (Parfum, Seife), Münzen, Sekt und Reis. Auch an den Heiligentagen ihrer katholischen Pendants halten die Gläubigen ähnliche Feierlichkeiten ab. So begeht z.B. die Stadt Porto Alegre ihr größtes religiöses Fest am 2.2., dem Festtag der Nossa Senhora dos Navegantes, mit einer Prozession. Bei dieser ehemals auf dem Fluss Guaíba stattfindenden Zeremonie feiern nicht nur die KatholikInnen ihre Heilige, sondern auch die UmbandistInnen ihre dahinter stehende Orixá. Die Popularität Iemanjás zeigt sich auch darin, dass Kerzen mit ihrem Konterfei im Supermarkt verkauft werden, auf denen normalerweise Heilige abgebildet sind (vorzugsweise Jesus und Maria). Darüber hinaus zieren sie und der ebenso beliebte Heilige Georg als einzige Personendarstellungen große Tücher, die an den Stränden von Rio zu erwerben sind. 4.2.1.2.3

Ogum

Gekleidet in eine Rüstung und roten Umhang sowie mit einer Lanze in der Hand, bekämpft er von seinem weißen Pferd aus einen Drachen – in dieser Form wird in der christlichen Kirche der Heilige Georg typischerweise dargestellt. Die KatholikInnen verehren diesen Nothelfer als Patron u.a. der Bergleute, PfadfinderInnen, ReiterInnen, Ritter, Schmiede, LandwirtInnen, SoldatInnen und WandererInnen, aber auch der Pferde und des Viehs. Er wird angerufen bei Kriegsgefahren, Versuchungen und Krankheit. Der afrikanische Gott Ogum beherrscht das Feuer und das Schmelzen von Eisen, das als sein Element schlechthin gilt. Daraus resultiert seine Zuständigkeit für alle mit Eisen bzw. Metall in Zusammenhang stehenden Aktivitäten wie Schmiedekunst, Jagd und Krieg. Im Zuge der modernen Technisierung weitete der Candomblé Ogums Herrschaftsbereich auf alle mit Metall in Verbindung stehende Bereiche aus. „Ogum ‚wirkt‘ also im Skalpell des Chirurgen, in der Maschine, die bestimmte Produktionsabläufe abwickelt, in der Waffe, die tötet, im Bahn- und Straßenverkehr.“423 Aufgrund der entdeckten Analogien – und sei es in nur einem Aspekt – liierten die AfrikanerInnen ihren Ogum mit dem katholischen Georg. Die UmbandistInnen sehen in ihm auch einen Helfer und Verteidiger gegen das Böse, das sich allgemein und jederzeit, nicht nur in kämpferischer Auseinandersetzung ereignet. Wirksamer Schutz wird Georg-Ogum zugetraut und dementspre424 chend von ihm erbeten wie im „Gebet an Ogum (Heiliger Georg)“ :

422 Figge, H.H.: Geisterkult, S. 41. 423 Reuter, A.: Voodoo, S. 81. 424 Nunes, J.d.A.: Orações da Umbanda, S. 29.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Mein lieber Beschützer Heiliger Georg, ich erflehe mit der Erlaubnis des Allmächtigen Euren Schutz, damit Du niemals erlaubst, dass meine Feinde, seien sie inkarniert oder nicht-inkarniert, es schaffen, ihre Ziele zu verwirklichen und mir Böses zuzufügen. [...] Möge Eure Kavallerie einen Kreis um mich herum bilden, damit sie verhindert, dass die schlechten Fluiden, die astralen Larven mich erreichen und mir schaden. [...] Möge Euer Schutz, o göttlicher Krieger, mein Schild sein gegen das Böse, in der Art, in der es sich präsentiert! Mit Euch, o lieber Mentor, werde ich alle Übel besiegen.

Wiederum zeigt sich hier, wie wenig eine synkretistische Verschmelzung der beiden Figuren erfolgte. Unter dem Namen des katholischen Heiligen wird um umbandistische Inhalte gebeten. Letztlich ist Ogum der Adressat des Gebetes und nicht der mit Namen angesprochene Georg. Äußerlich jedoch kennt die Umbanda diesen Orixá nur in der Darstellung des reitenden Ritters, der vom Pferd aus gegen einen Drachen kämpft. Trotz seiner Abbildung mit einer Lanze gilt auch das Schwert als das Symbol Ogums. Solches trägt er während der Kultsitzung, wenn er im Körper des Mediums manifestiert ist.425 Er benutzt es – ebenso wie den Rauch einer Zigarre –, um die schlechten Energien des/r ihn konsultierenden Gläubigen abzustreifen. In dieser Weise fungieren auch die klingenförmigen Blätter zweier Pflanzen (beides Sansevieria-Arten): das im Volksmund bekannte ’Schwert des Heiligen Georg‘ und die ’Lanze von Ogum‘. Doch nicht nur in der Sessão oder in reinigenden Bädern, sondern auch im täglichen Leben finden die Pflanzen Verwendung. In Gärten und Blumentöpfen, am Eingang zu privaten Häusern und Geschäftsgebäuden werden sie vielfach angepflanzt und platziert. Neben Dekorationszwecken wird ihnen die Fähigkeit zugeschrieben, „gegen bösen Zauber zu verteidigen“426. Diese Funktion wird weit über die Grenzen der Umbanda hinaus geglaubt. 4.2.1.2.4

Oxóssi

Die einzigen Elemente, die den Orixá Oxóssi mit seinem Pendant, dem Heiligen Sebastian, verbinden, sind der Pfeil und die Jagd bzw. die JägerInnen. Weitere Gemeinsamkeiten werden weder festgestellt noch sind sie erforderlich, wenn man lediglich nach einer äußeren Hülle für die Inhalte sucht. Diese Aufgabe erfüllt das Bildnis des mit Pfeilen getöteten Märtyrers. Zwar eignet ihm auch das Patronat über SoldatInnen, Feuerwehrleute, Steinmetze, GärtnerInnen, GerberInnen, TöpferInnen und Sterbende, doch spielte dies für die UmbandistInnen keine Rolle. Sie fanden in ihm ihren Oxóssi wieder, den Herrn der Jagd und des Waldes. Eine

425 Das im Kult gebrauchte Schwert ist allerdings kein scharfes und zum Kampf taugliches. Vielmehr handelt es sich um eine aus Blech gefertigte ca. 35 cm lange Variante eines Spielzeugschwerts. 426 Sangirardi Jr.: Deuses da África e do Brasil, S. 89.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

149

andere Entsprechung vollzieht hingegen der Candomblé, der Oxóssi mit dem Heiligen Georg gleichsetzt.

Abb. 7:

Ponto riscado von Oxóssi

Oxóssi fallen als Herrschaftsgebiete der Wald und die Vegetation zu, weshalb er auch als Herr der Indios und der Geisterkategorie der Caboclos/as angesehen wird. Aus diesen Gründen deponieren die UmbandistInnen ihre Opfergaben für Oxóssi in Waldgebieten – vorzugsweise unter dicht belaubten Bäumen. Daher sind manchmal z.B. unter Mangobäumen grüne Kerzen, Schalen mit Mais, Hühnchen, Bohnen, Mandeln und einer Kokosnuss sowie Rotwein zu sehen. Zudem findet die Verehrung Oxóssis an seinem Festtag, den er sich mit dem Heiligen Sebastian am 20.1. ’teilt‘, im Wald statt. Dann begeben sich die UmbandistInnen anstatt in den städtischen Terreiro in den von Oxóssi beherrschten Bereich, um dort zu feiern. So auch in Rio de Janeiro, dessen Patron der Heilige Sebastian ist. „In den kleinen Wäldern von Rio [...] existieren Lichtungen zwischen den Bäumen, die speziell für die Macumbas gemacht wurden“427. Für die Feierlichkeiten werden sie gefegt und mit Fähnchen geschmückt. Hier halten die UmbandistInnen ihre Sessão mit den gleichen Ritualen ab, wie sie sie auch innerhalb des Terreiros feiern würden. 4.2.1.2.5

Xangô

Im Gegensatz zu den afrikanischen Religionen und dem Candomblé, der in Recife sogar ’Xangô‘ heißt, nimmt dessen wichtigster Orixá in der Umbanda keine vorgeordnete oder außergewöhnliche Stellung ein. Auch seine Ehen mit den drei

427 Ebd., S. 97. Die Bezeichnung ’Macumba‘ ist hier wiederum als Oberbegriff für die afrobrasilianischen Religionen zu verstehen.

150

Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Flussgöttinnen Iansã, Oxum und Obá, von denen die Mythen berichten, treten weitgehend in den Hintergrund. Von der Verbindung von Xangô und Iansã zeugen allerdings noch vereinzelte Traditionen wie der gemeinsame Wochentag Mittwoch, das gemeinsamen Element Gewitter sowie ihre Zuordnung zu seiner Linie (sofern sie nicht einer eigenen Linie vorsteht). Auch die überlieferten Lieder berichten noch von dieser Liaison: „Ich sah die Heilige Barbara und Xangô. Sie 428 beteten auf einem Felsen. [...] Sie beteten für all ihre Kinder.“ Dass hierbei zwei Namen nebeneinander stehen, die zwei Personen unterschiedlicher Religionen bezeichnen, stört offenbar nicht, denn hinter der Fassade der Heiligen Barbara sieht der/die UmbandistIn im Allgemeinen nur Iansã. Seinerseits wird Xangô mit dem Heiligen Hieronymus identifiziert, was sich im gemeinsamen Festtag, dem 30.9., und dem Löwen als Attribut auf Bildern und bei Statuen zeigt. Genauso wie Hieronymus erscheint Xangô als alter Mann mit einem braven Löwen zu seinen Füßen. Wie weit diese Darstellung (jedoch nicht dahinter stehende Legenden oder Lebensdaten) in die umbandistische Lehre einging, zeigt der einzige von Brumana/Martínez gefundene und vorgelegte, ihn betreffende Bericht429. Xango erscheint darin als ein Mann, der nicht in der Wäscherei seiner Familie arbeiten will und dessen Vergnügen es sei zu lesen, zu schreiben und mit seinem einzigen Freunde, dem Löwen, zusammen zu sein. Im Unterschied zum Heiligen aber, dessen Gewandung, Bartwuchs und Aufenthaltsort in der Kunst variieren (manchmal fehlt sogar der Löwe), sitzt der Orixá in der bildlichen Darstellung immer mit entblößtem Oberkörper und weißbärtig auf einem Felsen. Darüber hinaus sind ihm oftmals Tafeln mit den Zehn Geboten beigegeben, worin sich eine Liierung mit Mose spiegelt. Anhand welcher Aspekte die Entsprechungen mit Hieronymus und Mose aber überhaupt zu Stande kommen, ist unklar. Die im Candomblé z.T. erfolgende (insgesamt aber uneinheitliche) Identifizierung mit Petrus, dem ’Fels‘, liegt da schon näher. An die afrikanische Wurzel Xangôs erinnert die Doppelaxt, die symbolhaft auf seine Stärke und Verteidigungsbereitschaft hinweist. Xangôs Tätigkeitsbereich ist zudem die Gerechtigkeit, weshalb er in besonderem Maße als Beschützer derjenigen gilt, die dafür eintreten und selbst gerecht handeln. Daraus resultiert auch seine Beliebtheit als Schutzheiliger, als der er häufig angerufen und in der Sessão konsultiert wird. Während seiner Inkorporation hat er die Hände zu Fäusten geballt und die Unterarme vor der Brust gekreuzt. „Wenn er grüßt oder sich an jemanden wendet, schlägt er kräftig mit den Fäusten gegen die Brust unter kehligen Schreien.“430 Da den Geistern in der Kultsitzung erlaubt ist, zu trinken und zu rauchen, trinkt Xangô dunkles Bier wie z.B. Malzbier, das ihm auch als Opfergabe dargebracht wird. 428 Souza, J.R.d.: 600 Pontos riscados e cantados na Umbanda e Candomblé, 6., erw. u. verb. Aufl., o.O. o.J., S. 22. 429 Vgl. Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 233. 430 Sangirardi Jr.: Deuses da África e do Brasil, S. 129.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

4.2.1.2.6

151

Oxum

Die Herrin über Gold und Süßwasser trinkt Weißwein und – wie die anderen weiblichen Orixás sowie die Pomba Giras – Sekt. Ihre Farben Gelb und Golden begegnen auch in den ihr gereichten Speisen wie z.B. Maisbrei. Solches wird ihr zusammen mit Toilettenartikeln wie Parfum, Puder, Kamm, Spiegel und Fächer an Quellen oder Bachläufen geopfert. Diese Gaben entsprechen in gewisser Weise den ihr zugeschriebenen Eigenschaften der Weiblichkeit, der Fruchtbarkeit und der Liebe. In all diesem ähnelt Oxum Iemanjá; ebenso in der körperlichen Ausdrucksform während der Manifestation. Das vom Geist ergriffene Medium wirft sich zu Boden, richtet den Oberkörper ein wenig auf, indem es sich auf die Ellenbogen stützt, fegt den Boden mit den Haaren und weint. Beide Orixás werden mit ’Mutter‘ angesprochen; Oxum sogar mit ’Mama‘. Verschiedene afrikanische Mythen stellen auch ein verwandtschaftliches Verhältnis fest, variieren aber in der Frage, welche von beiden die Mutter und welche die Tochter sei.

Abb. 8:

In Nossa Senhora Aparecida erkennen die UmbandistInnen Oxum wieder.

Die bildhafte Gestaltung dieser zwei weiblichen Orixás unterscheidet sie trotz der Gemeinsamkeiten jedoch stark. Iemanjá ist groß, hellhäutig, hält die Arme leicht geöffnet und trägt ein figurbetontes Kleid mit weitem Ausschnitt. Oxum hingegen, die im Bild von Nossa Senhora da Imaculada Conceição Aparecida wiedererkannt wird, stellt optisch das genaue Gegenteil dar. Sie ist klein, dunkelhäutig, hält die Hände betend vor ihrem Körper und trägt ein hochgeschlossenes (Nonnen-)Gewand. Darüber hinaus sind ihr Kleid und noch vielmehr ihre Statur kaum

152

Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

sichtbar, da sie von einem ausladenden Mantel weitgehend verdeckt werden, der vom Hals bis zu den Füßen reicht. Oxum verschwindet gleichsam darin. Gemäß Figge ist sie „die am meisten verkörperte weibliche Gottheit, obwohl 431 Iemanjá als Geist mehr verehrt wird“ . Seine Einschätzung begründet Figge mit Oxums Charakter, den er als sanft, liebevoll und mütterlich beschreibt. Allerdings übersieht er die Bedeutung der mit ihr liierten katholischen Person, die er lapidar als eine der Marien benennt wie die ’Liebe Frau von der Empfängnis‘ (Nossa Senhora da Conceição). Der Name dieser Maria ist jedoch ebenso unvollständig wie die andere, ebenfalls für sie gebrauchte Kurzform ’Erschienene Liebe Frau‘ (Nossa Senhora Aparecida). Aber genau diese Maria wird von den BrasilianerInnen als ihre Nationalheilige verehrt, deren Mantel manchmal die brasilianische Flagge ziert. Daher rührt m.E. die häufige Abbildung Oxums. 4.2.1.2.7

Iansã

Die in den afrikanischen Mythen erzählte Verbindung zwischen Xangô und Iansã, die auch Oiá genannt wird, ist in den Terreiros der Umbanda zwar noch greifbar, aber uneinheitlich und z.T. verzerrt. Nach afrikanischer Überlieferung war die über den Wind herrschende Iansã eine der drei Ehefrauen des Gewittergottes Xangô. Diese Art der Beziehung klingt in der Umbanda durchaus noch nach, wenn von ihren gemeinsamen Kindern die Rede ist. Es existiert jedoch – vielleicht vereinzelt – auch die Version, dass sie nicht seine Frau, sondern vielmehr seine Tochter sei. Da bei ihrer Geburt geweissagt worden war, dass sie durch einen Blitz sterben würde, schloss ihr Vater Xangô sie in einer Festung ein. Irgendwann floh sie aber und genau an diesem Tag zerstörte ein Blitz die Festung. „Sie wurde nicht vom Blitz getroffen. Also, deshalb sagt man, dass sie die Herrin des Blitzes ist.“432 Die Blitz-Thematik erscheint auch in einer der Legenden, die sich um die mit Iansã liierte katholische Märtyrerin Barbara ranken. Die Tochter des Heiden Dioscurus wehrte sich nicht nur gegen seine Heiratspläne, sondern bekehrte sich auch zum Christentum. Ihr Vater verurteilte und enthauptete sie daher, woraufhin er von einem Blitz erschlagen wurde. Anders als Iansã war die Heilige Barbara zwar von diesem Blitzschlag weder selbst betroffen noch überlebte sie in der Geschichte. Doch aufgrund der Identifizierung beider erachten die UmbandistInnen nun auch die Heilige als Herrin der Blitze und konstatieren „eine Verbindung [...], die in der katholischen Überlieferung so nicht gegeben war“433. Iansãs Beschreibung als mutig und vehement sind ihren Elementen Wind, Sturm und Blitz geschuldet. Möglicherweise rührt von deren zerstörerischer Kraft, die die Natur verwüsten und Leben auslöschen kann, auch ihre Herrschaft über 431 Figge, H.H.: Geisterkult, S. 42. Hieraus stammen auch die nachfolgenden Angaben zu Oxum. 432 Costa, V.C.d.: Umbanda, Bd. 2, S. 269. Auszug aus einem Interview mit einer UmbandaPriesterin. 433 Brandt, H.: Die heilige Barbara in Brasilien, S. 83.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

153

die Toten her. Dementsprechend liegt es nahe, dass ihr kultischer Ort der Friedhof ist, wo Opfergaben für sie niedergelegt werden. Dank ihrer wie auch immer gearteten engen Beziehung zu Xangô fungieren zudem seine Opferplätze zugleich als die ihrigen. Hiervon ausgehend überrascht es jedoch, dass die rituelle Pflanze von Iansã mit derjenigen von Ogum nahezu identisch ist. Das so genannte ’Schwert der Heiligen Barbara‘ unterscheidet sich lediglich darin, dass das Grün des Blattes von einem durchgehenden gelben Streifen eingefasst wird. Des Weiteren wird mit ihr die Palme assoziiert und sogar im christlichen Kontext benutzt. „Das Volk verbindet den Palmzweig von Palmsonntag mit Iansã-Hlg.Barbara: [wird er] verbrannt, schützt er während der Stürme vor Blitzen“434.

434 Sangirardi Jr.: Deuses da África e do Brasil, S. 135.

154

Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Übersicht über die Orixás (I) Orixá

435

Element

Herrschaft, kultischer Ort

Tätigkeitsbereich Schöpfung der Menschheit & der materiellen Kultur Zeugung, sexuelle Liebe, Ehe Krieg, Metallurgie, Hilfe gegen das Böse

Oxalá ♂

Luft, Feuer

alle Orte, v.a. der Himmel

Iemanjá ♀ Ogum ♂

Salzwasser, große Flüsse Feuer, Luft, (geschmiedetes) Eisen, Metalle Wald, Fauna

Meer, Strand

Bäume, Wald

Jagd

Felsen, Blitz, Donner, Berg, Stein Süßwasser, Gold

Steinbruch

Gerechtigkeit, Verteidigung Zeugung

Oxóssi ♂ Xangô ♂ Oxum ♀ Iansã (auch: Oiá) ♀ Oxumarê ♀/♂ Omulu (auch: Obaluaiê) ♂ Nanã Buruquê ♀ Ossaim ♂ Obá ♀

Wind, Blitz, Sturm

Straße (Wege)

Fluss, See, Quelle, Wasserfall Friedhof, Bambuswald

Herrschaft über die Toten

Regenbogen, Regen Erde

Brunnen, Wasserquelle Friedhof, Untergrund

Schlamm des Meeresbodens, Morast

Sumpf

Befruchtung der Erde

Pflanzen, Blätter

Bäume, Wald, Vegetation Fluss

Medizin

Wasser

Heilung der Götter Medizin, Heilung

Kampf

435 Tabellarische Übersichten finden sich auch in: Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 249 f. sowie in: Silva, V.G.d.: Candomblé e Umbanda, S. 94–97. Von diesen unterscheiden sich die von mir erstellten Übersichten über die Orixás (I–III) durch die Konzentrierung auf die Orixás der Umbanda und durch die Gliederung in zehn Aspekte sowie die detaillierten Angaben.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

Übersicht über die Orixás (II) Orixá

Eigenschaft

Insignien

Farbe

Oxalá

Geduld, Weisheit

Kreuz, Stab

weiß

Iemanjá

Fruchtbarkeit, Mütterlichkeit

Herz, Muschel, Seestern

hellblau

Ogum

Gewalt, Mannhaftigkeit

Schwert, Lanze

rot, dunkelblau, grün, weiß

Oxóssi

Vorsteher, Gewandtheit

Pfeil und Bogen

grün, türkis

Xangô

Eitelkeit, Prunk, Reichtum

Doppelaxt

rot, weiß, braun

Oxum

Fruchtbarkeit, Weiblichkeit, Reichtum, Liebe

Fächer

gelb, golden

Iansã

Mut, Heftigkeit, Sinnlichkeit

Blitz

gelb, rosa, dunkelrot, braun,

Oxumarê

Überfluss, Reichtum, Kontinuität

Schlange

grün, gelb, schwarz

Omulu (auch: Obaluaiê)

Gesundheit & Krankheiten (wie Pest, Blattern)

Kreuz, Hacke

schwarz, weiß, braun

Nanã Buruquê

Fruchtbarkeit, Erzeugung

kleiner gebogener Stab

violett

Ossaim

Gesundheit & Krankheit, Pflanzenmagie

siebenzackige Forke

grün, weiß

Obá

Kraft, Energie

Schild, verdecktes Ohr

rot, golden

(auch: Oiá)

155

156

Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Übersicht über die Orixás (III) Orixá

Opfergaben; Speisen & Getränke

Festtag & Wochentag

katholische Entsprechung

Oxalá

weiße Lilien & Nelken; Taube, Ziege, Honig, Reiskuchen, weißer Maisbrei, Wein & Brot

Fastenzeit, 25.12.; Freitag

Jesus Christus

Iemanjá

Parfum, Seife, Spiegel, Kamm; Reis, weißer Mais(-brei), Sekt, Wasser

2.2., 8.12. (São Paulo), 31.12. (Rio); Samstag

N. Sra. dos Navegantes, N. Sra. da Glória

Ogum

Dinge aus Eisen, Zigarren; schwarze Bohnen, Spießbraten, helles Bier

23.4.; Dienstag

Hlg. Georg

Oxóssi

Hühnchen; Bohnen, Mais, Kokosnuss, Mandeln, Rotwein

20.1.; Donnerstag

Hlg. Sebastian

Xangô

runder Stein; Eintopf aus Gemüse und Ochsenschwanz, dunkles Bier

30.9.; Mittwoch

Hlg. Hieronymus

Oxum

Parfum, Puder, Kamm, Spiegel, Fächer; Bohnen und Eier, gelber Maisbrei, Sekt, Weißwein

8.12.; Samstag

N. Sra. da Imaculada Conceição Aparecida

Iansã

Bohnenkuchen, Obst

4.12.; Mittwoch

Hlg. Barbara

Oxumarê

Muschelarmband; Mais- oder Reiskuchen

24.8.; Dienstag

Hlg. Bartholomäus

Omulu

knochen- oder schädelähnliche Gegenstände; Kokosnuss, Popkorn

16.8.; Montag

Hlg. Rochus

(auch: Obaluaiê) Nanã Buruquê

Ziege; Obst

26.7.; Dienstag

Hlg. Anna

Ossaim

Rauchtabak; Honig, Mais

11.7.; Samstag

Hlg. Benedikt

Obá

Ente; Maisbrei, Bohnenkuchen

30.5.

Hlg. Johanna von Orléans

(auch: Oiá)

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

4.2.1.3

157

Die typologisierten Geister

In der Hierarchie der übernatürlichen Wesen ordnet die Umbanda unterhalb der Orixás die typologisierten Geister ein. Gemeinsam spiegeln sie bis zu einem gewissen Grad die brasilianische Gesellschaft hinsichtlich Rasse, Alter, Geschichte und Lebensbereich wider. Hierin nehmen die Orixás trotz ihrer afrikanischen Herkunft und wegen ihrer katholischen Liierung die Rolle der erwachsenen Weißen ein. Doch es gibt auch wilde Indios, alte schwarze SklavInnen, spielende Kinder und gesellschaftliche AußenseiterInnen im umbandistischen Kosmos. Sie alle werden mit bestimmten Lebensräumen in Verbindung gebracht: Wald, Meer, Strand, Steinbruch, Fluss, Sumpf, Friedhof, Haus, Straße. Hierbei ist jedoch immer das Ideal im Blick: die unberührte Natur, der nicht-kultivierte Wald, das unverschmutzte Meer, der saubere Strand, das herrschaftliche Haus der KolonisatorInnen, der nicht durch Abwässer vergiftete Fluss. Das städtische Umfeld und tägliche Leben von drei Vierteln der BrasilianerInnen hingegen bleibt weitgehend ausgespart. Einzig Friedhof und Straße weisen in die zivilisatorische Gegenwart. Ähnlich verhält es sich mit den Tätigkeiten der Espíritos: Es gibt den Krieger, den Jäger, den/die HeilerIn, den Richter, den Schöpfer, die ehemals versklavten Hausangestellten, die Prostituierten, die Gauner. So wie die Handlung des Schaffens in die Anfangszeit datiert, liegt heute in Brasilien auch die Sklaverei bereits mehrere Generationen zurück. Der in Ogum repräsentierte Krieger wird von den UmbandistInnen in römischer Gewandung gedacht, nicht als moderner Soldat. Analog dazu jagt Oxóssi wie die Eingeborenen mit Pfeil und Bogen. Berufsgruppen wie RichterInnen und MedizinerInnen haben einen verschwindend geringen Anteil an der Bevölkerung, und noch weniger an der Klientel der Umbanda. Stattdessen gibt es eine Menge an FabrikarbeiterInnen, StraßenverkäuferInnen, Bauersleute, HandwerkerInnen, BusfahrerInnen, Müllleute oder Arbeitslose, die jedoch nicht als Geister der Umbanda begegnen. Allein die Prostituierten und Gauner werden in den Figuren Pomba Gira und Exu als typologisierte Geister gekannt und nicht schematisch erhöht bzw. illusorisch dargestellt. Wie die wirklichen Prostituierten und Gauner am Rand der zivilisatorischen Gesellschaft leben, so nehmen auch die Geistwesen den niedrigsten Rang unter den Geistergruppen ein. Eine weitere Ausnahme sind die Pomba Giras auch dahingehend, dass die realen Prostituierten in ihnen ihre persönlichen Espíritos sehen und ihnen Opfergaben bringen. Sonstige Verbindungen zwischen wirklicher Berufsgruppe und Tätigkeit eines Geistes bestehen nicht. Ogum ist zwar Krieger und arbeitet mit Metall, ist aber bei weitem nicht der Patron der SoldatInnen, SchmiedInnen oder Bergleute – im Unterschied zu den katholischen Heiligen. Letztlich ist zu konstatieren, dass die Geister der Umbanda die reale Gesellschaft Brasiliens nur in Auszügen abbilden. Gründet sich ihr Anspruch, eine ’brasilianische Religion‘ zu sein, u.a. darauf, dass Geister der drei vorherrschenden Rassen hier inkorporieren, so trifft dies zu. Auch alle Altersstufen treten mit den verschiedenen Geistergruppen auf. Doch weder alle Lebensbereiche noch Tätig-

158

Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

keiten (von den sozialen Schichten ganz zu schweigen) werden durch die multiple Geisterzahl abgedeckt. Allerdings ist es nicht Aufgabe oder Ziel der Umbanda, die Wirklichkeit identisch und repräsentativ wiederzugeben. Sie errichtet in ihrer Lehre keine übernatürliche Geisterwelt, die der menschlichen entsprechen und Rechenschaft tragen soll. Stattdessen dienen die vielen differenzierten Zuschreibungen und persönlichen Eigenheiten der Geister einem anderen Zweck. „Die verschiedenen Aufteilungen der Stereotypen sind nur bedeutend, solange sie die 436 Unterscheidung untereinander feststellen und verstärken“ . Dadurch soll die Vermischung der Geister-Kategorien verhindert und das Weiterbestehen der Identitäten gewahrt werden. Sowohl die Vielzahl als auch die fortschreitende Aufnahme immer neuer Geistwesen (Ochsentreiber, ZigeunerInnen, Soldaten) machen die schärfere Abgrenzung erforderlich. Die im Folgenden vorgestellten Geister nenne ich ’typologisiert‘. Zwar haben sie Eigennamen und eigene Biografien, die sie während ihrer Manifestation offenbaren. Aber dennoch weisen sie ein stereotypes Verhalten auf, woran sie eindeutig als Espíritos der jeweiligen Gruppe zu identifizieren sind. Der individuelle Charakter hat hier seine Grenze. Abgesehen von den einzelnen Geistern sind auch ihre Gruppen bestimmte Typen, die nicht variieren. Die Pretos/as Velhos/as beispielsweise sind durchweg ruhige und demütige alte SklavInnen, aber keine rebellischen, die ihre Flucht planen oder gar ausführen. Solche hat es zwar vielfach in der Geschichte Brasiliens gegeben, doch werden sie in der Umbanda ausgeblendet. Insofern liegen trotz aller Einzelschicksale der jeweiligen Geister immer nur Typen vor. Die Espíritos, die weniger entwickelt und daher unterhalb der Orixás anzusiedeln sind, werden ihrerseits ihrem Entwicklungsgrad gemäß klassifiziert als die ’Geister des Lichts‘ und die ’Geister der Finsternis‘. Zu den ersten gehören die Caboclos und Caboclas, die Pretos Velhos und Pretas Velhas sowie die Crianças, zu den letzten die Exus und Pomba Giras, die gemeinsam eine Gruppe bilden. Da diese vier Kategorien (die drei Kategorien des Lichts und die Kategorie der Finsternis) die überwiegende und traditionelle Mehrheit der typologisierten umbandistischen Geistwesen darstellen, orientieren sich die entworfenen Schemata durchgehend nur an ihnen. Andere Geisterkategorien werden weitgehend ausgeblendet oder manchmal sogar als Kritikpunkte verwendet, um die Schemata zu entkräften.437 Die Geister des Lichts wollen und praktizieren das Gute. Bei den Espíritos der Finsternis ist dies leider nicht so eindeutig, da sie entsprechend ihres ambivalenten Charakters einmal für das Gute und einmal für das Böse arbeiten.

436 Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 267. 437 Die Betrachtung nur dieser vier Geistergruppen erfolgt u.a. bei Ortiz, R.: A morte branca, S. 65 ff.; Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 27 ff.; Birman, P.: O que é Umbanda, S. 38 ff. Unter Hinweis auf weitere Geisterkategorien wird z.B. das Schema von Birman kritisiert, vgl. Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 270. Ein Gegenvorschlag wird jedoch nicht erbracht.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

159

„Diese Teilung entspricht der christlichen Konzeption, die eine Zweiteilung zwi438 schen dem Guten und dem Bösen errichtet.“ Während die Exus und Pomba Giras in der Umbanda zwar durchaus ihren Platz haben, nehmen sie hier keine zentrale Rolle ein. Solche gebührt ihnen in der Quimbanda, die zudem in dem Ruf steht, schwarze Magie und somit das Böse zu praktizieren. Ähnlich verhält es sich mit der Stellung der Orixás in der Umbanda. Sie gehören fundamental zur Lehre und zum Kosmos dazu, inkorporieren jedoch seltener. Trotz ihrer Macht haben sie sich von den Menschen und deren Belangen beinahe ebenso weit entfernt wie der höchste Gott. „Evolved beyond the point of returning to earth, they have become permanent inhabitants of the astral spaces and therefore no longer descend to visit Umbanda centros.“439 Häufiger treten die afrikanischen ehemaligen Gottheiten hingegen im Candomblé in Erscheinung. In der Umbanda jedoch wird der zentrale Platz von den Caboclos/as und Pretos/as Velhos/as besetzt, den Indios und Alten Schwarzen. Damit kommt den afrikanischen Orixás und katholischen Heiligen ebenso wie den schwer einzuschätzenden und häufig auch übelwollenden Exus und Pomba Giras ein sekundärer Rang zu. In den Vordergrund tritt wiederum die nationale und positive Komponente: Eingeborene und importierte AfrikanerInnen, die auf ihre je eigene Weise für das Gute arbeiten. 4.2.1.3.1

Caboclos und Caboclas

Wird ein/e BrasilianerIn als ’caboclo/a‘ bezeichnet, so bezieht sich das auf die Rasse: Er/Sie ist das Kind von einem weißen und einem indianischen Elternteil. Ein Geist hingegen, der zu der Kategorie der Caboclos/as gehört, ist durch und durch Indio: Er/Sie jagt mit Pfeil und Bogen, fängt Fische mit einer Lanze und lebt völlig autark im Wald und somit fern von den Städten, der Zivilisation und der modernen Technik. Aufgrund dieser Ferne wurde in der Natur auch die Unabhängigkeit von den Weißen bewahrt. Zu den besonderen Eigenschaften der indianischen Geister gehören ihre Stärke und Energie, ihr Stolz und unzähmbarer Freiheitsdrang. All diese Qualitäten sind Teile jener Vorstellung, die man gemeinhin von den ’Wilden‘ hat, von „Menschen, die noch nicht von der Zivilisation vergiftet“440 wurden. Doch auch weniger positive Eigenschaften verbindet man mit ihnen, die man auch als primitiv ansieht: Arroganz, Rohheit, Sturheit und Ungelehrigkeit. Dem Bild von den im Urwald lebenden UreinwohnerInnen entspricht die umbandistische Vorstellung von den indianischen Espíritos. 438 Ortiz, R.: A morte branca, S. 65. 439 Brown, D.D.: Umbanda, S. 59. Vgl. zur Zuordnung von Geister-Gruppen zu afro-brasilianischen Religionen auch Rodolpho, A.L.: Entre a hóstia e o almoço. Um estudo sobre o sacrifício na Quimbanda, Porto Alegre 1994, S. 37. Da die Crianças im Allgemeinen eher selten inkorporieren, nehmen sie in keiner der drei afro-brasilianischen Religionen eine zentrale Position ein. 440 Birman, P.: O que é Umbanda, S. 39.

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Abb. 9:

Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Cabocla Jurema

Jedoch liegt hier ein etwas naives Bild der Indios vor, das die literarische Epoche 441 der brasilianischen Romantik hervorgebracht hat. Ihr Kampf gegen die portugiesischen ErobererInnen wurde zum Symbol des brasilianischen Unabhängigkeitskampfs stilisiert. Zugleich mischt sich die Vorstellung mit Elementen, die den nordamerikanischen IndianerInnen zu Eigen sind. Solche Kenntnisse gelangten dank verschiedener Spielfilme in die Charakterisierung der Caboclos/as („influên442 cia ‚hollywoodiana‘“ ). Dies spiegelt sich beispielsweise im prächtigen Federschmuck wider, den manche/r inkorporierte/r Caboclo/a auf dem Kopf trägt. Der Gedanke an eine/n Caboclo/a bezieht sich immer auf eine/n Erwachsene/n in der Blüte des Lebens und im Vollbesitz der Kraft. Kinder oder GreisInnen treten in diesem Typus nicht auf, sondern haben ihren eigenen. Die Namen der Indio-Geister sind weitgehend geschlechtsneutral, wobei das Geschlecht der Person durch das vorgesetzte ’Caboclo‘ bzw. ’Cabocla‘ gekennzeichnet wird: Sete Flechas (sieben Pfeile), Rompe Mato (Buschbrecher), Pena Branca (Weiße Feder) 441 Vgl. Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 27 f. 442 Ebd., S. 28.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

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oder Cobra Coral (Korallenschlange). Andere Namen verweisen auf literarische Vorbilder wie die nach Romanfiguren benannten Ubirajara und Iracema oder lauten wie einzelne Indiostämme z.B. Tupinambá. Ebenso wie die Orixás werden auch die typologisierten Geister in Pontos cantados besungen und angerufen. Die Anrufe können sich ganz allgemein an die Indio-Kategorie oder an einzelne übernatürliche Wesen richten. Doch trotz der genuin brasilianischen Herkunft der Caboclos/as können in ihren Liedern auch Espíritos anderen Ursprungs bzw. Figuren des katholischen Umfelds benannt werden. Insofern macht der Synkretismus auch nicht vor den Geistern des niedrigeren Rangs halt: „Caboclo vom Schwarzen Stein, wir rufen ihn. Und auf seinen Schutz hoffen die Vertrauenden. Es lebe Jesus. Es lebe die Linie der Umbanda.“443 Das Verhalten der Caboclos/as während ihrer Manifestation verläuft in stereotypen Formen, anhand derer sie sofort als Espíritos dieser Kategorie zu identifizie444 ren sind. Sie stehen sehr aufrecht mit ernster Miene und erhobenem Kopf. Mit den Fäusten schlagen sie sich auf die Brust und stoßen Schreie aus. Den linken Arm halten sie auf dem Rücken und den rechten angewinkelt vor dem Körper mit ausgestrecktem Zeigefinger. So laufen sie steifen Schritts durch den Terreiro. Auch an ihren Insignien, die sie mit sich herumtragen können, sind die Caboclos/as leicht zu erkennen: Pfeil und Bogen, Schleuder oder Lanze. Wenn sie sprechen, mischen sie indianische Ausdrücke in ihr gebrochenes Portugiesisch. Mit klarer und kräftiger Stimme erteilen sie in der Konsultation Anweisungen, trinken Bier oder Wasser und rauchen Zigarre. 4.2.1.3.2

Pretos Velhos und Pretas Velhas

Von der Inkorporation der Indio-Geister, die mit jeder Geste und in der ganzen Mimik ihre Stärke und ihren Stolz zeigen, unterscheidet sich das Verhalten der Alten Schwarzen sehr. Sie stehen mit gekrümmten Rücken, stützen sich auf einen Stock und gehen kaum umher. Die meiste Zeit über sitzen sie auf kleinen Holzbänken. Die Frauen tragen ein Kopftuch, die Männer einen Strohhut, beide rauchen Pfeife und trinken süßen Wein. Sie sprechen Portugiesisch mit starkem Akzent und von afrikanischen Ausdrücken durchzogen. Anhand dieser typischen Gesten sind die manifestierten Espíritos als Pretos Velhos und Pretas Velhas zu erkennen. Sie bilden die große Gruppe der SklavInnen aus Afrika. Doch anstatt die Realität der Sklaventransporte nach Brasilien wiederzugeben, mit denen Menschen aller Altersklassen verschifft wurden, besteht die umbandistische Kategorie ausschließlich aus betagten, greisen und z.T. ehemaligen SklavInnen. Ihr gemein443 Souza, J.R.d.: 600 Pontos riscados e cantados, S. 43. 444 Horst H. Figge bevorzugt, um das stereotype Verhalten zu benennen, den Begriff der ’Geistrolle‘, die „von den Gläubigen als Ausdruck der Anwesenheit eines inkorporierten Geistes, eines Wesens aus dem Jenseits, verstanden wird“ (ders.: Geisterkult, S. 150). Seiner Kritik an den Begriffen ’Geistdarbietung‘ und ’Geisttheater‘ ist unbedingt zuzustimmen.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

samer Festtag, der der ganzen Kategorie der Pretos/as Velhos/as gilt anstatt nur einzelnen Personen (also anders als bei den Orixás), wird am 13.5. begangen. An diesem Tag wurde im Jahr 1888 das Goldene Gesetz erlassen, das die Sklaverei beendete.

Abb. 10: Typische Darstellung eines Preto Velho und einer Preta Velha: sitzend und Pfeife rauchend.

Während die Indios im Wald und damit der Gesellschaft entzogen lebten, wurden die schwarzen SklavInnen darin eingegliedert. Ihre frühere Freiheit und Eigenverantwortlichkeit verwandelte sich in Abhängigkeit und Beaufsichtigung. Der Lebensbereich der weißen Herrschaften wurde nun auch ihrer; sei es in der unmittelbaren Nähe im Herrenhaus oder entfernt in der Sklavenhütte. Die AfrikanerInnen gehörten somit auch zur zivilisierten Welt, allerdings in erniedrigter und untergeordneter Form. Im Gegensatz zum Idealbild der kämpferischen Indios lehnten sich die AfrikanerInnen nicht gegen die Versklavung auf, sondern beugten sich. „Gefangen in einer Kasten-Gesellschaft […] hat der Schwarze, um sich gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen, keine andere Alternative als diejenige, das einzige positive Bild, das die Gesellschaft ihm anbietet, zu akzeptieren: die Demut.“445 Sie ertrugen die Ausbeutung und Misshandlung, indem sie sich mit der Hoffnung auf einen späteren 445 Ortiz, R.: A morte branca, S. 68.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

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gerechten Ausgleich, den Gott bewirkt, trösteten und ermutigten. Dass jedoch keineswegs alle afrikanischen SklavInnen dieses Schicksal hinnahmen, sondern revoltierten oder flohen, bleibt von der Umbanda ausgeblendet. Das konstruierte Idealbild des/r Preto/a Velho/a ist das des/r sich fügenden und daran nicht verzweifeln446 den alten Schwarzen. Damit verstärkt sich der Unterschied zur romantisch geschönten Vorstellung von den Indios, die als den AfrikanerInnen überlegen gelten. Insofern erfahren sie in gewisser Weise eine doppelte Unterordnung: zum einen unter die weißen HerrInnen, zum anderen unter die stolzen und unabhängigen Indios. Dass auch deren Bild nicht makellos ist, da nämlich viele Eingeborene ebenfalls versklavt wurden, verschweigen die umbandistischen Typen. An jeglicher Differenzierung innerhalb der Geisterkategorie desinteressiert, pflegt die Umbanda die jeweiligen idealtypischen Charakteristika. Ihnen entsprechen auch die Eigenschaften der Pretos/as Velhos/as, die sie als ruhig, friedlich, liebevoll, weise und gütig beschreiben. Ihren HerrInnen, mit denen sie auch beinahe verwandtschaftliche Gefühle verbinden können, dienen sie loyal. Insbesondere mit den Pretos/as Velhos/as assoziieren die UmbandistInnen das Konzept der Familie. Sie erscheinen als warmherzige Großmutter und gütiger Großvater, als liebevolle Eltern, Tante und Onkel. Das spiegelt sich zudem in ihrer Anrede wieder, die oftmals dem Eigennamen vorgeordnet wird: Vovó Catarina (Oma), Pai Joaquim (Vater), Tia Benedita (Tante). Die familiäre Anrede kann jedoch auch wie der Eigenname allein stehen: „Oma mag keine Kokosschale in der Kultstätte, nur weil die Kokosschale sie an ihre Gefangenschaft erinnert.“447 Die Geister ihrerseits sprechen die KultteilnehmerInnen mit ’Filho‘ (Sohn) oder ’Filha‘ (Tochter) an – so wie auch die brasilianischen Eltern ihre Kinder anreden. Für deutsche Ohren mag das sehr formal klingen; für BrasilianerInnen ist diese Anrede ebenso innig wie Eigen- oder Kosename. Trotz der afrikanischen Herkunft stammen die Eigennamen überwiegend aus dem europäischen Raum: z.B. Rita, Maria, Luiza, Joana, Miguel, Francisco, Cipriano, José. Auf Afrika verweisen immerhin manche Beifügungen, die geografische Gegenden bezeichnen wie Angola oder Kongo. Eine solche familiäre Beziehung, wie sie zwischen einem/r Terreiro-BesucherIn und einer inkorporierten Preta Velha besteht, wäre mit einem Caboclo undenkbar. Diesen spricht man mit der distanzierten und respektvollen Anrede ’mein Vater‘ an. Trotz der Unterschiedenheit und Gegensätzlichkeit dieser Geistergruppen stellen beide die zentralen Figuren der Umbanda dar.

446 Interessanterweise wirkt sich die im Idealbild enthaltene Wertschätzung der Pretos/as Velhos/as nicht auf deren Bezeichnung aus. Um nämlich politisch korrekt einen Menschen dunkler Hautfarbe zu benennen, verwendet das brasilianische Portugiesisch den Ausdruck ’negro‘. Der Begriff ’preto‘ hingegen, der in erster Linie die Farbe schwarz bezeichnet, ist pejorativ. Wollte man also die Geistergruppe der durchaus beliebten, alten afrikanischen SklavInnen unter einem neutralen Begriff fassen, so müsste man von den ’Negros/as Velhos/as‘ sprechen. 447 Figge, H.H.: Geisterkult, S. 334.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

4.2.1.3.3

Crianças

Die früheste Lebensphase decken in der Umbanda die Kinder-Geister ab (port. ’crianças‘, bei den Yoruba ’êre‘). Zusammen mit den Caboclos/as und Pretos/as Velhos/as repräsentieren sie „die drei Etappen des menschlichen Lebens: Jugend, 448 kräftiges Alter und [hohes] Alter“ . Ihre Kindheit spiegelt sich in ihren Namen, die größtenteils mit dem Diminutiv verbunden sind wie Mariazinha, Rosinha, Pedrinho oder Zezinho. Andere Namen der Crianças lauten Cosme, Damião, Doum, die auf ihre katholische Liierung bzw. ihren afrikanischen Hintergrund verweisen. Letzterer verehrt die Kinder-Geister Ibeji noch als Orixás, als ZwillingsGottheiten des Spaßes und der Freude. Manche Traditionen kennen noch ein drittes, jüngeres Kind namens Doum, das den Zwillingen bei ihren Aufgaben helfen soll. In den katholischen Heiligen Kosmas und Damian, die ebenfalls Zwillinge waren, fanden die AfrikanerInnen in Brasilien ihre Kinder-Götter wieder. Die Umbanda hingegen verehrt sie nicht als Orixá, sondern reiht sie in die typologisierten Geister des Lichts ein. Ihrem jungen Alter entspricht das kindliche Verhalten während der Inkorporation, so dass auch erwachsene Medien am Daumen lutschen, auf dem Boden sitzen, krabbeln oder hüpfen. Sie spielen fröhlich und selbstvergessen mit verschiedenem Spielzeug wie Puppen, Autos oder anderen Gegenständen, die man ihnen gibt. Oft zanken die Kinder miteinander, weinen und verschaffen sich lauthals und kreischend Gehör. Sie essen am liebsten Süßigkeiten, knabbern an Brot und trinken Limonade, wonach sie in Kindersprache verlangen. Unbekümmert sagen die Crianças, was sie denken, und treiben ihre nicht immer unschuldigen Späße. Diese rechtfertigen sie mit dem Hinweis, dass sie ja noch nicht groß seien.449 Insofern bewegen sie sich in einem Spannungsfeld zwischen Aufrichtigkeit und Naivität einerseits und Ungezogenheit und Egoismus andererseits. Ebenso wie die Pretos/as Velhos/as leben Crianças im häuslichen Bereich der zivilisierten Welt. Im Gegensatz zu jenen sind sie aber nicht nur Weiße, sondern auch die Kinder der Herrschaften und werden künftig selbst die HerrInnen sein. Aus diesem Grund verhalten sie sich fordernd, ungehorsam und respektlos. Dies wirkt sich wiederum auf ihre Ratschläge aus, die sie in den Konsultationen erteilen und die härter ausfallen als beispielsweise die der Alten Schwarzen. Allerdings nehmen die Crianças selten an den Konsultationen teil, da diese als Arbeit gelten, was aber nichts für Kinder ist. Daher ergibt sich hier eine Trennung zwischen den erwachsenen Caboclos/as und Pretos/as Velhos/as und den jungen Crianças. Aus dem kultischen Leben sind sie dennoch nicht ausgeschlossen, da ihnen aufgrund ihrer Unschuld auch die Kraft des spirituellen Reinigens zugeschrieben wird. Nach der Inkorporation eines Exus manifestieren oftmals die Kinder-Geister, „die mit ihrem Lächeln und unschuldigen Späßen einen möglichen Rest des Bösen 448 Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 29. 449 Vgl. Birman, P.: O que é Umbanda, S. 43.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

165

reinigen, das bis vor kurzem in der Form eines Geistes der Finsternis anwesend 450 war“ . 4.2.1.3.4

Exus und Pomba Giras

Die zweite Untergruppe in der Kategorie der typologisierten Geister bilden neben den Espíritos des Lichts die der Finsternis. Während jene vertrauenswürdig und gütig sind, gelten diese als unberechenbar und böse. Rituell arbeiten jene für das Gute und die Nächstenliebe, beschützen die KlientInnen und reinigen sie von 451 schlechten Energien. Diese gewähren ebenfalls Schutz und Reinigung, bewirken aber auch Böses für andere und zwingen ihnen einen fremden Willen auf. Demnach werden sie von Leuten konsultiert, die ihre eigenen, keineswegs selbstlosen Wünsche mit dem Ergehen Dritter in Verbindung bringen, so z.B. beim Liebeszauber oder beim Wunsch einer Krankheit für den Nachbarn, um ihn für eine Beleidigung zu strafen oder weil man ihn einfach noch nie mochte. Solche Handlungen werden ausschließlich von den männlichen Exus und weiblichen Pomba Giras erbeten. Es ist allerdings engführend, alle Espíritos der Finsternis als gänzlich böse zu erachten. Denn sie können durchaus auch Gutes hervorbringen – umso mehr, wenn man sie gut behandelt. Dies entspricht dem ambivalenten Charakter dieser Geister, die im Gegensatz zu den anderen Gruppen nicht einzuschätzen sind. Die Gleichsetzung von Licht mit ’nur gut‘ bzw. Finsternis mit ’nur böse‘ ist jedoch zu plakativ und einfach. Dennoch wird dem Wunsch nach klar definierten Kategorien nachgegeben, indem manche UmbandistInnen die Exu-Gruppe wiederum in zwei Unterteilungen aufgliedern. Und erneut dienen gut und böse als Kriterien. Insofern gibt es dann die ’getauften Geister‘, die Gutes tun, wenn man verständig mit ihnen umgeht. Die ’heidnischen Geister‘ hingegen sind „unkontrollierbar und zum Zittern böse“452. Wie die Crianças ist auch Exu aus dem afrikanischen Pantheon in die Umbanda übernommen und vom Orixá zum untergeordneten Geistwesen geworden. Daher sind auch beide – im Gegensatz zu den Caboclos/as und Pretos/as Velhos/as bzw. in Übereinstimmung mit den Orixás – mit einer christlichen Figur liiert, mit der sie einzelne Merkmale teilen. Im Falle Exus ist sein Pendant der Teufel aufgrund beider Bosheit. In der Tradition der Yoruba nahm Exu als Bote die Mittlerposition zwischen allen Wesen ein. Daher besetzte er gleichsam die Schaltstelle, über die alle Botschaften liefen, und deren Inhalte ihm dadurch bekannt waren. Aus Bosheit oder Gaunerei leitete er jedoch nicht alle Nachrichten inhaltsgetreu weiter, sondern verschwieg oder erfand etwas hinzu. Die Ergebnisse seines Eingreifens, die vom Missverständnis über Streit bis hin zur blutigen Aus450 Ortiz, R.: A morte branca, S. 70. 451 Vgl. Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 271–277; speziell S. 272 f. 452 Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 29.

166

Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

einandersetzung reichten, beobachtete Exu lachend. Auch wenn die Abbildungen Exus ihn als Teufel mit Hörnern, Umhang und Dreizack zeigen, ist er nicht mit ihm in eins zu setzen. Ihm eignet zwar auch Boshaftigkeit, doch nicht ausschließlich, und von der christlichen Idee, der Gegenspieler Gottes zu sein, ist der Exu afrikanischer Herkunft weit entfernt. Die äußerliche Repräsentanz sollte lediglich als Deckmantel fungieren, nicht aber mit dem Inhalt fusionieren. Dennoch geht die Entsprechung zwischen Exu und Teufel in der Umbanda immerhin so weit, dass man ihn aus dem Kult lieber weitgehend ausschließt bzw. ihm nur eine kleine Rolle zukommen lässt. Die dämonisierten Exus inkorporieren daher selten, und ihre Anrufung wird eher auf Eingangszeremonien beschränkt, die sie bitten, die Kultsitzung nicht zu stören. Diese Beachtung stellt die Exus zumeist so zufrieden, dass sie wirklich nicht störend eingreifen; sie hingegen gar nicht zu beachten, könnte nach umbandistischer Meinung ihren Unmut wecken und sich negativ auswirken. Solche Terreiros aber, in denen die Exus und Pomba Giras eine zentrale Position innehaben, gehören der Quimbanda an. In dieser Abspaltung bzw. Ausprägung der Umbanda inkorporieren die Geister der Finsternis ungleich häufiger, so dass die Quimbanda in dem Ruf steht, für das Böse zu arbeiten und schwarze Magie zu praktizieren. Dem Candomblé liegt das Problem des dämonisierten Exu fern, da er hier als der durchtriebene Bote der afrikanischen Tradition gilt. Dahingegen ist „die Unterscheidung zwischen der Umbanda und der Quimbanda […] eine Konsequenz der Identifikation von Exu mit dem Teufel“453. Die strategisch günstige Stellung, die der Exu bei den Yoruba einnahm, wandelte sich in der Umbanda zur Straße und insbesondere zur Kreuzung als seine Lebensbereiche. Auch hier obliegt ihm eine gewisse Kontrolle und Macht, zwar nicht über Informationen, aber über Wege und Zugänge. An solchen Plätzen werden ihm ebenso wie an Friedhöfen, die auch als seine Herrschaftsgebiete gelten, kleine Opfer dargebracht, um ihn gewogen zu stimmen. Auch am Eingang des Terreiro, der zwischen profanem und sakralem Raum trennt, ist Exu präsent. Daher wird für ihn eine kleine Hütte (ähnlich einer Hundehütte) im Vorhof oder an der Eingangstür positioniert und darin während der Sessão eine Kerze angezündet. Damit ist der Geist zufrieden und hindert schlechte Energien daran, in den Terreiro zu gelangen. Die ihm zugeschriebenen Bereiche verkörpern einen dritten Lebensraum neben der Natur der Caboclos/as und dem Haus der Pretos/as Velhos/as und Crianças. Exus und Pomba Giras „repräsentieren die ‚andere Seite‘ der Zivilisation, die marginale und zweifelhafte Seite“454. Die familiären Werte und Normen lehnen sie ab, ihre Welt ist keine private und häusliche, Mitgefühl und Loyalität liegen ihnen fern. Auch hinsichtlich ihrer moralischen Vorstellungen und ihres Benehmens stehen sie der Gesellschaft gegenüber. Während in

453 Ebd., S. 30. 454 Birman, P.: O que é Umbanda, S. 41.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

167

den Alten Schwarzen die demütigen und sich fügenden SklavInnen begegnen, erscheint Exu als der rebellierende Afrikaner im Erwachsenenalter. Im Hintergrund dieser Figur sehen manche UmbandistInnen das Idealbild des ungehorsamen Sklaven, der sich (wie die Caboclos/as) nicht unterdrücken lässt, sondern flieht. Zusammen mit anderen Entflohenen lebt er in Quilombos und organisiert den Kampf gegen die weißen HerrInnen. Andere erachten die Gauner von Rio de Janeiro als Vorbilder des umbandistischen Exu. Unabhängig vom dahinter stehenden Konzept sind Exus und Pomba Giras die AußenseiterInnen der Gesellschaft, die verachtet und gefürchtet werden. Das drückt sich auch in den Pontos cantados aus: „Spiel nicht mit der jungen Frau, denn sie ist eine Gefahr. Es ist die Königin Pomba Gira, Frau von sieben Ehemännern.“455 In anderen Vorstellungen verkörpert sie eine Prostituierte. Beide Konzeptionen erachten sie aber als ebenso gerissen wie den Gauner Exu. Mal werden sie als Paar gedacht, mal sind sie die je männliche oder weibliche Version dieser Geisterkategorie. Dahingehend stellen die Geister der Finsternis die einzige Gruppe dar, in der beide Geschlechter unterschiedlich (und nicht nur hinsichtlich des grammatischen Genus) bezeichnet werden. Eine weitere Besonderheit bzw. Ausnahme gegenüber anderen Espíritos besteht in der Verehrung durch Berufsgruppen, die sich einem Geist in besonderer Weise verbunden fühlen. Wie manche katholische Zimmerleute den Heiligen Josef als ihren Patron ansehen, so verehren manche umbandistische Prostituierte Pomba Gira. „Die Freudenhäuser in São Paulo haben immer nahe der Tür schwarze und rote Kerzen angezündet, Sektflaschen und/oder Blumen“456 stehen. Das Verhalten der Exus und Pomba Giras während ihrer Inkorporation ist in gleichem Maße charakteristisch wie das jeweilige Verhalten aller anderen Geister. Sie lachen laut, fluchen und schimpfen, erzählen derbe Witze und Anzüglichkeiten. Die Exus halten sich geduckt und sprechen mit tiefer, hohler Stimme. Sie rauchen Zigarre und trinken Schnaps und Rotwein. Die Pomba Giras hingegen tanzen wild und selbstvergessen und sprechen mit hoher, spitzer Stimme. Sie rauchen Zigaretten und trinken Sekt. Der Name ’Pomba Gira‘ weist wie ’Exu‘ auf afrikanische Traditionen, die eine Göttin namens ’Bambonjira‘ kannten. Ebenso wie in den anderen Kategorien greifen ihre Eigennamen, die wiederum wenig afrikanisch klingen, einzelne Eigenschaften und Lebensbereiche auf. Die Exus heißen z.B. Tranca Rua (Straßenschließer), Sete Encruzilhadas (sieben Wegkreuzungen), João Caveira (Johannes Totenkopf). Häufige Namen der Pomba Giras lauten Maria Molambo (Maria Lump), Maria das Estradas (Maria der Straßen) oder Maria Padilha (Maria Gaunerbande). Dass ein Geist der Finsternis familiär mit ’Oma‘, ’Vater‘ oder ’Tante‘

455 Figge, H.H.: Geisterkult, S. 335. 456 Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 271.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

angesprochen würde wie die Pretos/as Velhos/as, ist ebenso abwegig bei den Caboclos/as. Übersicht über die typologisierten Geister (I)

457

Geister

Lebensbereich

Platz in der Gesellschaft

Eigenschaften

Alter; Rasse / Hautfarbe

Caboclos & Caboclas

Natur, Wald

unabhängig von den Weißen

wild, stolz, kräftig, roh, ungelehrig, energisch, stur

erwachsen; Indios

Pretos Velhos &

Haus, mit der Familie, auch als HaussklavInnen, zivilisierte Welt

abhängig & kontrolliert von den HerrInnen, ihnen willfährig

ruhig, demütig, friedlich, liebevoll, weise, gütig

alt (Eltern, Großeltern); AfrikanerInnen

Crianças

Haus, zivilisierte Welt

abhängig von den HerrInnen

ungezogen, naiv, unschuldig, egoistisch, unbekümmert

jung; EuropäerInnen

Exus &

Straße, Friedhof, Kreuzung, marginale Welt

AußenseiterInnen, von den Weißen gefürchtet

ungehorsam, unberechenbar, rebellisch, böse, erotisch

erwachsen; AfrikanerInnen

Pretas Velhas

Pomba Giras

4.2.1.3.5

Weitere typologisierte Geister

Neben den vier angeführten Kategorien der typologisierten Geister existieren noch weitere, aber weniger zentrale Geistertypen. Daher sind sie zum einen in geringerem Umfang ausgestaltet und zum anderen seltener im Kult verehrt. Ihre Anzahl ist jedoch prinzipiell unerschöpflich, so dass z.B. jede Volks- oder Berufsgruppe neue Geistergruppen hervorbringen kann. Allerdings wird mit zunehmender Auffächerung die jeweilige Differenzierung erschwert. Indem allen Geister457 Diese Übersicht über die typologisierten Geister orientiert sich an der Vorlage von Patrícia Birman (Birman, P.: O que é Umbanda, S. 44), ergänzt sie allerdings durch weitere Angaben.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

169

gruppen je spezifische Eigenschaften, Lebensbereiche und Farben zugeordnet sein können, wird deren Anzahl und Varietät bald erschöpft. Hinzu kommt das typische Verhalten in der Inkorporation, das sich in Gestik, Mimik, Stimme, Sprache, Insignien, Getränken etc. äußert. Sind die Grenzen des Individuellen erreicht, entstehen Mischformen und Redundanzen. Anhand ihrer persönlichen Charakteristika macht sich jede Geistergruppe, die zugleich von diesen Stereotypen nicht abweichen darf, erkennbar. Dazu jedoch erfordert es nicht nur im Konzept, sondern auch in der Repräsentation eine deutliche Klarheit und Verschiedenheit. Ist dies nicht der Fall, so mögen die Espíritos zwar in ihren Eigenschaften (theoretisch) differenziert sein, aber in ihrer Inkorporation (praktisch) kaum zu unterscheiden. „Der phantasievolle Antrieb, neue mystische Wesenheiten zu schaffen, ist begrenzt durch die repräsentativen Forderungen.“458 Der Vielfalt steht somit die Eindeutigkeit gegenüber. Insofern ist die umbandistische Menge der Geister zwar erweiterbar, jedoch nicht unbegrenzt. Die bekannteren werden nachfolgend knapp skizziert. Lediglich um der Vollständigkeit willen weise ich hier darauf hin, dass es zudem ganze Völker gibt, die als typologisierte Geister Eingang in die Umbanda fanden: RömerInnen, PhönizierInnen, ChinesInnen, ÄgypterInnen, Inka, AraberInnen, GallierInnen u.a. Auch einzelne Religionsgemeinschaften wie die Hindus oder der Religionsstifter Buddha können durchaus einen Platz unter den umbandistischen Espíritos einnehmen. Eine große Ähnlichkeit lässt sich zwischen den Caboclos/as und den Oguns beobachten. Diese ausschließlich männlichen Soldaten-Geister, die dem kriegerischen Orixá Ogum unterstellt sind, werden wie die Indios als stolz und kräftig gedacht. In der Inkorporation lassen sie sich aufgrund der gleichen steifen und strengen Haltung und Mimik nicht unterscheiden. Allerdings ist die stereotype Gestik der Caboclos/as variantenreicher als die der wenig ausgeprägten Oguns. Um diese also genau zu identifizieren, benötigen sie weitere Differenzierungsmerkmale wie z.B. Insignien, die die Caboclos/as nicht haben. Als solche fungieren der rote Umhang, Rüstung und Helm sowie Schwert und Lanze – die vermeintlich typischen Attribute von Soldaten und damit dem Heiligen Georg ähnlich. Mit diesen Gegenständen, die sie wie römische Soldaten aussehen lassen, werden sie zudem abgebildet, auch wenn manche UmbandistInnen sie für afrikanische Soldaten halten. Außerdem besingen die Lieder nicht nur die kämpferischen Abenteuer der Oguns, sondern auch ihre Attribute. Auch die Ciganos und Ciganas sind an Kleidung und Schmuckstücken, die sie während der Inkorporation tragen, von anderen Geistergruppen zu differenzieren. Wie man sich die realen ZigeunerInnen vorstellt, so hat der Mann goldene Ohrringe, ein Tuch auf dem Kopf und ein Messer im Gürtel. Die Zigeunerin trägt einen weiten, bunten Rock, ein Tuch um die Schultern und goldene Halsketten. Wenn sie tanzt und lacht, Zigaretten raucht und Alkohol trinkt, ist sie hingegen 458 Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 263.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

kaum von einer manifestierten Pomba Gira zu unterschieden. Nach umbandistischer Ansicht gelangten die ZigeunerInnen nach Brasilien, da sie in Portugal von der Inquisition verfolgt und sodann deportiert wurden. Mit ihnen hielt „die Wis459 senschaft des Wahrsagens und der Magie des Orients“ Einzug in die Umbanda, die daher das Karten- und Handlesen praktiziert. Insofern wuchs nicht nur die Geistervielfalt, sondern auch das rituelle Repertoire der Umbanda. Die Berufsgruppe der Boiadeiros (Ochsentreiber) setzt sich ausschließlich aus männlichen Geistern zusammen. In den Abbildungen stehen sie aufrecht mit nacktem Oberkörper und Lasso über der Schulter hängend. In der Inkorporation ähneln sie hinsichtlich der Haltung und der Mimik wiederum den Caboclos/as, unterscheiden sich aber durch Lederhut und Lasso oder entblößtem Oberkörper. Eine weitere regionale Komponente erfährt die Umbanda durch die Geister der Baianos und Baianas, die aus dem Staat Bahia stammen. Dementsprechend sprechen sie mit nordöstlichem Akzent, und ihre Lieder handeln von der Gegend. Zudem singen sie von typischen Speisen, vom Tabak und vom Schnaps. Dieser wird z.T. mit Kokosmilch vermischt auch während der Inkorporation getrunken, weshalb die Geister sich meist leicht schwankend bewegen. Sie tanzen mit einer Hand am Gürtel, lachen, scherzen und rauchen. Etwas mehr betrunken verhalten sich die Marujos bzw. Marinheiros, Matrosen die auch während der Kultsitzung weiter Schnaps trinken. Als Seefahrer-Geister sind sie eng mit der Orixá Iemanjá verbunden, dem „Oberhaupt des ‚Volkes des Salzwassers‘“460. Die nur aus männlichen Geistern bestehende Gruppierung ist hinsichtlich Attributen oder sprachlichen Eigenheiten wenig ausgestaltet. Immerhin verweisen ihre Namen aber auf ihren Lebensbereich: João da Barca (Johannes vom Kahn) oder Zé do Porto (Sepp vom Hafen).

459 Oxumarê, S.d. / Oxossi, R.d.: O homem, os espíritos e o espiritismo, S. 85. 460 Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 234.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

Übersicht über die typologisierten Geister (II)

171

461

Geister

Verhalten in der Inkorporation

Farbe, Festtag, Liierung

Caboclos & Caboclas

stehen aufrecht & steif mit ernster Mine; steifer Gang; schlagen die Fäuste gegen die Brust; halten den linken Arm auf dem Rücken und den rechten angewinkelt vor dem Körper mit erhobenem Zeigefinger; tragen Pfeil, Bogen, Schleuder, Lanze & Federschmuck; sprechen gebrochen Portugiesisch, benutzen indianische Ausdrücke, kräftige & klare Stimme; rauchen Zigarre; trinken Bier & Wasser

grün, gelb, weiß

Pretos Velhos &

gekrümmte Haltung, gehen auf einen Stock gestützt mit dem linken Arm auf dem Rücken, sitzen meist; tragen Strohhut, Kopftuch; sprechen mit starkem Akzent und afrikanischen Ausdrücken; leise Stimme; rauchen Pfeife; trinken süßen Wein

schwarz, weiß; 13.5.

