»Das haben wir doch schon immer so gemacht«: Die »Ja, abers« in Kita und Hort [2 ed.] 9783666702457, 9783525702451

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»Das haben wir doch schon immer so gemacht«: Die »Ja, abers« in Kita und Hort [2 ed.]
 9783666702457, 9783525702451

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Malte Mienert

»Das haben wir doch   schon immer so gemacht« Die »Ja, abers« in Kita und Hort 2., veränderte Auflage

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Malte Mienert

»Das haben wir doch schon immer so gemacht« Die »Ja, abers« in Kita und Hort 2., veränderte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-70245-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de 2., veränderte Auflage Umschlagabbildung: © lavitrei/shutterstock.com © 2017, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

1. Das ABC der »Ja, abers« in Kita und Hort . . . . . . . . . . . . . 9 2. »Das ist doch alles nur Theorie. Die Praxis sieht doch ganz anders aus, Herr Mienert!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.1 Neue Pädagogik und alte Herausforderungen . . . . . . . 20 2.2 Ein Buch für Sie – und für mich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3. »Ja, aber das haben wir doch schon immer so gemacht!« . 27 3.1 Von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft . 27 3.2 Vom Kollektivismus in den Individualismus . . . . . . . . . 35 3.3 Internet, Globalisierung und Technologie . . . . . . . . . . . 39 3.4 Überwachte Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.5 Demografischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.6 Deutschland als Einwanderungsland . . . . . . . . . . . . . . . 44 3.7 Veränderungen in den familiären Strukturen . . . . . . . . 46 3.8 Fachkräfte der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4. »Grobziel, Feinziel, methodische Umsetzung. Pläne genauso wie früher!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Anforderungen von Gegenwart und Zukunft . . . . . . . . 4.2 Neue Bildungspläne aller Bundesländer . . . . . . . . . . . . 4.3 Die neuen Bildungspläne und die alte Rolle der  pädagogischen Fachkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn – Die Motoren menschlicher Entwicklung . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Entwicklungsmotor Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Entwicklungsmotor Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Entwicklungsmotor Selbststeuerung . . . . . . . . . . . 4.5 Von der Fremd- zur Selbstbildung der Kinder . . . . . . . 4.6 Die neuen Bildungspläne im Praxistest – Konflikte lauern überall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

5. »Sie sind doch gar kein Pädagoge, Herr Mienert!« . . . . . . 5.1 Pädagoginnen und Pädagogen stehen unter dem Druck vieler Erwartungen und  Rollenanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Bindungs- und Vertrauensperson . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Fachkraft für kindliches Lernen . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Netzwerker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Erwachsenenbildner und Erziehungspartner . . . . 5.1.5 Beobachter und Dokumentatoren . . . . . . . . . . . . . 5.1.6 Basteltante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.7 Feldwebel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.8 Animateure und Anbieter von Spielideen . . . . . . 5.1.9 Pflegerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. 1. 10 Wisser-Was-Das-Kind-Denkt-Und-Braucht . . . 5.2 Verschiedene Rollen – der Versuch einer Integration . .

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6. »Und basteln dürfen wir dann auch nicht mehr?!« . . . . . . 6.1 Pädagoginnen und Pädagogen verfolgen Ziele . . . . . . . 6.2 Pädagoginnen und Pädagogen schwanken zwischen dem Kind und der Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Pädagoginnen und Pädagogen wollen von den Eltern gemocht werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 »Wir arbeiten in Erziehungspartnerschaft   mit den Eltern« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 »Sie tun es nicht, um uns zu ärgern« . . . . . . . . . . . 6.3.3 »Erziehungspartnerschaft ist wie Dirty Dancing« 6.3.4 »Probleme müssen besprochen werden,    bevor sie aufgetreten sind!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Pädagoginnen und Pädagogen haben viel Nachsicht für ihresgleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. »Nicht mal mehr loben soll man?« – Von der trainingsorientierten zur beziehungsorientierten Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Der alltägliche Kampf um Sieg oder Niederlage . . . . . . 7.2 Beziehungsorientierte Pädagogik heißt nicht: Jeder macht, was er will . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Beziehungsorientierte Pädagogik braucht Zeit . . . . . . .

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Inhalt7

7.4 Beziehungsorientierte Pädagogik geht unter die  Wasseroberfläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Beziehungsorientierte Pädagogik beruht auf Ehrlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Beziehungsorientierte Pädagogik setzt auf  Situationsgestaltung, nicht auf persönliche  Auseinandersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Beziehungsorientierte Pädagogik benötigt entwicklungspsychologische Grundkenntnisse . . . . . . 7.8 Beziehungsorientierte Pädagogik – ein Ausblick, kein Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Von den »Ja, abers« hin zu den »Auf geht’s« . . . . . . . . . . . . 202 9. »Das, was Sie erzählen, ist doch alles gar nicht neu!« – Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 10. »Und, was verdienen Sie an den verkauften Büchern?!« – Tipps zum Weiterlesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

1. Das ABC der »Ja, abers« in Kita und Hort

A

nna hat Angst – »Wir machen das mit der Eingewöhnung ganz individuell.«

»Anna ist eines von den stilleren Kindern in ihrer Gruppe. Sie ist erst seit drei Monaten bei uns. In der Eingewöhnung gab es wenige Probleme mit ihr. In den wenigen Tagen, die ihre Mutter anwesend sein konnte (ihr neuer Job ließ nur kurz Zeit für die Eingewöhnung), zeigten sich keine Anpassungsprobleme. Warum also auch lange eingewöhnen? Ganz individuell sind wir von unserem üblichen Eingewöhnungsprozedere abgewichen. Dass Anna Angst zeigt, weint, und sich nicht von Mama trennen möchte, ist, völlig überraschend, vor einem Monat erstmals zu beobachten gewesen.«

B

ritta belegt sich selbst ein Brötchen – »Messer, Gabel, Schere, Licht …«

»Soll eine Vierjährige wie Britta bereits mit einem Messer hantieren wie die Großen? Im Team bestehen daran große Zweifel. Schließlich gibt es ja auch gar keinen Grund dafür. Die Erzieherinnen und Erzieher haben bisher allen Kindern die Brötchen geschmiert, und es gibt kindgerechtes Plastikgeschirr, mit bunten Bildern, wirklich niedlich. Britta könnte sich doch verletzen. Und dann bekommen wieder die Erzieherinnen und Erzieher den Ärger. Was werden denn die Eltern sagen, wenn sie Britta mit dem Messer sehen? Wir haben doch auch eine Aufsichtspflicht. Und müssen die Kinder von Gefahren fernhalten.«

C

arlos cremt gern sein Gesicht ein – »Wir fragen uns schon, ob der Carlos irgendwie andersrum ist.«

»Wir kennen den Carlos ja nun schon seit einigen Jahren. Er hat schon im Kindergarten am liebsten mit den Mädchen gespielt und auch sonst so Sachen gemacht, die eigentlich eher für die Mädchen typisch sind. Puppenspiele, Verkleiden, in der Kochecke spielen und solche Sachen. Er hat sich auch die Fingernägel angemalt, und einmal kam er sogar im Rock in die Einrichtung. Naja, soll er ruhig, aber wir haben ihn immer wieder ermuntert, sich auch mit echten Jungssachen zu beschäftigen, mal Fußball zu spielen oder so. Da hat er dann

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Das ABC der »Ja, abers« in Kita und Hort

angefangen zu weinen, richtig wie ein Mädchen. Jetzt ist er bei uns im Hort, und die anderen Kinder ziehen Carlos oft auf. Nennen ihn schwul und so. Wir verteidigen ihn dann immer und sagen dann, die Kinder sollen solche Worte nicht verwenden. Aber wir fragen uns natürlich schon, ob da vielleicht was dran ist. Vielleicht wird er ja wirklich schwul und kriegt dann lauter Probleme im Leben. Seine Mutter ist recht gelassen, aber sein Vater übt echt viel Druck auf den Jungen aus.«

D

aisy ist unser Dickerchen – »Haben die Eltern denn darauf nicht geachtet?«

»Dass Daisy übergewichtig ist, kann doch nicht nur den pädagogischen Fachkräften auffallen. Trotzdem, Unterstützung kommt von den Eltern keine. Vater und Mutter sind ja auch nicht gerade die Allerschlanksten. Alle kleinen Hinweise an die Eltern, der Verweis auf das Projekt Gesunde Ernährung und die ausgehängte Pyramide mit den Oft-Und-Viel-Lebensmitteln und den AchtungLieber-Gar-Nicht-Lebensmitteln, scheinen die Eltern zu ignorieren. Neulich habe ich es sogar angesprochen. Als Daisys Vater da war, hab ich Daisy gefragt: ›Magst du dem Papa nicht mal erzählen, wie gut dir der Salat heute zum Mittag geschmeckt hat?‹ Und dann wird sie morgens sogar noch im Buggy gebracht? Was soll denn daran gesund sein?«

E

mines Eltern kommen nie – »Typisch, beim Elternabend fehlen wieder die, die es eigentlich brauchen würden.«

»Ach Frau Endogin, schön, dass ich sie heute wenigstens beim Abholen von Emine treffe. Leider waren sie ja wieder nicht beim Elternabend mit dabei. Das Thema wäre schon für sie interessant gewesen. Es ging um die kleinen Beiß­ unfälle, die in letzter Zeit häufiger passieren. Sie wissen doch, Emine macht uns da einiges an Sorgen …«

F

ritz macht immer Faxen – »Dieses Kind hat ADHS, kein Zweifel.«

»10 Jahre alt und das Stillsitzen immer noch nicht gelernt. Immer ist es Fritz, der mit seinen Faxen aus der Reihe tanzt. Er steht auf, wenn er sitzen soll, tanzt, wenn er stehen soll, springt, wenn er tanzen soll. Schule, Hausaufgaben, Disziplin, Regeln in der Gruppe – all das bedeutet offensichtlich nichts für Fritz. Konzentrationsgestört, ganz offensichtlich, ADHS, kein Zweifel. Da lass ich mir auch von einem Kinderarzt doch nicht erzählen, so was sei völlig normal und verwächst sich wieder.«

Das ABC der »Ja, abers« in Kita und Hort11

G

ustaf ist schon ganz gelenkig – »Ja, aber was ist mit der Aufsichtspflicht?«

»Ich merk schon, Gustaf hat einen großen Bewegungsdrang. Für einen Zweijährigen ist er schon unglaublich schnell unterwegs. Lass ich nur die Tür einen Spalt offen, ist er mir schon entwischt. Selbst die große Treppe klettert er schon selbst rauf und wieder runter. Wie soll ich denn da die Aufsichtspflicht gewährleisten. Wenn er immer so flitzt, dann wird er sich noch mal schwer verletzen.«

H

annes macht nie Hausaufgaben – »Was sollen denn die Lehrerinnen und Lehrer und seine Eltern von mir denken, wenn ich den einfach nur spielen lasse?«

»Von den Lehrerinnen und Lehrern bekommen wir immer einen Zettel mit in den Hort. Was wir mit den Kindern noch üben sollten. Hin und wieder stehen auch andere kleine Aufträge mit auf dem Zettel. Es wäre schon schön, wenn wir im Hort mal Kekse backen würden, für den Kuchenbasar. Oder ein Programm fürs Schulfest vorbereiten. Oder vielleicht auch mal eine kleine Präsentation für den Einschulungselternabend. Da sind wir ja selbst als Horterzieherinnen nicht dabei. Natürlich können die Kinder bei uns die Hausaufgaben machen. Ist freiwillig, aber die Eltern legen da schon großen Wert darauf, dass die gemacht sind, wenn die Kinder um vier nach Hause gehen. Wir haben mal bei der Schuldirektorin nachgefragt, ob Hausaufgaben denn wirklich sein müssten. Die Kinder sind ja schon ziemlich k.o., wenn sie aus der Schule kommen. Aber da hat die Schulleiterin auf die Grundschulverordnung verwiesen. Danach wären Hausaufgaben Pflicht, das täte ihr auch leid. Ich wollte immer mal selbst in die Grundschulverordnung schauen, ob das so drin steht. Ich bin irgendwie noch nicht dazu gekommen. Ich muss mich ja um Hannes kümmern und ihn zu den Hausaufgaben motivieren.«

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nez und Immo inklusiv – »Da fehlen uns die Fachkräfte. Dafür sind wir nicht ausgebildet.«

»Jetzt haben wir gerade noch Integration gemacht. Für unsere Integrativkinder haben wir spezielle Fachkräfte, die sich speziell um diese Kinder kümmern. Auf einmal nun Inklusion? Wer hat sich denn so was ausgedacht? Noch mehr Arbeit? Für Kinder mit Behinderungen haben wir keine Ausbildung bekommen. Das ist doch nur wieder eine neue Masche, um auf unserem Rücken Geld zu sparen und die Sonder- und Förderschulen zu schließen, wo solche Kinder doch eigentlich am besten aufgehoben sind.«

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J

Das ABC der »Ja, abers« in Kita und Hort

ulius ganz jähzornig – »Da muss ich doch durchgreifen, zum Schutz der anderen Kinder.«

»Wenn Julius seine Ausraster hat, dann kennt der gar nichts mehr. Er wirft mit allem, was ihm in die Finger kommt, greift andere Kinder an, haut, schlägt, beißt, tritt. Seine Aggressionen hinterlassen tiefe Wunden bei anderen Kindern. Selbst nach mir hat er schon getreten und geschlagen. Ich muss ihn dann oft am Arm packen und ihn von den anderen Kindern richtig wegzerren, sonst überleben die womöglich nicht. Klar, er wird dann von mir aus dem Raum in ein anderes Zimmer gebracht, wo er seine Aggressionen abbauen kann. Geredet habe ich mit ihm schon so oft, das bringt überhaupt nichts. Auch mit seinen Eltern habe ich schon gesprochen, hat auch nichts gebracht. Eine Kollegin hat mir die Festhaltetherapie empfohlen, ihn also in seiner Wut zwischen meine Beine klemmen und ihn ganz fest umarmen. Das geht vielleicht noch bei einem 8-Jährigen wie Julius. Aber der wird doch immer stärker.«

K

im und Kathi feiern keinen Karneval, Fritz und Fine reagieren bei Fasching ganz verstört – »Aber die Eltern wollen doch den  Karneval, das war doch immer so niedlich.«

»Was, Herr Mienert, keinen Fasching und Karneval mehr für die Krippenkinder und alle unter 3 Jahren? Selbst für die größeren Kinder höchstens als freiwilliges Angebot? Na, das können Sie gern mal unseren Eltern erklären. Fasching und Karneval haben wir immer schon gefeiert, das hat doch keinem Kind geschadet. Das ist doch auch zu niedlich, wenn die Kleinen als Mariechenkäfer und Indianer verkleidet sind. Naja, ganz ehrlich, ich selbst finde Verkleiden auch schrecklich. Und viele Kinder gucken ganz verängstigt. Aber wo kommen wir denn hin, wenn wir alle Traditionen auf einmal abschaffen?«

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ennart lernt aufräumen – »Man muss auch mal müssen und kann nicht immer nur wollen!«

»Drei Jahre alt, da kann man doch schon ein gewisses Grundverständnis für Ordnung und Regeln erwarten, oder? Nicht bei Lennart, offenbar. Ich sag ihm, er soll seine Sachen aufräumen, und dann schaut er mich an und schaut durch mich durch und geht einfach weg. Dabei haben wir in unserer Gruppe die gemeinsame Regel, dass jeder seine Sachen aufräumt, wenn er mit Spielen fertig ist. Das hab ich ihm schon hundertmal gesagt. Das ist doch nicht in Ordnung. Das Leben besteht doch nicht nur aus Spaß, es gibt doch auch Pflichten. Natürlich muss man da auch manchmal mit ihm schimpfen.«

Das ABC der »Ja, abers« in Kita und Hort13

M

ax muss mal – »Die Sauberkeitsentwicklung ist eines unserer wichtigsten Erziehungsziele.«

»Als Max zwei Jahre alt war, da hab ich mir noch keinerlei Gedanken gemacht, wenn er immer noch die Windel wollte. Wissen Sie, es ist ja nicht mehr wie früher, als die Kinder schon mit einem Jahr auf den Topf sollten. Zwei finde ich schon okay. Die Eltern wollen das ja auch. Sie wollen, dass wir ihn jetzt von der Windel wegbringen, er ist ja schon drei Jahre alt. Naja, ich brauche Ihnen ja sicherlich nicht zu erzählen, dass die Eltern auch immer die Ersten sind, die zuhause die Windeln wieder anlegen. Ist ja auch praktischer, sicherlich, aber er muss doch nun mal endlich sauber werden. Die anderen Kinder lachen ja schon über ihn, wenn die Hose wieder nass ist.«

N

oah ist natürlich nicht müde – »Jedes Kind braucht Mittagsschlaf.«

»Doch, dazu gibt es Studien, Herr Mienert. Die haben das endgültig bewiesen. Für die Gehirnentwicklung der Kinder ist es unablässig, dass die Kinder mittags mindestens 30 Minuten schlafen, oder eine Stunde, oder zwei Stunden, da sind sich die Studien nicht ganz einig. Da werden die Synapsen neu verknüpft. Na, wenigstens ruhen sollten die Kinder. Wann soll ich denn sonst meine Portfolios schreiben? Ich brauch doch auch mal eine Pause.«

O

rnella soll Ordnung halten – »Wenn ich das einem erlaube, wollen das morgen alle.«

»Eine 10-Jährige wie Ornella ist doch eigentlich schon ganz vernünftig. Ihre Arbeitsmaterialien sehen trotzdem immer durcheinander aus. Dabei haben wir doch gemeinsam besprochen, wie die Arbeitsmaterialien zu sortieren sind. Die Hefte und Bücher an der Außenseite des Tisches, dann zur Mitte die Stifte. So geht das doch mit den Hausaufgaben viel einfacher. Kreatives Chaos nennt das meine Kollegin, ja, die ist ja selbst nicht besser. Wenn die in meinem Raum an meinen Materialien war, find ich ja auch nichts wieder. Wenn es nach Ornella ginge, würde sie bei den Hausaufgaben auf ihrem Bauch liegen und mit den Beinen schlenkern. Na wundervoll, und dann wollen das morgen im Hort alle, oder?«

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ias Papa ist weg – »Dem Kind fehlt schon der Vater, das merkt man sehr.«

»Die Familiensituationen der Kinder geben uns im Team immer viel Diskussionsstoff. Wir sind ja ein schwieriges Einzugsgebiet, da lebt kaum noch ein Kind in einer normalen Familie. Pias Papa ist weg, da war die Pia schon sehr traurig, und dass die Mutter nun alleinerziehend ist, das stresst die Pia doch noch viel mehr. Pauls Mama ist nicht so lang allein geblieben, nach der Trennung von Pauls Papa, da schmunzeln wir schon immer ein bisschen, wenn da wieder ein neuer Papa ankommt und uns die Abholberechtigung präsentiert. Und Petras Mutter ist nun lesbisch, ich meine, da haben wir ja alle wirklich nichts dagegen, aber jedes Kind braucht doch einen Vater, oder? Aber nicht unbedingt gleich zwei davon, wie bei Piet. Wer ist denn da eigentlich die Frau, von den beiden Vätern?«

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uentins Vater quengelt – »Wieder nur gespielt? Wann gibt es denn endlich wieder mehr Angebote?«

»Keine Angebote in der Krippe? In der Kita nur Angebote, die von den Kindern selbst kommen? Freizeit als einziges Angebot im Hort? Das können Sie gern mal unseren Eltern erzählen. Eltern wie Herr Quindt haben die Zukunft ihrer Kinder schon für die nächsten Jahrzehnte geplant. Er wird ganz unruhig, wenn ­Quentin einfach gern mit Lego spielt. Ihm fehlen weitere Vorschulangebote. Dabei machen wir schon ganz viel an Bastelarbeiten, um die Handgeschicklichkeit der Kinder durch Stifthaltung und Schereschneiden zu trainieren. Neulich war er richtig sauer. Von seinem Kind hing kein Bild in der Sonnenblumengalerie im Flur. Dabei hatte ich doch schon mit Engelszungen auf Quentin eingeredet, er solle doch auch mitmachen, sein Vater wäre sonst traurig. Vielleicht hat Herr Quindt ja Recht. Wir sind doch Dienstleister für die Eltern, die bezahlen ja Beiträge dafür und haben ja ein Mitbestimmungsrecht.«

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ike mag keine Roten Rüben – »Wenigstens mal probieren, ein kleiner Kostehappen.«

»Ich will doch gar nicht, dass die Kinder alles aufessen. Mir selbst schmeckt ja auch nicht alles. Muscheln finde ich selbst widerlich. Aber so was gibt es doch in der Kita gar nicht. Das ist doch alles ganz normales Essen. Wenigstens mal probieren, wenigstens ein kleiner Happen. Zwei Löffelchen voll. Woher will denn Rike überhaupt wissen, dass ihr das nicht schmeckt. Ich hatte so viele Kinder, die erstmal alles abgelehnt haben. Wenn ich sie dann motivieren konnte, doch einmal wenigstens einen Happen zu probieren, dann hat es den Kindern sogar immer geschmeckt. Die waren fast dankbar, dass ich sie dazu gebracht habe. Manche haben heute sogar Rote Rüben als Lieblingsessen.«

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S

imon isst kein Schweinefleisch – »Können die Eltern ihre Religion nicht wenigstens aus der Krippe raushalten?«

»Ja, wir machen schon viele Zugeständnisse an unsere muslimischen Eltern. Und an unsere jüdischen Eltern, wie die von Simon. Unsere vegetarischen Eltern haben sich jetzt wenigstens ein fleischfreies Gericht gewünscht. Das klären wir gerade mit unserem Essensanbieter ab. Wir sind ja auch Dienstleister für die Eltern, das hat der Träger gerade erst wieder sehr betont. Im Moment wird in der Elternschaft darüber diskutiert, ob wir Weihnachten nicht abschaffen sollten. Die christlichen Eltern sind ja bei uns in der Minderheit. Ist wirklich auch nicht schön, das Feiern, für unsere Zeugen Jehovas. Da gibt es ja keine Weihnachts­ geschenke. Aber wenn wir nun Zuckerfest feiern? Das wäre doch auch nicht besser. Wir haben doch christliche Traditionen, oder? Ich meine, unsere christlichen Traditionen, nicht die orthodoxen Traditionen unserer russlanddeutschen Familien. Da kommt der Weihnachtsmann ja erst im Januar.«

T

essa traut sich Treppen – »Laufgitter haben uns doch auch nicht geschadet.«

»Herr Mienert, kommen Sie mal zu uns in die Einrichtung. Haben Sie eigentlich selbst Kinder? Wenn Sie Kinder hätten, dann wüssten Sie, das geht gar nicht, eine Gruppe von Krippenkindern einfach so spielen zu lassen. Die gehen überall ran, wo sie nicht ran sollen. Neulich haben sie das Telefon auf meinem Schreibtisch kaputt gemacht. Obwohl ich immer gesagt habe, da sollen sie nicht rangehen. Und klettern sogar schon die Treppen hoch. Wir haben doch gar keine Lauf­gitter bei uns. Nur so einen wirklich schönen abgeteilten Spielbereich, wo wir die Kinder reinsetzen, wenn wir mal müssen. Das ist doch kein Gitter, das haben die Väter wirklich schön gebastelt und bunt bemalt, die kleine Barriere. Wir sind doch auch im Laufgitter groß geworden, in der Krippe damals. Aus uns ist doch auch was geworden. Und überhaupt, zu viele Reize überfordern die Krippenkinder. Meine Uroma hat sogar empfohlen, der Raum für die Kleinen sollte kühl und leicht abgedunkelt sein, damit die Kinder nicht überflutet werden.«

Ü

mran übt das Ü – »Auch hochbegabte Kinder müssen sich in die Gruppe einfügen lernen.«