Crianças

hüpfen, krabbeln, sitzen auf dem Boden, spielen mit Puppen und anderem Spielzeug, weinen, zanken, lutschen am Daumen & Schnuller; sagen, was sie denken; sprechen in Kindersprache; kreischender Tonfall; essen Süßigkeiten & Brot; trinken Limonade

hellblau, rosa; 27.9.; Hlg. Kosmas & Damian

Exus & Pomba Giras

geduckte Haltung, tanzen wild, fluchen, erzählen derbe Witze, lachen laut; tiefe/hohe Stimme; rauchen Zigarre & Zigaretten; trinken Schnaps, Wein & Sekt

schwarz, rot; Teufel

Oguns

steif, ernst, konzentriert; tragen Schwert & Lanze, Rüstung, roten Umhang & Helm (wie römischer Soldat) oder afrikanisch-artige Kleidung (wie afrikanischer Soldat); sprechen wenig und mit tiefer Stimme; rauchen Zigarre; trinken Bier

rot; 23.4.; Hlg. Georg

Pretas Velhas

(nur ♂)

Ciganos & Ciganas

♂: gehen umher mit einer Hand am Gürtel, tragen ein Tuch auf dem Kopf, goldene Ohrringe & Messer im Gürtel; ♀: tanzen & schwenken ihren weiten Rock, laufen über Glut, lachen, tragen ein Tuch um die Schultern & goldene Halsketten; sprechen eine Art ’altes Spanisch‘; rauchen Zigaretten, trinken Whiskey und Cognac

461 Eine wenig ausführliche Übersicht findet sich in: Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 251 f. Davon unterscheidet sich die von mir erstellte Übersicht in der Aufnahme des Verhaltens während der Inkorporation. Unter dem Aspekt der Festtage einiger Geistertypen, das historische Ereignis und die dargebotene Nahrung berücksichtigend, wird eine ergänzende Zusammenstellung angeführt in; Silva, I.S.d.: Umbanda, S. 197.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Geister

Verhalten in der Inkorporation

Boiadeiros (nur ♂)

Aufrechte und steife Haltung; tragen Lasso & Lederhut; nackter Oberkörper; trinken Bier; rauchen Zigaretten

Baianos & Baianas

bewegen sich leicht schwankend mit der Hand am Gürtel, lächeln, scherzen, tanzen; tragen Strohoder Lederhut; sprechen mit nordöstlichem Akzent und verwenden Regionalismen; rauchen Zigaretten; trinken Schnaps (pur oder mit Kokosmilch vermischt)

Marujos / Marinheiros (nur ♂)

bewegen sich leicht schwankend vor Trunkenheit; sprechen wenig; trinken Schnaps; rauchen Zigaretten

4.2.1.4

Farbe, Festtag, Liierung

Die leidenden Verstorbenen

Abgesehen vom höchsten Gott, den weit entwickelten Orixás und den typologisierten Geistern bevölkert noch eine weitere Kategorie den umbandistischen Kosmos. In der Hierarchie unterhalb jener drei stehen die Espíritos von Verstorbenen, also von Menschen, die tatsächlich bis vor kurzem gelebt haben. Sie unterstehen der Orixá Iansã, der Herrin über die Toten. Gemäß der umbandistischen Lehre ist ihre Biografie eine reale und individuelle Lebensgeschichte und demnach weder eine Ableitung aus der Mythologie (wie bei den Orixás) noch eine Stereotype der Historie einer Volksgruppe (wie bei den Pretos/as Velhos/as). Daher können sie ihren Vor- und Zunamen angeben, Adresse, Alter, Todesdatum und -ursache. Sie sind Einzelfiguren, denen keine stereotypen Charakteristika eignen. Eine interne Aufgliederung in weitere Untergruppen wie bei den typologisierten Geistern entfällt somit. Allerdings repräsentiert diese Gruppe bereits eine Auswahl aus der Menge der Verstorbenen. Es sind bei weitem nicht alle Toten, die sich hier versammeln, sondern nur diejenigen, die ihren Tod nicht erkennen. Die UmbandistInnen sehen in ihnen Leidende (port. ’sofredores/as‘; im Candomblé ’eguns‘ genannt), die nicht wissen, wo sie nach ihrem Tod hingehen sollen. Ebenso wie in der Vorlage des Kardecismus ’geistern‘ sie sozusagen noch in dieser Welt herum und beeinträchtigen die Lebenden bis hin zu deren Schädigung. Diese Ausweglosigkeit kann sie zu einem Terreiro führen, der sich ihrer rituell annimmt. Dazu müsste sich der sehr geringe Entwicklungsgrad der Sofredores/as anheben und von der Finsternis mehr zum Licht kommen. Von einer solchen Praxis berichtet ein Umbanda-Priester: „Ein leidender Geist, nun, er hat nichts, wohin er kommen kann, er fällt nun in eine Kultstätte, die Leute müssen nun jeden Tag um

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

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Licht für ihn bitten und um Kraft […], um sich zu entwickeln.“ Ein anderes Ritual, das sich den Geistern der Verstorbenen widmet, ist eine Art Exorzismus, der sie von der Welt der Lebendigen entfernen und in eine andere Welt schicken soll. Solches käme sowohl den geschädigten Lebenden als auch den leidenden Toten zugute. Jedoch auch außerhalb des Kultes, was im Übrigen die Regel ist, können (noch nicht befreite) Sofredores/as auftreten bzw. wirken, so z.B. in Träumen oder Visionen. Obwohl sie vermeintlich tatsächlich gelebt haben, sind die Verstorbenen den Mitgliedern des Terreiro nicht bekannt. Vielmehr stellen die leidenden Espíritos trotz ihrer Daten eine anonyme Menge dar. Keiner erinnert sich an sie zu ihren Lebzeiten. Dass ein/e UmbandistIn Bekannte oder Verwandte unter ihnen wiederfindet, ist daher mehr als unwahrscheinlich. Stattdessen werden die Geister gewissermaßen erst zu Bekannten, indem sie einem lebenden Menschen häufig begegnen. Vorher aber kannte sie niemand. Der Gedanke des/r UmbandistIn an sein/ihr eigenes Leben nach dem Tod bzw. an das eines anderen Mediums richtet sich nicht auf eine Existenz als Sofredor/a. Sofern er/sie überhaupt eine Kontinuität zwischen irdischem Menschsein und umbandistischem Geistsein glaubt, würde er/sie vermutlich der Gruppe der Exus und Pomba Giras angehören. Im Allgemeinen jedoch ist diese Frage erstaunlich wenig ausgestaltet und beantwortet. Letztlich ist „das postmortale Schicksal der Gläubigen ein blinder Punkt des Kultes […], der den Händen anderer religiöser Gesetzbücher, dem Katholizismus und dem Kardecismus, überlassen wird“463. 4.2.1.5

Die kosmologische Ordnung

Die Zuordnung der Vielfalt der Geister zu einzelnen Kategorien ist nur eines von mehreren Elementen, die den umbandistischen Kosmos in sich gliedern. Ein weiteres stellt seine Aufteilung in drei Ebenen dar, denen die jeweiligen GeisterKategorien angehören. Der höhere astrale Raum wird vom höchsten Gott, den Orixás und einigen Gruppen der typologisierten Espíritos sowie den Verstorbenen bewohnt. Die Exus und Pomba Giras als böse und unentwickelte, jedoch sehr mächtige Geister der Finsternis hingegen siedeln im niederen astralen Raum. Als dritte Ebene fungiert die Erde, der physische Raum, wo sich die Geister der beiden anderen Bereiche vorübergehend aufhalten können. Ihre Inkorporation im menschlichen Medium, die die Verbindung mit Materie bedeutet, gilt als ein zeitlich begrenzter Besuch. Dieses Modell, das der Umbandist Francisco Rivas Neto vertritt, wird von der Anthropologin Diana Brown ähnlich, jedoch anders dargelegt, was einige Akzentverschiebungen nach sich zieht.464 Zum einen bezeichnet sie jene Ebene der Exus 462 Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 244; Auszug aus einem Interview. 463 Ebd., S. 257. 464 Vgl. Rivas Neto, F.: Lições basicas, S. 33; Brown, D.D.: Umbanda, S. 54.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

und Pomba Giras als ’underworld‘ und zum anderen die Erde als ’intermediate plane‘. Zwar erfolgt keine weitere begriffliche Ausgestaltung der Hierarchie zwischen den Ebenen, doch halte ich die beiden verwendeten Formulierungen für ausreichend, um eine lokale Differenzierung vertikaler Art zu benennen. Während beide Modelle noch bei der höchsten Ebene übereinstimmen, weist Rivas Neto der Ebene der Exus den zweiten Rang zu, wohingegen Brown sie in die Unterwelt, also auf die unterste Ebene, platziert. Diese Variante erinnert – obwohl nicht explizit ausgeführt – an die im christlichen Volksglauben bekannte kosmische Dreiteilung in Himmel, Erde und Hölle. Hierbei werden der Himmel, wo Gott wohnt, oben und die Hölle, wo der Teufel wohnt, unten gedacht. Zugleich scheint die Lokalisierung des höchsten Gottes der Umbanda in ’the astral spaces‘ in diese Richtung zu weisen, ebenso wie die Bezeichnung der Exus als ’evil‘ und ’harmful spirits‘ an ihre Liierung mit dem Teufel. Doch wie in der Umbanda die Liierung von Exu mit dem Teufel keine Gleichsetzung ist, so nimmt im umbandistischen Kosmos die Erde auch keine Mittelstellung ein. Als materielle Welt steht sie immer unter der immateriellen, auch wenn diese sich ihrerseits in eine höhere und niedrigere Ebene unterteilt. Die Darlegung Browns ist demnach nicht nur verzerrt, sondern irreführend. Ein drittes Strukturelement, das nun die Vielheit der Geister ordnet, begegnet im hierarchischen System der Linien. An oberster Stelle dieser militärisch organisierten Hierarchie steht Gott. Die darunter liegende Stufe nehmen die sieben Linien (’linhas‘) ein, die von einzelnen Geistern angeführt werden. Sowohl die Siebenzahl als auch die Positionierung der ’Linha de Oxalá‘ (zudem unter der Leitung von Oxalá) an erster und der ’Linha das Almas‘ an siebter Stelle sind weitgehend Gemeingut der zahlreichen umbandistischen Terreiros. Alles andere jedoch, d.h. die Namen der Linien, deren AnführerInnen und die nachfolgenden Untergliederungen weichen stark voneinander ab. Francisco Xavier da Silva legt eine Aufgliederung des Kosmos vor, die durch ihre Verbindung mit Personen und Engeln der Bibel das christliche Moment der Umbanda hervorhebt.465 Als zweite Linie benennt er den ’Hof von Oxum‘ bzw. die ’Linha de Iemanjá‘ (wobei dies zwei gänzlich verschiedene Orixás sind), die von Maria, der Mutter Jesu angeführt wird. Johannes der Täufer leitet die dritte ’Linie des Orients‘, der hinduistische, ägyptische, phönizische, aztekische, arabische und japanische Espíritos ebenso angehören wie der Geist des Josef von Arimathäa. Die vierte Linie ist die des Oxóssi und wird vom Erzengel Gabriel geführt. Gemäß der Entsprechung zwischen afrikanischem Orixá und katholischem Heiligen müsste diese Aufgabe hingegen dem Heiligen Sebastian zufallen. Ähnlich verhält es sich bei den beiden nachfolgenden Linien. Die fünfte ’Linha de Xangô‘ wird nicht vom Heiligen Hieronymus, sondern vom Erzengel Raphael geleitet. Und auch die sechste ’Linha de Ogum‘ leitet der Erzengel Michael an Stelle vom Heiligen Ge465 Vgl. Silva, F.X.d: Saravá Umbanda, S. 35–39.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

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org. Die siebte Linie nennt Silva nicht ’Linha das Almas‘, sondern ’Linha Africana‘ oder ’Linie des Heiligen Cyprians‘, womit jedoch die gleichen Geister gemeint sind, nämlich diejenigen afrikanischer Herkunft: das Volk aus Angola, dem Kongo, Guinea oder Moçambique. Die gleiche Linien-Aufgliederung und -Benennung nimmt auch Delcyr de Sou466 za Lima vor, wobei er aber die zweite Linie eindeutig Iemanjá zuordnet. Die Führerschaft der Linien schreibt er jeweils dem katholischen Pendant des namengebenden Orixá zu, wonach beispielsweise der Heilige Sebastian die ’Linha de Oxóssi‘ leitet. Die nicht nach einem Orixá benannten ’Linha do Oriente‘ und ’Linha Africana‘ werden in Ermangelung einer Liierung von Johannes dem Täufer und dem Heiligen Cyprian geführt. Nichts jedoch deutet auf die Führung einer einzelnen Linie durch einen Erzengel hin. Stattdessen kommt dem Erzengel Michael eine höhere Aufgabe zu, denn er „ist die Wesenheit, die Gott beauftragt hat mit der Leitung aller inkarnierten und nicht-inkarnierten Geister um den Planten Erde herum. Er ist folglich der König der Umbanda“467. Weitere oder nähere Erläuterungen unterbleiben leider. Noch weniger durch christliche Figuren geprägt ist das Modell von Woodrow Wilson da Matta e Silva, der als ein umbandistischer Autor gelobt wird, der „es schaffte, besser als die anderen religiösen Theoretiker, das spirituelle Universum 468 in kohärenter und tiefgehender Form zu durchdenken“ . Er benennt fünf der sieben Linien nach Orixás, die ihre je eigene Linie anführen. Dabei unterlässt Matta e Silva zudem beinahe jeden Hinweis auf christliche Entlehnungen oder Entsprechungen, so dass (mit einer Ausnahme) weder die liierten Heiligen noch die Erzengel o.a. namentliche Erwähnung im Kosmos der Umbanda finden. Die liierten Heiligen können zwar durch synonyme Verwendung an Stelle der führenden Orixás genannt werden, doch nimmt Matta e Silva selbst das nicht vor. Der christliche Einfluss und die synkretistische Vermischung treten somit in den Hintergrund. Die zweite Linie ist die ’Linha de Iemanjá‘, die dritte die ’Linha de Xangô‘, die vierte die ’Linha de Ogum‘ und die fünfte die ’Linha de Oxóssi‘. Bei der sechsten Linie weichen allerdings Name und führende Person voneinander ab: Die ’Linha das Crianças‘, auch ’Linha de Yori‘ genannt, wird von den Zwillingen Kosmas und Damian geleitet. Die siebte Linie wiederum ist die ’Linha das Almas‘ bzw. ’Linha dos Pretos Velhos‘ oder ’Linha de Yorimá‘, die zwar verschieden lauten, aber das gleiche bezeichnen. Dieser Linie steht als einziger kein/e AnführerIn vor. 466 Vgl. Lima, D.d.S.: Analisando crenças espíritas e umbandistas, Rio de Janeiro 1970, S. 110 f. 467 Ebd., S. 111. Lima führt hier selbst ein Zitat an, das er von Lourenço Braga übernommen hat (Braga, L.: Umbanda e Quimbanda, S. 17). Hieran zeigt sich deutlich, wie durch das Medium Literatur die umbandistische Lehre einerseits verbreitet und andererseits vereinheitlicht wird. 468 Ortiz, R.: A morte branca, S. 72. Dies scheint einer der Gründe zu sein, weshalb auch Patrícia Birman und Diana Brown in ihren wissenschaftlichen Untersuchungen gerne auf die Darlegungen dieses Umbandisten zurückgreifen. Im Folgenden Silva, W.W.d.M.e: Umbanda de Todos Nós, S. 59–86.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Hinsichtlich der Benennung der Linien nach verschiedenen Orixás also stimmen Silva und Matta e Silva – abgesehen von der Unklarheit des ersteren bzgl. Oxum und Iemanjá – überein. Lässt man zudem den von Silva postulierten christlichen Bezug außer Acht, der m.E. die kosmologische Ordnung mehr stört als klärt, so ergeben sich letztlich in nur einem Punkt gravierende Abweichungen: die Linie des Orients bzw. die Linie der Kinder. Beiden gehören typologisierte Geister an, und beide stehen neben der siebten Linie der Pretos/as Velhos/as. Die Zurechnung der orientalischen Espíritos zu einer eigenen Linie scheint häufiger aufzutreten, wenn man die Übersicht von Diana Brown dahingehend für aussagekräftig halten will.469 Es gibt jedoch auch andere Modelle, die den Kosmos in sieben Linien unterteilen und diese auch anderen Orixás unterstellen. Demnach können in umbandistischen Terreiros durchaus auch Oxum und Iansã eigene Linien anführen. Jede einzelne Linie ist wiederum siebenfach untergliedert, nämlich in Legionen, denen je ein/e AnführerIn vorsteht. Diese sieben Legionen teilen sich ihrerseits in sieben Phalangen, die auch von einem Geist geführt werden. Weiterhin setzt sich eine Phalanx aus sieben Sub-Phalangen zusammen, denen ebenfalls ein/e LeiterIn vorsteht. Diese Liste lässt sich unbegrenzt weiterführen. Das System der siebenfachen Gliederung, die sich auch durch die unterteilten Gruppen fortsetzt, existiert einheitlich in den Terreiros der Umbanda. Wie allerdings die einzelnen Unterteilungen genannt werden470, variiert ebenso sehr wie die jeweils zugehörigen Geister und deren AnführerInnen. Die sieben Espíritos einer Linie erfüllen zudem verschiedene Funktionen. Ein/e WächterIn bewahrt die Einheit der Linie und die anderen sechs Geister fungieren als VermittlerInnen zu den anderen Linien, wobei jede/r für eine bestimmte Linie zuständig ist. Der ’Linha de Iemanjá‘ beispielsweise dient die Cabocla Yara als Wächterin und die Cabocla Sereia do Mar (’Sirene des Meeres‘) als Vermittlerin zur ’Linha de Ogum‘. Auf diese Weise wird die militärisch anmutende vertikale Strukturierung des umbandistischen Kosmos durch eine horizontale Vernetzung ergänzt. Unterhalb dieser Ebenen sind die ’führenden Geister‘ (’guias‘) und noch weiter unten, aber immer noch im astralen Raum, die ’beschützenden Espíritos‘ (’protetores‘) zu verorten. Während letztere weder namentlich identifiziert noch überhaupt differenziert sind, stehen erstere in enger persönlicher Verbindung zu den 469 Vgl. Brown, D.D.: Umbanda, S. 55. Die in der Übersicht angeführten Autoren, die die ’Linha do Oriente‘ ebenfalls nennen, sind: Braga, L.: Umbanda e Quimbanda; Fontenelle, A.: Umbanda através dos séculos. 470 In diesem Fall gebe ich die Gliederung nach Renato Ortiz wieder (Ortiz, R.: A morte branca, S. 76). Genauso gut hätte ich mich an den Bezeichnungen von Diana Brown, die von Legionen, Sub-Legionen, Phalanx und Sub-Phalanx spricht, orientieren können (Brown, D.D.: Umbanda, S. 55). Weniger deutlich äußert sich Delcyr de Souza Lima, der Legion und Phalanx als Synonyme anbietet, dann aber große und kleine Phalanx anführt (Lima, D.d.S.: Analisando crenças, S. 110). Die prinzipiell mögliche Weiterführung der Untergliederung wird nicht mehr begrifflich erfasst, sondern lapidar als ’etc.‘ (Lima) oder ’und so weiter‘ (Ortiz) abgetan.

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Menschen. Ihre Anzahl ist unüberschaubar, unbegrenzt und nicht weiter klassifizierbar als die Zugehörigkeit zu einer Kategorie der typologisierten Geister. Jedes Medium hat mindestens einen Guia, „einen Geist, an den er sich mit größerer 471 Leichtigkeit wendet und den er in besonderer Weise schätzt“ . Daher konsultiert das Medium seinen Guia, wenn es Rat oder Hilfe sucht, und dankt ihm mit Geschenken. Die Zahl der Guias, die ein Medium hat, nimmt zu, je älter, wichtiger oder höher es in der Hierarchie des Terreiro steht. Über die meisten Guias verfügt generell der/die KultleiterIn, indem er/sie an der Spitze der kultischen Ordnung steht. Er/Sie kann jeden einzelnen seiner/ihrer Guias um Rat in der gleichen Angelegenheit ersuchen, woraufhin entsprechend viele unterschiedliche Ratschläge zu erhalten sind. Denn jeder Geist denkt und verhält sich seinem Charakter gemäß, so dass z.B. Pretos Velhos milder urteilen als die stolzen Caboclas. 4.2.2 Die Arbeit der Geister und das Handeln der Menschen Wenn ein Geist seinen üblichen Aufenthaltsort, den astralen Raum, verlässt, um sich auf der Erde in einem menschlichen Medium zu manifestieren, so bezeichnen dies die UmbandistInnen mit unterschiedlichen Ausdrücken. Der Geist ’steigt herab‘ oder ’lässt sich herunter‘, was die räumliche Dimension ausdrückt. Zugleich ’besteigt er das Pferd‘ bzw. ’den Apparat‘, womit die Inkorporation und Annahme eines physischen Körpers gemeint ist. Der Sinn dieses Geschehens gründet in zweierlei Vorstellungen: Zum einen hilft der Geist den Gläubigen, zum anderen nützt er dadurch auch sich selbst. Der Mensch hingegen ist keineswegs passiver Klient des Geistes, sondern kann jenem in seinem Wohlwollen durchaus aktiv nachhelfen. Insofern arbeiten und handeln beide Parteien für sich selbst, woraus sich als Nebenprodukt auch Vorteile für die andere ergeben. 4.2.2.1

Die Arbeitsfelder der Geister

Die Gründe, warum man zum ersten Mal einen Umbanda-Terreiro aufsucht, sind vielfältig: eine Krankheit, Arbeitslosigkeit, Schulden, eine Pechsträhne, Sehnsucht nach Liebesglück, Streit mit der Familie oder mit Freunden. Letztlich stimmen jedoch diese mehr oder minder alltäglichen Probleme darin überein, dass sie für den Menschen eine Krisensituation bedeuten, die er alleine nicht zu bewältigen glaubt. Anstelle z.B. ins Krankenhaus, zum Arbeitsamt oder zur Partnervermittlung, die eventuell sogar schon vorher – allerdings erfolglos – kontaktiert wurden, geht der/die Hilfesuchende sodann zur Umbanda. Aufgrund der hier angebotenen Heilung, insbesondere medizinischer Art, ist der Terreiro in abgelegenen oder armen Wohngegenden nicht selten der einzige Zufluchtsort. Darüber hinaus bleiben die Kosten weit unter denen einer Behandlung in Klinik oder Arztpraxis. 471 Birman, P.: O que é Umbanda, S. 30.

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Gleiches gilt üblicherweise für die empfohlenen Heilmittel und ihre Anwendung, wie z.B. das Waschen des Kopfes mit Kamillentee, um Wunden an verschiedenen 472 Stellen des Körpers zu heilen. Die Schilderung der Notlage erfolgt in einem Einzelgespräch mit einem/r PriesterIn oder einem Medium, um „die spirituellen Ursachen der kritischen Situation zu ermitteln und festzustellen, welcher Geist für die Lösung des Problems am 473 ehesten ‚kompetent‘ erscheint“ . Bei Krankheitsfällen gelten Caboclos/as und Pretos/as Velhos/as als SpezialistInnen, bei beruflichen Angelegenheiten die Wege öffnenden Exus und in Liebesdingen die Pomba Giras. Sofern die Krisen überhaupt auf einen Grund zurückgeführt werden, spricht man häufig und schnell von schwarzer Magie und Schadenszauber, der über jemanden verhängt wurde. Als ein anderer Grund kommt jedoch auch in Frage, dass sich der/die Betroffene zum Medium ausbilden lassen soll. Oftmals bedient sich ein Geist einer Krankheit oder Unglücksfällen als Indikatoren, die seinen Wunsch anzeigen sollen, sich in jenem/r Erkrankten zu inkorporieren, der/die (noch) kein Medium ist. Mit der Ausbildung und Initiation in die Medienschaft endet jene Krise dann.474 Einzelkonsultationen in Problemlagen dienen nicht nur zur ersten Kontaktaufnahme, sondern stehen allen Hilfsbedürftigen jederzeit zur Verfügung. Auf diese Weise bildet sich um den Terreiro, dessen LeiterIn und Medien eine Bedarfsklientel, die sporadisch oder regelmäßig das Angebot der Umbanda in Anspruch nimmt. Neben individueller, zeitintensiver Beratung – erst durch ein Medium, dann durch einen inkorporierten Geist – bietet der Terreiro auch allgemeine, öffentliche Kultsitzungen an. Deren Teilnehmerzahl ist höchst variabel, da abgesehen von der Person des/r KultleiterIn sowohl die Anzahl der Medien, KultmusikerInnen und HelferInnen sowie der Klientel bzw. der Laufkundschaft stark schwankt. Bei solchen Sessões inkorporieren mehrere Geister eines Typs gleichzeitig, so dass z.B. fünf verschiedene Caboclos/as oder fünf Mal der Orixá Ogum anwesend ist. Erst nach Verabschiedung und Exkorporation des einen Geister-Typs kann ein anderer gerufen werden, wie z.B. sieben Crianças oder die Orixá Iansã in drei Medien. Die Konsultation der manifestierten Geister erfolgt ebenfalls gleichzeitig.

472 „Der Preto Velho ordnete an, den Kopf [...] dreimal am Tag mit Kamillentee zu waschen. Innerhalb von zwei Tagen waren die Verletzungen geheilt. Dieses Heilmittel funktionierte wirklich; ich benutze es bis heute. Ich wasche jedwede Wunde mit Kamillentee“; Auszug aus einem Interview, in: Knauth, D.R.: A doença e a cura nas religiões afro-brasileiras do Rio Grande do Sul, in: Oro, A.P. (org.): As religiões afro-brasileiras do Rio Grande do Sul, Porto Alegre 1994, S. 89–103, hier S. 99. 473 Reuter, A.: Voodoo, S. 105. 474 Vgl. hierzu beispielsweise die Geschichte eines Mannes, der innerhalb einer kurzen Zeitspanne mehrere Autounfälle hatte, wovon der letzte ihn ins Krankenhaus brachte. Auf einen Ratschlag hin wandte er sich nach seiner Entlassung an eine Umbanda-Priesterin, die ihm die Medienschaft nahelegte. Seit deren Aufnahme hatte er keinen weiteren Unfall mehr (Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 139 f.).

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Alle Espíritos empfangen je eine/n KlientIn, dem/r nach Beendigung der/die nächste folgt. Manche Terreiros handhaben die Zusammenführung von Ratsuchendem/r und Geist in sehr geordneter Weise, indem HelferInnen den/die KlientIn aus dem profanen Raum abholen und ihn/sie zu einem gerade unbeschäftigten Espírito im sakralen Raum geleiten. Nach Beendigung geht man zu seinem Platz zurück. In anderen Terreiros stellen sich die Menschen selbst bei dem Geist an, den sie konsultieren wollen. Daher kann sich bei einem beliebten und renommierten Espírito eine längere Schlange bilden. Außerdem ist es den Gläubigen möglich, mehrere Geister nacheinander aufzusuchen; wenn die Antwort des einen nicht zusagt, holt man noch eine zweite oder dritte Meinung ein. Ungefähr ein- bis dreimal pro Woche findet eine Sessão statt, an der jede/r Interessierte teilnehmen kann; unabhängig von Wohnort, Mitgliedschaft oder Religionszugehörigkeit. Die BesucherInnen können demnach in unmittelbarer Nachbarschaft oder am anderen Ende der Stadt wohnen, sie können GelegenheitsteilnehmererInnen oder Angehörige des Terreiro und UmbandistInnen, KatholikInnen oder LutheranerInnen sein. Insofern trifft sich in jeder Kultstätte eine lose Gemeinschaft, deren Zusammensetzung stark flukturiert und die sich vorrangig dem/r KultleiterIn oder den Medien persönlich verbunden weiß. Würde diese persönliche Komponente nicht bestehen, gingen die AnhängerInnen in einen anderen, ihnen mehr zusagenden und erfolgversprechenderen Terreiro oder suchten gar in einer anderen Religion Rat und Hilfe wie in der Igreja Universal do Reino de Deus. Neben den gelegentlichen BesucherInnen, die wegen eines drängenden Anliegens, um der positiven Energien willen oder aus Neugierde kommen, nehmen an der Sessão auch passive UmbandistInnen teil. Sie können als Mitglieder im Terreiro eingeschrieben sein sowie einen finanziellen Monatsbeitrag leisten und erscheinen mehr oder weniger regelmäßig zur Sitzung. Allerdings fällt ihnen keine aktive Rolle während des Kultgeschehens zu, so dass sie sich von den GelegenheitsbesucherInnen nicht unterscheiden. Die Differenz zur christlichen Gemeinde besteht vorrangig darin, dass diese sich nicht ganz so locker und heterogen zusammensetzt. Die GottesdienstteilnehmerInnen gehören i.A. der gleichen Konfession an und wohnen, sofern sie nicht in der Diaspora leben, im näheren Umfeld ihrer Kirche. Ihre Verbundenheit ergibt sich weniger aus ihrer persönlichen Beziehung zum/r PfarrerIn, sondern wesentlich aus der ihnen gemeinsamen Religionszugehörigkeit. Insofern ist eine christliche Gemeinde statischer, geregelter und organisierter als eine umbandistische Anhängerschaft. Die Zuwendung, die die Klientel erfährt, bezeichnen die UmbandistInnen als ’Arbeit‘. Sowohl Medien als auch Geister arbeiten, um den hilfsbedürftigen Menschen beizustehen und deren Probleme zu lösen. Sie leisten damit ’caridade‘, also Mildtätigkeit und Nächstenliebe. Darin sieht die Umbanda nicht nur die funda-

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mentale Funktion des Terreiro, sondern auch von Religion. Das Medium handelt karitativ, indem es seinen Körper einem Espírito zur Verfügung stellt, der sodann seinerseits karitativ handelt. Der/Die KlientIn ist AdressatIn dieser Mildtätigkeit, übt jedoch selbst keine aus. Wenn die UmbandistInnen von der Nächstenliebe, der ’amor pelo próximo‘, sprechen, so erachten sie sie als ein „grundlegendes Prinzip 476 für den Umbandisten“ . Die AnhängerInnen und sporadischen Sessão-TeilnehmerInnen sind dabei nicht im Blick. Vielmehr sind sie EmpfängerInnen einer Dienstleistung, die sie selbst als Nicht-Medien nicht weitergeben können. Während also der Gedanke der Nächstenliebe als einzelnes Element aus dem christlichen Kontext übernommen wurde, bleibt das Ansinnen einer universellen Ethik zu477 rück. „Die Konsultationen sind Mittel, um caridade zu leisten“ . Solches erfolgt jedoch nicht nur im Gespräch mit dem Geist, sondern auch in der Befragung des Muschelorakels, im Kartenlesen oder im Chakra-Ausgleich.

Abb. 11: Ein Transparent am Eingang eines Terreiro nennt Glaube, Demut und Mildtätigkeit als Prinzipien der Umbanda.

Eine weniger persönliche Art der Behandlung, die v.a. in der öffentlichen Sitzung angeboten und wahrgenommen wird, sind die so genannten ’Passes‘. Auch wenn man kein Problem vorzubringen hat und gesund ist, nimmt man doch gerne diese spirituelle Reinigung entgegen. Die Passes gelten als „jene zauberhaften Gesten, 475 Vgl. Birman, P.: O que é Umbanda, S. 66. 476 Bobsin, O.: Entrevista com a sacerdotisa, S. 51; Auszug aus einem Interview. 477 Birman, P.: O que é Umbanda, S. 66.

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die den Wiederausgleich der energetischen Strömungen der Psyche bezwecken.“ Zugleich fungieren sie als apotropäische Riten, als Prävention gegen Schadenszauber, der von einem feindlich gesonnenen Mitmenschen in Auftrag gegeben sein kann. Da dieser Zauber durchaus sein Ziel verfehlen und anstelle des/r AdressatIn eine ihm/r nahe stehende Person (z.B. den Sohn anstelle der Mutter) treffen kann, ist diese Art der magischen Vorbeugung auch denen dienlich, die keine Feinde haben. In der Konsultation streicht der Geist, sei es mit seinen Händen, mit dem Rauch einer Zigarre (Caboclo/a) oder mit einem ihm eigenen Gegenstand wie dem Schwert (Ogum), alles Schlechte von dem/r KlientIn ab. Der Körper wird dadurch gegen schlechte Energien verschlossen und abschließend gesegnet. Während der Segen auf katholischen Einfluss zurückgeht, sind die Passes selbst kardecistischer Herkunft. Diese universal anwendbare Behandlungsmethode kann sich auch auf Gegenstände richten, die man mitbringt (beliebt sind Wäschestücke). Ihre Arbeit, die auch als eine ’Erste Hilfe‘479 gesehen wird, bleibt für die Geister nicht ohne Ertrag – abgesehen von der zu erbringenden Gegenleistung der KlientInnen (s.u.). Sie arbeiten letztlich auch für sich selbst, indem sie ihren Entwicklungsgrad verbessern können. Die Orixás sind so weit entwickelt, dass sie die Arbeit im Terreiro nicht nötig haben. Die typologisierten Geister hingegen stehen auf einer niedrigeren Stufe, streben aber nach einer höheren, so dass sie für die Zeit der Manifestation die Rückkehr zur Erde auf sich nehmen. In diesem Evolutionskonzept übernimmt die Umbanda die kardecistische Heilslehre, derzufolge die Erde eine von vielen Etappen auf dem Weg zur Vollendung darstellt. Verknüpft mit dem Karma-Prinzip bedeutet die neue Stufe den Ausgleich für die vorherige Stufe. Angewandt auf die zentralen umbandistischen Geister-Typen Caboclos/as und Pretos/as Velhos/as heißt das, dass sie in ihrem Leben als Verfolgte und SklavInnen viel gelitten haben, wofür sie mit der Aufhebung der Reinkarnationen belohnt wurden. „Ihr Leiden und ihre Wohltätigkeit hätte sie von ihrem Karma befreit, sie seien gereinigt und geistlich emporgestiegen“480. Damit 478 Lima, D.B.d.F.T.: Malungo. Decodificação da Umbanda, Rio de Janeiro 1979, S. 122. 479 Vgl. Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 17. 480 Wulfhorst, I.: Schmelztiegel der Religionen, S. 62. Offen bleibt bei diesem Konzept m.E. dreierlei. Zum Ersten: In Bezug auf Exu, den rebellischen Sklaven, ist es wie bei den Caboclos/as und Pretos/as Velhos/as gut nachvollziehbar, dass auch er gelitten hat und dafür belohnt wurde. Worunter jedoch litten die Crianças, die noch kindlichen aber künftigen HerrInnen, dass auch sie aus dem Geburtenkreislauf ausscherten? Zum Anderen: Wohin entwickeln sich die Geister weiter, wenn sie eine höhere Stufe erreichen? Wenn sie an dem Punkt angelangt sind, dass sie nicht mehr inkorporieren müssen, gibt es für sie dann einen noch höheren Entwicklungsgrad? Zum Dritten: Wo bleiben in diesem Evolutionskonzept die momentan, real lebenden Menschen? Wenn sie nach ihrem letzten Tod nicht mehr als Menschen wiedergeboren werden, wohin entwickeln sie sich? Werden sie in die anonyme Masse der Sofredores/as eingegliedert und inkorporieren ausschließlich in fremden Terreiros? Das würde immerhin erklären, warum kein/e praktizierende/r UmbandistIn eine/n leidende/n Verstorbene/n zu dessen/deren Lebzeiten kannte. Und/Oder werden die Menschen zu Exus, wie eine allerdings nur wenig verbreitete Ansicht wiedergibt? Betrifft dies dann auch die indio-stämmigen UmbandistInnen, die dann Exus statt Ca-

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haben sie zwar den Wiedergeburtenkreislauf durchbrochen, müssen aber an ihrer Weiterentwicklung arbeiten und immer mal wieder inkorporieren. Doch auch diese Phase ist begrenzt, so dass viele Espíritos nicht mehr arbeiten und zur Erde herabsteigen. Insofern bietet dieses Evolutionsmodell den Geistern einen Anreiz zur Arbeit und karitativen Tätigkeit, die demnach weniger aus altruistischen denn vielmehr aus utilitaristischen Motiven durchgeführt wird. 4.2.2.2

Handelsbeziehungen zwischen Mensch und Geist

Um sich weiterzuentwickeln, braucht der Geist gleichsam eine Arbeitsmöglichkeit, die sich ihm darin eröffnet, dass man ihn konsultiert. Würden die Konsultationen ausbleiben, hätte das für den Geist gravierende Nachteile. Demnach dürfen die KlientInnen nicht einseitig als lästige PatientInnen gesehen werden, sondern als KundInnen, die dem Espírito Gewinn bringen. Auf diese Weise besteht eine Beziehung zwischen Mensch und Geist gleichsam wie zwischen HandelspartnerInnen. Beide bieten etwas, das dem/r anderen nützt. Allerdings beschränkt sich die Entlohnung des Geistes für seine Leistung nicht immer allein auf den Erhalt des vom Menschen Angebotenen. Neben der Arbeitsund Entwicklungsmöglichkeit kann der/die Gläubige noch weitere, materielle wie immaterielle Arten der Bezahlung aufwenden. Demnach wird dem Espírito bei erfolgreicher Arbeit die Verehrung durch den/die KlientIn zuteil, die sich bei wiederholter Konsultation und erneutem Erfolg wiederum steigert. Des Weiteren erhält der Geist als Dank und Gegenleistung Naturalien, die genau auf ihn und seinen Geschmack abgestimmt sind. Man bereitet ihm seine Lieblingsspeisen zu, bietet ihm sein Lieblingsgetränk sowie Rauchutensilien an und legt noch einige mit ihm assoziierte Gegenstände bei. Schalen mit solchen Inhalten (’despachos‘) werden im Herrschaftsgebiet der Geister deponiert. Eine Schale gefüllt mit Parfum, Seife, weißem Maisbrei und Sekt, die an Iemanjá gerichtet ist, würde dementsprechend nie am Friedhof, sondern immer am Meeresstrand (oder in dessen Ermangelung an großen Flüssen) hinterlegt. Ob sie eher als Geschenke oder als Zahlungsmittel anzusehen sind, hängt davon ab, ob der Espírito etwas fordert oder sich mit der Möglichkeit zu arbeiten begnügt. „Der Dienst kann umsonst geleistet werden, aber er kann auch sehr viel kosten.“481 boclos/as würden? Mir erscheint das Entwicklungsmodell letztlich als nicht gänzlich durchdacht. Das auf dem Primeiro Congresso do Espiritismo de Umbanda 1941 verkündete Statut erhellt diese Ungewissheit leider kaum: „Die Lehre der Umbanda beruht auf dem Prinzip der Wiederverleiblichung des Geistes in aufeinanderfolgenden Existenzen auf der Erde mit den zu seiner planetarischen Entwicklung notwendigen Etappen. Ihre Philosophie besteht im Erkennen des Menschen als Partikel der Göttlichkeit, von ihr sauber und rein ausgegangen, und in sie endlich wieder eingegangen am Ende des notwendigen Entwicklungszyklus, in demselben sauberen und reinen Zustand, der durch seine eigene Anstrengung und Willen erreicht wird“ (zit. n. Wulfhorst, I.: Espiritismo e fé cristã, S. 45). 481 Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 25.

Geister, Linien und Arbeit – das Heilige in der Umbanda

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Jedoch dienen die dargebrachten Gaben nicht nur zur Begleichung der Rechnung eines einzelnen Geschäfts. Vielmehr hat die üppige Entlohnung zugleich den globaleren Charakter, den Geist ganz allgemein wohl zu stimmen. Er kann je nach Erfolg als der persönliche Patron erachtet werden, den der/die KlientIn vorzugsweise und regelmäßig konsultiert. Und in die Hände dieses/r PatronIn legt der/die umbandistische Gläubige sein/ihr Schicksal. Auf das Walten der Geister führt man sein eigenes Ergehen und das der anderen zurück. Behält man beispielsweise seinen Arbeitsplatz, während die KollegInnen entlassen werden, so verdankt man dies seinem/r PatronIn, der/die eingegriffen hat. Verliert man hingegen die Stelle, so verdankt sich das auch dem/r PatronIn, der/die damit seinen/ihren Unmut äußert. Solches mit dem Zufall als unerklärlichen Urheber zu begründen, liegt der Umbanda fern. Was nicht mit natürlichen Gesetzen zu erläutern ist, wurde von den Espíritos der übernatürlichen Welt beeinflusst. Um also ein glückliches Leben zu führen, ist es notwendig, sich das Wohlwollen und somit den Schutz des/der Geist-PatronIn dauerhaft zu sichern. Glück und Wohlergehen sind somit Gegenstand der Handelsbeziehungen, die der Mensch zu den Geistern unterhält, und damit durchaus kalkulierbar. Anders als ein/e gelegenliche/r BesucherIn geht das Medium eine sehr viel engere Verbindung zu seinem Patron, seinem Guia ein, wodurch es umso mehr beschäftigt ist. Das Medium stellt die Despachos zusammen, richtet den Terreiro vor der Sessão her, legt Kerzen, Tabakwaren und Getränke zurecht, nimmt rituelle Waschungen vor, pflanzt Kräuter zum Gebrauch für Bäder und Opfergaben an und arbeitet während der z.T. mehrere Stunden dauernden Kultsitzung als Apparat des inkorporierenden Geistes. Die Menge der Verpflichtungen steigt mit jedem Guia, den das Medium hat. Insbesondere vor dem Festtag des Geister-Typs mehrt sich die Arbeit. Dennoch lohnt sich für die Medien der Aufwand, denn „je mehr Hingabe sie zeigen, desto größer werden die Wohltaten sein, die sie erhalten können“482. Würden sie aber diese Aufgaben vernachlässigen, gingen sie das Risiko ein, den Zorn ihres/r PatronIn auf sich zu ziehen. Diese/r würde sich so lange in Unglücken, Missgeschicken und Unfällen über das säumige Medium ergießen, bis es schließlich seine Zahlungen und Geschenke wieder tätigt (und auch das Versäumte nachholt). Die Heftigkeit, mit der der Espírito das Medium traktiert und an seine Pflichten erinnert, ist wiederum seiner Befürchtung geschuldet, dass er weniger konsultiert werden und damit auch seine Entwicklung stagnieren könnte. Im Gegensatz zum Evolutionskonzept, das mehrere Fragen offen lässt, ist das umbandistische System des Handels zwischen Mensch und Geist tiefer durchdacht. Sobald es angelaufen ist, sei es durch Initiative des Schaden verursachenden Geistes oder durch erstmalige Hilfesuche des Menschen, dreht sich die Spirale des Gebens und Nehmens kontinuierlich. Indem dieses Geschäft für Gläubige/n und Espírito Vorteile bietet, die beide anstreben, und sei es nur, um Nachteile zu vermeiden, basieren die Beziehungen auf Eigennützig482 Birman, P.: O que é Umbanda, S. 54.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

keit. Von der christlichen Vorstellung eines transzendenten heiligen Wesens, das selbstlos aus Liebe Gutes gibt und auf Antwort des menschlichen Gegenübers hofft, ist die Umbanda weit entfernt.

4.3 Gründe für die Anziehungskraft der Umbanda Das Phänomen Umbanda ist eine Erfolgsgeschichte. Neben den bereits in Brasilien existierenden und etablierten Religionen stellt sie eine Neubildung dar, die sich trotz der Konkurrenz auf dem religiösen Markt nicht nur halten, sondern auch ausbreiten konnte. Die Anzahl der AnhängerInnen stieg ebenso wie die der Terreirogründungen. Von Niterói und Rio de Janeiro aus erstreckte sich die Umbanda fortschreitend auf andere Städte, auf die ländlichen Regionen sowie auf den Norden des Landes und griff über die Grenzen Brasiliens hinaus. Ständigen Zulauf verzeichnete die Umbanda von Beginn an, bis sie in den 70er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Seitdem sinken – gemäß den offiziellen, kritisch zu betrachtenden statistischen Daten – die Zahlen der AnhängerInnen und der prozentuale Anteil an der Gesamtbevölkerung. Zwar vollführt der Candomblé, als zweitstärkste afro-brasilianische Religion, in den letzten Jahrzehnten eine gegenläufige Bewegung, doch liegt er im Jahr 2000 noch weit hinter der Umbanda zurück.483 Die inoffiziellen Schätzungen tun ein Übriges, um die Umbanda weiterhin als größte afro-brasilianische Religion und sogar zweitgrößte Denomination Brasiliens hinter der römisch-katholischen Kirche zu führen (s. 3.3.2). Die Anziehungskraft zu erklären, war und ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Sie setzen die Reihe derjenigen Studien fort, die sich dem Phänomen der afro-brasilianischen Religionen insgesamt zuwandten. Als solche sind die klassischen Ansätze der Soziologen und Anthropologen Raimundo Nina Rodrigues, Arthur Ramos und Roger Bastide zu nennen, die Gründe für das Entstehen und Überleben der afro-brasilianischen Kulte darlegen. Hierbei ist zu prüfen, ob sich diese allgemeinen Aspekte auch speziell auf die jüngere Umbanda übertragen lassen. Das Wachstum der Umbanda allein ist ebenfalls aus soziologischer Perspektive zu erklären, wenn man sie wie Cândido Procópio Ferreira de Camargo im Kontext der Industrialisierung und Urbanisierung Brasiliens betrachtet. Neben Orientierung suchen die AnhängerInnen der Umbanda auch persönlichen Aufstieg, sei es in der Gesellschaft oder innerhalb der Gemeinde, was André Droogers als Kompensation versteht. Darüber hinaus bietet die Umbanda zwei verschiedene Möglichkeiten des Umgangs mit dem Alltag. Einerseits hilft sie bei verschiedenen Angelegenheiten und Problemen des täglichen Lebens, indem die Geister den Menschen beratend zur Seite stehen. Insbesondere die Krankenheilung erachtet Lindolfo Weingärtner als wesentlichen Grund der anziehenden Wirkung der Um483 Demnach verzeichnet die Zählung von 2000 ca. 118.000 CandomblistInnen gegenüber ca. 397.000 UmbandistInnen; vgl. Jacob, C.R.: Atlas da filiação religiosa, S. 103.

Gründe für die Anziehungskraft der Umbanda

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banda auf christliche BrasilianerInnen. Andererseits eröffnet die Manifestation der Espíritos dem empfangenden Medium zur Flucht aus den gesellschaftlichen Normen, so dass die unterdrückte Persönlichkeit ausgelebt werden kann. Diesen psychologischen Ansatz gibt Droogers ausführlich wieder, wenn er auf die therapeutische Funktion der Trance verweist. Aus theologischer Sicht ist die Attraktivität der afro-brasilianischen Religionen damit begründbar, dass sie dem Menschen eine aktive Rolle im Umgang mit dem Heiligen eröffnen, indem sie es manipulieren können, wie Joachim G. Piepke formuliert. Nachfolgend skizziere ich kurz die genannten, m.E. wichtigsten Gründe für die Anziehungskraft der Umbanda. Diese Auswahl soll einen Einblick in die Wirkung und Attraktivität der Umbanda auf verschiedenen Ebenen gewähren, ohne jedoch Anspruch auf Vollständigkeit der Gründe und wissenschaftlichen Ansätze zu erheben. 4.3.1 Afro-brasilianische Religionen – Widerstand und Erinnerung Mit jeder Schiffsladung SklavInnen wurden ab dem 16. Jh. neue Arbeitskräfte aus Afrika nach Brasilien gebracht. ArbeiterInnen, die aus ihrer Familie gerissen, von ihrer Kultur getrennt und von ihrer Heimat deportiert wurden. Die soziale Isolation überwanden die SklavInnen aufgrund des gleichen Schicksals, das sie beispielsweise als FeldarbeiterInnen auf einer Zuckerplantage teilten. Anstatt die kulturellen und sprachlichen Unterschiede zu betonen, suchten sie nach Gemeinsamkeiten und bemühten sich um Angleichung (s. 3.1.2). Die gesellschaftliche Unterdrückung jedoch vermochten sie nicht aufzuheben. Einzelnen AfrikanerInnen gelang zwar die Flucht und manche Aufstände hatten kurzfristig Erfolg, aber letztere wurden blutig niedergeschlagen und Fluchtversuche durch Fußfesseln vereitelt. Insgesamt waren die schwarzen SklavInnen der Willkür der weißen HerrInnen über 350 Jahre ausgesetzt. Diesen widrigen Umständen zum Trotz formierten sich die AfrikanerInnen gemäß der These von Raimundo Nina Rodrigues (1906) und Arthur Ramos (1947)484 zum verdeckten Widerstand, der allerdings nicht auf Umsturz der äußeren Verhältnisse zielte, sondern einen inneren Freiraum für die Identität schuf. Während die SklavInnen anfangs mit Sehnsucht, Depression und sogar Selbstmord auf ihre Situation reagierten, fanden sie später zu einer anderen Form des stillen Protests, nämlich der „Anhängerschaft an den Glauben und die Religionen 485 ihres Geburtslands“ . Obwohl sie die AdressatInnen der katholischen Missionie484 Vgl. Rodrigues, R.N.: Os Africanos no Brasil, 3. Aufl., São Paulo 1945; Ramos, A.: Introdução à Antropologia Brasileira, Bd. 1: As culturas não-européias, 2. Aufl., Bd. 2: As culturas européias e os contactos raciais e culturais, Rio de Janeiro 1951/47. 485 Ramos, A.: Introdução à Antropologia Brasileira, Bd. 2, S. 527. Ramos bezeichnet dieses Verhalten als introvertierte Reaktion, die im Zusammenhang der Gegen-Akkulturation der AfrikanerInnen vollzogen wird. Dem steht die extrovertierte Reaktion gegenüber, die sich in Flucht, Auf-

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rung waren und getauft wurden, gelang es ihnen – sogar unter der Aufsicht der Priester – ihre Religionen zu pflegen und zu bewahren. Als Deckmantel benutzt, bot die katholische Volksfrömmigkeit den SklavInnen einen Schutzraum, in dem sie äußerlich zu den Heiligen der portugiesischen KolonisatorInnen und innerlich zu ihren afrikanischen Gottheiten beteten. Sogar katholische Riten wie die Taufe 486 oder Priesterweihe wurden synkretisiert und mit anderen Inhalten vollzogen. Die sich ab 1800 entwickelnden afro-brasilianischen Kulte stellen somit einen Ort dar, an dem der/die SklavIn dank seiner/ihrer Anpassungsfähigkeit nicht gänzlich seiner/ihrer Wurzeln enteignet ist und an dem er/sie trotz der Unterdrückung frei sein kann. Insofern bündelt sich in der synkretistischen Religion der kulturelle und soziale Ungehorsam und Widerstand in Form eines stillen Protests. Dorthin nehmen diejenigen afrikanischen SklavInnen in Brasilien Zuflucht, die sich nicht in offenem Aufstand gegen die gesellschaftlichen Strukturen zur Wehr setzen. Mit der Abschaffung der Sklaverei Ende des 19. Jh. und der gesetzlich verankerten Gleichheit der Rassen wird dem Widerstand der SklavInnen gegen ihre UnterdrückerInnen die Grundlage entzogen. Die Voraussetzungen, die die Entstehung von afro-brasilianischen Religionen ermöglichten und ihren Zulauf sicherten, verschwinden plötzlich. Um in der veränderten gesellschaftlichen Situation weiterhin die Mitglieder zu halten und zu mehren, ändern die Kulte ihr Selbstverständnis. Anstatt als Zufluchtsorte in einer feindlichen Gesellschaft zu fungieren, treten sie nun als Bewahrerinnen der afrikanischen Traditionen auf und sehen sich gar als wahre Religionen der brasilianischen AfrikanerInnen. Hier setzt auch der französische Soziologe Roger Bastide (1960)487 an, der einen Druck der Älteren auf die Jüngeren zur Beibehaltung der Überlieferungen konstatiert. In einem sich zunehmend vermischenden Umfeld, das die rassischen Schranken aufhebt, soll der Mensch mit afrikanischen Wurzeln, der eventuell bereits auf brasilianischem Boden geboren wurde, sich der Kultur seiner Vorfahren erinnern. Aus dem früheren Kampf um Identität ist nun ein Ringen um den Erhalt der Werte geworden. Dies gewährleisten aus eigener Sicht in authentischer Form die afro-brasilianischen Religionen. Ihr Anspruch auf Authentizität wirkt allerdings angesichts der Synkretisierung mit christlichen Elementen, die keineswegs eliminiert werden, verwirrend. Insbesondere in Hinblick auf den Candomblé als ältester afro-brasilianischer Religion erscheint diese soziologische These der Entstehung und der Anziehungskraft plausibel. Der Candomblé entwickelte sich in der Zeit der Sklaverei und pflegte die assimilierten und synkretisierten afrikanischen Traditionen. Auch 120 ruhr und Revolten äußert. Letztere verfolgten politische und wirtschaftliche Ziele, in deren Hintergrund meist auch religiöse Motive standen. Die muslimischen AfrikanerInnen hingegen, allen voran die Haussá, initiierten im 19.Jh. zahlreiche Aufstände in Bahia, bei denen wirtschaftliche Interessen ein sekundäres Motiv darstellten. Hier war „die Hauptursache [...] die Religion“ (Ramos, A.: Die Negerkulturen, S. 168), weshalb in diesem Zusammenhang von einem ’heiligen Krieg‘ gesprochen werden kann. 486 Vgl. Fischer, U.: Zur Liturgie, S. 59–97. 487 Vgl. Bastide, R.: Les religions africaines.

Gründe für die Anziehungskraft der Umbanda

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Jahre nach der Verabschiedung des Goldenen Gesetzes gilt der Candomblé als der Inbegriff afrikanischer religiöser Praxis in Brasilien. Ähnlich stark ist die Quim488 banda auf die afrikanischen Überlieferungen ausgerichtet, woraus sich gemäß diesem Ansatz ihre Attraktivität erklären ließe. Dies würde umso mehr zutreffen, wenn man bedenkt, dass die Quimbanda eine Ausgliederung aus der Umbanda darstellt. Insofern findet man in jener eine Wertschätzung des afrikanischen Elements, die in dieser partiell verloren gegangen zu sein scheint. Zudem ist die Umbanda stark vom Spiritismus geprägt, aus dem sie ihrerseits ausgegliedert wurde. Die These von Nina Rodrigues und Ramos, dass die Entstehung der afrobrasilianischen Religionen auf ihrer Funktion als Raum für den Widerstand schwarzer SklavInnen gründet, lässt sich aber auf die Umbanda aus zweierlei Gründen nicht übertragen. Zum einen entstand sie nach der Abschaffung der Sklaverei (außerdem auch nach der ersten Veröffentlichung des Hauptwerkes von Nina Rodrigues) und zum anderen war sie weniger afrikanischer als vielmehr kardecistischer Herkunft. Ebenso wenig eignet sich der Ansatz, nach dem der Mensch mit afrikanischen Wurzeln diese Kultur und Tradition pflegt, um die Anziehungskraft der Umbanda zu begründen. Denn jene Einflüsse spielen nur eine nebengeordnete Rolle und sind mit den Elementen anderer Religionen und Weltanschauungen auf einer Ebene angesiedelt. Auch der von Bastide formulierte Traditionsdruck der Alten greift hier nicht. Eine weitere Schwierigkeit bereitet diesen Thesen die Frage, warum es auch europäisch- und asiatisch-stämmige UmbandistInnen gibt bzw. warum und wie sie das afrikanische Erbe, das augenscheinlich nicht das Ihre ist, wahren sollen. Es zeigt sich, so das Fazit, dass die hier angeführten Überlegungen zu Entstehung und Attraktivität der afro-brasilianischen Religionen in Hinsicht auf den Candomblé durchaus zutreffen. Eigentlich müssen sie das auch, nachdem der Candomblé der älteste und am stärksten afrikanisch geprägte Kult dieser Kategorie ist. Die Generalisierung der Ansätze, die meist selbst vom Candomblé ausgehen und die gewonnenen Erkenntnisse auf die anderen afro-brasilianischen Religionen übertragen, gestaltet sich hingegen nicht unproblematisch. In einzelnen Aspekten mögen sie durchaus nachvollziehbar sein, wie im Fall der Quimbanda. Ihre allgemeine Anwendbarkeit, die ich für recht fragwürdig halte, ist bezüglich jeder einzelnen Religion aber zu prüfen. Dies ist an dieser Stelle zwar nicht zu leisten, doch möchte ich zu bedenken geben, dass ein Kult wie der Catimbó ebenfalls zu den afro-brasilianischen zählt, dessen Grundlage aber indianischer Art ist. Überträgt man diesen soziologischen Ansatz auf die Umbanda, so gerät man bald 488 Mit einem kleinen Übersetzungsband verfolgt ein Quimbanda-Kultleiter aus Porto Alegre „das Ziel, mit allen Anhängern und Sympathisanten der afro-brasilianischen Religion ein bisschen unserer afro-religiösen Kultur zu teilen“ (Oşun, C.d.: Traduções de aşés de rezas dos orişás afrobrasileiros, o.O o.J., S. 36). Die in afrikanischer Sprache in Brasilien tradierten Gebete an verschiedene Orixás übersetzt er ins Portugiesische, um zum einen die afrikanischen Traditionen zu bewahren und zum anderen die korrekte Bedeutung zu sichern.

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an dessen Grenzen, weshalb wiederum seine Verallgemeinerung fraglich wird. Jedoch zeigt sich deutlich, dass zur Erklärung der Anziehungskraft der Umbanda eine eigens auf sie zugeschnittene These aufzustellen ist. 4.3.2 Sicherheit und Aufstieg in der Gesellschaft

4.3.2.1

Soziale Heimat in der Industriestadt 489

Der Soziologe Cândido Procópio Ferreira de Camargo (1961) sieht die Ursache für die Anziehungskraft der Umbanda im Wandel der brasilianischen Gesellschaft um 1930. Mit Beginn und Expansion der Industrialisierung zogen immer mehr Menschen in die Stadt. Dort lag die Hoffnung der Bauern und Feldarbeiterinnen, da das Leben auf dem Land zunehmend durch Dürreperioden und ausbleibenden Agrarreformen zunehmend schwierig geworden war. Die Stadt hingegen schien in dem Maß Arbeitsplätze zu bieten, wie sie auf dem Land verloren gingen. In der neuen Umgebung jedoch waren die Landflüchtlinge ihrer bisherigen sozialen Einbettung ledig und somit auf sich allein gestellt. Sie entbehrten des Schutzes der Familie und des/r PatronIn, die zugleich eine soziale Kontrollfunktion innehatten. Die bisherigen Werte, die auf dem Land noch Gültigkeit hatten, galten nicht in der Stadt und wurden auch nicht durch andere ersetzt. Neue Beziehungen mussten anstelle derer, in die man auf dem Land hineingeboren wurde, geschaffen werden. Allerdings lag die Zahl der Arbeitsplatzsuchenden über derjenigen der tatsächlich vorhandenen Stellen. Trotzdem wanderten immer mehr Menschen zu, von denen dann viele ohne Arbeit blieben. Im Gegensatz zu denjenigen mit Arbeit mussten sie nicht nur mit dem Verlust aller bisherigen Bindungen und Sicherheiten leben, sondern zugleich ums Überleben kämpfen. Sie hatten kein Geld für eine Wohnung, für Nahrung oder medizinische Versorgung. Für solche entwurzelten neuen StädterInnen können Umbanda und Kardecismus, die Camargo im Zusammenhang mit der Veränderung des wachsenden São Paulo untersucht, eine neue soziale Heimat bedeuten. Demnach stellen sie „eine mögliche Alternative im Prozess der Anpassung der Persönlichkeiten an die Forderungen des städtischen Lebens“490 dar. Mehr noch als der Kardecismus bietet die Umbanda sichere Strukturen: Die Medien werden von dem/r KultleiterIn mit ’filhos e filhas‘ (Söhne und Töchter) angesprochen, während man den Kultleiter ’pai‘ (Vater) bzw. die Kultleiterin ’mãe‘ (Mutter) nennt. Insofern bildet die umbandistische Gemeinschaft eine religiöse Familie mit einem Oberhaupt und mehreren Kindern. Die Rolle eines/r PatronIn kommt den Geistern zu, welche beraten, beschützen und helfen. Aufgrund des Prinzips der Nächstenliebe ist der Terreiro

489 Vgl. Camargo, C.P.F.d.: Kardecismo e Umbanda. 490 Ebd., S. 97.

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für jede/n offen, der/die nach der Lösung seiner/ihrer Probleme oder nach sozialer Geborgenheit sucht. Obdachlose können in einigen Kultstätten auf ein Zimmer und Nahrung hoffen, während manchen Arbeitslosen eine Stelle vermittelt wird. Die römisch-katholische Kirche steht gemäß Camargo dem gesellschaftlichen Wandel im Zuge der Urbanisierung wie gelähmt gegenüber. Viele der vom Land in die Stadt gekommenen Menschen werden von der Kirche enttäuscht, da sie hier Werte und Hilfestellung vermissen. Anstelle von Sicherheit und Verbundenheit sehen sie sich mit starren Formeln konfrontiert, die zum Zurechtfinden in der neuen Lebenssituation nicht helfen. Darüber hinaus steht wenigen christlichen SeelsorgerInnen eine Vielzahl von Gläubigen gegenüber, so dass auch aus numerischen Gründen eine angemessene und individuelle Seelsorge oder karitative Betreuung schwierig werden. „Wenn sich ein Priester, wie es der Fall der katholischen Kirche ist, um zwischen 10 und 20.000 Personen kümmern muss, ist ein befriedigendes Pastorat unmöglich“491. Wird der Pfarrer gebraucht, ist er in vielen Fällen gerade verhindert. Zudem befindet sich die Kirche üblicherweise im Stadtzentrum, wohingegen die Gläubigen meist am Rand der Stadt wohnen und somit fern dem Gotteshaus. Die kleinen, umbandistischen Terreiros hingegen sind in Wohnhäusern eingerichtet und aufgrund ihrer Pluralität in jedem Stadtviertel vertreten. Der Weg in den Terreiro ist demnach kürzer als in die Kirche, und die Wahrscheinlichkeit, dass ein umbandistisches Medium Zeit hat, größer als bei einem/r christlichen PfarrerIn. Der Theologe Lindolfo Weingärtner (1969) konstatiert für die jüngeren Generationen von protestantischen Einwanderergemeinden ein ähnliches, der Heimatlosigkeit geschuldetes Phänomen. Während sie die deutsche Sprache und Kultur ihres Herkunftlandes pflegen, leben sie gleichzeitig von den Eigenheiten Brasiliens isoliert. Sie sprechen die Dialekte aus Pommern und dem Hunsrück, essen Klöße und feiern die lutherischen Gottesdienste in deutscher Sprache. Bis ins 20. Jh. bestanden Sprach- und Kulturinseln wie die Orte Blumenau oder Pomerode ohne nennenswerte Verbindung zum brasilianischen Umfeld.492 Brechen jedoch die Jungen mit den Traditionen der Alten, verlassen sie meist die Geborgenheit und betreten eine neue, unbekannte Sphäre. Der junge evangelische Christ wird in besonderer Weise durch den abrupten Übergang in einen anderen Kulturbereich, in dem er nicht gewohnt ist, seinen Glauben zu leben, für jegliche Einflüsse anfällig, die ihrem Ursprung nach mit der Landessprache und den an sie geknüpften geistigen Gegebenheiten verbunden sind.493

491 Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 57. 492 Heute ist Pomerode immerhin durch Straßen mit Blumenau verbunden. Weiterhin sprechen ca. 80 % der BewohnerInnen fließend Deutsch (bzw. den pommerschen Dialekt). 493 Weingärtner, L.: Umbanda, S. 153. Der von Weingärtner mehrfach benutzte, nicht unbedingt neutrale Begriff der ’Anfälligkeit für den Umbandismus‘ (vgl. ebd., S. 152) lässt auf seine Einstellung zum Phänomen der religiösen Abwanderung schließen.

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Somit geben die jüngeren Generationen der eingewanderten ProtestantInnen die familiäre Sicherheit auf, worin sie den Landflüchtlingen gleichen. Wie diese können auch die lutherischen Orientierungslosen Sicherheit und soziale Heimat in der Umbanda finden, die nicht nach der bisherigen religiösen Einbettung fragt bzw. mit ihr konkurrieren will (s. 6.1). Wenn Weingärtner die These von Camargo, die dieser anhand von Beobachtungen in São Paulo aufstellt, auf Rio Grande do Sul anwendet und bestätigt findet, so bleiben doch einige Ungereimtheiten. Das Phänomen der Landflucht ist weder auf einen kurzen Zeitraum noch auf ein einmaliges Ereignis beschränkt. Insofern wandern stetig und kontinuierlich Menschen vom Land in die immer größer werdende Stadt. Für die ersten Ankömmlinge haben die hier aufgeführten Aspekte weitgehende Gültigkeit, weshalb es plausibel erscheint, dass sie den Verlust der Sicherheit durch die Eingliederung in die familiären Strukturen der Umbanda überwinden wollen. Demnach ist „die Anfälligkeit für umbandistische Einflüsse bei den in den letzten Jahrzehnten [vor 1969] zugewanderten Arbeitern besonders groß“494. Diejenigen allerdings, die später, zumindest in der zweiten Generation in die Stadt übersiedeln, wählen üblicherweise den Standort, von dem sie bereits etwas wissen bzw. an dem schon Bekannte oder Familienangehörige 495 wohnen. „Sie folgen häufig den verwandtschaftlichen Netzen“ , so dass sie sich dank der sozialen Bindungen, die die früher Angekommenen aufgebaut haben, leichter in das Neue eingliedern können. Der Bruch im gesellschaftlichen Umfeld trifft sie folglich weniger hart als ihre VorgängerInnen und die neue Umgebung ist nicht mehr gänzlich fremd, sondern birgt eine der Heimat ähnliche Sprach- und Kulturinsel. Dadurch stehen sie zudem weniger unter dem Druck, selbst neue Beziehungen knüpfen und in diesen Sicherheit suchen zu müssen. Das Angebot der umbandistischen Terreiros existiert zwar weiterhin, doch hat es für den Neuankömmling keine solche existenzielle Bedeutung. Er hat sein soziales Netz bereits gefunden und bedarf der weiteren Geborgenheit, die die Umbanda bietet, nicht so dringend. Insofern müsste die Anziehungskraft der Umbanda in der Anfangszeit der brasilianischen Landflucht und Urbanisation besonders groß sein. Ihren Höhepunkt erreicht die Umbanda allerdings in den 70er Jahren, also zu einem späteren Zeitpunkt. Die in jener Zeit in die Stadt abwandernden Menschen können größtenteils auf bestehende soziale Strukturen meist verwandtschaftlicher Art zurückgreifen. Wenn diese Bekannten die Neuankömmlinge sodann in einen Terreiro mitnehmen, weil sie selbst dort eine neue Heimat gefunden haben, so ist dies auch ein Grund für die Ausbreitung der Umbanda – allerdings ein anderer als der von Camargo konstatierte. Eine weitere Frage, die sich bei seinem Ansatz stellt, ist die, warum die Umbanda nicht nur ein Phänomen der Unterschicht ist, sondern auch Zulauf von 494 Ebd., S. 144. 495 Fry, P.H. / Howe, G.N.: Duas Respostas à Aflição: Umbanda e Pentecostalismo, in: Debate e Crítica 6, 1975, S. 75–94, S. 85.

Gründe für die Anziehungskraft der Umbanda

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Angehörigen der Mittelschicht hat. Die Landflüchtlinge sind üblicherweise arm, was sie auch in die Stadt treibt, von der sie sich einen Arbeitsplatz und Lohn erhoffen. Erlangen sie beides, so reicht das Geld selten für viel mehr als Wohnung, Kleidung und Nahrung. Der finanzielle Aufstieg in die Mittelschicht der Gesellschaft gelingt nur wenigen. Sind es aber diese Wenigen, die den Prozentsatz der Mittelschichtangehörigen in der Umbanda ausmachen? Oder setzt er sich aus den StädterInnen zusammen, die schon lange dort wohnen und Geld und Status schon erarbeitet oder geerbt haben? Für den letzteren Fall würde Camargos These wiederum nicht greifen, im ersteren schon. Um eine allgemeine Aussage treffen zu können, müsste individuell die Geschichte und Herkunft jedes/r mittelständischen UmbandistIn geprüft werden. Dass eine Korrelation zwischen der Anziehungskraft der Umbanda und dem Grad der Industrialisierung, des städtischen Wachstums und der Zuwanderung von LandarbeiterInnen besteht, wie Camargo postuliert, ist aber trotz der offenen Fragen nicht zu bestreiten. 4.3.2.2

Die Chance des Aufstiegs

Von der Betrachtung der gesellschaftlichen Schichten ist die der Rassen in Brasilien nicht zu lösen. Pauschal gesprochen bilden die Schwarzen die Unterschicht, und je heller die Hautfarbe, desto höher ist der Stand in der Gesellschaft.496 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich der/die BrasilianerIn selbst üblicherweise heller einschätzt als dies ein/e Außenstehende/r beurteilen würde. Weiß zu sein bedeutet zugleich Kultur und Stil zu haben, modern und zivilisiert zu sein. Solches wird auch als ’europäisch‘ erachtet und steht dem ’primitiven Arikanischen‘ diametral gegenüber. Die Umbanda vereinigt in sich beide Tendenzen, wobei jedoch erstere die maßgeblichere darstellt. Durch die Verbindung spiritistischer Elemente mit afrikanischen werden diese von den primitiven Handlungen wie Tieropfer und ekstatischem Tanz gelöst und damit salonfähig gemacht. Insofern bietet die Umbanda in religiöser Hinsicht die Nähe zum weißen Wunschbild und zu den (verschlankten) afrikanischen Traditionen. Gemäß der Religionswissenschaftlerin und Ethnologin Astrid Reuter (2003) wirkt diese Mischung anziehend auf „die brasilianische Mittelschicht, die sich stark an den kulturellen Vorgaben Europas“497 orientiert. Sie versprechen sich von ihrer Mitgliedschaft in der Umbanda eben jenes weiße Moment, das sie dem europäischen Ideal näher bringt. Die Umbanda soll die BrasilianerInnen weißer machen. Zwar ist dies in Bezug auf die reale Hautfarbe nicht möglich, doch immerhin hinsichtlich des Denkens, des Verhaltens und des Ansehens. Somit wirkt sich 496 Wie sehr dieses Konzept vorausgesetzt ist und wie weit sich die Zuordnung von weißer Hautfarbe zu hohem Entwicklungsgrad und schwarzer Hautfarbe zu Minderwertigkeit auf die umbandistische Geisterwelt auswirkt, zeigt eindrücklich Patrícia Birman; vgl. Birman, P.: O que é Umbanda, S. 45 ff. 497 Reuter, A.: Voodoo, S. 95.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

die Religionszugehörigkeit auch auf den gesellschaftlichen Status aus, demzufolge die Weißen privilegiert sind. Für den/die farbige/n BrasilianerIn verkörpert die Umbanda demnach die Chance des sozialen Aufstiegs. Er/Sie kann seine/ihre afrikanischen Wurzeln beibehalten, wird aber nicht mehr mit dem Primitiven identifiziert. Dank des spiritistischen Einflusses kann man den europäisch-stämmigen Eliten ähnlicher werden, obwohl man weiterhin farbig ist. Bastide sieht hierin eine gewisse, den gesellschaftlichen Strukturen geschuldete Ambivalenz. „Man will zugleich aufsteigen, indem man sich die Werte der Weißen aneignet, und dennoch aufsteigen als Schwarze.“498 Mit solcher Argumentation lässt sich die Anziehungskraft der Umbanda, die sie ohne Zweifel auf die farbigen BrasilianerInnen ausübt, plausibel begründen. Sowohl Menschen aus der Unter- als auch aus der Mittelschicht erhoffen sich von der Umbanda die Steigerung des Ansehens und des Aufstiegs in die je höhere Schicht. Dieser Ansatz begründet allerdings nicht, warum die Umbanda auch bei weißen BrasilianerInnen europäischer Abstammung Erfolg hat. Sie stellen bereits das Ideal dar, das die Farbigen zu erreichen suchen. Warum halten die weißen UmbandistInnen, deren VorfahrInnen z.B. aus Deutschland oder Italien stammen, nicht am christlichen Glauben fest? Oder warum wenden sie sich nicht dem reinen Spiritismus zu, der in seiner kardecistischen Form ebenfalls stark europäisch ausgerichtet ist? Um gesellschaftlich aufzusteigen bedürfen die Weißen keiner Religion, die sie heller macht, zumal die Umbanda selbst nicht ’rein weiß‘ ist. Sie haben keine afrikanischen Wurzeln, aufgrund derer sie bisher als rückständig diffamiert werden könnten, deren Aufhellung nun aber möglich erscheint. Aus dieser Perspektive trifft die hier skizzierte These folglich nicht zu. Die Attraktivität der Umbanda für Weiße, die in der Gesellschaft aufsteigen wollen, könnte eher daher rühren, dass sie sich eben jenen (bisher geschmähten, nun ausgedünnten) afrikanischen Elementen öffnen. Dadurch würden sie ihre Akzeptanz des schwarzen Moments demonstrieren und könnten sich damit das Wohlwollen der afrika-stämmigen BrasilianerInnen sichern. Solches wäre gerade für politische Karrieren hilfreich. Hiermit wird aber bereits ein anderer als der von Reuter und Bastide angeführte Ansatz entworfen. Eine andere Art des Aufstiegs bieten die umbandistischen Terreiros ihren AnhängerInnen innerhalb der eigenen Reihen. Jede/r KlientIn, der/die aus welchem Grund auch immer den Weg in den Terreiro findet, kann hier zum Medium ausgebildet werden. Damit wechselt er/sie von der Seite der passiven GelegenheitsbesucherInnen auf die der aktiven, initiierten TeilnehmerInnen, auf die Seite der heiligen Menschen (s. 5.1.5). Die neue Rolle ist auch anhand des Standorts, den das Medium während der Sitzung im Kultgebäude einnimmt, zu beobachten. Anstelle im profanen Bereich steht es im heiligen Raum. Hier empfängt es in sei498 Bastide, R.: Les religions africaines, S. 474.

Gründe für die Anziehungskraft der Umbanda

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nem Körper den sich manifestierenden Geist und leistet als dieser Caridade. Allein aufgrund dieser Tätigkeit nimmt das Medium im kultischen Geschehen einen exponierten Platz ein. Das damit verbundene Ansehen kann durch die Macht des Geistes, der sich inkorporiert, noch gesteigert werden, wenn sich dessen Hilfe als wirksam erweist. Ein solcher Erfolg zieht wiederum die häufige Konsultation durch die Klientel nach sich, wodurch sich das Medium nun auch von den anderen Medien unterscheidet. Zudem existieren in jedem Terreiro verschiedene Ämter, die die Hierarchie der Mitglieder verdeutlichen. Das höchste Amt bekleidet der/die KultleiterIn, das zweithöchste dessen/deren HelferIn – ein Medium, das aufgrund seines Alters, seiner langjährigen Zugehörigkeit zum Terreiro oder wegen seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten dazu berufen wird. Auch die Position der Priester- und Kultleiterschaft selbst steht jedem Medium offen sowie die Gründung einer eigenen Kultstätte, was zwar sehr hohes Prestige, zugleich aber auch ein großes Maß an Verantwortung, Organisation und finanziellem Risiko mit sich bringt. Für Menschen der Unterschicht stellt die Medienschaft eine Position dar, die meist das genaue Gegenteil zu ihrem alltäglichen Leben ist. Während ein/e BrasilianerIn hier beispielsweise auf der niedrigsten gesellschaftlichen Stufe steht und beinahe nichts gilt, kann er/sie als Medium im Terreiro eine gestaltende und respektierte Rolle einnehmen. Auf diese Weise wandelt er/sie sich im Umfeld der Kultstätte und für die Dauer der Sessão von dem/r benachteiligten BittstellerIn zu dem/r EmpfängerIn von Hilfesuchenden. Die Umbanda bietet demnach Kompensation für die Schwachen der brasilianischen Gesellschaft. Dieses Prinzip lässt sich, wie der Anthropologe und Religionswissenschaftler André Droogers (1985) betont, vor allem auf Frauen anwenden, indem sie in der Umbanda eine Chance der Veränderung und Anerkennung erblicken. Zahlreiche Terreiros werden von Kultleiterinnen geführt, denen oftmals Helferinnen statt Helfer zur Seite stehen. Doch auch die kultische Rolle des Mediums und die damit verbundene Stellung innerhalb der umbandistischen Gemeinschaft übertreffen den üblichen sozialen Status der Frau bei weitem. „Wenn in der von Machos geprägten Gesellschaft die Rolle der Frau diejenige der Hausfrau ist, so eröffnet der Terreiro andere Möglichkeiten, damit sie sich verwirklichen kann.“499 Die häufig erfahrene Beschränkung und Benachteiligung wird von der Umbanda aufgehoben, die auch in dieser Hinsicht Kompensation bietet. Geht man bei diesem Ansatz von dem/r UmbandistIn der unteren gesellschaftlichen Schicht aus, der/die in seiner/ihrer religiösen Gemeinschaft die Chance des Aufstiegs erhält, so ist dem weitgehend zuzustimmen, dass sich darin die Anziehungskraft der Umbanda gründet. In Hinblick auf die brasilianische Mittelschicht verliert diese Annahme jedoch an Plausibilität. Die diesem Status Zugehörigen entbehren eigentlich nicht der sozialen Anerkennung, so dass sie auch nicht der 499 Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 60.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Aufarbeitung eines solchen Minderwertigkeitgefühls bedürfen, das die Religion ausgleichen könnte. Wird die Umbanda zur Kompensation anderer Erlebnisse oder Defizite von BrasilianerInnen der Mittelschicht aufgesucht, so geschieht dies aus einem anderen als dem angeführten Grund. Richtet diese These andererseits ihr Hauptaugenmerk auf die Frauen, die die geschlechtsspezifische Benachteiligung zumindest innerhalb der Religion überwinden wollen, so eignet der Umbanda unbestritten eine hohe Attraktivität. Damit steht sie in der brasilianischen religiösen Landschaft allerdings nicht allein und nimmt auch nicht den ersten Rang ein. Dieser gebührt dem Candomblé, dessen Terreiros traditionell von Frauen geführt werden, die die Kultleitung in weiblicher Linie weitergeben. Ein repräsentatives Beispiel dafür stellt der bereits erwähnte Terreiro do Gantois in Salvador dar. Auch unter den candomblistischen Medien ist die Zahl der Frauen ungleich größer als die der Männer. Ungeachtet dessen liegt die Anziehungskraft der Umbanda aber auch an der den Brasilianerinnen angebotenen Chance des Aufstiegs, worin sie sich zwar nicht vom Candomblé, aber umso deutlicher von der katholischen Kirche unterscheidet. 4.3.3 Der Umgang mit dem täglichen Leben

4.3.3.1

Hilfe bei Problemen des Alltags

Wie bereits zuvor unter der Betrachtung der Arbeit der Geister dargestellt (s. 4.2.2), sind es oftmals alltägliche Probleme, die eine/n BrasilianerIn zum ersten Mal in einen umbandistischen Terreiro führen: Er/Sie ist arbeitslos, krank, arm oder alleine; nicht selten auch alles zugleich. Die Hinwendung zum Terreiro erfolgt sodann als aktiver Schritt, um die Krisensituation jetzt und hier zu überwinden. Dazu konsultiert er/sie einen Geist, den er/sie um Hilfe bei der Arbeitssuche, der Genesung, dem Geldgewinn und/oder in Liebesdingen bittet. Auch sich häufenden Unglücken oder Pechsträhnen wirken die Geister in der umbandistischen Sessão entgegen. Speziell in Krankheitsfällen, wenn sich der/die Kranke die medizinische Betreuung durch ÄrztInnen oder den Kauf von Medikamenten nicht leisten kann, gilt die Umbanda als eine Alternative. Das Medium bzw. der in ihm inkorporierte Geist fungiert hier anstelle eines/r ausgebildeten MedizinerIn, behandelt u.a. gegen Schmerzen, berät bei komplizierten Schwangerschaften und führt sogar Operationen durch. Ist die Maßnahme erfolgreich, werden nicht nur der/die KlientIn den Terreiro weiterhin aufsuchen, sondern auch die durch seine/ihre Mundpropaganda angeworbenen BesucherInnen. Die Bandbreite der Hilfe im Diesseits, die die umbandistischen Terreiros allen LaiInnen offerieren, betrachtet der Theologe Ulrich Fischer (1965) aus religionspsychologischer Perspektive und beurteilt sie als Hauptursache für die Attraktivität jener Religion. Bewusst allgemein gesprochen hebt er hervor, dass die Umban-

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da „den suchenden und fragenden, den verzweifelten und mutlosen Menschen [...] 500 ganz persönlich und ganz konkret Antwort auf [ihre] Lebensprobleme“ gibt. Eine Engführung oder Einschränkung, wie diese einzelnen Probleme und Hilfen aussehen, erfolgt nicht. Stattdessen unterstreicht Fischers globale Formulierung (vermutlich unbeabsichtigt) den universalen Anspruch der Umbanda, eine Religion für alle Menschen zu sein. In etwas spezifischerer Form thematisiert Lindolfo Weingärtner einzelne der Alltagsprobleme, indem er sie als ausschlaggebend für die Hinwendung von brasilianischen ChristInnen zur Umbanda erachtet. Hierbei unterscheidet er zwischen KatholikInnen und ProtestantInnen, die von je anderen Aspekten der angebotenen Lebenshilfe angezogen werden. Die KatholikInnen erkennen demnach in der Praxis der Krankenheilung durch übernatürliche Kräfte eine Ähnlichkeit zu denjenigen Heilungen, die in Legenden von Heiligen gewirkt werden. Zudem existieren zahlreiche heilige Orte, die im Volksglauben als Stätten wundersamer Genesungen bekannt sind. Hinsichtlich beider Punkte ist „die Anziehungskraft auf katholische Kreise besonders stark, da der Katholik mit wunderbaren Heilungen, die an Wallfahrtsstätten gebunden sind, in denen ein bestimmter Heiliger verehrt wird, zu rechnen gewohnt ist“501. Hierin sieht Weingärtner das Bindeglied, das 502 „magische continuum“ , zwischen brasilianischem Volkskatholizismus und Umbanda, worauf er deren Zulauf u.a. zurückführt. Versagen jedoch die Kräfte der eigenen Religion, so ist der Schritt nicht allzu groß, die vermeintlich stärkeren magischen Mittel einer anderen Religion auszuprobieren. Zeigen sie die erhofften Resultate, war die erste Konsultation und Inanspruchnahme der umbandistischen Geister vermutlich auch nicht die letzte. Dass diese übernatürlichen Wesen den KatholikInnen nicht ganz so fremd erscheinen, liegt zudem daran, dass sie – dank des Synkretismus’ – neben ihren afrikanischen auch christliche Namen tragen. Bei den ProtestantInnen und deren ’Anfälligkeit‘ für die Umbanda ist aufgrund der Vielzahl der Gruppierungen und ihrer Herkunft weiter zu differenzieren. Weingärtner folgt der gängigen Unterscheidung, wissend um die summarische Darlegung, zwischen Einwanderer- und Missionsgemeinden. Auf einen der Gründe, warum Mitglieder der ersten Gruppe den Weg zur Umbanda finden, wurde bereits oben eingegangen. Demnach öffnet sich die jüngere Generation, die bis dahin sprachlich und kulturell isoliert lebte, dem brasilianischen Umfeld, in dem sie Orientierung sucht und sie in der Umbanda finden kann. Darüber hinaus existieren auch in evangelischen Gemeinschaften magische Bräuche, die u.a. zur Hei500 Fischer, U.: Erfüllte Sehnsucht, S. 129. 501 Weingärtner, L.: Umbanda, S. 149. 502 Vgl. ebd., S. 152. Mit diesem Begriff spielt Weingärtner auf das von Camargo konstatierte ’mediumistische Kontinuum‘ an, das zwischen Kardecismus, Umbanda und Macumba besteht. Weingärtner überträgt dies auf die Verbindung zwischen katholischem Volksglauben und Umbanda. Ein weiteres Kontinuum, in diesem Fall okkulter Art, sieht er gegeben zwischen ProtestantInnen aus deutschen Einwanderergemeinden und den religionsungebunden agierenden HeilerInnen, den so genannten ’Benzedeiros/as‘ (vgl. ebd., S. 155).

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

lung von Kranken angewandt werden. In der von Weingärtner durchgeführten Umfrage geben über 90% der teilnehmenden PfarrerInnen der IECLB an, dass 503 okkulte Handlungen in ihren Gemeinden üblich wären. Eine solcher Praktiken ist das Besprechen, das in veränderter Form auch in anderen Religionen oder im Behandlungsrepertoire von (nicht schulmedizinischen) HeilerInnen vorkommt. Dass die ProtestantInnen auf diese angebotenen Mittel zurückgreifen, wenn das Besprechen durch den/die Kundige/n aus den eigenen Reihen erfolglos bleibt, nimmt nicht Wunder. Zumal die ärztliche Versorgung weniger leicht zugänglich und bei weitem teurer ist als die magische. Auch daher lässt sich der Zulauf erklären, den umbandistische Terreiros und Benzedeiros/as (’GesundbeterInnen‘, wörtl. ’Segnende‘) unter evangelischen ChristInnen verzeichnen. Zwar arbeitet ein/e Benzedeiro/a in der Regel selbstständig und nicht an eine religiöse Gruppe angegliedert, doch wird er/sie auch gerne als Medium oder KultleiterIn in der Umbanda gesehen – nicht zuletzt aufgrund der Ähnlichkeit von Behandlungsmethoden.504 Die Gründe, warum Mitglieder von protestantischen Missionsgemeinden, die aus Nordamerika kamen und AnhängerInnen unterschiedlicher Herkunft und Schichten fanden, für die Umbanda offen sind, liegen woanders. Dabei locken v.a. ihre kardecistischen und esoterischen Elemente, die mystische Spekulationen und Interpretationen erlauben. Allerdings hält sich die Datenlage in engen Grenzen, weshalb eine auf Einzelfällen basierende Beobachtung kaum zu verallgemeinern ist. Unter erneutem Rückgriff auf Camargo und dessen Beispiele wird in der Lebenshilfe, die die Umbanda bietet und gewährt, ihre große Attraktivität gesehen. Nicht jedoch die Heilung von Kranken, die Weingärtner bis dahin ausführlich als Grund beschrieben hat, sondern das Freisprechen von Schuld wird nun als solcher erkannt. Unglückliche Umstände lägen demnach nicht in der Eigenverantwortung des Menschen, sondern seien entweder sozusagen schicksalhaft vorbestimmt oder von bösen Geistern verursacht. Der Mensch sei nur das Opfer bzw. der Spielball, den somit keine Schuld träfe. Gemäß dieser Argumentation würde in der Umbanda die Last des schlechten Gewissens und der Verzweiflung von dem/r Hilfesuchenden genommen. Die protestantische Rechtfertigungslehre, derzufolge Gott dem Menschen aus Gnade dessen Schuld zwar nicht anrechnet, um sie aber durchaus weiß, erschiene dagegen als weniger einfach und entlastend und folglich weniger anziehend. 503 Vgl. ebd., S. 154. 504 So gleicht sich beispielsweise – für den/die BeobachterIn – die Behandlung von Kopfschmerzen. Ein Caboclo der Linie von Oxóssi, der sich während einer Sessão in einem umbandistischen Terreiro in São Leopoldo manifestierte, behandelte meine Kopfschmerzen folgendermaßen: Er bedeckte die Öffnung eines zur Hälfte mit Wasser gefüllten Glases mit einem mehrfach gefalteten Tuch, stülpte das Glas um und setzte mir Tuch mit Glas auf den Kopf. Dort bewegte er beides kreisförmig, nahm es nach kurzer Zeit wieder ab und sagte, er habe die Schmerzen entfernt. Genau das gleiche Verfahren wandte eine Benzedeira an, wie mit ihr Sohn schilderte. Sie praktizierte eigenständig in São Leopoldo und war selbst katholisch.

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Betrachtet man diesen Ansatz jedoch in Bezug auf das von Weingärtner mehrfach angesprochene Thema ’Krankheit‘, so wäre seiner These der von der Umbanda proklamierten Schuldlosigkeit keineswegs gänzlich zuzustimmen. Ihm wäre dann Recht zu geben, wenn man eine Krankheit auf das Wirken eines Menschen zurückführte. Dieser kann gemäß magischer Vorstellung selbst den Schaden des anderen initiieren (z.B. durch den bösen Blick) oder mit Hilfe eines Geistes, der dazu als Handlungsgehilfe beauftragt wird. Während der/die Ausführende der übernatürlichen Welt angehört, ist der/die Verursachende im Umfeld des/r Leidtragenden zu suchen, da der Grund von Schadenszauber im Bereich von Konflikt geladenen sozialen Beziehungen liegt. Allerdings werden solche schwarzmagischen Handlungen üblicherweise der Quimbanda zur Last gelegt, nicht der Umbanda. Diese erachtet (ebenso üblicherweise) keine dritte Person als Verantwortliche einer Krankheit. Deren „Grund wird im Allgemeinen dem Individuum selbst zugeschrieben, seinem – physisch, moralisch und spirituell – unangemessenen Verhalten“505. Ernährt er/sie sich schlecht oder hat negative Gedanken, so wirkt das beeinträchtigend auf seine/ihre Gesundheit. Umgekehrt lässt eine Krankheit auf schlechte Lebensweise schließen. Die individuelle Therapie, die der Geist ansetzt, wird begleitet von der Empfehlung zu gesundheitsförderndem und moralisch korrektem Verhalten. Solche Zusammenhänge konstatiert die Umbanda als kausal gegeben, anstatt Krankheit im Kontext von Schuld und Strafe anzusehen (wie in brasilianischen Pfingstkirchen) und dementsprechend den Menschen zu verurteilen. Daher erscheint im Gegensatz zum pejorativen Begriff ’Schuld‘ die Verwendung der neutralen Begriffe ’Grund‘ und ’Ursache‘, um die Herkunft einer Krankheit zu bezeichnen, angemessener. Die Bewältigung von Problemen des alltäglichen Lebens – Weingärtner bezeichnet sie unspezifiziert und lapidar als „‚Führung‘ durch gute Geister“ in „inneren Krisen“506 – stellt einen sehr gewichtigen Grund für die Anziehungskraft der Umbanda dar, indem ethnische und gesellschaftliche Schranken überschritten werden. Nicht nur die schwarzen BrasilianerInnen haben Geldbedarf und nicht allein die weißen werden krank; nicht ausschließlich die Menschen der Unterschicht wünschen sich einen (besseren) Arbeitsplatz und nicht nur die der höheren Schichten sehnen sich nach einer harmonischen Beziehung. Zwar mögen manche häufiger und auch gleichzeitig von mehreren Problemen belastet sein als andere, doch handelt es sich hier um grundsätzlich existenzielle Angelegenheiten, die jeden Menschen betreffen können. Aber nicht allein die Umbanda bietet solche Lebenshilfe. Sowohl im Candomblé als auch im Kardecismus erfolgen Konsultationen von Orixás bzw. Geistern. Ebenfalls durch Medien vermittelt dienen die Beratungen zur Hilfe und

505 Knauth, D.R.: A doença e a cura, S. 93. 506 Weingärtner, L.: Umbanda, S. 159.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Unterstützung des/r KlientIn, was auch die Behandlung in Krankheitsfällen einschließt. Außerdem ist Heilung ein von der pentekostalen IURD proklamiertes Mittel, das zwar nicht in Trance durchgeführt, aber immerhin durch übernatürliche Kräfte bewirkt wird. Wenn jedoch Weingärtner in der Zurückweisung von menschlichem Verschulden durch die Umbanda die mögliche Ursache der christlichen Anfälligkeit für diese Neureligion (und den Kardecismus) erblickt, während die protestantischen Gruppen von der Schuldhaftigkeit des Menschen sprechen und dadurch unbequem erscheinen, so widerspricht das rasante Wachstum der IURD diesem Ansatz des Theologen. Für geschehenes Unglück macht die IURD zum einen das Wirken des Teufels und der Dämonen verantwortlich und zum anderen den Menschen, der nicht dauerhaft und willensstark gegen sie und ihre Anfechtungen ankämpft (s. 5.3). Wird seine Pechsträhne nicht beendet oder heilt seine Krankheit nicht aus, so ist es die Schuld des Menschen, da er nicht richtig geglaubt und/oder das Angebot der IURD, darunter Exorzismus, nicht in Anspruch genommen hat. Trotz dieser massiven Schuldzuweisung erfreut sich diese Pfingstkirche überaus großen Zulaufs und mittlerweile weltweiter Verbreitung. Dessen ungeachtet wirkt die Hilfe bei Problemen des Alltags in nicht unerheblichem Maß auf die Anziehungskraft der Umbanda. Dem steht auch nicht die umbandistische Ansicht entgegen, dass eine Krankheit vom Menschen selbst durch sein schlechtes Verhalten verursacht sei. 4.3.3.2

Flucht aus dem Alltag

Im Gegensatz zu den LaiInnen, die die Terreiros mehr oder weniger regelmäßig aufsuchen und sich weitgehend passiv verhalten, ermöglicht die Umbanda den Medien eine zusätzliche Form des Umgangs mit dem Alltag, nämlich die, ihm während der Trance vorübergehend völlig entfliehen zu können. Während der Phase der Possessão (’Besitzung‘) gibt das Medium seine eigene Identität auf und nimmt diejenige des Geistes an, der sich in ihm inkorporiert. Von Seite des Mediums lässt sich dieser Vorgang deuten als „Tod der täglichen Persönlichkeit [...]. Das Absteigen der Wesenheit in die Medien repräsentiert seinerseits die Geburt von neuen Persönlichkeiten.“507 Durch diesen Kontakt mit dem Heiligen erlebt der/die UmbandistIn etwas von seinem/ihrem normalen Leben gänzlich Verschiedenes und Entlastendes, auch wenn umstritten ist, ob und wie viel er/sie davon bewusst wahrnimmt. Neben dieser Besonderheit, die das Medium vor den LaiInnen auszeichnet, kann die Possessão aber noch eine weitere kompensatorische Funktion übernehmen. Dem Medium ist es durch die Annahme einer anderen, übernatürlichen Personalität möglich, neben dem Alltag auch dem Zwang der Gesellschaft und ihren Normen zu entfliehen. Die üblichen Einschränkungen werden für die Dauer der Posses507 Lima, D.B.d.F.T.: Malungo, S. 76.

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são aufgehoben, d.h. dass sich das Medium anders verhalten kann als dies die Konventionen für einen Menschen seines Alters, Geschlechts oder sozialen Status vorsehen. Wenn sich z.B. ein Greis wie ein Kind benimmt, wenn eine Frau hochmütig und arrogant auftritt, oder wenn sich ein weißer Student aus der Mittelschicht unflätig und derb ausdrückt, so widerspricht es den gesellschaftlichen Regeln. In dem Maße wie diese allgemein akzeptiert und bekannt sind, werden ihnen die individuellen Verhaltensweisen und Wünsche untergeordnet und angepasst. Gelingt dem/r Einzelnen die Sozialisierung nicht, fällt er/sie bestenfalls nur in der Öffentlichkeit auf. Gelingt sie ihm/r, kann dies auf Kosten der eigenen Gesundheit erreicht sein. Die praktische Unterdrückung seiner/ihrer Möglichkeiten kann sich psychisch und, dadurch beeinflusst, körperlich auswirken. Demnach wäre bei der Suche nach der Ursache von Krankheiten auch auf eventuelle psychosomatische Zusammenhänge zu achten. Und hier ist es wiederum die Umbanda, die – nicht selten nach erfolgloser medikamentöser Behandlung – therapeutisch wirkt. Der Anthropologe André Droogers sieht in diesem psychologischen Ansatz eine zu berücksichtigende Funktion der Trance und der sich darin ereignenden umbandistischen Possessão. Indem das Medium zum Espírito wird, verhält es sich dessen Rolle entsprechend. Das leidvoll getragene Korsett der gesellschaftlichen Normen wird von der Identität des Geistes abgelöst und aufgehoben. Je nach Geisterkategorie verhält sich das Medium sodann der Rolle entsprechend: stolz (Caboclo/a), demütig (Preto/a Velho/a), naiv (Criança), rebellisch (Exu) o.ä. Wenn nun ein altes Medium einen Geist der Criança-Gruppe inkorporiert, so ist es ihm durchaus erlaubt, sich kindlich und naiv zu benehmen. Als Cabocla kann eine Frau arrogant und hochmütig auftreten, ohne dass es Anstoß erregt. Und auch die gebildeten und sozial höher stehenden Medien können als Exu ungehemmt fluchen, schimpfen und derbe Witze erzählen. Schließlich kann auch die geschlechtliche Festlegung aufgehoben werden, indem sich in Frauen auch Oguns und in Männern Pomba Giras manifestieren. In solchen Momenten der Besitzung hat das umbandistische Medium die Möglichkeit, unterdrückte Anlagen und Verhaltensweisen auszuleben. Sind sie die Ursachen von Krankheiten, fungiert die Possessão als Ventil, das das Unterbundene erlaubt und dieses als pathologische Ursache aufhebt. Die in solchen Fällen potenzielle „Heilung kommt nicht vom Geist, sondern von der Wiederzulassung des unterdrückten Wunsches durch das Erlernen der Medienschaft“508. Zwar unterliegen die stereotypen Geisterrollen auch je eigenen Normen, doch ist damit für das Medium keine eingleisige Engführung bzw. neue Unterwerfung verbunden. Denn es kann mehreren Espírito-Kategorien als menschliche Hülle dienen und mit dem Geist auch das daran geknüpfte Verhalten wechseln. Einer zwanghaften Festlegung, wie sie die menschliche Gesellschaft oftmals vorsieht, entgeht das Medium somit relativ leicht. 508 Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 39.

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion

Dass Krankheiten ein häufiger Grund sind, warum ein/e BrasilianerIn den Weg zur Umbanda findet, wurde bereits mehrfach angeführt. Wie die Behandlung allerdings erfolgt, ist vorher noch nicht abzuschätzen, da sie individuell auf den/die KlientIn abgestimmt wird. Zum heilenden Repertoire eines Geistes gehören u.a. die Erteilung von Ratschlägen und Anweisungen sowie das Vollziehen von Handlungen und Riten. Wenn jedoch psychosomatische Krankheiten dadurch geheilt werden, dass das Medium als ’Apparat‘ des Geistes dem zwanghaften gesellschaftlichen Alltag entflieht, so ist es nicht direkt das Verdienst des Espírito. Ebenso wenig lässt sich diese therapeutische Funktion der Possessão, mit der sie auf ein auszubildendes Medium wirken kann, vorhersagen. Noch dazu ist sie dem Medium, auch wenn es geheilt wird, nicht unbedingt bewusst. Ich halte diesen psychologischen Ansatz daher zwar für durchaus plausibel, jedoch für in höherem Maße wissenschaftlich rekonstruiert als die bisher skizzierten Thesen. Wenn beispielsweise gemäß Camargo ein/e UmbandistIn, der/die vom Land in die Stadt kam, dort nach neuen sozialen Bindungen suchte und sie im Terreiro fand, so kann jene/r UmbandistIn, wenn man ihn/sie fragt, dies in dieser Form angeben. Oder wenn ein/e KatholikIn gemäß Weingärtner einen umbandistischen Geist wegen gesundheitlicher Probleme konsultiert, weil der/die eigene Heilige über geringere übernatürliche Kräfte zu verfügen scheint, so ist auch dies von dem/r KatholikIn selbst zu begründen. Anders verhält es sich m.E. beim psychologischen Ansatz, weil kaum ein/e UmbandistIn seine/ihre Medienschaft damit erklärt, dass er/sie hier endlich ausgelassen wie ein Kind spielen, derb reden, stolz oder demütig auftreten kann, und das dem Ausleben seiner/ihrer unterdrückten Möglichkeiten dient. So richtig diese Begründung sein mag, so wenig wird sie jedoch vom Medium bewusst wahrgenommen bzw. deswegen die Medienschaft angestrebt. Dennoch wirkt die Umbanda mit diesem Angebot unterschwellig anziehend. Damit steht die Umbanda aber nicht allein, denn auch in anderen afrobrasilianischen Religionen ereignen sich die Annahme einer anderen Identität und deren Rollenverhalten. Genau betrachtet wird sie darin vom Candomblé und der Quimbanda noch übertroffen, da sie die Geistrollen stärker ausgestalten. Wie die Umbanda benutzen auch diese die der jeweiligen Kategorie zugeschriebenen Gegenstände wie Pfeil und Bogen, Schwert, Spielzeug oder Pfeife. Darüber hinaus tragen die inkorporierten Espíritos spezifische Kleidungsstücke, worauf die Umbanda weitgehend verzichtet. Wenn ein Medium im Candomblé vom Geist in Besitz genommen wird, führen die HelferInnen es hinaus, statten es entsprechend mit Kleidung und Insignien aus und bringen es z.B. als Ogum in Rüstung, mit Helm und Umhang in den heiligen Raum zurück. Zu Beginn eines QuimbandaFests hingegen sind die Medien schon mit dem für die Geisterkategorie typischen Gewand bekleidet. Während sich manche erst unmittelbar vor der Sessão (und Possessão) umziehen, kommen andere bereits entsprechend gekleidet am Festort an. So kann z.B. ein Mann per Taxi zum Terreiro fahren und dabei schon das rot-

Gründe für die Anziehungskraft der Umbanda

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schwarze Kleid der Pomba Gira tragen, obwohl sie erst viel später inkorporieren wird. Die Umbanda erscheint demgegenüber nüchterner. Will ein/e BrasilianerIn die Flucht aus dem Alltag, an die sich auch psychische Kompensation und psychosomatische Therapie knüpfen kann, sichtbarer vollziehen, so wendet er/sie sich eher einem anderem afro-brasilianischen Kult zu. 4.3.4 Die aktive Beeinflussung des Heiligen Mit der Konsultation eines Geistes eröffnet sich dem Menschen die Möglichkeit, selbst etwas für sein Ergehen zu tun. Anstatt auf eine Änderung der Dinge – seien sie gesellschaftlicher, gesundheitlicher o.ä. Art – nur zu warten, agiert er selbst, um sie herbeizuführen bzw. herbeiführen zu lassen. Indem der/die KlientIn in der Sessão vor den Espírito tritt, muss er/sie die persönlichen Sorgen und Bitten konkret in Worte fassen. Dadurch verdeutlicht sich ihm/r zum einen sein/ihr Anliegen und zum anderen kann bereits dessen Formulieren eine erste Hilfe darstellen. Im Gegensatz zum stillen Gebet sind die Gedanken fokussierter und weniger anfällig für Abschweifen. Grundsätzlich steht jedem/r der Terreiro offen – unabhängig von Religion, Rasse oder Status. Insbesondere den neugierigen ErstbesucherInnen bieten die öffentlichen Sitzungen einen Zugang, der sich zwar in der Gemeinschaft vollzieht, aber dennoch die Individualität der Konsultation, die immer einzeln erfolgt, gewährleistet. Von der Hinwendung zur Umbanda und der Inanspruchnahme ihrer Angebote erhoffen sich die KlientInnen, die umbandistische LaiInnen und vielleicht getaufte ChristInnen sind, Problemlösung und Heilung. Tritt dies ein, so haben sie neben dem Gewinn das gute Gefühl, selbst daran mitgewirkt zu haben oder zumindest beteiligt gewesen zu sein. Denn ohne Aufforderung und Schilderung der Wünsche greift ein Geist auch nicht in die menschlichen Belange ein. Insofern ist der Espírito zwar der helfende und ausführende Part, doch ist der Mensch der Initiierende. Eine andere Rolle kommt dem umbandistischen Medium zu, da es seinen Körper dem Geist zur Verfügung stellt, damit dieser sich materialisieren kann. Zwar ist das Medium dann nicht wie der/die LaiIn als Bittsteller aktiv, aber agiert als Mittler zwischen jenem/r und dem Espírito in ihm. Dadurch handelt das Medium auch, allerdings ist es streng genommen nur Gefäß des wirkenden Geistes, zu dessen Gunsten es seine Identität aufgibt. Aufgrund dieses Unterschieds hinsichtlich des Handelns, der zwischen KlientIn und Medium besteht, erachte ich die These von Joachim G. Piepke (1993) in Teilen für richtig, jedoch etwas undifferenziert und daher für insgesamt zu vage. Neben der unmittelbaren Erfahrbarkeit des Heils, was die afro-brasilianischen Kulte ermöglichen, sieht Piepke ihre Anziehungskraft zudem in der Manipulation des Heiligen. Deren Wirksamkeit „verleiht dem Menschen die Gewißheit, daß er nicht der Ohnmacht überlassen ist, sondern durchaus von Gott her zur Manipula-

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Umbanda – Merkmale einer brasilianischen Religion 509

tion des Heiligen berufen, berechtigt und befähigt ist“ . Wie diese Beeinflussung abläuft und worin sie genau besteht, wird leider nicht weiter ausgeführt. Stattdessen spricht Piepke von der „Kenntnis des Heiligen“, „dem Produzent religiöser 510 Betätigung“ und „dem Vermittler von übernatürlicher Kraft“ . Damit meint er zwar die Medienschaft, nennt sie jedoch nicht beim Namen. Vielmehr rückt er die Fähigkeit zur Ausbildung bzw. Einweihung ins Blickfeld des Interesses und hebt den damit verbundenen sozialen Aufstieg hervor. Der theologische Ansatz wird somit gleich mit dem soziologischen (und oben bereits skizzierten) vermischt, ohne ihn genauer zu beleuchten. Der/Die (nicht explizit erwähnte) LaiIn scheint Piepke nur dahingehend zu interessieren, dass er/sie grundsätzlich selbst zum Medium werden kann. Jeder Mensch hat einen persönlichen Orixá, mit dessen Hilfe er „tiefer in die Geheimnisse des Universums eindringen“511 kann. Dass dies aber nicht jedem/r so einfach und spontan möglich ist, sondern erst im Zuge der Ausbildung zum Medium erfolgt, wird gänzlich verschwiegen. Zwar wird die Mittlerrolle des Mediums deutlich, aber nicht für wen und in wessen Auftrag diese erfolgt. Stattdessen erweckt Piepkes These den Eindruck, der/die MittlerIn sei zugleich der/die ManipulatorIn des Heiligen. Und genau das halte ich für irreführend, da das Medium als eigenständig handelnd erscheint; umso mehr da es (meist) nicht bei Bewusstsein den Geist empfängt. Manipuliert der/die VermittlerIn, also das Gefäß, ohne es bewusst zu tun und ohne sich nach der Trance daran erinnern zu können? Diejenigen, die das Heilige aktiv beeinflussen, sind m.E. die KlientInnen, die nicht zu Medien ausgebildeten LaiInnen, die ihre Anliegen in der Konsultation vorbringen und den Espírito vermittelt durch ein Medium zum Handeln bewegen. In dieser Möglichkeit sehe ich ebenso wie Piepke, auch wenn ich hinsichtlich der manipulierenden Person einen anderen Standpunkt vertrete, einen weiteren Grund für die Attraktivität der afro-brasilianischen Kulte. Obwohl Piepke den Candomblé als Referenzreligion im Blick hat, trifft dieser Ansatz in gleichem Maß auf die Umbanda zu. Die in diesem Abschnitt vorgestellten Gründe für die Anziehungskraft der Umbanda möchte ich ihm Folgenden um einen weiteren ergänzen. Das zielt keineswegs darauf ab, die Geltung anderer wissenschaftlicher Ansätze zu bestreiten, die die Anziehungskraft der neuen brasilianischen Religion aus z.B. soziologischer oder psychologischer Perspektive betrachten. Vielmehr beabsichtige ich, die Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung unter theologischer Sichtweise wieder und weiter anzuregen. Da in Brasilien in besonderem Maße die SoziologInnen an dem Phänomen Umbanda interessiert sind, wie die Veröffentlichungen der letzten

509 Piepke, J.G.: Die afro-brasilianischen Kulte, S. 207. Das Heilige setzt Piepke mit dem Göttlichen gleich und erläutert es „als Kraftfeld (ähnlich dem ‚Mana‘ der Polynesier) [...], das das ganze Universum durchwaltet und am Leben erhält“; ebd., S. 206. 510 Ebd., S. 207. 511 Ebd.

Gründe für die Anziehungskraft der Umbanda

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20–30 Jahre zeigen, halte ich es für sinnvoll, ihnen einen religionswissenschaftlichen Ansatz zur Seite zu stellen. Diesen siedele ich sozusagen einen Schritt vor dem von Piepke entworfenen Ansatz an, aber ebenfalls am Heiligen. Während Piepke von der Wirkung des Numinosen, die im Heil unmittelbar erfahrbar ist, und dessen Beeinflussbarkeit, um eben dieses Heil zu erlangen, ausgeht, setze ich bei dem zuvor stattfindenden Kontakt zwischen Mensch und Heiligem an. Nicht nur und erst die Manipulation, sondern auch und schon die Manifestation des Heiligen zieht die Menschen zur Umbanda. Unter welchen Aspekten die Begegnung in der neuen brasilianischen Religion erfolgt, soll nachfolgend wissenschaftlich geklärt werden. Dem schließe ich einen Vergleich mit christlichen Denominationen an, schränke aber gemäß dem Kriterium der Praktikabilität sowohl ihre Zahl als auch die Betrachtung ihrer möglichen Manifestationen ein. Ich nehme daher den Vergleich ausschließlich in Bezug auf die Hauptform der sich in der Umbanda vollziehenden Manifestation des Heiligen vor, nämlich auf den heiligen Menschen.

5

Die Manifestation des Heiligen in der Umbanda und in christlichen Kirchen

Das Heilige ist das Fremde, das Unerklärliche, das Ganz Andere. Begegnet es dem Menschen, versetzt es ihn in zugleich furchtsames und fasziniertes Staunen. Er will zurückweichen und bleiben, wird abgestoßen und angezogen. Neben den Kontrast dieser Gefühle tritt der der einander Begegnenden. Indem der Mensch das Numinose als ungeheuerlich, übermächtig und erhaben erfährt, erkennt er seine eigene Niedrigkeit, Ohnmacht und Profanität. Mit diesen Merkmalen, ohne jedoch deren (begriffliche) Erschöpflichkeit zu postulieren, beschreibt Rudolf Otto das Heilige. Ebenso wenig determinierbar sind die Varianten seiner Erscheinungsweisen. Die Vielzahl der in allen Religionen sich ereignenden Hierophanien gliedert Friedrich Heiler in einzelne Gruppen, die sich wiederum in mannigfaltige Untergruppen aufspalten. So würde beispielsweise die Aufzählung der heiligen Gegenstände, mittels derer das Sakrale in der profanen Welt erscheint, nahezu ins Unendliche führen. Sie gehören nach Günter Lanczkowskis Verständnis Heilers in die Kategorie der Manifestation (im Unterschied zur Realisation in heiliger Handlung und heiligem Wort). Hier sind darüber hinaus der heilige Ort, die heilige Zeit, die heilige Zahl, der heilige Mensch und die heilige Gemeinschaft zu verorten (s. 2.3.3). Auf diese sechs Elemente bzw. ihr Vorkommen in der Umbanda richtet sich die nachfolgende Untersuchung. Dabei wird nicht nur danach gefragt, in welcher Weise und Vielfalt sich das Heilige manifestiert, sondern auch, welche Bedeutung den einzelnen Kategorien zukommt. Diejenige, die im umbandistischen System und Glauben die gewichtigste Rolle innehat, betrachte ich auch anschließend aus christlicher Sicht unter der Fragestellung: Welcher Art und wie bedeutsam ist jene Manifestation des Heiligen hier im Vergleich zur Umbanda? Da allgemein von dem Christentum kaum zu sprechen ist, sofern man nicht nur an der Oberfläche bleiben will, und zudem in Brasilien zahlreiche christliche Denominationen existieren, beschränke ich den Vergleich auf drei Konfessionen. Die römisch-katholische und die evangelisch-lutherische Kirche behandele ich trotz und unter Berücksichtigung ihrer Differenzen gemeinsam, da sie das traditionelle Christentum verkörpern. Ihnen und der Umbanda stelle ich die sehr junge und ebenso sehr erfolgreiche neupfingstlerische Igreja Universal do Reino de Deus gegenüber. Basierend auf der Untersuchung der Manifestation des Heiligen in der Umbanda und dem anschließenden Vergleich mit christlichen Kirchen Brasiliens soll ein weiterer Grund für die Anziehungskraft der Umbanda dargelegt und bewiesen werden.

Die Umbanda als Mittlerin des Heiligen

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5.1 Die Umbanda als Mittlerin des Heiligen Während die Religionswissenschaft auf den melanesischen Begriff ’mana‘ zurückgreift, um die übernatürliche Kraft zu benennen, verwenden afro-amerikanische Religionen den aus dem Afrikanischen übernommenen Ausdruck ’aché‘ (bei der Santería in Kuba) bzw. ’axé‘ (beim Candomblé und der Quimbanda in Brasilien). UmbandistInnen verstehen Axé als ein „Machtprinzip, [...] das es erlaubt, ver512 schiedene Ziele zu verwirklichen“ , und das dabei positiv, negativ oder neutral ausgerichtet sein kann. Insofern arbeitet die weiße ebenso wie die schwarze Magie mit dieser mysteriösen Kraft, um mit ihr gute bzw. böse Absichten zu verfolgen. Die Verantwortung liegt zum einen beim Medium, das von Axé erfüllt ist, und darüber hinaus bei dem/r KultleiterIn, in dem/r es sich konzentriert. Jedoch sind beide lediglich ausführende Organe, nicht aber Quelle des Axé. Als solche sind vielmehr der Gott Olorum und die unendliche Menge der Geister zu erachten. Gemäß dem Entwicklungsgrad und der Zugänglichkeit sind die Orixás die mächtigsten und vielversprechendsten AdressatInnen, um Axé zu erlangen, weiterzugeben und zu erhalten. Als TrägerInnen des Axé fungieren aber nicht nur umbandistische Medien, sondern auch die Gemeinschaft, spezifische Handlungen, Gebete, zudem Tiere und Gegenstände. 5.1.1 Der heilige Gegenstand

5.1.1.1

Objekte in und aus der Natur

Die ganze Natur wird von Orixás durchdrungen und beherrscht. Sowohl einzelne Bereiche wie der Strand oder die Quelle als auch Elemente wie das Feuer oder die Luft haben Orixás als ihre Repräsentanten. Auf diese Weise stellt jeder Gegenstand, der der Natur zuzurechnen ist, für die UmbandistInnen eine Manifestation des Heiligen dar. In Wind und Sturm erscheint Iansã – im Blitz sogar gemeinsam mit Xangô. Erde und Himmel repräsentieren jeweils Omulu und Oxalá. Das Feuer verweist auf Ogum, und die Fauna (speziell die Bäume) auf Ossaim und Oxóssi. Wie diese Doppelungen bereits erkennen lassen, ist eine singulär und eindeutig gestaltete Verbindung, die jedem Bereich der Natur je und nur einen Orixá zuschreibt, nicht zwingend notwendig. Vielmehr fällt ein gewisses Ungleichgewicht auf, indem Xangô zusätzlich zum Blitz auch über den Donner, über Stein, Fels und Berg regiert. Ihm stehen andererseits mehrere Orixás gegenüber, die sich den Herrschaftsbereich des Wassers teilen. Im Gegensatz zur undifferenzierten Betrachtung der Vegetation wird das Wasser in verschiedene Arten und zwischen vier Orixás aufgeteilt: Iemanjá repräsentiert das Salzwasser, Oxumarê das Regen-

512 Rivas Neto, F.: Lições básicas, S. 88.

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Die Manifestation des Heiligen in der Umbanda und in christlichen Kirchen

wasser und Oxum das Süßwasser. Letzterer ist Obá zur Seite gestellt, als deren kultischer Ort ebenfalls der Fluss gilt. Andere Bereiche der Natur hingegen wie Sonne, Mond, Sterne, Licht oder Tiere sind in der Umbanda mit keinem Orixá explizit verbunden. Um diese Lücke zu schließen, könnte man auf dreierlei Weise vorgehen. Zum einen würde man sie als Elemente eines größeren Umfelds betrachten und damit dem für dieses Umfeld zuständigen Orixá zuordnen. Somit wäre Oxalá nicht nur Regent des Himmels, sondern auch der Himmelskörper sowie des von ihnen vermeintlich ausgestrahlten Lichts. Zum anderen würde im Kreis der katholischen Heiligen eine Person gesucht, die die ChristInnen mit einem jener Naturbereiche in Zusammenhang bringen, und dies sodann auf den mit ihr liierten afrikanisch-stämmigen Orixá übertragen. So verweisen z.B. Sonne und Licht auf Sinnbilder Jesu, bei dessen Verklärung sein Gesicht wie die Sonne leuchtete und seine Kleider wie das Licht weiß wurden (Mt 17,2). Da liegt es natürlich nahe, die christliche Symbolik auf Jesu Pendant Oxalá anzuwenden, auf den sodann gemäß umbandistischem Verständnis Sonne und Licht verweisen. Zum dritten könnte man sich auf den Allgemeinplatz zurückziehen, demzufolge Oxalá als der oberste und mächtigste Orixá letztlich über alle Orte herrscht. Der eventuell mühsame Rückgriff auf eine globalere Einordnung oder die katholische Tradition unterbliebe sodann. Indem jedoch Tiere weder als ein Element gelten noch als ein Ort, an dem man eine Opfergabe niederlegt, zeigt die Umbanda an ihnen als heiligen Gegenständen der Natur kein Interesse. Die Zuordnung von Natur und Orixá bzw. deren Gewichtung scheint hingegen auf ein anderes Interesse zu verweisen. Von den mehreren hundert afrikanischen Gottheiten hat es, wie bereits betont, nur eine kleine Auswahl geschafft, in afrobrasilianische Kulte einzugehen bzw. eingebettet in eine neue Religion weiterhin verehrt zu werden. Welche Orixás das sind, hängt m.E. in besonderem Maße mit ihrer Beliebtheit zusammen, die sie nicht zuletzt der ihnen zugeschriebenen Macht verdanken. Dass Xangô und Oxalá über mehrere Bereiche der Natur zugleich herrschen, zeugt so von ihrer geglaubten Stärke. Wenn sich zudem vier Orixás ein Gebiet teilen (müssen), spricht dies ebenfalls für ihre Wertschätzung, da man die verschiedenen Wasser- und Gewässerarten auf das Element an sich und somit auf nur einen Orixá hätte reduzieren können. Stattdessen werden drei weibliche und ein androgyner Orixá Teil des umbandistischen Kosmos. Da sie allerdings als Naturkräfte für eine städtische Religion des 20. Jh. – anders als beispielsweise für antike Naturreligionen – eher nicht von existenzieller Bedeutung sind, halte ich ihre Beliebtheit für den Grund, der den Orixás einen Platz in der Umbanda zuweist. Die zentrale Rolle im kultischen Geschehen nehmen sie hier im Gegensatz zum Candomblé jedoch nicht ein.

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Dass durch die Orixás die „Naturdinge“ repräsentiert werden, macht diese bereits zu heiligen Gegenständen. Weitere Auszeichnungen verbindet der umbandistische Glaube mit ihnen nicht. Keine Steinkreise wie bei den KeltInnen, kein Weltberg wie im babylonischen Kosmos, keine Mutter Erde wie die griechische Gaia, keine Sternschnuppe als Todesankündigung wie im alten China, kein heiliger Baum wie im Buddhismus etc. Vielmehr gilt die Natur als ein heiliger Ort schlechthin, anstatt in Einzelphänomene zergliedert zu sein. Dennoch gehören einige jener Naturdinge, wenn manchmal auch in leicht modifizierter Form, zu den im Kult gebrauchten heiligen Gegenständen. „In der Umbanda hat das Feuer durch brennende Kerzen und gebrannten Schnaps Anteil an den Ritualen.“514 Je nach Standort erfüllen die Kerzen, die meist einzeln stehen, nicht selten aber auch in einem siebenarmigen Leuchter stecken, unterschiedliche Funktionen. Auf dem Congá, dem Altar, dienen sie der Festigung der Beziehung zwischen dem Terreiro und den Geistern. Dieses kollektiv ausgerichtete Interesse kann auf einen speziellen Espírito fokussiert werden, indem man die Kerze vor einem Objekt postiert, das mit ihm in irgendeiner Form in Verbindung steht. Als solches benutzen die UmbandistInnen vorzugsweise eine kleine Statue des Geistes oder ein Bild von ihm. Aber auch sein Ponto riscado oder die Darstellung seines Herrschaftsgebiets kommen dafür in Frage. Oftmals hat die Kerze dann die Farbe des Espírito, für den sie bestimmt ist, z.B. eine hellblaue für Iemanjá. Weiße Kerzen, die an sich auf Oxalá deuten, sind universal einsetzbar – vielleicht auch aufgrund seiner universalen Macht und Geltung. So tragen auch die umbandistischen Täuflinge eine weiße Kerze (s.u.). Ebenfalls zum Zweck der Festigung brennen Kerzen im Fetischraum (sofern existent), der für magische Riten und Arbeiten vorbehalten ist. Wenn Kerzen hingegen außerhalb dieser heiligen Orte angezündet werden, sollen sie spirituell erleuchten. Solches gilt vornehmlich den Geistern der Finsternis, den Exus und Pomba Giras, für die man an Straßenkreuzungen, am Friedhof oder an ihrem Häuschen im Eingangsbereich des Terreiro schwarze oder rote Kerzen aufstellt. Insbesondere vor der Sessão wird diese Aufmerksamkeit den Gläubigen angeraten, weil sonst das Risiko als zu hoch erachtet wird, dass sich der vernachlässigte Espírito durch nachhaltiges Stören der Sitzung rächt. Zwar gehören Kerzen zu den von Menschen gefertigten Dingen, doch sind sie eine einfache und relativ gefahrlose Möglichkeit, Feuer in einem Innenraum zu unterhalten. Somit ist weniger die Kerze an sich als vielmehr ihre Flamme der heilige Gegenstand – bei den elektrischen Kerzen hingegen, die z.T. schon in Gebrauch sind, ist der Zusammenhang mit dem Element eher verdeckt. Bei Schnaps liegt der Fall ähnlich, da er nicht eigentlich ein Naturding ist. Aber als entflammbare Flüssigkeit verbindet er zwei gegensätzliche Naturelemente. „Der

513 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 34 [Hervorhebung weggelassen]. 514 Lima, D.B.d.F.T.: Malungo, S. 85.

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Einklang des unvereinbaren Feuers und Wassers verleiht dem Schnaps große ma515 gische Kraft“ . Insofern stellt er auf seine Weise die das Heilige kennzeichnende Kontrast-Harmonie dar. Sein Gebrauch im Terreiro gründet nicht auf seiner Eigenschaft als Rauschmittel für das Medium. Wenn dieses während der Sessão Alkohol trinkt, so ist es bereits in Trance und vom Geist in Besitz genommen. Demnach trinkt der Geist, nicht das Medium. Üblicherweise beschränkt sich die konsumierte Menge auf einige Schlucke des Lieblingsgetränks, das je nach Geisterkategorie variiert. Pretos/as Velhos/as trinken süßen Wein; Caboclos/as, Boiadeiros, Ogum und Xangô Bier; Oxum, Iemanjá und Pomba Giras Sekt; Exus, Marinheiros und Ciganos/as hochprozentigen Alkohol. Bei mehrstündigen Festsitzungen kann der Verbrauch rapide steigen. Allerdings wird auch in diesem Zeitraum nicht um des Rausches willen getrunken, sondern aufgrund der spezifischen Ausgestaltung einer Geistrolle, zu der Alkohol ebenso wie Haltung und Sprechweise dazugehören. Mit Beendigung der Inkorporation hört das typologisierte Verhalten auf. In dem Moment, in dem ein beschwipster Geist das Medium wieder verlässt, findet dieses bald wieder zu seinem Normalzustand. Gestik und Mimik, die den Espírito kennzeichnen, enden ebenso wie der alkoholisierte Zustand, denn nach umbandistischer Ansicht nimmt der Geist den Alkohol bei der Exkorporation mit, und das Medium ist wieder nüchtern. Wenn die Geister nicht selbst trinken, bieten sie ihren KlientInnen in der Konsultation oder den Gästen des Festes einen Schluck an. In diesem Fall erscheint das Angebot als Ehrerweisung. Es kann aber auch Teil der Behandlung sein, da der Alkohol wie die Passes der Vertreibung negativer Energien dient. Letztlich wird vermutlich „weniger als 10% des zu kultischen Zwecken verwendeten Alkohols auch getrunken“516. Als Gegenstand mit magischer Wirkung findet Alkohol v.a. äußerliche Anwendung zu Heilzwecken wie gegen Verspannungen oder Kopfschmerzen. Darüber hinaus soll er gegen den bösen Blick schützen und Hindernisse im Leben beseitigen. Hierzu verschüttet der Geist Schnaps auf dem Boden und entzündet ihn mit einer Kerzenflamme. Zugleich wird ihm eine segnende Funktion zugeschrieben, so dass einige Tropfen wie katholisches Weihwasser über die Gläubigen gespritzt werden. Doch nicht allein den manifestierten Espíritos ist der Gebrauch von Alkohol vorbehalten, der aber zumeist mit ihnen in Zusammenhang steht. Daher sind (wohlgemerkt volle) Schnaps-, Sekt- oder Bierflaschen beliebte Opfergaben, die je nach seiner Vorliebe dem Geist dargebracht werden. Im Sinne einer solchen aufmerksamen Geste schütten UmbandistInnen oftmals auch den ersten Schluck einer Flasche oder eines Glases für den Geist auf den Boden. 515 Ebd., S. 89. 516 Figge, H.H.: Geisterkult, S. 121. Während Figge seine Angabe als „völlig sicher“ erachtet, möchte ich mich dahingehend weniger festlegen. Lieber stimme ich der Intention der Aussage zu, dass der Anteil des getrunkenen Alkohols sehr gering ist. Nichts anderes bedeuten m.E. die angeführten 10%.

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Neben alkoholischen Flüssigkeiten gehört zu den heiligen Objekten der Umbanda auch das Wasser. Meist wird zu kultischen Zwecken gewöhnliches Leitungswasser benutzt, manchmal jedoch auch durch Regen-, Meer-, Quell- oder Flusswasser ergänzt bzw. ersetzt. Diese Vielfalt verweist auf die vier mit dem Element Wasser verbundenen Orixás und ihre Herrschaftsbereiche in der Natur. Die hohe Wertschätzung des Wassers resultiert zudem aus seiner Eigenschaft als Träger positiver und Absorptionsmittel schlechter Energien, was seinen Gebrauch vor und während der Kultsitzung unerlässlich macht. Obwohl die Geister neben Alkohol auch Wasser trinken, dient es eher selten als Opfergabe. In der Regel kommt es zur spirituellen Reinigung der Medien, der Gläubigen und des Terreiro zum Einsatz. Letzteres sollen gefüllte Wassergläser gewährleisten, die vor Statuen der Geister oder an ausgewählten Stellen des heiligen Ortes verteilt stehen. Zur Verpflichtung der Medien zählt die rituelle Waschung vor der Kultsitzung. Die Initiation des Mediums in der Taufe ereignet sich ebenfalls als Reinigung, sei es nur durch das Waschen des Kopfes oder gar durch gänzliches Untertauchen. Dies ist jedoch nur außerhalb des Terreiro in der Natur zu bewerkstelligen – je nach lokaler Gegebenheit im Meer, in einem Fluss oder unter einem Wasserfall. Ein weiterer dem katholischen Vorbild nachempfundener Wasserritus begegnet im Bespritzen der umbandistischen Gläubigen mit Weihwasser (’Água bento‘). Das Reinigungsbad des Mediums in Vorbereitung der Sitzung ist üblicherweise mit Kräutern versetzt, die die Wirkung des Wassers potenzieren sollen. Zur Reinigung des Terreiro von negativen Energien dient zudem das Verbrennen von Kräutern. Dies erfolgt in einem Räuchergefäß, das durch den Raum geschwenkt wird. Da dieser Ritus zu den Vorsichtsmaßnahmen gehört, um den sensiblen Moment der Manifestation des Heiligen in den Medien zu schützen, wird er zu Beginn der Sessão durchgeführt und reiht sich in die Eingangsgesänge, -gebete und den Klang des Glöckchens ein. Darüber hinaus greifen die Geister bei der Behandlung ihrer KlientInnen auf Pflanzen zurück, die sie ihnen meist direkt in die Hand drücken. Dazu erteilen sie den Auftrag, aus der Mischung einen Tee zu bereiten und ihn zu trinken oder an einem bestimmten Ort auszuschütten. Auch das Wegwerfen der Kräuter vor Betreten des Wohnhauses kann ein solcher Auftrag sein. Welche Pflanze der Espírito austeilt, hängt von der magischen Kraft ab, die der Geist ihr anhand des Geruchs oder Namens zuschreibt. Auf dieser Basis werden sodann Krankheiten, Arbeitslosigkeit, Geldnöte, Liebeskummer, Unglücksfälle etc. therapiert. Pharmakologische Kenntnisse liegen der Entscheidung und Anwendung nicht zu Grunde – auch nicht bei gesundheitlichen Problemen. Da sie für die UmbandistInnen in einem magischen Zusammenhang stehen, spielt die naturwissenschaftliche Sicht hier keine Rolle. Die im Terreiro verabreichten Pflanzen werden in den meisten Fällen ebenso wie die anderen kultischen Gegenstände in einem Geschäft für (afro-)religiöse Artikel gekauft. Manche Medien züchten die Kräuter auch selbst oder sammeln sie im Wald, da dann die Verbindung zur Natur stärker erhalten bleibt.

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Im Gegensatz zum Candomblé finden Steine in der Umbanda eher eine geringe Beachtung, die das Interesse zudem vornehmlich auf die selteneren Meteoriten, also die vom Himmel gefallenen Steine richtet. Der Candomblé hingegen betrachtet generell einen Stein als sakralen Gegenstand, der auf einen Orixá verweist. Während jedes Medium einen solchen Stein seines Orixá besitzt und pflegt, können sie auch an jedem sonstigen Platz mehr oder minder öffentlich aufbewahrt sein. So ist beispielsweise im Zentrum der Markthalle von Porto Alegre „ein heiliger Stein vergraben [...], der Bará oder Exú repräsentiert, den Orixá, der die Wege öffnet und schließt“517. Nach candomblistischem Glauben bringt er jedem/r PassantIn Überfluss. 5.1.1.2

Vom Menschen gefertigte Objekte

Außerhalb des Terreiro kann den UmbandistInnen ihr Glaube und ihre Funktion im Kult nicht angesehen werden. Sie unterscheiden sich weder durch Kleidung, Haartracht oder Schmuck von anderen BrasilianerInnen. Im Terreiro allerdings legen Medien, PriesterInnen und KultleiterIn die profanen Kleider ab und die sakralen an. Sie heben sich dann zwar deutlich von den nicht-gläubigen und den passiven UmbandistInnen ab, unterscheiden sich aber nicht voneinander. Anhand der Kleidung sind demnach Medium und KultleiterIn nicht zu differenzieren. Während allen Terreiros die weiße Farbe der Gewänder gemeinsam ist, variieren sie aber nach Schnitt, Stoff und Besatz. Manche verwenden reich geschmückte liturgische Kleider, die mit bunter Spitze verziert und modisch geschnitten sind. Andere Terreiros hingegen bevorzugen rein weiße, schlichte Kleidung, die vor allem bequem sein soll. Frauen tragen teils Hosen, teils mehrere Unterröcke. Zum Standard gehören jedoch Sauberkeit und Wohlgeruch der Kleider, da dies ihre Eigenschaft als Trägerinnen positiver Energie bezeugt. Durch das Weiß ihrer heiligen Kleidung signalisieren die UmbandistInnen ihre Verbundenheit mit Oxalá, dessen Farbe dies ist. Zugleich verweisen sie auf Jesus mit seinen in der Verklärung weiß leuchtenden Kleidern und setzen sich dadurch auch zu ihm in Beziehung. Jesu Person von Oxalá zu trennen, ist in der Umbanda allerdings nicht möglich, wodurch jede Verwendung der Farbe Weiß immer beide (in einer Person) repräsentiert.518 Neben dieser religiösen Intention geht es – zumindest in den Terreiros, die schlichte Gewänder benutzen – um eine gewisse Nachahmung der in medizinischen Berufen getragenen Kleidung, wodurch Kompetenz und Seriosität ausgestrahlt werden soll.

517 Brum, E.: Art. „Marco religioso no Mercado está indefinido“, in: Cidades, 2.7.1993, S. 52. 518 Die Zuordnung der Farbe scheint mir eine sekundäre Tradition zu sein, die sich an die Liierung von Oxalá mit Jesus anschloss. Da Jesus in der Verkärungsperikope mit Weiß in Zusammenhang gebracht wird und in den afro-brasilianischen Religionen dem afrikanischen Orixá entspricht, übertrug man die vermeintliche Farbe Jesu auch auf Oxalá.

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Mit der Inkorporation des Geistes kann sich ein weiterer Kleiderwechsel verbinden, der sich vorwiegend in Farbe und Insignien widerspiegelt. Ein Caboclo fordert seinen Federkopfschmuck, eine Pomba Gira ihren roten Rock, eine Preta Velha ihr schwarz-weiß-kariertes Kopftuch und ein Ogum sein Schwert. Das Gewand eines manifestierten Orixá fällt noch aufwändiger aus. Jedoch nicht in allen Terreiros ist es üblich, die Geister für die Dauer ihrer Anwesenheit entsprechend einzukleiden (bzw. die Kleider des in Besitz genommenen Mediums auszutauschen). Die einen behalten dies nur dem/der KultleiterIn und nur am Festtag des Espírito vor; die anderen kleiden jedes Medium in jeder Sessão um. Während die Stofffarbe bei den Gewändern der Geister wechseln kann, bleibt die der Medien durchgehend weiß. Auch an Festtagen ist keine Veränderung der Grundkleidung eines Mediums vorgesehen, die z.B. am Tag von Oxóssi grün sein könnte. Insofern bleiben die Variationen des Farbkanons auf die in der Sessão manifestierten Geister und ihre Apparate beschränkt. Die umbandistische Farbsymbolik kommt darüber hinaus in den Ketten zum Ausdruck, die die Medien während der Sitzung wie eine Schärpe um den Oberkörper legen. Sie sind aus aufgefädelten Glas-, Keramik- oder Plastikperlen gefertigt, können aber auch Samen, Federn, Holzstücke sowie Tierzähne aneinanderreihen. An den Ketten lässt sich zum einen erkennen, mit welchem Geist das Medium verbunden ist. Der Farbe des Guia entspricht die Farbe der Kette, die im Sinne eines führenden Gegenstands ebenfalls ’Guia‘ genannt wird: Eine hellblaue Kette deutet auf Iemanjá, eine schwarz-weiße auf eine/n Preto/a Velho/a, eine grün-gelb-weiße auf eine/n Caboclo/a. Zum anderen fungieren sie als Unterscheidungsmerkmal zwischen den aktiven TeilnehmerInnen einer Sessão. Medien tragen nur eine einreihige Kette, PriesterInnen hingegen mehrreihige Ketten, die bündelartig aus drei, sieben oder mehr bestehen. Da den geweihten Ketten Heiligkeit eignet, dürfen sie auch nur von ihrem/r BesitzerIn und dem/r KultleiterIn angefasst werden. Jedem anderen Medium des Terreiro (sowie natürlich jedem/r Außenstehenden) ist die Berührung untersagt. Die TrägerInnen der Ketten wissen sich von ihren Guias geführt, so dass sie zudem als „Talisman zum Schutz, gegen Gefahren und Verrat“519 dienen. Zu diesem Zweck tragen manche (auch passive) UmbandistInnen solche Ketten auch außerhalb des Terreiro unter der Kleidung verborgen. Sehr persönlicher Art ist auch der Fetisch eines/r UmbandistIn, indem er einerseits den Sitz des Geistes und andererseits einen Vertrag darstellt. Anstelle des sonst üblichen portugiesischen Begriffs, dessen Etymologie auf das ebenfalls portugiesische Wort ’feitiço‘ (’Zauber‘) zurückgeht, wird in der Umbanda die neutrale Bezeichnung ’assentamento‘ (’Festsetzung‘) gebraucht. Eine Weihe verbindet den Geist mit einem ausgewählten Objekt, z.B. einem Stein, einer Tonschale oder einer Statue (aus Plastik oder selbst geschnitzt), das sodann zu seinem Sitz im 519 Lima, D.B.d.F.T.: Malungo, S. 93.