»Für die erste Klasse ist Ümran wirklich schon weit. Sie konnte schon vor der Schule Buchstaben und bis 10 rechnen. Hochbegabt, die Eltern haben mir sogar die Diagnose vom Psychologen gezeigt. Und, soll ich jetzt für sie ein Extraprogramm machen? Ich hab 20 Kinder in meiner Hortgruppe. Viele davon haben Deutsch nicht mal als erste Sprache, die können sich kaum mit mir verständigen. Und dann die neuen Flüchtlingskinder, denen müssen wir zuallererst

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mal Deutsch beibringen, bevor wir irgendwie mit ihnen arbeiten können. Für Hochbegabte bin ich echt nicht ausgebildet. Aber Ümran lernt bei uns etwas ganz Wichtiges. Auch ein super intelligentes Kind kann bei uns lernen, sich an Regeln zu halten und in die Gruppe einzufügen. Das wird ihr später sicher helfen, damit sie nicht so überkandidelt wird und nur an sich denkt. Die anderen Kinder holen sie schon immer gut runter, wenn sie mal wieder als Erste fertig ist und ihre Faxen macht. So wird Ümran bestimmt doch noch gruppenfähig.«

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incent verballert sein Gehirn – »Die Kinder von heute sind doch alle computersüchtig!«

»Nein, Herr Mienert, bei uns gibt es keine Computer. Die sind doch viel zu teuer, wo sollen wir das Geld dafür hernehmen. Aber sowieso, für die kindliche Entwicklung sind Computer schädlich. Das hat auch ein berühmter Hirnforscher gesagt. Die Kinder ballern bei den Computerspielen ihr Gehirn weg. Bei uns lernen die Kinder noch mit den natürlichen Materialien. Blätter, Bäume, all die Dinge, die Kinder von heute ja gar nicht mehr kennen. Wir haben damals ja noch gelesen, auch heimlich, unter der Bettdecke, viele Stunden lang. Unsere Eltern hatten Sorge, wir könnten lesesüchtig sein, so ein Quatsch. Und später hatten alle Angst, wir werden fernsehsüchtig. Das ist doch mit den Computern und dem Internet und den Smartphones heute ganz anders. Die machen wirklich abhängig. Medienerziehung in der Kita? Nee, das mit Computern können die Eltern gern abends mit den Kindern zuhause machen. Ich nutze ja mein Smartphone wirklich nur für SMS. Und WhatsApp natürlich, um mit meinen Kindern in Kontakt zu bleiben. Und hin und wieder, um mal schnell was im Internet zu suchen, oder für wichtige Telefonate, oder auch mal zum Fotografieren. Gibt es hier eigentlich eine Steckdose? Mein Akku ist schon fast alle.«

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illi will das nicht – »Und dann grinst er mich auch noch ganz frech an, wenn ich mit ihm schimpfe.«

»Willi weiß ganz genau, wie er mich kriegen kann. Trotzalter schön und gut, aber der wartet immer richtig ab, bis ich gucke, und dann nimmt er die Teetasse und führt sie ganz langsam, so richtig bewusst mit seinem Zeigefinger an den Rand des Tisches. Wenn ich dann rufe, er soll das sein lassen, dann macht er es extra. Er schubst die Tasse und guckt mich dann triumphierend an, wenn der Tee auf dem Boden rum schwabbert. Aber dann grinst er mich auch noch ganz frech an. Der will mich wohl provozieren, oder was?«

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aver, Xenia x-beliebig  – »Bei Ihnen können die Kinder wohl machen, was sie wollen.«

»Demokratie, Partizipation von Kindern? Die Kinder können also alles selbst entscheiden? Spielen, was sie wollen, Essen, was und wann sie wollen, Mittagsschlaf gibt es dann ja sicher auch nicht mehr. Das können Sie uns gern zeigen, arbeiten Sie mal 14 Tage bei uns in der Einrichtung. Kinder brauchen doch Grenzen und Strukturen. Sonst landen wir noch im antiautoritären Kinderladen. Ich als Erzieherin kann doch auch nicht machen, was ich will. Denken Sie, meine Chefin macht Demokratie mit uns? Gruppensprecher oder einen Kinderrat gibt es bei uns nicht. Die Krippenkinder können doch eh noch nicht sagen, was sie wollen. Die Kindergartenkinder können ihre Anliegen ja auch an mich herantragen, und ich gebe das dann in der Dienstberatung so weiter.«

Y

unus macht bei seinen Yuppieeltern, was er will – »Wir müssen doch alle an einem Strang ziehen!«

»Zuhause darf der Yunus ja alles. Ein richtiger kleiner Macho wird das mal. Ist er eigentlich schon, trotz seiner neun Jahre. Als einziger Junge, da hat er schon zuhause das Sagen. Und tanzt seinen Eltern auf der Nase rum. Der kriegt die anderen immer dazu, es so zu machen, wie er es will. Und dann guckt er immer mit seinen dunklen Augen und lächelt, als ob er kein Wässerchen trüben könnte. Ich mag ihn schon ganz gern, ja. Aber was wird das später, wenn er dauernd nur Ärger macht. Von seinen Eltern kommt keine Unterstützung, null. Neulich hat sein Vater sogar zu mir gesagt, er möchte nicht, dass sein Kind erzogen wird. An seinem Kind solle nicht rumgezogen werden. Ganz komisch hat er das Wort ›Erziehung‹ dabei betont, als ob das was Schlimmes wäre. Aber die Eltern haben doch den Erziehungsauftrag, nicht wir. Wir sollen die Kinder doch bilden. Wie soll der Junge denn Regeln lernen, wenn es zuhause wohl überhaupt keine Regeln für ihn gibt.«

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acharias zählt keine Zaubersteine – »Ja, aber was ist mit der Schule später?«

»Die Liste unserer Angebote bietet für jedes Kind etwas. Montags wird gemeinsam gesungen, dienstags wird geturnt, mittwochs sind wir alle ganz kreativ, donnerstags ist die Sprachförderkraft bei uns, und freitags bieten alle Erzieherinnen und Erzieher etwas Unterschiedliches an. Unser freier Freitag, wir arbeiten nämlich halboffen. Natürlich gibt es für Vorschulkinder wie Zacharias noch ganz spezielle Angebote, Stifthalten, Schereschneiden, Auf-Der-Linie-Malen, alles, was Kindern Spaß macht, auch mal still sitzen und sich über eine längere Zeit kon-

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Das ABC der »Ja, abers« in Kita und Hort

zentrieren, das lernt bei uns die Vorschulgruppe. Einmal in der Woche kommt sogar die Grundschullehrerin zu uns und arbeitet mit den Großen. Wir haben das angeboten, im Kooperationsvertrag mit der Schule. Es hatte Beschwerden von der Schule gegeben, die Kinder wären heute gar nicht mehr richtig schulfähig. Selbst basale Fertigkeiten würden den Kindern heute fehlen. Das berichten inzwischen sogar die Ausbildungsbetriebe. Bei der Einschulungsuntersuchung dürfen wir ja leider nicht dabei sein. Da können die Kinder ja manchmal gar nichts mehr. Die Jugendlichen heute können auch nicht mehr richtig lesen und schreiben und rechnen. Es gibt doch so was wie ein Allgemeinwissen, das jeder beherrschen sollte. Da müssen wir die Kinder schon manchmal ein bisschen motivieren, auch Zacharias. Wir als Erwachsene haben ja auch nicht immer Lust und müssen trotzdem arbeiten gehen. Es ist doch nicht alles immer nur freiwillig und Spaß … Die machen alle gern mit, freiwillig. Nur Zacharias nicht. Da mach ich mir schon ein bisschen Sorgen.«

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Die folgende Symbolik gibt Ihnen im Buch Orientierung:

Beispiel, Anekdote

Tipps und Anregungen für die Praxis

Fragen zur Selbst- und Teamreflexion

2. »  Das ist doch alles nur Theorie. Die Praxis sieht doch ganz anders aus, Herr Mienert!«

2.1 Neue Pädagogik und alte Herausforderungen Ach, so viele »Ja, abers«. Ich habe sie in meiner Einführung einmal alphabetisch sortiert, als kleines Kita- und Hort-ABC – quasi ein »Ja-ABer-C« der frühkindlichen Bildung. Ich arbeite mich durch diese »Ja, abers«, die mir in meiner Arbeit als Entwicklungspsychologe und freiberuflicher Fortbildner lauthals entgegenschallen, wenn ich mit pädagogischen Fachkräften1 über eine notwendige Neuausrichtung der Kindheitspädagogik diskutiere. Ein neuer Blick auf Kindheitspädagogik, ein neues Bildungsverständnis, das den Selbstbildungsprozess der Kinder in das Zentrum der Arbeit in Kindertagesstätten und Horten stellt und eine neue Herangehensweise an die Umsetzung pädagogischer Ziele im Elementarbereich haben mit den Plänen der Bundesländer für die Neuausrichtung der Arbeit in den pädagogischen Einrichtungen in Deutschland Einzug gehalten. Kinder sind aktive Gestalter ihrer Lern- und Entwicklungsprozesse. Sie konstruieren sich ihr Wissen von der Welt selbst, erwerben Fähigkeiten in der Auseinandersetzung mit Problemstellungen, planen Problemlösungen, probieren sich aus und wachsen an Fehlern genauso wie an Erfolgen. Unbestreitbar sind die Vorteile, die diese Neuausrichtung für die Kinder mit sich bringt. Dreh- und Angelpunkt, ob die Umsetzung der Bildungsstandards in den Kindertages1 Erzieherinnen, Erzieher, Sozialpädagoginnen, Sozialpädagogen, Kindheitspädagoginnen, Kindheitspädagogen, Sozialassistentinnen, Sozialassistenten, Kinderpflegerinnen, Kinderpfleger, Lehrerinnen, Lehrer … Im Buch werde ich mich bemühen, beide Geschlechter gleichberechtigt zu benennen. Bitte sehen Sie es mir nach, wenn dies an manchen Stellen nicht gelingt und an anderen Stellen etwas gestelzt erscheint. Nur die weibliche Form wähle ich immer dann, wenn es um konkrete Beispiele und Zitate geht oder wenn aus historischen Gründen der Realität nahezu ausschließlich weiblicher Fachkräfte in der Vergangenheit Rechnung getragen wird.

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stätten auch langfristig gelingen und die pädagogische Arbeit in der Kindheit auf feste Füße stellen wird, sind jedoch Sie als die Personen, die unmittelbar mit den Kindern arbeiten – die Erzieherinnen und Erzieher. Die Ausrichtung der pädagogischen Arbeit auf das Wohl der Kinder ist kein neuer Trend in der Pädagogik. Schon seit Jahrhunderten wird unter den Pädagoginnen und Pädagogen nach dem Weg gesucht, wie kindliches Lernen bestmöglich unterstützt werden kann und dabei eine gute Betreuung bei guter Beziehung zu den Erwachsenen ermöglicht werden kann. Comenius, Montessori, Rousseau, Steiner, Pestalozzi, Makarenko, Pikler sind nur einige von denen, die die Frage nach dem bestmöglichen Weg für Bildung und Betreuung von Kindern in pädagogischen Einrichtungen immer wieder neu aufgeworfen haben. Ihre Ansätze einer Bildung, die von der Neugierde und dem Lernwillen der Kinder selbst ausgeht, auf ihre Motivation vertraut, Spaß am Lernen und am Entdecken hochhält und dabei auf eine vertrauensvolle zuverlässige Beziehung zu den Erwachsenen setzt, sind also keine Gedanken, die erst im Zuge eines PISA-Schocks, im Zuge neuer Bildungspläne oder reformpädagogischer Bestrebungen von Bildungsträgern und Initiativen wie aus dem Nichts aufgetaucht sind. Trotzdem scheint jede Generation von Erwachsenen einen erneuten Kampf um die Deutungs­ hoheit für die Bildung der Kinder zu führen. Immer wieder gerät die Kindheitspädagogik in die immer neuen Diskussionen darüber, was Kinder lernen müssen, was sie angeblich wirklich brauchen, was in den ersten Lebensjahren unbedingt erfahren und erlebt werden muss und wie Kinder zum Lernen zu motivieren seien, welche Fähigkeiten sie unbedingt benötigen und welche Kenntnisse auf alle Fälle in die Köpfe der Kinder hineinzubefördern wären. Das Schulsystem hat sich dem Prinzip eines Wissens- und Fächerkanons verpflichtet, das auf Prinzipien von Grundfertigkeiten, Grundwissen und Grundkenntnissen beruht, die anhand eines vorbereiteten Lernplans in einem vorbereiteten Lernumfeld durch didaktische Methoden an die Kinder zu vermitteln wäre. Stoff soll durchgenommen werden, Allgemeinwissen soll dabei entstehen und nach Möglichkeit auch längerfristig behalten werden. Ob das gut ist? Ob das realistisch ist? Ob es heute so etwas wie einen Grundkonsens allgemeiner Wissens- und Fähigkeitsbestände

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»Das ist doch alles nur Theorie«

geben kann, der universell an die Kinder in der Schule zu vermitteln wäre? Ich persönlich hege da große Zweifel. Aber mein Anliegen in diesem Buch ist es nicht, die Schule zu reformieren. Ich wende mich insbesondere an die pädagogischen Fachkräfte, die eigentlich von schulischen und Fächerzwängen befreit sind, wo kein Stoff vermittelt werden muss und Unterrichtsziele erreicht und in Noten quantifiziert werden müssen – in den Kinderkrippen, den Kindertageseinrichtungen und den Horten sowie in der Nachmittagsbetreuung im ganztägigen Lernen. Wo es keine oder wo es noch keine abrechenbaren Lernziele eines Lehrplans gibt, da ist die Unsicherheit bei den pädagogischen Fachkräften groß. Lernen die Kinder bei uns alles, was sie für ihr Leben brauchen? Werden die Kinder bei uns ausreichend auf das Leben vorbereitet? Und auf die Schule? Und was ist dabei wichtiger, die Schul- oder die Lebensvorbereitung? Wie muss die richtige Lernumgebung aussehen, wie lernen Kinder am besten? Seit 20 Jahren reise ich als freiberuflicher Fortbildner durch die Krippen, Kindertageseinrichtungen und Horte der Bundesrepublik Deutschland, Österreichs und der Schweiz. Viele Teams habe ich auf dem Weg zur Umsetzung neuer Bildungspläne begleitet. In Themen wie »Kleine Kinder, große Schritte – Pädagogische Arbeit mit Kindern unter drei Jahren«, »Kinder im Strudel des Bildungswahns  – zwischen kindlicher Selbstbildung und den Bildungsansprüchen Erwachsener«, »Von der Elterarbeit zur Erziehungspartnerschaft – mit Eltern partnerschaftlich zusammenarbeiten«, »Kinder an die Macht?! Demokratie und Partizipation in Tageseinrichtungen«, »Kommunikation und Konfliktlösung mit Kindern und Erwachsenen«, »Kindliches Lernen und die Rollen der pädagogischen Fachkräfte«, »Was ist schon normal?! Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten von Kindern aus entwicklungspsychologischer Perspektive« oder auch »Mit Respekt geht es besser. Regeln und Grenzen im Tagesstättenalltag« setze ich mich mit den pädagogischen Fachkräften darüber auseinander, welche Entwicklungsbedingungen Kinder heute brauchen, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Die Auseinandersetzung der Erwachsenen über die Anforderungen an moderne Pädagogik, damit es den Kindern gut geht, möchte ich durch meine Arbeit intensiv vorantreiben. Die Fortbildungen und Teamprozesse haben bei mir viele Eindrücke und einen breiten

Neue Pädagogik und alte Herausforderungen23

Schatz an Argumentationen hinterlassen. Immer wieder begegnen mir ähnliche Sätze, die von Fachkräften gebraucht werden, um die Schwierigkeiten der eigenen pädagogischen Arbeit zu verdeutlichen, gleichzeitig aber auch eine scheinbare Unmöglichkeit pädagogischer Änderungen aufzuzeigen. »Wir würden ja gern anders arbeiten, aber das geht leider nicht …«, unter diesem »Ja, aber« lassen sich die meisten der Argumentationen zusammenfassen, die mir aus den Teams von Kindertageseinrichtungen und Horten entgegen klingen. Viele dieser »Ja, abers« wiederholen sich. Sie sprechen von »fehlenden Rahmenbedingungen«, »zu schlechter räumlicher und materieller Ausstattung«, »Unfallgefahr und Aufsichtspflicht«, »fehlendem Personal«, »Druck von Eltern und Schule« sowie »mangelnder gesellschaftlicher Anerkennung«. Sind diese Argumente falsch? Sollten sie leichtfertig von einem Außenstehenden wie mir, der nicht in Kita oder Hort arbeitet (und – aus Erziehersicht häufig genauso verwerflich – selbst keine Kinder hat) beiseite gewischt werden? Das vorliegende Buch gibt mir selbst die Chance, mich mit den zahlreichen Argumenten aus fachlicher Sicht eines Begleiters, Entwicklungspsychologen und unverbesserlichem Optimisten auseinanderzusetzen. An diesem Prozess möchte ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, gern teilhaben lassen. Mein Ziel ist es, Ihnen etwas Abstand zu den alltäglichen kleinen Kämpfen und Auseinandersetzungen auf dem Weg zu einer kindgerechten und zukunftsorientierten Bildung für unseren Nachwuchs zu ermöglichen. Bitte verstehen Sie dieses Buch nicht als Kampfansage oder gar Respektlosigkeit gegenüber der harten Arbeit von pädagogischen Fachkräften in den Einrichtungen. Ich beobachte Ihre Arbeit mit großer Hochachtung, und ganz ehrlich, ich möchte mit Ihnen nicht tauschen. Die Anforderungen, die die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kindern, ihren Eltern, der Schule und natürlich den Teammitgliedern und Trägern mit sich bringt, stellen sich tagtäglich für Sie neu, und tagtäglich gelingt es Ihnen, diese zu meistern. Mancher Stress, mancher Druck ist jedoch »hausgemacht«. Er stammt aus eigenen Erwartungen, manch katastrophisierender Fantasie (»Wenn wir das jetzt nicht hinbekommen oder unterbinden, dann wird bald die Zukunft dieses Kindes ruiniert sein«) und dem Wunsch, stets und ständig allen Anforderungen gerecht zu werden

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»Das ist doch alles nur Theorie«

und dabei von allen gleichzeitig gemocht zu werden. Langfristig wird das keiner Fachkraft gelingen können. »Immer ruhig und gediegen, was nicht fertig ist, bleibt liegen« – mein Buch soll Ihnen dabei helfen, mit Entspannung in den Alltag mit Kindern zu sehen, sich mehr Zeit für die Beobachtungen der Kinder und die Gespräche mit ihnen zu lassen. Schließlich geht es um deren Zukunft und deren Leben. Wir Erwachsenen können den Kindern diese nicht abnehmen.

2.2 Ein Buch für Sie – und für mich In diesem Buch werde ich auf die geänderten pädagogischen Erwartungen eingehen, die sich mit den Bildungsplänen der Bundesländer für die Kindheitspädagogik (Ganztagsbetreuung) ergeben haben. Selbstbildungsprozesse von Kindern stehen nun in ganz Deutschland im Zentrum der pädagogischen Aufmerksamkeit. Viele Fachkräfte stehen dem Selbstbildungsgedanken skeptisch gegenüber. Lernt ein Kind wirklich alles, was es für sein Leben braucht, wenn es nur an den eigenen Themen arbeitet? Auch wenn das für das Kind bedeutet, immer nur Fußball zu spielen und sich nie mit Bastelarbeiten oder Musik zu beschäftigen? Heißt das nun, dass jeder machen kann, was er will? Und was ist mit der Realität des Lebens später, in der Familie, in der Schule, im Beruf und im Leben? Sollte man da nicht doch irgendwann einmal steuernd und regulierend in die Selbstbildungsprozesse von Kindern eingreifen? Fördern? Motivieren? Andere Themen anregen? »Wie viel Selbstbildung ist möglich, und wie viel Fremdbildung ist nötig?« – unter dieser Frage lässt sich das pädagogische Schwanken von Fachkräften aus meinen Beobachtungen zusammenfassen. Pädagoginnen und Pädagogen mögen den Gedanken der Selbstbildung, er taucht in allen Konzeptionen und in allen Schilderungen als positiv auf. Aber wo ist die Grenze? Einblicke in den Alltag zeigen, dass »Selbstbildung von Kindern« auf weite Strecken im Tagesablauf der Kinder nicht mehr als ein Lippenbekenntnis ist. Sie erstreckt sich auf das Freispiel und die Spielplatzzeiten (»Aber bitte bringt euch nicht in Gefahren, Kinder, klettert nicht zu hoch, tobt nicht zu wild, und zieht auf alle Fälle eure Matschhosen an!«), endet aber schnell beim Essen, beim Schlafen, bei den Hausaufgaben, den »Angeboten« und den immer wieder-

Ein Buch für Sie – und für mich25

kehrenden Traditionen des pädagogischen Alltags (Festen, Geburtstagsritualen, einzustudierenden Programmen, »der Vogelhochzeit« und dem Fasching, Muttertagskarten und dem Morgenkreis). Den Druck von vielen Seiten, der auf Ihnen als Fachkräften lastet, werde ich etwas genauer in den Blick nehmen. Er stammt aus den Erwartungen von Eltern an die Bildung und Zukunft ihrer Kinder, aus der Angst vor dem Leistungsdruck der Schulen und später im Beruf, aus der gesellschaftlichen Situation von Effizienzerwartungen, Arbeitslosigkeit, Umbrüchen und unklarer Zukunft. Der Wunsch von Fachkräften, Kindern eine unbeschwert spielerische und erfüllte Gegenwart zu ermöglichen, kollidiert schnell mit den gestellten Leistungsanforderungen, das jedes Kind ein Mozart oder Einstein werden sollte. Wie real sind diese Erwartungen? Und sind es wirklich nur externe Anforderungen, die diesen Druck entstehen lassen? Ich selbst habe meine Zweifel daran. Oftmals erscheint es mir, dass der Druck zuallererst und am stärksten in den Köpfen der Fachkräfte selbst existiert, die sich über ihre pädagogische Rolle unklar sind und die eigene Unsicherheit über das Richtig oder Falsch in Bildung und Erziehung auf andere zu projizieren scheinen. Hinweise darauf sehe ich in den Teamkonflikten zwischen den Fachkräften selbst, die bei gleichen Ausgangsbedingungen, gleicher Elternschaft, gleichen lokalen Schulen und gleicher Konzeption mit diesen Anforderungen höchst unterschiedlich umgehen. Wichtigster Teil dieses Buches sind die Äußerungen von Pädagoginnen und Pädagogen, die mir als »Ja, abers« immer wieder begegnen, wenn wir gemeinsam in den Teams über pädagogische Veränderungsprozesse diskutieren. Ich habe diese »Ja, abers« herausgehoben und sie mit kleinen Episoden aus dem Alltag versehen, die mir so oder ähnlich in den Einrichtungen berichtet wurden. Sie stellen geflügelte Ausdrücke der Auseinandersetzung dar. Keine Auseinandersetzung in erster Linie mit mir, sondern Auseinandersetzungen mit der eigenen Biografie der Fachkräfte, eigenen Erwartungen und Befürchtungen für die pädagogische Arbeit sowie der eigenen Reflexion und der Reflexion im Team über die Veränderungsbereitschaft hin zur kindgerechteren und selbstbildungsorientierten Kindertageseinrichtung. »Das haben wir doch schon immer so gemacht«, »Die Eltern wollen das aber so«, »Das hat uns früher doch auch nicht

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»Das ist doch alles nur Theorie«

geschadet«, »Wenn das jeder machen würde …«, solche »Ja, abers« dienen der Abwehr von Reflexion. Die Fachkraft will sich damit schützen und hofft durch sie und hinter ihnen den Grund zu finden, sich selbst nicht ändern zu müssen. Ich werde in diesem Buch versuchen, hinter die Funktion dieser »Ja, abers« zu schauen. Wie in jedem Klischee, so mag auch in ihnen das eine oder andere Fünkchen Wahrheit zu stecken. »Ja, abers« geben Orientierung in schwierigen Alltagssituationen, sie versprechen Sicherheit, und nicht zuletzt auch ein Stück Gemeinsamkeit, da ja scheinbar alle im Team diesen Argumenten zustimmen würden. Ist das wirklich so? Im vorliegenden Buch möchte ich Sie, liebe Erzieherinnen und Erzieher, mitnehmen durch den Dschungel der »Ja, abers«. Ich habe mich für diese Bezeichnung entschieden, da dieser Begriff aus meiner Sicht am treffendsten den Reflex beschreibt, mit dem viele pädagogische Fachkräfte auf Argumente reagieren, die die Selbstreflexion ihrer Arbeit anregen sollen und Änderungsbedarf im pädagogischen Alltag andeuten. »Ja, aber« – das bedeutet eigentlich »Nein«. Es signalisiert zunächst Zustimmung – »Herr Mienert, Sie haben ja recht« – gleichzeitig verspricht es aber auch, dass diese Erkenntnis auf keinen Fall zu Änderungen in der pädagogischen Arbeit führen wird – »aber, wir können ja gar nicht anders arbeiten«. Woher diese Abwehr, warum dieser Druck? Was macht die Angst vor pädagogischer Selbstreflexion so groß, dass man diese bereits im Keim durch ein »Ja, aber« ersticken muss? Dieses Buch soll zur Reflexion der eigenen Argumente anregen. Dazu werde ich mich der pädagogischen Arbeit mit Kindern im Alter von 0 bis 12 Jahren aus meiner persönlichen Perspektive nähern. Bitte beachten Sie beim Lesen, es ist die Perspektive eines Außenstehenden. Ich selbst bin kein Pädagoge, sondern Entwicklungs- und Pädagogischer Psychologe. Mein Blick auf die Arbeit in Kitas und Horten muss von daher ein anderer sein als der Ihre. Von daher sind meine Gedanken auch nicht automatisch richtig und Ihre nicht automatisch falsch. Es geht mir um eine Perspektive des Abstands von den Querelen des Alltags, einen Moment des Innehaltens im pädagogischen Trubel und einen Anstoß zum Nachdenken über Alternativen. Alternativen, die einer schwierigen neuen Zeit des Umbruchs von Kindheit und Jugend gerecht werden können.

3. »  Ja, aber das haben wir doch schon immer so gemacht!«

Kindertageseinrichtungen und Horte stehen vor einem riesigen Wandel und haben es irgendwie noch gar nicht so richtig bemerkt, so will es mir scheinen. Der kulturelle Wandel schleicht sich langsam in die pädagogischen Einrichtungen, taucht hier auf, macht sich dort bemerkbar, und Erzieherinnen und Erzieher verschließen vor ihm ihre Augen, machen weiter »das Programm, das es doch schon immer gab«, benutzen dieselben Rezepte, »die doch früher auch nicht geschadet haben« und hoffen so, den langfristigen gesellschaftlichen Wandel aus den Einrichtungen herauszuhalten. Nur gelegentlich rückt der Wandel in das Bewusstsein der pädagogischen Fachkräfte. Auf einmal erscheinen dann »die Verhaltensauffälligkeiten bei den Kindern immer mehr zuzunehmen«, »die Eltern werden immer schwieriger«, »der Druck von außen und die schlechten Rahmenbedingungen« werden spürbarer. Dass dahinter ein grundsätzlicher Wandel steckt, der für lange Zeit bleiben und nicht auf einmal einfach so wieder verschwinden wird, ist eine Erkenntnis, die Befürchtungen weckt und nach den guten alten Zeiten rufen lässt.

3.1 Von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft Früher war alles ganz einfach und ganz folgerichtig. Die Menschen hatten mit ihrem Staat eine Vereinbarung geschlossen. Diese Vereinbarung lautete: »Ich als dein Kind, lieber Staat, werde mich an alle deine Vorgaben halten. Ich werde den Weg gehen, den du für mich vorzeichnest. Das wird Kompromisse bedeuten, aber diese bin ich bereit einzugehen. Dafür, lieber Staat, garantierst du mir lebenslange Sicherheit und materiellen Wohlstand. So wird es mir als deinem Bürger und dir als Staat längerfristig gut gehen.« Kommt Ihnen dies überspitzt vor? Bitte denken Sie zurück an Ihr eigenes Aufwachsen in der planvollen Industriegesellschaft. Die Gleichung lautete so:

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»Ja, aber das haben wir doch schon immer so gemacht!«

Hohe Allgemeinbildung → Guter Schulabschluss → Sicherer Ausbildungsplatz → Lebenslanger Beruf → Materielle Sicherheit → Wohlbefinden des Menschen Die Industriegesellschaft in Ost wie in West war auf die Produktivität ihrer Arbeitskräfte angewiesen. Arbeiterinnen und Arbeiter am Band, die Produkte erzeugen, waren ihr Herzstück. Solche Arbeitskräfte in den Betrieben und Fabriken wurden überall händeringend gesucht. Sie mussten mittelgut ausgebildet sein und – das war für die Industriegesellschaft das Allerwichtigste – universell überall verfügbar und einsetzbar sein. Um diesen Hunger nach universell einsetzbaren Arbeitskräften stillen zu können, war die Industriegesellschaft auf die Pädagogik angewiesen. Wichtigstes Ziel der Pädagogik war es, allen Kindern alles gleichermaßen beizubringen. Alle Kinder sollten die Mindestanforderungen an Wissen und Fähigkeiten gleichermaßen erfüllen können. Dies nannte sich dann »grundlegende Fertigkeiten« und »Allgemeinwissen«. Dafür mussten die Kinder an die Hand genommen und mit Nachdruck geführt werden. Individuelle Themen und Interessen der Kinder hatten zurückzustehen, für diese war nur wenig Platz. Am Ende der Schulzeit konnte mit einem guten Zeugnis dokumentiert werden, dass man dieses Allgemeinwissen und diese Fertigkeiten aufweist – und damit universell für den Arbeitsmarkt verwendbar war. Kein Kind sollte zu schlau sein, kein Kind zu dumm. Das mittlere Kind war das pädagogische Ziel. Die dummen Kinder mussten ans Mittelmaß herangeführt werden, die schlauen Kinder mussten gebremst werden. Ziel war »die allseits gebildete sozialistische Persönlichkeit« (Deutsche Demokratische Republik) und »der allseits gebildete christliche Mensch« (Bundesrepublik Deutschland). Dieser bekam dann einen sicheren Ausbildungsplatz – nicht immer im Wunschberuf, nicht immer am Wunschort, aber sicher, vorbereitet und durchgeplant. Dieser sichere Ausbildungsplatz führte mit großer Wahrscheinlichkeit in einen lebenslangen Beruf, ohne Arbeitsplatzsorgen und Existenzängste. Einmal Näherin, immer Näherin, einmal Fabrikarbeiter, immer Fabrikarbeiter, in derselben Firma, ein Leben lang. Mit dem Beruf war ein sicheres Einkommen verbunden, nicht riesig, aber nie zu wenig. Dies ermöglichte ein angenehmes Leben, eine eigene Wohnung, vielleicht sogar ein Häuschen, schicke Möbel,

Von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft29

ein eigenes Auto, eine jährliche Urlaubsreise. Mit dieser Sicherheit stellte sich bei den Menschen in der Industriegesellschaft Wohlbefinden ein. Für diese Sicherheit und für dieses Wohlbefinden waren die Menschen in der Industriegesellschaft bereit, auf eine Auseinandersetzung mit ihrem Staat zu verzichten. Es war vielleicht keine individuelle Karriere, kein spezialisierter Lebenslauf, aber es war alles sicher und gut geregelt. Pädagoginnen und Pädagogen, die die Kinder in diese Spur geführt haben und dort halten konnten, die auf Anpassung und Regularität gedrängt haben, haben gute Arbeit geleistet. Sie konnten die Kinder vor Schwierigkeiten im Leben bewahren, die allen drohten, die sich nicht anpassen wollten oder konnten. Probleme hatte nur, wer vom Plan abwich, wer zu schlau oder nicht schlau genug war, wer eigene Fragen stellte, wer dem vorgefertigten Lebenslauf nicht folgen mochte. Für diese Kinder, Jugendlichen, Erwachsenen gab es in der Gesellschaft keinen Platz. Von daher musste die Pädagogik diese Individuen wieder in die Spur zurückbringen, individuelle Wünsche und Fragen beschneiden, den mittleren Weg betonen. »Jedes Kind muss Stifthaltung und Schere schneiden beherrschen«, so lässt sich diese Pädagogik zusammenfassen. Abweichler, die dies nicht wollten, bedrohten scheinbar den gemeinschaftlichen Weg. Um deren Zukunft musste man sich als Fachkraft Sorgen machen. Und so wurde die pädagogische Arbeit gut geplant. Die gute Pädagogin von einst wusste montags bereits, was Freitag auf dem Plan ist. Sie hat sich wortwörtlich auf ihre Arbeit vorbereitet, die Sätze aufgeschrieben, mit denen sie die Kinder durch den aktuellen Stoff führen will. Die besten Pädagoginnen konnten sogar vorher schon aufschreiben, was die Kinder ihnen antworten sollten. Das gab Sicherheit und Selbstbewusstsein bei den Fachkräften. »Ja, aber, Herr Mienert, denken Sie denn, die Ausbildung der pädagogischen Fachkräfte sieht heute anders aus? Noch heute kommen unsere Praktikantinnen und Praktikanten mit vorgeplanten Angeboten aus den Schulen, mit vorbereiteten Fragen und vorbereiteten Antworten der Kinder. Die Ausbildung hat sich doch überhaupt nicht geändert!« Seit den 1990er-Jahren ist die Sicherheit der Industriegesellschaft bei uns in Deutschland Geschichte. Ganz schleichend, und überstrahlt durch die Wende in Ostdeutschland, hat sich ein viel grundsätzlicherer Wandel bei uns ereignet, der Übergang in die Wissens­

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»Ja, aber das haben wir doch schon immer so gemacht!«

gesellschaft. Die Wissensgesellschaft produziert kaum noch Produkte und Güter. Nahezu das gesamte produzierende Gewerbe ist inzwischen nach Asien und Afrika ausgelagert. Unser Produktionsgut heute heißt Wissen. Dieses vervielfacht sich explosionsartig Jahr über Jahr. Der gesellschaftliche Vertrag zwischen dem Individuum und der Industrie, den ich oben in der Abfolge nachgezeichnet habe, existiert heute in keinem einzigen Schritt mehr. Ein gutes Allgemeinwissen garantiert heute keinen Schulabschluss mehr. Ein guter Schulabschluss ist keinerlei Garantie mehr für einen sicheren Ausbildungsplatz. Um die knappen Ausbildungsplätze konkurrieren heute gute Hauptschulabsolventinnen und -absolventen völlig chancenlos mit denen aus den Real- oder Gesamtschulen, die wiederum um die Ausbildungsplätze mit den Abiturientinnen und Abiturienten der Gymnasien balgen. Hat man eine Ausbildung absolviert, so schließt sich heute für kaum noch jemanden ein lebenslanger Beruf an. Teilzeit, Zeitverträge, freiwilliges soziales Jahr, Praktika, prekäre Beschäftigungen sind heute der Regelfall beruflichen Lebens. Selbst mit einem Vollzeitjob gibt es keine materielle Sicherheit. In unserer Gesellschaft gibt es einige wenige, die ungeheuer viel verdienen, und andere, die trotz harter Arbeit nur so wenig verdienen, dass sie beim Arbeitsamt aufstocken lassen müssen. Und nun das letzte Glied der Kette: die traditionellen Vorstellungen von Wohlstand und Wohlbefinden, die ein sicheres Einkommen mit sich bringt, haben sich geändert. Die Kinder von heute träumen gar nicht mehr von der Anbauwand und dem kleinen Garten. Sie wollen reisen, die Welt erleben, Spaß haben, das Leben genießen. Die Träume ihrer Eltern und Großeltern träumen sie heute kaum noch. Und trotzdem hält unsere Erwachsenengeneration, die Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen von heute an der alten Tradition fest, kämpft und ringt um die Allgemeinbildung und gute Zeugnisse, als ob sich im Leben so gar nichts verändert hätte. »Kinder, bitte bitte, haltet in der Schule durch! Schreibt gute Noten, lernt alles, was man euch beibringt! Für die Zukunft lernt ihr, und wenn ihr erstmal euer gutes Zeugnis in der Hand haltet, dann stehen euch alle Wege offen. Ihr werdet eine tolle Ausbildung machen oder ein gutes Studium, Arbeitslosigkeit wird euch nicht treffen, und ihr werdet ein gutes Leben leben können!« Was macht uns so sicher, dass das heute noch so wäre?

Von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft31

Und – ­dramatischer noch – was macht uns so sicher, dass es das ist, was die Kinder für ihr Leben tatsächlich wollen? Der lebenslange Beruf, der sich nach einer gut benoteten Schulbildung und einer sicheren Ausbildung automatisch anschließt, ist heute eine absolute Ausnahme. Interessanterweise sind es aber gerade die Erzieherinnen und Erzieher, die an der Illusion des Erfolgs allgemeiner, mittlerer Bildung für den langfristigen Schulund Lebenserfolg festhalten. Neben Pflegekräften sind es heute nur noch Erzieherinnen und Erzieher, die tatsächlich die Aussicht auf einen lebenslangen Beruf mit gesichertem Einkommen haben. Der Fachkräftemangel macht es möglich. Bitte vergessen Sie nicht Ihre durchaus besondere und dabei sehr privilegierte berufliche Situation, wenn Sie mit anderen in den Austausch über das Was und Wie der Kindheitspädagogik treten. Sie sind nicht repräsentativ für heutige Lebensverläufe. Ihre berufliche Sicherheit war früher für alle der Regelfall und stellt heute eine gesellschaftliche Rarität dar. Innovation, neue Ideen, kreative Lösungen, Forschergeist, Unternehmergeist, Mut, völlig neue Wege zu gehen, bilden ein Rückgrat unserer Gesellschaft. Das benötigt hoch spezialisierte Fachkräfte, Leute, die in einer Domäne wahnsinnig gut sind und wahnsinnig viel wissen, auch auf Kosten dessen, dass sie in anderen Domänen wenig Ahnung haben. Hoch spezialisierte Fachkräfte entstehen aber nicht als Folge der geplanten und vorbereiteten Einheitspädagogik. Ihre Entwicklung braucht eine Pädagogik, die es erlaubt, dass Kinder auf den Gebieten sehr gut werden, für die sie mit Leidenschaft brennen – auch auf die Gefahr hin, in anderen Gebieten möglicherweise nur mittelmäßig oder gar schlecht zu sein. Die Entwicklung braucht Fachkräfte, die Mut haben, schwierige Zeiten zu überstehen. Die nach neuen Lösungen für sich und andere suchen, wenn keine Lösung mehr in Sicht scheint. Fachkräfte, die den Kopf oben behalten, sich neue Nischen suchen, wenn frühere Nischen sich schließen, weil sie voller Leidenschaft sind. Saurierspezialisten, die nicht Schere schneiden können oder mögen? Fußballspielerinnen, die noch nie gemalt haben? Star Wars-Enthusiasten, die mittags nicht schlafen mögen? Ist Ihre Kita, Ihr Hort darauf vorbereitet? Könnten Sie das tatsächlich nicht nur aushalten, sondern sogar befördern? »Ja, aber

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»Ja, aber das haben wir doch schon immer so gemacht!«

Herr Mienert, diese hoch spezialisierten Fachkräfte können doch gar nicht flexibel sein, wenn ihr Thema einmal wegbricht. Dann können die doch gar nicht umschwenken!« Ich glaube, die können das, weil sie gelernt haben, sich mit Leidenschaft in ein neues Thema zu stürzen und dort in kürzester Zeit alles zu lernen, was sie für die neue Anforderung brauchen. Weil sie gelernt haben, sich und ihren Lernfähigkeiten zu vertrauen. Die Themen der selbstbestimmt lernenden Kinder wechseln, ihre Interessen verändern sich, es ändern sich auch ihre Vorgehensweisen beim Denken und beim Lernen. Kein Kind bleibt immer beim Thema Dinosaurier. Was aber bleibt, ist das Bewusstsein, die eigenen Interessen und Themen entdecken zu dürfen, diese mit Leidenschaft und in Ruhe verfolgen zu können und zu dürfen und sich durch die intensive Beschäftigung mit einem Thema tief und konzentriert so einarbeiten zu können, das echtes Expertentum entsteht. Menschen – Kinder wie auch Erwachsene – die so mit Leidenschaft für das eigene Lernen brennen können, finden immer ihren Platz. Menschen, die das Lernen für das Industriezeitalter verinnerlicht haben, denen gesagt wurde, was sie zu können und zu wissen haben und die Lernen als etwas Fremdbestimmtes, Verpflichtendes empfinden, das keinen Spaß macht und immer mit Bewertungen verbunden ist, werden in der hoch spezialisierten Zeit des Wissenszeitalters ihre Nische kaum finden können. »Es gab einmal eine Zeit, da hatten die Tiere eine Schule. Das Lernen bestand aus Rennen, Klettern, Fliegen und Schwimmen, und alle Tiere wurden in allen Fächern unterrichtet.   Die Ente war gut im Schwimmen; besser sogar noch als der Lehrer. Im Fliegen war sie durchschnittlich, aber im Rennen war sie ein besonders hoffnungsloser Fall. Da sie in diesem Fach besonders schlechte Noten hatte, musste sie nachsitzen und den Schwimmunterricht ausfallen lassen, um das Rennen zu üben. Das tat sie so lange, bis sie auch im Schwimmen nur noch durchschnittlich war. Durchschnittsnoten aber waren akzeptabel, darum machte sich niemand Gedanken darum, außer der Ente.   Der Adler wurde als Problemschüler angesehen und unnachsichtig und streng gemaßregelt, da er, obwohl er in der Kletterklasse alle anderen schlug, als erster den Wipfel eines Baumes zu erreichen, darauf bestand, seine eigene Methode anzuwenden.   Das Kaninchen war anfänglich im Laufen an der Spitze der Klasse, aber es bekam einen Nervenzusammenbruch und musste von der Schule abgehen wegen des vielen Nachhilfeunterrichts im Schwimmen.

Von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft33

  Das Eichhörnchen war Klassenbester im Klettern, aber sein Fluglehrer ließ es seine Flugstunden am Boden beginnen, anstatt vom Baumwipfel herunter. Es bekam Muskelkater durch Überanstrengung bei den Startübungen und immer mehr ›Dreien‹ im Klettern und ›Fünfen‹ im Rennen.   Die mit Sinn für’s Praktische begabten Präriehunde gaben ihre Jungen zum Dachs in die Lehre, als die Schulbehörde es ablehnte, Buddeln in das Curriculum aufzunehmen.   Am Ende des Schuljahres hielt ein anormaler Aal, der gut schwimmen, etwas rennen, klettern und fliegen konnte als Schulbester die Schlussansprache.« (Übersetzer unbekannt. Original: George H. Reavis, Fable of the Animal School, Cincinnati/Ohio, Clearing House, 1937)

Die traditionelle Pädagogik des Industriezeitalters hat auf die Reproduktion von Wissen gesetzt. Wissen musste nicht erschaffen werden, sondern musste erworben werden. Dies wird von Konstruktivisten als Re-Konstruktion von Wissen bezeichnet. Für jede Frage gibt es bereits eine richtige Antwort, diese richtige Antwort muss in erster Linie richtig gelernt und wiedergeben werden. Abweichende Antworten stellen Fehler dar, die es zu vermeiden und auszumerzen gilt. Aufgabe von Pädagogik ist es nicht, Kinder zur Wissens-Schaffung (Wissenschaft), sondern zur Wissens-Nachvollziehung zu erziehen. Neues Denken entwickelt sich, wenn die alten Denkstrukturen infrage gestellt werden. Chaos und Unordnung können neues Wissen besser beflügeln als Disziplin und Ordnung. Wissen kann dann konstruiert, also neu erschaffen werden, wenn altes Wissen hinterfragt wird und nach alternativen Lösungen gesucht wird. Das beinhaltet immer auch De-Konstruktion, also das Zerstören von althergebrachten Wissensstrukturen. Das Penicillin wurde entdeckt, weil jemand seine Petrischalen nicht richtig gesäubert hatte. Dass die Erde rund ist, wurde Jahrtausende lang vehement bestritten. Irgendwann hatten Einzelne den Mut, dieses Wissen zu dekonstruieren, und sie haben dies unter dem Einsatz ihres Lebens getan. Heute ist die runde Erde ein fester Bestandteil unseres Wissens. Aber ob die Erde wirklich rund ist? Vielleicht kommen morgen ganz andere Erkenntnisse in der Wissenschaft zusammen, die uns dazu zwingen, auch dieses scheinbar unverrückbare Wissen zu revidieren. Konstruktion, also der Aufbau von Wissen, Re-Konstruktion, also das Nachvollziehen und Lernen bekannten Wissens, und De-Konstruktion, also der grundsätzliche Zweifel am bestehenden Wissen

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»Ja, aber das haben wir doch schon immer so gemacht!«

sind die Grundpfeiler der Wissensgesellschaft. Traditionelle Pädagogik setzt nahezu ausschließlich auf Re-Konstruktion von Wissen. Wissen wird vorgegeben, von den Kindern auswendig gelernt und dann – nach Zeit und Möglichkeit – auf bestehende Probleme rich­ tig angewendet. Kinder auf die neue Zeit vorzubereiten, heißt für die Pädagoginnen und Pädagogen insbesondere: Wissenserarbeitung steht vor Wissensvermittlung. Folgende Schrittfolge empfiehlt sich dafür: 1. Es werden Beobachtungen vom Alltag der Kinder gemacht, die sichtbaren Themen der Kinder werden angesprochen und im Gespräch wird herausgefunden, ob das gerade tatsächlich ihre Themen sind. 2. Kinder lernen, ihr Thema zu formulieren. 3. Alle Fragen und Themen der Kinder, die in der Kindergruppe auftauchen, sind erlaubt und werden gesammelt. 4. Die Kinder erläutern sich gegenseitig ihre aktuellen Themen und versuchen, bei anderen Kindern Interesse für ihre Themen zu wecken. 5. Kinder übernehmen Verantwortung für das eigene Thema (gemäß Entwicklungsstand und Können). 6. Kinder formulieren ihre Fragen und Hypothesen, entwickeln Ideen, wie man was rausbekommt, teilen sich untereinander Aufgaben zu. 7. Kinder dokumentieren ihr Vorgehen und machen ihre Arbeitsergebnisse anderen zugänglich. 8. Die Dauer der Arbeit mit dem Thema wird von den Kindern bestimmt. In einem offen gestalteten Prozess sind es nicht die Erwachsenen, die den Verlauf und die Dauer des Tuns der Kinder bestimmen. Manche Prozesse sind nach einer Stunde zu Ende, manche dauern zwei Tage. Das ein oder andere Projekt zieht sich über Monate oder taucht immer wieder auf. Beobachtung und Gespräch sind Gelegenheiten, bei Kindern zu entdecken, wie der Stand ihres Projektes ist. Bitte zwingen Sie sich im Alltag dazu, Fragen der Kinder nicht sofort beantworten zu wollen. Spielen Sie den Ball immer wieder an die Kinder zurück. Befördern Sie ausdrücklich auch scheinbar

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verrückte oder unkonventionelle Vorgehensweisen. Der Weg der Wissens­erarbeitung ist das eigentliche Ziel, nicht das richtige Ergeb­ nis, das am Ende herauskommen soll. Nur so kann unsere Wissensgesellschaft längerfristig überleben.