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irdischen Umfeld wird. Hiervon verspricht sich der/die Gläubige allgemeine Vorteile oder Unterstützung bei bestimmten Handlungen. Um diese vom Geist zu erhalten, bringt man ihm Opfer dar. Dazu postiert man beim Fetisch Getränke, Speisen, Rauchwaren oder sonstige, geeignet erscheinende Dinge. Die Dauer dieser Verbindung hängt von dem/r Gläubigen ab, indem er/sie entweder kontinuierlich opfert und gelegentlich die Weihe erneuert oder solches unterlässt bzw. den Vertrag löst und damit die Verbindung abbricht. Eine lebenslange Verpflichtung geht der/die UmbandistIn gegenüber dem Fetisch nicht ein, was diesen grundlegend von der Beziehung zwischen Medium und seinem Guia unterscheidet. Ebenso wenig ist der Geist dauerhaft im Fetisch präsent, geschweige denn wird der Gegenstand selbst zum Espírito. „Vielmehr entspricht das Objekt dem menschlichen Medium, in das die übernatürlichen Wesen zu bestimmten Gelegenheiten einfahren“520. Werden die Opferungen eingestellt und der Vertrag dadurch von Seiten des/r UmbandistIn beendet, löst auch der Geist die Verbindung zum Fetisch. Er kann sich aber wie jeder vernachlässigte Espírito dafür rächen. Um sich davor zu schützen, führt man den ausgedienten Fetisch oftmals der Natur zu. Ist er menschlicher Gestalt, wird er nicht selten vorher hingerichtet. Was vielleicht an schwarze Magie und Voodoo-Puppen erinnert, dient in der Umbanda zur Beendigung der Zauberkraft und soll Schädigung durch den Geist verhindern. Das Verbrennen von Pflanzen wird in der Umbanda auch durch Tabakkonsum praktiziert, der ebenfalls schlechte Energien vertreiben soll. Das kultische Rauchen ist fundamentaler Bestandteil einiger Geistrollen, so dass eigentlich kaum eine Sitzung vergeht, in der ein/e Caboclo/a oder eine Pomba Gira nicht geraucht haben. Darstellungen von Pretos/as Velhos/as bilden sie meist auch mit einer Pfeife in der Hand ab. Wie die Kleidung, die Farbe oder die Haltung sind auch die Tabakwaren jeder Geisterkategorie typologisiert. Demnach raucht ein/e Cigano/a immer Zigaretten und ein/e Caboclo/a immer Zigarren. Wenn sie allerdings einmal eine Pfeife verlangen, zeugt das von schlechter Beherrschung der Geistrolle durch das Medium. Ähnlich wie der Alkohol dient der Tabak nicht als Rauschmittel zur Herbeiführung der Trance, denn das Medium raucht erst, nachdem der Geist es in Besitz genommen hat. Insofern raucht aus umbandistischer Sicht nicht das Medium, sondern der Espírito. Und wenn der Körper eines Mediums, das eigentlich Nichtraucher ist, den Tabak verträgt, kann dies „für den gläubigen Zuschauer ein Beweis für die ‚Echtheit der Inkorporation‘“521 sein. Da der Rauch als Träger von Axé gilt, findet er auch in der Konsultation Anwendung. Der Geist pustet den Körper des/r KlientIn an, was wie die Passes spirituell reinigend wirkt, und weist ihn gelegentlich an, die angerauchte Zigarre am Ende der Sitzung mit nach Hause zu nehmen. Insofern gelten auch die Tabakwaren selbst als heilige

520 Figge, H.H.: Geisterkult, S. 94. 521 Ebd., S. 122.

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Gegenstände und nicht nur der von ihnen abgesonderte Rauch, der das Element Luft symbolisiert. 5.1.2 Der heilige Ort Die Heiligkeit der Orixás, die als Elemente und Kräfte der Natur verehrt werden, geht auch auf diesen Bereich über. Der Steinbruch, der Wald und der Sumpf sind die kultischen Orte, mit denen die UmbandistInnen die Orixás Xangô, Oxóssi und Nanã Buruquê verbinden. Auch das Meer, der Fluss, der See und der Strand zählen zu den offenen heiligen Räumen. Dort werden die Opfergaben für den entsprechenden Geist niedergelegt und eine Sessão an dessen Festtag abgehalten. Obwohl sie weniger zur Natur als vielmehr zur Zivilisation gehören, fungieren in der Umbanda auch die Straße und der Friedhof als heilige Orte. Eine Begrenzung innerhalb der jeweiligen Bereiche z.B. durch Steinkreise im Wald oder hinsichtlich eines einzelnen Grabs auf dem Friedhof erfolgt nicht. In den Herrschaftsbereich von Oxalá, dem obersten Orixá, fallen alle Orte, vornehmlich jedoch der Himmel. Seine Liierung mit Jesus, der in den Himmel aufgefahren ist, liegt da nahe. Dort siedelt gemäß den umbandistisch formulierten Vaterunser-Gebeten (s. 4.2.1.1) auch der höchste Gott Olorum. Abgesehen von dieser Anlehnung an die christliche Vorlage bleibt sein Aufenthaltsort aber weitgehend unbestimmt. Als Deus otiosus hat er sich vom Menschen entfernt, was auch die räumliche Ebene einbezieht, so dass ihm kein Bereich der Umwelt als herrschaftlicher Ort eignet. Da jedoch die ganze Natur von Orixás repräsentiert wird, ist die räumliche Verortung des obersten Gottes innerhalb dieser Natur eigentlich nicht notwendig. Der Himmel als Wohn- oder Aufenthaltsort Gottes, wie ihn Friedrich Heiler konstatiert, erscheint mir daher in Bezug auf die Umbanda als eine sekundäre Tradition. Zwar erachtet die Umbanda letztlich die ganze Natur als heiligen Ort, doch hebt sie daraus keine einzelne, mit Namen versehene Lokalität heraus. Kein heiliger Berg, kein heiliger Fluss, keine heilige Quelle werden anderen Bergen, Flüssen, Quellen vor- und übergeordnet. Dieses Fehlen fällt insbesondere im Vergleich mit anderen Religionen auf – man denke nur an den Horeb, den Ganges oder Lourdes. In den afrikanischen Mythen existieren durchaus solche Spezifizierungen, die bis zur Identifizierung von Ort und Gottheit führen konnten. So tragen beispielsweise die Wassergöttinnen Obá und Oxum den gleichen Namen wie zwei afrikanische Flüsse. Angekommen und inkulturiert in Brasilien geraten jedoch solche Verbindungen in den Hintergrund, wobei diese Tendenz in der Umbanda umso deutlicher zu erkennen ist, indem sie die afrikanischen Gottheiten zu Naturkräften herabstuft. Eine Umorientierung, wonach der Orixá nun mit einem Ort der neuen brasilianischen Umgebung liiert worden wäre, erfolgt nicht. An die Stelle einer benannten geografischen Stätte tritt somit der natürliche Bereich; aus einem Spezifikum wird eine Generalisierung.

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Als gedeckte Räume, die eine dauerhafte Manifestation des Heiligen anzeigen, gelten Höhlen, Häuser, Tempel oder auch Städte. Bei der Umbanda treten erstere und letztere allerdings nicht auf. Hinsichtlich der Höhle verwundert das ein wenig, weil beispielsweise für das Element Wasser mehrere kultische Orte existieren, darunter Quelle und Wasserfall. Betrachtet man aber die Höhle in größerem Kontext, also als Teil eines Felsens, so ist sie in die Herrschaft Xangôs einzuordnen. 522 Die Suche nach einer „heiligen Stadt als Wallfahrtsstätte“ verläuft ebenso unergiebig, was wiederum verwundert, denn schließlich entstand die Umbanda im urbanen Umfeld der damaligen brasilianischen Hauptstadt. Dieser Lebensraum wird mit der Zivilisation gleichgesetzt, die ihrerseits als von den portugiesischen HerrInnen dominiert und repräsentiert erscheint. Hier leben die frühen UmbandistInnen, die jedoch nicht zur gesellschaftlichen Oberschicht gehören, sondern von ihr ausgeschlossen sind. In gleicher Weise gehören die typologisierten Geister des umbandistischen Kosmos in den marginalisierten Bereich: Kinder, Greise, Schwarze, Prostituierte, Gauner. Diejenigen Espíritos, deren Biografie ein Leben im städtischen und zivilisierten Haushalt jener HerrInnen aufweist, sind keineswegs die HerrInnen selbst, sondern die davon noch weit entfernten Crianças und die versklavten Pretos/as Velhos/as. In der Umbanda sind die Verhältnisse umgekehrt, denn „die Macht kommt von den Schwachen“523, während die mächtige Oberschicht keine Rolle spielt. Indem sie im Kosmos der Geister nicht existiert, gibt es m.E. auch nicht den mit ihr eng verbundenen Herrschaftsbereich der Stadt. Darüber hinaus pflegt die Umbanda keine heilsgeschichtliche Tradition, die sich mit den Wirkstätten einer Person oder den Plätzen besonderer Ereignisse verbindet. Analog z.B. zum Buddhismus könnten der Geburtsort, der Terreiro und der Sterbeort von Zélio de Moraes zu solchen Wallfahrtsorten avancieren. Jedoch fehlt – bisher – das Interesse an der Glorifizierung einer Stifterfigur. Dass er aber in den 80er Jahren immerhin als vermeintlicher Gründer der Umbanda identifiziert wurde und dadurch einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangte, könnte eventuell der Grundstein für seine künftige Verehrung in umbandistischen Kreisen sein. Dem könnte sich sodann die Verehrung von Niterói und Rio de Janeiro als heilige Stätten und Städte anschließen. Geht man hingegen davon aus, dass ein Ort durch das Erscheinen einer Gottheit oder eines Geistes zum heiligen Raum qualifiziert würde, so stößt man auch hier schnell an Grenzen. Die afrikanischen Gottheiten wurden in der Umbanda degradiert, ihre Wirkstätten und Zuständigkeitsbereiche generalisiert und die von ihnen handelnden 522 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 142 [Hervorhebung weggelassen]. 523 Birman, P.: O que é a Umbanda, S. 48. Als Ausnahmen könnten diejenigen Geister angesehen werden, die üblicherweise der Oberschicht angehören und auch inkorporieren, wie die Berufsgruppen Arzt und Richters. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Medizin und Gerechtigkeit auch in den Tätigkeitsbereich der Orixás fallen, nämlich Omulu und Xangô. Dass hingegen Geister auftreten, die die koloniale Unterdrückung und Marginalisierung repräsentieren, wie SklavenhändlerInnen, PortugiesInnen oder Angehörige des königlichen bzw. kaiserlichen Hofstaats, halte ich zwar nicht für gänzlich unmöglich, aber für höchst unwahrscheinlich.

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Mythen unwichtig. Die typologisierten Geister wiederum sind zu viele und keineswegs ’kanonisiert‘ oder standardisiert, als dass einem von ihnen die Ehre eines Wallfahrtsortes zukäme. Auch Reliquien oder Gräber, die in verschiedenen Religionen zu Pilgerzielen werden, gibt es in der Umbanda nicht – vielleicht ist sie als Neureligion dazu noch zu jung. Betrachtet man sie jedoch – wie sie sich selbst sieht – als Mutter aller Religionen, könnte man auf der Suche nach einer Heilsgeschichte und ihren Ereignissen bei ihrer vermeintlichen Urzeit „in nicht erinnerba524 ren Epochen“ ansetzen, als sie noch die eine, universale Anschauung war. Aus umbandistischer Sicht liegt das Zentrum Lemuriens im heutigen Brasilien, so dass man immerhin von einem heiligen Gebiet sprechen könnte. Eine Eingrenzung oder nähere Bestimmung dieses Bereichs unterbleibt ebenso wie die Konzentrierung auf eine Stadt, die zur heiligen Stadt konstruiert würde. Bisher hat die Umbanda keine solche Tradition ausgeprägt, und es ist fraglich, ob dies noch erfolgen wird. Einzelne Ansatzpunkte wären m.E. vorhanden und mit der Person Zélio de Moraes verbunden. Jedoch hängt es zum einen von der Wertschätzung seiner Bedeutung und zum anderen vom Wunsch nach einer überregional verehrten einzelnen Stätte ab, ob es eines Tages auch in der Umbanda eine heilige Stadt geben wird. Fragt man allerdings nach dem Anreiz und Gewinn, den eine solche Entwicklung bringen würde, so hält man sie doch für eher unwahrscheinlich. Denn alles, was die UmbandistInnen sich von ihrer Religion erhoffen, können sie in ihrem Terreiro zu erhalten hoffen. Ein anderer, heiliger(er) Ort als Zielpunkt einer Wallfahrt wäre demnach nicht nötig. Zu den gedeckten heiligen Orten zählen in besonderer Weise die Häuser, die z.T. im Zuge des kulturellen Fortschritts von ursprünglich umfriedeten offenen Räumen über kleine Hütten zu großen Gebäuden entwickelt wurden. Bereits „das menschliche Haus ist an sich ein Heiligtum“525 und einzelnen Bereichen kann eine besondere Sakralität zukommen wie z.B. der Schwelle, dem Hochsitz oder dem Herd. Eine solche Aufgliederung nimmt die Umbanda nicht vor, wohl ist aber das ganze Haus gegen schlechte Energien zu schützen. Als die sensiblen Stellen gelten die Eingänge, sei es zum Haus selbst oder schon zum Grundstück. In beiden Fällen werden magische Pflanzen dort postiert. Der Eingangsbereich (aber immer außerhalb des Gebäudes) wird auch als Lebensraum Exus, des Herrn der Wege, erachtet. Er entscheidet über den Zugang zum Haus und kann ihn den Unerwünschten verwehren. Damit er diese Aufgabe aber auch erledigt, ist es notwendig, den Exu wohl zu stimmen, ihm also eine Gabe darzureichen oder eine Kerze für ihn anzuzünden. Das gleiche Prinzip gilt bei Terreiros, die in besonderer Weise eines zufriedenen und handhabbaren Exus bedürfen, da er sonst die positiven Energien und sogar die Sessão stören könnte.

524 Giumbelli, E.: Zélio de Moraes, S. 195. 525 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 130 [Hervorhebung weggelassen].

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Für ihn wird daher im Vorgarten ein kleines Häuschen aufgestellt und mit Opfern versehen. Nicht direkt als Haus, aber immerhin gedeckt und daher dieser Kategorie zuzuordnen, sind die kleinen Nischen zu bezeichnen, die sich auf den Grundstücken von Privatleuten und des Terreiro finden. Unter einem mit Schmucksteinen verzierten Bogen steht die Statue eines Orixá oder typologisierten Geistes, der Blumen, die bevorzugte Speise oder eine Kerze beigelegt sein kann. In manchen Nischen sind auch mehrere verschiedene Statuen (z.B. Nossa Senhora Aparecida und ein Caboclo) nebeneinander platziert.

Abb. 12: Eine Nische für Iemanjá steht im Vorgarten eines Wohnhauses in São Leopoldo.

Das eigentliche heilige Haus in der Umbanda aber ist der Terreiro (port. ’Gelände‘). Der von Heiler generalisierend verwendete Begriff ’Gotteshaus‘ erscheint in diesem Zusammenhang irreführend, wenn man vom Heiligen als Substanz der Religion, nicht aber vom Göttlichen ausgehen will. Gleiches gilt für die ebenfalls verwendete Bezeichnung ’Gotteswohnung‘. In Bezug auf die Umbanda würde ich eine abstraktere Formulierung befürworten, die das Haus weder auf die Substanz des Göttlichen noch auf die Funktion des Wohnens beschränkt. Aus sprachhistorischer Perspektive ist wohl ’Tempel‘ der neutralste und treffendste Begriff, da er – abgeleitet vom Griechischen (τέμνειν ’schneiden, absondern‘) – einen ’Einschnitt‘ verdeutlicht. Er markiert den Ort, an dem das Heilige die profane Umgebung zerteilt. Die gleiche Etymologie steht auch hinter dem lateinischen ’tempus‘, das dieses Geschehen auf einen Zeitpunkt bezieht. Nicht selten bezeichnen die UmbandistInnen ihr Kultgebäude auch als ’Templo‘, wobei dies weder der vorrangige noch der einzige Ausdruck ist. Da er zudem nicht auf Größe, Bedeutung oder Architektur des Kultgebäudes rückschließen lässt, ist er auch nicht als Oberbegriff einer Kategorie zu verstehen. Die Titulierung obliegt ganz dem/r KultleiterIn,

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der/die ihn errichtet und ihn auch als ’Tenda‘ (Zelt), ’Centro‘ oder schlicht ’Casa‘ (Haus) bezeichnen kann. Eher selten ist der Begriff ’Igreja‘ (Kirche), da er überwiegend christliche Sakralgebäude benennt. Eine geregelte Zuordnung der Bezeichnungen zu bestimmten Gebäudetypen, Ausstattungen oder personellen Gegebenheiten wie dies bei den christlichen Gotteshäusern – hier trifft der Begriff zu – üblich ist, gibt es bei der Umbanda nicht. Häufig ist der Terreiro ein (äußerlich) einfaches Haus, das sich von den benachbarten Wohnhäusern nicht sonderlich unterscheidet. Anhand von architektonischen Besonderheiten oder überragender Größe, die ihn als Kultgebäude kennzeichnen würden, ist der Terreiro nicht zu erkennen. Er hat weder einen Turm, noch besondere Fenster oder ein Portal, keine Kuppel oder kunsthandwerkliche, reiche Verzierungen. Oft weisen Schilder, Leuchtreklamen oder Plakate, die Namen und Sessão-Zeiten vermerken, auf die Funktion des Hauses hin. Genauso oft kann aber auch jeder Hinweis fehlen bzw. nur zu der Zeit, wenn jemand da ist, angebracht werden. Wer dann nicht weiß, dass es sich um einen Terreiro handelt, bemerkt ihn nicht als solchen.526 Auch eine Besichtigung touristischer Art, bei der man das heilige Haus einfach so betritt, sich umsieht und es unauffällig bzw. unbehelligt wieder verlässt, gibt es bei den Terreiros nicht. Jeder Besuch, auch der spontane, klingelt und wird sodann persönlich von einem Medium geführt und informiert. Hierin drückt sich auch der private Charakter aus, der jedem Terreiro eignet, zumal es häufig das Haus des/r KultleiterIn ist, der/die es selbst eingerichtet hat. Zwar steht die umbandistische Kultstätte prinzipiell jedem/r offen, doch ist sie kein öffentlicher, anonymer Raum. Wie aber auch „der christliche Kultraum [...] hervorgegangen [ist] aus Versammlungsräumen in Häusern“527 und im Laufe von Jahrhunderten die monumentalen Ausmaße einer Basilika, eines Doms und eines Münsters anzunehmen vermochte, so steht eine derartige Entwicklung prinzipiell auch den umbandistischen Terreiros offen. Die Umbanda ist mit ihrer 100-jährigen (oder erst ca. 80jährigen) Geschichte noch relativ jung und spielt sich bisher eher im privaten Rahmen der Gesellschaft ab. Von einer öffentlichen und einflussreichen Position, wie sie z.B. die katholische Kirche in Brasilien einnimmt, ist sie zwar noch weit entfernt, aber nicht ausgeschlossen. Insofern wäre es der Umbanda theoretisch möglich, ähnliche organisatorische Strukturen und eine typische Architektur auszubilden. Würde dies angestrebt, wäre es im Laufe der Zeit auch zu erreichen. Dann würde sich vermutlich auch der private Charakter der Terreiros wandeln und sie für jede/n sichtbar und ohne zu Klingeln frei zugänglich machen.

526 Es gibt allerdings auch Ausnahmen, d.h. Terreiros, die sich durch bauliche Extravaganz von der Umgebung und den umliegenden Gebäuden abheben. Entsprechend den eigenen Vorstellungen kann jede/r KultleiterIn seinen/ihren Terreiro errichten und ausstatten. Je mehr Geld ihm/r zur Verfügung steht, desto größer und prächtiger kann dann der Terreiro ausfallen. 527 Ebd., S. 138 [Hervorhebung weggelassen].

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Die örtliche Lage eines Terreiro wird meist von praktischen Aspekten bestimmt, d.h. salopp ausgedrückt: Wo der/die KultleiterIn wohnt, ist auch die Kultstätte; also mitten im Wohngebiet. Eine exponierte Lage, wie z.B. allein stehend auf einem Hügel, kommt dagegen recht selten vor – ebenso wie die Errichtung an einer prominenten Stelle, sei es auf dem Grab einer verehrten Person oder angezeigt durch übernatürlichen Hinweis. Trotz der wenig ausgezeichneten Örtlichkeit sowie der häufigen äußerlichen Unscheinbarkeit trennt der Terreiro den heiligen Raum von der profanen Umwelt. An den Gesten der UmbandistInnen, die sich beim Betreten leicht verbeugen und die Handflächen aneinander reiben, ist seine Besonderheit immerhin zu erkennen. Die Anzahl der Zimmer variiert stark und kann von einem einzelnen bis hin zu mehreren Räumen mit unterschiedlichen Funktionen reichen: ein Gästezimmer, ein Warteraum, eines für Einzelbehandlungen, ein Umkleidezimmer, ein Raum mit den rituellen Utensilien sowie der große Hauptraum, in dem Unterweisungen und Sitzungen stattfinden. Dieser saalähnliche Raum teilt sich seinerseits in einen sakralen und einen profanen Bereich528, die z.B. durch verschiedene Bodenbeläge oder (nicht-)vorhandene Bestuhlung optisch separiert sein können. Deutlicher ist es, wenn der „Besucherteil [...] durch eine Art 529 halbhohes Chorgitter vom Medienteil abgetrennt“ wird. In jenem inneren heiligen Bereich befindet sich an der Frontseite sozusagen das Allerheiligste, der Altar, der oft mit weißen Tüchern bedeckt ist und aus mehreren Stufen besteht. Auf jeder Stufe haben Kerzen, Opfergaben, Lieblingsspeisen und getränke für die Geister, ein Kruzifix, Wassergläser, Heiligenbilder sowie zahlreiche kleine Statuen von Orixás und typologisierten Geistern ihren festen Platz: ein Caboclo mit Pfeil und Bogen, Jesus mit ausgebreiteten Armen, eine Preta Velha mit Pfeife, der Heilige Georg auf seinem Pferd, ein Marinheiro im Matrosenanzug, ein Exu mit Hörnern und Dreizack, eine Cigana in buntem Rock, Nossa Senhora Aparecida, um nur einige zu nennen. In jeder Sessão wird der Altar neu geweiht, wozu man einen Ponto riscado aufmalt. Dieser „versieht ihn [den Altar] mit heiligen Eigenschaften und transformiert ihn in axis mundi“530, so dass aus einem Ort, an dem das Heilige erscheinen kann, die Mitte der Welt wird. Nicht selten verfügt der Kultraum auch über Nebenaltäre, die jedoch einzelnen Espíritos bzw. Geistergruppen geweiht sind und deren Gestaltung sich ausschließlich an jenen orientiert. Im Gegensatz zu vielen Religionen, die das Betreten des heiligen Ortes innerhalb ihres Sakralbaus mit restriktiven Regeln belegen und nur einzelnen Personen nur zu bestimmten Zeiten zugänglich machen, gewährt die Umbanda größere Freiheiten. Der heilige Bereich ist zwar tabu, doch wenn man die Schuhe auszieht, 528 Der heilige Bereich innerhalb des Terreiros wird auch als ’sala da congá‘ bezeichnet, als der ’Raum des Altars‘, in dem die Medien inkorporieren. Der profane Bereich, in dem sich die Klienten aufhalten, wird dagegen ’sala da assistência‘ genannt, ’Raum der Anwesenheit‘ (vgl. Velho, Y.M.A.: Guerra de Orixá, S. 131). 529 Figge, H.H.: Geisterkult, S. 67. 530 Lima, D.B.d.F.T.: Malungo, S. 73 f.

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erhalten auch LaiInnen Zugang und dürfen sich dem Altar nähern. Allerdings verzichten manche Terreiros sogar auf diese Verhaltensnorm, während andere darüber hinaus das Ablegen von Brille und Uhr fordern. Neulinge und BesucherInnen werden immer von einem Medium begleitet, so dass sie sich gewissermaßen unter Aufsicht im heiligen Bereich bewegen. Die Medien selbst hingegen können ihn jederzeit aufsuchen. Für die Dauer der Sessão allerdings gelten zusätzlich zum Ausziehen der Schuhe andere Regeln, die den Zugang für LaiInnen stärker beschränken. Zu Beginn und Ende jeder Sitzung ist der sakrale Raumteil allein den aktiven UmbandistInnen, also PriesterInnn, Medien, MusikerInnen vorbehalten. Erst wenn die Geister inkorporiert sind, die diesen heiligen Bereich im Übrigen nicht verlassen, dürfen die LaiInnen hinzutreten. Zu dem Zeitpunkt, an dem der/die KultleiterIn den Zugang erlaubt, verlässt der/die KlientIn „den profanen Teil des Kultzimmers und begibt sich in den heiligen Raum, wo die Wesenheiten ‚arbeiten‘“531. Nach Beendigung der Konsultation kehrt er/sie in den profanen Bereich zurück und wartet dort die Exkorporation der Espíritos sowie den Abschluss der Sitzung ab. Mit dieser Regelung wird zwar der Aufenthaltsort der KlientInnen beschränkt, nicht jedoch ihr Sichtfeld. Ihnen wird zu keiner Zeit der Sessão der Blick verwehrt und beispielsweise durch einen Vorhang, ein Gitter oder eine Wand versperrt, wie es in orthodoxen Kirchen üblich ist. In der Umbanda sehen die KultteilnehmerInnen von ihrem Platz aus alle Riten und Handlungen, die zur Manifestation des Heiligen in den Medien führen. Sie erkennen auch den Moment, in dem es nicht mehr der heilige Mensch ist, der im sakralen Bereich steht, sondern der inkorporierte Geist. Auf diese Weise nimmt die Umbanda zwar eine gewisse räumliche Trennung vor, die die LaiInnen aber weder dauerhaft noch in der visuellen Anteilhabe am Heiligen ausschließt. In gleicher Weise laufen die im Freien abgehaltenen Sessões ab. Wenn am Festtag von Iemanjá am Strand ein Partyzelt den Terreiro ersetzt, so gibt es darin ebenfalls einen heiligen und einen profanen Bereich (und keinen Sichtschutz). Der Feiertag eines Geistes kann auch an seinem Tempel begangen werden, der ausschließlich ihm geweiht ist. Nur an diesem Tag ist er geöffnet und das Betreten erlaubt. Allerdings gibt es nicht viele solcher Tempel, und noch weniger mit überregionaler Bedeutung. Die Errichtung eines Tempels hängt vom Ehrgeiz und Finanzstatus eines/r UmbandistIn ab, der/die dies in Eigeninitiative durchführt. Ein regelrechtes ’Tempelfeld‘ liegt am Rand der südbrasilianischen Großstadt Porto Alegre. Dort hat die KultleiterIn Tala in den letzten Jahrzehnten bereits über acht solcher Tempel aufgebaut und plant weitere. Auf dem privaten, durch einen Zaun abgegrenzten Gelände befinden sich u.a. der als Wehrburg gestaltete Tempel des Orixá Ogum-Heiliger Georg, der der Akropolis nachempfundene Tempel von Iansã-Heilige Barbara und die recht große ’Sklavenhütte‘ der Pretos/as Velh/as. Zudem errichtete Tala einen äußerlich wenig ägyptischen Isis-Tempel und einen 531 Ortiz, R.: A morte branca, S. 98.

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farbenfrohen Tempel des Salomo, wobei weder die Göttin noch der König mit Orixás liiert werden. Um die Liste der heiligen Orte, die Heiler benennt, zu komplettieren, sei noch auf drei weitere kurz hingewiesen. „Der Glaube an Gottes Gegenwart im Raum 532 findet seinen sichtbaren Ausdruck in der Gebetsrichtung“ . Die Umbanda jedoch entbehrt dieser Tradition, da zum einen geglaubt wird, dass sich Olorum dem Raum entzogen hat. Zum anderen begegnen die Orixás, die ersatzweise an des Gottes Stelle treten könnten, überall im Raum, so dass die Fixierung einer Richtung schwer fiele. Auch die Orientierung an der Sonne, ihrem Aufgangsort oder Verlauf ist nicht dienlich, da in der Umbanda kein einzelner Bereich der Natur die anderen an Bedeutung oder Heiligkeit übertrifft, wie dies bei Naturreligionen oder den ÄgypterInnen der Fall ist. Während andere Religionen wiederum sich im Gebet nach der Lage eines zentralen Heiligtums wie z.B. einer heiligen Stadt ausrichten, kommt dies für die UmbandistInnen in Ermangelung eines solchen schlicht nicht in Frage. Würde die Vorgabe einer worauf auch immer gründenden Gebetsrichtung existieren, so wäre das in manchen Terreiros schwierig zu realisieren, da sie meist in ein Wohnhaus integriert und selten reine Sakralbauten sind. Wenn die Geister nicht für kurze Dauer im Medium manifestiert sind, so gilt der astrale Raum als ihr Aufenthalts- und Wohnort. Dieser wird lokal oberhalb der Erde, dem physischen Raum, zu dem die Espíritos in den Sessões hinabsteigen, gedacht sowie jenseits des Himmels, der noch zum natürlichen Herrschaftsbereich von Oxalá zählt. Der astrale Raum stimmt demnach m.E. mit dem von Heiler als heiligen Ort angeführten unendlichen Raum überein. Allerdings erscheint aufgrund von vagen und widersprüchlichen Formulierungen die umbandistische Vorstellung jener Sphäre wenig ausgefeilt, so dass ihr eher eine marginale Bedeutung und Beachtung zukommt. Indem die Umbanda an der praktischen Lebenshilfe interessiert ist, liegt ihr Hauptaugenmerk auf die irdische Anwesenheit der Geister während der Inkorporation, wohingegen die Frage nach ihrem sonstigen über- und außerirdischen Aufenthaltsort weit in den Hintergrund tritt. Ebenso wenig detailliert ausgearbeitet, aber doch existent, ist in der Umbanda die Idee eines heiligen Weges, auf dem sich der Mensch befindet. Vom Spiritismus wurde die Vorstellung der Entwicklungsstufen, auf denen sich Menschen und Geister mit dem Ziel der Vervollkommnung bewegen, übernommen. Abhängig vom Evolutionsgrad ist der jeweilige Aufenthaltsort, und als solcher – wenn auch nicht als der beste – wird auch die Erde erachtet. „Je mehr diese ‚Orte‘ entwickelt sind, desto mehr entfernen sie sich von der Erdkruste, die der materielle Raum ist.“533 Insofern führt der Weg über viele Wiedergeburten und Existenzen in den unendlichen, astralen Raum, in die Nähe der hoch entwickelten Geister und Gott. Eine weitere Ausdifferenzierung dieses Weges, seiner Etappen und des Voran532 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 145 [Hervorhebung weggelassen]. 533 Bobsin, O.: Entrevista com a sacerdotisa, S. 48; Auszug aus einem Interview mit einer UmbandaKultleiterin.

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schreitens erfolgt nicht. In der umbandistischen Praxis spielt dies eine sekundäre Rolle, da sie sich vorrangig der Lebenshilfe widmet. Insofern ist die Umbanda weniger auf die jenseitige Zukunft des Menschen konzentriert als vielmehr auf sein jetziges Ergehen im Diesseits. 5.1.3 Die heilige Zeit Mit der Vorstellung eines heiligen Ortes ist eng die einer heiligen Zeit verbunden, wobei beide punktuell aus der profanen Homogenität herausragen. Während jedoch ersterer dauerhaft sakralen Charakter hat, wird letztere begrenzt. Die Zeitspanne kann wiederum variieren und nur einige Stunden, Tage, Jahre oder gar Weltperioden umfassen. Im Gegensatz zur normalen Sessão, die im Terreiro abgehalten wird, findet an einem heiligen Tag die Festsessão oftmals in besonderer Nähe des Anlasses statt. Dementsprechend begehen die UmbandistInnen den Festtag von Oxóssi im Wald und veranstalten zu Ehren von Ogum eine Prozession zu seinem Tempel. Der sich aus einzelnen Daten ergebende Festkalender der Umbanda ist jedoch stark dem religiös-katholischen und dem staatlich-brasilianischen angepasst, so dass er sich kaum von der heiligen Zeit des Umfelds unterscheidet. Auch hinsichtlich der Dauer des Jahres und der jährlichen Wiederkehr der Feste weicht die umbandistische Tradition nicht ab. Insofern huldigen die UmbandistInnen jedes Jahr am 20.1. ihrem Orixá Oxóssi, während die KatholikInnen den Heiligen Sebastian feiern.534 Aufgrund dieser Liierung nutzt die Umbanda die vorhandenen Strukturen, um sie sodann auf ihre Weise umzuinterpretieren und umzugestalten. Nicht das Leben und der Tod des Märtyrers, sondern der Orixá des Waldes und der Jagd stehen im Mittelpunkt. Jedoch auch seine Biografie interessiert nicht, obwohl die afrikanische Mythologie über ihn wie über alle Orixás 535 vielfältigen Stoff liefern könnte. Indem aber die Umbanda sie als Naturkräfte statt als Gottheiten verehrt, treten die von ihnen erzählenden Mythen in den Hintergrund bzw. beschränken sich auf einen Bruchteil. Während also das Datum identisch ist, unterscheiden sich die gefeierten Personen, und die Gegenwart der mythischen Urzeit konzentriert sich in der Präsenz des Orixá. Dass z.B. Oxóssi über kein genuin eigenes Datum verfügt, ist dem Synkretismus geschuldet, dank dem die afrikanischen Religionen unter katholischer Obhut in Brasilien überlebten. Ein sozusagen zweiter Festtag pro Orixá-Heiligem/r würde da merkwürdig anmuten. Allerdings können zwischen den Regionen die Liierun-

534 Allerdings ist zu beachten, dass die UmbandistInnen an einem solchen Feiertag nicht ausschließlich ihrem Orixá oder Geist huldigen. Nachdem sie in katholischem Umfeld leben, zum großem Teil selbst dieser Konfession angehörten, können sie durchaus auch an den katholischen Feierlichkeiten teilnehmen, wobei nicht auszuschließen ist, dass sie auch diesen Kontext umbandistisch interpretieren. 535 Zahlreiche afrikanische Mythen hat Reginaldo Prandi zusammengestellt in: Mitologia dos orixás, São Paulo 2001.

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gen variieren, so dass beispielsweise der Tag von Iemanjá in São Paulo am 2.2. (am Tag von Nossa Senhora dos Navegantes) begangen wird, in Rio de Janeiro hingegen am 15.8. (am Tag von Nossa Senhora da Glória), wenngleich die Feierlichkeiten am 31.12. stattfinden. Darüber hinaus besteht auch zwischen den afrobrasilianischen Religionen Uneinigkeit bezüglich der Entsprechung von Orixá und Heiligem/r. So liiert der Candomblé Oxóssi mit dem Heiligen Georg und feiert den Orixá folglich am 23.4., wenn die Umbanda Ogums gedenkt. Trotz der auch auf kalendarischer Ebene erfolgten Anpassung der Umbanda an den vorherrschenden Katholizismus hat sie sich bei zwei Festtagen von der Matrix gelöst. Diese beiden fallen vielmehr mit staatlich-politischen Daten zusammen – teils aufgrund eben dieses Ereignisses, teils aus (vermeintlichem) Zufall. Als Festtag der Pretos/as Velhos/as gilt den UmbandistInnen der 13.5., da es ein 13. Mai war, an dem Prinzessin Isabel im Jahr 1888 das Sklaventum beendete. Nachdem die Geisterkategorie der Alten Schwarzen eben jene SklavInnen repräsentiert, liegt die Identifizierung ihres Festtags mit dem historischen Datum nahe. Insofern begegnen sich hier memoriale Aspekte und in die Gegenwart transportierte Anklänge an eine Heilsgeschichte – wenn auch dieses Ereignis nicht in mythischer, sondern in relativ junger Vergangenheit liegt. Dass die Umbanda selbst erst später entstand als das am Festtag erinnerte Geschehen, ist unerheblich. Allerdings bleibt unklar, wie viele UmbandistInnen sich der Historizität und Bedeutung des Datums bewusst sind bzw. in ihm lediglich und ausschließlich den Tag der Pretos/as Velhos/as sehen. Der andere umbandistische Festtag, der sich das Datum mit einem politischen Geschehen ’teilt‘, wird am 15.11. begangen. Im Jahr 1889 putschte das Militär erfolgreich gegen den Kaiser, beendete damit die Monarchie und rief die Republik aus. An diesem Datum, das zum nationalen Feiertag erklärt wurde, feiert die Umbanda ihren Geburtstag, den ’Dia Nacional de Umbanda‘. Ein Zufall, wie ein umbandistischer Priester meint. Wenn man aber das langjährige Desinteresse an einer Gründergestalt536 berücksichtigt und um die Anlehnungsfähigkeit des umbandistischen Kalenders an einen anderen, bereits etablierten weiß, so erscheint mir dieser Zufall fast beabsichtigt. Wie dem auch sei, dieses Gründungsdatum ist letztlich das einzige wirklich heilsgeschichtliche Fest der Umbanda. In dieser jährlich wiederkehrenden heiligen Zeit wird des Anfangs gedacht, nicht des mythischen in Lemurien oder Afrika, sondern des modernen in Brasilien im Jahr 1908. Eine heilige Zeit, die auf kosmischen oder trophischen Begebenheiten gründet, kennt die Umbanda nicht. Es gibt kein Fest der Sonnenwende wie bei den GermanInnen, kein Erntefest wie bei den GriechInnen und auch keine anderen Daten, die auf Jahreszeiten oder Ernährung gründen. Das mag angesichts der besonderen 536 Das Desinteresse spiegelt sich deutlich darin wider, dass es keinen Festtag gibt, der inhaltlich mit dem Gründer der Umbanda verbunden ist. Weder seines Geburts- noch sein Todestags wird gedacht – unabhängig davon wer als dieser Gründer gilt. Wenn jedoch nicht einmal er verehrt wird, woher stammt dann das Gründungsdatum?

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Rolle, die einzelnen Bereichen der Natur in der Umbanda zukommt, etwas verwundern. Doch ist dieser Umstand vermutlich dem entstehungsgeschichtlichen Kontext geschuldet, indem die Umbanda in ihrer Anfangszeit nicht die Religion einer agrarisch oder nomadisch geprägten Gruppe war. Stattdessen ging sie aus einer urbanen Gesellschaft zur Zeit der Industrialisierung hervor, die von Einflüssen der Natur und ihrer Phänomene unabhängig war. Damit ist zudem zu begründen, warum die Umbanda keine Naturfeste von den Referenzreligionen übernommen hat. Dass dennoch einige Feiertage auf solche Daten fallen, hat seine Ursache in der Orientierung am katholischen Heiligenkalender. Zwei von vier den Lauf der Sonne markierenden Termine (Solstitium und Äquinoktium) sind Teil des umbandistischen Festkalenders, wenn auch etwas anderes gefeiert wird: am 23.9. die Kinder-Geister, liiert mit den heiligen Zwillingen Kosmas und Damian; am 25.12. Oxalá, liiert mit Jesus. Würde – wie im Candomblé üblich – Xangô anstelle von Hieronymus mit Petrus gleichgesetzt, so käme mit dem 29.6. noch ein weiterer (zeitlich naher) Festtag hinzu. Da aber nicht aufgrund des Datums, sondern wegen der Eigenschaften und Attribute die oberflächliche Identifizierung von Geistern und Heiligen erfolgte, ist es für die Umbanda von geringer Bedeutung, an welchem Tag des Jahres welcher Espírito gefeiert wird. Wichtig dagegen ist, dass nicht nur an den Festtagen, sondern schon in jeder kultischen Sitzung die sakrale Zeit in die profane einbricht. „Während des Gesangs der Lieder regiert auf magische Weise die heilige oder mythische Zeit“537, die zur Heiligkeit des Ortes hinzutritt. Sie beschränkt sich auf die Dauer der Sessão, die zwischen zwei Stunden und dem ganzen Tag liegen kann. Denjenigen Medien, die in der Sitzung ihren Körper einem Geist zur Verfügung stellen, sind für diesen Tag einige Tabus auferlegt: rituelle Waschungen, sexuelle Enthaltsamkeit, keine Menstruation. Des Weiteren dürfen sie nicht die Pflichten vernachlässigt haben, deren Beachtung ihr Guia oder ein anderer Espíri538 to von ihnen fordert, sei es bezüglich der Ernährung oder der Körperpflege. Öffentliche Sitzungen werden von den passiven TeilnehmerInnen, die nur wegen der Konsultation gekommen sind, häufig schon vor dem Ende verlassen. Ihr Interesse gilt dem Rat des Geistes, und sobald sie den empfangen haben, gehen sie wieder. Dieses Phänomen tritt besonders bei lange dauernden Sessões auf, so dass zum Zeitpunkt der Exkorporation und den abschließenden Riten oftmals nur noch die aktiven UmbandistInnen anwesend sind. Wenn jedoch bekannt ist, dass der/die KultleiterIn die Sitzung straff durchführt und einen Ablauf favorisiert, bei dem jede/r KlientIn nur einen Geist aufsucht und nicht mehrere nacheinander, bleiben wegen der akzeptablen Zeitdauer meist alle TeilnehmerInnen bis zum 537 Lima, D.B.d.F.T.: Malungo, S. 78. 538 Als solches gelten das Verbot an ein Medium von Oxalá, weiße Hühner zu verzehren, sowie die Anweisung an ein weibliche Medium von Iemanjá, die abgeschnittenen Haare ins Meer zu werfen; vgl. Figge, H.H.: Geisterkult, S. 142.

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Schluss. Im Gegensatz zu Religionen, deren Kultsitzungen – länder- und gruppenübergreifend – regelmäßig an einem bestimmten Wochentag stattfinden, weichen dahingehend die umbandistischen Terreiros stark voneinander ab. Jede/r KultleiterIn bestimmt Wochentag, Uhrzeit und Turnus seiner/ihrer Sessões selbst. Sehr beliebt ist zwar der Samstag, doch auch mittwochs oder donnerstags werden Sitzungen abgehalten. Üblicherweise finden zwei bis drei Sessões pro Woche statt. Wie nahe die Umbanda katholischen Bräuchen steht, zeigt sich an der Fastenzeit zwischen Karneval und Ostern. Während Candomblé und Quimbanda in diesem Zeitraum wie üblich ihre Sitzungen abhalten, setzt die Umbanda aus. Diese Pause resultiert allerdings keineswegs aus genuin umbandistischen Gründen, die mit ihrer Geschichte zusammenhängen, sondern wurde vom Katholizismus übernommen. In diesen heiligen Zeitraum fallen außerdem keine Festtage – auch nicht um den Termin des Frühjahrsäquinoktiums herum. Dass sich die Umbanda so sehr am christlichen Umfeld orientiert, lässt sie auch losgelöster von ihrem afrikanischen Hintergrund erscheinen.539 Im Gegensatz zu den anderen afro-amerikanischen Religionen betont sie damit ihren brasilianischen Charakter, was dem umbandistischen Selbstverständnis entspricht. Terreiros jedoch, die stark spiritistisch geprägt sind, beachten die Fastenzeit der katholischen Umgebung und der anderen Terreiros nicht, sondern veranstalten weiterhin ihre Sessões. Aufgrund der hervorgehobenen spiritistischen Komponente erscheinen sie möglicherweise sowieso mehr europäisch-brasilianisch ausgerichtet und könnten daher darauf verzichten, sich auf diese Art vom Afrikanischen abzuheben. Weder die Fastenzeit an sich ist demnach eine von der gesamten Umbanda einheitlich eingehaltene besondere Zeit, noch beginnen und beenden alle UmbandistInnen sie an denselben Tagen. Zwar stimmen viele Terreiros mit den Terminen der katholischen Kirche überein, doch setzen manche durchaus ihre eigenen Eckdaten. Insgesamt jedoch wirkt die umbandistische Fastenzeit zuweilen wie eine Art ’Betriebsferien‘ um die Osterzeit. Längere sakrale Zeiträume hingegen wie ein heiliger Monat, ein heiliges Jahr oder gar eine heilige Weltperiode spielen in der Umbanda keine Rolle. Auch die Zeit an sich ist keine sakrale Größe, im Gegensatz zu anderen Religionen wie die 539 Eine entgegen gesetzte Begründung für die Beachtung der Fastenzeit durch die Umbandisten führen F.G. Brumana und E.G. Martínez in einer Fußnote in nur einem Satz an: „Viele Terreiros, grundlegend diejenigen mit Einfluss des Candomblé, arbeiten nicht in diesem Zeitraum, da sie glauben, dass die gefährlichen Kräfte außer Kontrolle sind“ (dies.: Marginália Sagrada, S. 227 [Hervorhebungen weggelassen]). Hinsichtlich der Frage, ob der Candomblé die Fastenzeit berücksichtigt (wobei dies im Zitat nicht explizit ausgedrückt wird), haben Brumana / Martínez und ich offenbar unterschiedliche Informationen erhalten, was auch auf die Uneinheitlichkeit dieser afro-brasilianischen Religion hinweist. In Bezug auf die Begründung der Berücksichtigung bleiben die argentinischen Wissenschaftler aber ziemlich an der Oberfläche. Die Feststellung der Unkontrollierbarkeit jener Kräfte sagt noch nichts darüber aus, warum dies gerade in die Fastenzeit fällt. Woher stammt im Candomblé die Annahme, dass es genau dieser Zeitraum ist, wenn es nicht auf die katholische Tradition zurückgeht? So weit gehen die Überlegungen von Brumana / Martínez aber leider nicht.

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vedische Personifikation K la. Einzig die Zeitperiode Woche erfährt eine gewisse Ausgestaltung, indem die einzelnen Wochentage verschiedenen Orixás zugeordnet sind. So ist der Freitag für Oxalá vorbehalten, was insofern überrascht, da der mit ihm liierte Jesus in der christlichen Wochengestaltung mit dem Sonntag verbunden ist. Andere Wochentage werden dagegen mehrfach vergeben, wie z.B. der Samstag als Tag von Iemanjá, Oxum und Ossaim. Dass der Mittwoch Xangô und Iansã gewidmet ist, verweist auch auf dieser Ebene auf die enge Verbindung dieser Orixás. In den Namen der Wochentage haben diese Liierungen allerdings keinen Niederschlag gefunden, so dass auch im kultischen, innerumbandistischen Rahmen immer von ’Freitag‘ statt von ’Dia de Oxalá‘ gesprochen wird. Zumal bei Dopplungen würde sich die Benennung schwierig gestalten. Bei größeren zeitlichen Abschnitten nimmt die Umbanda keine an früheren Daten und Ereignissen orientierte Zuordnung oder Sakralisierung vor. Es gibt zwar als universale Größe eine mythische Urzeit – die Umbanda in Lemurien –, aber sie wird nicht in einer heiligen Zeit in die Gegenwart gerufen. Ebenso verhält es sich mit anderen Epochen der Weltgeschichte, die die Umbanda nach ihrem Selbstverständnis in aufgeteilten Einzelelementen durchlief. Stattdessen werden sie punktuell präsent, nämlich in der Inkorporation der Geister. Diese Espíritos haben nach umbandistischer Ansicht wirklich als Menschen gelebt und daher auch eine Lebensgeschichte. Aufgrund der geglaubten Reinkarnation verfügen manche Geister (und Menschen) auch über mehrere Biografien, die sich durch die Zeiten hindurch verfolgen lassen. Insofern ist jede vergangene Epoche und jedes einzelne Datum durch einen sich manifestierenden Geist vergegenwärtigbar. Diese Präsentation, die maximal einige Stunden andauern kann, holt die Vergangenheit ins profane Jetzt und macht es heilig. Damit ist jede Sessão immer mit einem oder mehreren zurückliegenden Zeiträumen verbunden. Da die Caboclos/as und Pretos/as Velhos/as die zentralen Geistergruppen sind, wird ihre jeweils eigene Ära in der Umbanda besonders häufig vergegenwärtigt. Zum einen die Zeit der freien Indios, die im Wald leben und gegen die weißen KolonisatorInnen kämpfen; zum anderen die Zeit der afrikanischen SklavInnen, die als Alte ihr Schicksal in Brasilien demütig ertragen. Letztere Epoche repräsentieren zwar auch die Crianças und Exus, allerdings inkorporieren sie seltener. Das mythische Afrika erscheint in der umbandistischen Sessão dann, wenn Orixás sich manifestieren. Dies ist in erster Linie an ihren Festtagen der Fall, wodurch dem Phänomen eine besondere Qualität bekommt. Denn „um sich an seinem Tag mit größerer Stärke und Pracht zu manifestieren, zeigt sich der Orixá näher an seiner mythischen Fülle, die aus illud tempus stammt“540. Allerdings geht die Demonstration nicht über eine verstärkte Darstellung der Eigenschaften hinaus und gibt auch das in den Mythen geschilderte Leben und Ergehen der afrikanischen Gottheit nicht wieder. Andere Geister wie die Marinheiros, Ciganos/as oder Baia540 Lima, D.B.d.F.T.: Malungo, S. 116.

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nos/as werden mit keiner bestimmten Epoche verbunden, wohingegen man beim Auftreten von Eguns sogar Jahreszahlen benennen kann. Die leidenden Verstorbenen kennen meist ihre Todesdaten, so dass die vergegenwärtigte Vergangenheit sich in ihrer Lebenszeit, nicht allzu lange davor, abspielt. Bei den anderen Geistern ist für die UmbandistInnen das Wissen um die Epoche völlig ausreichend. Insgesamt kann also beobachtet werden, dass die Umbanda im Vergleich zu anderen Religionen, wie z.B. dem Katholizismus, in recht geringem Maße die Vorstellung einer heiligen Zeit ausgearbeitet hat. Sie ereignet sich zwar durchaus regelmäßig, aber (fast) immer nur für die kurze Dauer der Kultsitzung. Abgesehen von der uneinheitlich befolgten Fastenzeit stellen die Festtage den längsten heiligen Zeitraum dar, der nicht über die Dauer des jeweiligen Tages hinausreicht. Ebenso wie Weltperioden, die als heilig empfunden werden können, fehlen in der umbandistischen Vorstellung auch Feste, die auf die natürlichen Abläufe des Kosmos zurückgehen. Stattdessen gründet sich der Großteil dieser Daten auf der Erinnerung an Personen, oder allgemeiner formuliert, auf Wesen mit übernatürlichen Kräften. Solche Feste können im weiteren Sinne als heilsgeschichtlich gelten, auch wenn diese Bezeichnung im engeren Sinn nur auf den 15.11. zutrifft, der an die Gründung der Umbanda im Jahr 1908 erinnert. 5.1.4 Die heilige Zahl Als Maßeinheit steht die heilige Zahl in engem Zusammenhang mit den messbaren Größen Ort und Zeit. Zum einen nimmt sie an deren Heiligkeit teil und wirkt zum anderen mit ihrer eigenen Sakralität auf Gegenstände und Personen. Eine detaillierte Zahlenmystik und -symbolik hat die Umbanda – im Gegensatz zur jüdischen Kabbala – nicht hervorgebracht. Nur wenige Zahlen sind fest mit Objekten verbunden und dadurch betont. Am häufigsten begegnet man der Zahl Sieben, die auch in Christentum, Buddhismus oder Islam eine herausragende Stellung einnimmt und weitgehend als „kosmische Zahl“541 gilt. Es sei hier an die sieben Linien in der umbandistischen Kosmologie erinnert, von denen sich jede in sieben Legionen aufteilt, die sich ihrerseits aus sieben Phalangen zusammensetzen, und die sich wiederum in je sieben Sub-Phalangen untergliedern. Nicht eigentlich umbandistisch, aber durchaus im Terreiro aufzufinden, ist die jüdische Menora, die mit ihren sieben Kerzen die kosmologischen Strukturen widerspiegelt. Ebenfalls in die Dimension des Kosmos verweist in der Umbanda die Zahl Drei, indem sie ihn in eben so viele Ebenen unterteilt. Demnach ist auch aus umbandistischer Sicht der allgemeinen Formel Heilers zuzustimmen, dass die „Dreizahl [...] Totalität und Abgeschlossenheit [bedeutet], da sie Anfang, Mitte und

541 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 167.

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Ende umfaßt“ . Doch noch eine weitere Triade ist der Umbanda bekannt, nämlich diejenige, die Olorum, Oxalá und Ifá bilden. Der höchste Gott, der oberste Orixá und das Orakel bilden gemeinsam eine Größe, die den anderen Wesenheiten vor- und übergeordnet ist. Wie jedoch schon dargestellt (s. 4.2.1.1), verdankt sich diese Konzeption der synkretistischen Anlehnung an das christliche Vorbild des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Die Herkunft der drei Personen oder ihr Verhältnis zueinander sind aber für die UmbandistInnen wenig interessant. Anstatt selber eine Lehre nach eigenen Vorstellungen zu formulieren, berufen sie sich auf die Vorlage, deren Theologie allerdings z.T. weder gekannt noch verstanden wird. Dementsprechend sind die Ausführungen von Allgemeinplätzen und Ablenkungen durchzogen: „Es ist dasselbe wie das Prinzip des Katholizismus, jedoch unter Veränderung des Namens. Anstatt der Name des Katholizismus zu sein, ist es ein afrikanischer Name. [...] Was ihr betet, beten wir auch: ‚Gott zu lieben über alle Dinge‘“543. Weiter als die Identifizierung, zudem unter anderen Bezeichnungen, reicht die Gemeinsamkeit zwischen den beiden Religionen in Bezug auf die Trinität nicht. Bereits als letzte heilige Zahl, die in der Umbanda eine Rolle spielt, ist hier die Vier anzuführen. In den vier Elementen Feuer, Luft, Wasser und Erde fand die natürliche Magie der Indios und AfrikanerInnen Eingang in die brasilianische Neureligion. In der Kategorie der typologisierten Geister ist eine Unterteilung der wichtigeren Gruppen im Verhältnis 3+1 zu konstatieren, die sich auf Caboclos/as, Pretos/as Velhos/as und Crianças gegenüber den Exus/Pomba Giras bezieht. Da aber die Anzahl der Geistergruppen weiter reicht und theoretisch unbeschränkt ist, bleibt dieses Konstrukt fraglich. Ebenso wenig festgelegt ist die Zahl der Orixás, von denen nur einige wenige der afrikanischen Hunderte umbandistisch wurden. Dagegen können unbegrenzt Geister in die Umbanda aufgenommen, und mehrfach auftretende Vornamen durch Anfügung der Herkunft differenziert werden (z.B. Maria vom Wald / vom Kongo / von Bahia). 5.1.5 Der heilige Mensch

5.1.5.1

Jeder Mensch ist heilig

Die Heiligkeit eines Menschen verbindet sich oftmals mit dessen Tätigkeit, Status oder einem Erlebnis. Doch auch ganz gewöhnliche Menschen, die keinen besonderen Beruf ausüben, nicht geweiht sind oder einer Hierophanie beiwohnten, können als heilig gelten – allein aufgrund ihres Mensch-Seins. Denn sowohl einzelnen Körperteilen als auch bestimmten Zuständen im Verlauf bzw. am Ende des Le542 Ebd., S. 163 f. 543 Costa, V.C.d.: Umbanda, Bd. 2, S. 347; Auszug aus einem Interview mit einem UmbandaPriester.

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bens eignen sakrale, zauberhafte Kräfte. In vielen Religionen gelten Blut, Speichel, Atem, Haare u.a. als Träger der Seele und wirken heilend, kraftübertragend und verbindend. So heilt beispielsweise Jesus einen Taubstummen, indem er dessen Zunge mit seinem Speichel berührt (Mk 7,33); die Gläubigen des Mithras-Kultes werden mit dem Blut eines geopferten Stiers übergossen, um dessen Lebenskraft zu gewinnen; germanische nichtverwandte Männer schließen Blutsbrüderschaft, wodurch sie ihre enge Verbindung bekräftigen. Bei der Umbanda kommt der Vorstellung einer Körperseele ein recht geringer Stellenwert zu. Während das Opfern von Tieren und die Verwendung ihres Blutes in anderen afro-amerikanischen Religionen unbedingt zu besonderen kultischen Anlässen dazugehört (z.B. indem es in der Initiation über den Kopf des Mediums gegossen wird), entsprechen solche Riten dem Selbstverständnis der Umbanda nicht bzw. sollen nicht existieren. Daher wendet sich der Umbanda-Lehrer Francisco Rivas Neto mit Vehemenz gegen solche Kultstätten, die die Initiation ihrer Medien „mit Blut, mit Tierfedern, Palmöl und anderen sonderbaren Materialien [durchführen]. Noch einmal versichern wir: Diese Terreiros gehören nicht zur Umbanda! [...] Es gibt keine Notwendigkeit zu dieser Art von Ritual.“544 Der Hintergrund dieser Haltung ist zum einen in der Ablehnung von afrikanischen und ’primitiven‘ Riten zu suchen – zu Gunsten der Bewahrung des Ansehens der Umbanda als eine brasilianische Religion mit europäischer Einfärbung. Zum anderen soll die Nachahmung des Candomblé verhindert, die Herkunft vom Spiritismus gesichert und die eigene Identität und Besonderheit hervorgehoben werden. „Wir haben unsere schlichten, geheimen [Rituale] und [solche] von hoher Bedeutung in der 545 ätherisch-physischen Magie.“ Der Kopf des Menschen, sein Atem und seine Haare sind nach umbandistischem Verständnis ebenso wie das Blut (des Tieres) mit heiliger Kraft geladen. Allerdings kommt diese Qualität erst beim Medium zur Entfaltung, auch schon während dessen Ausbildung. Diese wird als ’fazer a cabeça‘ (’Kopf machen‘) bezeichnet und ihr Abschluss als ’cabeça feita‘ (’gemachter Kopf‘), d.h. das Medium ist fest mit seinem Orixá verbunden (s.u.). Die Pflichten, die der Geist sodann dem Medium auferlegt, sind nicht auf das Darreichen von Lieblingsspeisen und -getränken beschränkt, sondern können sich auch auf den Umgang des Mediums mit seinem Körper erstrecken. Das Haaropfer eines Mediums an ein übernatürliches Wesen gilt als Kraftmitteilung. Es wird in der Umbanda dahingehend vollzogen, dass die Haare an Iemanjá in ihrem Herrschaftsbereich übergeben und daher ins Meer geworfen werden. Die Idee der Heiligkeitskraft im Atem findet auch in 544 Rivas Neto, F.: Lições básicas, S. 88 [der zusätzlich hervorhebende Fettdruck wurde weggelassen]. Im Candomblé (ähnlich im Voodoo und der Santería) gilt eine Keramikschale als Sitz des persönlichen Orixás, mit dem das Medium in der Initiation verbunden wird. In die Schale gibt man Dinge hinein, die den Orixá symbolisieren, sowie Opferspeisen und Blut des geopferten Tieres; vgl. Reuter, A.: Voodoo, S. 86 f. 545 Rivas Neto, F.: Lições básicas, S. 88.

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der Umbanda Anwendung, nämlich in den Passes, wenn das Medium den/die KlientIn anhaucht und damit die schlechten Energien durch gute ersetzt. Jedoch muss berücksichtigt werden, dass eigentlich der inkorporierte Geist anstelle des Mediums haucht und dass in diesem Fall weniger der Atem der Träger von Axé ist, als vielmehr der Rauch von Zigarre oder Pfeife. Und obwohl die Sakralität einzelner Körperteile erst bei den Medien vervollkommnet ist, findet sich deren Anlage bereits in allen Menschen, was sich deutlich darin zeigt, dass die Ausbildung zum Medium prinzipiell jeder Person offen steht. Den Zustand der Hilfsbedürftigkeit, die den Menschen für eine gewisse Dauer heiligt, durchläuft jeder, sei es als Kind, als Kranke/r, als Fremde/r, als Einsame/r, als Mittellose/r. Ein solcher Zustand macht Personen zu schwachen Gliedern innerhalb der Gemeinschaft und gefährdet ihre Existenzen. Um diese zu erhalten, bedarf man der Hilfe anderer Menschen, die Schutz, Nahrung oder Fürsorge gewähren. Wird einem Bedürftigen jedoch die Hilfe versagt oder gar Schaden zugefügt, „so vermag er sich an dem lieblosen Menschen durch die Kraft seines Fluches zu rächen“546. Der Hilfestellung jedweder Art widmet sich die Umbanda, die darin ihre Hauptaufgabe in Bezug auf ihre KlientInnen sieht. Viele von ihnen suchen aus diesem Grund den Terreiro auf und konsultieren die Geister. Dabei reicht die Bandbreite der an sie herangetragenen Probleme von existenziellen bis emotionalen Angelegenheiten, von lebensgefährlichen Krankheiten über Arbeitslosigkeit und Geldnot bis hin zu nachbarschaftlichen Streitigkeiten und dem Wunsch nach Liebesglück. Den Grund oder die Motivation für helfendes Handeln sehen verschiedene Religionen in der Identität, die sie zwischen hilfsbedürftigen Menschen und einer Gottheit bzw. einer ranghohen Person konstatieren. Buddha, Zeus, Jesus und Mohammed traten entweder selbst als Geringe und Schwache auf oder deklarierten die Hilfe, die einem Mitmenschen gewährt wird, als eine an ihnen selbst vollzogene. Ein solcher Gedanke sowie der damit einhergehende Anreiz zu Mildtätigkeit liegt der Umbanda ebenso fern wie die christliche Nächstenliebe, die „nur möglich ist als Antwort auf [die] zuvor empfangene Liebe“547 Gottes. In den Hilfsbedürftigen vermuten die UmbandistInnen keinen Gott, Orixá oder sonstigen Espírito. Ihnen wird vielmehr Unterstützung zuteil, weil sie den Geistern die Gelegenheit zur Arbeit und somit zur Verbesserung ihres Entwicklungsgrads bieten. Derjenige Mensch, der im Terreiro um Hilfe ersucht, hilft dadurch auch seinen übernatürlichen HelferInnen. Darin liegt ein, wenn nicht gar der gewichtigste Grund, warum die Umbanda sich an alle Menschen richtet und die UmbandistInnen alle Menschen mit offenen Armen empfangen. Sie unterscheiden nicht nach bestimmten Kriterien, so dass z.B. nur die hellhäutigen Verarmten, nicht aber die farbigen Arbeitslosen einen Geist konsultieren dürfen. Alle, die Hilfe benötigen, sollen sie 546 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 408. 547 Schrage, W.: Ethik des Neuen Testaments, 5., neubearb. u. erw. Aufl. (2. Aufl. dieser neuen Fassung), Göttingen 1989, S. 73.

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im Terreiro auch bekommen – unabhängig von ihrem Alter, Geschlecht, Rasse, Status o.ä. Denn jede Hilfe, die ein Geist gewährt, nützt seiner Entwicklung – unabhängig von dem/r KlientIn und von der Art der Hilfsbedürftigkeit. Ist ein/e KlientIn jedoch sehr arm, so wird es für ihn/sie schwierig, das Medium für die aufgewandte Zeit und seinen Dienst zu entschädigen. Bei öffentlichen Sessões ist es unüblich, eine finanzielle Gegenleistung zu verlangen, Spenden hingegen sind durchaus willkommen. Mit privaten Sitzungen aber, die individuell erfolgen, gehen auch Kosten einher. Anstatt jedoch den Armen die Konsultation und Hilfestellung zu verwehren, wird die Entlohnung entweder erlassen, in Arbeiten oder Naturalien (wie Kerzen, Zigarren, Kräuter) umgewandelt. Nicht selten verzichtet ein/e KultleiterIn auf eine materielle Entschädigung, wenn sich der/die Hilfsbedürftige im Gegenzug zum Medium ausbilden lässt. Es bleibt allerdings zu beachten, dass ein Terreiro eine von privater Hand errichtete Kultstätte ist, die keine übergeordnete finanzkräftige Größe hinter sich hat. Somit liegen Wirtschaftlichkeit, Risiko, Gewinn und Verlust allein bei seinen BetreiberInnen, die zugleich die EigentümerInnen sind. Es gibt KultleiterInnen, „die durch ihre Arbeiten reich geworden sind, und andere, die durch ihre Mildtätigkeit verarmten. Einige leben von ihrem Terreiro, andere würden an Hunger sterben, wenn sie es versuchten.“548 Eine hilfsbedürftige Person wird in jedem Fall unterstützt, eine Gegenleistung würde jedoch auch dem Erhalt des Terreiro dienen. Sogar als Toter verfügt der Mensch über eine numinose Kraft, mit der er positiv wie negativ auf das Schicksal der Lebenden einwirken kann. Er vermag als Schutzgeist und Helfer zu fungieren, aber auch Krankheit und Schaden zuzufügen. Letzteres verhindern spezifische, darauf abgestimmte Realisationen des Heiligen wie beschwörende Worte und apotropäische Handlungen. Darauf zielen zudem dargebrachte Opfer, mit denen die Lebenden die Toten wohl stimmen und beschwichtigen wollen, damit sie nicht deren Zorn und Rache fürchten müssen. Solches gilt v.a. für das Verhältnis zu den AhnInnen, die gerade in afrikanischen Stammesreligionen eine hohe Stellung einnehmen. Daneben wird auch verstorbenen HerrscherInnen (wie bei den ÄgypterInnen), Heroen (wie in Sparta) und Personen aus dem religiösen Bereich Sakralität zugeschrieben, die sich in Verehrung niederschlägt. BuddhistInnen huldigen den Buddhas, MuslimInnen einzelnen wundertätigen MystikerInnen, und ChristInnen verehren MärtyrerInnen, Bischöfe, Asketinnen, Lehrer und die Gottesmutter Maria. So wie sich aus ihnen „ein ganzer Heiligenhimmel“549 entwickelte, der weiterhin und noch heute Zulauf hat, so formierte sich der umbandistische Kosmos zu großen Teilen ebenfalls aus Ver550 storbenen. Caboclos/as, Pretos/as Velhos/as, Marinheiros, Ciganos/as, Pomba 548 Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 25. 549 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 429. 550 Fernando G. Brumana und Elda G. Martínez nehmen in „Marginália Sagrada“, um ’die Protagonisten‘ zu beschreiben, eine Unterteilung in ’Die Lebenden‘ (Kapitel 2) und ’Die Toten‘ (Kapitel 3) vor. Hinsichtlich der Lebenden ist diese Vorgehensweise durchaus schlüssig, da das Kapitel

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Giras etc. sind alles Geister mit (typisierten) Biografien, von denen die UmbandistInnen annehmen, sie hätten wirklich gelebt. Wenn ein Geist in der Sessão inkorporiert, identifiziert er sich durch seinen Namen und wird – sofern er zum ersten Mal im Terreiro erscheint – nach seiner Herkunft und seinem Leben gefragt. Zum Kosmos der Umbanda zählen fernerhin die Sofredores/as, die leidenden Verstorbenen. Obwohl sie erst kürzlich starben, kennt sie kein Mitglied des Terreiro aus der Zeit, da sie noch lebten. Der afrikanische Kult um die eigenen VorfahrInnen wird auf diese Weise von der Umbanda entschränkt und auf Unbekannte ausgeweitet. Einzelnen Personen aus dem umbandistischen Bereich kommt hingegen eine gewisse, allerdings punktuelle Verehrung zu, so z.B. Allan Kardec oder dem/r LehrerIn des/r KultleiterIn, deren Büsten im Terreiro stehen können. Die Inkorporation solcher Persönlichkeiten erfolgt in Übereinstimmung mit der üblichen Anonymität von Verstorbenen allerdings nicht. Und auch ihren sterblichen Überresten oder ihrem hinterlassenen Besitz wird keine besondere Bedeutung beigemessen. Ein Reliquienkult, der den Objekten Schutz oder Heil zuschreibt, liegt der Umbanda fern. Den persönlich bekannten Toten räumt die Umbanda demnach weniger Raum ein, als den fremden, die erst durch ihre Manifestation im Terreiro zu bekannten Geistern werden. Wie unabgeschlossen aber die Menge der Geister ist, lässt sich auch daran ersehen, dass die Umbanda alle katholischen Heiligen darin aufnimmt. Durch die Einbeziehung von verehrten Verstorbenen anderer Religionen steigt die Zahl der heiligen Toten stetig. Auf diese Weise wird jeder Mensch, sofern ihn die katholische Kirche nach seinem Tod in den Heiligenstand erhebt, gleichzeitig zu einem Geist der Umbanda. Von der Inkorporation im Terreiro sind die Heiligen aber weitgehend ausgespart, da sich hier vorzugsweise die typologisierten Geister manifestieren. 5.1.5.2

Spirituelle Hierarchie: Vom Medium bis zum/r KultleiterIn

Von der Gesamtheit aller Menschen, die aufgrund eines bestimmten Zustands oder eines Körperteils per se heilig sind, heben sich einzelne Personen ab. Ihre Sakralität gründet auf Berufung, Tätigkeit, Begabung und/oder Weihe, wodurch die Homogenität des Umfelds durchbrochen wird. Von den umbandistischen LaiInnen hebt sich die spirituelle Hierarchie ab, deren Privileg der Umgang mit dem Heiligen ist. Ihre Basis bilden die Medien, ihre Spitze der/die KultleiterIn, dem/r ein/e AssistentIn auf dem zweiten Platz der Hierarchie zur Seite steht. Eine solche u.a. die Medien, KultleiterInnen und -musikerInnen thematisiert. Die Überschrift des folgenden Kapitels jedoch stimmt mit dem Inhalt keineswegs überein. Die Autoren stellen hier einführend ’Die Figuren des Pantheons‘ vor, darunter auch Gott und die Orixás, blenden aber den vermeintlich gemeinsamen Aspekt des Todes aus. Sowohl Gott als auch die ehemaligen afrikanischen Gottheiten, die in der Umbanda als Naturkräfte verehrt werden, als Tote zu bezeichnen, ist schlicht unzutreffend.