3.2 Vom Kollektivismus in den Individualismus

C

arlos cremt gern sein Gesicht ein – »Wir fragen uns schon, ob der Carlos irgendwie andersrum ist.«

»Ja, aber Herr Mienert, erzeugen wir mit einer solchen Pädagogik, die nur auf die Interessen des Kindes setzt und wo wohl jeder machen kann, was er will, nicht eine Gesellschaft voller Egoisten, in der jeder nur noch an sich selbst denkt?« Die katastrophisierenden Gedanken einer Fachkraft rattern schnell. Nur noch Egoisten? Jeder geht über Tische und Bänke und vielleicht sogar über Leichen? Wird das die Folge von individualisierten Lebensentwürfen sein? Eigentlich kommt dieser Einwand von den Pädagoginnen und Pädagogen viel zu spät. Längst haben Geschichte und Wertewandel die Pädagogik hier überholt. Ob wir eine Gesellschaft von Individualisten wollen oder nicht, Individualismus ist der Trend unserer Zeit. Dieser Kulturwandel umfasst Traditionen, Werte und unser gesellschaftliches Grundverständnis. Unser gesellschaftliches Grundverständnis hat bis in die 1980er-Jahre auf einem kollektivistischen Prinzip beruht. Seitdem, parallel zur Wende und zum Übergang in die Wissensgesellschaft, wandelt sich unsere Gesellschaft hin zum Individualismus. Kollektivismus und Individualismus sind zentrale Begriffe aus der Kulturforschung. Sie beschreiben zwei grundsätzliche Wertemodelle, nach denen sich Kulturen und Gesellschaften voneinander unterscheiden. In kollektivistischen Gesellschaften wird der Einzelne als Teil seiner Gemeinschaft verstanden. Ein Mensch ist fest eingebunden in die ihn umgebende Gruppe, das Kollektiv. Die Handlungen eines Einzelnen haben unmittelbare Auswirkungen auf seine Gruppe. Von daher kann der Einzelne seine Entscheidungen nicht losgelöst von den Entscheidungen der Gesamtgruppe treffen. Andersrum muss die Gruppe darauf achten, dass ihre Mitglie-

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»Ja, aber das haben wir doch schon immer so gemacht!«

der sich gruppenkonform verhalten, da sonst der Zusammenhalt der Gruppe gefährdet ist. Die Gruppe bietet ihren Mitgliedern Regeln, Sicherheit, Schutz und Anerkennung. Im Gegenzug erwartet sie Anpassung, Akzeptanz und Unterordnung. Die wichtigsten Werte in kollektivistischen Kulturen sind familiärer Zusammenhalt, gemeinschaftliches Eigentum und Hierarchie, Unterordnung unter Autoritäten, Anerkennung des Vorrechts von Älteren, patriarchalische Führungsstrukturen, Vorhersagbarkeit und Anpassung. Es handelt sich um traditionelle Kulturen mit vorgegebenen Verhaltensmustern und relativ homogene Gesellschaften. Ihre Mitglieder sind auf konstant gute Beziehungen angewiesen. Kollektivistische Kulturen sichern ihren Mitgliedern das Überleben bei Mangel, Not und Armut. Deshalb sind es gerade ärmere Länder, in denen kollektivistische Strukturen stark sind. Den Luxus individueller Lebensentwürfe muss man sich finanziell leisten können. Viele afrikanische, arabische und asiatische Länder, aber auch Länder Osteuropas sowie Süd- und Mittelamerikas sind kollektivistischen Kulturen zuzurechnen. In Deutschland hat der Kollektivismus eine lange gesellschaftliche Tradition. In ländlich geprägten Gebieten, Gebieten mit stark religiöser Prägung und wirtschaftlich schwachen Regionen sind nach wie vor kollektivistische Tendenzen zu beobachten. In individualistischen Gesellschaften und Kulturen steht die Selbstverwirklichung des Einzelnen über den Interessen seiner Gruppe. »Finde dich selbst«, »Geh deinen Weg, auch gegen Widerstände«, »Finde heraus, was du im Leben möchtest«, diese Rufe begleiten den Einzelnen in seiner Entwicklung im Individualismus. Die Beziehungen des Einzelnen zu seiner Gruppe, seiner Familie, seinen Kolleginnen und Kollegen können eng und herzlich sein, aber sie wären nie so eng, dass der Einzelne nicht im Zweifelsfall bereit wäre, die Kontakte in seine Gruppe abzubrechen, wenn diese seiner Selbstverwirklichung im Wege steht. Individualistische Kulturen sind viel weniger geneigt, gemeinschaftlichen Besitz und Hierarchie zu akzeptieren. Ihre wichtigsten Werte sind Marktorientierung in sozialen Beziehungen (ich weiß, was ich wert bin, und werde mich ganz sicher nicht unter Wert verkaufen) sowie das Prinzip von Geben und Nehmen im Sinne einer gerechten Verteilung. Jeder hat die gleichen Rechte, jeder hat eine Stimme, Fairness geht vor. Indi-

Vom Kollektivismus in den Individualismus37

vidualistische Kulturen wirken sehr heterogen, es gibt kaum vorgeprägte Verhaltenserwartungen und -muster. Der Einzelne ist aufgefordert, seinen Platz zu finden und seinen Weg zu gehen. Dies führt zu großer Vielfalt in Identitätsmöglichkeiten und Lebensentwürfen. Identitätssuche und Vielfalt sind Folge von gesellschaftlichem Wohlbefinden und materieller Sicherheit. In Zeiten der Not fallen auch individualistische Kulturen wieder in kollektivistische Strukturen zurück. Nicht umsonst ertönt der Ruf nach einem starken Staat, Macht und Unterordnung immer dann besonders laut, wenn der gesellschaftliche Wohlstand bedroht ist. Westeuropäische Länder, die USA, Kanada haben sich auf den Weg in die individualistische Kultur begeben. In Deutschland hat sich mit der Wende in Ostdeutschland der Weg in die individualistische Kultur eröffnet. Pädagogische Strukturen richten sich traditionell jedoch nach wie vor an der Einordnung des Einzelnen in die Gruppe/das Kollektiv aus. Für die Erzieherinnen und Erzieher stellt dieser Zwiespalt eine der Hauptquellen für »Ja, Abers« dar. »Wir wollen dem Kind Individualität ermöglichen, aber wir müssen doch auch das Wohl der Gruppe im Blick behalten.« Bezogen auf den Wandel hin zur individualistischen Gesellschaft hat die Pädagogik noch einen weiten Weg vor sich. Der Weg zur individualistischen Gesellschaft hat uns allen viele neue Freiheiten gebracht. Unsere Lebensentwürfe haben sich vervielfältigt. Das war nicht immer so. Die traditionelle sozialistische Gesellschaft hat im kollektiven Bewusstsein ihrer ehemaligen Angehörigen tiefe Spuren hinterlassen, und in der Bundesrepublik waren es häufig ländliche, stark religiös geprägte Gegenden, in denen traditionelle, kollektivistische Überzeugungen dominierten. Sind wir tatsächlich frei? »Ja, aber Herr Mienert, ich als Erwachsener kann doch auch nicht einfach machen, was ich will. Ich hab auch meinen Beruf, wo ich nicht immer machen kann, was ich will. Ich hab meine Familie, ich hab meine Verantwortung, ich bin auch Zwängen ausgeliefert.« Das ist alles richtig, aber sollte daraus der Schluss gezogen werden, dass deshalb auch die Einschränkungen, die die Kinder erleben, zu rechtfertigen sind? Als Erwachsener kann ich meine Lebenssituation immer verändern. Ich kann einen Beruf verlassen, in dem ich mich eingezwängt fühle, ich kann eine Familie

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verändern, die mich bedrängt, ich kann meinen Ort, meine Bezüge, meine Lebensplanung jederzeit ändern. Das ist anstrengend, aber es ist möglich. Ich kann mich als Erwachsener entscheiden, vierzehn Tage am Stück auf dem Feld zu stehen und mich keinen Zentimeter zu bewegen. Keiner kann und dürfte mich daran hindern. Als Kind habe ich diese Freiheit nie. Bis zum 18. Geburtstag ist das Leben der Kinder grundsätzlich fremdbestimmt. Individualismus erleben die Kinder nur, wo wir Erwachsenen ihnen diesen ermöglichen. Kollektivismus ist es, der für die Kinder der Regelfall ist. Wie also das individuelle Leben üben, wenn man es in der ganzen Kindheit kaum kennengelernt hat? Die Bildungspläne und die Schulgesetze der Bundesländer spiegeln eine neue Art des Lernens wider, die der Hinwendung zur individualistischen Kultur entspricht. Kinder sind aufgefordert, neugierig, kreativ, selbstbewusst, selbstständig und problemlösungsorientiert an ihren eigenen Themen zu arbeiten. Die pädagogische Fachkraft soll über Beobachtungen und individuelle Gespräche mit allen Kindern, deren Themen erkennen und die eigene Arbeit an diesen Themen ausrichten. Neugierde, Kreativität, Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit – diese Begriffe bestimmen auch die Konzeptionen der Einrichtungen. In Diskussionen werden diese Begriffe als die wichtigsten pädagogischen Ziele benannt. Aber Hand aufs Herz, wollen Sie diese Ziele wirklich verwirklichen? 20 neugierige, kreative, selbstbewusste, selbstständige Individuen beim Mittagessen? Beim Mittagsschlaf? In der Hausaufgabenzeit? Da habe ich doch berechtigte Zweifel, oder? Kinder für die individualistische Gesellschaft zu erziehen, heißt ja nicht nur, es als Erzieherin oder Erzieher auszu­ halten, wenn die Kinder mal ganz individualistisch sind, sondern es aktiv zu befördern und alle Kinder dazu anzuregen. Unsere Gesellschaft liebt ihre Paradiesvögel und schrägen Gestalten. Wir bewundern Menschen, die unkonventionell sind, sich nicht an vorgegebene Regeln und Traditionen halten, alles infrage stellen. Aber nur aus der Entfernung, im Fernsehen, im Kino, in Geschichten aus der Zeitung. Je näher das Unkonventionelle in unser Leben kommt, umso größer werden die Befürchtungen. Schwule und Lesben sind im Fernsehen putzig, aber was, wenn die eigenen Kinder homosexuell sind? Dürfen Jungs in meiner Gruppe sich wie Mäd-

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chen verhalten, kleiden, spielen? Und die Mädchen wie die Jungs? Im Urlaub besuchen wir gern fremde Kulturen und essen gern exotisches Essen. Aber der Fremde bei uns im Ort? Eine Flüchtlingsfamilie mit Kindern in unserer Einrichtung? Wie viel Freiheit bekommt das einzelne Kind, seine Individualität zu finden und auszudrücken? Wie lange hält das die Erzieherin aus, die in ihrer eigenen Biografie die individualistischen Werte von Freiheit, Selbstbestimmung, Neugierde und Selbstbewusstsein zumeist nicht kennenlernen konnte. Kinder für die individualistische Kultur zu erziehen, heißt in erster Linie, die kollektivistische Tradition in sich selbst zu reflektieren. Im zweiten Schritt bedeutet es, die Kinder anders zu erziehen, als man selbst erzogen wurde. Ihnen Freiheiten zu geben, die man selbst nicht hatte. Und ihnen zu vertrauen, dass genau diese Freiheiten es sind, die den Kindern längerfristig das erfolgreiche Überleben sichern.

3.3 Internet, Globalisierung und Technologie »Internet, Computer, Fernsehen, das macht die Kinder abhängig. Die Kinder von heute können gar keine Blätter mehr bestimmen und haben keine Ahnung mehr von der Natur.« Die Angst vor den neuen Technologien hängt über Kitas und Horten wie eine dunkle Wolke. Hierzu eine Beobachtung aus dem pädagogischen Alltag: Bei einer Kitabesichtigung fallen mir 15 schwarze Pappen auf, an denen eine kleine Schnur hängt, die in einem Wattebausch endet. Die Pappen sehen alle identisch aus, haben ungefähr die Größe DIN-A4 und sind individuell mit dem Namen und dem Alter des Kindes versehen. Sie hängen an einer Wäscheleine im Flur, als Ausstellung. Ich bin ratlos, meine Fantasie reicht nicht. »Was ist das?« »Das sind Schiefertafeln.« »Wer hat die gebastelt?« »Unsere mittlere Gruppe.« »Wer hatte die Idee dazu?« »Die Ideen hatten wir gemeinsam. Wir waren im Schulmuseum und haben uns Schulgeschichte angeschaut. Daraufhin ist bei uns die Idee entstanden, Schule von früher nachzuspielen. Alle Kinder haben eine Schiefertafel gebastelt«. »Und was hat das mit dem heutigen Leben Ihrer Vierjährigen zu tun?« »Das hat den Kindern viel Spaß gemacht«. »Ich glaube, im Leben Ihrer Vierjährigen gibt es ganz andere schwarze Tafeln, die den Kindern viel Spaß machen« »Sie meinen doch nicht etwa IPads, Herr Mienert? Damit fangen wir hier gar nicht erst an.«

Man muss das Internet nicht verstehen, man muss das Fernsehen, die neuen Technologien, Computer, Smartphones, Tablets nicht mögen,

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»Ja, aber das haben wir doch schon immer so gemacht!«

aber sie stellen eine Realität der Kinder von heute dar. Ich bin immer wieder darüber erstaunt, mit welch eiserner Energie pädagogische Einrichtungen die aktuellen Technologien, Medien, Geräte aus ihrem Alltag heraushalten und bei der Angebotsgestaltung auf Techniken, Themen, Methoden der guten alten Zeit setzen. Die Lebenserwartung der Kinder von heute geht bis 2100. Sie für ihre Zukunft fit zu machen, bedeutet aus meiner Sicht, sie nicht nur einfach, was Technologie betrifft, gewähren zu lassen, sondern sie aktiv an die Nutzung und Gestaltung dieser Technologien heranzuführen. Auch die ganz Kleinen, auch ans Internet, auch sogar an das Fernsehen. Woher die Widerstände dagegen rühren, ist mir nicht ganz erklärlich. Vielleicht, weil die pädagogischen Fachkräfte selbst so unvertraut mit diesen Technologien sind? Vielleicht, weil sie Angst haben, die Kinder könnten hier bereits mehr wissen als man selbst als Erwachsener? Vielleicht haben sich auch die Fälle von Mediensucht und die Berichte über gewalttätige Computerspiele so tief in das pädagogische Bewusstsein eingegraben, dass es diese zu bannen gilt. Ich würde mir hier einen viel entspannteren Umgang von den Einrichtungen wünschen. Sinnvolles Nutzungsverhalten zu üben, erscheint mir ein gutes pädagogisches Ziel. Die Kinder systematisch von der Nutzung der Technologien und des Internets fernzuhalten, beraubt sie einer wichtigen Lebenserfahrung. Die Kinder müssen die Nutzung dieser Technologien in die ohnehin schon knappe freie Zeit außerhalb der pädagogischen Einrichtungen drängen – und was heimlich und tabu ist, wird natürlich noch viel interessanter. Ich glaube, das riesige Interesse der Kinder an Smartphones und Computern liegt an einer einfachen Beobachtung, die die Kinder tagtäglich machen: Wir Kinder dürfen da nicht ran, aber die Erwachsenen, auch die Eltern, auch die Erzieherinnen und Erzieher nutzen die Technologien ständig. Das wollen wir endlich auch.

3.4 Überwachte Kindheit Bildung ist ein Grundprinzip unserer Gesellschaft. Mehr denn je sind wir als Gesellschaft im Wissenszeitalter auf die Bildung unserer Mitglieder angewiesen. Das war im Industriezeitalter weniger fokussiert. »Hast du einen dummen Sohn, so schicke ihn zur Bauunion.

Überwachte Kindheit41

Ist dein Sohn noch dümmer, die Reichsbahn nimmt ihn immer.« So war es möglich, im Industriezeitalter auch schlecht ausgebildete Kinder und Jugendliche in die lebenslange Erwerbstätigkeit zu führen. Heute ist das kaum noch möglich. Spitzenkräfte mit hoher Spezialisierung werden ihre berufliche Nische mit großem Erfolg immer wieder finden. Mittel oder schlecht ausgebildete Kinder und Jugendliche gehen einer unsicheren Zukunft entgegen. Alle rufen nach »Bildung für die Kleinsten«. Was aber Bildung genau bedeutet, das weiß heute kaum jemand ganz genau. Mir scheint, wenn Erwachsene nach mehr Bildung rufen, dann rufen Sie eigentlich nach noch mehr Training der Kinder, noch mehr Fördermaßnahmen, noch mehr Stoff, der durchgenommen werden soll, und noch mehr Überwachung der Bildungsergebnisse der Kinder. Ein Mehr an Bildung könnte jedoch gerade im Gegenteil liegen. Mehr selbstbestimmtes Lernen der Kinder, weniger Überwachung, mehr Eigeninitiative, mehr Freispiel, mehr Fußballspielen, weniger Unterricht. Dass solche Freiheit zu mehr Bildung führt und zu einem erfolgreicheren Leben in der Zukunft, das würden die meisten Nicht-Pädagoginnen und -Pädagogen sicher vehement verneinen. »Mehr Freispiel für die Kinder? Aber die Eltern fragen dann immer: »Habt ihr denn heute wieder nur gespielt, oder habt ihr auch mal was gelernt?«. Gesellschaftlich hat die Bildungsdebatte gerade erst begonnen. Ich frage mich, ob Pädagoginnen und Pädagogen diese Debatte noch anführen oder sich vielmehr führen lassen und somit den Kindern längerfristig eher schaden als nutzen. »Überwachte Kindheit« – dieser Begriff kennzeichnet den immer stärker werdenden Wunsch der Erwachsenen, den Bildungsprozess der Kinder zu kontrollieren, anzuregen, abzusichern und in eine gewünschte Richtung zu steuern. Dem Wunsch nach immer mehr Angeboten und Beschäftigungen in den Einrichtungen wird von den pädagogischen Fachkräften schnell nachgegeben (»Ja, aber die Eltern wollen das doch so!«). Tages- und Wochenpläne lassen keinen Platz für Langeweile. Kinder werden aus dem Freispiel heraus zu vorbereiteten pädagogischen Aktivitäten eingeladen (»Ja, aber, das ist doch ganz freiwillig, die Kinder müssen ja nicht mitmachen!«). Im Hort schließen sich an den hochstrukturieren Unterricht am Vormittag durchgetaktete Ganztagsangebote an. Die Zeit zum Spielen,

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Abhängen, einfach mal Nichtstun geht gegen null. Und was ist am Nachmittag, wenn die Kinder nach Hause kommen? Dann geht es weiter mit Sportverein, Musikschule, Nachhilfe. Selbst Fernsehen und Computerspielzeit werden reglementiert und kontrolliert, die Überwachung schließt selbst das Abendessen (natürlich vegan) und das Zähneputzen (natürlich fluoridfrei) mit ein. Zeit für Unsinn, Quatsch, Gefahren, eigene Wünsche, eigene Ziele, eigene Interessen? Kaum zu finden. Derzeit wächst eine Kindergeneration heran, für die Selbstbildung und Selbstbestimmung nur theoretisch in den Bildungsplänen der Bundesländer existieren. Wie wird diese Generation später unsere Geschicke leiten, wenn sie die Freiheit selbst gar nicht kennt? Wie sollen diese Heranwachsenden ihren eigenen Weg gehen, wenn sie bisher nur gelernt haben, den Vorschlägen und Angeboten der Erwachsenen zu folgen? Die überwachte Kindheit wird sich auch auf die pädagogische Arbeit der Fachkräfte auswirken. Derzeit steht ein großer Generationenwechsel in den Kitas und Horten an, der im Osten eine Folge der verfehlten Personalpolitik der 1990er-Jahre ist, als gerade die jungen Fachkräfte als erste gehen mussten. Im Westen ist er eine Folge des forcierten Tagesstättenausbaus im Zuge der Zusicherung der frühkindlichen Betreuung. Der Absolventenmarkt ist leergefegt. Die Qualifikationsanforderungen werden gesenkt – eine dramatische Abkehr von der noch Anfang der 2000er-Jahre propagierten Hochschulausbildung für pädagogische Fachkräfte (»Die Besten zu den Kleinsten« – erinnern Sie sich noch?). Leiterinnen und Leiter stellen heute zum Teil Personal ein, das sie vor fünf Jahren noch nicht einmal in Erwägung gezogen hätten. Viele dieser neuen Fachkräfte stammen zunehmend selbst aus der »Generation überwachte Kindheit«. Wie sollen diese jungen Leute Kreativität und Selbstbestimmung bei den Kindern ermöglichen, wenn sie es selbst nie erleben durften? »Ich bin mit dem Angebot fertig – was soll ich denn jetzt machen?« – diesen Praktikantensatz werden wir auch von ausgebildeten Fachkräften in den Einrichtungen zukünftig häufiger hören.

Demografischer Wandel43

3.5 Demografischer Wandel Weniger Kinder, das heißt, die Last, die auf den wenigen Kindern ruht, wird immer größer. Wer wird unsere Gesellschaft übernehmen? Wer wird für uns arbeiten? Wer wird die gesellschaftlichen Geschicke bestimmen? Und wer wird einmal unsere Renten zahlen? Die wenigen Kinder sehen sich immer größeren zukünftigen Herausforderungen gegenüber. Der Druck auf die Kinder nimmt zu. Selbst die Kleinsten sind bereits mit großen Erwartungen konfrontiert. Und zufrieden sein, wird die Erwachsenengemeinschaft mit ihren Kindern wohl nie. Auch dazu eine ganz private Anekdote: In unserer Familie haben wir am Wochenende zusammengesessen und unsere Sorgen über die kommende Woche ausgetauscht. Keiner von uns Erwachsenen hatte so richtig Lust, am Montag wieder zur Arbeit zu gehen. Ach Mann, der Urlaub noch so lange weg. Und dann die nervigen Auseinandersetzungen auf der Arbeit. Mein Bruder als Lehrer, ich als Fortbildner. Die anderen Großen ganz genauso, selbst meine Mutter, die Rentnerin ist, hat ihre Verpflichtungen, singt ehrenamtlich mit Menschen mit Behinderungen und hat da ihre Termine einzuhalten. Wir Großen klagen, und mein vierjähriger Neffe Marian hat sich das alles lange still angehört. Irgendwann bricht es aus ihm heraus: »Meint ihr denn, nur ihr habt immer schwer zu arbeiten? Ich muss am Montag wieder zu Marina (seine Tagesmutter). Da muss ich Blätter voll malen, ganze große Bögen!«

Eine lustige kleine Anekdote, wie sicher viele Familien sie kennen. Mir hat sich trotzdem ein wenig das Herz zusammengekrampft bei seiner Äußerung. Ich weiß, wie ungern Marian malt. Seinem großen Bruder Aaron geht es nicht anders. Er hat nie gern gemalt. Trotzdem sollen die beiden immer wieder malen. Zu meinen Geburtstagen bekomme ich selbstgemalte Bilder von den beiden geschenkt. Ich hab schon oft gesagt, ich möchte das nicht. Aber gemalt werden muss scheinbar trotzdem. Ich weise in meinen Vorträgen gern darauf hin, dass wir sehr vorsichtig mit den Kindern umgehen müssen, die wir heute betreuen. Jedes Kind ist wichtig, keins darf uns durchrutschen. Diese Kinder sind es, die uns später einmal betreuen werden. Wenn wir sie schlecht behandeln, so werden wir das später persönlich zu spüren bekommen. Und das meine ich nicht nur im Hinblick darauf, dass die Kinder von heute auch die Pflegekräfte von morgen sind, die

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uns im Altenheim betreuen werden und uns heimzahlen, wenn wir nicht nett zu ihnen gewesen sind. Diese Kinder, die schon als Vierjährige voll Unlust an das Spielen und Lernen gehen, werden einmal unser Land regieren, sie werden die technologische Entwicklung bestimmen, sie werden Verantwortung für die nächste Generation an Kindern übernehmen. Und womöglich wieder das propagieren, was »ihnen ja auch nicht geschadet hat« – Lernen, das keinen Spaß machen muss und als Pflicht empfunden wird.