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Dreigliedrigkeit stellt die den meisten Terreiros zu Grunde liegende Struktur dar, die jedoch durch weitere Positionen ergänzbar ist. Hierzu gehören die PriesterInnen, die einen höheren Ausbildungsgrad erreicht haben als die Medien und folglich ihren eigenen Terreiro eröffnen und leiten könnten. Solange sie diesen Schritt in die Selbstständigkeit nicht vollziehen, bleiben sie in ihrer Heimatkultstätte. In diesem Fall bekleiden sie das Amt des/r AssistentIn. Verfügt ein Terreiro hingegen über keine/n PriesterIn, so übernimmt ein Medium jenes Amt. In manchen Terreiros wird auch dem/r AssisstenIn ein/e HelferIn zu Seite gestellt, der so genannte Samba, dessen Aufgaben aber jederzeit von jedem nicht-inkorporierenden Medium übernommen werden können. Als singuläre, austauschbare Figur halte ich den Samba in der folgenden Darlegung für vernachlässigbar. Der Akzent liegt vielmehr auf den drei fundamentalen kultischen Ämtern in der Umbanda, ergänzt durch den/die PriesterIn, sofern er/sie als Medium oder AssistentIn zum Terreiro gehört. Diesen vier in hierarchischer Beziehung stehenden Positionen obliegt „die grundlegende Funktion, die in den Zeremonien erfüllt wird, [nämlich] die Vermittlung zwischen spirituellen Wesenheiten und menschlichen Wesen“551. Da sie sich in Form von Inkorporation ereignet, wozu die Geister die Körper der Medien nutzen, sind diese es, die in der Umbanda die allgemein priesterliche Aufgabe „des Umgangs mit heiligen Kräf552 ten“ ausführen. Grundlegend für diesen Umgang ist die Medienschaft, so dass die umbandistischen AssistentInnen, PriesterInnen und KultleiterInnen sozusagen nur besondere Medien sind. Die Ausbildung zum Medium und nachfolgend zum/r PriesterIn steht prinzi553 piell jedem/r offen. Weder hinsichtlich des Geschlechts noch der Herkunft, der Hautfarbe oder sozialen Schicht nimmt die Umbanda hierbei Einschränkungen vor. Einzig in Bezug auf das Alter setzen manche Terreiros eine Mindestgrenze an, indem sie keine Kinder ausbilden, da deren Verstand und Persönlichkeit noch nicht ausreichend gefestigt sind. Zu späterer Zeit ist ihre Ausbildung aber jederzeit möglich. Auch Vorrechte, die auf verwandtschaftlichen Bindungen beruhen, gibt es in der Umbanda nicht. Die Veranlagung und Ausübung der Medienschaft wird nicht innerhalb der Familie vererbt, so dass die Vorstellung einer priesterlichen Erbfolge der Umbanda fern liegt. Dennoch sind nicht selten Kinder, EnkelInnen, Nichten oder Neffen eines/r KultleiterIn als Medien tätig, ohne deswegen den anderen Medien vorgeordnet zu sein. Anders als im Buddhismus oder Katholizismus werden in der Umbanda Frauen den Männern nicht untergeordnet und so keine geschlechtsbedingte Hierarchie errichtet. Anstatt die Frauen vom Heiligen und dem kultischen Geschehen auszuschließen, nehmen sie eine den Männern gleichrangige und -wertige Stellung ein. 551 Ebd., S. 148. 552 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 371. 553 Die lutherische Vorstellung des Allgemeinen Priestertums der Gläubigen liegt hier allerdings fern.

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Sie können zu Medien genauso wie zu Priesterinnen ausgebildet werden und als Kultleiterinnen ihre eigenen Terreiros eröffnen. In allen drei Ämtern halten sich 554 „Männer und Frauen [...] etwa die Waage“ . Diese Gewichtung der Frauenrolle in einer männlich dominierten Gesellschaft übernahm die Umbanda vermutlich vom Candomblé, in dem sie jedoch noch stärker ausgeprägt ist. Die Zahl der weiblichen Medien übersteigt dort die der männlichen bei weitem und auch die Leitung der Terreiros liegt in den meisten Fällen in den Händen von Kultleiterinnen – sei es dass sie die Stätte selbst initiieren oder dass sie das Amt von ihrer Vorgängerin 555 übernehmen. Dass Frauen im Candomblé dominieren, mag weniger auf dessen afrikanischen Wurzeln als vielmehr auf die Lebensumstände der SklavInnen in Brasilien zurückzuführen sein. Indem zum einen nämlich die familiären Bindungen spätestens vor Ort zerschlagen wurden, suchten die zusammengewürfelten AfrikanerInnen nach neuen Beziehungen und fanden sie in der religiösen Gemeinschaft. Zum anderen starben die versklavten Männer, die zu harten körperlichen Arbeiten eingesetzt waren, früher als die als Köchinnen oder Ammen arbeitenden Frauen. „Demnach wären die Frauen des Candomblé gleichsam ‚Trümmerfrauen‘, die ihre Machtposition auf den Überresten ihrer traditionellen Lebenswelt errichteten.“556 In Relation zum Candomblé hat die Umbanda einen prozentual größeren Anteil an Männern. Das kann allerdings nicht als Zurückdrängung und sukzessive Entmachtung des weiblichen durch das männliche Geschlecht gewertet werden. Sowohl Männer als auch Frauen dürfen alle Tätigkeiten und Aufgaben, die zur Medien- und Priesterschaft sowie zur Kultleitung gehören, in gleicher Weise aus557 führen. Eine Sonderrolle spielt das Amt des Kultmusikers (’Atabaqueiro‘), das 554 Wöhlcke, M.: Analyse der afro-brasilianischen Kulte, S. 72. Wöhlcke stützt seine Angaben auf eigene Beobachtungen und die Schätzungen von C.P.F.d. Camargo. Zudem scheinen die männlichen Umbandisten leicht in Überzahl gegenüber den weiblichen zu sein. Nähere Unterscheidungen bezüglich der Ämter oder passiven TeilnehmerInnen nimmt er aber leider nicht vor. Zwar datieren Wöhlckes Beobachtungen aus den späten 1960er Jahren, doch dürfte sich an der Geschlechterverteilung wenig geändert haben. 555 So verzeichnet z.B. der Candomblé-Terreiro do Gantois, Ilê Iya Omin Axé Iyamassê, in Salvador de Bahia eine Reihe von Frauen als Leiterinnen: Der Gründerin Maria Júlia da Conceição Nazaré folgte ihre Tochter Pulcheria in das höchste Amt. Nach ihrem Tod trat Maria dos Prazeres Nazaré an deren Stelle. 1922 übernahm Escolástica Maria da Conceição Nazaré, bekannt als Menininha do Gantois, die Leitung der Kultstätte, die 1986 an ihre Tochter Cleuza überging (vgl. Santos, J.T.d.: Menininha do Gantois, S. 134 f.148). 556 Reuter, A.: Voodoo, S. 84 [zusätzliche Hervorhebung weggelassen]. 557 Wie wenig diese gleiche Gewichtung der Geschlechter, die in der Umbanda begegnet, in den verschiedenen Religionen verbreitet ist und praktiziert wird, lässt sich bereits Friedrich Heilers Übersichtswerk „Erscheinungsformen und Wesen der Religion“ erahnen. Im Kapitel ’IX. Der heilige Mensch‘ des Teils ’A. Die Erscheinungswelt der Religion‘ widmet er das Unterkapitel 12 der Frau. Dem Mann hingegen ist kein einziges Unterkapitel explizit gewidmet. Da nicht zu vermuten ist, dass dem Mann als heiligem Menschen in der Religion nur eine periphere Rolle zukommt, muss angenommen werden, dass er die Norm darstellt. Zauberer, Prophet, Märtyrer, Mystiker ist prinzipiell immer als ein Mann gedacht, und wenn es mal eine Frau ein solches Amt

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üblicherweise nur junge Männern bekleiden. Manche Terreiros aber lösen diese Monopolstellung auf, indem auch junge Frauen auf den Rhythmusinstrumenten spielen. Funktionen, die vorzugsweise den Frauen vorbehalten sind, gibt es in der Umbanda ebenso wenig wie eine Forderung nach Virginität. Insgesamt bietet die Umbanda für Frauen einen höheren Anreiz, da die Teilnahme an der Sessão für weibliche Medien oft beinahe die einzige Möglichkeit darstellt, abends bzw. nachts das Haus zu verlassen. Darüber hinaus können sie im Terreiro leitende und verantwortungsvolle Positionen einnehmen, die in der Gesellschaft weitgehend von Männern besetzt sind, und auf diese Weise ihr Ansehen steigern. Der erste Zugang zu einem Terreiro bzw. überhaupt zur Umbanda beruht in den meisten Fällen auf Mundpropaganda und Vermittlung. Oftmals sind es Bekannte oder Familienangehörige, die raten, einen Umbanda-Terreiro aufzusuchen. Doch auch Unbekannte können einen solchen Rat (oft ungefragt) erteilen, der i.A. auch einen bestimmten Terreiro empfiehlt. In gewisser Weise wird dadurch eine doppelte Empfehlung und Legitimation ausgesprochen. Zum einen für die Beratenen, die wissen, wohin sie sich wenden können, und „Garantien über die Qualität eines Terreiro unter allen verfügbaren“558 erhalten. Denn die Gefahr, an schwache oder betrügerische KultleiterInnen zu geraten, ist groß und gefürchtet. Darüber hinaus ist die Empfehlung für die potenziellen neuen KlientInnen eine Art Eintrittskarte, dank derer sie sich – durch den Verweis auf eine/n gemeinsame/n Bekannte/n – eingeführt und weniger fremd fühlen. Zum anderen gilt dies auch für die empfohlenen KultleiterInnen als Referenz, so dass sie die neuen KlientInnen ohne Vorbehalt in ihren Terreiros empfangen. Die Bedeutung der Legitimation gründet sich vermutlich auf die ersten Jahrzehnte der Umbanda, als sie noch unter polizeilichen Repressionen litt. In jener Zeit konnte es für KultleiterInnen durchaus riskant sein, KlientInnen ohne Empfehlung in den Terreiro zu lassen. Nicht selten wird der Weg eines/r neuen KlientIn zur Umbanda dadurch gebahnt, dass er/sie sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befindet – sei es, dass ihm/r innerhalb kurzer Zeit mehrere Unfälle passieren, oder dass er/sie unter einer Krankheit leidet, die bisher noch kein/e MedizinerIn und kein Mittel heilen konnten. Irgendjemand rät dann, Hilfe bei der Umbanda zu suchen. Diese Hilfe kann derart sein, dass der/die KultleiterIn eine individuelle Sitzung und Konsultation durchführt, oder dass der/die KlientIn zum Medium ausgebildet wird. In diesem Fall wird angenommen, dass die Unfälle und die Krankheit von einem Geist verursacht waren, der damit seinen Willen anzeigte, den betroffenen Men-

bekleidet, ist dies extra zu erwähnen. Dass i.A. die Frau die Ausnahme ist, zeigt zum einen die Tatsache des eigenen Unterkapitels, das sie immerhin nicht übersieht, und zum anderen Heilers Feststellung: „Nicht nur der Mann, sondern auch die Frau erscheint als Trägerin des Heiligen“ (S. 411). Ob auch die Vorstellung eines Kindes in dieser Funktion überhaupt existiert, bleibt bei Heiler höchstens auf den Aspekt der Hilflosigkeit (vorzugsweise als Waise, S. 408) im Unterkapitel 11 beschränkt. 558 Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 146 [Hervorhebung weggelassen].

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schen als Apparat für seine Manifestation zu benutzen. Sobald der/die Hilfesuchende diesen Weg einschlägt, ist der Geist zufrieden und beendet die Malträtierung. Die Krankheit war demnach eine spirituelle Angelegenheit und fungierte als Indikator für eine Berufung zum Medium. Doch nicht immer bedient sich ein Espírito eines (schädigenden) Mittels, sondern inkorporiert sich auch direkt in einem Menschen, der weder Umbandist noch 559 Medium ist. Einem solchen Erlebnis schließt sich häufig – aufgrund Eigeninitiative oder Empfehlung – der Besuch im Terreiro und die Ausbildung an. Diese drei Wege zur Umbanda gleichen sich nicht nur dahingehend, dass ein Geist die Initiative ergreift und unterstützt von einem/r BeraterIn auf das Verhalten einer Person einwirkt. Sie entsprechen sich auch in dem Punkt, dass dieser Mensch erst zur Umbanda hingeführt, und der erste Kontakt hergestellt werden muss. Entgegengesetzt zu dieser Vorgehensweise breitet sich allmählich das Phänomen des ‚Hineingeboren-Werdens‘ aus, indem die Eltern bereits UmbandistInnen sind (vergleichbar der Situation im Christentum). Mit dieser Entwicklung tritt die Umbanda aus der Singularität heraus und verändert sich in eine „Tradition, in ein kulturell einleuchtendes Mittel, das vom Subjekt nicht in Frage gestellt wird“560. Damit befindet sie sich aber noch im Status Nascendi. Ist der Weg zur Kontaktaufnahme mit der Umbanda erst einmal zurückgelegt, kann man jederzeit in die Gemeinschaft des Terreiro aufgenommen werden und den Wunsch nach Ausbildung äußern. Der/Die KlientIn mag sich von der Medienschaft Heilung, generelle Hilfe, Ansehen, Kenntnisse, Selbstachtung oder direkten Umgang mit dem Heiligen erhoffen. Doch auch der/die KultleiterIn kann jemandem die Ausbildung nahe legen, insbesondere dann wenn er in ihm/r die entsprechende Veranlagung sieht. KultleiterInnen hingegen, die eher egoistische Ziele verfolgen, empfehlen die Ausbildung gerne, wenn ihr Terreiro gerade unter Nachwuchsmangel leidet oder wenn mit dem neuen Medium eine Steigerung des Prestiges einhergeht. Während der Ausbildung erlernt das künftige Medium u.a. den Umgang mit den übernatürlichen Kräften, die umbandistischen Glaubensinhalte, die Charakteristika der Geister, die Zubereitung ihrer Lieblingsspeisen, die für jeden Espírito typischen Gesänge, den Ablauf einer Sessão sowie verschiedene Therapieformen. Das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf der Inkorporation des Geistes. Hierzu muss das Medium zu einem bestimmten Zeitpunkt in Trance fallen, sich vom Espírito in Besitz nehmen lassen, sich sodann wie er verhalten und abschließend wieder 559 Die Umbanda-Kultleiterin Águida berichtet, dass sich ihre erste Inkorporation spontan ereignete: „Eine Freundin erkrankte und kam, Stunden bevor sie zur medizinischen Konsultation weiterging, um mit mir zu sprechen. Als sie in meinem Haus ankam und von ihrem Gesundheitszustand berichtete, „fühlte ich meinen Körper vibrieren und den Kopf dieser Vibration bloß entsprechen; da geschah es: Der Geist der Preta Velha ‚ergriff‘ meinen Körper und ‚behandelte‘ mit den Händen und Kräutern die Kranke, so dass sie nicht zum Arzt gehen brauchte, denn sie erholte sich von der Krankheit“ (in: Bobsin, O.: Entrevista com a sacerdotisa, S. 49 f.). 560 Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 140.

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aus der Trance erwachen. Für die Dauer der Possessão weicht die Persönlichkeit des Mediums der des Geistes. Das Verhalten, die Fähigkeiten und die Kenntnisse sind die des Geistes statt des Menschen. Dieser hat den lenkenden Einfluss abgetreten. Insofern ist es nicht das Medium, das aufrecht und steif steht, streng blickt, Pfeil und Bogen trägt, sondern der inkorporierte Caboclo. An seinem stereotypen Verhalten ist er auch von den Umstehenden zu erkennen. Würde er zwar die Insignien tragen, dazu aber gebeugt am Stock gehen, so wäre sein Verhalten mit dem einer Preta Velha vermischt. Solche Unschärfen sind jedoch unbedingt zu vermeiden und die jeweiligen Geistrollen einzuhalten bzw. zu üben. Daher wird auch ausgebildeten Medien empfohlen, regelmäßig zu inkorporieren. Denn je länger sie keinen Geist empfangen, desto weniger geregelt verläuft möglicherweise die Possessão. Da zwischen dem werdenden Medium und dem Geist, seinem Guia, eine enge und persönliche Bindung entsteht, müssen sich beide erst aneinander gewöhnen, wozu es wiederum regelmäßiger Inkorporation bedarf. Diese wird allerdings nicht für sich allein zuhause geübt, sondern immer in der Gemeinschaft der Sessão, sei es während des öffentlichen Kultes oder in speziellen Entwicklungssitzungen. Auf diese Weise erfolgt die Ausbildung stetig und immer unter der Aufsicht der Kultleiterin, die dem/r AnwärterIn bei Bedarf zur Seite steht. Sie hilft ihm/r, in Trance zu fallen, überwacht die Inbesitznahme durch den Espírito, maßregelt gegebenenfalls dessen Verhalten und geleitet das Medium wieder aus der Trance. Allerdings ist die Aufnahme der Ausbildung keine Garantie für deren erfolgreiche Durchführung und Abschluss. Denn nicht jedem/r gelingt es, im geforderten Moment in Trance zu fallen und einen Geist zu inkorporieren. Bei manchen AnwärterInnen wirken die entsprechenden Mittel und Verfahrensweisen nicht, bei anderen erfolgt die Possessão durch den Geist nur teilweise. Das Medium verharrt dann im Zwischenstadium, d.h. im Übergang des In- bzw. Exkorporierens, anstatt es zu durchschreiten. Im Normalfall kündigt das Zwischenverhalten, das sich meist im Schütteln des Körpers äußert, die Inbesitznahme des Mediums durch den Geist an. Keiner von beiden steuert in dieser normalerweise recht kurzen Phase den Körper. Gleiches gilt für den Zeitpunkt, in dem der Geist seine Manifestation beendet, den Körper verlässt, und das Medium wieder die Herrschaft über sich selbst erlangt. Gelingt einem/r Auszubildenden der Übergang, der zur gänzlichen Inkorporation führt, wiederholt und trotz Hilfestellung nicht, so erhält er/sie eine andere, nicht-mediale Funktion im Terreiro. Den Ablauf und die Dauer der Ausbildung von Medien obliegt dem/r LeiterIn des Terreiro, so dass auch in dieser Hinsicht keine einheitlichen umbandistischen Strukturen existieren. Die Zeitspanne reicht in der Praxis von einigen Wochen bis hin zu mehreren Jahren. „Von verschiedenen Umbandaführern wird starker Nachdruck daraufgelegt, dass die Initiationszeit wieder [...] mindestens sieben Jahre

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betragen solle“ , wie Ulrich Fischer 1970 konstatiert. Es hatte sich offenbar eingebürgert, dass die Medien „in meist kürzerer Zeit – oft nur in Wochen – ausge562 bildet“ werden. Diese kritisierte Tendenz scheint sich jedoch fortgesetzt zu haben, wenn Francisco Rivas Neto 1994 für das Erlernen der Basiskenntnisse in umbandistischer Theorie und Praxis die Dauer von „3 Monaten oder 12 Ver563 sammlungen“ veranschlagt, wobei letztere Angabe das Minimum darstellen soll. Ebenso variabel gestalten sich die Initiationsriten, die die einzelnen Terreiros zur Aufnahme neuer Medien durchführen können. Zwei seien hier exemplarisch 564 kurz skizziert: die Taufe und die Feitura (’Anfertigung‘) . Erstere ähnelt in manchen Elementen dem christlichen Sakrament, während letztere aus dem Candomblé entlehnt wurde. Wann die Taufe (’baptismo‘) stattfindet und wer zugelassen ist, bestimmt der Guia des/r KultleiterIn, der zudem die Zeremonie durchführt. Die Täuflinge wählen aus den Medien des Terreiro einen Paten und eine Patin, wobei die Wahl vorzugsweise auf die älteren, erfahrenen und angesehenen Medien fällt. Am Tag der Taufe, die in eine Sessão eingebettet ist, stehen die PatInnen rechts und links der Täuflinge. Diese knien im inneren heiligen Bereich des Terreiro, dem Sala da congá, und tragen brennende weiße Kerze. Nachdem alle Anwesenden ein Vaterunser, ein Ave Maria und ein Credo gesprochen haben, beugt der in dem/r KultleiterIn inkorporierte Geist den Kopf eines/r AnwärterIn über ein Gefäß, das Wasser und Kräuter enthält, und wäscht ihm/r den Kopf. Daraufhin grüßt der/die Getaufte als neues Mitglied der Gemeinschaft den Altar, die Autoritäten sowie seine beiden PatInnen. Wenn an allen Täuflingen das Ritual vollzogen ist, wird die Zeremonie mit Gebeten beendet. Bei der nächsten Sitzung übergibt das Medium dem/r KultleiterIn seine Kette, damit sie gesegnet wird. Während sich das Hauptaugenmerk in der Taufe allein auf den/die AnwärterIn richtet, kommt bei der Feitura auch sein/ihr persönlicher Geist in den Blick. Der Initiationsritus, auch als ’fazer a cabeça‘ bezeichnet, fixiert die Verbindung zwischen Medium und Guia. Im Gegensatz zur Taufe ist die Feitura zeit- und kostenintensiv. Der/Die InitiandIn muss sich in eine dreiwöchige Klausur begeben, mehrere Opfer sowie Lieblingsspeisen bereiten, deren Bestandteile er/sie zuvor gekauft hat. Die Klausur beginnt mit Reinigungsriten und wird in den folgenden Tagen 561 Fischer, U.: Zur Liturgie, S. 23. Fischer spricht zwar von Priestern und Priesterinnen, die er ’filho de santo / filha de santo‘ nennt, meint aber eigentlich Medien. Denn ’filho de santo‘ ist die umbandistische Bezeichnung für ein Medium, nicht aber für einen Priester. Eben diese Bedeutung benennt Fischer selbst an voriger Stelle (S. 22). Die von ihm vorgenommene synonyme Verwendung von ’filho de santo‘ einmal als ’Medium‘, ein anderes Mal als ’Priester‘ ist demnach überaus unscharf und verbirgt die graduelle Differenz zwischen diesen beiden Ämtern. 562 Ebd., S. 23. 563 Rivas Neto, F.: Lições básicas, S. 67. 564 Vgl. hierzu Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 188–193. Weitere Beispiele sind nachlesbar bei Fischer, U.: Zur Liturgie, S. 24–28 sowie bei Rivas Neto, F.: Lições básicas, S. 67 ff. Letzterer schildert seiner Version des Rituals jedoch nicht als eine von mehreren Durchführungsmöglichkeiten; stattdessen hat es aufgrund seiner Nennung innerhalb dieses Lehrbuchs für UmbandistInnen nicht den Charakter eines Beispiels, sondern den einer Lektion.

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mit Opferungen (z.B. ein weißes Huhn für Oxalá) und der Zubereitung von Speisen für die Geister fortgesetzt. Nach einer Woche wird für den persönlichen Espírito ein vierbeiniges Tier geschlachtet und dessen Blut über den Kopf des/r 565 AnwärterIn vergossen. An einem anderen Tag opfert man für den Geist ein zweibeiniges Tier, isst dessen Kopf und bestreicht mit dem Fett den eigenen Körper. In der übrigen Zeit der Klausur werden Bäder genommen, gebetet und Gespräche mit dem/r KultleiterIn geführt. Nach zwei Wochen verlässt der/die InitiandIn kurz die Isolation, um an einer Sitzung teilzunehmen, in der der Guia inkorporiert. Das wiederholt sich einige Tage später, und mit einem Fest wird die Feitura gefeiert. Aber erst nach einer weiteren Woche der Gebete und Reinigungsbäder endet die Klausur. Beiden dargelegten Initiationsriten ist mit den anderen möglichen Formen gemeinsam, dass sie den Initiierten keine neue Identität verleihen. Sie werden weder in der Taufe neu geboren noch durch das Blut des Opfertiers zu anderen Personen. Die Medienschaft ändert sie dahingehend nicht. Ebenso wenig verleiht ihnen die Initiation einen neuen Geist. Dieser hat sich ja schon zuvor z.T. vehement mitgeteilt. In dieser Hinsicht ähneln die umbandistischen Medien – auch wenn sich die Art des Geistes unterscheidet – den frühchristlichen CharismatikerInnen. Der Geist Gottes ergriff diese ChristInnen unmittelbar, wohingegen im späteren Christentum die „Amtsträger ihn durch die Weihe, die mit Handauflegung und Herabrufung dieses Geistes erteilt wurde“566, empfingen. Daran mögen die Handlungen in der Feitura erinnern, jedoch dienen sie nicht dazu, einen neuen Espírito zuzuführen, sondern den bereits aufgetretenen, speziellen Guia fest mit dem Medium zu verbinden. Insofern ist der umbandistische Ritus keine Art der Geistmitteilung, sondern die Bevollmächtigung des Mediums, als ebenbürtiges Mitglied der Gemeinschaft seinen Espírito in geregelter Weise zu inkorporieren. Darauf weist als äußeres Zeichen die Kette hin, die das Medium in den Farben seines Geistes während der Sessão trägt. Durch keine andere Äußerlichkeit ist ein Medium vor seiner Initiation von den anderen Medien zu unterscheiden. Außerhalb der Sessão und v.a. außerhalb des Terreiro sind die UmbandistInnen nicht als solche zu erkennen. Eine Kleiderordnung gilt nur für die Kultsitzung, für die sich die Medien, die PriesterInnen, die MusikerInnen und der/die KultleiterIn umziehen. Auch das private Leben sowie Familienstand und Sexualität werden durch die mediale Tätigkeit im Terreiro nicht beeinflusst. Sie schreibt weder Ehe- noch Kinderlosigkeit, weder Enthaltsamkeit noch heterosexuelle Beziehungen vor. Die Umbanda hält sich mit Regeln zur Lebensführung zurück und unterlässt es auch, hierfür ein Ideal zu propagieren. Denn die „Umbanda versklavt nicht, sie befreit“567. 565 Wie bereits oben erwähnt, lehnt Francisco Rivas Neto solche Rituale strikt ab und deklariert die Terreiros, die Tieropfer durchführen, als nicht umbandistisch. 566 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 381. 567 Rivas Neto, F.: Lições básicas, S. 77 [Hervorhebung weggelassen].

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Aus diesem Motto darf allerdings nicht die Folgerung abgeleitet werden, dass es überhaupt keine Regeln gebe. Ein Medium unterliegt doppeltem Gehorsam: zum einen gegenüber seinem Guia (s.u.), zum anderen gegenüber seinem/r KultleiterIn (s. 5.1.6). Diese/r fordert im Interesse des Terreiro vom Medium eine gewisse Disziplin wie Pünktlichkeit, saubere Kultkleidung oder regelmäßige Teilnahme an den Sessões. Zudem kann er/sie den Mitgliedern des Terreiro, die ja in erster Linie Medien sind, untersagen, Liebesbeziehungen mit anderen Mitgliedern einzugehen. Dieses Verbot, das auch den/die KultleiterIn selbst einschließt, kann auf vielfache Weise begründet werden: Die Seriosität des Terreiro leidet, „es mindert seine mystische Effizienz“568, und bietet Konfliktstoff. Zudem wären Liebschaften zwischen Medien als Inzest zu verurteilen, da die Kultgemeinschaft eine geschwisterliche ist, in der die Medien als Töchter und Söhne des/r KultleiterIn gelten. Eine solche Regelung ist jedoch keineswegs allgemein durchgesetzt. Es obliegt der Entscheidung des/r einzelnen KultleiterIn, ob er/sie Liebesbeziehungen zulässt oder unterbindet. Letztlich ist aber die Zahl der Paare, die sich durch den häufi569 gen Kontakt im Terreiro gefunden haben, nicht gering. Gleiches gilt für den/die KultleiterIn selbst, dessen/deren (Ehe-)PartnerIn oftmals auch als Medium der Kultstätte verbunden ist. Für manche Medien ist der erste Terreiro, den sie – noch als KlientInnen – aufgesucht haben, der einzige, den sie überhaupt frequentieren. Hier wurden sie ausgebildet, sind in die Gemeinschaft integriert und stehen in einem vertrauensvollen Verhältnis zum/r KultleiterIn. Viele Medien jedoch beschränken sich nicht darauf, nur an den Sessões eines einzigen Terreiro teilzunehmen. Eine enge persönliche Bindung zur Kultstätte ist keine notwendige Bedingung für die Karriere als Medium. Und je lockerer das Band ist, desto eher wechselt das Medium den Terreiro und sucht nach einem geeigneten. Als weitere Gründe für einen Wechsel sind – neben Misstrauen und mangelnder Integration – der Umzug des Mediums, private Probleme oder die Auflösung der Kultstätte anzuführen. Sucht und verlässt ein Medium allerdings recht häufig eine an sich funktionierende Gemeinschaft, so liegt das meist daran, dass es nicht die Vorgaben des/r KultleiterIn, die dort herrschende Gruppenstruktur oder das -klima akzeptiert und sich daran nicht anpasst. Die Eröffnung eines eigenen Terreiro oder zumindest ein unabhängiges Arbeiten wäre für solche Medien ein Ausweg aus der durch ständigen Wechsel geprägten Situation. Letztlich entscheidet das Medium selbst, zu welchem Terreiro es gehören will (und nicht z.B. der Wohnort), aber auch ob es das überhaupt will. Es kann seine aktive Medienschaft durchaus ruhen lassen und in keinem Terreiro Mitglied sein. Allerdings ist es dem Medium nicht möglich, die Medienschaft an sich aufzuheben. Vernachlässigt es die Pflichten, so muss es mit Sanktionen seines Guia

568 Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 184. 569 Vgl. Brites, J.: Tudo em família: Religião e parentesco na Umbanda gaúcha, in: Oro, A.P. (org.): As religiões afro-brasileiras do Rio Grande do Sul, Porto Alegre 1994, S. 74–88, hier S. 84.

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rechnen. Insofern bleibt das Medium immer Medium, hat aber hinsichtlich des Terreiro und der Zugehörigkeit freie Wahl. Entsprechend der Grenzziehung teilen sich auch die Aufgaben des Mediums in zwei Bereiche. Zum einen ist das Medium sein Leben lang seinem Guia gegenüber verpflichtet, auch wenn die Verbindung nicht durch eine Feitura fixiert wurde. Man bringt ihm Geschenke dar, bereitet Lieblingsspeisen (nach vorgegebenen Rezepten), züchtet Pflanzen für Bäder und Opfergaben, parfümiert das Haus und pflegt den eigenen Körper, da er dem Geist zur Manifestation dient. Im Gegenzug gewährt der Geist seinem Medium Schutz und Gunst. Der Aufwand, den die Medienschaft mit sich bringt, kann noch dadurch vermehrt werden, dass ein Medium mehrere Guias hat, und sie alle gepflegt sein wollen. Diese Vielheit der Guias pro Medium ist die Regel und zur Priesterschaft Voraussetzung. Bei dem Wunsch der Ausbildung zum Medium sei folglich die sich damit ergebende dauerhafte Abhängigkeit und Verpflichtung zu bedenken, die mit jedem weiteren Guia wächst. Deren Auflösung oder Annullierung, und sei sie noch so sehr gewollt, ist hingegen nicht möglich. Neben den Dienst am Guia treten die Tätigkeiten im Terreiro: das Verwahren und der Nachkauf der heiligen Gegenstände, das Reinigen und Zurichten des heiligen Raums, die Teilnahme an Sessões, die Inkorporation der Geister und die Behandlung der KlientInnen. Letzteres erfordert unterschiedliche Methoden, über deren Anwendung der Guia des Mediums nicht nur entscheidet, sondern sie auch durchführt, wie z.B. Phytotherapie, Kristalltherapie, Chakra-Ausgleich, Chromotherapie.570 Während diese Heilmethoden dem esoterischen Kontext entstammen, geht die Befragung des Ifá-Orakels, welches einen wesentlichen Stellenwert im Tätigkeitsspektrum hat, auf die afrikanischen Wurzeln der Umbanda zurück (s. 4.1.1.1). Im Ifá-Orakel wird die Formation der geworfenen Nüsse oder Muscheln als Weissagung gedeutet. Eine recht einfache Variante stellt das ’Jogo de Obis‘ (’Spiel der Kolanüsse‘) dar, in dem die Anzahl der offenen und geschlossenen Seiten, die von vier Nüssen nach oben zeigen, als Antworten interpretiert werden (z.B. vier offene Nussseiten signalisieren ’Ja‘, eine offene und drei geschlossene hingegen ’Ungünstig‘). Das ’Jogo de Búzios‘ (’Spiel der Kaurimuscheln‘) wird häufig dahingehend befragt, welcher Orixá anwesend ist, welcher das Leben des/r InitiandIn beeinflusst oder welcher für die Behandlung eines/r KlientIn am besten geeignet ist. Liegen von den 16 Muscheln z.B. sechs mit der offenen Seite nach oben, so deutet dies auf Iansã hin, während die umgekehrte Anordnung mit sechs geschlossenen Muschelseiten auf Oxalá deutet.571 Schwierigere Orakel-Varianten lassen bis zu 256 mögliche Interpretationen zu. Nicht zuletzt aufgrund des hohen Anspruchs und wegen der mathematisch möglichen Menge der Kombinationen sowie deren

570 Vgl. Bobsin, O.: Entrevista com uma sacerdotisa, S. 48. 571 Vgl. Sangirardi Jr.: Deuses da África e do Brasil, S. 107 f. 112.

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Bedeutungen, die zu erlernen sehr aufwendig ist, behalten viele Terreiros allein den KultleiterInnen das Weissagen mittels des Ifá-Orakels vor. Obwohl die UmbandistInnen mithilfe dieser Praktik wahrsagen, sind sie jedoch schwerlich als ProphetInnen zu bezeichnen. Bereits die Anwendung des ursprünglichen Bedeutungsinhalts des griechischen προφήτης als ’Sprecher der Gottheit 572 vor dem Volk‘ lässt sich nicht glatt vollziehen. Die umbandistischen DeuterInnen des Orakels sind zwar durchaus SprecherInnen, aber weniger einer Gottheit als vielmehr des unpersonifizierten Numinosen. Ließe sich diese Unstimmigkeit durch Verallgemeinerung des Begriffs ’Gottheit‘ noch uminterpretieren, so würde dieses Unterfangen angesichts des/r AdressatIn des Redens allerdings scheitern. Denn sowohl der Wurf der Muscheln oder Nüsse als auch die Interpretation ihrer Anordnung erfolgt ausschließlich in Bezug auf nur eine Person, nämlich den/die KlientIn. Es wird nur der/die Einzelne informiert (und zudem auf dessen/deren Wunsch), nicht aber eine Vielzahl von Menschen, geschweige denn ein ganzes Volk. Auch gilt die gleiche Mitteilung nicht für mehrere HörerInnen nacheinander, sondern wird immer wieder neu und individuell erfragt bzw. formuliert. Abgesehen von der Begriffsbestimmung weicht die umbandistische Praxis auch dahingehend vom Prophetentum ab, dass ein Medium bzw. ein/e PriesterIn die Kunst des Orakellesens erlernt hat. Man wird weder von einer übernatürlichen Kraft berufen, noch von ihr im Moment des Sehens durchdrungen und geführt. Stattdessen wendet man sein Wissen an, das auf formalisierten Regeln beruht, und leitet daraus gemäß der vorliegenden Situation seine Aussagen ab. Insofern steht das Lesen des Ifá-Orakels auf einer Ebene mit der Eingeweideschau, der Interpretation des Vogelflugs, dem Handlesen oder dem Kartenlegen (die beiden letzten gehören durchaus zum umbandistischen Repertoire), die als Techniken der induktiven Prophetie gelten.573 Aufgrund der Kognitivität dieses Vorgangs treten auch keine üblicherweise mit der Begeisterungsmantik einhergehenden Phänomene auf. „Ekstase mit Krämpfen und Lähmungen, Anästhesie, Visionen und Auditionen im Wachzustand, im Traum und in der Hypnose, Hellsehen, triebhafte Bewegungen, Handlun574 gen und Reden“ – all das unterbleibt bei der Weissagung der UmbandistInnen. Was sich z.T. während der Possessão ereignet, gehört nicht zum Ritual des IfáOrakels, denn hier findet keine Inkorporation des Geistes im Medium statt, sondern es bleibt es selbst. Allerdings ist die Begeisterungsmantik nur eine Form der Prophetie, von der sich andere wiederum unterscheiden. Dies belegen die zahlreichen israelitischen ProphetInnen. Nicht alle sprachen in Ekstase und verkündeten ihre Visionen, und nicht alle sprachen nur zu einer Menschenmenge. In diesen mehr äußerlichen Aspekten ähneln sich Prophetie und umbandistisches Orakel, wenn das 572 Vgl. Deissler, A.: Dann wirst Du Gott erkennen. Die Grundbotschaft der Propheten, Freiburg 1987, S. 11. 573 Vgl. Zenger, E.: Einleitung in das Alte Testament, 2., durchges. u. erg. Aufl., Stuttgart u.a. 1996, S. 294. 574 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 396.

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Medium bei vollem Bewusstsein und klar formulierend dem/r Einzelnen die Äußerung des Heiligen mitteilt. Dass es aber nicht vom Übernatürlichen auf irgendeine Weise ergriffen wird, sondern die Muschel- oder Nussformation sozusagen als Hilfsmittel gebraucht, unterscheidet beide wesentlich. In der Praktik des Wahrsagens scheint darüber hinaus deutlich die Nähe des Mediums zur Zauberei durch. Betrachtet man die Aufgaben von Zauberern oder Schamaninnen, die Heiler benennt, so fungieren sie als „Vollzieher der Zauberkunst, Kenner der Zauberworte, Helfer in Krankheit, Dürre, Kriegsgefahr, Vermittler des Verkehrs mit der übersinnlichen Welt, Enträtseler der Zukunft“575. Die meisten dieser Bereiche werden auch durch die Tätigkeiten der umbandistischen Medien abgedeckt, die somit durchaus als Zauberer gelten können. Wenn jedoch in vielen Religionen die Funktion des/r ZaubrerIn auf den/die PriesterIn überging, so dass das Amt im Verlauf der Geschichte verschwand, so hat eine solche Entwicklung in der Umbanda nicht stattgefunden. Beide Ämter waren von Anfang an verschmolzen und das Medium (gleichbedeutend mit dem allgemeinen Begriff ’Priester‘) war und ist immer zugleich auch Zauberer. Eine synonyme Verwendung beider Amtsbezeichnungen ist allerdings weder ratsam noch treffend. Denn während ’Medium‘ als neutraler Begriff erscheint, wird ’Zauberer‘ weitgehend pejorativ konnotiert und mit schwarzer Magie in Zusammenhang gebracht, was die weißmagische Umbanda verhindern will. Zudem verweist der Begriff ’Medium‘, der vom Spiritismus übernommen wurde, auf die eigentliche und vorrangige Aufgabe eines/r UmbandistIn: die Vermittlung zwischen Geistern und Menschen. Der/Die ZaubrerIn vermittelt zwar auch, allerdings nicht so, dass er/sie den eigenen Körper gänzlich der Verfügung preisgibt. Das Medium hingegen stellt sich gänzlich in den Dienst des Geistes, der so weit geht, dass sich der Espírito mithilfe des menschlichen Körpers manifestiert. Insofern greift die Bezeichnung ’Zauberer‘ zu kurz und lenkt vom Eigentlichen ab. Wie viel ein Medium erlernt und welche Rituale es beherrscht, obliegt dem/r ausbildenden KultleiterIn. Er/Sie bestimmt, wie intensiv und umfassend die Ausbildung unter Beachtung der Fähigkeiten bzw. Defizite der einzelnen InitiandInnen erfolgt. Während die einen universal belehrt und eingesetzt werden, sind die anderen gleichsam auf einzelne Aspekte der Medienschaft spezialisiert. Hier kann gemäß dem „Catecismo de Umbanda“, der darlegt, was nach seiner Aussage „von der Mehrheit der Umbandisten anerkannt ist“576, zwischen fünf Arten von Medien differenziert werden: die Sehenden, die Hörenden, die Schreibenden, die Sprechenden und die Willenlosen. Die ersten sehen die Geister in ihrem wahren Sein, können das Gesehene aber nicht in Worte fassen. Die zweiten hören die Worte der Espíritos und nehmen beispielsweise die Rezepte, die die Arzt-Geister diktieren, entgegen. Die dritten schreiben die Botschaften der Geister auf, während die vier-

575 Ebd., S. 371. 576 Catecismo de Umbanda, S. 5. Vgl. im Folgenden S. 29–33.

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ten sie aussprechen, und das im Zustand der Possessão. Insofern teilt der inkorporierte Geist seine Nachricht dem/r KlientIn direkt mit. Den fünften hingegen gelingt die Inkorporation nur unvollständig, so dass sie auf einer niedrigeren Stufe als die anderen Medien stehen (streng genommen sind sie nicht zum Kreis der Medien zu zählen). Dass diese Aufgliederung nach Fähigkeiten keineswegs von allen Terreiros gehandhabt wird, zeigen die vielerorts stattfindende universale Ausbildung und der unspezifische Einsatz der Medien. Im Laufe einer der Sessão, deren Kern die Manifestation der Geister bildet, fallen verschiedene Aufgaben vor- und nachbereitenden Charakters an: Beräucherung des Raumes, Parfümierung der Anwesenden, Entzünden der Kerzen, Bereitstellung von Getränken, Verwahrung der kultischen Gegenstände etc. Solches wird in der Zeit erledigt, in der kein Geist inkorporiert ist. In dem Moment jedoch, indem sich die Espíritos mit den menschlichen Körpern verbinden, unterscheiden sich die Funktionen der Medien. Die nicht-inkorporierenden stehen sodann den inkorporierenden helfend zur Seite. Sie rücken der Preta Velha den Stuhl zurecht, reichen dem Caboclo ein Glas Bier, zünden der Pomba Gira die Zigarette an, geben Ogum Helm und Schwert. Für jede Geisterkategorie sind die entsprechenden Utensilien daher schon bereit zu halten, wobei der/die KultleiterIn meist am Tag vorher informiert, welche Geister sich in den Terreiro herab begeben werden. Wann aber dem Geist was gereicht wird, bestimmt dieser selbst. Er fordert und das helfende Medium führt aus. Eine Überzahl an anwesenden Espíritos vermag die sich in Minderzahl befindlichen nicht-inkorporierenden Medien gut zu beschäftigen. Aufgrund der Ansprüche aber, die ein Geist fortwährend äußert, erhält jeder idealerweise eine/n HelferIn an seine Seite. Diese/r bringt ihm Papier und Kreide, wenn er etwas schreiben will; er/sie bindet ihm die Haare zusammen, wenn er das befiehlt; er/sie wiederholt gegenüber den KlientInnen die Worte des Geistes, wenn dieser zu undeutlich gesprochen hat.577 Während solche Arbeiten eigentlich von jedem Medium verrichtet werden können, richten manche Terreiros hierzu ein eigenes Amt ein, das des Samba. Er hat eine rein helfende Funktion inne, die er für die verschiedenen an der Kultsitzung beteiligten Personen wahrnimmt. Er hilft den Espíritos bei allen ihren Wünschen, den KlientInnen bei der Konsultation und der Mãe Pequena (s.u.) bei ihren Aufgaben.

577 Vgl. Velho, Y.M.A.: Guerra de Orixá, S. 27. Hinsichtlich der deutlichen Wiederholung der Worte eines Geistes ist hervorzuheben, dass dies nicht als Interpretation zu verstehen ist, wie dies in anderen Religionen der Fall sein kann. Beim Orakel von Delphi beispielsweise stehen der weissagenden Pythia Priester zur Seite, die ihre in Trance gesprochenen Worte den Fragestellern übermitteln und die dadurch ein fester Bestandteil des Orakels sind. Hier ist aber strittig, inwiefern die Priester das Gesprochene nur übersetzen und verdeutlichen oder interpretieren und auch sinngemäß umformulieren. Die Tätigkeit des Samba bzw. des helfenden Mediums hingegen, der „einige Worte übersetzt, die von den Guias in verworrener Form ausgesprochen wurden“, ist fakultativer Art und eher durch den Klienten überprüfbar. Ist er mit der Sprache und den Eigenheiten vertraut, bedarf er der Hilfe eigentlich nicht.

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Wie bereits angesprochen besteht die vornehmliche und wichtigste Tätigkeit des Mediums im Terreiro darin, die Geister zu inkorporieren. Damit dienen sie einerseits eben jenen Espíritos, die durch Arbeit ihren Entwicklungsgrad verbessern können, und andererseits den Ratsuchenden, indem sie ihnen den Kontakt zur übernatürlichen Kraft ermöglichen. Was Friedrich Heiler für den Priester als heiligen Menschen formuliert, ist unter umbandistischer Perspektive auch für das Medium zutreffend (das Reden von ’Gott‘ sei wiederum durch ’das Heilige‘ zu ersetzen): „Nur das Priesteramt befähigt zum unmittelbaren Gottesumgang [...]. Priester sein heißt mit Gott real umgehen, Gott schauen und berühren; Priestertum bedeutet Mittlerschaft zwischen Gott und Mensch.“578 Genau das erfüllt sich auch beim umbandistischen Medium. Es hat direkten und tatsächlichen Umgang mit dem Heiligen und vermittelt zwischen diesem und dem Menschen. Allerdings geht die Umbanda noch einen Schritt weiter. Das Medium stellt nicht nur einen vermittelten Kontakt her, sondern gestaltet ihn durch die Inkorporation zu einem unmittelbaren. Indem es seine Persönlichkeit zurückstellt und vom Geist, also einer Form des Heiligen, in Besitz genommen wird, ist das Numinose anwesend und gegenwärtig. Dem/r KlientIn steht somit im Moment der Possessão nicht das Medium als Mensch gegenüber, sondern das Heilige, das sich im menschlichen Körper manifestiert. Insofern fragt der/die KlientIn in der Konsultation nicht das Medium um Rat, das das Anliegen an den Espírito lediglich weiterleitet, sondern konsultiert den Geist und damit das Sakrale selbst. Dementsprechend wird auch die Antwort des Espírito nicht über das Medium als vermittelnde Schaltstelle erteilt, sondern dem/r KlientIn direkt genannt. Auf diese Weise leistet die Umbanda doppeltes. Sie macht zum einen das Heilige unmittelbar. Der/die Gläubige (nicht nur der/die PriesterIn bzw. das Medium) begegnet ihm von Angesicht zu Angesicht, schaut und berührt selbst das Numinose. Indem er/sie dem Geist gegenübertritt (und nicht nur einem/r VermittlerIn), erlebt der/die KlientIn direkt das Moment des Fascinans und Tremendum, der Majestas und des Augustum. Die Funktion eines/r StellvertreterIn des Heiligen wird überflüssig. Zum anderen nimmt die Kommunikation eine andere Dimension an, als dies in vielen Religionen der Fall ist. Üblicherweise spricht in diesen Kulten der Mensch zum Numinosen (sei dies nun personal oder impersonal zu denken) oder zu dessen StellvertreterIn. Während letztere/r vernehmbar antwortet, reagiert ersteres nicht immer in wahrnehmbarer Weise. Donner oder Regenbogen, das Hören einer Stimme und besondere Zeichen werden häufig als Äußerungen des Sakralen gedeutet. Vermutlich ebenso oft glaubt man, dass überhaupt keine Antwort gegeben wurde und Gebete ungehört verklungen sind. Bei der Umbanda hingegen erhält der/die Fragende Antwort und zwar nicht von dem/r StellvertreterIn, sondern vom Heiligen selbst. Zudem antwortet es sofort und nicht Tage oder Wochen später. Die Kommunikation verläuft demnach wechselseitig – zudem in 578 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 372.

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einem ausgewogenen Verhältnis, so dass auf jede Äußerung des/r KlientIn eine Reaktion des Geistes folgt, die auch Dritte wahrnehmen können. In diesen Aspekten sehe ich durchaus einen Grund für die Anziehungskraft der Umbanda. Er tritt gleichsam neben die anderen bisher skizzierten Gründe, ohne sie entkräften zu wollen. Der/Die Gläubige begegnet dem Heiligen unmittelbar und erhält sofort von ihm Antwort, die jede/r Umstehende hören kann und somit keine Einbildung oder Illusion des/r Einzelnen ist. Die Stellvertreterrolle, die ein/e 579 PriesterIn üblicherweise einnimmt , wird hinfällig, während jedoch die Funktion der Mittlerschaft an sich bestehen bleibt. Die Rolle des umbandistischen Mediums ist keineswegs überflüssig oder verzichtbar, doch geht sie über die des von Heiler beschriebenen Priesters hinaus. Es vermittelt nicht nur, sondern verwandelt sich, so dass für den/die KlientIn der Kontakt zum Numinosen unmittelbar wird. Dank dessen Manifestation im Körper eines Menschen kann es ebenso unmittelbar antworten, anstatt nicht gehört, nicht gesehen oder falsch gedeutet zu werden. Für den/die KlientIn bedeutet dies, vom Heiligen beachtet zu sein und seine Anweisungen zur Hilfestellung genau befolgen zu können, so dass die Lösung der Probleme in die erhoffte Nähe rückt. Das Medium ist demnach nicht nur ein heiliger Mensch, sondern wird selbst zum Heiligen. Mit solcher Fähigkeit und Aufgabe geht eine große Macht einher, die das Medium ausübt. Es vermag alle Bereiche der brasilianischen Lebenswelt – und seien sie noch so konträr – miteinander zu verbinden, teils als Vermittler, teils in seiner eigenen Person. Auf diese Weise hat das Medium „die Befugnis, die Grenzen der menschlichen Welt und des Übernatürlichen zu beherrschen, es kann die Naturkräfte mit der Kultur verknüpfen, das Leben mit dem Tod, den Weißen mit dem Schwarzen, die universalen Werte mit den persönlichen Interessen, die Mächte von oben mit den Mächten von unten“580. Dieses Vermögen wird von der Gesellschaft keineswegs in Frage gestellt, doch überaus skeptisch betrachtet. Denn das Medium hat nicht nur die Macht, die guten, wohlwollenden Geister zu inkorporieren, sondern auch die bösen, schadenden. Aus Furcht vor solchem Schadenszauber begegnet man den Medien mit Misstrauen, auch wenn sie vorgeben, sich als UmbandistInnen der weißen Magie zu widmen. Die Fähigkeit zur Ausübung schwarzmagischer Praktiken haben sie allemal. Insofern haftet der Medienschaft aller afro-brasilianischen Religionen ein Stigma an – sozusagen als Kehrseite der Medaille. Demzufolge bleiben auch Anschuldigungen gegenüber umbandistischen Medien, Schäden zu vermitteln, nicht aus: finanzieller Ruin, schlimme Erkrankung, permanentes Unglück, Verlust der Arbeit, Fremdgehen des/r EhepartnerIn etc. Wenn ihnen nicht direkt die Schuld angelastet wird, dass sie die bösen Absichten eines/r KlientIn umsetzten, so verdächtigt man die Medien mindestens der Mit-

579 „Der Priester ist [...] Stellvertreter der Gottheit“, vgl. ebd. 580 Birman, P.: O que é Umbanda, S. 58.

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schuld, indem sie dem nicht wehrten, sondern die Schädigung zuließen. Auch diejenigen Medien, die seit Jahrzehnten nur mit den Orixás und den Geistern des Lichts arbeiten, sind vor gegenteiliger Kritik nicht gefeit. Es kann jedoch auch nicht geleugnet werden, dass für viele Medien die Arbeit mit den Geistern Exu und Pomba Gira nicht reizlos ist, da ihnen eine höhere Wirkmächtigkeit als beispielsweise den Crianças oder Caboclos/as zugeschrieben wird, was wiederum eine größere Erfolgsquote verspricht. Solche Medien nehmen „die Bewertung der Beeinflussung der ‚Geister der Dunkelheit‘ [...] nicht nach moralischem Rang sondern nach pragmatischem“581 vor. Der Missbrauch der Macht für unethische Angelegenheiten ist demnach weder unmöglich und noch unattraktiv. Dass es UmbandistInnen gibt, die auch mit schwarzer Magie umgehen, wird von den anderen UmbandistInnen zwar nicht bestritten, aber verurteilt. Sie gelten als schwach und gewissenlos und entgegen dem Ideal des umbandistischen Mediums handelnd. Es liegt in der Verantwortung des Mediums, mit welchen Mächten es arbeitet und welche es abwehrt. Ihm selbst obliegt es, Schaden zu verhindern, zuzulassen oder zu bewirken. Dadurch fungiert das Medium nicht als bloße Materie und willenloser Spielball in den Händen des Heiligen, sondern vermag es durchaus in eine Richtung zu lenken. Die Macht des Mediums stößt allerdings dort an ihre Grenzen, wo der/die KultleiterIn sie überprüft. Er/Sie kann den Medien des Terreiro jegliche Schadenszauberei formal untersagen. Mehr noch: Auch seine/ihre Guias sind mächtiger als die der Medien, so dass der in dem/r KultleiterIn manifestierte Espírito dem im Medium inkorporierten Geist befehlen und verbieten kann. Insofern wird die Verantwortung für den Umgang mit dem Übernatürlichen an den/die KultleiterIn weitergereicht. Ordnet sich ein Medium jedoch nicht unter, so kann dies zum Verlassen des Terreiro führen – durch Ausschluss, aber auch auf eigene Initiative. Wenn sich das Medium daraufhin mit einer eigenen Kultstätte selbstständig macht, untersteht es keiner übergeordneten Instanz mehr und diktiert selbst die Regeln. Versäumt ein/e KultleiterIn hingegen die Supervision über die Medien, so zeugt dies von Schwäche oder mangelnder Integrität. Beides wäre für die Gläubigen ein Grund, den Terreiro zu wechseln. Denn an der Existenz und Wirksamkeit des Heiligen, das sich im Menschen manifestiert, zweifeln sie nicht; stattdessen richtet sich ihr Misstrauen gegen das Medium selbst, gegen den/die KultleiterIn und gegen den Terreiro. Nur in seltenen Fällen empfängt ein umbandistisches Medium nur und ausschließlich einen Geist. Üblicherweise ist es mit je einem aus den wichtigsten Kategorien verbunden, d.h. mit einem Orixá, einem/r Caboclo/a, einem/r Preto/a Velho/a, einem Kinder-Espírito und einem/r Exu/Pomba Gira. Erweitert wird die Liste fakultativ durch einen Marinheiro, eine/n Cigano/a oder eine/n Baiano/a. Doch wie die Zahl der Kategorien prinzipiell offen ist, so kann auch ein Medium eine unbeschränkte Anzahl von Geistern inkorporieren – also aus jeder Gruppe je 581 Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 274.

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einen oder mehrere. Von jedem Geist muss das Medium aber auch das spezifische Rollenverhalten der Kategorie beherrschen. Je höher die Zahl und Vielfalt der Espíritos sind, desto höher sind die Anforderungen an das Medium; und es kann dem nur gerecht werden, wenn es regelmäßig durch Inkorporation seine Fähigkeiten vervollkommnet. Während es einem/r UmbandistIn als Medium noch möglich ist, die Zahl der Geister recht gering zu halten, muss er/sie als PriesterIn eine große Bandbreite aufweisen. Er/Sie muss zudem die „Geistrollen möglichst weit582 gehend von äußeren Stimuli unabhängig“ verkörpern können, also ohne die Trance herbeiführende Bewegungen oder Handlungen wie Tanz oder Beräucherung. Idealerweise vermag der/die PriesterIn von einem Moment auf den anderen, die eigene Persönlichkeit zurückzustellen und den Körper dem Espírito zu überlassen. Mit dieser Stellung und Fähigkeit geht jedoch auch ein größerer Aufwand einher, der sich in häufigem Inkorporieren und dem Eingehen auf zahlreiche Forderungen seitens der Geister äußert. Den zweithöchsten spirituellen Rang im Terreiro nimmt die Mãe Pequena (’kleine Mutter‘) ein. Zwar ist diese Position in gleicher Weise von einem Mann als Pai Pequeno (’kleiner Vater‘) besetzbar, doch überwiegt hier der Frauenanteil bei weitem. Dem/r KultleiterIn steht sie nicht nur während der Sessão helfend zur Seite, sondern auch bei der Betreuung der Medien. Insofern bereitet die Mãe Pequena zusammen mit den Medien deren rituelle Reinigungsbäder vor, berät sie bei der Zusammenstellung der Opfergaben für die Guias, wischt ihnen nach der Inkorporation den Schweiß von der Stirn und weist Neulinge in die Rituale des Terreiros ein. Darüber hinaus ist sie für das Kochen der Lieblingsspeisen der Geister sowie für den Kauf von rituellen Gegenständen verantwortlich. Während dieses Amt einerseits mit hohem zeitlichem Aufwand verbunden ist, steigert es andererseits auch das persönliche Ansehen. Die Voraussetzung, von dem/r KultleiterIn zur Mãe Pequena ernannt zu werden, besteht in der Medienschaft, wobei es unerheblich ist, ob das Medium in diesem Terreiro ausgebildet wurde oder von einem anderen kam. Als Entscheidungskriterien kommen dagegen Formalia wie das Alter des Mediums, die Dauer der Medienschaft oder die Dauer der Zugehörigkeit zum Terreiro in Frage. Auf spiritueller Ebene jedoch unterscheidet sich die Mãe Pequena in der Regel nicht von den übrigen Medien, wobei die Möglichkeit auch einer spirituellen Vorrangstellung nicht per se auszuschließen ist. Diese würde dadurch gesichert, dass der/die KultleiterIn jemanden beruft, der „eine deutliche mystische Wechselbeziehung besitzt: Seine Geister sind die stärksten im Terreiro, nach denen des Chefs“583. Hierin schlummert jedoch ein gewisses Konfliktpotenzial, das die Mãe Pequena zur Konkurrentin des/r KultleiterIn werden lassen könnte. Gehören dem Terreiro auch PriesterInnen an, so sind sie die ersten AnwärterInnen auf das zweithöchste Amt der spirituellen Hierarchie.

582 Figge, H.H.: Geisterkult, S. 142. 583 Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália Sagrada, S. 171 [Hervorhebungen weggelassen].

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Die höchste Autorität, Macht und Verantwortung innerhalb des Terreiro kommt ohne Zweifel dem/der KultleiterIn (’chefe-do-terreiro‘) zu. Von den Angehörigen des Terreiros wird er/sie respektvoll mit Pai-de-santo bzw. Mãe-de-santo angesprochen, also als Vater bzw. Mutter des Heiligen. Wie bereits in patri- und matriarchalischen Gesellschaften bildet auch in der Umbanda ein ’Elternteil‘ den Mittelpunkt der Gemeinschaft und steht ihr als Oberhaupt vor. In dieser Position eignet dem/der KultleiterIn wiederum ein besonderes Maß an Heiligkeit und Axé. Oftmals hat er/sie die Kultstätte gegründet, aufgebaut, die Medien aus dem Herkunftsterreiro mitgenommen und/oder selbst ausgebildet. Indem es sein/ihr Terreiro ist, untersteht er/sie auf spiritueller Ebene niemandem. Einzig dem/r eigenen AusbilderIn kann sich der/die ehemalige SchülerIn verbunden fühlen. Je nach Organisation kann der bürokratische Bereich des Terreiro von einem/r PräsidentIn geleitet werden, der/die der materiellen Hierarchie voransteht. Fehlt dieses Amt, fungiert der/die KultleiterIn zugleich als geistliches und weltliches Oberhaupt. Die Zugehörigkeit zu einer übergeordneten Föderation hat hierauf jedoch keinen Einfluss. Aufgrund der Machtposition sind die Aufgaben des Kultleiter/In vielfältig: Medien und KlientInnen hinzugewinnen und halten, Ruf und Prestige steigern, finanzielle Einnahmen sichern, Konflikte zwischen den Medien (und mit sich selbst) entschärfen, Vorwürfe der schwarzen Magie entkräften etc. Zudem knüpfen die Medien Anforderungen an die Rolle des/r KultleiterIn wie Kompetenz, Schutz gegen schlechte Energien, Gerechtigkeit, Weisheit und untadeligen Lebenswandel. Seine/Ihre Geister sind außerdem die Mächtigsten aller Terreiromitglieder und befehligen den Espíritos der Medien. Was einer von ihnen beabsichtigt, kann der Geist des/r KultleiterIn verhindern.584 Von seiner/ihrer Person und Verhalten hängen letztlich der Erfolg und das Fortbestehen des Terreiro ab. Als ausgebildete Medien und PriesterInnen ist es auch für die KultleiterInnen erforderlich, den Verpflichtungen gegenüber den Espíritos nachzukommen, Opfer darzubringen, den Körper zu pflegen und regelmäßig zu inkorporieren. Zu welchem Zeitpunkt sie sich aber in der Sessão von einem Espírito in Besitz nehmen lassen, bestimmen sie selbst, und dies variiert durchaus zwischen den Kultstätten. Mancherorts inkorporieren sie als erste, mancherorts als letzte und zwar dann, wenn die Medien ihrer Hilfestellung, um in Trance zu fallen, nicht mehr bedürfen. Manchmal inkorporieren sie gar nicht, manchmal – v.a. an Festtagen – als einzige. Ebenso wie die anderen PriesterInnen vermögen sie, innerhalb von Sekunden die Persönlichkeit zu wechseln und von Menschen zu Geistern in menschlichen Hül584 Birman schildert den Fall einer seit über dreißig Jahren tätigen Kultleiterin, die sich vehement gegen den Vorwurf wehrt, durch einen Exu Schadenszauber zu betreiben. „Sie hatte nie eine solche Rolle gespielt. Der Geist des Exu kann das machen, aber sie, erfahren in den Angelegenheiten des Heiligen, lässt ihn nicht. [...] Es gibt keine Wesenheit, wo auch immer sie sein mag, der sie nicht die Stirn bieten kann und die nicht innerhalb des Terreiros ihren Befehlen gehorcht“ (Birman, P.: O que é Umbanda, S. 62).

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len zu werden. Daher können die KultleiterInnen zu jeder Zeit der Sitzung inkorporieren, ohne die anfänglichen Riten der Trance durchgeführt zu haben. Solches ereignet sich nach Bedarf, z.B. wenn die bereits manifestierten Geister zu schwach sind, um eine/n KlientIn angemessen zu behandeln. Um in dieser Situation schnell eingreifen zu können, muss der/die KultleiterIn das ganze Geschehen im Terreiro, insbesondere im inneren heiligen Bereich, ständig beobachten und kontrollieren. 5.1.5.3

Weitere heilige Menschen?

Zur Vervollständigung sei hier auf weitere Gruppen heiliger Menschen hingewiesen und auf ihr Auftreten in der Umbanda hin befragt. Die Rolle eines/r LehrerIn, 585 dem/r „in lichter Klarheit und Ruhe [...] hohe Erkenntnisse in seiner Seele“ aufblitzen, ist in der Umbanda bislang unbesetzt. Einzelne werden zwar als große UmbandistInnen verehrt, so z.B. Zélio de Moraes unabhängig von seiner eventuellen Funktion als Gründer, aber bislang niemand als eine oder die Lehrergestalt, die im Sinne Heilers in einer Reihe mit Buddha, Sokrates oder Jesus Sirach stehen könnte. Die Tendenz jedoch, die Existenz eines/r solchen umbandistischen LehrerIn zu aufzubauen und zu propagieren, lässt sich zumindest ansatzweise erkennen. Exemplarisch sei dazu auf Woodrow Wilson da Matta e Silva hingewiesen, dem zu huldigen sein Schüler Francisco Rivas Neto nicht müde wird, und der neun Bücher über die Umbanda verfasst hat. Im Vorwort der zweiten Auflage von Matta e Silvas „Umbanda do Brasil“ preist ihn Rivas Neto als „den wahren Botschafter vom Jenseits“586. Und auch in seinen eigenen Veröffentlichungen weist er darauf hin, von diesem Meister autorisiert (und letztlich als sein Nachfolger eingesetzt) zu sein. Die zunehmende Literarisierung der umbandistischen Lehren und Rituale dient den UmbandistInnen demnach als Forum nicht nur der angestrebten Vereinheitlichung (s. 4.1.5), sondern auch der eigenen Präsenz. Wer viel veröffentlicht, wird viel gelesen und von anderen AutorInnen zitiert. Auf Matta e Silva trifft diese pauschale Aussage bereits zu, da auch WissenschaftlerInnen wie Diana Brown und Renato Ortiz auf ihn – wenn auch neben anderen – verweisen und somit weiter publik machen.587 Die künftige Entwicklung der Neureligion wird zeigen, ob er oder vielleicht ein/e andere/r die Auszeichnung eine/r LehrerIn der Umbanda erhält. Die Vorstellung von einem/r heiligen KönigIn oder einem sakralen Königtum liegt der Umbanda fern. Weder ist der/die weltliche HerrscherIn mit umbandistischen Würden oder Fähigkeiten ausgestattet, noch gilt er/sie als die permanente 585 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 403. 586 Silva, W.W.d.M.e: Umbanda do Brasil, S. 12 [Hervorhebung weggelassen]. 587 Mich persönlich will ich da nicht herausnehmen, da auch diese Erwähnung zudem in diesem Zusammenhang der Prominenz Matta e Silvas zuträglich ist.

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Inkorporation oder StatthalterIn eines Geistes. Für die personelle Verquickung von KönigIn bzw. PräsidentIn und PriesterIn bzw. Medium, die z.B. bei den Inka bestand, ist die Umbanda vermutlich eine zu junge Religion. Dabei verwundert, dass einige Terreiros ihre PriesterInnen mit dem Titel ’Kazike‘ anreden und damit als Häuptling, wie in indianischen Stämmen üblich. Der Ursprung dieser Bezeichnung mag jedoch eher den indianischen Einflüssen als den politischen Anklängen geschuldet sein. Die Verbindung von Religion und Politik, von Geistlichkeit und Weltlichkeit wäre auch angesichts der ersten Jahrzehnte in der Geschichte der Umbanda unwahrscheinlich, besonders deshalb, weil die polizeilichen Repressionen noch später im Bewusstsein der UmbanditInnen nachwirken. Aufgrund dieser Erfahrungen üben sie in der Hochschätzung von PolitikerInnen eher Zurückhaltung – es sei denn, sie kommen aus den eigenen Reihen. Jene von Verfolgung und Unterdrückung geprägte Anfangszeit kann zudem als Nährboden für umbandistische MärtyrerInnen gelten. Wegen des Verdachts illegaler medizinischer, heilender und magischer Praktiken, die das Gesetz von 1890 verbot, kam es zu zahlreichen Verhaftungen und Prozessen. Versteht man unter ’MärtyrerIn‘ eine/n ZeugIn und BekennerIn, so trifft diese Titulierung auch auf die angeklagten UmbandistInnen zu. Da sie aber ’nur‘ zu einigen Monaten Gefängnisstrafe588 verurteilt wurden, sind sie nicht zu den Blutzeugen zu zählen. Häufig jedoch bekannten sie sich nicht als AnhängerInnen der Umbanda, sondern bezeichneten sich als KatholikInnen. Mit dieser öffentlichen Selbsteinschätzung sprachen viele – wegen der möglichen doppelten Religionszugehörigkeit – nach eigenem Verständnis auch die Wahrheit, doch verschwiegen sie ihre gleichzeitige Mitgliedschaft in der Umbanda. Die Angst existiert bis heute, wenn auch weniger raumgreifend. Aber sie bewirkt damals wie heute, dass die Dunkelziffer der UmbandistInnen die offiziellen Zahlen weit übersteigt. Für das Fehlen einer Märtyrerverehrung ist wohl die relativ milde Bestrafung der religiösen Betätigung als Vergehen verantwortlich, die keineswegs wie im Christentum zum gewaltsamen Tod führte. Neben den bisher skizzierten Erscheinungsformen des heiligen Menschen führe ich in Übereinstimmung mit Heiler den/die Heilige/n an sich als eigene Kategorie an. Die jedem Menschen innewohnende Eigenschaft der Sakralität übersteigt er/sie ebenso wie der Priester, die Frau oder der/die Hilfsbedürftige. Während der/die Heilige ursprünglich als der/die von einer zauberhaften Kraft Erfüllte galt, wandelte er/sie sich in der Vorstellung in einen Menschen, der „dem Ewigen dient und das göttliche Gesetz erfüllt“589. In welcher Weise sich dies genau gestaltet, obliegt der Entscheidung jeder einzelnen Religion. Obwohl auch in der Umbanda Heilige verehrt werden, sind diese keine UmbandistInnen. Anstatt selbst die 588 Das Dekret 847 des Strafgesetzbuchs von 1890 sieht in Artikel 157 für Spiritismus, Magie, die Empfehlung von Heilung, das Beherrschen der öffentlichen Leichtgläubigkeit u.a. eine Strafe von ein bis sechs Monate Einzelhaft vor (vgl. Maggie, Y.: O medo do feitiço, S. 74). 589 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 406.

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Merkmale von Heiligen zu formulieren und eigene hervorzubringen, greift die Neureligion auf das Repertoire des Katholizismus zurück und fügt die dortigen, kanonisierten Heiligen in das eigene, umbandistische Repertoire ein. Insofern ist der Heilige Georg zugleich ein Heiliger in der Umbanda – auch wenn sie in ihm eigentlich den Orixá Ogum sieht. Eine Erweiterung der Liste der katholischen Heiligen setzt sich sodann auch in der Umbanda fort. Eine eigene Liste wurde parallel zu der katholischen jedoch bisher nicht aufgestellt – vielleicht, weil man darin keinen Nutzen für die KlientInnen sieht; vielleicht, weil dazu eine größere formale Einheit erforderlich wäre; am wahrscheinlichsten deshalb, weil die Erstellung und Eingrenzung einiger Merkmale zur Heiligsprechung zu kompliziert wären und eine dafür erforderliche zentrale Autorität in der Umbanda nicht existiert. Anders als die Heiligen fanden die christlichen MystikerInnen keinen Eingang in die Umbanda – es sei denn sie wurden heilig gesprochen, dann aber auch nur aufgrund dessen. Obgleich der Umbanda das Streben der MystikerInnen nach „Einigung mit dem Unendlichen“590, nach „Einheit mit oder in einer als heilig 591 qualifizierten Wirklichkeit“ nicht fremd ist, hat sie selbst keinen solchen Stand hervorgebracht. In gleicher Weise kommt die asketische Lebensform als Mönch, Nonne und/oder EremitIn, die aufgrund ihrer Askese als heilig zu betrachten sind, nur vereinzelt vor. Die monastischen Ideale der Besitzlosigkeit, des Gehorsams und der sexuellen Enthaltsamkeit würden den Grundlinien der Umbanda nicht widersprechen, Nonnen und Mönche müssten aber weiterhin Kultsitzungen und einzelne Konsultationen abhalten. Sonst wäre die eigentliche Aufgabe der Umbanda, nämlich die Arbeit für die Geister und die Hilfestellung für Ratsuchende, nicht berücksichtigt. Dazu wäre dann auch die Medienschaft der Ordensleute erforderlich. Allerdings scheint die Zeit für sie noch nicht gekommen zu sein. Wenn aber eines Tages umbandistische Klöster neben Terreiros existieren und Zulauf finden, dann wäre es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass sich in diesem Umfeld auch eine umbandistische Mystik entwickelt. Aber auch unter diesem Aspekt ist die Umbanda einfach noch zu jung. 5.1.6 Die heilige Gemeinschaft Entgegen dem Vorgehen im obigen Abschnitt, der die verschiedenen Erscheinungsformen des heiligen Menschen auf ihr Vorkommen und ihre Realisierung in der Umbanda in den Blick nimmt, halte ich für diesen Abschnitt eine weniger globale Betrachtung für sinnvoller. Denn die Art der Gestaltung einer heiligen Gemeinschaft, die zweifelsohne das Fortbestehen der religiösen Tradition gewährleistet, obliegt jeder einzelnen Religion, wobei jede ihre je eigenen Akzente setzt. Insofern werden Ehe, Staat, Kaste, Sippe, Ordensgemeinschaften etc. jeweils un590 Ebd., S. 404. 591 Höhn, I.: Art. „Mystik, A. Religionsgeschichtlich“, in: Wörterbuch des Christentums, S. 849–850, hier S. 849

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terschiedlich gewertet und entweder für sakral oder unbedeutend erachtet. Anstelle also die umbandistische Praxis auf jede einzelne mögliche Form der heiligen Gemeinschaft in der Umbanda hin zu befragen, richte ich das wissenschaftliche Interesse einzig auf die Gemeinde, da sie die grundlegende Gemeinschaftsform in der Umbanda darstellt. Die minimale Besetzung einer solchen Gemeinde wird im Zusammensein von dem/der KultleiterIn und einigen Medien realisiert. Zu ihnen gesellen sich KultmusikerInnen, regelmäßige passive TeilnehmerInnen, Bedarfsklientel und ggf. GehilfInnen für bürokratische Angelegenheiten. Obwohl zwischen einzelnen Gliedern häufig verwandtschaftliche Beziehungen bestehen, fungieren diese keinesfalls als konstituierendes Moment der Gemeinschaft. Von einer Familien- oder Stammesgemeinschaft kann demnach nicht gesprochen werden. Dennoch präsentiert sich die umbandistische Gemeinde wie eine Familie. Ihr steht mit der Mãe-desanto eine Mutter oder mit einem Pai-de-santo ein Vater vor – allerdings kein Elternpaar, da das Amt nur singulär zu besetzen ist –, während die Medien die Kinder sind, die Filhos- und Filhas-de-santo. Dieses Verhältnis spiegelt sich in der gegenseitigen Anrede wider, wenn die Kultleiterin ein weibliches Medium als ’Filha‘ bezeichnet und selbst als ’Mãe‘ angesprochen wird. Häufig bildet der/die KultleiterIn auch seine/ihre leiblichen Kinder zu Medien aus, so dass eine verwandtschaftliche Beziehung auch objektiv existiert. Indem sich die Zugehörigkeit zur ’Família-de-santo‘ nur auf den jeweiligen Terreiro bezieht, bleibt die familiäre Titulierung auch nur seinen Mitgliedern vorbehalten. Insofern spricht das Medium allein von seinem Kultleiter als ’Pai‘, von dem einer anderen Kultstätte als ’Chefe-do-terreiro‘. Anders als beispielsweise im Katholizismus ist der familiäre Titel nicht primär mit dem Amt, sondern mit der Person des/r KultleiterIn verbunden. Ohne sie existiert weder der Terreiro, noch die darin zusammengefasste kultische Familie. Da jeder Terreiro eigenständig und unabhängig besteht, gibt es auch keine Vorstellung von einer großen umbandistischen Familie, der alle UmbandistInnen angehören, womöglich unter einem/r gemeinsamen Vater/Mutter. Anhand der Bezeichnung der eigenen Gemeinde als ’Família-de-santo‘ wird zum einen offenbar, in welchem Verhältnis deren Glieder zueinander stehen. Zum anderen zeigt es, dass sie sich als eine heilige Gemeinschaft erachten. Der attributiv verwendete Begriff ’heilig‘ verweist jedoch auf die Vorstellung eines personalen statt abstrakten Heiligen. Denn während die deutsche Sprache, um diese Differenz auszudrücken, lediglich den Artikel austauscht, existieren im Portugiesischen verschiedene Substantive. Demnach bedeutet ’o santo‘ ’der Heilige‘ und ’o sagrado‘ ’das Heilige‘. Der Grund für die Verwendung des personalen Begriffs liegt m.E. weniger in einer systematisch durchdachten Intention und bewussten Entscheidung gegen das abstrakt aufgefasste Numinose. Vielmehr übernahm die Umbanda die Terminologie des Candomblé, der seinerseits auf der Kultsprache der Yoruba aufbaut. Den hier üblichen Bezeichnungen ’Ialorixá‘ für die Kultleiterin und ’Babalorixá‘ für den Kultleiter stellte der Candomblé eine Art Lehnüber-

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tragung zur Seite. Während der erste Bestandteil des Kompositums direkt als ’Mutter‘ und ’Vater‘ übersetzt wurde, gestaltete sich dies beim Wort ’Orixá‘ schwieriger. ’Orixá‘ nämlich mit ’Gott, Gottheit‘ zu übersetzen, wäre dem internen Verständnis zwar angemessen, in Bezug auf das katholisch dominierte Umfeld des kolonialen Brasiliens aber problematisch. Eine Kultleiterin mit ’Mutter der Gottheit‘ oder ’Gottesmutter‘ anzusprechen, wäre dort zumindest irritierend, wenn nicht gar für manche Ohren blasphemisch. Näher lag es da vermutlich, gemäß der Liierung der Orixás mit den katholischen Heiligen, neben ihren Namen auch ihre Qualität als Deckmantel zu nutzen. In der Weise, wie die Orixá Iansã zur Heiligen Barbara wurde, erhielt der Babalorixá die Titulierung ’Pai-de-santo‘. Dem umbandistischen Glauben kam diese Übertragung sodann entgegen, da auch die Liierung Eingang in die neue Religion fand. Eine dem Candomblé nähere Übersetzung mit ’Pai-de-deus‘ wäre für die UmbandistInnen nicht tragbar gewesen, da die Orixás nicht als Gottheiten, sondern als personifizierte Kräfte der Natur verehrt werden. Ihre Entsprechung mit einem/r katholischen Heiligen hingegen, die sich in der Anrede von KultleiterIn und Medien letztlich erhalten hat, ist historisch bedingt und nur äußerlich. Für die Manifestation des Heiligen, die sich durch die Possessão des Mediums ereignet, bietet die Família-de-santo den gewünschten Rahmen. Die Kultsitzung im Terreiro ist der Ort und der Zeitpunkt, an und zu dem das Sakrale in Gestalt der Geister regelmäßig in Erscheinung tritt. Hier sind zahlreiche Medien um den/die KultleiterIn versammelt und mehrere Geister inkorporieren gleichzeitig bzw. nacheinander. Die Aufgabe der Umbanda, den Espíritos Arbeit zu ermöglichen und den Ratsuchenden Hilfe zu leisten, realisiert sich vornehmlich in der öffentlichen Sessão. Entwicklungssitzungen, die sich an der Ausbildung der Medien orientiert, sowie Einzelkonsultationen, die nur zwei Beteiligte umfasst, bilden die Ausnahme. Inakzeptabel ist jedoch die selbst herbeigeführte Inkorporation für sich allein und fern der Kultstätte. Gemäß ihrem Anspruch, für eine Vielzahl an Geistern und KlientInnen offen zu sein, stellt die wöchentliche Sessão im Terreiro das Kernstück des umbandistischen Lebens dar. Auf diese Weise trägt die Umbanda dem Grundsatz Rechnung, dass man „die Übertragung des ‚Axé‘ [...] nur in der Gemeinschaft erfahren kann“592. Neben dem spirituellen Erlebnis, dem direkten Kontakt mit dem Heiligen und der Konsultation eines Geistes dient die Gemeinschaft im Terreiro seinen Mitgliedern – ähnlich dem Ideal einer (Groß-)Familie – als soziales Netz. „Zwischen den Geschwistern-der-Religion errichten sich Bänder der Solidarität, die sie verpflich593 ten, einander Beistand zu leisten.“ Dies beschränkt sich nicht auf rituelle Angelegenheiten, sondern erstreckt sich auf alle Lebenslagen wie die Hilfestellung bei Krankheit, bei der Arbeitssuche oder bei Geldsorgen. In besonderer Weise bietet

592 Wulfhorst, I.: Schmelztiegel der Religionen, S. 61. 593 Brites, J.: Tudo em família, S. 81.

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der/die Pai-/Mãe-de-santo Unterstützung an, da er/sie sich als LeiterIn der Gemeinde aktiv für das Wohlergehen der Glieder einsetzt. Indem bei ihm/r von verschiedenen Seiten Informationen zusammenfließen, kann er/sie sozusagen als Schaltstelle fungieren und beispielsweise denjenigen, der Arbeit sucht, mit derjenigen, die von einer freien Stelle weiß, zusammenbringen. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht bietet die heilige umbandistische Gemeinschaft das Gegenteil dessen, was man in der profanen städtischen Gesellschaft vorfindet: soziales Nebeneinander vs. Übereinander, Ausgleich vs. Auseinandersetzung, Einigkeit vs. Uneinigkeit, Stütze vs. Haltlosigkeit.594 Allerdings weicht die Realität vom idealen umbandistischen Familienbild zuweilen ab, denn wie zwischen leiblichen Geschwistern treten auch zwischen den Filhos/as-de-santo Konflikte auf. Deren Ursache liegt zumeist in der Konkurrenz um die Gunst des/r KultleiterIn, was so weit gehen kann, dass das eine Medium ein anderes als Gefahr betrachtet. Das landläufige Misstrauen gegenüber Medien, Schadenszauber anzuwenden, kursiert demnach auch unter den aktiven Mitgliedern der Gemeinschaft. Gerade in solchen Situationen muss der/die Pai-/Mãe-desanto seine/ihre Macht als Oberhaupt des Terreiro demonstrieren und Streitigkeiten unterbinden – notfalls auch durch Strafe. Gelingt dies nicht, gerät er/sie in den Verdacht, die Situation nicht zu beherrschen, was wiederum die Erschütterung der hierarchischen Ordnung innerhalb des Terreiro auslöst. Ein/e schwache/r KultleiterIn, der/die Konfliktherde nicht eindämmen und Mitglieder nicht schützen kann, wird selbst angegriffen. Die logische Folge ist, dass sich Autoritätsbeziehungen auflösen und das Medium den Terreiro verlässt. Die Unterordnung der Filhos/as unter den/die Pai-/Mãe-de-santo sichert somit nicht nur den Erhalt der Hierarchie, sondern auch des Terreiro.595

5.2 Heilige Menschen in der traditionellen christlichen Kirche Die verschiedenen Erscheinungsformen des sich in der profanen Umgebung manifestierenden Heiligen finden in der Umbanda ihren Höhepunkt im heiligen Menschen. Denn das umbandistische Medium verweist nicht nur auf das in ihm gegenwärtige Sakrale, sondern wandelt sich unter Zurückstellung seiner Person zum 594 Vgl. die Gegenüberstellung in Horsch, H.: Die Ausbreitung afrobrasilianischer Kulte, S. 401. Horschs Feststellung, dass „diese verneinungswürdige [profane] Welt in der religiösen Gemeinde der Umbanda kopiert“ (ebd., S. 400) würde, halte ich auf Grundlage seiner Gegenüberstellung nur für teilweise zutreffend. In beiden Gesellschaften listet er z.B. die Existenz von Hierarchie, Gesetzen, Führern, Aufstieg und Hoffnungen auf. Wie fügen sich in diese kopierte Parallelität aber die oben angesprochenen Gegensatzpaare? 595 Wie solche Konflikte einen Terreiro schädigen und letztlich zu dessen Ende führen können, zeigt Yvonne M.A. Velho in ihrer Studie „Guerra de Orixá“. Von Juni bis September 1972 begleitete sie die ’Tenda Espírita Caboclo Serra Negra‘ und erlebte deren Gründung und Ende durch Spaltung mit.

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Numinosen selbst. Das Erleben durch eine vermittelnde Dimension wird somit zum direkten Kontakt, in dem das Heilige greifbar ist, körperlich berührt und auf Äußerungen sofort und deutlich wahrnehmbar reagiert. Aufgrund der Bedeutung des heiligen Menschen rückt ihn die nachfolgende Analyse in den Mittelpunkt. Andere Manifestationsformen des Heiligen müssen hier aus Platzgründen außer Acht gelassen werden. Eine weitere Fokussierung nehme ich hinsichtlich der religiösen Vorstellungen vor, um sie den umbandistischen als Kontrast gegenüberzustellen. Hierzu ziehe ich mit der römisch-katholischen sowie der evangelisch-lutherischen zwei traditionelle christliche Kirchen als Vergleichsbasis heran. Anstatt sie jedoch dahingehend zu befragen, ob und in welcher Form heilige Menschen gekannt oder gar verehrt werden, und dadurch die Arbeit von Friedrich Heiler zu wiederholen, richte ich den Blick auf je ein Beispiel: die heiliggesprochenen Menschen und die Gemeinschaft der Heiligen. 5.2.1 Die Gemeinschaft der Heiligen in der evangelisch-lutherischen Kirche Im Großen Katechismus (GK), der bis heute als eine der wichtigsten lutherischen Bekenntnisschriften gilt, wendet sich Luther neben den Zehn Geboten, dem Vaterunser und den Sakramenten auch dem Glauben zu. Als Grundlage seiner Ausführungen im zweiten Hauptstück verwendet er das Apostolische Glaubensbekenntnis, dessen drei Artikel er „in allerkürzester Form“ zusammenfasst: „Ich glaube an Gott Vater, der mich geschaffen hat; ich glaube an Gott den Sohn, der mich erlöst hat; ich glaube an den Heiligen Geist, der mich heilig macht“ (GK, S. 680)596. Letzteres kann nicht nur als die Quintessenz des dritten Artikels, sondern auch als Antwort auf die Frage dieser Arbeit erachtet werden. Zu einem heiligen Menschen wird demnach derjenige Mensch, den der Geist Gottes dazu macht. Diese allgemeine Formulierung drückt vor allem zweierlei aus: die Handlungsverteilung zwischen Agens und Patiens sowie die Ausrichtung auf alle Menschen. Die Rolle des Menschen beim Prozess der Heiligwerdung ist eine passive, so dass es nicht in seiner Macht liegt, sich selbst heilig zu machen. Seine eigenen Anstrengungen führen weder zur Erlangung des Status eines Heiligen noch bewirken sie eine gute Ausgangsposition, um den Geist gleichsam positiv zu beeinflussen. Denn nicht der Mensch ist der Akteur, sondern der Heilige Geist. Von ihm kann und muss sich der Mensch leiten lassen, was ihm zwar seine Ohnmacht verdeutlicht, ihn jedoch auch der Sorge um die unzureichend erscheinenden Werke auf dem Weg zur Heiligkeit entledigt. Den Vorgang des aktiven Heiligens beschreibt Luther als identisch mit dem „Hinbringen zum Herrn Christus“ (GK, S. 596 Die Zitate aus dem Großen Katechismus habe ich dem Abdruck in Pöhlmann, H.G. (Bearb.): Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche im Auftrag der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) hg. v. Lutherischen Kirchenamt, Ausgabe für die Gemeinde, 4. überarb. Aufl., Gütersloh 2000, S. 679– 696, entnommen. Danach richten sich auch die in Klammen angefügten Seitenzahlen.

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688). Dies setzt jedoch das Wissen um Jesus und sein universal geltendes Werk voraus, was nur durch das Hören des Evangeliums zu erlangen ist. Dessen Verkündigung ereignet sich in der christlichen Gemeinschaft, die daher den Rahmen der Heiligung des/r Einzelnen bietet. Über der bloßen Kenntnis und letztlich als deren Ziel steht der Glaube an Christus. Die von ihm erwirkte Erlösung wird dem Menschen im Glauben durch den Heiligen Geist zugeeignet. Seine grundlegende Aufgabe besteht demzufolge darin, den Menschen zur Predigt und zur Einsicht zu führen, sein Herz zu entzünden und in ihm Glauben zu wecken. Ist dies geschehen, ist der passive Mensch zu Christus hingebracht und heilig gemacht worden. Als Christ ist er nun Heiliger, und sein Herz soll Gottes Wort „fassen, annehmen, dran hängen und dabei bleiben“ (GK, S. 688). Mit dieser Reaktion antwortet der Mensch zwar aktiv auf das, was ihm widerfährt, doch ist dies nur ein zweiter Schritt, der seiner Heiligwerdung folgt, zu der er nichts beigetragen hat und nichts beitragen konnte. Der Handelnde in diesem Prozess ist immer nur der Heilige Geist. Die Heiligung durch den Geist richtet sich universal an alle Menschen als Adressaten. Eine Differenzierung der Menschen beispielsweise nach Status, Geschlecht, Alter, Herkunft, Verdienst oder Lebensführung, die eine unterschiedliche Behandlung und Auszeichnung nach sich ziehen könnten, erfolgt nicht. Indem die Reformatoren den Begriff ’communio sanctorum‘ mit der Versammlung aller Gläubigen (CA 7) identifizieren, nehmen sie eine Ausweitung seiner ursprünglichen Intention vor. Diese verstand weniger einen gemeinschaftlichen Zusammenschluss aller heiligen Menschen, also aller ChristInnen, sondern eine Gemeinschaft mit den Heiligen und eine Teilhabe an den Heilsmitteln. Diejenigen, die in der Entstehungszeit des Apostolischen Glaubensbekenntnisses als Heilige galten, waren die MärtyrerInnen, „die schon jetzt im Himmel des göttlichen Heils teilhaftig sind und daher die künftige Heilsteilhabe aller Christen mitverbürgen“597. Die Sakramente wiederum tun das Ihre, um die ChristInnen am Heil teilhaftig werden zu lassen. Gemäß dieser Doppelbedeutung sind nach altkirchlichem Verständnis noch längst nicht alle ChristInnen als Heilige zu bezeichnen. Die reformatorischen Theologen hingegen nehmen eine Entschränkung vor, indem sie die Formulierung im Credo unter dem paulinischen Blickwinkel verstehen (vgl. 1.Kor 1,2). Demnach sieht Luther alle lebenden und verstorbenen ChristInnen als Heilige an. Allerdings lässt diese universale Perspektive keine Graduierung der Heiligkeit zu, wonach die einen heiliger wären als die anderen – als Ergebnis des Handelns des Geistes, der die einen näher zu Christus hingebracht hätte als die anderen. Auf diese Weise besteht zwischen christlichen Ordinierten und LaiInnen keine graduelle Höherstellung jener über diese. Ihre Gleichordnung anstelle einer Hierarchie spiegelt sich auch in der lutherischen Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen:

597 Pannenberg, W.: Das Glaubensbekenntnis: ausgelegt und verantwortet vor den Fragen der Gegenwart, 6., überarb. Aufl., Gütersloh 1995, S. 157.

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„Dan alle Christen sein warhafftig geystlichs stands, unnd ist unter yhn kein un598 terscheyd, denn des ampts halben allein“ . Insofern sind die einzig möglichen Varianten heilig oder nicht heilig bzw. christlich oder nicht christlich. Die Mittel, die der Geist Gottes verwendet, um den Menschen heilig zu machen, entsprechen den übrigen vier Aussagen des Apostolicums. Grundlegend dazu ist die heilige christliche Kirche, da hier der Mensch das gepredigte Evangelium Jesu hört, und hier der Geist Wissen vermittelt und Glauben weckt. Dank seiner Wirkung in vielen einzelnen Menschen verbindet und sammelt er sie zu einer Gemeinschaft vieler Heiligen, die einander gleichgeordnet sind. Darüber hinaus bildet die christliche Versammlung den Ort der Sündenvergebung, indem sie die Heilsmittel spendet. Durch Wort und Sakrament vergibt Gott den Menschen und tröstet sie, die sich auch gegenseitig ihre Sünden vergeben und einander trösten sollen. Obwohl den ChristInnen bereits Heiligkeit eignet, sind sie doch nicht frei von Sünde. Und wiederum bewirkt der Heilige Geist, dass „obgleich wir Sünde haben, sie uns nicht schaden kann“ (GK, S. 692). Es ist seine Aufgabe und sein Verdienst, die menschliche Heiligkeit, die durch die Sünde getrübt ist, zu bewahren und sogar zu mehren. Insofern kann der Status als heiliger Mensch zu irdischen Lebzeiten erst als ein Anfangsstadium gelten, das am Ende der Zeiten mit der Auferstehung des geistlichen Leibes zur Vollendung gebracht wird. Solange also der Jüngste Tag und das Ewige Leben noch nicht eingetreten sind, bleibt das Werk des Heiligen Geistes nur angebrochen und noch andauernd. Bis zu jenen Zeiten führt er weiterhin die Menschen zu Christus, redet in und durch die christliche Kirche, macht die Sünden unschädlich und die ChristInnen nur teilweise heilig. „Wo man nicht von Christus predigt, da ist kein Heiliger Geist“ (GK, S. 689) und folglich auch kein Weg zu Christus, keine christliche Gemeinschaft, keine Sündenvergebung und keine (angebrochene) Heiligkeit. Wird aber das Evangelium gepredigt, entzündet der Geist das Herz, und bleibt der Mensch dabei, so wird seine partielle Heiligkeit einst zu einer vollkommenen und ewigen. Auch wenn viele Menschen den Weg zu Christus und zur Heiligkeit noch nicht gegangen sind, steht er prinzipiell jedem offen. Und obwohl der Geist eine kirchliche Gemeinschaft vorantreibt, wirkt er doch in jedem einzelnen Menschen, so dass das Glaubensbekenntnis im Singular formuliert ist. Den persönlichen Bezug des Apostolicums verstärkt Luther in seiner Kurzfassung, indem er dem Personal- ein Reflexivpronomen anfügt. Das Bekenntnis, dass der Heilige Geist mich heilig macht, verdeutlicht auf diese Weise seine individuelle Dimension. Daher darf neben der heiligen Gemeinschaft, die die christliche Kirche darstellt, nicht übersehen werden, dass sie zugleich eine Versammlung einzelner, in gleicher Weise heiliger Menschen ist. 598 Luther, M.: An den Christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen standes besserung, in: ders.: D. Martin Luthers Werke, kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, unveränderter Abdruck der Ausgabe v. 1888, Weimar 1966, S. 404–469, hier S. 407.

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Die Manifestation des Heiligen in der Umbanda und in christlichen Kirchen

5.2.2 Die Heiligsprechung in der römisch-katholischen Kirche Das im Großen Katechismus dargelegte lutherische Verständnis, dass alle Menschen durch den Geist Gottes heilig gemacht werden können, indem er sie zu Christus hinbringt, findet eine gewisse Parallele in der dogmatischen Konstitution „Lumen gentium“ der römisch-katholischen Kirche. Die Aufgabe des von Jesus gesandten Geistes besteht darin, die JüngerInnen zur Liebe zu bewegen. Sie sind „in Jesus dem Herrn gerechtfertigt, in der Taufe des Glaubens wahrhaft Kinder 599 Gottes und der göttlichen Natur teilhaftig und so wirklich heilig geworden“ (Lumen gentium 40). Demnach stimmen beide Konfessionen darin überein, dass alle ChristInnen heilig sind. Allerdings sieht die katholische Kirche die Heiligkeit der ChristInnen nur als eine Grundlage, von der sich einige abheben und die Allgemeinheit übertreffen. Insofern existieren hier verschiedene Grade der Heiligkeit, deren höchster durch die Kanonisation erreicht wird. Nimmt ein/e ChristIn den Rang eines/r kanonisierten Heiligen ein, so ist dies zum einen unwiderrufbar und zieht zum anderen eine weltweite Verehrung in der katholischen Kirche nach sich. Eine Stufe niedriger, aber dennoch oberhalb der ’gewöhnlichen‘ heiligen Menschen, sind die Seliggesprochenen verortet. Durch die Beatifikation steht ihnen immerhin eine eingeschränkte Verehrung zu, die in einer bestimmten Region oder Gruppe praktiziert wird. Jedoch ist der Status einer/s Seligen nicht unantastbar, sondern kann entweder weiter begrenzt und sogar aufgehoben oder ausgeweitet und sogar emporgehoben werden. Letzteres findet seinen Niederschlag in der Heiligsprechung des seligen Menschen, die das Ziel des Weges ist, der über die Seligsprechung als „Durchgangsstadium“600 führt. Der Beginn der Verehrung von Heiligen reicht bis in die Frühzeit der christlichen Kirche zurück, seitdem „neben den Aposteln [auch] diejenigen als herausragende Nachahmer des Herrn [verehrt wurden], die gleich ihm ihr vorbildliches 601 Leben durch die Hinnahme des gewaltsamen Todes besiegelt hatten“ : die Mär599 Die Zitate auf offiziellen Texten der römisch-katholischen Texte stammen aus: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/index_ge.htm; gleiches gilt auch für die an anderen Stellen angeführten Zitate (s. 6.1.2, 6.2.2). 600 Marckhoff, U.: Das Selig- und Heiligsprechungsverfahren nach katholischem Kirchenrecht (Münsteraner Studien zur Rechtsvergleichung; Bd. 89), Münster 2002, S. 17. Der Ruf ’santo subito‘, der beinahe unmittelbar nach dem Tod Johannes Pauls II. am 2.4.2005 erscholl, widerspricht in dreierlei Hinsicht dem katholischen Regelwerk. Zum einen ist er vor der Kanonisation erst selig zu sprechen (’beato subito‘ zu rufen, wäre da immerhin etwas realistischer gewesen). Zum anderen erfolgt der Zuspruch nicht sofort, sondern erst nach Abschluss des langwierigen Prozesses. Zum dritten wird dieser Prozess ebenfalls nicht sofort, sondern frühestens nach fünf Jahren eingeleitet. Bei Johannes Paul II. aber setzte die Kirche den dritten Punkt außer Kraft, so dass sie das Seligsprechungsverfahren bereits am 28.6.2005 eröffnete. An der Durchführung eines Prozesses und an der Vorordnung der Beatifikation vor der Kanonisation hielt die Kirche hingegen fest. 601 Hausberger, K.: Art. „Heilige/Heiligenverehrung III. Anfänge der christlichen Heiligenverehrung, IV. Abendländisches Mittelalter, V. Die römisch-katholische Kirche“, in: TRE 14, 1985, S. 646–660, hier S. 648.

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tyrerInnen. Im Verlauf der Zeit und im Wandel der Kirchengeschichte wurde der Kreis um BekennerInnen, AsketInnen, Jungfrauen, Witwen und KirchenlehrerInnen erweitert. Ihre Verehrung verbindet sich mit dem Gedanken der Fürbittkraft der Heiligen, die dem anrufenden Menschen zugute kommen soll. Daraus erwuchsen der Reliquien- und Bilderkult, die in besonderem Maße in der mittelalterlichen Volksfrömmigkeit Anklang fanden und sich in einem regen Wallfahrts- sowie Ablasswesen niederschlugen. Man erachtet die Heiligen zudem als PatronInnen von Berufen, Ortschaften oder Volksgruppen, denen sie generell Schutz gewähren sollen. Andere sind auf die Hilfe in bestimmten Situationen spezialisiert wie bei Krankheiten, dem Verlust von Gegenständen, in Notlagen oder Versuchungen. Angesichts des helfenden und schützenden Charakters, um derentwillen die Gläubigen die Heiligen anrufen, läuft die Nachahmung ihrer vorbildlichen Lebensweise Gefahr, weit in den Hintergrund zu treten. Hierauf richtet sich die reformatorische Kritik, die sich gegen die Verehrung von Heiligen als MittlerInnen zwischen Menschen und Gott sowie gegen die Ablenkung von Christus wendet. Dass sie eine Vorbildfunktion zur Stärkung des Glaubens innehaben, steht hingegen nicht in Frage (vgl. CA 21). Sowohl die von der katholischen Kirche erhobenen Kriterien, wer heilig ist, als auch die Vorgehensweise, damit man heilig wird, erfuhren im Laufe der Jahrhunderte mehrfache Veränderungen. Mit dem Inkrafttreten des neuen Codex Iuris Canonici von 1983 wird der Codex von 1917 abgelöst und das Verfahren der Heiligsprechung herausgetrennt. Dieses regelt die Apostolische Konstitution „Divinus Perfectionis Magister“ (DPM) als Rahmenvorgabe. Ergänzende und spezifizierende Regelungen sind in den „Richtlinien für die Bischöfe bei den Erhebungen in Kanonisationsverfahren“ sowie in der „Geschäftsordnung der Kongregation“, die für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse zuständig ist, festgehalten. Diejenigen, denen eine besondere Heiligkeit eignet, wählt Gott aus der Menge der gewöhnlichen ChristInnen aus, damit sie „sanguinis effusione aut heroico virtutum exercitio“ (DPM 0.)602 das Himmelreich bezeugen. Wer also ein tugendhaftes Leben geführt hat (BekennerIn) oder durch Blutvergießen zu Tode kam (MärtyrerIn), erfüllt grundlegende Kriterien der Kanonisation. Diesen tritt des Weiteren eine Wundertat hinzu, die sich nach der Beatifikation ereignet haben muss. Wie jedoch das Christsein nicht einer bestimmten Gruppe von Menschen vorbehalten ist, so wird auch die Heiligsprechung nicht in dieser Weise eingeschränkt. Zwar stellen die katholischen Heiligen eine Auswahl dar, doch zeichnet sie sich nicht durch Homogenität z.B. bezüglich Geschlechts, Herkunft, sozialen Stands oder Intellektualität aus. Um den Heiligsprechungsprozess aufzunehmen, gilt der Tod des/r DienerIn Gottes, der nicht weniger als fünf Jahre zurückliegen darf, als eine Voraussetzung. Dass BekennerInnen und MärtyrerInnen, wobei

602 Die Konstitution wird durch römische Ziffern in einzelne Abschnitte untergliedert, wobei I. nicht zu Beginn des Textes einsetzt. Um den Abschnitt vor I. zu spezifizieren, verwende ich 0.

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Letztere per se das Kriterium erfüllen, erst verstorben sein müssen, verdeutlicht ihre Passivität während des Verfahrens. Weder können sie es initiieren, noch beeinflussen oder ihre eigene Sache vorantreiben. Das ganze Geschehen liegt in den Händen anderer: eines Aktors, eines Postulators, des örtlichen Bischofs, begutachtender TheologInnen, ÄrztInnen, KirchenhistorikerInnen, ArchivarInnen, des Promotor iustititae, des Promotor fidei, der Mitglieder des Congressus peculiaris 603 und der Congregatio pro Causis Sanctorum sowie abschließend des Papstes. Die Chance, auf die eigene Beatifikation oder Kanonisation gewissermaßen aktiv hinzuarbeiten, besteht nur zu Lebzeiten – abgesehen vom erforderlichen, postum gewirkten Wunder nach der Seligsprechung. Aber auch derartige ’Beiträge‘, zumal sie auf anderer Motivation gründen sollen, garantieren nicht die Aufnahme oder den positiven Abschluss des Prozesses. Die Akteure in dem Verfahren sind in jedem Fall andere als diejenige Person, der der ’Ertrag‘ am Ende zukommen soll. Indem das Ziel des Prozesses darin besteht, den/die DienerIn Gottes selig bzw. heilig zu sprechen, dienen zahlreiche zu durchlaufende Stationen der Beweissammlung und der Prüfung dieser Unterlagen, um letztlich ein fundiertes Urteil fällen zu können. Die drei dazu untersuchten Kriterien werden in den aus der Mitte des 18. Jh. stammenden Ausführungen Benedikts XIV. in „De servorum Dei beatificatione et beatorum canonisatione“ (DSD) spezifiziert. Zu den Tugenden eines/r BekennerIn zählen die drei göttlichen, also Glaube, Liebe und Hoffnung sowie die vier Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Daneben sollte er/sie auch sekundäre Tugenden üben wie die evangelischen Räte Armut, Gehorsam und Keuschheit oder andere von Ordensgemeinschaften geforderten, z.B. Demut. Um jedoch als BekennerIn anerkannt zu werden, soll man das Leben nicht einfach nur an den Tugenden orientieren, sondern darin die Mitmenschen übertreffen. Nicht die normale Übung der Tugenden, sondern die heroische, die Benedikt XIV. als ’supra communem modum‘ (DSD III.22.1) beschreibt, ist der Maßstab zur Selig- und Heiligkeit. Obwohl ein lebenslanges lückenlos tugendhaftes Verhalten zwar als wünschenswert gilt, ist dies nicht dringend erforderlich. Auch einer nicht ganz sündlosen Lebensführung zum Trotz kann eine Kanonisation erfolgen, sofern die letzten Jahre ohne Sünde und mit Buße verbracht wurden. Neben der Tugendhaftigkeit des/r DienerIn Gottes ist zu beurteilen, ob ihm/r auch berechtigterweise dieser Ruf (fama sanctitatis) zukommt. Denn letztlich geht die Initiative, einen Selig- bzw. Heiligsprechungsprozess überhaupt anzustreben, von einer Gemeinschaft aus, bei der die entsprechende Person im Ruf der Heiligkeit steht. Gleiches gilt für den Ruf des Martyriums (fama martyrii), der eine allgemein existierende, nicht künstlich hervorgebrachte oder geschönte Meinung wiederge603 Ausführliche Darstellungen zum Verfahren liefern neben Marckhoff u.a. Veraja, F.: Heiligsprechung. Kommentar zur Gesetzgebung und Anleitung für die Praxis, Innsbruck 1998; Sieger, M.: Die Heiligsprechung. Geschichte und heutige Rechtslage, Würzburg 1995; Schulz, W.: Das neue Selig- und Heiligsprechungsverfahren, Paderborn 1988.

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ben soll. Das Erleiden eines Martyriums – auch wenn ein tugendhaftes Leben durchaus wünschenswert wäre – ist der alternative Weg, um die kanonisierte Heiligkeit zu erlangen. Damit jedoch dieses Blutzeugnis anerkannt und der/die DienerIn Gottes als wahre/r MärtyrerIn erachtet wird, muss der Tod gewaltsam herbeigeführt, wegen des Glaubens erlitten sowie bewusst und freiwillig auf sich genommen sein. Das setzt auf Seiten des/r verfolgenden Tötenden voraus, dass die Motivation im Hass gegen den Glauben lag. Auf Seiten des/r verfolgten Getöteten bedeutet es, dass er/sie tapfer am Glauben festhielt. Alle anderen möglichen Ursachen, um derentwillen ChristInnen gewaltsam und freiwillig zu Tode kamen, können nicht das Martyrium begründen. Während ein/e DienerIn Gottes wegen der Tugendhaftigkeit oder des Martyriums heilig gesprochen wird, fungiert seine/ihre Wundertätigkeit nicht als ein dritter möglicher Grund. Vielmehr ergänzen und belegen das Wunder sowie der sich daran anknüpfende Ruf (fama signorum) die Besonderheit der Person. Dennoch wird es als Voraussetzung der Kanonisation verlangt und muss sich nach der Beatifikation ereignet haben. Insofern ist das Wunder die einzige Option eines/r KandidatIn, nach dem Tod etwas für seine/ihre Heiligsprechung aktiv zu tun. Als Auslöser der Wundertätigkeit kommt die Anrufung um Hilfe und Fürbitte in Frage. Die häufigste Wunderart sind Heilungen, zu deren Untersuchung immer auch MedizinerInnen zu Rate gezogen werden. Aber auch durch die Errettung aus Notlagen können DienerInnen Gottes auf unerklärbare Weise in die sonst vielfach erklärbare Welt eingreifen. Während die Heiligkeit eines ’gewöhnlichen‘ Menschen eine Angelegenheit zwischen ihm und Gott ist, sind in den diffizilen Weg zur Kanonisation ’besonderer‘ Menschen zahlreiche Dritte involviert. Die Macht der Heiligsprechung hält allein der Papst in den Händen, die Entscheidung des Abbruchs des Prozesses obliegt hingegen mehreren Würdenträgern. Welche ist aber diejenige Instanz, die heilig macht? Überspitzt formuliert, könnte man die Kongregation in dieser Rolle sehen, da ihr befürwortender Vorschlag nur noch der in der Regel erfolgenden päpstlichen Zustimmung bedarf. Berücksichtigt man allerdings die Notwendigkeit dieser Bejahung durch den Papst sowie dessen Freiheit der ablehnenden Haltung, so ist wohl er diejenige Instanz. Dieser Einschätzung wirkt auch nicht die Konstitution entgegen, die die Rolle des Papstes mit „ius decernendi“ (DPM III.15) beschreibt. Eine Bezugnahme auf Gott unterbleibt an dieser Stelle ebenso wie bei den ergänzenden Regelungen, so dass auch die kirchlichen Entscheidungsträger eigenverantwortlich und -mächtig zu handeln scheinen. Die Rückbesinnung auf die einleitenden Passagen der Konstitution jedoch mag diese Ansicht korrigieren, indem nämlich Gott als initialer Akteur genannt wird. Denn „Deus eligit“ (DPM 0.). Die Kanonisation derer, denen ein außergewöhnlicher Grad der Heiligkeit eignet, hat demzufolge lediglich den Charakter einer offiziellen Bestätigung der von Gott getroffenen Auswahl. Jede Ablehnung im Laufe des Heiligsprechungs-

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prozesses würde dahingegen offenbar machen, dass der/die KandidatIn von Anfang an nicht zum Kreis der (kanonisierten) heiligen Menschen gehörte.

5.3 Der Mensch als Verbündeter Gottes in der neopentekostalen IURD Um das Bild der Manifestation des Heiligen zu ergänzen, sei der Vergleich der Umbanda mit christlichen Kirchen an dieser Stelle um eine moderne Denomination erweitert. Ausgewählt wurde dazu eine aus der Gruppe der Pfingstkirchen, die die religiöse Landschaft Brasiliens erst seit 1910 bereichern. Trotz dieser noch keine hundert Jahre dauernden Geschichte spaltet sich die Pfingstbewegung bereits in ein traditionelles und ein neopentekostales Lager. Letzteres bildete sich in den 70er Jahren und wird von der vermutlich spektakulärsten, sich stark ausbreitenden Igreja Universal do Reino de Deus (’Universale Kirche des Reiches Gottes‘; IURD) angeführt. Unter anderem aufgrund dieser Eigenschaften richte ich auf sie im Folgenden den Blick, der sich sodann wiederum auf ihre Vorstellung des Menschen, in dem sich das Heilige manifestiert, konzentriert.604 1977 gründete Edir Bezerra Macedo, der zuvor der katholischen Kirche, der Umbanda und der pentekostalen Igreja de Nova Vida angehört hatte, in Rio de Janeiro die IURD. Sie war bereits seine zweite Gründung, nachdem er die zuvor gestiftete Gemeinschaft ’Cruzada do Caminho Eterno‘ (’Kreuzzug des ewigen Weges‘) wieder verlassen hatte. Obwohl Macedo anfangs nicht die Leitung der neuen Kirche innehatte, übernahm er sie 1980 als oberster Bischof und Generalsekretär des Presbyteriums. Dieses Amt gab er 1990 im Zuge wachsender Kritik zwar ab, blieb aber weiterhin und trotz interner Gewaltenteilung das Oberhaupt der IURD. Macedos Ziel, das sich im programmatischen Namen der Denomination widerspiegelt und das er von Anfang an verfolgt, gilt der universalen Ausbreitung des Gottesreiches. Da das allerdings die unbegrenzte Tätigkeit der IURD voraussetzt, ist auch sie brasilien- und weltweit zu verbreiten. Nach nur drei Jahren war sie mit 21 Tempeln in fünf (von 26 bzw. 27) Bundesstaaten Brasiliens vertreten, nach zehn Jahren mit 356 Tempeln in 18 Bundesstaaten.605 Mittlerweile hat sie Niederlassungen in allen brasilianischen Staaten und gemäß der letzten Volkszählung 2,1 Mio. AnhängerInnen. Jedoch expandierte die IURD bald über die Gren604 Eine ausführliche Darstellung der Theologie und Geschichte der IURD erfolgt hier nicht, da sie nur zu vergleichenden Zwecken herangezogen wird. Daher beschränke ich mich auf eine kurze Skizzierung der für diese Arbeit relevanten Aspekte und verweise zu weiteren Informationen auf die aktuelle und detaillierte Studie von João Carlos Schmidt: Wohlstand, Gesundheit und Glück im Reich Gottes. Eine Studie zur Deutung der brasilianischen neupfingstlerischen Kirche Igreja Universal do Reino de Deus, Berlin u.a. 2007. 605 Vgl. Mariano, R.: A Igreja Universal, in: Oro, A.P. / Corten, A. / Dozon, J.-P. (org.): Igreja Universal do Reino de Deus. Os novos conquistadores da fé, São Paulo 2003, S. 53–67, hier S. 58 f. Von Mariano sind auch die Daten zur weltweiten Verbreitung übernommen; ebd. S. 55.

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zen ihres Gründungslandes und Südamerikas hinaus. 1986 gründete Macedo Gemeinden in den USA, deren Zahl heute über 100 liegt. Zudem erreichte die Mission der IURD auch Afrika, Asien und Europa, so dass sie in über 80 Ländern Gläubige sammelt. Als Mittel, um diesem Zweck zu dienen, betreibt die IURD eine „elektronische 606 Evangelisation“ , indem sie moderne Kommunikationsmedien wie Presse, Radiound Fernsehprogramme nutzt und sie sogar aufkauft, wie z.B. 1990 den TVSender Rede Record für 45 Mio. Dollar. Darüber hinaus investiert sie in Verlage, Wochenzeitungen, Plattenfirmen, Reisebüros und Versicherungsgesellschaften, wodurch sie einem wirtschaftlichen Unternehmen beinahe mehr zu ähneln scheint als einer Religionsgemeinschaft. Solche finanziellen Auf- und Verwendungen zogen mannigfaltige Vorwürfe und Verdächtigungen nach sich: Ausbeutung der armen Gläubigen, Betrug und Veruntreuung der Gelder durch die Führungsriege etc. Zudem erfolgten Verurteilungen wegen Steuerhinterziehung. Auf diese Weise geriet die IURD nicht nur in die Kritik anderer Religionen, sondern auch in den Fokus der Polizei und Justiz, konkurrierender Unternehmen sowie Medien, die ihrerseits die Kontroverse anheizten. Der sodann auf der Ebene der Fernsehsender und -sendungen ausgetragene Konflikt wurde 1996 durch politische Intervention beendet, woraufhin sich die Lage beruhigte. Die IURD konsolidierte sich seitdem und investiert in große Sakralbauten, die sie in der Öffentlichkeit ebenso wahrnehmbar machen wie die Massenmedien. Trotz des skandalträchtigen Makels ist ihre Anziehungskraft ungebrochen, so dass sie in den 90er Jahren jährlich um 25,7% wuchs.607 5.3.1 Der Bund zwischen Gott und seinem/r Verbündeten 608

In der Theologie der IURD, die Macedo in seinen zahlreichen Büchern darlegt, bilden die zwischen Gott und den Menschen geschlossenen Bündnisse einen der zentralen Aspekte. Nach dem Bundesschluss mit Adam und dem Volk Israel erfolgt in der Person Jesu Christi ein neuer Bund mit dauerhafter und allgemeiner Geltung. Gott verpflichtet sich in diesem Vertrag, den Menschen zu segnen, d.h. ihm ein Leben in Fülle (vgl. Joh 10,10) zu bereiten. Eine solche Vida abundante (’reiches Leben‘) wird interpretiert als „ein Leben in Gesundheit, Wohlstand und 609 Glück“ . Der Mensch verspricht hingegen, an Gott zu glauben und dies zu beweisen. Die Abfolge der Einhaltung des Bundes sieht vor, dass zuerst der Mensch 606 Mariano, R.: Expansão pentecostal, S. 124. 607 Vgl. ebd. 608 Von den Schriften Macedos seien hier nur folgende Titel stellvertretend genannt: Macedo, E.B.: Aliança com Deus, Rio de Janeiro 1996; ders.: Vida com abundância, Rio de Janeiro 1996; ders.: Orixás, caboclos & guias, Rio de Janeiro 1997; ders.: Doutrinas da Igreja Universal do Reino de Deus, 2 Bde., Rio de Janeiro 1998/9. 609 Schmidt, J.C.: Wohlstand, S. 36. Diese Trias der Fülle greift Schmidt zudem als Titel seiner Studie auf.

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seinen Part erfüllt, woraufhin Gott seinerseits reagiert. Reduziert auf den Indikativ-Imperativ-Zusammenhang bedeutet dies: Der Mensch gibt und fordert sodann von Gott, auch zu geben. Der menschlichen Leistung folgt demnach der göttliche Segen. Und dass dieser tatsächlich nachfolgt, ist das Anrecht des Menschen, der sich an seinen Teil des Bundes hält. Gott steht daher in der Pflicht dieses Menschen und muss sich, was er natürlich gerne tut, auch an sein vertraglich in der Bibel fixiertes Versprechen halten – dies jedoch nicht erst im Jenseits, sondern hier und jetzt. Mit dem Bund durch Jesu Opfertod macht Gott den Menschen zu seinem Verbündeten (’sócio/a de Deus‘), der jedoch an ihn glauben muss. Den Beweis des Glaubens erbringen diejenigen, die einerseits Gott sowie den PastorInnen der IURD Gehorsam und andererseits Opfergaben leisten. Letzteres wandelte sich vom alttestamentarischen Tieropfer in ein finanzielles, das sich im regelmäßigen Zehnt und in einzelnen Spenden realisiert. Wer den Zehnt bezahlt, hat gemäß Macedo das Recht, Gottes Segen zu erwarten (vgl. Mal 3,10); wer hingegen nicht zahlt, erfüllt gemäß der Lehre nicht den Bund und stellt Gott in Frage. Mit der freiwilligen, im eigenen Ermessen liegenden Spende erweist der Mensch darüber hinaus nicht nur seinen Glauben, sondern auch dessen Größe. Je großzügiger der geopferte Geldbetrag im Verhältnis zum Einkommen ausfällt, desto größer ist die Liebe zu Gott. Eine solche Großzügigkeit wird Gott sodann ebenso reichlich vergelten.610 Die finanzielle Leistung des Menschen nützt ihm folglich, um aktiv die Gemeinschaft mit Gott, seinen eigenen Status als dessen Verbündeter und die Aussicht auf die Vida abundante zu erhalten. Insofern muss er froh um diese Möglichkeit sein, anstatt die Abgabe hoher Summen zu beklagen. Als Zeichen des Bündnisses dient die dem Menschen zuteil werdende Geistestaufe, die ihn mit dem Heiligen Geist zum Schutz gegen schädliche Einflüsse versiegelt. Zwar gilt dieses Ritual als Angebot an alle ChristInnen, sein Vollzug jedoch spaltet sie in zwei Gruppen: zum einen diejenigen, die nur die Wassertaufe erhalten haben (wie die KatholikInnen und LutheranerInnen); zum anderen diejenigen, die darüber hinaus auch die Geistestaufe empfingen (wie die PfingstlerInnen). Diese Art der Taufe bedeutet für den Täufling „Reinigung und Heiligkeit in seinem Leben“611. Um Sócio/a de Deus zu werden, sind zudem der Glaube an die Heilstat Jesu, die Anerkennung der Bibel als einziger Offenbarungsquelle, ein an 610 Vgl. Macedo, E.B.: Doutrinas, Bd. 1, S. 99. Indem das Verhältnis von Geben und Nehmen in der IURD einem wirtschaftlichen Handeln gleicht, in dem zudem Geld fließt, sehen verschiedene ReligionswissenschaftlerInnen das Vorgehen insbesondere dieser neopentekostalen Kirche als eine Vermarktung des Heiligen. Zum Teil wird darin sogar der Erfolg der IURD als ein geschicktes, mit Marketing vertrautes Unternehmen gesehen; vgl. Bobsin, O.: Teologia da prosperidade ou estratégia de sobrevivência, in: Estudos Teológicos 35/1, 1995, S. 21–38; Campos, L.S.: Teatro, Templo e Mercado. Organização e marketing de um empreendimento neopentecostal, Petrópolis u.a. 1997; Valle, J.E.d.R.: A Universal. Um fenômeno mercadológico-religioso brasileiro, in: Revista Eclesiástica Brasileira 230, 1998, S. 350–384. 611 www.igrejauniversal.org.br/doutrinas.jsp.

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ihren moralischen Geboten ausgerichtetes Leben sowie die engagierte, u.a. finan612 zielle Unterstützung der Mission erforderlich. Indem die Gläubigen in dieser Taufe die von Gott verheißene „Kraft aus der Höhe“ (Lk 24,49) erhalten, ist sie „eine unerlässliche Voraussetzung für das wahre Christensein im biblischen Sinne 613 und nach Gottes Willen“ . Die Wassertaufe erscheint der IURD dagegen nicht ausreichend zu sein, und der/die mit dem Geist Getaufte steht demnach Gott näher als der/die lediglich mit Wasser getaufte ChristIn. Dank dieser privilegierten Stellung kommt jene/r als Verbündete/r Gottes in den einklagbaren Genuss des göttlichen Segens und aller, auch sichtbar wahrnehmbaren Auswirkungen – sofern zuvor der Glaube bewiesen wurde. Häufig ereignet sich die Geistestaufe im Kreis der Gemeinde während oder nach dem Empfangsritual. In diesem Moment kommt der Heilige Geist auf den Täufling herab, der sein in der eigenen Sprache formuliertes Gebet zu Gott unterbricht und sodann in Zungen weiterredet. Dies ist das äußere Zeichen für die „‚Inkorporation‘ des Heiligen Geistes“614, für die Inbesitznahme des Menschen durch das Sakrale. Innerlich soll der/die Getaufte ein Gefühl der Freude, der Reinigung, des Friedens, des Durchströmtseins von der Gegenwart und Liebe Gottes erleben. Neben der Glossolalie wird die Geistestaufe oftmals von anderen „äusse615 ren Manifestationen begleitet“ , wie Zittern, einer Gänsehaut, Lachen und/oder Weinen. Da aber der Ausdruck solcher Emotionen sowie die Zungenrede von verschiedenen Ursachen (s.u.) ausgelöst werden können, gelten sie noch nicht als Beweis dafür, dass tatsächlich eine Geistestaufe stattgefunden hat. Vielmehr erbringt den erforderlichen Beleg nur eine nach biblischen Grundsätzen einwandfreie Lebensführung. Denn – wie die IURD in Anlehnung an Paulus betont – „die Frucht des Geistes [...] ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung“ (Gal 5,22 f.). Um so zu leben, sind zum einen die Geistestaufe sowie das Wirken des Geistes, und zum anderen die willentliche Umsetzung durch den Menschen unerlässlich. Die Verbündeten Gottes stattet der Heilige Geist zudem mit einzelnen besonderen Gaben (vgl. 1.Kor 12,8–10) aus, die Macedo in die Bereiche Offenbarung, Macht und Inspiration untergliedert.616 Bei ihrer Realisierung bleibt der Mensch ebenfalls nicht untätig oder bloßes, willenloses Werkzeug in der Hand des Geistes. Ihm fällt die Rolle zu, dass er 612 Vgl. Macedo, E.B.: O Espírito Santo, Rio de Janeiro 1997, S. 129 f. 613 Schmidt, J.C.: Wohlstand, S. 51. 614 Almeida, R.d.: A guerra das possessões, in: Oro, A.P. / Corten, A. / Dozon, J.-P. (org.): Igreja Universal do Reino de Deus. Os novos conquistadores da fé, São Paulo 2003, S. 321–342, hier S. 333. 615 Jacobowitz, E.S.: Religiöse Erlebnisse bei Pfingstlern. Eine empirische Untersuchung zur differentiellen Psychologie aussergewöhnlicher Bewusstseinszustände, Zürich 1995, S. 43. Jacobowitz stützt sich in ihrer empirischen Untersuchung zwar auf Beobachtungen in der Schweizerischen Pfingstmission, doch lassen sich diese Erlebnisse, die hier genannt werden, auch auf die brasilianischen IURD-AnhängerInnen übertragen. 616 Vgl. Macedo, E.B.: O Espírito Santo, S. 81–85.

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„diese Gaben erbitten und mit absolutem Vertrauen und standhaftem Mut an617 wenden muss“ . Mit diesem Vorgehen stünde dann gemäß ihrer Lehre die Heilung eines/r Kranken in der Macht jedes geistgetauften Mitglieds der IURD. Aber auch das Erkennen des Willens Gottes, das Wirken übernatürlicher Wunder oder die Auslegung von Zungenrede gehören zu den Geistesgaben, die der Erbauung der religiösen Gemeinschaft und der Ausführung des Befehls Jesu dienen: „Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!“ (Mt 10,8). Aufgrund ihrer Wirkmächtigkeit manifestiert sich der Heilige Geist in den Verbündeten Gottes in gleicher Weise wie in den durch sie realisierten Gaben. Obwohl die Geistestaufe die Wassertaufe voraussetzt, richtet sich die Missionierung der IURD nicht allein auf die ChristInnen anderer Konfessionen. Gar nicht getauft zu sein, ist kein Hindernis, um Aufnahme in der neopentekostalen Kirche zu finden, da die Taufe mit Wasser auch hier zu den üblichen Praktiken gehört. Demnach steht die IURD jedem/r offen und bietet mit der Vida abundante als Versprechen Gottes einen für alle attraktiven Anreiz. Mit dieser Botschaft hat die IURD großen Erfolg v.a. bei denjenigen BrasilianerInnen, die aus den ärmsten Schichten stammen und nur eine äußerst geringe Schulbildung erfuhren.618 Entsprechend der Korrelation zwischen sozialer Schicht und Hautfarbe bzw. Rasse verwundert es nicht, dass die Mehrheit der TeilnehmerInnen an den Versammlungen (’reuniões‘, d.h. Gottesdienste) dunkelhäutig ist. Im Vergleich zu den anderen brasilianischen Pfingstkirchen ist in der IURD der Anteil der Schwarzen und MulattInnen z.T. weit höher, der Anteil der Weißen hingegen deutlich niedriger. Und gerade auf die Unterprivilegierten der Gesellschaft muss die IURD anziehend wirken, indem sie ein gesundes, erfolgreiches und glückliches Leben in greifbare Nähe zu rücken und zudem einforderbar zu machen scheint. Jedwedes Problem und alle Ängste sind gemäß der Lehre zuverlässig lösbar und besiegbar, denn Gott wird seine Seite des Bundes erfüllen, wenn man nur richtig glaubt. Welchen Lebensbereichen sich die IURD im Einzelnen widmet, zeigt die Vielfalt der thematisch ausgerichteten Versammlungen, die im Wochenverlauf üblicherweise wie folgt stattfinden619: Der Sonntag als Tag des Herrn dient der Lobpreisung und Anbetung Gottes, um den Glauben zu stärken und aufzufrischen. Der Montag ist dem finanziellen Wohlstand gewidmet, wohingegen die Versammlungen am Dienstag von Neid, bösem Blick, spiritueller Bedrückung und Krankheit befreien sollen. Am Mittwoch finden die ’Reuniões dos filhos de Deus‘ statt, die nach einer wirklichen Gottesbegegnung streben, und die Donnerstage zielen auf Familienglück und -harmonie. Die Freitage sind auf die Befreiung von Flüchen und sonstigen Widrigkeiten ausgerichtet, und die Samstage auf die Liebesbezie617 Schmidt, J.C.: Wohlstand, S. 52. 618 Diese Angabe ist eines der Ergebnisse einer Untersuchung des Instituto Superior de Estudos da Religião (ISER), die Mitte der 90er Jahre durchgeführt wurde; vgl. Fernandes, R.C.: Novo Nascimento. Os evangélicos em casa, na igreja e na política, Rio de Janeiro 1996. 619 Vgl. www.igrejauniversal.org.br.

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hungen von Singles und Paaren. Darüber hinaus existieren Sonderveranstaltungen, die sich an den Feiertagen oder an einem monatlichen Turnus orientieren. Indem mehrere Versammlungen direkt hintereinander abgehalten werden, steht nicht nur der IURD-Tempel den ganzen Tag über offen, sondern es ist die ganze Zeit über ein/e AnsprechpartnerIn anwesend. Wer also den Weg zur IURD geht, findet dort immer Zuspruch und Aufnahme. Dass die Menschen in den Tempel kommen, ist auch das Ziel der Radio- und Fernsehprogramme. Dank der modernen Medien wird zwar landes-(und aufgrund Satellitenempfangs eigentlich welt)weit für die IURD geworben – weniger durch Predigten oder Rundfunkgottesdienste, sondern v.a. durch Betonung der verändernden Kraft Gottes und Beispiele von geheilten, glücklichen, sorgenfreien und finanziell gesicherten Gläubigen. Aber die HörerInnen und ZuschauerInnen sollen nicht zuhause verweilen, sondern die Tempel aufsuchen, da diese die Orte sind, „in denen sie wirksam überzeugt werden können, dass sie von den dämonischen Mächten befreit werden müssen, dass sie eines Treffens mit Christus bedürfen, dass sie Gott gehorchen und schließlich in der Kirche bleiben müssen als notwendige Bedingung, um [sich] das Heil zu sichern“620. Ein Ersatz des Versammlungsbesuches aufgrund Verhinderung ist die mediale Inanspruchnahme durch die IURD keineswegs. Anders als durch den Rundfunk tritt der/die IURD-BesucherIn im Tempel in unmittelbaren Kontakt mit PastorInnen, die den Weg zur Vida abundante weisen. Sie sichern persönlich und individuell zu, dass Gott sofort im Gegenzug zum Glauben des Menschen diesem alles Wünschenswerte gewährt. Zudem haben die AnhängerInnen hier vor aller Augen die Möglichkeit, ihren Glauben und dessen Größe zu beweisen, da das Einsammeln von Spenden fest in der Liturgie der Versammlung verankert ist. Hierzu bringen die Gläubigen gefüllte Umschläge nach vorne in den Altarraum, so dass ihr Glaube für alle Anwesenden sichtbar demonstriert wird. Das Herumreichen eines Klingelbeutels, wie in anderen christlichen Konfessionen üblich, würde hingegen den Effekt der Publizität verfehlen. Des Weiteren werden in der Versammlung Zeugnisse abgelegt, indem Menschen von ihren Problemen, der vergeblichen Hilfesuche und der letztlich in der IURD erfahrenen Lösung berichten. Solche Darstellungen wirken umso authentischer und glaubwürdiger, wenn man selbst in dem Moment der Erzählung vor Ort ist, als wenn man sie nur im Radio oder Fernsehen hört oder sieht. Gleiches gilt für die Manifestationen des Heiligen Geistes, z.B. in der Zungenrede, und seine Siege über die Dämonen im Exorzismus, denen die VersammlungsteilnehmerInnen direkt beiwohnen. Sie erleben dies mit eigenen Augen, so dass sie selbst zu ZeugInnen werden. Außerdem erfahren sie am eigenen Körper die Rituale zur Heilung, der Segnung sowie der Salbung und hören den/die PastorIn sagen, dass ein geliebter erkrankter Mensch, wenn man nach der Reunião nach Hause kommt, bereits geheilt ist. Dank dieser liturgischen Elemente wird „die IURD als 620 Mariano, R.: Expansão pentecostal, S. 128.

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der einzige Ort, wo hilfsbedürftige Menschen das benötigte Wunder erreichen 621 könnten, eindeutig hervorgehoben“ . Der Traum von einer Vida abundante, von dessen Realisierung viele IURDAnhängerInnen (noch) weit entfernt sind, scheint durch diese neopentekostale Kirche Wirklichkeit zu werden. Denn anstatt auf ein glückliches Leben nach dem Tod zu verweisen, bietet sie solches schon jetzt. Die Lösung von u.a. Geld-, Liebes- oder Gesundheitsproblemen wird im Moment der Teilnahme an einer Versammlung begonnen und nach dem Glaubenserweis vollendet, so dass jede/r selbst an seinem/ihrem Glück und Heil arbeiten kann. Kritische Überlegungen, die nach einem rationalen Zusammenhang suchen, anstatt ein göttliches Eingreifen zu konstatieren, können beispielsweise zu der Frage führen, wie der/die Gläubige den finanziellem Wohlstand erlangt, wo er/sie doch hohe Abgaben an die Kirche leistet. Denn die Konsolidierung der Finanzen eines Privathaushalts lässt sich durchaus an der Größe des Besitzes messen. Einen Ansatz zur Lösung des Widerspruchs liefert die Berücksichtigung der Regeln der IURD, die ebenso wie die anderen Pfingstkirchen den Konsum von Tabak, Alkohol und Drogen sowie außerehelichen und homosexuellen Geschlechtsverkehr verbietet. Wer sich an diese Verbote hält, gibt zumindest für solche Wünsche kein Geld aus, so dass mehr übrig bleibt. Reichtum allerdings ist damit nicht zu erlangen. Auf den Zusammenhang zwischen Regeln und daran ausgerichtetem Lebenswandel könnten auch die ersehnte und erreichte Harmonie in der Familie oder Ehe zurückgeführt werden. Bei anderen Problemen wie z.B. bei vielen Krankheiten versagt dieses Erklärungsmodell aber. 5.3.2 Anfechtung durch die Dämonen

5.3.2.1

Die Ausbreitung des Reiches des Teufels

Neben dem Bund, den Gott mit den Menschen schließt, stellt das dualistische Weltbild der IURD einen weiteren zentralen Aspekt ihrer Theologie dar. Der aus dem Himmel vertriebene Engel Luzifer strebt als Gegenspieler Gottes danach, sein eigenes Reich auf der Erde zu errichten. Demzufolge wird der Lebensraum der Menschen zum Schauplatz des Kampfes zwischen Teufel und Gott, die jeweils die Ausbreitung ihres Reiches beabsichtigen. Im Mittelpunkt dieses ’spirituellen Kriegs‘622 stehen die Menschen, die von beiden Seiten umworben oder verführt, ausgerüstet oder geschwächt werden. Anstatt selbst gegen den Widersacher zu kämpfen, schickt Gott seine Verbündeten ins Feld, für die er den Sieg schon errungen hat. Indem er sie durch den Heiligen Geist versiegelt, schützt er sie nicht nur vor schädlichem Einfluss, sondern verleiht ihnen Macht über die Dämonen.

621 Schmidt, J.C.: Wohlstand, S. 80. 622 Vgl. Macedo, E.B.: Mensagens, Rio de Janeiro 1995, S.127 f.

Der Mensch als Verbündeter Gottes in der neopentekostalen IURD

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Dank dieser Zurüstung vermögen die Sócios/as de Deus, den Teufel und seine Helfer unbeschadet zurückzudrängen sowie die Erde für Gott zurückzuerobern. Dies ist das Ziel der Mission, die möglichst viele Menschen in die Tempel holen soll, damit sie den von Gott angebotenen Bund eingehen. Aufgrund ihres freien Willens haben sie die Möglichkeit, sich trotz des dämonischen Einflusses Gott zuzuwenden und sich von ihm befreien und versiegeln zu lassen. Insofern ist auch der/die (Noch-)Nicht-Verbündete in der Lage, für sein/ihr Heil aktiv einzutreten. Seit dem Sündenfall von Adam und Eva herrschen der Teufel und die Dämonen über die Menschheit, die aber Gott jener Macht durch die Bundesschlüsse und die Missionstätigkeit seiner Verbündeten fortschreitend entreißen will. Um die Sócios/as de Deus wiederum zurückzugewinnen, wenden die Dämonen z.B. die Verführung zur Sünde und die Vortäuschung der Geistestaufe an. Durch sündhaftes Handeln wie die Teilnahme an spiritistischen Sitzungen, den Verzehr von Götzenopferspeisen oder die Ablehnung Christi weist der Mensch den Heiligen Geist von sich, verliert dessen Schutz und setzt sich dem Einfluss der Dämonen aus. Der Bund ist somit von menschlicher Seite willentlich gebrochen und das Ergehen festgelegt. Anders verhält es sich bei der Geistestaufe, in der sich der/die IURD-AnhängerIn bewusst für Gott entscheidet. Wenn er/sie sodann in Zungen redet, was gemeinhin als Manifestation des Heiligen gilt, kann dieses Phänomen auch vom Teufel anstatt des Geistes hervorgebracht sein. Mittels dieser List wird der Täufling in der falschen Sicherheit gewiegt, mit Gott verbunden zu sein. Zungenrede ist daher kein Beweis der Taufe mit dem Geist, sondern erst die Lebensführung belegt ihren Vollzug. Unterbleibt aber das moralische Leben oder wird das vermeintliche Mitglied von Problemen besonderer Art belastet, so steht es – gegen den eigenen Willen – immer noch unter dämonischem Einfluss. Eine Liste solcher Probleme stellt Macedo zusammen: Nervosität; dauerhafte Kopfschmerzen; Schlaflosigkeit; Angst; Ohnmacht oder Anfälle; Wunsch nach Selbstmord; Krankheiten, deren Ursache die ÄrztInnen nicht erkennen; Visionen oder Hören von Stimmen; Laster; Depression.623 Diese z.T. nicht unüblichen Probleme gelten gleichsam als Symptome, die darauf verweisen, dass der betroffene Mensch von den Dämonen in Besitz ge624 nommen wurde (’possessão demoníaca‘). Trotz der Vielfalt der Anzeichen und der Reichweite des Teufels sind zwar nicht per se alle diese Probleme von der dämonischen Inbesitznahme abzuleiten, aber ihnen allen wohnt sozusagen ein dämonischer Kern inne. Dadurch ist beispielsweise jede Krankheit vom Teufel verursacht, wenn er auch nicht jede durch die Besitzung des/r Kranken bewirkt.

623 Vgl. Macedo, E.B.: Orixás, caboclos e guias, S. 68 f. 624 Der von der IURD verwendete Begriff zur Bezeichnung dieses Zustands als ’possessão‘ (’Besitzung‘) ist nicht zu verwechseln mit ’obsessão‘ (’Besessenheit‘). Diese verzerrte Übersetzung, die sich z.B. in Schmidt, J.C.: Wohlstand, S. 42 f. findet, verundeutlicht aber leider die Analogie, die die IURD als Abwehr der afro-brasilianischen Religionen konstruiert.