3.6 Deutschland als Einwanderungsland Ist Ihre Kita, ist Ihr Hort zukunftsfähig? Die zukunftsfähige pädagogische Einrichtung muss heute bereits geplant werden. Zukunftsfähig zu sein, heißt, mit der Kristallkugel in die nächsten fünfzehn, zwanzig Jahre zu schauen und die aktuelle pädagogische Arbeit an den Erfordernissen der zukünftigen Zeit auszurichten. Die Liste der Zukunftsanforderungen ist lang. Ob die Zukunft tatsächlich so sein wird, steht selbstverständlich in den Sternen. Vielleicht werden auf einmal wieder ganz viele Kinder geboren? Vielleicht kehren alle wieder in die traditionellen Familienbeziehungen zurück? Vielleicht kommt wieder der Kollektivismus zu uns? Die neuen Technologien verlieren an Bedeutung? Wer weiß das schon, nichts ist sicher, und Pädagogik muss solche Unwägbarkeiten immer mitdenken. Eines ist jedoch sicher, denn da hat die Zukunft bereits begonnen, sehr deutlich an die Kita- und Horttüren zu klopfen. Deutschland ist ein Einwanderungsland, und die Pädagogik wird sich auf die multikulturelle, multiethnische, multisprachliche Zukunft vorbereiten müssen. Im Zuge der aktuellen Flüchtlingsströme bin ich vehement nach Fortbildungen zu interkultureller Vielfalt angefragt worden. Interkulturelle Vielfalt hat es jedoch immer schon in den Einrichtungen gegeben. Selbst wenn alle Kinder in einer Gruppe aus Deutschland stammten, so gab es große kulturelle Unterschiede in der Gruppe. Mädchen und Jungen, Kleine und Große, bildungsnahe und bildungsferne Familien, Akademiker und Nicht-Akademiker, Stadt und Land, Nord- und Süddeutschland. All dies sind Kulturunterschiede, mit denen Kitas und Horte schon von jeher gearbeitet haben. Warum ich das betone? Aus meiner Sicht sind die pädagogischen Einrich-

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tungen bereits sehr gut auf kulturelle Vielfalt vorbereitet. Jetzt wird es darum gehen, sich dessen bewusst zu werden und aktiv die multikulturelle Zukunft zu gestalten. Kinder anderer Nationen bringen andere Religionen, andere Werte, andere Traditionen in die Einrichtungen. Die Bedeutung der Sprache für die Bildung wächst. Deutschland ist im Vergleich zu den europäischen Nachbarn einer der wenigen Verfechter eines Primats der Landessprache. »Zuerst mal müssen die Kinder alle Deutsch lernen«, so lautet das »Ja, aber«, das in diesem Zusammenhang häufig geäußert wird. Muss das so sein? In fast allen Nachbarländern zielt das erste pädagogische Bemühen bei fremdsprachlichen Kindern darauf ab, diesen Angebote in ihrer Heimatsprache zu machen. Die Kinder müssten also nicht zuerst Deutsch lernen und werden dann integriert. Sie werden über muttersprachliche Erzieherinnen und Erzieher sowie muttersprachliche Angebote integriert und würden dann erst, Schritt für Schritt Deutsch lernen. Aus meiner Sicht wäre ein solches Vorgehen viel näher an der Willkommenskultur. Die Kinder und ihre Familien wären mit ihren Eltern von Anfang an willkommen, und nicht erst dann, wenn sie Deutsch können. So könnte die Beziehung zu beiden von Anfang an zuverlässiger gestaltet werden. »Ja, aber, Herr Mienert, wo soll ich denn eine Arabisch sprechende Fachkraft herbekommen? Der Markt ist leergefegt.« Es geht um eine Zukunftsaufgabe, die heute bereits begonnen hat. Die Herausforderung liegt nicht nur in den Kitas und Horten selbst, sondern bereits in den Fachschulen für Erzieherinnen und Erzieher, in den Universitäten und in den Fortbildungseinrichtungen. Mehr kulturelle Vielfalt nicht nur bei den Kindern und ihren Familien, sondern auch beim pädagogischen Fachpersonal. So können Kitas und Horte wirklich die gesellschaftliche Realität des Einwanderungs­ landes Deutschland abbilden. Die vielen Kulturen, die sich in Deutschland in den pädagogischen Einrichtungen treffen, stellen nicht nur sprachliche Herausforderungen dar. Sie fordern auch unsere Werte und Normen heraus. Der in unserer Gesellschaft aufblühende Individualismus, der sich in der Gleichberechtigung von Männern und Frauen zeigt, in individuellen Lebensentwürfen, neuen Familienformen, neuen Zukunftswünschen wird mit anderen, kollektivistischen, traditionellen oder

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religiösen Wertvorstellungen konfrontiert. Sichtbar wird dabei, dass auch »unsere« Werte nicht wirklich unser aller Werte sind. Auch innerhalb Deutschlands denken nicht alle in progressiven Werte­ kategorien. Auch bei uns wird die Gleichstellung von Mann und Frau zwar gepredigt, aber nicht immer gelebt. Alternative Lebensentwürfe stehen bei uns selbst weiterhin im Kreuzfeuer. Anerkennung homosexueller Menschen? Auch bei uns dürfen Schwule und Lesben nicht heiraten, sondern nur eine Lebenspartnerschaft eingehen. Fremde Kulturen konfrontieren uns mit unseren eigenen Werten. Einigkeit haben wir in unseren Werten nicht. Mancher traditionell eingestellte Migrant ist in seinen Wertvorstellungen viel dichter an der Masse der deutschen Gesellschaft, als es offiziell zunächst erscheint. Die Auseinandersetzungen in der Einwanderungsgesellschaft sind also zunächst Auseinandersetzungen mit uns selbst, die Migrantinnen und Migranten zwar sichtbar werden lassen, aber nicht verursacht haben.

3.7 Veränderungen in den familiären Strukturen »Dass unsere Kinder verhaltensauffällig sind, ist doch kein Wunder. In unserem Einzugsgebiet gibt es kaum noch heile Familien. Überall Scheidungen, Wiederheirat, Alleinerziehende, Patchworkfamilien. Das kann doch für die Kinder nicht gut sein.« Über die Veränderungen in den familiären Strukturen und die damit verbundenen Herausforderungen für die Kitas und Horte in der Zusammenarbeit mit Eltern werde ich noch schreiben. So mag mir an dieser Stelle folgender Hinweis genügen: Ich muss die Eltern und die Familien ja nicht mögen. Ich kann meine eigene Familie ganz nach meinen Werten und Normen aufbauen und gestalten. Die Familien der Kinder können davon völlig abweichen. Da kann es alle Formen geben, traditionelle und nicht traditionelle Familienformen. Engagierte Eltern und faule. Gebildete und weniger schlaue. Klassische VaterMutter-Kind-Familien genauso wie gleichgeschlechtliche Beziehungen und Eltern. Kommunen, in denen viele Erwachsene viele Kinder erziehen. Alleinerziehende, wechselnde Sorgerechte, Scheidungen … All das kann es geben. Nichts davon kann durch Pädagoginnen und Pädagogen beurteilt und bewertet werden, denn all diesen Fami-

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lienformen ist eines gemeinsam: Die Kinder wollen keine anderen Eltern und keine andere Familie als genau die, die sie haben. Kinder lieben ihre Eltern über alles, selbst die allerschwierigsten. Als Fachkraft wird man um diese Liebe und Beziehung erst werben müssen, und das kann klappen oder auch nicht, wie die Eingewöhnungen der Kinder häufig zeigen. Die Aufgabe der Fachkraft ist es nicht, die Familien zu bewerten. Familiäre Vielfalt ist eine Realität der Kinder von heute, das muss man nicht mögen, aber man muss es anerkennen. Wenn Kinder sich entscheiden müssten, ob sie lieber die Fachkraft wählen oder ihre Familie, die Entscheidung würde immer für die Familie fallen. Die Schere innerhalb der Elternschaft geht immer weiter auf. Früher erschienen Familien homogener, ähnlicher, und die Zusammenarbeit mit ihnen war scheinbar einfacher, da sie die Ansagen der Fachkräfte seltener infrage gestellt haben. Heute, im Zug der Individualisierung der Gesellschaft ändert sich auch die Elternschaft. Von hoch anspruchsvollen, berufstätigen Eltern bis hin zu arbeitslosen Eltern ist alles mit dabei. »Ja aber, ich hab Eltern, die bemühen sich wirklich. Andere Eltern, da sehe ich überhaupt keine Zuneigung zu ihren Kindern. Die sind dann die ersten, die die Kinder morgens bringen und die letzten, die die Kinder abends abholen. Und zwischendurch sind diese Eltern den ganzen Tag zuhause und gucken Fernsehen. Die sind auf Hartz IV, nämlich. Und das soll ich gut finden?« Sich zukunftsfähig zu machen, heißt, die Realitäten der Familien anzuerkennen, und für alle Kinder gleichermaßen ein gutes pädagogisches Angebot zu gestalten, unabhängig von den Familienverhältnissen. Bei Ihnen kann jedes Kind eine tolle Zeit bekommen. Das müssen Sie nicht daran knüpfen, dass die Eltern das mit ihren Kindern zuhause genauso handhaben.

3.8 Fachkräfte der Zukunft Die Wissensgesellschaft braucht mutige Wissenserschaffer. »Bei uns lernen die Kinder das Gestalten mit Bügelperlen.« Individualismus ist die Kultur unserer Zeit. »Alle haben viel Spaß beim Filzen von Eierbechern zu Ostern!« Globalisierung, Technologie und Internet entwickeln sich rasant. »Der Computer steht im Erzieherzimmer. Im

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Moment ist er gerade kaputt.« Die Überwachung der kindlichen Entwicklung nimmt immer mehr zu, die Unfreiheit der Kinder steigt. »Wir machen gerade ein Projekt zur gesunden Ernährung.« Der demografische Wandel ist im vollen Gange. »Unsere Kinder gehen zu den Senioren im Ort beim Geburtstag singen.« Deutschland ist ein Einwanderungsland. »Alle Kinder machen mit bei der Weihnachtsdekoration.« Die familialen Strukturen ändern sich grundsätzlich. »Elternarbeit heißt bei uns Kuchenbacken und Bänkestreichen. Schade, dass wieder so wenig Eltern mitgemacht haben.« Alte Rezepte für die neue Zeit? Bügelperlen als Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel? Ich hoffe, Sie sehen die Ironie in meinen Äußerungen. Was muss sie alles beherrschen, die Fachkraft der Zukunft? Sie muss die Bildungschancen aller Kinder, unabhängig von ihrer Herkunft, verbessern können. Sie muss die Integration aller Kinder fördern und in inklusiven Einrichtungen dem Rechnung tragen, dass eigentlich jedes Kind seinen Inklusionsbedarf hat, da jedes Kind anders ist und jedes Kind mit seinen »Behinderungen« – mehr oder weniger offensichtlichen – aufwächst. Gesundes Aufwachsen der Kinder zu ermöglichen, heißt nicht, für Vollkornbrot und Kräuterquark zu sorgen, sondern die Frage nach der Gesundheit der Kinder in den Teams völlig neu zu stellen. Ist es gesund, am Computer zu spielen? Wäre es demgegenüber gesün­ der, den Kindern den Computer vorzuenthalten? Ist Mittagsschlaf für die Gesundheit der Kinder ein Muss? Kann man als Kind auch gesund aufwachsen, wenn man keine Lust auf Sport und Bewegung hat? Inwieweit ist es gesund, im Sinne übertriebener Aufsichtspflicht und Gefahrenabwehr, die Kinder von jeglichen Sicherheitsrisiken systematisch fernzuhalten. Werden die Kinder dadurch nicht eher noch gefährdeter und damit ungesünder? Eine große Zukunftsaufgabe liegt darin, die soziale Teilhabe und Verantwortungsübernahme der Kinder zu fördern. Kinder sollen Lust auf Mitbestimmung und Partizipation haben. Sie sollen Lust haben, Demokratie selbst zu gestalten und Verantwortung in unserer Gesellschaft zu übernehmen. Dabei treffen sie heute auf eine Generation von Erwachsenen, die Partizipation und Demokratie selbst sehr zweifelnd gegenüber stehen, sich selbst nicht in den demokratischen Institutionen enga-

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gieren, nicht in Parteien und Bürgerbewegungen oder Gewerkschaften aktiv sind, sich selbst nicht in politische Verantwortung wählen lassen wollen, aber gern auf diejenigen schimpfen, die Demokratie gestalten wollen. Wie kann eine pädagogische Fachkraft die Kinder zur Einmischung und Mitbestimmung erziehen, wenn sie sich selbst nicht einmischt und selbst nicht mitbestimmt. Die Fachkraft der Zukunft wird all diese Herausforderungen unter weiterhin schwierigen Rahmenbedingungen leisten müssen. Es wird notwendig sein, Arbeits- und Leistungspotenziale auszuschöpfen, trotz Personal­ mangel, trotz mangelhafter räumlicher und materieller Bedingungen, bei prekären Arbeitsverhältnissen und bei einer zunehmenden Intensivierung des Wettbewerbs zwischen den Einrichtungen auf dem Bildungsmarkt. Gleichzeitig wird es notwendig sein, sich unter den Fachkräften zusammenzuschließen und zu vernetzen und gemeinsam daran zu arbeiten, dass die pädagogischen Bedingungen für die Kinder längerfristig besser werden. Während Ersteres in den Einrichtungen immer wieder tagtäglich neu probiert wird, sehe ich gerade bei Letzterem schwarz. Fachkräfte, die sich zusammenschließen und gemeinsam Verbesserungen erzwingen? Die meisten Fachkräfte erscheinen mir gerade hier erstaunlich brav und angepasst. In meinen Fortbildungen treten häufig Fachkräfte an mich heran und sagen: »Ja, aber Herr Mienert, was tun Sie selbst denn dafür, dass sich die Rahmenbedingungen in Kitas und Horten verbessern? Wo treten Sie denn vor den Politikern auf und setzen sich für uns ein?« In meinen Antworten habe ich eine Analogie sehr häufig benutzt: »Wenn ich etwas gesellschaftlich zu sagen hätte, wenn ich über Ihre Bezahlung, Ihre Ausstattung der Einrichtung, über Ihren Personalschlüssel, die Betreuungszahlen und so weiter entscheiden könnte, wenn ich also Macht und Einfluss hätte – ich würde an der Situation der Erzieherinnen und Erzieher nichts ändern. Ich würde Ihnen nicht mehr Geld zur Verfügung stellen, nicht mehr Personal, keine besseren Räume, keine besseren Bedingungen. Und wissen Sie, warum? Ich habe zwei Gründe dafür. Zum einen: Könnten Sie mir denn tatsächlich garantieren, dass Sie besser arbeiten würden, wenn die Rahmenbedingungen besser wären? Selbst unter den gleichen schlechten Rahmenbedingungen arbeiten die Kolleginnen und Kollegen ja ganz unterschiedlich, manche hervorragend, man-

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che schlecht. Und zum zweiten: Von mir würden Sie keine Verbesserung der Bedingungen bekommen, weil Sie die Arbeit ja trotzdem machen! Warum sollte ich also etwas für Sie verbessern? Sie arbeiten ja, ohne laut zu klagen, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. ›Bringt die Probleme der Welt zu mir, packt sie auf meine Schultern, ich schaffe das schon irgendwie, trotzdem‹, so scheinen Erzieherinnen und Erzieher zu funktionieren. Warum ich Ihnen mehr Geld und so weiter geben sollte, obwohl sie die Arbeit klaglos auch bei schlechten Rahmenbedingungen machen, erscheint mir schleierhaft.« Neue Zeiten brauchen neue Pädagoginnen und Pädagogen. Diese müssen nicht jung sein, auch alte Fachkräfte können neue pädagogische Arbeit leisten. In erster Linie müssen sie selbst so sein, wie wir es uns für die Zukunft der Kinder wünschen. Neugierige, kreative, selbstbewusste, selbstständige, mutige und unternehmerische Kinder brauchen neugierige, kreative, selbstbewusste, selbstständige, mutige und unternehmerische Fachkräfte an ihrer Seite. Solche Menschen, Kinder wie Große, sind anstrengend und herausfordernd, sicherlich. Aber nur sie sind es, die für die Zukunft wirklich gewappnet sind.

4. »  Grobziel, Feinziel, methodische Umsetzung. Pläne genauso wie früher!«

4.1 Anforderungen von Gegenwart und Zukunft Die Diskussion über Bildungsziele und Sollzustände in der Pädagogik ist nicht neu. Sie wurde nur erneut Gegenstand des Interesses, weil Bildung zum einen wieder als wirtschaftlich lukratives Gut entdeckt worden ist. Zum anderen haben sich die gesellschaftlichen Ansprüche an die Fähigkeiten und Kompetenzen Heranwachsender verändert sowie die Umweltbedingungen, unter denen die Kinder heute aufwachsen. Um eine Gesellschaft zu erhalten, die aus flexiblen, kreativen, lernbegeisterten und sozial kompetenten Menschen besteht, müssen diese Fähigkeiten bereits im Kindesalter erhalten und gefördert werden. Da die Geburtenrate rückläufig ist, liegt auf dem Nachwuchs zwangsläufig noch mehr Verantwortung. Die optimale Förderung bereits in den ersten Lebensjahren wird somit zur wichtigsten Aufgabe. Neue entwicklungspsychologische Erkenntnisse aus dem Bereich der Neurowissenschaften und der Pädagogik machen zudem deutlich, dass dies nicht nur sinnvoll, sondern notwendig ist, um das vorhandene Potenzial der Kinder voll auszuschöpfen. Kinder sind keine kleinen, unfertigen Wesen, sie sind von Geburt an lernfähige, wissbegierige Individuen, die mit einem Schatz an intuitiven Kompetenzen ausgestattet sind, die sie für die Entdeckung der Welt ab dem Moment der Geburt – wenn nicht sogar schon früher – prädestinieren. Viele dieser angeborenen Lern­ voraussetzungen (z. B. für den Spracherwerb, das Sozialverhalten, die Bindungsfähigkeit und das Neugierdeverhalten) engen sich frühzeitig auf das unmittelbar Notwendige ein, wenn sie nicht von den Kindern schon frühzeitig systematisch genutzt werden können. Es scheint daher nahezu fahrlässig, die Kompetenzen der Kinder erst im Grundschulalter ernst zu nehmen und zu fördern. Ein weiterer Aspekt ist die veränderte Umweltsituation der Kinder. Die Eltern haben weniger Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen, dafür sind die

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»Grobziel, Feinziel, methodische Umsetzung«

Kinder vermehrt multimedialen Einflüssen ausgesetzt. Dadurch sinken soziale Kontakte und damit einhergehend vor allem der soziale Austausch, sowohl mit Erwachsenen als auch mit Gleichaltrigen. Die Sprache wird als wichtiges Glied in der Kette des Lernens betrachtet. Die perfekte Beherrschung der Muttersprache ist für eine gesunde Entwicklung unverzichtbar. Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, haben mehr Probleme, und die Integration ihrer Erstsprache ist somit ein wichtiger Aspekt. Das Beherrschen der Muttersprache ist eng mit dem Erwerb von Zweitsprachen verbunden. In der Zweisprachigkeit von Kindern liegt eine riesige Chance. Deshalb liegt ein weiteres Augenmerk auch auf der Sprachförderung im Elementarbereich.

4.2 Neue Bildungspläne aller Bundesländer Die von den Bundesländern seit den 2000er-Jahren entwickelten Rahmenpläne für die frühkindliche und außerschulische Bildung beinhalten als wichtigsten Aspekt den Selbstbildungsprozess des Kindes und damit einhergehend das veränderte Rollenbild der pädagogischen Fachkraft. Der Begriff der Selbstbildung baut auf der Theorie des Konstruktivismus auf. Der Konstruktivismus geht davon aus, dass der Lernende sich seine individuelle Lernsituation selber konstruiert und somit seinen Lernprozess selber steuert. Sein Wissen entsteht dabei durch die interne subjektive Konstruktion von Ideen und Konzepten und deren Interpretation. Selbst die Informationen aus den Sinneswahrnehmungen sind nicht einfach Abbilder, sondern bereits gefilterte, verarbeitete und interpretierte Ergebnisse des Gehirns, also auf kognitiven Prozessen basierend. Somit lassen sich auch diese Informationen als konstruiert bezeichnen. Wissen kann als individuelle Konstruktion eines aktiven Lerners in einem sozialen Kontext bezeichnet werden. Dabei ist das Vorwissen des Lernenden von entscheidender Bedeutung, da das neue Wissen immer im Bezug darauf konstruiert wird. Beim Lernen spielt die Aktivierung von Vorkenntnissen, ihre Ordnung, Korrektur, Erweiterung, Ausdifferenzierung und Integration eine entscheidende Rolle. Für diesen Aspekt ist der soziale Austausch mit Erwachsenen/Erzieherinnen und Gleichaltrigen sehr wichtig. Die Aufgabe,

Die neuen Bildungspläne53

die den Erzieherinnen und Erziehern nun zukommt, ist die einer Lernunterstützung. Sie soll unterstützend und anregend, aber nicht steuernd wirken. Die mit der veränderten Sichtweise verbundenen Veränderungen in den Lernangeboten werden in den einzelnen Bildungsbereichen, die je nach Bundesland zwischen fünf und sieben variieren, konkretisiert.