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Die Manifestation des Heiligen in der Umbanda und in christlichen Kirchen

Immer aber besteht der fundamentale Zusammenhang zwischen dem Walten der Dämonen und den Problemen der Menschen. Nach der Lehre der IURD gründen alle menschlichen und irdischen Übel im Handeln des Teufels. Dass der Mensch dies erleidet, ist zum einen die Schuld des Urelternpaars, das sich vom Teufel (ver)leiten ließ, und zum anderen seine eigene, da er den Bund mit Gott nicht eingeht oder einhält. Indem man das Angebot ausschlägt, nicht glaubt und auch nicht zahlt, verhält man sich bewusst in Opposition zu Gott und seinem angebotenen Heilshandeln. Krankheit, Armut, Unglück oder unmoralische Lebensführung sind die Folge und bezeugen, wer Macht über die Person hat. „In keinem Fall kann Gott für das Schicksal des Menschen verantwortlich gemacht werden, denn der Mensch selbst ist dazu fähig, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.“625 Daher und da Gott sich unbedingt an seine Pflichten des Bundes hält, kann er in der IURD keineswegs als Deus otiosus erachtet werden. Während er das Gute für den Menschen durchaus tun will, steht es diesem frei abzulehnen. Das persönliche Ergehen hingegen liegt bei dem/r Leidenden selbst, der/die sich gegen Gott und den Bund entschieden hat. Darüber hinaus ist auch dem Menschen selbst nur eine bedingte Verantwortung für sein leidvolles Ergehen zuzuschreiben. Indem nämlich die Dämonen zur Ausbreitung ihres Reiches auf Mittel wie Verlockung und Täuschung zurückgreifen, entfernt sich die Person ohne es zu wollen und zu wissen von Gott. Demnach kann sie nicht wirklich zwischen Gut und Böse wählen, da das vorgegaukelte Gute nur eine Illusion des Teufels ist, und dessen Wahl letztlich wieder zum Bösen führt. Dadurch entwirft die IURD „eine Konzeption des Individuums, dessen Autonomie relativ ist. [...] In dieser Sichtweise wird der schlechte Mensch als Opfer betrachtet.“626 Wer sich folglich unmoralisch verhält, z.B. mit Drogen handelt, das Kind schlägt, den/die PartnerIn betrügt, handelt nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil der Teufel ihn/sie verführt oder in Besitz genommen hat. Der böse Mensch ist also ebenso unschuldig wie der den Bund wollende Gott. Den sich Gott verweigernden Menschen steht jedoch die Menge der Verbündeten Gottes gegenüber, die den Bund angenommen haben und ihn halten. Sie bilden die Front im Kampf zwischen dem Teufel und Gott, so dass sie zum einen in permanenter Anfechtung durch die Dämonen leben und zum anderen neue Verbündete gewinnen und bewahren wollen. Als Lohn für den Kampf und ihren Glauben erhalten sie die Vida abundante.

625 Ebd., S. 43. 626 Mariz, C.L.: O demônio e os pentecostais no Brasil, in: Cipriani, R. / Eleta, P. / Nesti, A. (org.): Identidade e mudança na religiosidade latino-americana, Petrópolis 2000, S. 251–264, hier S. 261.

Der Mensch als Verbündeter Gottes in der neopentekostalen IURD

5.3.2.2

271

Die Dämonisierung anderer Religionen

Indem die IURD die Vorstellung eines verderbenden und von Gott trennenden Teufels propagiert, steht sie in der Tradition verschiedener Religionen und nicht zuletzt des Christentums selbst. Vom Teufel berichtet die Bibel, er ist sichtbar in der bildenden Kunst innerhalb der Kirchengebäude und er wird von der römischkatholischen Kirche im Exorzismus-Ritual ausgetrieben. Auch im brasilianischen 627 Volkskatholizismus ist der Teufel „präsent und personifiziert“ , spielt hier aber eine eher periphere Rolle. Indem die IURD diese Tradition aktiviert und fortsetzt, stabilisiert sie deren Kontinuität. Zugleich nimmt sie jedoch eine nicht unerhebliche Modifikation vor, da sie dem Teufel und den Dämonen in ihrer Theologie eine zentrale Bedeutung zuschreibt. Einen Bruch hingegen vollzieht sie hinsichtlich der Bewertung von übernatürlichen Wesen, die in anderen Religionen positiv besetzt sind. Durch die negative Einschätzung mutieren die katholischen Heiligen unter dem Blickwinkel der IURD zu Dämonen. Gleiches gilt für die Geister der afro-brasilianischen Religionen, nach deren Status Macedo (eher rhetorisch) im Titel eines seiner Bücher fragt: „Orixás, caboclos e guias: deuses ou demônios?“. Die guten und helfenden Mächte, die die Gläubigen einer beliebigen Denomination – abgesehen vom christlichen Gott – anrufen, werden in den Augen der AnhängerInnen der IURD zu bösen und schadenden Dämonen. Dadurch dass sie sich hinter der Fassade eines positiven Wesens verbergen, täuschen sie die Menschen, die glauben, die richtige Religion für ihre Wünsche und ihre Sorgen gefunden zu haben. Tatsächlich aber sind sie von der einzig wirksamen Kirche, wie sich die IURD selbst sieht, weit entfernt. Mit dem Mittel der Illusion benutzt der Teufel sozusagen die Dienste der anderen Religionen, um sein Reich auszubreiten. Insofern baut die IURD zwar auf vorhandenen Traditionen auf, gliedert sie aber in völlig verzerrter Form in ihr Glaubenssystem ein. Die Existenz und Tätigkeit jener umdefinierten Wesen stellt die neopentekostale Kirche hingegen keineswegs in Frage. Wie das Gebet zu einem/r katholischen Heiligen durchaus wirken kann, so bejaht die IURD auch, dass sich in den Kultsitzungen der Umbanda tatsächlich die Espíritos inkorporieren. Allerdings werden sie für nicht wirksam oder für schädigend erachtet. „Die Verurteilung ist nicht der Umstand, dass es eine Art Scharlatanerie ist, sondern die Unfähigkeit wahre Lösungen für die Probleme des Lebens zu geben.“628 Das Heilige anderer Religionen wird folglich ebenso wenig bestritten wie dessen Manifestation, durch die Umdeutung jedoch deklariert es die IURD als dämonisch. Dem Prozess der Dämonisierung schließt sich entsprechend der anvisierten Ausbreitung des Reiches Gottes der Kampf gegen die Dämonen und die von ihnen instrumentalisierten Religionen an (s. 6.1.3). 627 Ebd., S. 254. 628 Almeida, R.d.: A guerra das possessões, S. 332.

272

Die Manifestation des Heiligen in der Umbanda und in christlichen Kirchen 629

Um die von den afro-brasilianischen Kulten getäuschten Menschen aus dem Einflussbereich des Teufels zu befreien, muss die IURD zum einen über den (vermeintlich) wahren Charakter der Geister aufklären. Denn die UmbandistInnen wussten ja nicht, dass sie Hilfe und Rat bei unfähigen und schadenden Wesen gesucht haben. Zum anderen ist es die Aufgabe der IURD, jene Dämonen auszutreiben. Diesem Zweck dienen die Freitagsversammlungen, da hier das exorzistische Ritual der Befreiung an dem/r jeweiligen Betroffenen durchgeführt wird. Bislang wirkten die Dämonen verborgen in den in Besitz genommenen Menschen, und nur Symptome wie Krankheiten oder Laster wiesen auf ihren Einfluss hin. Nun aber sollen sie vor allen Anwesenden offenbar gemacht, erniedrigt und entfernt werden. Auf ersteres zielt ein Eingangsgebet, das die Dämonen auffordert, sich zu zeigen (’manifestar‘). Jeder einzelne Dämon soll „sein ‚Versteck‘ verlassen und das ganze Bewusstsein der Person in Besitz nehmen“630. Was man bisher nicht wusste bzw. höchstens vermuten konnte, wird nun offensichtlich. Die Person fällt in Trance und der/die PastorIn fragt den Dämon nach seinem Namen. In den meisten Fällen ist er identisch mit den Namen und Kategorien der umbandistischen Geister, so dass im neopentekostalen Tempel plötzlich Exus, Pomba Giras oder Caboclos/as anwesend sind. Die Frage, was er im Leben des/r Betroffenen verursacht habe, beantwortet der Dämon mit der Aufzählung von Problemen, Nöten und Leid, die die Gesundheit, das Geld, die Familie o.ä. betreffen. Eine letzte Frage zielt darauf ab, auf welche Weise er in das Leben der Person getreten ist. Gemäß seiner Herkunft und Identität kann dies nur im Zusammenhang mit der Umbanda erfolgt sein, d.h. durch die Teilnahme an einer Sessão, durch die Konsultation eines Geistes oder durch den Schadenszauber, den jemand anders dort initiiert und auf die Person gelenkt hat. Nach der Identifizierung des Dämons wird er von dem/r PastorIn z.B. durch Verspotten oder den Befehl des Niederkniens gedemütigt, und die Macht Jesu über ihn sowie über die Umbanda demonstriert. In Jesu Namen erfolgt sodann der Moment der Austreibung, indem der/die PastorIn die Hände über den Kopf des/r Betroffenen hält und dem Dämon befiehlt, den menschlichen Körper zu verlassen. Gemeinsam rufen PastorIn und Gemeinde ’Sai!‘ (’Geh!‘) und ’Queima!‘ (’Brenne!‘), wozu sie die gleichen beschwörenden und nach hinten werfenden Gesten vollführen. Das Ritual des Exorzismus drückt in komprimierter Form die Hauptaspekte der IURD-Theologie aus, nämlich im Kampf die Macht des Teufels einzudämmen und das Reich Gottes auszubreiten. Der Aufforderung, nicht mehr verdeckt zu wirken, sondern sich zu manifestieren, kommt der Dämon tatsächlich nach, und er gibt sogar seine Herkunft preis. Bereits durch dieses Offenbarmachen stellt 629 Die folgende Darstellung gilt für den Umgang der IURD mit allen afro-brasilianischen Religionen, auch wenn ich als Beispiel die Umbanda heranziehe. Das rührt nicht nur vom Thema dieser Arbeit her, sondern auch, weil die IURD die Umbanda „als symbolischen Hauptgegner“ (ebd., S. 322) betrachtet. 630 Schmidt, J.C.: Wohlstand, S. 83.

Der Mensch als Verbündeter Gottes in der neopentekostalen IURD

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der/die PastorIn seine/ihre eigene Macht unter Beweis. Für den besetzten Menschen ist dies die Bestätigung, sich am richtigen Ort und in der richtigen Glaubensgemeinschaft zu befinden, denn zum einen erfährt er endlich die Ursache seiner Probleme. Zum anderen glaubt er, hier die erwartete Hilfe zu bekommen, nachdem er vielleicht andere bisher konsultierte Anlaufstellen wie ÄrztInnen oder die Umbanda vergeblich aufgesucht hatte. Indem der Dämon seine Herkunft und das angerichtete Unglück benennt, bestätigt er die von der IURD propagierte Schädlichkeit der dämonischen Religionen, die ihr Hilfsangebot nur vortäuschen. Wie groß das angerichtete Leid ist, lässt der/die PastorIn den Dämon in aller Öffentlichkeit mitteilen. Zwar schildert nicht der Mensch selbst sein Ergehen, sondern der in ihm manifestierte und folglich durch ihn sprechende Dämon, aber dennoch werden persönliche und intime Angelegenheiten publik gemacht. Damit agiert die neopentekostale Kirche konträr zur katholischen sowie zur Umbanda, in denen der/die Einzelne seine/ihre Probleme und Nöte in einem Zwiegespräch, sei es in der Beichte oder der Konsultation, dem Priester bzw. dem Espírito mitteilen. Die IURD hingegen zieht das Verborgene ans Licht, den Dämon ebenso wie seine Taten. Mittels der Erniedrigung und sodann der Austreibung des Dämons liefert die IURD den ultimativen Beweis ihrer Wirksamkeit und Macht. Indem sie einen Menschen befreit und ihm den Weg zur Vida abundante zeigt, hebt sie hervor, dass sie und keine andere „Religion fähig ist, mit Erfolg auf die Ängste der Gläubigen zu antworten“631. Obwohl die Umdeutung der umbandistischen Geister durch die IURD der Polarisierung dient und divergente Voraussetzungen schafft, verlaufen manche Rituale beider Religionen in gewissen Aspekten parallel. Die Umbanda erachtet ihre Espíritos als gute Mächte, die herbeigerufen werden, damit sie sich im Medium für kurze Zeit inkorporieren. Die IURD hingegen wertet sie als böse Mächte, die sich unbemerkt in jedem Menschen für möglichst lange Zeit festsetzen können. Auf Veranlassung des/r KultleiterIn bzw. des/r PastorIn manifestiert sich das Numinose im Terreiro bzw. im Tempel. Trotz der konträren Beurteilung besteht kein Zweifel an der Übernatürlichkeit und Irrationalität des Espírito bzw. des Dämons. Beide stehen zwischen dem höchsten Gott und dem irdischen Menschen, so dass sie unabhängig von ihrem guten oder bösen Charakter als heilig gelten können. Den Dämon ob seiner negativen Konnotierung632 als profan einzustufen und somit dem Heiligen, 631 Almeida, R.d.: A guerra das possessões, S. 324. 632 Der Begriff ’Dämon‘, der im Griechischen ’Geist, Gott, Schicksal‘ bedeutet, erfuhr bei seiner Übernahme ins Deutsche eine Bedeutungsverschlechterung. Während er eigentlich nie positiv konnotiert ist und eher selten neutral benutzt wird, versteht man unter Dämon einen ’bösen Geist‘. Vom (positiven) Göttlichen ist er somit zwar weit entfernt, aber ebenso weit vom Menschen und der natürlichen Welt. Das Moment der Irrationalität eignet demnach auch dem negativ empfundenen Dämon. Hierbei ist zudem zu beachten, dass auch die afro-brasilianischen Geister nicht durchweg als gütige Wesen erscheinen, sondern durchaus ambivalenten Charakters sind. Bei Caboclos/as und Pretos/as Velhos/as überwiegt aber der gute Charakter, während Exus und Pomba Giras für ihre Boshaftigkeit berüchtigt sind.

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Die Manifestation des Heiligen in der Umbanda und in christlichen Kirchen

das man weitläufig positiv einschätzt, gegenüberzustellen, birgt wiederum eine Verzerrung. Der Unterschied beider Wesen besteht nämlich hinsichtlich ihrer Eigenschaften, nicht in Bezug auf ihre Sakralität. Insofern ist der Mensch, in dem sich der Espírito oder der Dämon manifestiert, ein heiliger Mensch: Für die UmbandistInnen, indem er als Medium (im Sinne des Heilerschen Priesterbegriffs) Rat gibt, für die IURD-AnhängerInnen, da er hilfsbedürftig ist. Der Manifestation beider Wesen schließt sich deren Entfernung an, auch wenn der Bestimmungsort voneinander abweicht. In der Umbanda kehrt der Geist in die astrale, körperlose Welt zurück; die IURD schickt den Dämon in die Hölle, damit er dort brennt. Obwohl in beiden Religionen die offensichtliche Anwesenheit der numinosen Wesen zeitlich begrenzt ist, setzen sie innerhalb des Rituals unterschiedliche Akzente. Demnach liegt der Höhepunkt in der afro-brasilianischen Sessão in der Manifestation des Heiligen, in der neopentekostalen Versammlung hingegen in der Austreibung des Bösen. Dessen Anwesenheit ist lediglich ein notweniges Durchgangsstadium, damit das entfernt werden kann, was durch die Umbanda gleichsam Eingang in den Menschen gefunden hat. Insofern ist der von der IURD vollzogene Exorzismus als eine Art Reinigung zu erachten, die vom schädlichen dämonischen Einfluss befreit und den/die Betroffene unter die positive Macht des Heiligen Geistes stellt.

6

Die interreligiöse Konkurrenz aufgrund der Anziehungskraft der Umbanda

Aufgrund des Anspruchs einzelner Religionen auf Absolutheit, auf den Status als alleinige Trägerin der Wahrheit oder auf exklusive Mitgliedschaft der AnhängerInnen geht die Vielfalt der religiösen Landschaft zumeist mit Konkurrenz zwischen den Denominationen einher. Nicht anders in Brasilien, wohin Religionen importiert wurden und wo immer wieder neue entstehen. Im Umfeld der Konkurrenz stellt die Umbanda eine große Gefahr dar, da ihre Anziehungskraft und Ausbreitung für andere Religionen eine Abwanderung der Mitglieder bedeutet. Dabei reagieren die drei hier als Referenzen herangezogenen Konfessionen unterschiedlich auf die Konkurrentin und wechseln sogar ihre eigene Haltung. Nachfolgend wird das Verhältnis der evangelisch-lutherischen und der römisch-katholischen Kirche sowie der Igreja Universal do Reino de Deus gegenüber der Umbanda dargestellt. Zuvor ist jedoch zu klären, welche Haltung die Umbanda ihnen gegenüber einnimmt und ob sie andere Kulte überhaupt als Konkurrentinnen erachtet. Die abschließende Erörterung richtet den Blick auf die Qualität der Begegnung mit dem Heiligen, die die Religionen ihren AnhängerInnen in spezifischer Weise eröffnen. Zum Vergleich werden neben den bereits erwähnten christlichen Kirchen sowie der Umbanda auch der Candomblé und der Spiritismus herangezogen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Rolle des heiligen Menschen und seinem Umgang mit dem Heiligen sowie der Art, in der sich das Numinose erfahrbar macht. Daraus wird letztlich das Ergebnis meiner Hypothese abgeleitet, dass nämlich die Anziehungskraft der Umbanda in der zuverlässig erlebbaren Manifestation des Heiligen gründet.

6.1 Das Verhältnis zwischen der Umbanda und christlichen Kirchen Als im frühen 19. Jh. die Umbanda die Reihen der religiösen Landschaft erweiterte, stand sie zunächst in unmittelbarer Konkurrenz zum Spiritismus und Candomblé. Der europäischen Struktur fügte sie einige afrikanische Inhalte hinzu und die schwarzen Traditionen hellte sie durch weiße Elemente auf. Indem sie zudem indianische und volkskatholische Vorstellungen einband, nahm die Umbanda die Position eines synkretistischen Bindeglieds zwischen den Religionen ein. Dies verstärkt sich durch die Integration weiterer Elemente, was die hohe Flexibilität der Umbanda ermöglicht. Auf diese Weise kann der überwiegende Teil der brasilianischen Bevölkerung seine Wurzeln in der Neureligion wiederfinden. Ihre innere Vielfalt begründet die Umbanda mit dem Selbstverständnis als Urreligion, aus der sich alle anderen ausgegliedert haben und die folglich einige umbandistische Grundzüge in sich tragen. Den Anspruch der Urzeit, die „wahre

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Die interreligiöse Konkurrenz aufgrund der Anziehungskraft der Umbanda 633

Religion“ zu sein, vertritt sie in gewisser Weise noch immer, indem sie sich als 634 „vierte und endgültige Offenbarung“ (nach Mose, Jesus und Allan Kardec) betrachtet. Darüber hinaus vermutet Ulrich Fischer 1965, dass sich die Umbanda „für die einzig legitime Religion des Brasilianers“ hält, deren Ziel es deswegen ist, „nicht nur den Spiritismus zu überflügeln, sondern die Alleinherrschaft in Brasi635 lien zu erlangen“ . Müsste aber eine solche Einstellung nicht eine mehr oder minder aggressive Mitgliederwerbung sowie eine Abwehrhaltung gegenüber allen anderen Religionen nach sich ziehen? Das ist bei der Umbanda jedoch nicht der Fall. Weder polemisiert sie, noch grenzt sie aus oder postuliert Exklusivität. In diesem Sinn konstatiert auch Horst H. Figge 1973, dass der Umbanda „ein Missionsgedanke […] völlig fremd [sei], da sie in äußerster Toleranz behauptet, letztlich 636 seien alle Religionen richtig“ . Mit der Aufnahme und Verschmelzung verschiedener Traditionen belegt sie ihre „Überzeugung, dass alle Religionen gut sind. Die 637 absolute Wahrheit wäre die Summe aller Religionen.“ Auf regionaler Ebene findet ein z.T. reger und freundschaftlicher interreligiöser Kontakt statt, der sich in gegenseitigen Besuchen, der Teilnahme am Kult oder in Vorträgen über die eigene in den Räumen der anderen Religion äußert. In manchen Fällen teilt sich die Umbanda mit einer anderen Denomination sogar die 638 Nutzung eines Kultgebäudes. Die Aufgeschlossenheit für den interreligiösen Dialog belegen auch der Besuch einer umbandistischen Delegation bei der 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirche im Jahr 2006 in Porto Alegre sowie die von einem Umbanda-Terreiro organisierte Vortragsreihe, die sogar eine buddhistische Rednerin und einen hinduistischen Redner einbezog. Auf überregionaler oder institutionalisierter Ebene hingegen gestaltet sich der Umgang schon allein deswegen schwierig, weil keine einheitliche umbandistische Organisation existiert, die den einzelnen, selbstständigen Terreiros übergeordnet ist und für sie zentral agieren könnte. Insgesamt bleibt also festzuhalten, dass die Terreiros am bilateralen Austausch interessiert sind. Davon erhofft man sich vorrangig den Abbau von häufig gegen sie geäußerten Vorurteilen, und der Empfang der anderen dient zugleich der eigenen Verteidigung. Auch hinsichtlich der Missionspraxis verhält sich die Umbanda äußerst zurückhaltend und kann daher kaum als eine konkurrierende Religion gelten, die den anderen die Mitglieder abwirbt. Zwar müssen die Medien und TeilnehmerIn633 Rivas Neto, F.: Lições básicas, S. 23. 634 Vgl. das von Weingärtner angeführte Zitat des Umbandisten Bibiano da Silva Flores; Weingärtner, L.: Umbanda – die „vierte Offenbarung“?, in: dynamis 4, 1969, S. 6. 635 Fischer, U.: Erfüllte Sehnsucht, S. 116. 636 Figge, H.H.: Umbanda – Eine brasilianische Religion, in: Numen. International review for the history of religions, vol. 20, Leiden 1973, S. 81–103, hier S. 100. 637 Droogers, A.: Desafio, S. 32. 638 Nicht selten ist die gemeinschaftliche Beherbergung bei Umbanda und Quimbanda, einzigartig hingegen bei Umbanda und der Religion Santo Daime wie im Terreiro Lua Branca in Rio de Janeiro; vgl. Guimarães, M.B.L.: Umbanda e Santo Daime, S. 125–139.

Das Verhältnis zwischen der Umbanda und christlichen Kirchen

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nen der Sessão erst gewonnen werden, jedoch nicht mit einer exklusiven Auflage, die den Besuch anderer Kulte verböte. Jede/r, der/die zur Umbanda kommt, kann (aus ihrer Perspektive) in seiner/ihrer bisherigen Religion bleiben und braucht nicht zu konvertieren. Behauptungen, dass die synkretistische Neureligion ’Proselytenmacherei‘ betreibe, erweisen sich demnach als unzutreffend. Vielmehr stellt die Umbanda frei, ob jemand allein ihr angehören oder ihre Sessões zusätzlich beispielsweise zum christlichen Gottesdienst besuchen möchte. Die Möglichkeit der mehrfachen Religionszugehörigkeit, die die Umbanda eröffnet, beschert ihr einen unübersehbaren Zulauf von AnhängerInnen – auch aus dem katholischen Lager. Zudem herrscht durch die mehr oder weniger häufige Teilnahme der Bedarfsklientel, die das Angebot zur Lebenshilfe nutzt, eine hohe Fluktuation. Statistische Zählungen werden auf diese Weise in ihrer Aussagekraft konterkariert. Im Mittel jedoch kann eine stabile Wachstumstendenz registriert werden. Die praktizierte prinzipielle Offenheit der Umbanda für alle Menschen und die Zwanglosigkeit hinsichtlich der Mitgliedschaft begründet m.E. nicht nur ihr überaus rasches Anwachsen, sondern auch ihre positive Haltung gegenüber anderen Religionen Brasiliens. Indem sich die Umbanda als „eine Religion, die offen für alle BrasilianerInnen ist“639, versteht, empfängt sie mit offenen Armen alle interessierten Einzelpersonen und Gruppen, nimmt dadurch aber innerhalb der religiösen Landschaft eine eher passive Haltung ein. Anstatt offensiv den Austausch zu suchen, bleibt sie reserviert, bei der Wahrung ihrer eigenen Identität aber konsequent. Vielgestaltiger hingegen ist die Art, wie die anderen Religionen auf die Umbanda reagieren. Während sie jene nicht als Konkurrenz empfindet, nehmen einige von ihnen die Umbanda aber umso deutlicher als Rivalin wahr, die die Gläubigen vom Weg abbringt. Die Bandbreite, wie jene Religionen ihr (über die Jahrzehnte hinweg) begegnen, reicht folglich von ablehnend bis ignorierend, von resignierend über tolerierend bis annähernd. Im Nachfolgenden werden solche Verhaltensweisen exemplarisch an den in dieser Arbeit in den Blick genommen christlichen Kirchen skizziert. Die Reaktionen sind zwar typisch, jedoch gibt es durchaus abweichendes Verhalten einzelner PfarrerInnen. Dennoch spiegeln sich die Tendenzen und Einstellungen gegenüber der Umbanda eindrücklich wider. 6.1.1 Dialog, Selbstkritik und Lernen – Der Wunsch der evangelischlutherischen Kirche Die Haltung der Evangelischen Kirche lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (IECLB) gegenüber nicht-christlichen Religionen und speziell der Umbanda war lange Zeit von Unkenntnis oder Ablehnung geprägt. Dies belegen einige Antworten, die Lindolfo Weingärtner in seiner 1969 veröffentlichten Umfrage unter luthe639 Pierucci, A.F.: As religiões no Brasil, S. 298 f.

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Die interreligiöse Konkurrenz aufgrund der Anziehungskraft der Umbanda

rischen PfarrerInnen erhielt. Die Spannweite der Unkenntnis demonstrieren zwei Extreme: In einem Fall wurde die Umbanda mit dem Freimaurertum verwechselt; in einem anderen gab der Pastor einer großstädtischen Gemeinde an, dass in seinem Bezirk kein Umbanda- oder Macumba-Terreiro existiere. Die objektive Nachprüfung ergab jedoch, dass Hunderte solcher Kultstätten der dortigen Bevölkerung bekannt waren. Weingärtner bewertet diese Divergenz als Zeugnis „einer kaum vorstellbaren Isolierung einer evangelisch-lutherischen Gemeinde von der 640 sie umgebenden geistig-religiösen Wirklichkeit“ . Der Unkenntnis der einen steht die Ablehnung der anderen gegenüber, aus der heraus für eine wachsame Beobachtung der afro-brasilianischen Kulte plädiert wird. In diesem Sinn beurteilt Ulrich Fischer sie 1966 nicht nur als Neuheidentum, sondern für die brasilianische christliche Kirche als „eine Gefahr [...], die ernster als die des Atheismus sein 641 kann“ . Eine solche Haltung führte dazu, dass sich auch Mitglieder der IECLB der antihäretischen Bewegung, die die römisch-katholische Kirche initiierte, anschlossen (s.u.). Andererseits jedoch wurde vielfach – obwohl man darum wusste – die Tatsache ignoriert, dass ChristInnen die Dienste nicht-christlicher Religionen in Anspruch nahmen und deren Sitzungen besuchten. „Wir haben eine Haltung 642 des Schweigens eingenommen angesichts dieser Wirklichkeit“ , stellt eine Regionalversammlung der IECLB 1987 rückblickend fest. Diese Einstellung wandelte sich in den 70er Jahren, wobei die evangelischlutherische und die römisch-katholische Kirche eine ähnlich gelagerte Strategie verfolgten. So veränderte die IECLB aufgrund des fortschreitenden Wachstums der afro-brasilianischen Religionen ihren Blickwinkel und betrachtete diese seit 643 1974 als „eine missionarische Herausforderung“ . Anstatt die negativen Aspekte der Umbanda einseitig zu betonen, sollten nun auch die positiven thematisiert werden. Anstatt eine christliche Überlegenheit zu demonstrieren, wollten die LutheranerInnen die Konfrontation entschärfen. Mit dem Wunsch, Gemeinsamkeiten zu entdecken, suchten sie nun den Dialog. Ein erster Anknüpfungspunkt ergibt sich von der sozialen Funktion her, die eine Religion für den/die Einzelne/n in einem neuen Umfeld wahrnehmen kann. Gerade dieses Feld wird oftmals als Hauptgrund der Anziehungskraft der Umbanda erachtet, indem sie den vom Land in die Stadt gekommenen, entwurzelten und problembeladenen BrasilianerInnen einen neuen familiären Ort der Geborgenheit und Hilfe bot (s. 4.3.2). In ähnlicher Weise erleichterte die evangelischlutherische Kirche ihren Gläubigen, die seit dem 19. Jh. in Brasilien siedelten, die

640 Weingärtner, L.: Umbanda, S. 174. 641 Fischer, U.: Vergöttlichter Sexus, S. 130. Diese Einschätzung gleicht der von Weingärtner konstatierten „Frontstellung gegenüber dem Umbandismus und seinen Vorstufen“; Weingärtner, L.: Umbanda, S. 173. 642 Plano de Ação 1988 da Região Eclestiástica IV da IECLB; zit. nach: Wulfhorst, I.: Discernindo os Espíritos, S. 17. 643 Zit. nach: Wulfhorst, I.: Schmelztiegel der Religionen, S. 64.

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Anpassung an die neue Lebenssituation. Statt sich aber, wie die brasilianischen Landflüchtigen des frühen 20. Jh., einer am neuen Ort vorfindlichen Religion zu öffnen, bewahrten und pflegten die eingewanderten Deutschen des 19. Jh. ihre mitgebrachte Sprache, Tradition und Religion. Dieser Haltung ist es vermutlich zu verdanken, dass die lutherische Kirche noch heute in Brasilien existiert. Dessen ungeachtet kann eine weitere Annäherung anhand solcher sozialen Funktionen erfolgen, die Zeichen für Mildtätigkeit und Nächstenliebe setzen. Im Grunde wollen die sich in den Medien manifestierenden Espíritos ebenso dem Guten in der Welt dienen wie die vom Evangelium Jesu predigenden PfarrerInnen. Die christliche Sicht auf die umbandistischen Geister und deren Intentionen wird allerdings durch die Gestalt Exus verdunkelt, sofern ihm eine zentrale Bedeutung zuerkannt und er mit dem Teufel identifiziert wird. Dadurch scheint die Umbanda der schwarzen Magie verbunden zu sein und den Menschen Schaden zufügen zu wollen. Es wird dabei aber übersehen, dass Exu in der Umbanda nur eine periphere Rolle spielt, dass er (wie die anderen Geister auch) einen ambivalenten Charakter hat, dass er mit Beachtung und Gaben durchaus wohl zu stimmen ist, und dass die Umbanda trotz ihrer prinzipiellen Fähigkeit zu schwarzmagischen Praktiken solche ablehnt. Umbandistische Nächstenliebe richtet sich auf die mit Sorgen und Problemen belasteten Menschen, behandelt sie mit Respekt sowie Wärme und ist dort „anwesend [...], wo sich die Kirche abwesend macht“644. Der soziale Erfolgsfaktor der Umbanda gründet sich somit nicht auf Schadenszauber, sondern auf Defiziten der konkurrierenden Denominationen. Indem die Umbanda auf die Ängste der Menschen eingeht und ihnen zu einem besseren Leben verhelfen will, verfolgt sie prinzipiell die gleichen Ziele wie die christlichen Kirchen. Da zudem in der lutherischen Kirche die liberale Auffassung überwiegt, dass Gott nicht ausschließlich im Christentum wirkt, sondern auch in anderen Religionen wirksam werden kann, bringen ihre VertreterInnen den UmbandistInnen ebenfalls Offenheit entgegen. Diese geht einher mit der Frage, ob und was von der bisher suspekten, nun aber akzeptierten Glaubensgemeinschaft zu lernen sei. Sie stellt sich umso drängender angesichts der Anziehungskraft, die die Umbanda auf die BrasilianerInnen ausübt, während die lutherische Anhängerschaft beinahe nur auf die Nachkommen der deutschen ImmigrantInnen beschränkt bleibt. Dem erfolgreichen Wachstum jener steht somit der allmähliche Rückgang dieser gegenüber. Da an das Lernen zugleich die Selbstkritik gekoppelt ist, zeigt die Begegnung mit der Umbanda auch die eigenen Schwächen und Defizite auf, welche überhaupt erst durch Neuerungen zu überwinden sind. Im Ergebnis dieser Analyse können mehrere Aspekte hervorgehoben werden, die die evangelisch-lutherische Kirche von der Umbanda unterscheiden, und in denen die traditionelle Religion hinter der jüngeren zurücksteht.645 Zum einen 644 Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 68. 645 Die nachfolgende Darlegung orientiert sich an dem von André Droogers herausgegebenen Aufsatz „Umbanda. Desafio para a igreja“ [Herausforderung für die Kirche], S. 33 f.; und wählt

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nimmt in Lehre und Ritual der IECLB die Seele einen vorrangigen Stellenwert vor dem Körper ein. Die Umbanda hingegen betrachtet den Menschen ganzheitlicher und bezieht den Körper stärker ins Geschehen ein. Man tanzt, Geister inkorporieren sich, Ratsuchende kommen oftmals wegen körperlicher Leiden. Eine Ablehnung des Körpers oder eine diesbezügliche Skepsis finden sich hier nicht. Außerdem wird der Terreiro als Ort der Heilung angesehen, wo die Religion als Antwort auf eine Krankheit fungiert. Das evangelisch-lutherische Gotteshaus bei solchen Angelegenheiten aufzusuchen, liegt den christlichen Gläubigen hingegen fern. Für sie gehört als Reflex der Aufklärung die Behandlung von Krankheiten in die Domäne der Schulmedizin, die die psychosomatische Bedingtheit von Erkrankungen zwar theoretisch bejaht, aber praktisch weitgehend ignoriert. Und so findet auch das pathologische Seelenleben in der lutherischen Gemeinschaft weniger Beachtung und Akzeptanz als in der Umbanda. Diese nimmt außergewöhnliches Verhalten und Empfinden als Anzeichen für die Absicht eines Geistes, die Person als Apparat nutzen zu wollen und somit als Hinweis auf die Ausbildung zum Medium. „Die Umbanda normalisiert also, was abnormal erscheint, indem sie es für rechtmäßig erklärt.“646 Um hier aufzuholen, müsste die evangelisch-lutherische Kirche ihre Seelsorge mehr auf die brasilianische Mentalität ausrichten, Lebenshilfe anbieten, dem/r Hilfesuchenden eine persönliche Beratung ermöglichen, die ggf. in Kooperation mit der Schulmedizin erfolgt, sowie in Gebet und Meditation die Partizipation am Heiligen ganz individuell eröffnen. Darüber hinaus wirkt auch der lutherische Gottesdienst weit steifer, intellektueller und distanzierter als die Sessão. Die PfarrerInnen sind studierte TheologInnen, sprechen grammatikalisch und theologisch korrekt, Predigten und Lesungen haben eine monologische Struktur, und die Gläubigen verharren zumeist in rezeptiver Haltung. In der Umbanda hingegen haben die KultleiterInnen zwar kein akademisches Studium absolviert, aber eine Ausbildung bei ihrem/r Pai-/Mãe-desanto durchlaufen. Gleiches gilt für diejenigen, die in ihrer Freizeit als Medien tätig sind und ebenfalls im Terreiro ausgebildet wurden. Da sie aus jeder sozialen Schicht stammen können, ist auch die sprachliche Ausdrucksweise jeder dieser Schichten vertreten. Und nicht einmal alle Geister beherrschen das Portugiesische einwandfrei korrekt, so v.a. die Pretos/as Velhos/as. Phasen des Monologs und der Rezeptivität der TeilnehmerInnen gibt es in der umbandistischen Sitzung ebenso wie in der christlichen Kirche, allerdings variiert die Zahl der AkteurInnen stark. Während im Extremfall allein und einzig der/die PfarrerIn der Gemeinde gegenübertritt, ist dies bei der Sessão eine Gruppe von Medien. Statt einer einzelnen Person halten sich durchgehend mehrere Menschen im inneren heiligen Raum auf. Um hier aufzuholen, müsste man das vielfältige Repertoire von Interaktionseinige Aspekte exemplarisch aus. Der Aufsatz ist das Ergebnis eines Seminars zum Thema „Mediumistische Religionen in Brasilien und in der Bibel“, das 1981 an der Faculdade de Teologia de IECLB stattfand, und dessen Text von den Studierenden verfasst wurde. 646 Ebd., S. 33.

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formen im eigenen Gottesdienst experimentell wagen und dabei auch landestypische Charakteristika einbringen. Abschließend sei festzuhalten, dass die Religion mit den afrikanischen Wurzeln brasilianischer erscheint, als diejenige deutscher Herkunft. Obgleich die evangelisch-lutherische Kirche viele Jahrzehnte länger in Brasilien existiert als die Umbanda, spricht sie in ihrer Nüchternheit, ihrem Liedgut und ihrer Rationalität die Menschen des Landes nicht so deutlich an. Die Umbanda hingegen offeriert Symbolträchtigkeit, Bewegung und Sinnenhaftigkeit, womit sie der südamerikanischen Mentalität näherliegt. Dementsprechend verspricht sich die IECLB vom interreligiösen Dialog, „Aspekte wieder zu entdecken, die durch die lutherischeuropäischen Ausdrucksformen bei der Einwurzelung des Evangeliums in Brasilien verdrängt wurden“647. Eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Lebenskontext der BrasilianerInnen und die deutlichere Ausrichtung auf ihre Bedürfnisse wären Ziele des Kontakts, der Selbstkritik und des Lernprozesses. Die Absicht der IECLB, mit der Umbanda in Beziehung zu treten und dabei 648 „eine offene und demütige Haltung“ einzunehmen, ist verbunden mit dem Üben von Selbstkritik sowie der Äußerung und Zulassung von objektiver Kritik. Dabei wurden einige der hier herausgearbeiteten Schlussfolgerungen schon ansatzweise realisiert. Seit dem Wandel der Einstellung und deren Umsetzung ab den 70er Jahren zeigen sich immerhin positive Auswirkungen, die die Verkündung des Evangeliums den brasilianischen Umständen mehr anpassen als bisher. So werden die in der Umbanda beobachteten und als eigene Defizite erkannten Aspekte beispielsweise der Ganzheitlichkeit und der Heilung als Anreiz zur gezielten Thematisierung genutzt. Zudem erfuhr die Liturgie eine volkstümlichere und nähere Ausgestaltung.649 Im Gegensatz zu den vollzogenen Veränderungen innerhalb der einzelnen Kirchen ist allerdings fraglich, inwiefern auch der aktive interreligiöse Dialog stattfindet. Im Normalfall nämlich hat der/die GemeindepfarrerIn wenig oder gar keinen Kontakt zu einem der vielen örtlichen Terreiros. Vielmehr mutet die lebendige Auseinandersetzung im regen Austausch der Religionen als ein Wunsch der evangelisch-lutherischen Kirchenleitung und der WissenschaftlerInnen an, der jedoch den Weg von der theoretischen Formulierung kaum in die praktische Umsetzung gefunden hat. Wunsch und Praxis scheinen hier mehr zu divergieren, als die Literatur uns glauben macht, die in der Mehrheit von universitären ForscherInnen statt hauptberuflichen PfarrerInnen veröffentlicht wird. Der Aufbruch der evangelisch-lutherischen Kirche nach Brasilien steht demnach erst am Anfang. Die Kunst und Herausforderung besteht dabei in der Balance zwischen Öffnung und Bewahrung der eigenen Identität.

647 Wulfhorst, I.: Schmelztiegel der Religionen, S. 64. 648 Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 82. 649 Vgl. Wulfhorst, I.: Schmelztiegel der Religionen, S. 64 ff.

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6.1.2 Verurteilung, Umdenken und Resignation – Die schwankende Haltung der römisch-katholischen Kirche Analog zur Haltung der IECLB, die dem Wunsch nach einem interreligiösen Dialog voranging, war auch die Position der römisch-katholischen Kirche gegenüber der Umbanda entweder von Unwissenheit oder von Ablehnung geprägt. Während erstere auf der Gemeindeebene durchaus vorkommen konnte, indem ein Priester wenig von den Vorgängen in seiner Umgebung wusste, entsprach letztere dem offiziellen Duktus. 1899 verurteilte die erste Synode Lateinamerikas den Spiritismus als häretische Bewegung und schloss sich damit einer Deklaration des Sanctum Officium von 1865 an. Dies wurde 1915 von den brasilianischen Bischöfen wiederholt. Obwohl jene zwar nur den Spiritismus als verdammenswert benennen, sind die afro-brasilianischen Religionen inbegriffen und damit als genauso häretisch und inakzeptabel angesehen. Da aber weder die Existenz solcher Kulte rückgängig zu machen noch ihre Ausbreitung einzudämmen war, sondern sie sich vielmehr ungebremst vervielfachten, gründeten die katholischen Bischöfe 1953 die ’Nationale Kampagne gegen die spiritistische Häresie‘, an der sich auch evangelische PastorInnen beteiligten. Mit dem Ziel, den Glauben und die KatholikInnen gegen den schädlichen Einfluss zu verteidigen sowie „dem Spiritismus die Maske des Christentums zu entreißen“650, werden Empfehlungen und praktische Handlungsanweisungen ausgesprochen. Die Federführung obliegt weitgehend dem Franziskaner Boaventura Kloppenburg, dem wohl (literarisch) aktivsten katholischen Theologen auf dem Gebiet der interreligiösen Auseinandersetzung in Brasilien. Er schätzt in den 50er Jahren, dass ca. 80% der KatholikInnen nicht von der Kirche und ihren MitarbeiterInnen erreicht werden, zwar getauft sind, aber nicht – und auch nicht einmal spontan – die Gottesdienste besuchen und die Eucharistie empfangen. Unter diesen einfachen Menschen fand „der Spiritismus ein offenes Feld und ein freigelegtes Gebiet [...], um die Nekromantie zu verbreiten und jede Art von Häresie und Aberglauben auszustreuen“651. Gleiches gilt für die Umbanda, die die aufrichtigen, gutgläubigen und frommen KatholikInnen verführt. Um diese katholischen Gläubigen weiterhin in ihrem Verhalten umfassend zu beraten und zu steuern, stellt Kloppenburg zwölf ’Normen für eine katholische Haltung angesichts der Umbanda‘ auf, die sowohl 1961 als Kapitel seines Werks „A Umbanda no Brasil“ als auch als eigenständige Publikation erscheinen, „damit 652 sie weitläufig unter dem Volk verbreitet werden“ . Demnach sieht das korrekte katholische Verhalten vor, den UmbandistInnen (1) mit christlichem Respekt und 650 Conferência Nacional dos Bispos do Brasil (CNBB): Campanha Nacional contra a Heresia Espírita, in: REB 13/3, 1953, S. 764–766, hier S. 766. 651 Kloppenburg, B.: Nossa atitude pastoral perante o Espiritismo, in: REB 17, 1957, S. 1–2, hier S. 2. 652 Kloppenburg, B.: A Umbanda no Brasil, S. 219. Hieraus (S. 219–226) auch die nachfolgende Aufzählung.

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kluger Zurückhaltung zu begegnen. Da jeder Kontakt die Gefahr in sich birgt, gleichsam angesteckt und abgeworben zu werden, ist er möglichst zu vermeiden – umso mehr da der Umgang freundschaftlicher oder intimer Art potenziell zu einer Ehe zwischen KatholikIn und UmbandistIn führen kann. Außerdem ist die umbandistische Lehre (2) von dem/r KatholikIn rundweg zu verdammen und deren Ausübung (3) entschieden zurückzuweisen, weil zahlreiche der dort geübten Praktiken von Gott verboten wurden. Wer Gott liebt, darf solches einfach nicht ausführen. An umbandistischen Sessões (4) soll der/die KatholikIn keinesfalls teilnehmen, da dies „eine schwere Sünde des Ungehorsams gegenüber dem Schöpfer“653 wäre. Ebenso sündig und Grund zur Exkommunikation ist es, umbandistische Bücher (5) zu lesen, aufzubewahren, zu verkaufen oder für sie zu werben, anstatt sie kompromisslos zu missbilligen. Absolute Zurückhaltung soll zudem gegenüber Krankheitsdiagnosen (6) geübt werden, die auf Weissagungen oder Mitteilungen von Geistern zurückgehen. Eine solche Praxis wird bereits in der Bibel verurteilt (vgl. Dtn 18,10–12). Entsprechend verhält es sich mit den umbandistischen Behandlungen (7) wie Bädern, Passes, Opfergaben o.ä. Die Verehrung von Orixás und anderen Espíritos (8) ist darüber hinaus aufs Schärfste zu verdammen ebenso wie ihre Liierung mit christlichen Personen. „Der Katholik wird immer gegen die heimtückische Identifikation der Engel und Heiligen mit den heidnischen Göttern protestieren.“654 Noch schwerer wiegt die Verehrung von Exu (9), der mit dem Teufel identisch zu sein scheint und für den man keinesfalls auch nur eine Kerze anzünden darf, um nicht in den Ruch der Dämonolatrie zu kommen. Auf Opfergaben (10), die z.B. an Straßenkreuzungen niedergelegt werden, sollen die KatholikInnen in gleicher Weise mit überlegener Verachtung reagieren wie auf sonstige Zaubereien oder Verwünschungen. Steht man gut und freundschaftlich mit Gott, hat man nichts zu fürchten. Magische und durch den umbandistischen Aberglauben aufgewertete Gegenstände (11) wie Amulette, Statuetten oder Pflanzen sind ohne Wirksamkeit im Kampf gegen das Böse und sollen nicht einmal zum Zweck der Dekoration benutzt werden. Insgesamt stehen sich Umbanda und Christentum (12) diametral gegenüber und schließen einander aus. Wenn ein/e KatholikIn der Umbanda anhängt, verliert er/sie die Zugehörigkeit zur Kirche, wird exkommuniziert und ist ein/e HäretikerIn. Beiden Religionen kann man sich – aus katholischer Sicht – nicht zugleich verbunden fühlen.

653 Ebd., S. 221. Auch die Teilnahme an einer Kultsitzung „nur um zu sehen“ (ebd.) verurteilt Kloppenburg. Dass er selbst aber Terreiros und Sessões besucht hat (vgl. Kloppenburg, B.: Nossa atitude pastoral, S. 2), erwähnt er in diesem Zusammenhang nicht, obwohl es ein Leichtes wäre, sein (abweichendes) Verhalten mit der wissenschaftlichen und seelsorgerlichen Notwendigkeit zu begründen. 654 Kloppenburg, B.: A Umbanda no Brasil, S. 222. Die Identifikation von Exu mit dem Teufel erscheint hingegen durchaus zulässig.

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Mit den Beschlüssen des 2. Vatikanischen Konzils änderte sich die Haltung der römisch-katholischen Kirche jedoch grundlegend. Nach jahrhundertelanger Ablehnung, Verurteilung und Polemik werden die Kulturen und Religionen anderer Völker nun wohlwollender als Trägerinnen neu zu entdeckender Werte betrachtet. Nach der bisherigen Frontstellung und Isolation zeichnen sich eine gewisse Annäherung und sogar eine Bereitschaft zu Dialog und Austausch ab. Zwar orientieren sich die neuen Regelungen an nicht-christlichen Religionen im Allgemeinen, doch schließt das auch die brasilianische Umbanda ein. In ihr ist ebenso wie in jenen „eine Art von verborgener Gegenwart Gottes“ (Ad gentes 9) vorhanden. „Die katholische Kirche lehnt [daher] nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist“ (Nostra aetate 2). Mit dem Zugeständnis ob der Existenz von Wahrem und Heiligem in nicht-christlichem Umfeld geht demnach die Identifizierung als von Gott eingepflanzt einher. Woher sonst sollte solch Positives auch herrühren? In einem zweiten, nunmehr missionarischen Schritt will die katholische Kirche „jene geistlichen und sittlichen Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern“ (Nostra aetate 2). Die „Anlagen, Fähigkeiten und Sitten der Völker, soweit sie gut sind“ (Lumen gentium 13), sollen z.B. in die Liturgie übernommen werden. Im Zuge der Inkulturation kann das Evangelium Christi, verpackt in die Sprache und Ausdrucksformen des jeweiligen Volkes, diesem näher gebracht werden. Ein fehlerhaftes und unumsichtiges Vorgehen wie während der Indio- und Afrikanermission im kolonialen Brasilien sei dadurch ausgeschlossen. Statt der isolierten Indoktrination soll eine „angepaßte Verkündigung des geoffenbarten Wortes [...] und zugleich der lebhafte Austausch zwischen der Kirche und den verschiedenen nationalen Kulturen“ (Gaudium et spes 44) erfolgen und gefördert werden. Das Ziel dieser neuen Form der Evangelisation besteht darin, dass „aller Same des Guten, der sich in Herz und Geist der Menschen oder in den eigenen Riten und Kulturen der Völker findet, nicht nur nicht untergehe, sondern geheilt, erhoben und vollendet werde“ (Lumen gentium 17 // Ad gentes 9). Eine derartige Anerkennung und Wertschätzung, wie die Dokumente des Konzils seit 1964/65 festlegen, bewirkte auch bei Kloppenburg einen grundlegenden Sinneswandel. Anstatt die Propagierung von Abwehr- und Strafmaßnahmen fortzusetzen, stellt er sich der Aufgabe, „mit Freude und Ehrfurcht [...] die Saatkörner des Wortes auf[zu]spüren“ (Ad gentes 11). Daher formuliert er 1968 die neuen missionarischen Prinzipien speziell in Hinblick auf die Umbanda: „Wir müssen versuchen, positiv zu bewerten [...]. Wir müssen mit Freude und Respekt entdecken [...]. Wir müssen respektieren, fördern, emporheben und in Christus vollenden.“655 Hierzu orientiert er sich an der Botschaft Pauls VI „Africae Terrarum“ (1967) in der irrigen Annahme, die Umbanda sei ein Stück Afrikas in Brasilien. 655 Kloppenburg, B.: Ensaio de uma Nova Posição, S. 409 ff.

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Die historischen Hintergründe des Landes und der Religion übersieht der Franziskaner. Eine konkrete Anwendung, die über den bloßen Appell hinausgeht, erfolgt zudem nicht. Insofern benennt Kloppenburg nicht, was genau an der Umbanda für gut zu befinden ist. Dazu solle eine Einrichtung geschaffen werden, „die 656 es systematisch übernimmt, unseren schwarzen Menschen zu studieren“ , um ihn sodann leichter zu evangelisieren. Neben diesem Lösungsweg verweist Kloppenburg immerhin auf Probleme, die sich aus umbandistischen Riten und Bräuchen ergeben, wie z.B. die Anrufung von Geistern. Die Problematik ergibt sich daraus, dass magische Kulthandlungen für die afro-brasilianische Religion wesensbestimmend sind, von der Kirche hingegen keineswegs positiv beurteilt werden können. Eine Lösung dieses Widerspruchs vermag Kloppenburg nicht anzubieten. Dadurch, dass er den Vorgaben des Konzils nur zögerlich nachkommt, behält er seine Kritik und Skepsis gegenüber der Umbanda bei, gibt aber (zumindest vordergründig und vorübergehend) die offensive Kampfeshaltung auf. Auch auf Ebene der Nationalen Bischofskonferenz Brasiliens (CNBB) werden Überlegungen angestellt, wie den afro-brasilianischen Kulten seit dem 2. Vatikanischen Konzil zu begegnen ist. Dementsprechend veröffentlicht sie 1972 die Beobachtungen und Empfehlungen verschiedener Theologen, die sich an Priester und LaiInnen gleichermaßen wenden. Für diese sind sie als orientierende Meinungsbildung gedacht, für jene als eine Art Handlungsanleitung mit der zweifachen Zielstellung: die eigenen AnhängerInnen nicht an die afro-brasilianischen Kulte verlieren und neue aus deren Reihen gewinnen. In diesem Sinne befürwortet der Bischof Adriano Hypólito eine Revision der katholischen Vorgehensweise, denn „der Fehler liegt nicht in der Botschaft, sondern in der Kommunikation. Es gibt irgendeine irrige Sache in dem Instrumentarium, das wir benutzen.“657 Diesem Tenor gemäß listet der Dominikaner Raimundo Cintra mehrere Faktoren und Wirkungsbereiche auf, in denen afro-brasilianische Kulte der Kirche über658 legen sind und somit anziehend auf viele BrasilianerInnen wirken : ähnliches Niveau zwischen Klientel und KultleiterInnen, gleicher Soziolekt, geduldige Aufnahme, Gesang, Tanz sowie Einbeziehung der Anwesenden in das kultische Geschehen. Damit scheinen sie den Geschmack des Volkes zu treffen, so dass es aus

656 Ebd., S. 416. Dass jene Einrichtung den Blickwinkel der Weißen einnimmt, die die Schwarzen und ihre Lebenssituation etc. als Studienobjekte betrachtet, scheint durch die Argumentation Kloppenburgs durch, indem er von verschiedenen Annahmen ausgeht, die die Weißen und Schwarzen unterscheiden. Wie präsent die Rassentrennung Ende der 60er Jahre in Brasilien und vermutlich umso deutlicher innerhalb der Institution Kirche ist, scheint hier ebenfalls durch. 657 Hypólito, A.: Prefácio (zur 1. Aufl.), in: Conferência Nacional dos Bispos do Brasil (CNBB), Leste I: Macumba. cultos afro-brasileiros. candomblé, umbanda, observações pastorais, 2., überarb. u. erw. Aufl., São Paulo 1976, S. 7–8, hier S. 7. 658 Vgl. Cintra, R.d.A.: Subsídios para uma pastoral dos cultos afro-brasileiros, in: Conferência Nacional dos Bispos do Brasil (CNBB), Leste I: Macumba. cultos afro-brasileiros. candomblé, umbanda, observações pastorais, 2., überarb. u. erw. Aufl., São Paulo 1976, S. 94–109, hier S. 105 f.

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der Kirche heraus- und in die Terreiros hineingeht. Denn im Gegensatz zu den Sessões sind die Gottesdienste steif, frontal sowie meist einseitig. Die Priester geben sich zu distanziert und zu intellektuell. Das Erfolgsrezept wäre demnach, „dass wir für eine Anpassung unserer Liturgie, unserer Gesänge, unserer Rede659 kunst an die Mentalität und die Erfordernisse der Volksmassen arbeiten“ . In dieser Feststellung gleichen sich CNBB und IECLB ebenso wie in der Bereitschaft zur Selbstkritik. Bei der Suche nach weiteren positiven Aspekten, die die gestalterische Oberfläche verlassen und zu den Inhalten vordringen, gehen beide Kirchen jedoch unterschiedliche Wege. Die lutherischen TheologInnen entdecken die soziale Leistung jener Kulte für die BrasilianerInnen sowie ihre Bejahung der Ganzheitlichkeit als lernenswerte Merkmale. Die KatholikInnen wiederum, so 1982 der equadorianische Bischof Enrique Bertolucci, setzen bei den AfrikanerInnen an, bescheinigen ihnen eine positive Lebenseinstellung, Würde und Freiheitsdrang, Gemeinschaftssinn sowie eine tiefe Bindung zu Gott, und übertragen diese Qualitäten auf die AnhängerInnen der afro-amerikanischen Religionen.660 Hierin erschöpft sich zumeist die vom Konzil in Auftrag gegebene Suche nach dem Wahren, Guten und Heiligen in jenen Denominationen. Dank der neuen, toleranteren Position Roms gegenüber nicht-christlichen Religionen entschärft sich auch die Haltung der brasilianischen Priester gegenüber denjenigen KatholikInnen, die die afro-brasilianischen Kulte frequentieren. Wer sie nur gelegentlich und aus punktuellem Anlass aufsucht, soll aufgeklärt und aufgerüttelt werden, um davon abzukommen. Wer hingegen regelmäßig und über einen langen Zeitraum hinweg an Sessões teilnimmt, da er/sie gutgläubig oder unwissend ist, soll mittels geduldigen Dialogs auf den richtigen Weg zurückgeführt werden. Nach Raimundo Cintra wären hierzu „die Exkommunikation, der Tadel der Häresie und die Entlassung [...] keine angebrachten Maßnahmen“661. Wie jedoch mit denjenigen zu verfahren ist, die an ihrer doppelten Religionszugehörigkeit festhalten, bleibt ungeklärt. Der anvisierte interreligiöse Dialog scheint sich demnach nur auf die katholischen Sessão-TeilnehmerInnen zu beschränken, bei denen die Missionierung bzw. Re-Evangelisation aussichtsreich erscheint. Ein tatsächlicher, personeller Kontakt auf Ebene der Gottesdienst- und KultleiterInnen ist für die katholische Kirche nicht relevant. Insofern bleibt auf diesem Gebiet die Umsetzung des Wunsches nach „Gespräch und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen“ (Nostra aetate 2) hinter den anderen Zielsetzungen zurück.

659 Ebd., S. 108. 660 Vgl. Bartolucci, E.: Orientações pastorais para o trabalho com grupos afro-americanos, in: Conselho Episcopal Latino-Americano (CELAM): Os grupos afro-americanos. Análises e pastoral, São Paulo 1982, S. 253–288, hier S. 270–275. 661 Cintra, R.d.A.: Cultos afro-brasileiros. Desafio para a Pastoral da Igreja católica no Brasil, in: Conselho Episcopal Latino-Americano (CELAM): Os grupos afro-americanos. Análises e pastoral, São Paulo 1982, S. 213–252, hier S. 244.

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Trotz aller gradueller Annäherung und Wertschätzung wird nicht vergessen, die Minderwertigkeit und Schädlichkeit der afro-brasilianischen Religionen zu benennen. So stellt auch der Jesuit Valdeli Costa in der Schrift der CNBB, noch 662 bevor er auf den Umgang mit „Katholiken-Umbandisten“ eingeht, seine Ansicht über die Umbanda und ihre Praktiken klar: „Die Trance ist etwas Gefährliches [...], sie ist ein Schritt in Richtung Wahnsinn. [...] Die Umbanda, die eine kosmi663 sche Religion ist, ist Heidentum.“ Mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum 2. Vatikanischen Konzil verschärft sich die Front wieder, so dass sich ein erneuter Wandel in der Haltung der katholischen TheologInnen Brasiliens ergibt: die Rückkehr zur vorkonziliarischen Position. Auch Boaventura Kloppenburg vollzieht 1986 die Kehrtwende, nach der es zu keinem Dialog kommen sollte, weil sich die katholische Kirche einem steigenden Konkurrenzdruck innerhalb der religiösen Landschaft ausgesetzt sieht. „Die Situation der aggressiven, sektiererischen Proselytenmacherei zwingt uns heute, auf das apologetische und verteidigende Verfahren zurückzugreifen.“664 Auf diese Weise werden auch die alten Schriften wie „O Espiritismo no Brasil“, die erstmals 1960 erschien, in einer Neuauflage und mit weitgehend gleichem Inhalt erneut veröffentlicht. Die Ablehnung und Polemik setzt sich also nach einer vorübergehenden Unterbrechung durch die Beschlüsse des Konzils fort. Im Vorwort der Religionskunde „Religião e Religiões“ gibt der Eucharistiner Fernando dos Reis de Melo 1997 zwar noch den Duktus des Konzils wieder und signalisiert die Bereitschaft zum Dialog. Unmittelbar danach aber führt er die Existenz antikatholischer Sekten an und verweist auf die religiöse Abwanderung von tausenden von Gläubigen.665 Mit seiner im Frage-und-Antwort-Stil gestalteten Schrift verfolgt er nach eigenen Angaben keineswegs das Ziel, den Dialog abzubrechen oder Polemik zu verbreiten, sondern beabsichtigt einzig und allein, Informationen darzureichen, damit die KatholikInnen „ihren Glauben verteidigen gegen die erdrückende Flut so vieler 666 falscher Propheten“ . Unter dieser Prämisse betrachtet Melo auch die Umbanda, sieht sie außerhalb der christlichen Lehre, widerlegt ihre Inhalte mithilfe der Bibel und entlarvt ihre Praktiken als unerlaubt. Als Fazit seiner Ausführungen beurteilt er die Umbanda mit einem Zitat des Monsignore Vincent Walsh als „eine falsche 667 Religion [...], die wir ablehnen müssen“ . Die Mühe, in der Umbanda nach den im Vorwort angesprochenen heiligen und wahren Elementen (vgl. Lumen genti662 Costa, V.C.d.: Algumas observações doutrinárias e pastorais, in: Conferência Nacional dos Bispos do Brasil (CNBB), Leste I: Macumba. cultos afro-brasileiros. candomblé, umbanda, observações pastorais, 2., überarb. u. erw. Aufl., São Paulo 1976, S. 81–83, hier S. 83. 663 Ebd., S. 82. 664 Kloppenburg, B.: O Espiritismo no Brasil. Orientação para os católicos, 2. Aufl., São Paulo 1986, S. 10. 665 Vgl. Melo, F.d.R.d.: Religião e Religiões. Perguntas que muita gente faz, Aparecida 1997, S. 7. 666 Ebd., S. 8. 667 Ebd., S. 134.

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um) zu suchen, macht sich Melo nicht. Vielmehr trägt er unermüdlich negative Aspekte zusammen. Mit der Vorlage dieser angeblich nicht-polemischen Aussagen halte ich es für äußerst schwierig, einen Dialog mit der Umbanda zu gestalten. Angesichts des zweifachen Umdenkens auf der Ebene der publizierenden KatholikInnen bleibt offen, ob die Basis der kirchlichen Hierarchie in gleicher Weise verfährt, ob also die Vorgaben und Empfehlungen des CNBB auch bei den einfachen Gemeindepriestern ankommen und umgesetzt werden. Die afro-brasilianischen Religionen als Häresien abzulehnen und eine feindliche Distanz zu wahren, dürfte der leichtere Weg sein. Aufwändiger hingegen sind die Beschäftigung mit den Kulten und ihren örtlichen LeiterInnen sowie die individuelle Auseinandersetzung mit den eigenen Gläubigen, die zugleich solchen Religionen in unterschiedlichem Grad anhängen. Zumindest personelle und zeitliche Gründe stehen dieser Variante entgegen. Wenn also die offizielle römische Weisung die verurteilende Haltung ablehnt und eine Hinwendung zu jenen Kulten fordert, deren Realisierung aber unabsehbare Mühen nach sich zieht, so liegt eine Mittelposition zwischen beiden Extremen näher. Anstatt zu polemisieren und anstatt zu kommunizieren, macht man einfach gar nichts. Zu beobachten, aber nicht einzugreifen, wahrzunehmen, aber zu schweigen, sind m.E. Folgen der schwankenden Haltung der Kirche einerseits und andererseits der Erfolglosigkeit des einen wie des anderen Verhaltens. Der prozentuale Anteil der KatholikInnen an der Gesamtbevölkerung Brasiliens geht zusehends zurück, und dadurch rückt das Ziel, die religiöse Abwanderung der Gläubigen zu alternativen Religionen aufzuhalten, in immer weitere Ferne. Die Befürchtung, in einer leeren Kirche zu stehen, wenn man diejenigen verurteilt und exkommuniziert, die an Sessões teilnehmen, ist bei vielen Priestern verbreitet. Und besonders an Feiertagen von Heiligen, die mit Orixás liiert werden, wäre ein solches Szenario nicht ausgeschlossen. Würde z.B. der Priester einer nach dem Heiligen Georg benannten Kirche den GottesdienstbesucherInnen am 23.4. verbieten, die Pflanze ’Lanze von Ogum‘ mitzubringen, so blieben diese wahrscheinlich aus. Will der Priester die Abkehr der Gläubigen von der Kirche vermeiden, bleibt ihm nur die Resignation angesichts der faktisch vorhandenen doppelten Religionszugehörigkeit und der magie-freundlichen Volksfrömmigkeit.668 Vor dem Zwiespalt, der häufig ins beinahe hilflose Ignorieren mündet, 668 Wie wenig sich die römisch-katholische Kirche gegen Traditionen des brasilianischen Volkes durchsetzen kann, zeigt das Fest der Waschung von (der Kirche des) Nosso Senhor do Bonfim in Salvador. Das kirchliche Fest am 2. Sonntag nach Epiphanias gelangte schnell zu Popularität und folkloristischer Ausgestaltung, nämlich der Kirchwaschung, worin die Kirche „eine Bedrohung der Religion, möglicherweise Überreste von heidnischen Kulten“ erblickte (Sansi, R.: De Imagens Religiosas a Ícones Culturais: reflexões sobre as transformações históricas de algumas festas públicas na Bahia, in: Birman, P. (org.): Religião e espaço publico, São Paulo 2003, S. 149– 168, hier S. 153). Das vom Bischof angeregte und 1889 durchgesetzte Verbot bewirkte aber nicht die Beendigung des Rituals, sondern lediglich seine Umsiedelung auf den Kirchplatz, wobei das Gotteshaus selbst verschlossen war. Das Heilige wurde somit vom Profanen getrennt. Da die

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stehen die katholischen TheologInnen Brasiliens jedoch nicht allein, sondern 669 teilen das Dilemma mit zahlreichen lutherischen PfarrerInnen. 6.1.3 Strikte Ablehnung – Der Kampf der IURD Das Verhalten der evangelisch-lutherischen und der römisch-katholischen Kirche gegenüber der Umbanda weist weitgehende Parallelen auf. Aus der ablehnenden Haltung, die den Kontakt zum als gefährlich und häretisch eingestuften Kult vermied, erwuchs eine Hinwendung unter der Prämisse, dass auch in dieser Religion Gutes enthalten ist und Gott in ihr wirken kann. Man ging sogar so weit, von der Umbanda lernen zu wollen, was immerhin im Bereich der Liturgie durchführbar erschien. Inwiefern jedoch solche Vorhaben, die bis zur Ebene der Ortsgemeinde vordringen sollten, dort auch realisiert wurden und die Abwanderung der Gläubigen stoppten, ist fraglich. Auf offizieller Ebene veränderte die katholische Kirche ihre Einstellung erneut und fiel in die alte Polemik zurück, während die LutheranerInnen sich weiterhin den interreligiösen Dialog wünschen. Im Gegensatz zur schwankenden Haltung der christlichen Schwesterkonfessionen bezieht die IURD eine klare Position, nämlich die der strikten Ablehnung. Entsprechend ihrer Praxis, die umbandistischen Geister als Dämonen zu deuten, liegt es nahe, eine mit dem Teufel im Bunde stehende Religion gänzlich zu verurteilen und um der Sache Gottes willen zu bekämpfen. Gleiches gilt für die übrigen afro-brasilianischen Religionen, da sie sich auf dieselben afrikanischen Gottheiten beziehen. Von ihnen hebt sich aber die Umbanda, vermutlich aufgrund ihrer Anziehungskraft auf die BrasilianerInnen, gleichsam als Lieblingsfeindin der IURD ab. Gegen sie richtet sich vornehmlich und unermüdlich die Abneigung der NeopentekostalistInnen. Zudem weitet die IURD ihr Konfliktfeld innerhalb der kirchlichen Würdenträger aber erkannten, dass das Fest sich nicht mehr abschaffen ließ, lenkten sie es in neue Bahnen, indem sie einen Umzug initiierten. Doch auch dieser wurde von folkloristischen und politischen Elementen überlagert (so z.B. der zur Touristenattraktion avancierte Umzug der Bahianerinnen in traditionellen Gewändern und mit Waschzubern ausgerüstet), so dass die Kirche das Fest 1949 erneut verbot und einen Eisenzaun um den Platz errichtete. Dank des öffentlichen Interesses jedoch verlagerte sich das Fest erneut und wurde zu einer symbolischen Waschung. Ab diesem Zeitpunkt garantiert die ’Föderation der afro-bahianischen Kulte‘, „dass die ‚Bahianerinnen ehrbare Mitglieder des Candomblé und auch Anhängerinnen [des Herrn] von Bonfim sind“ (ebd., S. 156). Wegen der Liberalisierung der Einstellung gegenüber folkloristischen Festivitäten änderte die Kirche ihre Blockadehaltung, öffnete 1976 den Zaun und ermöglichte den Zugang (nur) zum Platz. Aufgrund der langzeitigen und wiederholten Sperrung aber hatte das Fest seinen religiösen Charakter und den Bezug zur katholischen Frömmigkeit verloren. 669 Der Pfarrer und Religionswissenschaftler Oneide Bobsin schildert beispielsweise den Fall einer Frau, die Erscheinungen ihres verstorbenen Mannes sah und dies beenden wollte. Um Ruhe vor ihm zu finden, konsultierte sie nicht den Gemeindepfarrer, sondern Medien eines umbandistischen oder spiritistischen Terreiro; vgl. Bobsin, O.: O subterrâneo religioso da vida eclesial. Intuições a partir das ciências da religião, in: Estudos Teológicos 37/3, 1997, S. 261–280, hier S. 268 ff.