4.3 Die neuen Bildungspläne und die alte Rolle der pädagogischen Fachkraft

B L R

ritta schmiert sich selbst ihr Brötchen – »Messer, Gabel, Schere, Licht, sind für kleine Kinder nicht!« ennart lernt aufräumen – »Man muss auch mal müssen und kann nicht immer nur wollen.« ike mag keine Roten Rüben – »Wenigstens mal probieren, ein kleiner Kostehappen.«

Die Bildungspläne spiegeln die neu entstandenen Ansprüche an die Fähigkeiten und Kompetenzen von Kindern auf Grund der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen wider. Die Notwendigkeit dieser Veränderungen ist unbestritten und bietet nicht nur den Kindern mehr Chancen, sich ihren Möglichkeiten entsprechend individueller entfalten zu können, auch für die Erzieherinnen und Erzieher eröffnet sich dadurch die Chance auf eine flexiblere Arbeitsweise. Was die Arbeit nach den neuen Bildungsstandards für die Fachkräfte im Hinblick auf ihr pädagogisches Selbstverständnis bedeutet, ist aus meiner Sicht bisher in der fachöffentlichen Debatte eher unzureichend reflektiert worden. Fachkräfte als »Entwicklungsbegleiter« (u. a. in der Reggio-Pädagogik), als »Ermöglicher« (u. a. in der Freinet-Pädagogik), Erzieherinnen und Erzieher als »Coaches und Begleiter für die Kinder«, diese in der pädagogischen Fachpresse dargelegten Beschreibungen vermögen die Lücke in der Neudefinition der eigenen Rolle der Fachkräfte bisher nicht befriedigend zu füllen. Für die pädagogischen Fachkräfte stellen sich in der aktuellen Situation viele Fragen:

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»Grobziel, Feinziel, methodische Umsetzung«

ȤȤ Was ist meine Aufgabe? ȤȤ Welche Rolle spiele ich in den kindlichen Selbstbildungsprozessen? ȤȤ Ich soll die Kinder begleiten und sie gleichzeitig auf das Leben vorbereiten – wie soll das gelingen? ȤȤ Darf ich den Kindern überhaupt etwas »beibringen« wollen? ȤȤ Was mache ich mit Kindern, die sich nicht von selbst bestimmte Fähigkeiten und Kompetenzen aneignen, die ich als lebenserfahrener Erwachsener als wichtig und richtig erachte? ȤȤ Darf ich in Selbstbildungsprozesse eingreifen, oder genügt mir die Tätigkeit von Beobachtung und Dokumentation der kindlichen Entwicklungsprozesse? ȤȤ Sollten nun keine Vorgaben mehr gemacht werden? ȤȤ Dürfen jetzt Kinder in jedem Alter alles? ȤȤ Darf ich Kinder überhaupt noch durch spezifische Anforderungen und Aufgaben fördern? ȤȤ Welches Wissen kann, darf, muss Kindern vermittelt werden? ȤȤ Wie selbstbewusst, neugierig und kreativ sollen Kinder werden, und ist unser Umgang mit den Kindern im Kita- und H ­ ort-Alltag tatsächlich förderlich dafür? Und – ȤȤ Wenn ein Kind kurz vor der Einschulung noch immer keine Lust aufs Schereschneiden zeigt, wäre es dann nicht meine Aufgabe, es ihm beizubringen? Was wird die Grundschule dazu sagen? Verschiedene Rollen der Fachkräfte stehen hier im unmittelbaren Konflikt, und meine Beobachtungen aus der aktuellen pädagogischen Praxis deuten darauf hin, dass viele Fachkräfte diesen Konflikt für sich bewältigen, indem sie die neuen Anforderungen nach den neuen Bildungsstandards inhaltlich wiedergeben, ohne dass sie Bezug zum pädagogischen Alltag der eigenen Arbeit haben. Oder indem sie die Notwendigkeit eines Umdenkens generell ablehnen – denn »Früher haben wir aus den Kindern auch vernünftige Menschen gemacht – warum sollte das jetzt auf einmal alles schlecht sein?«

Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn55

4.4 Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn – Die Motoren menschlicher Entwicklung Um diesen Konflikt im eigenen pädagogischen Selbstverständnis besser nachvollziehen zu können, ist ein historischer Blick auf das Rollenverständnis der pädagogischen Fachkräfte angebracht: Hintergrund der eigenen Rollenvorstellungen in der Pädagogik sind die sich unterscheidenden Vorstellungen davon, wie kindliche Entwicklung verläuft und was die Antriebskräfte – Motoren menschlicher Entwicklung – sind. Hier haben sich in den letzten Jahrzehnten bereits zwei grundlegende Wechsel in der Entwicklungspsychologie und der Elementar- und Primarpädagogik vollzogen. Heute befinden wir uns mitten im dritten Wechsel, und die Suche nach der eigenen Rolle hat bei den Pädagoginnen und Pädagogen erneut begonnen. Die eigene Bildungsgeschichte der Erzieherinnen und Erzieher und ihre Ausbildung, die zu einer Zeit stattfanden, in der auf kindliche Entwicklung durch einen der im Folgenden dargelegten Blickwinkel geschaut wurde, prägt das aktuelle Erleben und Verhalten der Fachkräfte bewusst und unbewusst weiter. Um diesen Wechsel zu beschreiben, möchte ich zunächst die bisher dominierenden Leitvorstellungen über kindliche Entwicklung und ihre Umsetzungen in der pädagogischen Arbeit mit Kindern beschreiben. 4.4.1 Entwicklungsmotor Gene

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ax muss mal – »Die Sauberkeitsentwicklung ist eines unserer wichtigsten Erziehungsziele.«

Die Überzeugung, dass die Entwicklung in den ersten Lebensjahren vorwiegend ein biologisches, von Genen gesteuertes Reifungsprogramm sei, das ohne äußeres Dazutun abläuft und möglichst nicht gestört werden sollte, hat insbesondere in Deutschland eine lange Tradition. Die Beschränkung auf die genetisch determinierten Reifungsprozesse bei der Betrachtung kindlicher Entwicklung fand ihren traurigen Höhepunkt im Nationalsozialismus. Kindliche Kompetenzen wurden eher ignoriert, Willensäußerungen als Ausdruck körperlicher und geistiger Unreife angesehen: »Schreien kräftigt die

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Lunge«. Hauptaufgabe der Erzieherinnen und Erzieher war es, die hygienischen und organisatorischen Bedingungen zu schaffen, die eine ungestörte Reifung des Kindes ermöglichen. Sauber, trocken und satt, so lauteten die Pflegegrundsätze. Pädagogische Beschäftigung mit den Kindern, Beziehungsaufnahme, Austausch waren von untergeordneter Bedeutung. »Der völkische Staat hat […] seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt die Ausbildung geistiger Fähigkeiten.« (Kindergarten, 1934, S. 25, zit. nach Berger, 2005, Zugriff am 30. 03. 2016).

Auch wenn der genetisch determinierte Reifungsgedanke seitdem an Popularität verloren hat, spielt er in zahlreichen von Großeltern überlieferten Erziehungstipps nach wie vor eine wichtige Rolle und hatte insbesondere in der DDR auch in der Fachausbildung für Krippenerziehung einen festen Platz – wo Pflege- und Ernährungstipps gegenüber der pädagogischen Ausbildung dominierten. Für bundesdeutsche Eltern war bis in die 1980er-Jahre hinein »Die Mutter und ihr erstes Kind« von Dr. Johanna Haarer der führende Erziehungsratgeber. Wenigen bundesdeutschen Eltern war bewusst, dass dieses »Standardwerk« auf dem führenden nationalsozialistischen Erziehungsratgeber »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« beruhte. Traditionelle, von Großeltern tradierte und auch in manchen Einrichtungen kursierende Vorstellungen über Erziehung basieren auf diesen Grundgedanken. Kinder dürfen nicht verwöhnt und verzärtelt werden, kindlichen Willensäußerungen sollte nicht nachgegeben werden, feste Fütterungszeiten, sich nicht zu viel mit dem Kind beschäftigen, mit Kindern nicht auf Augenhöhe verhandeln, »Wenn die Kuchen reden, müssen die Krümel schweigen«, kindliche Entwicklung nicht »stören«, darauf vertrauen, dass sich Entwicklungsprobleme irgendwann »verwachsen«, die Umgebung der Kinder steril gestalten, auf Sauberkeit, Trockenheit achten und ja nicht zu viel kuscheln … Die Härte mancher Pädagogin geht auf solche traditionellen Erziehungsvorstellungen zurück, die mich oft erschrecken und trotzdem im Brustton der Überzeugung vorgetragen werden, da sie sich ja scheinbar seit Jahrzehnten »bewährt« haben.

Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn57

Viele der »Ja, abers«, die sich der Gruppe »Hat uns doch auch nicht geschadet« zuordnen lassen, stammen aus diesem Entwicklungs- und Erziehungsgedanken. Die wichtigste Forderung an die Kinder scheint es zu sein, sich diszipliniert zu verhalten und den Anweisungen der Pädagogin oder des Pädagogen nachzukommen. Es müssen Regeln eingehalten und Grenzen beachtet werden. Kein Kind soll zu sehr aus der Reihe tanzen, zu laut sein, zu wild sein, zu abenteuerlustig. Die Einordnung in die Gruppe wird erwartet. Die Erzieherin oder der Erzieher ist Bestimmer. Es besteht eine Hierarchie zwischen den Erwachsenen und den Kindern, die zu erkennen, zu respektieren und einzuhalten ist. Klingen diese Äußerungen von mir zu hart? Haben sie mit den Realitäten in Kindertageseinrichtungen im Jahr 2016 nichts mehr zu tun? Bitte nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit für die folgende Beobachtungsübung in Ihrer Einrichtung und hören Sie, wie das Klima bei Ihnen ist: In einer Tageszeit, zu der in Ihrer Einrichtung viel Bewegung herrscht, nehmen Sie sich bitte eine Auszeit von fünf Minuten. Wählen Sie dafür bewusst eine Zeit des Wechsels in Ihrer Einrichtung, also zum Beispiel die Anziehzeit der Kinder für das Spielen auf dem Hof, die Vorbereitung des gemeinsamen Mittagessens, die Vorbereitung auf den Mittagsschlaf oder das Sortieren der Kinder vor dem Spazierengehen. In der Auszeit von fünf Minuten stellen Sie sich bitte in die Mitte Ihrer Einrichtung, also in die Mitte des gerade herrschenden Trubels. Machen Sie bitte in dieser Zeit nichts anderes, als genau auf die wörtlichen Äußerungen Ihrer Kolleginnen und Kollegen zu achten. Machen Sie sich innerlich Notizen dazu, was die Kolleginnen und Kollegen in dieser Zeit so zu den Kindern sagen. Gehen Sie dabei gern auch von Ort zu Ort, um möglichst viele Äußerungen unterschiedlicher Erzieherinnen und Erzieher erfassen zu können. Nach den fünf Minuten lassen Sie die unterschiedlichen Äußerungen vor ihrem geistigen Ohr Revue passieren. Was haben Sie von den Kolleginnen und Kollegen gehört? Welche Sätze haben die Erzieherinnen und Erzieher an die Kinder gerichtet oder auch über die Kinderköpfe hinweg in den Raum geschickt? Nach dieser kleinen Übung gilt es, die verschiedenen Äußerungen genau zu sortieren. Welche Äußerungen, die Sie gerade gehört haben, waren warmherzig, wertschät-

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»Grobziel, Feinziel, methodische Umsetzung«

zend, auf Augenhöhe mit dem Kind? Welche Kolleginnen und Kollegen haben sich bindungs- und beziehungsorientiert geäußert, haben im Trubel Ruhe bewahrt, sind auf die Individualität jedes Kindes eingegangen? Bei welchen Äußerungen haben Sie sich als Zuhörerin oder Zuhörer selbst wohl gefühlt? Und wie groß war das Ausmaß anderer Äußerungen? Gab es Äußerungen, die erpressend oder bestechend waren (»Wenn Ihr euch jetzt nicht endlich beeilt, dann werd ich richtig sauer«, »Wenn Ihr das Mittagessen nicht mal probiert, dann braucht Ihr ja sicher auch keinen Nachtisch«)? Gab es viel Schimpfen, viel Lautwerden? Wurden Kinder vorgeführt oder lächerlich gemacht (»Du kannst auch wieder in die Krippengruppe gehen, wenn du dich immer noch nicht allein anziehen kannst«)? Haben die Erzieherinnen oder Erzieher in ihren Äußerungen deutlich gemacht, dass sie von den Kindern eine Befolgung ihrer Forderungen erwarten? Wurde über die Kinder hinweg geredet, ohne direkte Ansprache einzelner Kinder (»Muss ich denn immer erst schimpfen«)? Wurde Liebesentzug angekündigt (»Nach dem, wie du dich gerade benommen hast, brauchst du mir gar nicht erst anzukommen«)? Egal, wie genau das Ergebnis dieser kleinen Beobachtungsübung für das Klima in Ihrer Einrichtung ausfällt, danach ist ein Gespräch mit allen Kolleginnen und Kollegen notwendig, denen Sie gerade zugehört hatten. Sprechen Sie die Kolleginnen und Kollegen an, von denen Sie viel Warmherziges und Angenehmes gehört haben. Drücken Sie Ihre Anerkennung dafür aus, dass es diesen Kolleginnen und Kollegen gelungen ist, in einer turbulenten Zeit Ruhe zu bewahren und die Beziehung zum Kind zu stärken. Sprechen Sie auch die Kolleginnen und Kollegen an, denen dies nicht gelungen ist oder die dies gar nicht erst versucht haben. Schildern Sie dabei zunächst sachlich und neutral, dass Sie gerade dieses Beobachtungsübung durchgeführt haben und benennen Sie die wörtliche Rede – also das tatsächlich Gesagte, ohne Interpretationen und Umformulierungen. Weisen Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen darauf hin, dass solche disziplinierenden Äußerungen die Beziehung zu den Kindern belasten. Schildern Sie dabei auch, wie es Ihnen selbst ging, als sie diesen Äußerungen so zielgerichtet zugehört haben.

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4.4.2 Entwicklungsmotor Umwelt

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acharias zählt keine Zaubersteine – »Ja, und was ist mit der Schule später?«

»Gib mir ein Dutzend gesunde wohlgeformte Kinder, um sie in meiner eigenen Welt aufzuziehen, und ich garantiere, dass ich jedes beliebige nehmen kann, und es ganz nach meiner Wahl zu jeder Art von Spezialisten ausbilden kann – Arzt, Rechtsanwalt, Künstler, Lagerverwalter und, ja, sogar zum Bettler und Dieb, und zwar ganz unabhängig von seinen Talenten, Schwächen, Tendenzen, Fähigkeiten, Begabungen und der Rasse seiner Vorfahren« (Watson, 1930, S. 104).

Kein Zitat kennzeichnet besser den großen Erziehungsoptimismus, der den Wechsel von einem biologischen Entwicklungsverständnis zu einem umweltorientierten Entwicklungsverständnis kennzeichnete. Genetische und biologische Ausgangsbedingungen der Kinder wurden vernachlässigt, die Kinder galten als weißes Blatt, ein Stück Lehm, das gestaltet und geformt werden kann, für das also nur das richtige Erziehungsprogramm gefunden werden musste, damit ein perfektes Entwicklungsergebnis entstehen kann. In detaillierten Ausarbeitungen wurden den pädagogischen Fachkräften Handlungspläne vorgegeben, die in den Kindertagesstätten praktiziert werden sollten. »Der Erzieherin im Kindergarten ist die bedeutende gesellschaftspolitische Aufgabe gestellt, den Menschen von morgen zu formen.« (Schroeter, 1975, S. 25)

Die Erzieherin als Trainerin und Formerin der Kinder – diese Vorstellung umfasste nicht nur die Förderung aller kindlichen Leistungsbereiche, sondern auch Charakterentwicklung und Persönlichkeitsformung. Ausdifferenzierte Bildungspläne dominierten die pädagogische Arbeit bis in die 1990er-Jahre sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der Deutschen Demokratischen Republik. Pädagogische Fachkräfte wurden darin ausgebildet, sich möglichst genau und konkret auf die Steuerung der kindlichen Lernund Bildungsprozesse vorzubereiten. Die »gute« pädagogische Fachkraft von einst wusste am Montag bereits, was am Freitagnachmittag in der Einrichtung passieren wird. Sie verfügte über detaillierte

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Wochen- und Monatspläne, die sich an den staatlichen, einheitlichen Vorgaben orientierten. Die Industriegesellschaft der 1960erbis 1990er-Jahre hat universell einsetzbare Arbeitskräfte für Produktionsprozesse benötigt. Für hoch individualisierte, spezialisierte, kreative Lebensläufe gab es kaum Platz. Jeder kann alles so ein bisschen, so lässt sich das Ziel der pädagogischen Prozesse etwas salopp umfassen. Dafür galt es, die Kinder in allen Bereichen zu fördern und sie auch zu Themen zu motivieren, an denen die Kinder kein Interesse haben. Fremdsteuerung dominierte. Kinder lernten dabei, dass Lernen selbst auf Vorgaben Erwachsener beruht, die scheinbar immer »wissen, was die Kinder brauchen und die Umsetzung ihrer Lernvorgaben jederzeit einfordern können«. »Lernen muss nicht Spaß machen, es ist harte Arbeit«, »Das Leben ist kein Ponyhof«, »Später werden die Kinder uns dankbar sein, dass wir sie zum Lernen gebracht haben«, »Entscheidend für das Leben sind gute Noten in der Schule«, »Ein guter Schulabschluss ist die Garantie für eine erfolgreiche Karriere« … alle diese »Ja, abers« lassen den Fremdsteuerungsgedanken des pädagogischen Optimismus von Kindertraining erkennen. Seit dem Aufkommen des Informationszeitalters, der Wissensgesellschaft und der Globalisierung kommt das pädagogische Verständnis des Trainingslernens an seine Grenzen. Wissen scheint zu explodieren, der wissenschaftliche Erkenntnisstand steigt immer dynamischer. Wie da ein »Allgemeinwissen« aussehen kann, das jeder Mensch gleichermaßen beherrschen sollte, erscheint schleierhaft. Gleichzeitig sinkt der Bedarf an mittel ausgebildeten Arbeitskräften für Produktionsprozesse. Der hiesige Arbeitsmarkt sucht händeringend nach hoch ausgebildeten spezialisierten Fachkräften, die in einem Wissens- oder Fähigkeitengebiet sensationell gut sind, gern zulasten anderer Gebiete, in denen sie auch schlechter sein können. Dies steht in krassem Widerspruch zu einer Pädagogik, die allen Kindern alles ein bisschen beibringen möchte und dabei Spezialisierungen bei den Kindern durch gleichförmige, vorbereitete »Angebote«, zu denen alle Kinder »motiviert« werden, entgegenwirkt. Ein Kind, das sich den ganzen Tag über mit Dinosauriern beschäftigt, hätte im Informationszeitalter die Chance, ein sensationell guter Dinosaurierforscher zu werden. Die klassische Pädago-

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gin, die dieses Kind mit gutgemeinten Angeboten auch zum Basteln, Tanzen und zum Sport auffordert, wird aus diesem Kind sicher keinen guten Bastler, Sänger oder Sportler machen. Sie nimmt diesem Kind allerdings gleichzeitig wichtige Lernzeit für sein Spezialthema Dinosaurier. Am Ende entsteht ein Kind, das in allen vier Bereichen, Basteln, Singen, Sport und Dinosaurier höchst mittelmäßig ist. »Ja, aber, unsere Angebote sind doch alle freiwillig. Kein Kind wird bei uns gezwungen, an etwas teilzunehmen. Wir nennen die Angebote auch gar nicht Angebote. Wir nennen sie Input. Wenn wir den Kindern gar keinen Input geben, woher sollen denn die Kinder selbst wissen, was ihnen Spaß macht?« Viele Schulen vertreten nach wie vor den Trainingsgedanken des Entwicklungsmotors Umwelt. Lernen in den Schulen ist an vorgegebenen Formen, Zeiten und Inhalten orientiert und wird dementsprechend benotet. Kitas und Horte sehen sich häufig unter Druck, diesem Bildungsgedanken zu entsprechen, obgleich er ihnen unangenehm und aufgedrückt erscheint. Auch Eltern fordern häufig quasi schulisches Lernen in Kita und Hort ein. Sich diesem »Ja, aber« zu widersetzen, fällt vielen pädagogischen Fachkräften schwer. Das vorliegende Buch wendet sich sicher nicht an die klassische Lehrerin oder den klassischen Lehrer. Im Gegenteil, es soll pädagogischen Fachkräften Mut machen, solche klassischen Erziehungsvorstellungen kritisch zu hinterfragen, sodass am Ende keine »schulfähigen Kinder« entstehen, sondern »kinderfähige« Schulen und pädagogische Einrichtungen. In diesem Zusammenhang betrachte ich die Tatsache, dass selbst in vielen Erzieherschulen nach wie vor eine Angebots- und Trainingspädagogik gelehrt wird, kritisch. Auszubildende müssen schriftlich »Angebote« vorformulieren und werden an der »erfolgreichen« Durchführung dieser Angebote in den pädagogischen Einrichtungen gemessen. Somit wird pädagogischer Wandel in den Kitas und Horten nicht nur durch ältere »traditionelle« Erzieherinnen und Erzieher erschwert, sondern auf lange Sicht auch durch den pädagogischen Nachwuchs, der die alten Traditionen in den Einrichtungen aufrechterhält.

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»Grobziel, Feinziel, methodische Umsetzung«

4.4.3 Entwicklungsmotor Selbststeuerung

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unus macht bei seinen Yuppieeltern, was er will – »Wir müssen doch alle an einem Strang ziehen!«

Menschliche Entwicklung als Prozess der Selbststeuerung – so lässt sich die dritte vorherrschende Entwicklungsauffassung im letzten Jahrhundert kennzeichnen. Das Kind als Partner zu sehen und ihm alle Möglichkeiten einzuräumen, seine Entwicklungsbedingungen selbst zu schaffen, ihm keine Einschränkungen aufzuerlegen, dieser Versuch wurde in der antiautoritären und antipädagogischen Erziehung mit dem Anspruch unternommen, das klassische erzieherische Verhältnis von Unterordnung des Kindes unter die Erziehungsvorstellungen von Erwachsenen aufzulösen. »Die einzige Regel bei uns in der Kita ist, dass es keine Regel gibt«, »Erziehung – dieser Begriff ist verboten, da wir die Kinder nicht ziehen«, »Bei uns entscheiden die Kinder alles selbst«, solche »Ja, abers« deuten auf eine antiautoritäre Ermöglichungspädagogik hin. Hilflosigkeit und Überforderung aufseiten der Erzieherin und der Eltern führten nicht selten dazu, dass antiautoritäre Erziehung in einen Laissez-Faire-Stil überging, in dem die Kinder sich selbst überlassen wurden. Selbst von den Kindern kamen hilflose Ausrufe: »Müssen wir denn heute wieder machen, was wir wollen?«. Die Angst vor der antiautoritären Pädagogik ist einer der wichtigsten Hindernisse in der Neuausrichtung von Kindertageseinrichtungen und Horten an den Selbstbildungsprozessen der Kinder. Soll denn auf einmal jeder machen, was er will? Das hat doch mit den Realitäten des Lebens nichts zu tun, oder? Eines der wichtigsten pädagogischen Themen ist dabei die »Offene Arbeit«, die schnell mit antiautoritärer Pädagogik verwechselt wird. Viele Eltern reagieren ausgesprochen empfindlich, wenn sie vom Plan erfahren, dass Einrichtungen nun »offen« arbeiten wollen. Fachkräfte selbst sind verunsichert, da sie ihre Einfluss- und Steuerungsmöglichkeiten in der Öffnung der Arbeit verschwinden sehen. Zu meiner Überraschung gilt in vielen Einrichtungen immer noch, dass es unter pädagogischen Fachkräften eher akzeptabel scheint, die Kinder fremdzusteuern als ihnen eigene Entscheidungen zu überlassen. Nicht

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nur aus elterlicher, sondern häufig auch aus fachlich-pädagogischer Sicht scheint es nach wie vor vernünftiger, wenn die Kollegin »die Kinder gut im Griff hat, auch die schwierigen Jungs«, wenn sie ein Programm vorgibt und dieses auch mit den Kindern durchzieht, sie für Disziplin und Ruhe sorgen kann und jederzeit das Heft des Handelns in der Hand behält. Mich verwundert das. Ist die Angst vor der antiautoritären Pädagogik so groß, dass man zu ihr immer solch einen Abstand bewahren muss? In Ostdeutschland hat es die antiautoritäre Kinderladenbewegung ja überhaupt nicht gegeben, und in Westdeutschland war sie nur eine Begleiterscheinung neben traditionellen pädagogischen Einrichtungen, oft auf Elterninitiative, die sich für ihre Kinder eine andere Pädagogik wünschten als die, an die sie sich aus ihrer Kindheit noch schmerzvoll erinnern. Vielleicht liegt der Ruf nach mehr Härte in der Erziehung, der aus zahlreichen »modernen« Erziehungsratgebern ertönt, im Trend. Vielleicht versteckt sich dahinter der Wunsch, endlich wieder Klarheit zu bekommen. Vielleicht auch der Wunsch, endlich wieder der Bestimmer oder die Bestimmerin sein zu können und die eigene Macht nicht mehr mit Kindern verhandeln und teilen zu müssen. Moderne Pädagogik sollte sich an allen drei Entwicklungsmotoren – Gene, Umwelt und Selbststeuerung der Kinder – gleichermaßen orientieren. Die damit verbundene Anforderung an die Selbstreflexion der Fachkräfte liegt einigen autoritären Pädagoginnen und Pädagogen schwer im Magen. »Ich kann doch nicht jedem Kind einfach so seinen Willen lassen, Herr Mienert. Wenn ich heute dem Franz erlaube, dass er beim Essen nicht erscheint, dann will er das morgen doch auch wieder. Und dann sehen das die anderen, und die wollen das dann natürlich auch so. Und übermorgen macht beim Essen in der Einrichtung jeder, was er will.« Ich glaube nicht, dass dies so passieren würde. Wenn Franz von seiner Erzieherin lernt, dass es auch Ausnahmen gibt, die seine individuellen Bedürfnisse berücksichtigen, so wird er sich in Zukunft nicht seltener an die Regeln halten, sondern im Gegenteil eher öfter. Er braucht gegen die Regeln nicht mehr ständig anzurennen, er kann ihnen leichter folgen, da er weiß, sie sind nicht starr. Er erkennt, dass seine Erzieherin keine Prinzipienreiterin ist, sondern bereit ist, sich immer neu auf seine aktuellen Bedürfnisse verhandelnd einzulassen. Wenn

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wirklich deutlich wird, dass die anderen Kinder das jetzt auch so wollen, so ist eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Situation des Essens notwendig. Der Konflikt zwischen Erwachsener und den Kindern zeigt, dass die Situation neue, gemeinsam erarbeitete Regeln erfordert. Stellen Sie sich vor, Ihre Chefin würde beschließen, dass von nun an alle Erzieherinnen einen Kittel tragen. Ausnahmen wären nicht erlaubt. Oder sie wollte von Ihnen, dass Sie nach dem Essen einen zehnminütigen schweigenden Gang ums Haus machen, weil das für Ihre Verdauung gut wäre. Oder dass Sie sich alle Gummistiefel zulegen, damit Sie im Garten auch bei schlechtem Wetter immer gut gekleidet sind. Ausnahmen wären nicht erlaubt, denn – so Ihre Chefin – wenn sie jetzt eine Ausnahme erlaubt, dann wollen das morgen alle. Würden Sie sich gern an die Regel mit dem Kittel halten? Würden Sie jeden Mittag den schweigenden Gang ums Haus machen? Und Gummistiefel besorgen? Oder wären Sie bemüht, die Ihnen fremd erscheinende Regel zu hintertreiben, auszudiskutieren, infrage zu stellen? Ihre Gedanken würden viel um Kittel, schweigend Spazieren und Gummistiefel kreisen. Auch Ihre Kolleginnen und Kollegen würden ähnlich empfinden, wahrscheinlich würden Sie, hinter dem Rücken der Leitung, gemeinsam den Aufstand proben. Im Gegenzug: Stellen Sie sich vor, Ihre Chefin stellt Ihnen alle diese Dinge frei. Sie erklärt die Vorund Nachteile, erläutert Ihr dahinter liegendes Anliegen. Sie besorgt Ihnen verschiedene Kittel, von denen Sie sich Ihren Lieblingskittel aussuchen können. Sie gibt Ihnen nach dem Essen 10 Minuten dienstfrei, und sie stellt allen persönliche Gummistiefel zur Verfügung. Sie schimpft nicht, wenn Sie diese nicht nutzen. Selbst geht Sie aber als Vorbild voran, mit Kittel, Gummistiefeln und Mittagsmeditation. Wären Sie dann immer noch bemüht, das Anliegen Ihrer Chefin zu hintertreiben? Der Wunsch nach Autonomie des Menschen beginnt in dem Moment, da er sich selbst im Spiegel erkennt und sein Ich-Konzept entdeckt. Von diesem Moment an, den die Erwachsenen als Trotzalter oder Wutphase bezeichnen, wird jede Regel zum Kampf und jedes Prinzip zur Prinzipienreiterei. Dann geht es nicht mehr um Essen, Matschhosen, Mittagsschlaf, Spritzen im Waschraum, Expe-

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rimente in der Toilette, Gummistiefel oder Spazierengehen. Es geht ums Prinzip, und der Machtkampf beginnt. Mit jeder Grenze, die Erwachsene aufstellen und deren Sinn von den Kindern nicht verstanden wird, ist für Kinder die ultimative Aufforderung verbunden, diese Grenze anzugehen, zu hintertreiben, zu überwinden – denn keiner will sich in seiner Autonomie der Entscheidungsfreiheit einschränken lassen. Gute Pädagogik setzt von daher nicht auf Regeln oder Grenzen. Sie setzt auf die Freiheit jedes Einzelnen. Die Grundregel kindzentrierter Pädagogik lautet: »Du kannst jederzeit machen, was du willst, aber du musst jederzeit auch bereit sein, für die Folgen deines Verhaltens Verantwortung zu übernehmen. Diese Verantwortung wird dir niemand wegnehmen, kein Erwachsener, kein anderes Kind.« Diese Art von Pädagogik wünsche ich mir als Grundprinzip in jeder Einrichtung, bei den Kleinen wie bei den Großen (»Ja, aber, Herr Mienert, ein Krippenkind kann doch die Folgen seines Verhaltens überhaupt noch nicht einschätzen!« – Das muss es aber lernen, langfristig, und das lernt es nur, wenn ich ihm die Möglichkeit dafür einräume, von Anfang an, auch auf die Gefahr hin, dass es nicht immer klappt). »Du kannst mit Anorak rausgehen oder auch ohne. Probiere es aus, finde für dich heraus, wie es ist, wenn es kalt ist. Falls du frierst, musst du dich um dich kümmern. Falls deine Eltern schimpfen, musst du deine Erkältung den Eltern erklären.« »Du musst beim Essen nicht bei uns am Tisch sein. Die beste Zeit zum Essen wäre trotzdem jetzt, das Essen dampft und riecht lecker, ich sitze mit am Tisch, ich selbst genieße. Iss jetzt oder lass es sein, aber falls du später Hunger hast, wirst du selbst auf die Suche nach der Küchenfrau gehen müssen. Ich serviere später nicht mehr.« »Der Waschraum steht dir als pädagogischer Raum zur Verfügung. Du kannst mit Wasser spritzen, aber es liegt in deiner Verantwortung, dass der Raum danach wieder trocken gewischt wird. Du musst auch auf die jüngeren Kinder Acht geben, die den Raum ebenfalls benutzen. Ich werde den Raum nicht wischen, ich werde eure Sachen nicht wechseln, ich werde auch die Kleinen nicht vom Raum fernhalten. Das liegt in deiner Verantwortung. Da werde ich ein Auge darauf haben, dass du diese Verantwortung wahrnimmst!« Übrigens, das, was ich hier gerade beschreibe, das sind die Konse­ quenzen des Handelns, für die jedes Kind Verantwortung überneh-

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men muss. Dasselbe wünsche ich mir auch im Team und überall in unserer Gesellschaft. Im Zug der Individualisierung der Gesellschaft ist die Lust auf das Übernehmen von Verantwortung für die Konsequenzen, also die Folgen des eigenen Handelns rapide gesunken. Jeder von uns macht gern, was er will, aber wenn was schief geht, will es letztendlich keiner gewesen sein. Verantwortungsübernahme zu fördern, Schadensbeseitigung und Wiedergutmachung sind von daher aus meiner Sicht die entscheidenden Erziehungsziele, nicht das Einengen und Begrenzen der Kinder und schon gar nicht das Strafen. Strafen – also das Sanktionieren mit unangenehmen Reizen – das hat in meiner Vorstellung von Pädagogik nichts verloren. Heute taucht aber in den Debatten auch das ganz gegenteilige Phänomen auf: pädagogische Fachkräfte und Eltern, die den Begriff der Erziehung selbst ablehnen und hinter allen pädagogischen Bemühungen Schwarze Pädagogik des Mittelalters vermuten, wo Kinder unterdrückt und eingeengt werden und sich so nicht frei entfalten können. Nicht nur Yuppieeltern wie die von Yunus tun sich mit dem Ziehen, Erziehen und Verziehen von Kindern schwer. Ich habe sogar Kolleginnen und Kollegen getroffen, die sich selbst nicht als Erzieherinnen oder Erzieher bezeichnen mochten. Selbst der Begriff der Pädagogin oder des Pädagogen fiel ihnen schwer, da dieser Begriff, aus dem Altgriechischen auf »Knabenführung« verweist und damit Erwachsene thematisiert, die Kinder irgendwo hinführen, ob sie da nun hin wollen oder nicht. Der Paidagogos war im alten Griechenland ein besonderer Sklave, der dafür zuständig war, die Knaben in die Schule zu führen. Auf dem Weg zur Schule achtete er darauf, dass die Knaben das richtige Verhalten zeigten, das Gewand korrekt trugen, die Augen senkten, die Füße nicht übereinanderschlugen oder den Kopf am Kinn abstützten, still schwiegen und beim Essen nicht mäkelten. Sich in der Tradition eines derartigen Tugendunterrichts zu befinden, wird von vielen Erwachsenen heute mit Skepsis und Kopfschütteln betrachtet. Dass Erziehung immer eine äußere Beeinflussung darstellt und schon die bloße Anwesenheit einer pädagogischen Situation und anderer Menschen immer erzieherisch wirkt, scheint mir dabei schnell in Vergessenheit zu geraten. Begleitung von Kindern in pädagogischen Einrichtungen ist automatisch immer mit Führung

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und Belehrung verbunden. Die Unfreiwilligkeit der gesamten pädagogischen Situation grundsätzlich zu leugnen, halte ich für einen starken Fehler. Jeder einzelne Moment im Leben eines Kindes ist – bei genauerer und fairer Betrachtung – fremdbestimmt. Kinder in die Freiheit, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zu führen, wird immer schwerer, statt leichter. Überwachte Kindheit, so bezeichne ich das Phänomen, das keine Kindergeneration zuvor so permanent unter erwachsener Aufsicht gewesen ist, wie die heutige. Was dies für die längerfristige gesellschaftliche Entwicklung an Konsequenzen mit sich bringt, lässt sich kaum ausmalen. »Ja, aber Herr Mienert, neulich habe ich sogar ein Kind im Bällebad mit Schutzhelm gesehen!« Der Moment, da das Kind morgens aufstehen muss, obwohl es noch liegen bleiben möchte, da es Sachen anziehen muss, die es nicht möchte, ein Frühstück essen soll, das ihm nicht schmeckt, in die morgendliche Dämmerung und Kälte hinaus soll, wo es lieber im Warmen geblieben wäre, sich von den Eltern trennen soll, mit denen es lieber zusammen bleiben würde, sich in eine Gruppe von Menschen begeben muss, die es sich nicht ausgesucht hat, sich mit einer Pädagogin oder einem Pädagogen auseinandersetzen soll, den oder die es sich nicht frei erwählt hat, sich mit Themen beschäftigen soll, die nicht seine sind, sich einem Tagesablauf unterwerfen soll, den es nicht bestimmen konnte, essen soll, wenn es keinen Hunger hat, Essen, das es sich nicht wählen würde, schlafen soll, wenn es lieber aufbleiben würde, auf die Materialien beschränkt ist, die ihm dargeboten werden, sich mit anderen abstimmen muss und nicht versteht, wieso. Selbst nach dem Abholen der Kinder (wobei man als Kind warten muss, bis man abgeholt wird und im Unsicheren darüber ist, ob dies überhaupt geschieht) geht die Fremdbestimmung weiter. Auf die Kinder von heute warten dann noch der Karatekurs, die Musikschule, die Nachhilfestunden, der Supermarktbesuch. Und für die wenigen Minuten des Leerlaufs stehen ein Computer und ein Fernseher bereit, die jederzeit zur Beschäftigung herangezogen werden. Man wird gebracht und abgeholt, bekommt Anrufe auf dem Handy, meldet sich regelmäßig. Selbst abends muss man essen, dabei brav sein, sich die Zähne putzen und dann ab ins Bett. Die Zeiten, da man als Kind wirklich machen kann, was man selbst will, gehen gegen null. Die Kindheit ist geregelt, beaufsichtigt, überwacht, gesteuert.

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»Ja, Herr Mienert, denken Sie denn, unser Leben würde anders aussehen? Wir können doch auch nicht machen, was wir wollen. Wir müssen doch auch arbeiten gehen und unsere Familien versorgen. Wir haben doch auch einen Chef, der uns sagt, was wir zu tun und zu lassen haben. Wir können doch auch nicht einfach weg!« Doch, das können Sie. Jederzeit, immer, und das ist der zentrale Unterschied zwischen dem Leben eines Kindes und dem jedes Menschen ab dem 18. Lebensjahr. Sie können gehen, Sie können Beziehungen beenden, die Ihnen nicht gut tun, Sie können Ihre Partnerinnen und Partner aussuchen, den Wohnort selbst wählen, ja sogar den Beruf aufgeben, etwas ganz Neues beginnen, alles Bisherige hinter sich lassen. Jederzeit. Auch wenn das mit Anstrengungen, Konflikten, schwierigen Zeiten verbunden sein würde. Sie könnten das, und Kinder können das nicht. »Ja, Herr Mienert, wir haben das schon gemerkt, bei Ihnen können die Kinder also machen, was sie wollen!« Kinder dürfen bei mir tatsächlich sehr viel. Für mich gilt der pädagogische Leitspruch: »Jeder kann machen, was er will, aber er muss bereit dazu sein, für sein Verhalten Verantwortung zu übernehmen.« So zu tun, als ob es keine Erziehung gäbe oder auch als ob ein Leben für Kinder ganz antiautoritär jemals möglich wäre, ist aus meiner Sicht Unsinn. Mir geht es einzig und allein um Fairness den Kindern gegenüber. Fairness in Anerkennung der vielen tagtäglichen Zugeständnisse, die Kinder in der Einschränkung ihrer Freiheit und Autonomie tatsächlich klaglos ohnehin hinnehmen. Wie diplomatisch sie sich mit den vorbestimmten Bedingungen arrangieren und dabei erstaunlich wenig Probleme machen. Kaum eine Kindergeneration vorher erscheint mir so brav wie die Kinder von heute, die sich an die Regeln halten, brav lernen, den gesteuerten Tag durchleben. Klingelstreiche? Lausbubengeschichten? Rebellion? Handgreiflichkeiten? Anarchie? Ablehnung von Autorität? Wenigstens in der freien, von Erwachsenen unbeaufsichtigten Zeit hatten frühere Generationen von Kindern diese Möglichkeit zu ihrer Verfügung. Heute ist das Zeitalter kindlicher Selbstbestimmung und selbstbildungsorientierten Lernens? Aus meiner Sicht weniger denn je, und das macht mir große Sorgen. Ein bisschen mehr, wenigstens zu bestimmten Zeiten, am Freitagnachmittag oder einen ganzen Tag die Woche die Kinder ein-

Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn69

fach mal machen lassen, was sie wirklich wollen, sich als Erwachsener weit zurückziehen und in ein mögliches (»Und ganz sicher auch hundertprozent wahrscheinliches, Herr Mienert!«) Chaos nicht einzugreifen, wie sehr würde ich das den Kindern von heute wünschen. Die Bildungspläne aller Bundesländer würden das erlauben, sie predigen sogar Partizipation der Kinder, die Arbeit an den Themen der Kinder, sie warnen vor vorbereiteten Angeboten und der Abschaffung des Freispiels. Eltern haben Angst um die Zukunft ihrer Kinder. Sie fürchten, dass die Kinder nicht genug lernen, später nicht mithalten können, Schwierigkeiten erleben, scheitern. Die Angst der Eltern ist lebenslänglich. Gleichzeitig merken Eltern, dass ihr Einfluss auf das Leben der Kinder immer mehr nachlässt, wenn die Kinder größer werden. Was bleibt einer Mutter oder einem Vater anderes, als auf bestmögliche Bildung ihrer Kinder zu drängen, auf gute Schulleistungen zu hoffen und ihnen materiell alles zur Verfügung zu stellen, was das eigene Budget so hergibt. Ob das gute Erziehung ausmacht? Ob das den Kindern in einer Zukunft, die wir alle nicht kennen, tatsächlich das Leben und Überleben sichern wird? Ich habe daran große Zweifel. Wie bestmögliche Bildung und Entwicklung für Kinder aussehen könnte, daran werden wir alle noch gemeinsam knobeln müssen. Aus Sicht von Eltern ist bestmögliche Bildung zunächst einmal jedoch nichts anderes als das, was sie selbst in ihrer Kindheit und Jugend erlebt haben. Sie haben kein anderes Bild von Pädagogik als, dass es da um Stoff geht, der durchgenommen werden muss, dass es dabei um Disziplin geht, um Wissen, das man später mal braucht, dass das Leben in der Schule eben anstrengend ist, dass Erwachsene aber auch verständiger und vernünftiger sind als Kinder und von daher das Recht haben, Inhalte, Zeiten, Formen des Lernens festzulegen und die Regeln aufzustellen und durchzusetzen, die zu guter Bildung führen. Eltern sind selbst zumeist keine Pädagogen. Sie haben andere Berufe, sind Automechaniker, Ärzte, Kassiererinnen und Betriebswirtschaftlerinnen, Arbeitslose und Akademiker. Von den Eltern Unterstützung für eine Pädagogik zu erwarten, die die Verantwortung für das eigene Lernen mehr und mehr in die Hände der Kinder selbst übergibt, ist von daher müßig. Die Pädagoginnen und Pädagogen müssten es eigentlich besser wissen. Sie müssten sich mit den aktuellen ge-

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»Grobziel, Feinziel, methodische Umsetzung«

sellschaftlichen Anforderungen an Kindheit auseinandersetzen und gemeinsam überlegen, wie in diesen Zeiten zukunftsorientierte, neue Pädagogik aussehen könnte. Schließlich haben Kinder von heute eine Lebenserwartung bis in das Jahr 2100 hinein. Was wird ein Mensch im Jahr 2100 brauchen? Stifthaltung? Schereschneiden? Wird ein gutes Zeugnis ihm das Überleben sichern? Oder aber eher vielleicht ein optimistischer Unternehmergeist, der es Menschen ermöglicht, für sich selbst einzustehen, wenn niemand mehr zur Unterstützung da ist; seine eigenen Interessen mit Leidenschaft zu verfolgen, auch gegen traditionelle Widerstände, und dabei Wege zu gehen, die so ganz anders sind als all die Wege, die die Erwachsenengeneration von heute als bewährt und richtig bezeichnet? Die Diskussion darüber fällt vielen pädagogischen Fachkräften sehr, sehr schwer. Im Zweifelsfall dann doch das, »was früher doch auch nicht geschadet hat«? Hat uns die Pädagogik von einst denn wirklich genutzt? Welche Alternativen könnte es für die Kinder von heute geben? Ein Blick zurück mag helfen: Jeder macht, was er will? Für die meisten von uns war diese Anarchie für viele Stunden am Tag der Normalfall. Nach den geregelten, vorbestimmten Stunden in Kita und Schule sind wir nach Hause gekommen und hatten frei. Wir haben nur und ausschließlich das gemacht, was wir wollten. Wir haben die schlimmsten Sachen gemacht. Wir haben mit »Starkstrom« experimentiert und in Abrisshäusern geforscht, sind auf Bäume geklettert und im Verkehr herumgeturnt. Kein Erwachsener hat Angebote unterbreitet oder Impulse gesetzt, hat Aufsichtspflicht wahrgenommen oder uns auf irgendwelche Regeln verwiesen. Regeln haben wir uns selbst gegeben, wer mitspielen wollte, musste sich an unsere Regeln halten. Konflikte wurden verbal und körperlich ausgetragen, es gab Streit und Versöhnung, Verletzungen und weiter ging’s. Antiautoritäres Aufwachsen pur, und trotzdem sind wir nicht zu selbstherrlichen Egoisten geworden. Diese Zeiten der selbstbestimmten Kindheit sind vorbei. Selbst meine Mutter sagt heute, wenn sie drüber nachgedacht hätte, was uns hätte passieren können, dann hätte sie uns nicht so frei und unbeaufsichtigt spielen lassen können. Eltern können nicht mehr zurück, die Angst sitzt in ihnen und damit auch der Wille zur Überwachung. Die einzige Chance, die die Kinder noch haben, sind die Kitas und Horte. Eigentlich wünsche ich mir von Ihnen nichts

Von der Fremd- zur Selbstbildung der Kinder71

anderes als: »Geben Sie den Kindern bei Ihnen in Kita und Hort die Freiheit, die wir selbst am Nachmittag hatten! Diese Freiheit hat uns stark gemacht und uns besser auf das Leben vorbereitet als es die trainingsorientierte Pädagogik je könnte.«

4.5 Von der Fremd- zur Selbstbildung der Kinder Zugegeben, in völlig reiner Ausprägung sind die drei Hauptsichtweisen auf die Motoren kindlicher Entwicklung (Gene, die Erziehung durch die Umwelt und die Selbststeuerung anhand eigener Ziele und Wünsche) eher selten gewesen. Zu allen Zeiten der Kindheitspädagogik haben sich die drei Sichtweisen miteinander gemischt. Zu allen Zeiten hat es auch progressive Bestrebungen einer integrativen Sicht auf das Kind als aktiven Gestalter seiner eigenen Entwicklung gegeben. Die Aufführung der drei Extrempositionen ist auch nicht als historische Abfolge zu verstehen. Sie soll eher den Blick auf die eigene Haltung der pädagogischen Fachkraft im Hinblick auf ihre Rolle in der kindlichen Entwicklung lenken, die sich je nach eigener Verortung in einem der drei Entwicklungsmotoren unterschiedlich manifestiert: Alle drei Hauptrichtungen unterscheiden sich insbesondere im Aspekt der Beziehung zwischen Kind und Erwachsenem. Der Blick auf das Kind, seine Möglichkeiten und seinen Bildungsund Entwicklungsprozess wird durch die Brille der eigenen Verankerung in diesen Hauptrichtungen gefiltert. Erfahrungen, die aus den Erziehungsvorstellungen vergangener Jahrzehnte gezogen wurden und neue Erkenntnisse der entwicklungspsychologischen Forschung verdeutlichen, dass es keine Dominanz eines Entwicklungsmotors gibt. Alle drei Motoren bestimmen in einem komplizierten Wechselspiel, wie Menschen zu dem werden, was sie sind. In den Genen angelegte individuelle Leistungsfähigkeiten entfalten sich nur unter bestimmten Umweltanregungen, und wenn das Kind bestimmten Neigungen nicht selbststeuernd nachgehen will, so nutzen die besten Talente und Erziehungsprogramme nichts. Entwicklung wird heute als »Handeln im Kontext« (Silbereisen & Eyferth, 1986) verstanden, als aktiver Prozess des Menschen, der sich mit seiner Umwelt genauso wie mit seinen körperlichen Leistungsvoraussetzungen auseinandersetzt. Dies entspricht dem

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»Grobziel, Feinziel, methodische Umsetzung«

ko-konstruktivistischen Bildungsverständnis der neuen Bildungsprogramme für den Elementarbereich der meisten Bundesländer. Die Bildungsgeschichte der Erzieherinnen und Erzieher und die Art der Ausbildung spielen aber auch unter dem veränderten Bildungsverständnis, wie es in allen Bildungsleitfäden der Bundesländer dargelegt ist, weiterhin eine wichtige Rolle, die nicht außer Acht gelassen werden sollte. Wie können wir von den Erzieherinnen und Erziehern Dinge verlangen oder erwarten, die sie selber in ihrer Lernbiografie nicht erfahren oder während der Ausbildung gelernt haben? Zu DDR-Zeiten gab es konkrete Tagesabläufe, die eingehalten werden mussten, und auch in der Bundesrepublik der Vorwendezeit wurden die Kinder gezielt gefördert, dass sie den Anforderungen der Grundschule oder der Kinderärzte gerecht werden konnten. Es stand das Produkt: braves, fleißiges, schlaues Kind im Vordergrund, was zu der Zeit richtig schien und die gesellschaftlichen Erwartungen erfüllte. Der Prozess, den jedes Kind individuell durchläuft, wurde nicht ausreichend differenziert wahrgenommen. Das Kind sollte am Ende der Kindergartenzeit eine Norm erreichen. Unser Augenmerk richtet sich aber nun mehr auf den Prozess und die individuelle Mannigfaltigkeit der Fähigkeiten, Interessen und Kompetenzen der Kinder. Es ist für die Erzieherinnen und Erzieher keine leichte Aufgabe, ihre bisherige Arbeitsweise zu verändern. Viele pädagogische Fachkräfte üben ihren Beruf schon seit Jahren aus und müssen erst realisieren, dass es nicht darum geht, es früher falsch gemacht zu haben, sondern darum, es jetzt entsprechend der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen anders machen zu können.