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religiösen Landschaft auf die katholische Kirche aus, da auch sie mit Dämonen Umgang pflegt und sie gutheißt. Aus der Sicht der IURD sind „die Figuren der 670 Heiligen und Mariä [...] assoziiert mit der Idolatrie“ . Die vom Vatikan durchaus formulierte Differenzierung von Verehrung und Anbetung der Heiligen wird von der IURD missachtet, zumal auch viele brasilianische KatholikInnen sie übersehen. Doch auch den Spiritismus und New Age trifft die Verachtung der neopentekostalen Kirche. Mit ihrer ablehnenden, dämonisierenden Einstellung begegnet sie allerdings nicht ausschließlich Religionen, sondern zielt auch auf Produkte (wie 671 Kekse und Mayonnaise) einiger Firmen. Zum Repertoire des Kampfes gegen konkurrierende Religionen gehören neben der permanenten Predigt und dem kontinuierlichen Exorzismus in den Versammlungen auch spezifische Maßnahmen an besonderen Tagen. Dazu zählt z.B. der 27.9., der Festtag der Heiligen Kosmas und Damian, der u.a. von KatholikInnen, CandomblistInnen und UmbandistInnen begangen wird. Diesen begeht trotz der abwehrenden Haltung gegenüber solchen Feiertagen auch die IURD, jedoch unter Verkehrung der Vorzeichen. Aufgrund der Liierung der heiligen Brüder mit den afrikanischen Zwillingen, die in den umbandistischen Sessões als Kinder-Geister erscheinen, wendet sich die IURD am 27.9. speziell an die Kinder, um sie zu schützen. Die PastorInnen fordern die Gläubigen auf, ihre Kinder und EnkelInnen in den Tempel zu bringen, wo sie Bonbons und Süßigkeiten erhalten, damit weder andere Kultstätten aufgesucht noch die dort verteilten Speisen gegessen werden. Das Angebot soll einerseits einen größeren Anreiz bieten als die übrigen Religionen und zielt zum anderen darauf ab, „die Verunreinigung mit einem Dämon zu vermeiden“672. Die Tradition der katholischen Kirche dürfte nur in geringem Maße als Vorlage zur Gestaltung des Feiertages gedient haben, da die Heiligen Kosmas und Damian zwar auch als Patrone der Zuckerbäcker gelten, ihnen jedoch vorrangig das Patronat über ÄrztInnen, ApothekerInnen und FriseurInnen zugeschrieben wird. Immerhin verweist aber die iberische Volksfrömmigkeit auf eine Verbindung zu den Kindern, indem sie beide Heilige als Beschützer der Waisenhäuser und Kinderkrippen ansieht. Als Grundlage für die Entlehnung greift die IURD auf die Riten der afro-brasilianischen Kulte zurück, bei denen an diesem Tag tatsächlich die Kinder im Mittelpunkt stehen. Den Festtag jener Kulte nutzt die Pfingstkirche folglich für ihre eigenen Zwecke, die sie wiederum gegen die Kulte selbst richtet. Mit welcher Vehemenz und Aggressivität Mitglieder der IURD ihre Verachtung missliebiger Religionen ausdrücken können, zeigt das Beispiel des ’Chute na Santa‘ (’Fußtritt gegen die Heilige‘) am 12.10.1995, dem Festtag von Nossa Senhora Aparecida, der Patronin Brasiliens, der zugleich nationaler Feiertag ist. In einer 670 Giumbelli, E.: O „Chute na Santa“: blasfêmia e pluralismo religioso no Brasil, in: Birman, P. (org.): Religião e espaço publico, São Paulo 2003, S. 169–199, hier S. 188. 671 Vgl. Mariz, C.L.: O demônio, S. 252. 672 Almeida, R.d.: A guerra das possessões, S. 326.

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Fernsehsendung prangert der IURD-Bischof Sérgio Von Helde die Unwirksamkeit der Heiligen an, beschimpft die Figur als hässlich und malträtiert sie mit Händen und Füßen. In den folgenden Tagen wird die Szene unzählige Male im Fernsehen wiederholt (bevorzugt von den Sendern, die mit dem IURD-Sender konkurrieren), und die Presse konstatiert, „dass wir in Brasilien, dem Land der ‚religiösen Tole673 ranz‘, einen ‚heiligen Krieg‘ erleben würden“ . KirchenvertreterInnen, säkulare Medien und auch der Präsident reagieren empört auf den Vorfall, der sogar zu Brandstiftung in Tempeln, Steinwürfen und Bombendrohungen verleitet. Nach der anfänglich defensiven Reaktion der IURD-Leitung geht sie ihrerseits zum Angriff über, indem sie sich als unschuldiges und verleumdetes Opfer einer religiösen Verfolgungskampagne darstellt. Denn alle KritikerInnen stehen grundsätzlich im Dienst des Teufels. Von Helde wird 1997 wegen der Verachtung kultischer Gegenstände und der Anregung religiöser Vorurteile zu einer mehrjährigen Gefängnishaft verurteilt. Obwohl sich in diesem Konflikt – abgesehen von der Rolle der Medien – die katholische Heilige Nossa Senhora Aparecida und die IURD als Kontrahentinnen gegenüber stehen, ist fraglich, wer von beiden als Verliererin hervorgeht. Der Anthropologe Emerson Giumbelli hält weder die eine noch die andere für diejenige, die den größeren Schaden genommen hat, sondern schätzt beide vielmehr als Gewinnerinnen ein. Während der Heiligen eine intensivierte und deutlichere Hingabe durch die Gläubigen zuteil wird, hat sich die Pfingstkirche die Aufmerksamkeit der Medien und der Politik gesichert sowie einen festen Platz im öffentlichen Umfeld erobert. Als die eigentlichen Verliererinnen identifiziert Giumbelli stattdessen die afro-brasilianischen Kulte. Von Seiten der IURD werden ihre religiösen Elemente dämonisiert und zu Feinden stilisiert; von Seiten der katholischen Kirche wird die dunkle Hautfarbe der Heiligen instrumentalisiert und somit das afrikanische Moment aufgesogen. Den afro-brasilianischen Religionen verbleibt eine Mittelstellung, die mit geringerer Präsenz und Sichtbarkeit im öffentlichen Raum einhergeht.674 Den religiösen Kampf gegen die Umbanda baut die IURD in entscheidender Weise auf den Fundamenten der Gegnerin auf. Die Espíritos des höheren astralen Raums werden von den NeopentekostalistInnen in ihrer prinzipiellen Wirksamkeit keineswegs in Frage gestellt, aber durch ihre Identifizierung als Dämonen und Anhänger des Teufels disqualifiziert. Die IURD vertreibt mit exorzistischen Riten diese Dämonen und feiert sich dabei als Siegerin. Die Schadhaftigkeit der Espíritos wird als Argument gegen die Umbanda ins Feld geführt und durch deren Überwindung eindrücklich bewiesen. Zu den übernommenen und verzerrten Mechanismen sind zudem die Trance zu zählen und die von den Geistern (v.a. Exu und Pomba Gira) ausgelebten Rollen. Während sie sich in der konsultatorischen Inkorporation im Terreiro stolz, schlitzohrig und übermütig gebärden, ver-

673 Giumbelli, E.: O „Chute na Santa“, S. 170. 674 Vgl. ebd., S. 193 f.

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halten sie sich in der exorzistischen Manifestation im Tempel demütig, ehrlich und unterwürfig. In ihrem Vorgehen stützt sich die neopentekostale Kirche demnach auf eine Methode, „in der die verschiedensten Glauben[srichtungen] durch die Falschheit ihres ursprünglichen Inhalts negiert und zur gleichen Zeit teilweise 675 in ihren Auftretens- und Funktionsformen angeglichen werden können“ . Insofern stellt sich die brasilianische IURD in ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis zur Umbanda, das sich mit der strikten Ablehnung verbindet. Würde die Pfingstkirche ihre Haltung ändern und den afro-brasilianischen Religionen gesprächsbereit, ignorierend oder neutral begegnen, würde sie sich ihrer eigenen theologischen und rituellen Grundlage berauben. Den Kampf einzustellen, wäre wohl gleichbedeutend mit dem Ende der IURD.

6.2 Die Begegnung mit dem Heiligen als Grund für die Anziehungskraft der Umbanda 6.2.1 Wechselseitiger Kontakt mit dem Heiligen? Die von Friedrich Heiler beinahe enzyklopädisch zusammengetragenen und mit zahlreichen Beispielen dargelegten Phänomene gehören zum festen Inventar vermutlich aller Religionen. Ohne heilige Handlungen, Worte und Schriften, ohne heilige Gegenstände, Orte, Zeiten, Zahlen, Menschen und Gemeinschaften, und seien sie noch so rudimentär erhalten oder selten gebraucht, könnte eine Religion wohl weder existieren noch vollzogen werden. Selbst puritanische Gemeinschaften, die z.B. heilige Kleider oder Götterbilder ablehnen, verzichten doch nicht auf Predigten (als heilige Worte von Gott) oder Gotteshäuser. Hinsichtlich des prinzipiellen Vorkommens solcher religiöser Erscheinungsformen besteht auch zwischen der afro-brasilianischen Umbanda und den hier betrachteten christlichen Kirchen eine strukturelle Gemeinsamkeit. In jeder dieser vier Denominationen sind jene sechs Formen der Manifestation des Heiligen vertreten, wenn auch in z.T. stark variierender Ausgestaltung und Gewichtung. Eine auffällige Analogie lässt sich beispielsweise in der Unterteilung des heiligen Ortes (Terreiro, Kirche, Tempel) in einen äußeren und inneren Bereich beobachten sowie in der als eine Familie (Mãe-/Pai-de-santo und Filhos/as-desanto bzw. Brüder und Schwestern z.T. mit Vater) organisierten heiligen Gemeinschaft. Gemeinsamkeiten bestehen zwar auch darin, dass heilige Menschen zu jenem Inventar zählen, jedoch variieren die Konzepte der jeweiligen Personengruppen und v.a. der PriesterInnen. Ihre Funktionen begründen den deutlichsten Unterschied zwischen den umbandistischen und christlichen Manifestationen. 675 Almeida, R.d.: A guerra das possessões, S. 341. Almeida nennt dieses Vorgehen auch „eine Anthropophagie des feindlichen Glaubens“ (ebd.).

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Dies lässt sich exemplarisch und eindrücklich anhand eines Vergleichs der (hierarchischen) Abstufungen aufzeigen, die innerhalb einer Religionsgemeinschaft zwischen den PriesterInnen und den AnhängerInnen bestehen. Hier seien als Vergleichsreligionen zur Umbanda erneut die beiden traditionellen christlichen Kirchen sowie die neopentekostale herangezogen. Die Mitglieder dieser Gemeinschaften differenziere ich, sofern dies relevant ist, in zwei Parteien: die große Masse der ’normalen‘ Gläubigen und die herausragenden Einzelgestalten der 676 ’besonderen‘ Gläubigen. Als Ausgangspunkt der Gegenüberstellung dienen die Fragen nach dem Grad der Heiligkeit, dem Umgang mit dem und der Nähe zum Heiligen. Sind die AnhängerInnen ebenso heilig wie die PriesterInnen, oder sind diese heiliger als jene? Gibt es innerhalb der Gruppe der Gläubigen welche, die heiliger sind als andere? Wie eng ist der Umgang zwischen PriesterIn und Heiligem und wie nah kommt durch dessen/deren Vermittlung das Heilige dem/r AnhängerIn? Die evangelisch-lutherische Kirche lehnt eine graduelle Unterscheidung der Gläubigen ab, so dass z.B. alle GottesdienstteilnehmerInnen auf der gleichen Stufe stehen. Sie bilden eine Gemeinschaft der Heiligen, gestiftet und getragen vom Geist Gottes, in der keine Überordnung von ’besonderen‘ über ’normalen‘ ChristInnen aufgrund von Heiligkeit existiert (s. 5.2.1). Ebenso wenig erhebt sich der/die PfarrerIn als eine heiligere Person über die Gemeinde, sondern tritt ihr nur wegen der „Notwendigkeit von kirchlichen Ämterstrukturen“677, aber immer noch als eine/r der Ihren gegenüber. Die Maxime des Allgemeinen Priestertums geht so weit, dass in Ausnahmefällen auch die Nicht-Ordinierten die Sakramente spenden dürfen. Insofern werden „in der Reformation [...] die Schranken zwischen 678 heilig und profan zerstört“ . Jedoch ist dies nicht im Sinne einer allgemeinen Profanisierung (der Priesterschaft) zu deuten, sondern als umfassende Sakralisierung (der Anhängerschaft). Gemäß diesem Duktus ist auch Heilers Feststellung, es gebe im Protestantismus „keine Menschen als ausschließliche Träger und Mittler 679 des Heiligen“ , aufzufassen. Letztlich können alle Menschen solche Träger und Mittler sein, wenn der Geist sie zu Christus hinbringt. Dementsprechend bleibt der Umgang mit dem Heiligen weder den PfarrerInnen exklusiv vorbehalten, noch stehen sie zu ihm in größerer Nähe. Stattdessen ist das Numinose allen Gläubigen gleich nah und muss nicht durch nicht-göttliche, vermittelnde Instanzen jeweils und immer wieder neu nahe gebracht werden. 676 Mit dieser Begrifflichkeit beabsichtige ich keineswegs eine Wertung vorzunehmen, die die einen oder die anderen positiv oder negativ erscheinen lässt. Darüber hinaus stelle ich nicht die von verschiedenen Religionen geglaubte grundsätzliche Heiligkeit eines jeden Menschen in Frage, die sich durch die Sakralität u.a. des Bluts, des Toten oder des Hilfsbedürftigen ergibt, lasse sie in diesem Kontext aber außer Acht. 677 Leonhardt, R.: Grundinformation Dogmatik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch für das Studium der Theologie, 2., durchges. u. überarb. Aufl., Göttingen 2004, S. 269. 678 Heiler, F.: Erscheinungsformen und Wesen, S. 382. 679 Ebd.

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Dennoch obliegt es während des Gottesdienstes dem/r PfarrerIn, in der Abendmahlsfeier die Einsetzungsworte zu sprechen sowie Brot und Wein auszuteilen, in denen Christus real präsent ist. Aufgrund der lutherischen Vorstellung der Konsubstantiation fungieren Brot und Wein einerseits als heilige Gegenstände, die das sich in ihnen manifestierende Sakrale repräsentieren, und andererseits als Leib und Blut Christi, so dass das Heilige selbst gegenwärtig ist. Insofern nehmen diese sakramentalen Elemente eine Sonderstellung unter den übrigen Manifestationsformen ein. In der materiellen Gestalt von Brot und Wein kommt das Heilige den Menschen nahe, die es ihrerseits nur zu empfangen brauchen. Die anderen Begegnungen zeigen die Nähe in weniger sinnlich wahrnehmbarer Weise auf. Wer die Kirche betritt, das Altartuch berührt oder vor dem Kreuz betet, kann durchaus vom Gefühl des religiösen Erlebens, das Rudolf Otto als fascinans, tremendum, augustum etc. beschreibt, ergriffen werden. Das Erleben konkretisiert sich üblicherweise jedoch nicht so weit, dass man das Heilige selbst sieht, hört oder berührt, sondern jeweils nur den repräsentierenden Gegenstand oder Raum. Ähnlich verhält es sich beim Gebet, das der/die Gläubige spricht. Die Antwort von Seiten des Numinosen kann in unterschiedlicher Weise erfolgen, so dass es sich mal mehr und mal weniger offensichtlich artikuliert. Die prinzipiell mögliche Wahrnehmbarkeit solcher Reaktionen soll keineswegs bestritten werden. Allerdings ereignen sie sich in den seltensten Fällen in einer solchen Form, dass auch ggf. unbeteiligte Anwesende sie deutlich erkennen. Demnach ist das Gebet eine Gesprächsform, in der objektiv nur die Worte des/r menschlichen GesprächspartnerIn hörbar sein können. Lediglich er/sie vermag die eventuellen Antworten des Heiligen zu hören, nicht aber eine andere Person. In deren Augen erscheinen der Kontakt einseitig und die Anrufung unbeantwortet. Der homogenen Sakralität der evangelisch-lutherischen Gemeinschaft steht die strenge Abstufung in der römisch-katholischen Kirche gegenüber. Dies betrifft bereits die Ebene der Gläubigen, denen zwar allen grundsätzlich das Prädikat der Heiligkeit zukommt, von denen sich aber einige durch Beatifikation und Kanonisation hervortun (s. 5.2.2). Und nicht jede/r KatholikIn schafft den Aufstieg von dem/r ’normalen‘ zum/r ’besonderen‘ AnhängerIn bzw. wurde von Gott dazu erwählt. Darüber hinaus sieht die kirchliche Struktur eine Überordnung der Ordinierten über die LaiInnen vor. „Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das Priestertum des Dienstes, das heißt das hierarchische Priestertum, unterscheiden sich [...] dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach“ (Lumen gentium 10). Insofern stehen die katholischen LaiInnen auf der niedrigsten Sprosse der kirchlichen Leiter, die zum Numinosen führt, während sowohl die selig- und heiliggesprochenen Verstorbenen als auch die Amtsträger höhere Ränge einnehmen. Des Weiteren erfährt die Gruppe der ordinierten Katholiken mehrere Abstufungen, an deren hierarchischer Spitze der Papst als der Stellvertreter Christi steht. Dank dieses Amtes eignet ihm nicht nur die größte Nähe zu Gott, sondern auch eine elitäre Sakralität, die sich in der Anrede als Heiliger Vater widerspiegelt.

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Mit dem Sakrament der Weihe erhalten die Priester Würde und Macht, die sie 680 einerseits zum „unmittelbaren Gottesumgang durch die Feier der Eucharistie“ befähigt und durch die sie andererseits die Realpräsenz mittels der Wandlung überhaupt erst herbeiführen. Der Rangunterschied zwischen Priestern und LaiInnen wird auch in der Eucharistiepraxis dahingehend verdeutlicht und bestärkt, dass man letzteren im Mittelalter nur das Essen des Leibes Christi zugestand, nicht aber das Trinken des Blutes. Das 2. Vatikanische Konzil lockerte diese strenge Differenzierung jedoch und erlaubt in einzelnen Fällen auch den gemeinen Gläubigen die Kelchkommunion. Zwar geht die römisch-katholische Lehre mit dem transsubstantiationalen Herrenmahlverständnis über das der evangelisch-lutherischen Kirche hinaus, doch gleichen sich beide Konfessionen darin, dass im Allgemeinen das gegenwärtige Heilige nicht objektiv wahrnehmbar auf die individuellen Anliegen der Gläubigen reagiert. Die scheinbare Einseitigkeit des Kontakts zwischen sprechendem Mensch und vermeintlich schweigendem Sakralem existiert darüber hinaus auch in der Verehrung von Heiligenbildern. In der lateinamerikanischen Volksfrömmigkeit glaubt man die Anwesenheit der heiligen Personen in ihren Darstellungen. „Man wird von der Vorstellung einer Materialisierung des sanctum in den Bildern ausgehen können, die [...] das an Kontaktmagie grenzende Bestreben, Christus-, Madonnen- oder Heiligenbilder physisch zu berühren, erklären hilft.“681 Entspricht die Intention der Berührung derjenigen eines Gebets um Hilfe, und folgt ihr das Eintreten des Erhofften nach, so wird das Ergebnis als ein von der heiligen Person bewirktes Wunder angesehen. Das Wunder ist demnach die für Außenstehende sichtbare Reaktion des Heiligen auf seine Anrufung. Allerdings erfolgt sie nicht immer zeitnah und noch seltener sofort. Und auch eine Ankündigung der Tat, Behandlung oder eventuelle Anweisungen, die die Heiligengestalt dem/r Bittenden mitteilt, unterbleiben in der Regel. Jegliche Reaktion erfolgt erst mit dem Ergebnis. Wenn dieses jedoch ausbleibt, vernimmt der Mensch keinerlei Antwort und der Kontakt erscheint objektiv wiederum nur als einseitiger. Vom protestantischen Ideal des gleichen Heiligkeitsgrades der Gläubigen weicht die Igreja Universal do Reino de Deus ab, indem unter ihren AnhängerInnen einige in besonderer Weise mit Gott verbunden sind (s. 5.3.1). Durch die empfangene Geisttaufe sowie durch die daraus resultierenden Gaben heben sie sich von denjenigen ab, die nur mit Wasser getauft wurden. Auf diese Weise sind die Verbündeten Gottes dem durch sie wirkenden Heiligen um Vieles näher. Darauf gründet ebenso der Unterschied, der auch zwischen den ’normalen‘ Gläubigen und den PastorInnen besteht, wodurch die Ämterstruktur der IURD mehr der katholischen als der lutherischen Kirche ähnelt. In den Ritualen, die während den Versammlungen vollzogen werden, stellen die PastorInnen mehrmals täglich die

680 Ebd., S. 374. 681 Prien, H.-J.: Volksfrömmigkeit in Lateinamerika, S. 415.

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Wirkmächtigkeit des Geistes Gottes, die er ihnen zuteil werden lässt, unter Beweis. So passieren beispielsweise in einem Heilungsritual die Bedürftigen ein von 70 PastorInnen, HilfspastorInnen und MitarbeiterInnen gebildetes Spalier und werden von ihnen währenddessen u.a. mit Handauflegungen und Salbungen behan682 delt. Spektakulärer und eindrücklicher erweist sich die Durchführung des Exorzismus, indem der/die mit der geistlichen Gabe der Macht ausgestattete PastorIn einem Dämon entgegentritt, ihn demütigt und besiegt. Der Erfolg stellt sich sofort und für alle sichtbar ein, wenn nämlich der/die Befreite nicht mehr die typischen Symptome aufzeigt. Bei den anderen heilenden, liebestherapeutischen oder finanziellen Ritualen werden ebenfalls sofortige Ergebnisse als eine Art Erste Hilfe 683 angestrebt und versprochen. Obwohl die Verbündeten Gottes in dessen Auftrag und mittels seiner Gaben arbeiten, stehen diese ihnen nicht zu ihrem eigenen Belieben zur Verfügung. Die Hoheit, wem welche Gabe wann erteilt wird, obliegt dem Heiligen Geist, der den heiligen Menschen individuell in den Dienst nimmt, um durch ihn zu wirken. „Die eigene ‚Herabkunft des Heiligen Geistes‘ setzt die Besitzung des Heiligen im 684 Körper des Individuums voraus, den es in ein Gefäß des Göttlichen verwandelt.“ Mit ihm tritt der/die Hilfesuchende in Kontakt und erhält eine objektiv sichtbare Behandlung (sowie idealerweise Heilung). Insofern kann der Kontakt zwischen Mensch und Numinosem in der IURD durchaus als wechselseitig bezeichnet werden, da der eine Part um Hilfe bittet und der andere Part die Hilfe gewährt. In der Auslegung der Zungenrede erfolgt zudem eine Hinwendung des Heiligen Geistes zur ganzen Gemeinde zu deren Erbauung. Der Bezug zu einer Einzelperson aus der Menge der ’normalen‘ AnhängerInnen fehlt hier aber. Und auch die Glossolalie an sich ist mehr das private Beten eines/r Verbündeten Gottes zum Zweck seiner/ihrer eigenen Glaubensversicherung als die Reaktion auf eine Frage seitens einer dritten Person. Indem die Auslegung von einem geistbegabten Menschen vorgenommen wird, bleibt auch in dieser Situation die Begegnung nur eine vermittelte. Das Heilige benutzt den/die Verbündete/n zwar als ausführendes Werkzeug, ist in ihm/r jedoch nicht real präsent. Die Verwandlung geht nicht so weit, dass sie – auch nicht während der Trance – die Persönlichkeit und Identität des/r Verbündeten verdrängt, so dass er/sie gleichsam zum Heiligen Geist in Menschengestalt wird. Von einer Inkorporation ist hier (so wie von Ronaldo de Almeida praktiziert) höchstens in Anführungszeichen zu sprechen, nicht aber im Sinne der Körperlichkeit der dritten Person der Trinität. Deswegen lässt sich das Heilige in der IURD objektiv von den Anwesenden in der Wirkung wahrnehmen, jedoch nicht im direkten Kontakt.

682 Vgl. Schmidt, J.C.: Wohlstand, S. 85. 683 Mit dem Angebot der ’spirituellen Ersten Hilfe‘ wirbt z.B. auch die Pfingstkirche Igreja Quadrangular. 684 Almeida, R.d.: A guerra das possessões, S. 333.

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Ein unterschiedlicher Grad der Heiligkeit trennt auch bei der Umbanda die ’normalen‘ Gläubigen von der Priesterschaft bzw. gemäß der umbandistischen Terminologie von den Medien (s. 5.1.5). Eine weitere Abstufung auf der Ebene der nicht-initiierten AnhängerInnen, die die ’besonderen‘ unter ihnen hervorheben würde, existiert hingegen nicht. Obwohl die Gruppe der Medien in sich wiederum hierarchisch aufgebaut ist, die von AnwärterInnen über PriesterInnen bis hin zu den KultleiterInnen reicht, haben alle Umgang mit dem Heiligen. Zwar überragt der/die Pai-/Mãe-de-santo seine/ihre Filhos/as-de-santo an Macht, Fähigkeit und Anzahl der Guias, doch steht er/sie dem Sakralen nicht näher. Jedes Medium vermittelt unabhängig von seiner Stellung im Terreiro für die ’normalen‘ UmbandistInnen den Kontakt zum Numinosen in gleichwertiger Form. Hierbei geht aber die Funktion des Mediums über die übliche Mittlerrolle hinaus, indem sich das Heilige in ihm inkorporiert. Für die Dauer dieses Zeitraums tritt die menschliche Komponente hinter die übernatürliche zurück und das Medium wandelt sich vom heiligen Menschen zum Espírito und somit zum Heiligen selbst. Die Manifestation erfährt im inkorporierenden Medium folglich die gleiche Sonderstellung wie die christlichen Herrenmahlelemente. Hinsichtlich der Realpräsenz des Heiligen im Menschen ähnelt die umbandistische Vorstellung mehr der katholischen, indem sie von einer Transsubstantiation ausgeht, ohne diese freilich so zu benennen. Wer in der Sessão einen Geist konsultiert, begegnet dem Übernatürlichen von Angesicht zu Angesicht. Wenn der/die KlientIn mit Ogum zur Begrüßung die Arme kreuzt, berührt er/sie den Orixá tatsächlich und nicht das Medium. Dieses stellt lediglich seinen Körper zur Verfügung, ist selbst aber darin nicht anwesend. „Die ‚Materie‘, der ‚Apparat‘, den das Medium [...] der Macht des Geistes überlässt, ist kein Hinweis auf ihn: Er ist es persönlich.“685 Gleiches gilt für die Bewegungen, das Verhalten sowie die gesprochenen Worte. In der Konsultation bringt der/die Hilfesuchende sein/ihr Anliegen vor und der Espírito reagiert sofort, was für alle Umstehenden sicht- und hörbar ist: Der Geist streicht die negativen Energien ab, behandelt die betroffene Körperstelle individuell und gibt die entsprechenden Ratschläge für jedes Problem. Der Erfolg mag sich schnell, spät oder gar nicht einstellen, aber immerhin treten die AnhängerInnen mit dem Heiligen in Kontakt und erhalten von ihm eine deutlich wahrnehmbare Antwort, die nicht der Einbildung oder Illusion entspringt. Insofern ist der Kontakt zum einen ein direkter statt bloß ein mittelbarer, und zum anderen ein objektiv wechsel- statt nur ein einseitiger. Als Fazit des Vergleichs sei der Blick nochmals und pointiert auf zweierlei gerichtet: Wie reagiert erstens das Heilige auf den von dem/r Gläubigen gesuchten Kontakt? Ist das Sakrale materiell gegenwärtig; spricht es; handelt es so, dass dies in dem Moment auch von Dritten wahrgenommen werden kann und dieses Erleben die persönliche Gefühlsebene überschreitet? Und welche Rolle spielt zweitens 685 Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália sagrada, S. 89.

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der heilige Mensch (also PfarrerIn; Priester und Heiliggesprochene/r; PastorIn und Verbündete/r Gottes; Medium) bei dieser Begegnung? In der evangelisch-lutherischen Kirche vermitteln zwischen dem Menschen und dem Numinosen die PfarrerInnen. Ihren Status, den sie per se als Manifestationen des Heiligen einnehmen, überhöhen sie aber nicht dadurch, dass sie sich selbst verändern. Diese Sonderstellung bleibt Brot und Wein im Abendmahl vorbehalten, in dem sich das übernatürliche Sakrale mit irdischer Materie verbindet. Hier begegnet der Mensch dem real präsenten Heiligen; bei anderen Formen des Kontakts hingegen bleibt dieses Moment aus, ebenso wie eine sprechende und agierende Äußerung. Anstatt eine sofortige und auch für Andere deutliche Reaktion von Seiten des Heiligen zu erhalten, verharrt der/die Gläubige über einen unbestimmten Zeitraum hinweg im stillen Gespräch mit Gott oder in der Hoffnung auf eine Antwort. Ähnlich verhält es sich in der römisch-katholischen Kirche, indem den Priestern auch hier letztlich nur eine vermittelnde Position zukommt. Sie füllen nicht selbst die Sonderstellung aus, die sogar dem Papst versagt ist. Der Kontakt zu den kanonisierten Heiligen wird im Volkskatholizismus Brasiliens dahingegen direkter vollzogen, umso mehr, wenn sie in ihren Abbildungen als materiell anwesend geglaubt werden. Insofern ist für den/die Gläubige/n die Begegnung mit dem Heiligen in dessen Bildnis (ebenso wie in der Eucharistie) unvermittelter Natur. Als ein von Dritten wahrnehmbarer wechselseitiger Kontakt erfolgt diese Begegnung allerdings auch nicht. Insofern nämlich das Numinose überhaupt agiert oder spricht, wird dies in der Regel einzig von der gläubigen Person bemerkt. Die IURD bietet, obwohl sie ebenfalls eine christliche Denomination ist, anscheinend mehr als ihre beiden Schwesterkonfessionen. Denn durch die PastorInnen und die Verbündeten Gottes wirkt der Heilige Geist selbst. Zwar ereignet sich dies nur in vermittelter Form und ohne dass das Numinose in den heiligen Menschen real gegenwärtig ist, aber immerhin befähigt er sie zu glossolalischem und auslegendem Sprechen sowie sofortigem Agieren. Wer mit einem Problem den/die PastorIn aufsucht, erhält vom ihm/r eine Behandlung, in der das Heilige anstatt des Menschlichen wirkt. Darin ereignet sich für alle Anwesenden sicht- und hörbar die Antwort des Numinosen. In der Umbanda geht die Funktion des Mediums über die bloße Vermittlung der Begegnung des/r Gläubigen mit dem Heiligen hinaus, indem dieses nämlich selbst gegenwärtig wird. Im menschlichen Körper materialisiert kann es sofort auf das vorgebrachte Anliegen in sprachlicher und handelnder Form reagieren. Das Heilige wird somit zu einem Gesprächspartner, den man sieht, hört, berührt und der den/die UmbandistIn ansieht, ihm/r zuhört und ihn/sie mit den Händen behandelt. Auch von Dritten ist dies deutlich wahrzunehmen. Demnach ist der Kontakt sowohl objektiv wechselseitiger als auch direkter Art, und als solches verlässlich in jeder einzelnen Sessão erfahrbar.

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6.2.2 Die Anziehungskraft der Umbanda In Brasilien gehören der Glaube an die Existenz und das Wirken übernatürlicher Kräfte sowie der Umgang mit ihnen untrennbar zur Kultur. Insofern ist es ganz üblich, „eingetaucht in einer Welt zu leben, in der Geister umherirren, in der 686 das Eingreifen der Heiligen und der Seelen dauerhaft gepflegt wird“ . Als einzige der in diesem Kontext betrachteten Religionen trifft solches auf die evangelischlutherische Kirche nicht zu. In der römisch-katholischen Kirche – und nicht nur in der Spielart des iberischen Volkskatholizismus, obwohl hier in besonderem Maße – werden Heilige um Hilfe gebeten. Die IURD erkennt deren Wirken ebenso an wie das von Geistern, auch wenn sie als Dämonen Schaden statt Nutzen verursachen, und wertet den Heiligen Geist als deren Gegenspieler. In der Umbanda glaubt man an eine Vielzahl von Geistern, deren Manifestation den Kern jeder Sessão bildet. Darüber hinaus kennen und kontaktieren auch andere Kulte mit afrikanischen oder indianischen Wurzeln sowie der Spiritismus Geister und Seelen Verstorbener. Dass so viele Religionen Brasiliens, die zudem gemeinsam das Gros der brasilianischen Gläubigen auf sich vereinigen, die Vorstellung des Agierens des Übernatürlichen im irdischen Umfeld kultivieren, entspricht einem menschlichen Bedürfnis (s. 2.4). Die Gläubigen öffnen weit die von Peter L. Berger benannten ’Fenster zur Transzendenz‘, holen das Numinose nahe zu sich ins Diesseits und halten die Beziehung aufrecht. Indem „Religionen [...] ihren Anhängern die Möglichkeit liebevoller, haßerfüllter, schwärmerischer oder furchtsamer Dialoge mit Göttern, Geistern und Dämonen“687 bieten, fixieren sie die elementare Bedeutung der Kommunikation zwischen Mensch und Heiligem. Soll diese aber nicht zum Monolog verkommen, der aufgrund der Einseitigkeit die Gefahr des Abebbens und Verstummens in sich birgt, so erfordert es von beiden Parteien, sich zu äußern. Im Fall der katholischen Kirche (sowie auch der lutherischen) erfolgt die Äußerung des Sakralen meistens entweder nur von dem/r Gläubigen wahrnehmbar oder bleibt aus. Dritte hören weder eine Stimme noch sehen sie ein Gesten- oder Minenspiel im Bildnis von Heiligen. Das Zwiegespräch zwischen dem Menschen und dem Heiligen findet demnach in stummer, nicht aber in geräuschvoller Form statt. Für den/die Gläubige/n kann dies die Unsicherheit mit sich bringen, einer Illusion zu erliegen, da er/sie der Bestätigung durch Unbeteiligte ermangelt. Im Candomblé gestaltet sich der Kontakt in eingeschränkter Dialogform, da hier „der Orixá nicht spricht, sich aber gemäß einem ausgearbeiteten körperlichen Code manifestiert“688. Indem das Heilige selbst präsent ist und sich eines menschlichen Körpers bedient, kann es sich im direkten Kontakt durch Haltung, Bewegung oder Gesichtsausdruck mitteilen. So sind beispielsweise Heilungstherapien 686 Birman, P.: O que é Umbanda, S. 8. 687 Helle, H.J.: Religionssoziologie, S. 1 f. 688 Brumana, F.G. / Martínez, E.G.: Marginália sagrada, S. 88 [Hervorhebung weggelassen].

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unmittelbar vollziehbar. Für Ratschläge aller Art hingegen wird das Orakel befragt, in dem ein Medium die Lage von geworfenen heiligen Gegenständen deutet und dies als Äußerung des Numinosen verkündet. Insofern ist eine wechselseitige Kommunikation, die teils vermittelt und in sprachlicher Art, teils direkt und in gestischer Art erfolgt, möglich. In beinahe umgekehrter Weise eröffnet der Kardecismus seinen AnhängerInnen die Möglichkeit eines Dialogs, da die verbale Komponente vollständig gegeben ist. Wenn ein/e Verstorbene/r zu den noch lebenden Angehörigen spricht, so leiht er/sie sich die Sprechwerkzeuge des spiritistischen Mediums und wird dadurch für alle anwesenden Personen hörbar. Den Körper des Mediums leiht sich der/die Tote jedoch nicht, so dass er/sie die Worte nicht mit eigener Mimik oder Gestik ergänzen kann. Der Zulauf zum Kardecismus in Brasilien gründet u.a. darauf, dass man „im Kontakt mit dem Irrationalen [...] wieder den Halt zu gewinnen [sucht], den man verloren hatte und den man auch nicht in den Zeremonien des Katholizismus fand“689. Falls aber das Berühren oder Sehen des/r GesprächspartnerIn gewünscht wird, bleibt dies im Spiritismus unerfüllt. Zudem sind hier (ebenso wie im Candomblé) im Vergleich zur Umbanda sowohl hinsichtlich der Anzahl als auch der Diversität der auftretenden und agierenden übernatürlichen Wesen enge Grenzen gesetzt. Auch die Vorstellung der IURD bezüglich des Eingreifens des Transzendenten bildet einen wesentlichen Aspekt der Lehre, muss jedoch aufgrund des geglaubten Dualismus in zwei widerstreitende Parteien differenziert werden. Auf der einen Seite stehen die als Dämonen identifizierten katholischen Heiligen und afrobrasilianischen Espíritos, auf der anderen der christliche Heilige Geist. Die Dämonen befallen arglose Menschen, machen sie krank oder veranlassen sie zu schlechtem Verhalten, sie besetzen ihren Wirt so lange bis sie von der IURD entlarvt und im Exorzismus ausgetrieben werden. Bis zu diesem Zeitpunkt haben sie weder gesprochen noch sich materialisiert. Solches ereignet sich erst im Ritual der Austreibung, wenn der/die PastorIn sie zur Manifestation auffordert und der Befragung unterzieht (s. 5.3.2). Demnach erfolgt für die begrenzte Dauer des Rituals ein Dialog, den zwei anwesende Parteien führen und alle anderen hören können und sollen. Allerdings steht dem Numinosen in dieser Situation nicht ein/e ’normale/r‘ Gläubige/r gegenüber, sondern ein heiliger Mensch, durch den der Heilige Geist wirkt. Darüber hinaus ist ein Dämon keineswegs ein Ansprechpartner, den man in der IURD um Ratschläge oder Hilfe ersucht. Die Kommunikation mit ihm, welcher Qualität auch immer sie sei, wird folglich nicht gewünscht. Der Heilige Geist dahingegen macht sich durch die Begabungen der Verbündeten Gottes erfahrbar. Insbesondere therapeutische Behandlungen oder Zungenrede lassen auf sein Wirken rückschließen, wobei ekstatisches Verhalten aber aufgrund seiner selbstdar689 Fischer, U.: Erfüllte Sehnsucht, S. 116.

Die Begegnung mit dem Heiligen als Grund für die Anziehungskraft der Umbanda

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stellerischen und störenden Komponente unerwünscht ist. Die auf den Geist zurückzuführenden sprachlichen Äußerungen dienen allerdings nicht dem persönlichen Gespräch einer dritten Person mit dem Numinosen. Zwar hört sie die unartikulierten Laute, begreift sie aber nicht. Vielmehr ist die Glossolalie eine Form des Gebets, dessen verstehbar gemachte Auslegung eine gemeinschaftliche Erbauung bezweckt. Eine verbale Antwort auf ein individuelles Problem gewährt der Heilige Geist somit ebenso wenig, wie er sich mit Materie verbindet und berührbar wird. Die Kommunikation mit den Geistern bildet in der Umbanda einen fundamentalen Grundzug. Während ihrer Inkorporation im Medium benutzen die Espíritos einerseits den menschlichen Körper, um den sie konsultierenden Menschen von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, und andererseits den Sprechapparat, um jenen zu antworten. Hieraus ergibt sich ein Gespräch, bei dem auch Außenstehende die Worte des Übernatürlichen hören und dessen Gestik und Mimik sehen. In dieser Form der Begegnung bietet die Umbanda etwas anderes als die Referenzreligionen. Im Gegensatz zum Candomblé sprechen die Espíritos. Und anders als im Kardecismus verbinden sie sich mit Materie, so dass sie gegenwärtig werden. Mit beiden Phänomenen übertrifft die Umbanda die katholische sowie die lutherische Kirche an objektiver Wahrnehmbarkeit. Im Unterschied zum Wirken des Heiligen Geistes in der IURD sprechen die materialisierten umbandistischen Geister in der gleichen Sprache wie die Gläubigen. Das einzige Moment jedoch, in dem eine jener Religionen einen solchen sprachlichen, körperlichen und von außen bemerkbaren Kontakt zwischen Mensch und Numinosem kennt, wie ihn die Umbanda ermöglicht, findet sich in den verteufelten Dämonen der IURD. Und für die neopentekostale Kirche bildet gerade dieses Moment eine grundlegende Basis, von der sich die Lehre wiederum nährt. Der angestrebten Gewissheit ob der Existenz, der Macht und des Handelns des Heiligen kommt der Mensch in der Umbanda m.E. am nächsten. Hier wird dem/r Gläubigen nicht nur ein gefühltes, sondern auch ein sinnenhaftes Erleben eröffnet. Fragen werden beantwortet, Leiden behandelt, Wege aufgezeigt und das nicht durch eine/n bloße/n VermittlerIn. Die direkte Begegnung sowie das Gespräch zwischen dem/r UmbandistIn und dem inkorporierten Heiligen sind zudem von Dritten sicht- und hörbar. Zweifel ob der Realpräsenz und des tatsächlichen wechselseitigen Kontakts existieren von Seiten anderer UmbandistInnen nicht. Das Heilige, das sich in der Umbanda im heiligen Menschen manifestiert und sogar selbst gegenwärtig macht, liefert dadurch gleichsam den Wegweiser, den viele Menschen sich wünschen, um zum Glauben zu finden oder ihn als wahr bestätigt zu sehen. Außerdem tritt keine qualitative oder quantitative Einschränkung dieses Kontakts ein. In der Inkorporation erscheint der Espírito immer gleich deutlich, körperlich und agierend, berührbar, sichtbar und hörbar; und das regelmäßig in jeder einzelnen Sessão. Auf der Möglichkeit einer solchen Erfahrung beruht vor allem die Attraktivität der Umbanda für die BrasilianerInnen. Zwar erhalten die

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Die interreligiöse Konkurrenz aufgrund der Anziehungskraft der Umbanda

AnhängerInnen im umbandistischen Terreiro auch Hilfe beim Umgang mit dem täglichen Leben, eine soziale Heimat, die Chance des gesellschaftlichen Aufstiegs oder die Gelegenheit der Beeinflussung des Heiligen (s. 4.3), doch hebt sich darin die neue synkretistische Religion z.T. nur in geringem Maße von anderen Angeboten innerhalb der religiösen Landschaft Brasiliens ab. Das Besondere der Umbanda ist aber, dass sie einen zuverlässigen Ort bietet, an dem man – ohne Angst, einer Illusion zu erliegen – dem Heiligen materiell begegnen kann und dessen sprachliche sowie handelnde Antwort man mit Sicherheit sofort erhält. Darin besteht m.E. die Anziehungskraft der Umbanda.

7

Schlussgedanken

Die Kolonialisierung Brasiliens ab 1532 markiert in mehrerlei Hinsicht eine Zäsur: Besiedelung durch portugiesische ErobererInnen, Ausbau der landwirtschaftlichen Nutzung, Rückgang der indigenen Bevölkerung, Import von afrikanischen SklavInnen, katholische Missionierung. Damit war zugleich der Grundstein für eine religiöse Vielfalt gelegt. Denn obgleich der Katholizismus die einzige erlaubte Religion darstellte und alle BewohnerInnen getauft sein sollten, ließ sich das Weiterexistieren von indianischen und afrikanischen Kulten nicht verhindern. Die durch Krankheit und Versklavung dezimierten Indio-Stämme zogen sich ins Hinterland zurück und bewahrten dadurch ihren Glauben vor Beeinflussung. Der großen Menge der AfrikanerInnen hingegen boten sich unter der Aufsicht von HerrInnen und Priestern wenige Möglichkeiten, ihre Kulte und Traditionen zu pflegen. Verdeckt unter den Rahmenbedingungen katholischer Prägung gelang es ihnen dennoch. Allerdings ging mit der Inkulturation und dem geringen Freiraum die Vermischung von afrikanischen mit christlichen Elementen einher. In einigen katholischen Heiligen konnte man wichtige Gottheiten Afrikas wiedererkennen, so dass am Tag eines/r Heiligen die ihm/r entsprechende Gottheit gefeiert wurde. Aus diesem Synkretismus ging z.B. der Candomblé hervor. Mit der Einwanderung ab dem 19. Jh wuchsen die Zahl und Diversität der Religionen an, da nun viele lutherische, kalvinistische, methodistische, adventistische und orthodoxe ChristInnen sowie die Pfingstbewegung und der Spiritismus, aber auch MuslimInnen und BuddhistInnen nach Brasilien kamen. Trotz der breiten Fächerung war die religiöse Landschaft noch erweiterbar. Durch Synkretisierung und Abspaltung entstanden auch in jüngerer Zeit mehrere Denominationen, von denen nur die Umbanda und die IURD exemplarisch genannt seien. 1908 wird nach Ansicht ihrer AnhängerInnen die Umbanda gegründet, indem sie spiritistische, afrikanische, katholische und indianische Elemente mischt. Afrikanische Gottheiten werden als Naturkräfte verehrt und ihre Liierung mit katholischen Heiligen beibehalten. Christliche Entlehnungen begegnen in einer trinitarischen Vorstellung und in den umbandistischen Versionen des Vaterunsers. Aus dem Spiritismus stammen das Konzept der Entwicklungsstufen und der Kontakt zu Verstorbenen. Der indianische Einfluss zeigt sich am deutlichsten in der Kategorie der typologisierten Geister. Neben den vier Konstituenden finden auch andere Momente in gewissem Maße Eingang wie die jüdische Menora oder hinduistische Geister. Entstanden im städtischen Raum um Rio de Janeiro, breitete sich die Umbanda rasch auch in ländlichen Gebieten sowie in anderen Regionen des Landes aus und überschritt die Grenzen Brasiliens. Obwohl sie in Zahlen kaum greifbar ist, wuchs die Menge der AnhängerInnen und Terreiros so rasant an, dass die Umbanda spätestens ab den 50er Jahren nicht mehr als sektiererische afro-brasilianische Variante des Kardecismus abgetan und ignoriert werden konnte. Auch in der

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Schlussgedanken

Zusammensetzung der Anhängerschaft weicht sie deutlich von den Referenzen Candomblé und Spiritismus ab. Während sich in diesem meist nur Weiße aus besseren Schichten treffen, nehmen an jenem überwiegend Schwarze der Unterschicht teil. In der Umbanda jedoch sind diese Tendenzen weitgehend aufgehoben, da sie ein aus verschiedenen Rassen und Schichten gemischtes Publikum in sich vereinigt. Die Frage, worin die Anziehungskraft der Umbanda liege, beschäftigte neben TheologInnen in besonderer Weise auch SoziologInnen und AntrhopologInnen. Die Umbanda gewähre entwurzelten Landflüchtigen eine neue Heimat in der Stadt und biete die Chance des sozialen Aufstiegs. Außerdem könne man im Terreiro dem Alltag entfliehen, Hilfe bei Problemen erhalten und selbst etwas für sein Ergehen unternehmen. Einen weiteren Grund thematisiert die vorliegende Untersuchung. Der menschliche Wunsch, mit dem Heiligen in einen wechselseitigen Kontakt zu treten, wird in der Umbanda programmatisch aufgegriffen. Das Heilige manifestiert sich hier – wie in anderen Religionen – in Gegenständen, Orten, Zeiten, Zahlen, Menschen und Gemeinschaften. Wenn es sich aber in einem Medium inkorporiert, wird es selbst gegenwärtig. Wer ihm gegenübertritt, sieht das Numinose selbst, hört dessen Stimme und spürt dessen Handlungen. Auch jede/r Umstehende kann das Gespräch zwischen Mensch und Heiligem hören, dessen Mimik und Gestik sehen. Demnach ist die Begegnung objektiv wahrnehmbar und eine sofortige Reaktion des Numinosen auf eine geäußerte Anfrage gewährleistet. Das Ganz Andere, das Übernatürliche, das Transzendente durchbricht die profane Struktur der natürlichen, rationalen und diesseitigen Welt und macht sich real präsent. In diesem Phänomen geht die Umbanda über andere Religionen hinaus; wie weit, zeigt der Vergleich mit der evangelisch-lutherischen und römisch-katholischen Kirche sowie der Igreja Universal do Reino de Deus. Die Anziehungskraft der Umbanda rief bei anderen Religionsgemeinschaften Brasiliens weitgehend Neid und Missgunst hervor, denn sie fürchteten zu Recht um ihre Mitgliederzahlen. Von sich aus schürte die Umbanda die religiöse Konkurrenz nicht, da sie das Prinzip der mehrfachen Religionszugehörigkeit vertrat. Außerdem stellte sie den KlientInnen frei, wie eng sie sich mit dem Terreiro verbinden und einen anderen Glauben pflegen wollten. Diejenigen Religionen aber, die einen Absolutheitsanspruch lehrten und eine exklusive Zugehörigkeit von ihren Gläubigen forderten, mussten die Neureligion als Gefahr einschätzen. Sei es die Einsicht, dass polemisches Ignorieren die Entwicklung nicht stoppt, sei es die Anweisung von höchster hierarchischer Stelle, dass auch in heidnischen Kulten ein Funke des Guten existiert, gegen Ende der 60er Jahre gaben die lutherische und die katholische Kirche ihre ablehnende Position auf. Den vorläufigen Höhepunkt erreichte die Umbanda Anfang der 70er Jahre. Seitdem sind die Anhängerzahlen gemäß den Daten der Volkszählungen und den geschätzten Dunkelziffern rückläufig; allerdings nicht erosionsartig. Diese Tendenz trifft auch auf die katholische Kirche zu, die mit zunehmender Rasanz ihre

Schlussgedanken

305

Mitglieder verliert. Diese Veränderung fällt zeitlich mit den zunehmenden Erfolgen der neopentekostalen Kirchen zusammen, die ein explosionsartiges Wachstum verzeichnen – allen voran die IURD. Da auch sie den Anspruch der exklusiven Religionszugehörigkeit erhebt, strebt sie nach dem Gewinn von dauerhaften, nur ihr anhängenden Gläubigen. Aufgrund ihrer Existenz und Missionstätigkeit erweitert die IURD nicht nur die religiöse Landschaft Brasiliens, sondern verkörpert eine zusätzliche Konkurrenz. Aus der Perspektive solcher Glaubensgemeinschaften betrachtet, deren Mitgliederzahlen Einbußen erleiden, erscheint die Umbanda als das ’kleinere Übel‘. Während sie nämlich als eine Art Zusatzangebot den AnhängerInnen anderer Religionen offen steht, betreibt die IURD gezielte Abwerbung. Mit ihrer aggressiven Vorgehensweise richtet sich die IURD zum einen gegen die Umbanda selbst. Ebenso wie andere pentekostale Kirchen sieht sie die afrobrasilianische Religion „als den großen Konkurrenten im Wettstreit um die Seelen der Brasilianer“690. Und es gibt in ihrem Umfeld nicht selten einen „örtlichen Pai691 de-santo, der unzählige Filhos-de-santo an die Igreja Universal verloren hat“ . Insgesamt ist „ihr Expansionsverfahren [...] nach einem starken, ausschließenden Bekehrungseifer geregelt, der zu einer offenen Konfrontation mit anderen Religio692 nen und der Verneinung ihrer jeweiligen Botschaften führt“ . Insofern mag die Umbanda zwar als bevorzugte Gegnerin gelten, keineswegs aber als einzige; und auch eine interkonfessionelle Verbundenheit mit christlichen Schwesterdenominationen hat für die IURD keinerlei Bedeutung. Innerhalb des Kreises der Religionen wird die katholische Kirche als vorrangige Feindin wahrgenommen. Als Gemeinschaft mit den meisten Gläubigen stellt sie auch die größte Herausforderung dar. Von ihr kann demnach die höchste Zahl Mitglieder abgeworben werden. Die lutherische Kirche hingegen findet in diesem Zusammenhang – wenn überhaupt – nur eine geringe Beachtung. Sie stellt eine vergleichsweise kleine Gemeinschaft dar, deren Mitglieder vorwiegend deutscher Abstammung sind und deren Gruppenkohäsion für Abwerbungsversuche kaum Erfolgsaussichten eröffnet. Mit fortschreitender zeitlicher Entfernung von der Epoche der Einwanderung sowie zunehmender Öffnung zum brasilianischen Umfeld kann sich aber auch die Bindung zur Religion der VorfahrInnen lockern bzw. sogar verloren gehen. Die Kehrtwende der brasilianischen katholischen TheologInnen Mitte der 80er Jahre, in deren Gefolge sie den liberalen interreligiösen Kurs beendeten und die tradierte Apologetik wieder aufnahmen, beruht v.a. auf Verlusten durch Abwerbung von Gläubigen. Angesichts der Erfahrung abnehmender Resonanz bei der Bevölkerung, der stetigen Bedrohung durch die wachsende religiöse Vielfalt im Land und der sinkenden Mitgliederzahlen wird eine konfrontative Haltung als der bessere Weg erachtet. Damit nimmt die katholische Kirche die gleiche ablehnende 690 Droogers, A.: E a Umbanda?, S. 65. 691 Birman, P.: Cultos de possessão, S. 107. 692 Almeida, R.d.: A guerra das possessões, S. 336.

306

Schlussgedanken

Position gegenüber der Umbanda ein wie die IURD. Als Verursacherin der misslichen Situation der römischen Kirche in Brasilien ist allerdings keine Religion allein auszumachen. Vielmehr kommen als Hauptkonkurrentinnen zwei Lager in den Blick: zum einen die afro-brasilianischen und spiritistischen Kulte und zum anderen die (neo-)pentekostale Bewegung. Aus beiden jedoch ragt jeweils eine Gemeinschaft hervor, die sich von den übrigen hinsichtlich Ausbreitung und Auffälligkeit abheben. Mit der Gründung der IURD erwuchs der römischen Kirche eine zweite stetig erstarkende Widersacherin, die neben die häretische Umbanda tritt. Wegen dieser beiden Gemeinschaften mit hoher Anziehungskraft auf die BrasilianerInnen sieht sich die katholische Kirche mindestens doppelter Konkurrenz ausgesetzt und steht nun unter Zugzwang, nicht weitere Mitglieder und damit an Bedeutung zu verlieren. Zum interreligiösen Konflikt ist nun ein interkonfessioneller mit ähnlicher Gewichtung hinzugekommen. Würde man nach einer Gemeinsamkeit der an sich so verschiedenen Umbanda und IURD fragen, durch die sie sich von traditionellen christlichen Kirchen unterscheiden, so könnte zur Beantwortung meine Basishypothese herangezogen werden. Derzufolge liegt ein Grund für die Anziehungskraft der Umbanda in der direkt erfahrbaren Nähe des Heiligen, das sich derart manifestiert, dass es sichtbar wird, und das sofort objektiv wahrnehmbar auf die Anliegen der Menschen reagiert. Überträgt man diese Maßstäbe auf die IURD und ihre Vorstellung vom Heiligen Geist, so materialisiert er sich zwar nicht, doch ist sein Wirken wahrnehmbar, wenn er durch die Verbündeten Gottes spricht und agiert. Insofern bleibt die IURD hinter der Manifestation des Heiligen in der Umbanda zurück, geht aber über die in der katholischen und lutherischen Kirche hinaus. Die hier offerierte Anschlusshypothese für die Anziehungskraft der IURD wäre anhand der Phänomenologie in einer separaten Untersuchung zu klären. Wie auch immer solche ausfallen mag, die Attraktivität der Umbanda, die hinsichtlich der religiösen Erfahrung des Numinosen mehr bietet als andere Religionen Brasiliens, besteht weiterhin. Trotz der aktuell geringeren Zahl der UmbandistInnen im Vergleich zu ihrem Höhepunkt Mitte der 70er Jahre muss die Umbanda von christlichen Kirchen weiterhin als eine starke Konkurrentin eingeschätzt werden. Und trotz der Expansion der IURD verzeichnet die Umbanda, wenn man den Dunkelziffern Glauben schenkt, gegenwärtig noch mehr AnhängerInnen als jene. Ob dies so bleibt, müsste die empfohlene Anschlussuntersuchung klären.

Glossar Aparelho Assentamento Axé Baiano / Baiana Batuque Boiadeiro Caboclo / Cabocla Candomblé Candomblé de Caboclo Caridade Catimbó Chefe-do-terreiro Cigano / Cigana Conferência Nacional dos Bispos do Brasil (CNBB) Congá Crianças Despacho Espírito Exu Família-de-santo Favela Feitura Filho-de-santo / Filha-de-santo Guia Iansã Iemanjá Ifá Igreja Evangélica da Confissão Luterana do Brasil (IECLB) Igreja Universal do Reino de Deus (IURD) Irmandade Kardecismus Macumba

’Apparat‘, das vom Geist in Besitz genommene Medium ’Sitz‘, Fetisch zauberhafte Kraft, Mana typologisierte Geisterkategorie, aus der Region Bahia stammend afro-brasilianische Religion in Südbrasilien typologisierte Geisterkategorie, Ochsentreiber typologisierte Geisterkategorie, Indios afro-brasilianische Religion aus Bahia afro-brasilianische Religion in Bahia ’Nächstenliebe, Mildtätigkeit‘ afro-brasilianische Religion im Nordosten KultleiterIn typologisierte Geisterkategorie, ZigeunerInnen Brasilianische Bischofskonferenz Altar im Terreiro typologisierte Geisterkategorie, Kinder der europäischen HerrInnen Opfergaben für die Geister ’Geist‘ typologisierte Geisterkategorie, Gauner umbandistische Gemeinschaft Elendsviertel Brasiliens ’Anfertigung‘, Initiationsritus Medien (Bezeichnung aus der Sicht des/r KultleiterIn) ’Führer‘; persönlicher Geist; Kette der Medien Orixá des Windes Orixá des Salzwassers Orakel Evangelische Kirche lutherischer Konfession in Brasilien neopentekostale Kirche Bruderschaft Spiritismus nach Allan Kardec afro-brasilianische Religion im Südosten, häufig als Sammelbegriff für alle afro-brasilianischen Religionen verwendet

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Glossar

Mãe-de-santo Mãe Pequena Marinheiro / Marujo Missions-Aldeias Ogum Oguns Olorum Orixá Oxalá Oxóssi Oxum Pai-de-santo Pai Pequeno Pajelança Passes Pomba Gira Ponto cantado Ponto riscado Possessão Preto Velho / Preta Velha Quilombo Quimbanda Reunião (pl. Reuniões) Sala da congá Sessão (pl. Sessões) Sócio de Deus / Sócia de Deus Sofredores / Sofredoras Tambor-de-Mina Tenda Terreiro Vida abundante Xangô

Kultleiterin Assistentin des/r KultleiterIn typologisierte Geisterkategorie, Matrosen von Jesuiten zur Missionierung errichteter Dörfer Orixá des Feuers typologisierte Geisterkategorie, Soldaten höchster Gott, auch: Tupã, Zambi Geist aus der Gruppe der ehemaligen afrikanischen Gottheiten höchster Orixá Orixá des Waldes Orixá des Süßwassers Kultleiter Assistent des/r KultleiterIn afro-brasilianische Religion Abstreifen der negativen Energien typologisierte Geisterkategorie, Prostituierte Lieder Zeichnungen ’Besitzung‘ des Mediums durch einen Geist typologisierte Geisterkategorie, Alte afrikanische SklavInnen Siedlung der entflohenen SklavInnen afro-brasilianische Religion, häufig mit schwarzer Magie in Zusammenhang gebracht ’Versammlung‘, Gottesdienst der IURD innerer heiliger Bereich im Terreiro Kultsitzung Verbündete/r Gottes in der IURD ’Leidende‘, Geister der Verstorbenen afro-brasilianische Religion im Nordosten ’Zelt‘, Kultstätte ’Gelände‘, Kultstätte ’reiches Leben‘ gemäß der IURD Orixá des Gewitters; afro-brasilianische Religion in Pernambuco

Tafelteil

Abb. 1:

Typische Darstellung von Iemanjá; abgebildet auf einem Strandtuch.

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Abb. 2:

Tafelteil

Ogum besiegt den Drachen; links die Pflanze ’Schwert des Heiligen Georg‘.

Tafelteil

Abb. 3:

311

Xangô sitzt in einer Felsenhöhle; zu seinen Füßen ruht ein Löwe, neben ihm liegt eine Doppelaxt und an der Seite hängt ein Transparent mit den Zehn Geboten (Os Dez Mandamentos).

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Abb. 4:

Tafelteil

Iansã dargestellt als Heilige Barbara; neben ihr steht die Festung, aus der sie kurz vor dem Blitzeinschlag geflohen war.

Tafelteil

Abb. 5:

Sonnentempel auf dem Gelände von Tala

313

314

Abb. 6:

Tafelteil

Schale für Weihwasser am Eingang einer Kapelle für Nossa Senhora Aparecida bzw. Oxum

Tafelteil

Abb. 7:

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An den Farben ist erkennbar, zu welchem Geist welcher Gegenstand gehört: die hellblaue Kette zu Iemanjá, die grün-gelb-weiße zu den Caboclos/as und die schwarz-weiße zu den Pretos/as Velhos/as.

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Abb. 8:

Tafelteil

Salomo-Tempel und Chanukka-Leuchter

Abbildungsnachweis Farbbilder Abb. 1, 7:

Fotografien von aus Brasilien mitgebrachten Gegenständen, April 2008, S.P.

Abb 2:

Fotografie aufgenommen im Terreiro von Mãe Águida in São Leopoldo, März 2007, S.P.

Abb. 3, 4, 5, 6, 8:

Fotografien aufgenommen auf dem Gelände von Mestra Tala in Porto Alegre, April 2007, S.P.

Schwarz-weiß-Bilder Abb. 1-5:

Grafiken erstellt von S.P.

Abb. 6, 11:

Fotografien aufgenommen im Terreiro von Mãe Águida in São Leopoldo, März 2007, S.P.

Abb. 7:

Nachzeichnung erstellt von S.P.

Abb. 8, 9, 10:

Fotografien von aus Brasilien mitgebrachten Gegenständen, April 2008, S.P.

Abb. 12:

Fotografie aufgenommen in São Leopoldo, März 2007, S.P.

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Kardec, Allan: Das Buch der Medien. Ein Wegweiser für Medien und Anrufer über Art und Einfluß der Geister, die Theorie ihrer verschiedenen Kundgebungen, die Mittel zum Verkehr mit der unsichtbaren Welt und der möglichen Schwierigkeiten, denen man beim Experimentalspiritismus begegnen kann. Anweisungen für den experimentellen Spiritismus, Freiburg i. Breisgau 1964 Kardec, Allan: L' évangile selon le spiritisme. Contenant l'explication des maximes morales du Christ. Leur concordance avec le spiritisme et leur application aux diverses positions de la vie, Paris 1974 Kloppenburg, Boaventura: É alarmante o Crescimento do Baixo Espiritismo no Brasil, in: Revista Eclesiástica Brasileira 13/2, 1953, S. 416–420 Kloppenburg, Boaventura: Posição católica perante a Umbanda, Petrópolis 1954 Kloppenburg, Boaventura: Nossa atitude pastoral perante o Espiritismo, in: Revista Eclesiástica Brasileira 17, 1957, S. 1–2 Kloppenburg, Boaventura: A Umbanda no Brasil. Orientação para os Católicos (Vozes em Defesa da Fé, No. 2), Petrópolis 1961 Kloppenburg, Boaventura: Ensaio de uma Nova Posição Pastoral perante a Umbanda, in: Revista Eclesiástica Brasileira, 28/2, 1968, S. 404–417 Kloppenburg, Boaventura: A dimensão cultural na Umbanda, in: Conferência Nacional dos Bispos do Brasil, Leste I: Macumba, 2.Aufl., São Paulo 1976, S. 60–69 Kloppenburg, Boaventura: O Espiritismo no Brasil. Orientação para os católicos, 2. Aufl., São Paulo 1986 Knauth, Daniela Riva: A doença e a cura nas religiões afro-brasileiras do Rio Grande do Sul, in: Oro, Ari Pedro (org.): As religiões afro-brasileiras do Rio Grande do Sul, Porto Alegre 1994, S. 89–103 Lanczkowski, Günter: Die neuen Religionen, Frankfurt a. Main 1974 Lanczkowski, Günter: Einführung in die Religionsphänomenologie, Darmstadt 1978 Lanczkowski, Günter: Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 1980 Langhans, Franz Paul de Almeida: Antropologia luso-atlântica, Bd. 2: Estudo das „maneiras de viver“ do homem português, Lissabon 1970 Leeuw, Gerardus van der: Phänomenologie der Religion (Neue theologische Grundrisse), 2., durchges. u. erw. Aufl., Tübingen 1956 Leonhardt, Rochus: Grundinformation Dogmatik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch für das Studium der Theologie, 2., durchges. u. überarb. Aufl., Göttingen 2004 Levy-Bruhl, Lucien: La mentalité primitive, 2. Aufl., Paris 1922 Lima, Delcyr de Souza: Analisando crenças espíritas e umbandistas, Rio de Janeiro 1970 Lima, Dilson Bento de Faria Terreira: Malungo. Decodificação da Umbanda, Rio de Janeiro 1979 Loth, Heinrich: Sklaverei. Die Geschichte des Sklavenhandels zwischen Afrika und Amerika, gemeinsam hrsg. mit d. Arbeitsgemeinschaft Dritte-Welt-Läden e. V. u. d. GEPA (Ges. zur Förderung d. Partnerschaft mit d. Dritten Welt mbH), Wuppertal 1981 Luther, Martin: An den Christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen standes besserung, in: ders.: D. Martin Luthers Werke, kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, unveränderter Abdruck der Ausgabe v. 1888, Weimar 1966, S. 404–469 Macedo, Edir Bezerra: Mensagens, Rio de Janeiro 1995 Macedo, Edir Bezerra: Aliança com Deus, Rio de Janeiro 1996 Macedo, Edir Bezerra: Vida com abundância, Rio de Janeiro 1996 Macedo, Edir Bezerra: O Espírito Santo, Rio de Janeiro 1997

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Literatur

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Register Almeida 296 Amado 81, 125 Bandeira 19, 137 Bantu 69, 79ff., 103ff. Bastide 22, 120, 122, 124, 184ff., 192 Batuque 87, 123 Berger 299 Birman 25ff., 31, 248 Bobsin 31, 289 Brackmann 13, 15 Braga 19 Brandt 142f., 152 Brown 24ff., 120, 144, 173ff., 249 Brumana/Martínez 27, 136, 150ff., 224 Caboclos/as 82, 119, 138, 141, 149, 159ff., 168ff., 178, 181, 273 Cabral 65 Camargo 23f., 128, 184ff., 200 Candomblé 79ff., 123ff., 184ff., 289f. Carneiro 21 Cintra 28, 285f. CNBB 285ff. Concone 24, 26 Costa 25, 141, 287 Crianças 159, 164, 168, 171 Droogers 25, 28, 184, 193, 199 Dulle 15 Eliade 42, 54 Exu 165ff., 171, 174, 215, 283 Feigel 42 Feuerbach 37 Figge 14, 17, 136ff., 143, 152, 161, 276 Fischer 13, 133, 194, 237, 276ff. Flasche 14, 16ff. Fohr 18 Freitas 19 Fülling 13, 15 Gerbert 16 Geyser 42, 321 Giumbelli 120, 291 Heiler 36ff., 48ff., 60, 204, 213, 216, 220, 233, 242ff., 292 Horsch 17, 254 Iansã 150ff., 172

IECLB 14, 75, 196, 277ff. Iemanjá 25, 142ff., 151ff., 216, 222 Isabel 73, 222 IURD 12, 20, 198, 262ff., 289ff. Jesuiten 64ff., 112f. Jesus 101, 115f., 137ff., 210, 228, 256 Kardec 114ff., 231 Kloppenburg 23, 26, 32, 96, 282ff. Lanczkowski 38, 53 Leopoldine 75 Luther 255ff. Macedo 262ff. Macumba 83ff., 123f., 149 Magno 19 Malinowski 37 Maria 25, 110, 137ff., 174 Moraes 118ff., 214f., 249 Ogum 147ff., 169 Olorum 138ff., 205, 213, 220 Orixá 134ff., 154ff., 205f., 210f., 225ff., 299 Oro 30, 129 Ortiz 24, 26, 120ff., 137, 249 Otto 36, 40ff., 61, 204, 294 Oxalá 141ff., 154ff., 206, 210 Oxóssi 148ff., 221 Oxum 150ff., 206 Pedro II 126 Piepke 185, 201ff. Pierucci 30, 95 Pollak-Eltz 18, 27 Pomba Gira 157, 167ff., 246 Porto Alegre 33, 128, 139, 187, 276 Prandi 28, 30, 221 Pretos/as Velhos/as 119, 137ff., 158ff., 168, 171, 178, 181, 222, 273 Prien 66 Quimbanda 84ff., 123, 159, 166, 197, 224 Ramos 21, 120, 184ff. Reuter 18, 191f. Rio de Janeiro 79ff., 118ff., 147ff., 262, 303 Rodrigues 21, 124, 184ff.

330

Register

Sangirardi 136, 153 São Leopoldo 29, 33, 75, 100, 196, 216 São Paulo 83, 89ff., 128ff., 188, 190 Saraceni 20 Schleiermacher 40, 45 Silva, V. 29, 31 Silva, W. 19, 175f., 249 Söderblom 39, 49 Sofredor/a 173

Trindade 20 Velho 24, 254 Weingärtner 14, 184, 189ff., 277 Wöhlcke 15, 18, 123f., 233 Wulfhorst 14, 23, 29, 100 Xangô 143ff., 149ff., 206 Yoruba 69, 79ff., 103ff., 164ff. Zespo 19