4.6 Die neuen Bildungspläne im Praxistest – Konflikte lauern überall Die neuen Bildungsgrundsätze der Bundesländer berücksichtigen die neuen Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und der pädagogischen Forschung. Individuelle Leistungsunterschiede werden von den Programmen aufgegriffen, Anregungen für die Gestaltung der Umwelt der Kinder werden gegeben, Bildungsbereiche formuliert, und es wird auf den Selbstbildungsprozess der Kinder fokussiert, den die Erzieherinnen und Erzieher beobachten und dokumen-

Die neuen Bildungspläne im Praxistest73

tieren sollen. Verschwunden sind mit den Bildungsgrundsätzen die bisher klaren Vorstellungen von der Rolle als pädagogische Fachkraft. Der organisatorische Alltag in zahlreichen Kindertagesstätten und Horten hat sich durch das neue Bildungsverständnis bisher kaum geändert. Er ist nach wie vor durch Vorgaben der Erzieherinnen und Erzieher, feste Strukturen, feste Zeiten für Mahlzeiten, Mittagsruhe und Hofzeit gekennzeichnet. Was bedeuten die neuen Bildungsgrundsätze nun für den Alltag einer Pädagogin oder eines Pädagogen? Wie könnte die neue Rolle der Pädagogik aussehen? Gibt es die Rolle der pädagogischen Fachkraft überhaupt noch? Seitdem die klaren Vorstellungen davon fehlen, wie viel Erziehung nötig und wie viel Selbststeuerung möglich sein sollten, macht sich Ratlosigkeit unter den Fachkräften breit. Die pädagogischen Leitideen haben ihre Prägnanz und Klarheit verloren. Der Versuch, verschiedene Ansätze zu integrieren, birgt die Gefahr von Unsicherheit über das eigene pädagogische Selbstverständnis und Beliebigkeit in der Arbeit. Konflikte lauern dabei an ganz verschiedenen Stellen: ȤȤ Es kollidieren der Wunsch von Erzieherinnen und Erziehern, Kindern etwas beizubringen und der Anspruch, Selbstbildungsprozesse zu begleiten. Wie soll ich dem Kind das Schneiden mit der Schere beibringen, wenn es sich nicht für Schereschneiden interessiert? ȤȤ Es kollidieren Interessen der Eltern an vorzeigbaren Produkten der Kinder und der Anspruch der Bildungsgrundsätze, vom Leistungsdenken wegzukommen. ȤȤ Es besteht ein tiefer Widerspruch zwischen dem, wie Kindertagesstätten und Horte nach den neuen Bildungsgrundsätzen gestaltet werden (offene Arbeit, Angebotsorientierung, Themen der Kinder) und dem, was die Schulen und Eltern an Schulfähigkeit bei den Kindern fordern (Lehrerzentrierung, Konzentration, Fachvorgaben). ȤȤ Es existieren zwischen den Fachkräften selbst innerhalb einer Einrichtung gravierende Unterschiede in der Auffassung davon, was »normale« Entwicklung ist, welche Erziehungsziele existieren und welche Kriterien den Nachweis ermöglichen, dass diese

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»Grobziel, Feinziel, methodische Umsetzung«

Erziehungsziele bei den Kindern erreicht sind. Das Instrument der Beobachtung und Dokumentation wird nicht selten dafür gebraucht, um über eine Hintertür doch den alten Defizitblick auf das Kind zu reaktivieren und spezifische Fördermaßnahmen zu planen. ȤȤ Die Unsicherheit der Erzieherinnen und Erzieher über ihre eigene Rolle und ihr Selbstverständnis führt dazu, dass gegenüber den Eltern, aber auch insbesondere gegenüber der Schule die eigenen Positionen kaum selbstbewusst vertreten werden. Mit anderen Worten: modernste pädagogische und entwicklungspsychologische Erkenntnisse finden durch die neuen Bildungsgrundsätze in den Kindertageseinrichtungen und Horten endlich ihre Verwirklichung, aber gegenüber Eltern und Schulen werden diese verschämt versteckt. Insbesondere die Allmacht der Schule bleibt unangetastet. So wird auch die Chance vertan, die Schulen zu Reformen zu drängen, die neuen lernpsychologischen Erkenntnissen besser entsprechen würden. ȤȤ Konstruktivistische Lernauffassungen stellen eine der letzten Bastionen des Selbstverständnisses von Erzieherinnen und Erziehern in Frage: den Wissensvorsprung vor den Kindern durch die längere Lebenserfahrung und Schulbildung. Der Gedanke, dass das eigene Wissen und die eigenen Fähigkeiten nicht besser, sondern höchstens alltagserprobter sind als das Wissen und die Fähigkeiten der Kinder, stellt eine zusätzliche Bedrohung für die eigene wackelige Rolle dar. ȤȤ Die Erzieherinnen und Erzieher sehen sich nun mit der Umsetzung der Bildungspläne konfrontiert, die in schriftlicher Form vorliegen und nicht nur den Selbstbildungsprozess des Kindes in den Vordergrund stellen. Sie beinhalten verwirrenderweise auch konkret definierte Bildungsbereiche, die alle mit einbezogen werden sollen und dem freien Arbeiten eher im Weg stehen. Diese Konflikte werden von Pädagoginnen und Pädagogen selbst erlebt, und sie werden auch in die Teams der Kindertagesstätten und Horte hineingetragen. Ideen, wie Teams sich mit diesen Fragen konstruktiv auseinandersetzen und für sich tragfähige Lösungen finden können, sind bisher rar. Teamfortbildungen zu Fragen des erzieheri-

Die neuen Bildungspläne im Praxistest75

schen Selbstverständnisses sind noch rarer als Fortbildungsangebote, in denen die Bildungsbereiche der neuen Bildungsgrundsätze durchdekliniert werden. Hier ist ein Umdenken erforderlich. Durch zielgerichtete Unterstützungsangebote und neue Methoden von Selbstreflexion und kollegialer Beratung kann die aktuelle Dynamik durch die Implementierung der neuen Bildungsgrundsätze dafür genutzt werden, tatsächlich zu einem neuen Selbstverständnis in der eigenen Rolle als Erzieherin zu kommen. Es gibt Beispielkindergärten und Horte, die das neue Bildungsverständnis bereits umgesetzt haben und als Vorbild dienen können. Da aber nicht die Veränderung der Einrichtung an sich im Vordergrund steht, sondern jede Erzieherin und jeder Erzieher für sich entscheiden muss, wie sie den neuen Anforderungen gerecht werden kann, scheint die Unterstützung auf individueller Ebene sinnvoller. Es gibt keinen Verhaltenskatalog für die Fachkräfte, jede muss für sich selbst die Rollen finden, definieren und abgrenzen, die in den verschiedenen Situationen benötigt werden. Dieser Prozess erfordert Unterstützung. Spezifische Fortbildungen, die das Grundverständnis der Fachkräfte für ein modernes Bildungsverständnis fördern, die Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen vom kindlichen Selbstbildungsprozess anregen und die eigene pädagogische Arbeit neu positionieren helfen, können eine solche Unterstützung darstellen. Sie gelingen allerdings nur, wenn sie es schaffen, sich mit den traditionellen Erziehungsvorstellungen auseinander zu setzen, wie sie in den gängigen »Ja, abers« so unverrückbar fest vorformuliert erscheinen.

5. »  Sie sind doch gar kein Pädagoge, Herr Mienert!«

Als Fortbildner und insbesondere als Entwicklungspsychologe schaue ich auf den Alltag in Kindertageseinrichtungen und Horten anders als Sie als pädagogische Fachkräfte. Das muss so sein, da ich von einem anderen Bild vom Kind, anderen theoretischen Hintergründen und anderen Arbeitsmethoden ausgehe. Bewahren Sie diesen Gedanken bitte beim Lesen dieses Buches im Hinterkopf: Es gibt selten ein Richtig oder Falsch in der Erziehung und Bildung der Kinder. Ich schaue von außen, als Fachfremder auf Ihren Alltag und möchte meine Beobachtungen dazu mit Ihnen teilen. Dabei wird mein Beobachtungspunkt immer ein etwas anderer sein als der Ihre. In den folgenden Ausführungen möchte ich gern diesem anderen Blick von pägogischen Fachkräften einerseits und den Psychologinnen und Psychologen andererseits auf die Spur kommen. Mir fällt auf, dass ich in vielen Situationen des Kita- oder Hortalltags entspannter und gelassener bleiben kann als die Erzieherinnen und Erzieher. Woher die Gelassenheit bei mir kommt? Ich glaube, sie hat mit meiner etwas anderen Perspektive auf den Alltag mit Kindern zu tun. Ich sehe mich viel weniger unter Druck als es die pädagogischen Fachkräfte sind. Ich selbst bin mir meiner beruflichen Rolle, ihrer Möglichkeiten und ihrer Grenzen in der Arbeit mit Menschen bewusst. Meist (leider nicht immer, das will ich gern zugeben) gelingt es mir, zwischen meiner Rolle und meiner Person zu trennen. Dies führt auch dazu, dass ich etwas weniger dünnhäutig bin als viele der pädagogischen Fachkräfte. Pädagoginnen und Pädagogen erscheinen mir häufig sehr empfindlich. Sie haben oft den Eindruck, die Kinder, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen würden bestimmte Dinge mit der Absicht tun, sie persönlich anzugreifen. Mir fällt es leichter, für mich ein »Sie tun es nicht, um mich zu ärgern« zu bewahren. Ich verfolge in meiner Arbeit allerdings auch keine klar vorformulierten Ziele. Für mich gilt kein Lehrplan,

»Sie sind doch gar kein Pädagoge, Herr Mienert!«77

keine Konzeption, kein Rahmenplan kindlicher Bildung. Ich muss bei meinem Gegenüber nichts erreichen, im Gegensatz zu den Pädagoginnen und Pädagogen, deren Erfolg am Erreichen eines pädagogischen Sollzustands bemessen wird. »Immer ruhig und gediegen, was nicht fertig wird, bleibt liegen«, so kann ich meine Fortbildungsarbeit und meine Psychologentätigkeit beschreiben. Pädagoginnen und Pädagogen gelingt die Einhaltung dieses Lebensmottos erfahrungsgemäß kaum. Pädagogische Fachkräfte taumeln in ihrer tagtäglichen Arbeit auch immer wieder zwischen den Ansprüchen des einzelnen Kindes und dem Wohl der Gesamtgruppe. Ich als Psychologe sehe weniger die Gruppe, eher das einzelne Kind. Ich möchte auch nicht immer von den Erwachsenen, den Eltern, den Kolleginnen und Kollegen, den Vorgesetzten gemocht werden, auch da unterscheide ich mich von Erzieherinnen und Erziehern. Ich weiß, dass mir insbesondere das Wohl der Kinder am Herzen liegt und dass ich meine Arbeit darauf ausrichten muss, dass Kinder langfristig gute Entwicklungsbedingungen zur Verfügung gestellt bekommen. Dafür bin ich bereit, mich mit den anderen beteiligten Erwachsenen auseinanderzusetzen, und ich halte es dann auch aus, wenn ich mal von Teilnehmenden nicht gemocht oder sogar lautstark kritisiert werde. In diesem Sinne habe ich auch dieses Buch verfasst, nicht als Kritik an den pädagogischen Fachkräften, sondern als Angebot zur fachlichen Auseinandersetzung, ohne sich persönlich anzugreifen (ebenfalls etwas, das vielen pädagogischen Fachkräften erfahrungsgemäß sehr schwer fällt). Ich will im Zusammensein auch nicht gern der Bestimmer sein oder gar sein müssen. Auch dies entspannt meinen Umgang mit Kindern. Viele Fachkräfte in Kita und Hort sehen sich in Auseinandersetzungen mit Kindern gefangen, wo sie den Kindern beibringen wollen, was richtig und was falsch ist und wie sich die Kinder zu verhalten haben. Dieses Bestimmer-Sein setzt die Fachkräfte selbst unter Druck und belastet immer auch die Beziehung zu den Kindern, die ihrerseits den Druck mit Gegendruck erwidern. Es beginnt in der pädagogischen Arbeit dann ein Kampf um Sieg oder Niederlage zwischen den Kleinen und den Großen, der beide Seiten belastet, zumeist aber nur Verlierer, keine Sieger hat. Diesen Machtkampf erspare ich mir. Ich will keine Kinder von der Richtigkeit meiner

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»Sie sind doch gar kein Pädagoge, Herr Mienert!«

Ansichten überzeugen, und bei den Erwachsenen habe ich das häufig auch schon aufgegeben. Obwohl … vielleicht ist dieses Buch ja ein erneuter Versuch eines solchen Machtkampfes? Darüber muss ich doch noch einmal in Ruhe nachdenken. Letztlich und schließlich ein ganz entscheidender Unterschied zwischen den pädagogischen Fachkräften und mir als Psychologen und Fortbildner: Meine Arbeit richtet sich ausschließlich an Erwachsene. Sie sind meine Zielgruppe. Mit den Kindern verbringe ich Zeit während meiner Arbeit, aber mit ihnen oder gar an ihnen arbeite ich nicht. Ich arbeite ausschließlich mit den Erwachsenen, die dann wiederum ihrerseits mit den Kindern arbeiten. Von daher habe ich es in meiner Arbeit immer gleichzeitig auch mit Freiwilligen zu tun, denn Erwachsene sind immer Freiwillige. Das wirkt sich auf die Motivation meiner Teilnehmenden aus. Meine Teilnehmerinnen und Teilnehmer müssen nicht kommen, und sie können auch gehen. Das können die Kinder – als die Zielgruppe der pädagogischen Fachkräfte – nicht. Für mich ist die Freiwilligkeit meiner Zielgruppe ein großer Vorteil und ein großer Luxus. Den haben die Pädagoginnen und Pädagogen nicht. »Herr Mienert, denken Sie echt, wir Pädagoginnen und Pädagogen wären alle gleich und alle noch auf Stand 1950? Und denken Sie denn wirklich, alle Psychologinnen und Psychologen wären da besser? Wir kennen genug Psychologinnen und Psychologen, die noch verkniffener und verbohrter sind als die Härtesten unserer Erzieherinnen. Die denken, sie könnten die Kinder und uns analysieren und wüssten alles besser. Die uns ihre Theorien erzählen und uns weismachen wollen, ihre Psychologie wäre die Antwort auf alles.« Selbst meine Lektorinnen melden sich an dieser Stelle mit einem »Ja, aber« zu Wort: »Man sollte vielleicht aufpassen, dass man der Berufsehre der Pädagogischen Fachkräfte nicht zu nahe tritt, indem man anklingen lässt, dass die Psychologenschaft letztlich besser Bescheid wisse. Es wäre möglicherweise besser zu fokussieren, dass einige Erzieherinnen und Erzieher so sind, wie sie sind – aber auch nicht jeder Psychologe so einfühlsam ist wie Sie. Sonst baut man falsche Fronten auf. Da werden Sie Ihre Klientel besser kennen als wir und wissen, was Sie ihr zumuten können. Wir möchten nur den Hinweis nicht unterdrücken.«

Erwartungen und Rollenanforderungen79

Ja, da gebe ich Ihnen Recht, obgleich das »einfühlsam« natürlich meiner Eitelkeit schmeichelt. Solche Psychologinnen und Psychologen kenne ich in meiner Kollegenschaft sehr wohl. Die Pädagogen sind nicht alle gleich, und die Psychologen auch nicht. Die berufliche Perspektive mag in den Professionen Psychologie und Pädagogik unterschiedlich sein. Letztendlich liegt es in beiden Professionen an jedem und jeder Einzelnen, die eigene Profession mit Leben, Selbstkritik und Warmherzigkeit zu füllen.

5.1 Pädagoginnen und Pädagogen stehen unter dem Druck vieler Erwartungen und Rollenanforderungen

H

annes macht nie Hausaufgaben – »Was sollen denn die Lehrerinnen und Lehrer und seine Eltern von mir denken, wenn ich den einfach nur spielen lasse?«

Hausaufgaben sind ein Reizwort für mich. Die heißen Hausaufgaben, da sie für eine Zeit entwickelt wurden, in der die Kinder zuhause sind. Heute verbringen viele Kinder auch den Nachmittag in der pädagogischen Einrichtung, im Hort oder in der Ganztagsbetreuung. Wo Hausaufgaben da ihren Platz finden sollen, erschließt sich mir kaum. Der einzige Grund für sie scheint mir die Tradition von Lehrkräften zu sein, die das auch immer schon so gemacht haben und ungern auf das Machtmittel Hausaufgaben verzichten wollen. Aus meiner Sicht gehören Hausaufgaben in der Ganztagsbetreuung ganz klar abgeschafft. Dass die Kinder am Nachmittag im Hort andere Sachen lernen, die mit dem schulischen Lernen direkt kaum etwas zu tun haben, soziale Kompetenzen entwickeln, ihr Freundesnetzwerk pflegen, sich entspannen und dabei Eigenverantwortung übernehmen, wird anscheinend als Lernen zweiten Ranges betrachtet. Klar, die Eltern fürchten, die Hausaufgaben dann noch nach vier Uhr zuhause überwachen zu müssen. Diesen Druck geben sie an die Fachkräfte im Hort weiter. Konfliktpartner wären die Lehrerinnen und Lehrer. Grundschulverordnungen verpflichten nicht zu Hausaufgaben. Im Zug der Ganztagsbetreuung müssten die pädagogischen Karten völlig neu gemischt werden, auf Augenhöhe zwischen Erzie-

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»Sie sind doch gar kein Pädagoge, Herr Mienert!«

herin und Lehrkraft. Da dies kaum passiert, wird der Druck über die Eltern an die Kindern weitergegeben. Wo sich die Erwachsenen nicht richtig auseinandersetzen, leiden die Kinder. Zwischen allen Stühlen zu sitzen, an diese Rolle haben sich pädagogische Fachkräfte in den letzten Jahren gewöhnen müssen. Die Erwartungen an die Kindheitspädagogik sind in den letzten Jahren enorm gestiegen, nicht gestiegen aber scheinen gesellschaftliche Anerkennung der qualifizierten Fachkraft, Gehalt oder gar berufliche Aufstiegschancen. Viele Fachkräfte beschreiben einen Rollenkonflikt, der sich aus den zahlreichen, unterschiedlichen Erwartungen erklären lässt. Als Rolle bezeichnen wir dabei die Gesamtheit aller Erwartungen, die an jemanden in einer bestimmten (beruflichen oder privaten) Position gerichtet sind. In bestimmten Rollen befinden sich also auch Richter, Verkehrspolizisten, Kfz-Mechaniker und Bäckereifachverkäufer. Der besondere Druck von Pädagoginnen und Pädagogen in ihrer Rolle entsteht dadurch, dass die Erwartungen an sie – anders als bei den oben genannten Rollen – ganz und gar unterschiedlich sind, je nachdem, wen genau man fragt. Eltern stellen sich die Rolle der pädagogischen Fachkraft anders vor als Trägervertreter; Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben wiederum ganz andere Erwartungen an sich selbst als »gute« pädagogische Fachkräfte, Kinder würden das möglicherweise wieder ganz anders einschätzen, und »gesellschaftliche« Erwartungen, also die Einschätzungen von Nicht-Pädagogen sind nicht nur sehr diffus, sondern auch historischem Wandel unterworfen. Viele Pädagoginnen und Pädagogen sitzen demzufolge sprichwörtlich zwischen allen Stühlen, wenn sie sich damit auseinandersetzen, mit welchen Erwartungen sie konfrontiert sind. Oft diskutiere ich dabei mit den Fachkräften darüber, ob die unterschiedlichen Erwartungen an die »gute Pädagogin« oder den »guten Pädagogen« denn tatsächlich überhaupt so existieren, oder ob es nicht eher so ist, dass die Fachkräfte selbst die stärksten und druckerzeugendsten Erwartungen in den eigenen Köpfen tragen. »Ich muss allen gerecht werden«, »Ich muss alle Situationen mit Kindern immer im Griff haben«, »Ich muss unbegrenzt belastbar sein«, »Alle müssen immer mit mir zufrieden sein« – solche »Ja, abers« in den Köpfen der Fachkräfte machen es schwer, entspannt und mit etwas Abstand die Erfordernisse im Alltag zu betrachten.

Erwartungen und Rollenanforderungen81

ȤȤ Gehen Sie gemeinsam mit Ihren Kolleginnen und Kollegen den Rollenerwartungen an pädagogische Fachkräfte nach und erfragen Sie direkt bei den unterschiedlichen Gruppen, welche Erwartungen sie an die Arbeit einer »guten Pädagogin« oder eines »guten Pädagogen« haben. Teilen Sie sich im Team auf und vereinbaren Sie Termine, um mit den einzelnen Gruppen über die Rollenerwartungen ins Gespräch zu kommen: Was erwartet Ihr Träger von Ihnen? Wie stellt er sich die Arbeit einer »guten Pädagogin« oder eines »guten Pädagogen« vor? ȤȤ Was erwartet Ihre Chefin oder Ihr Chef von Ihnen? Wenn Sie selbst Vorgesetzte oder Vorgesetzter sind – was erwarten Sie von Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern? und: Was erwarten die von Ihnen? ȤȤ Welche Vorstellungen haben Eltern, wie die pädagogische Fachkraft zu sein hat und was ihre Arbeit ausmacht? ȤȤ Welche Vorstellungen hat die Gemeinde? ȤȤ Welche Vorstellungen haben die Lehrerinnen und Lehrer, mit denen Sie kooperieren? ȤȤ Was vermuten Sie, welche »gesellschaftlichen Erwartungen« existieren? Wie stellt sich unsere Gesellschaft eine »gute Pädagogin« oder einen »guten Pädagogen« vor? ȤȤ Was wollen die Kinder? ȤȤ Was wollen Sie davon erfüllen? Erst bei der letzten Frage kommen Sie direkt selbst ins Spiel. Lassen Sie sich also zunächst die unterschiedlichen Erwartungen nennen und machen Sie sich dabei zahlreiche Notizen. Drängen Sie immer auf Konkretisierung, da die Gefahr besteht, dass Ihnen nur Allgemeinplätze genannt werden (teamfähig, belastbar, kommunikations­ fähig oder Ähnliches). Überlegen Sie sich Beispielsituationen aus dem Alltag, in dem Pädagoginnen und Pädagogen viele Anforderungen auf einmal bewältigen müssen (z. B. beim Streit von Kindern, wenn das Freispiel der Kinder mit dem geplanten Mittagessen kollidiert oder wenn Kinder unterschiedliche Themenwünsche haben). Benutzen Sie solche Beispielsituationen, um Ihre Gesprächspartnerinnen und -partner aufzufordern, ihre Rollenerwartungen mit Prioritäten zu versehen und zu konkretisieren. Bleiben Sie dabei

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»Sie sind doch gar kein Pädagoge, Herr Mienert!«

im Gespräch sachlich und distanziert, bewerten Sie die Äußerungen nicht und sprechen Sie immer von den allgemeinen Erwartungen an die Arbeit einer guten Erzieherin oder eines guten Erziehers. Sagen Sie nicht: »Was erwarten Sie von mir?« Erst wenn Sie im Team gemeinsam die unterschiedlichen Erwartungen zusammengetragen haben, können Sie diese sichten und für sich als Team entscheiden: ȤȤ Welche dieser Erwartungen entsprechen den Anforderungen an moderne Pädagogik nach den Bildungsplänen und Ihrer Konzeption? ȤȤ Welche sind an neugierigen, kreativen und selbstbewussten Kindern orientiert und welche eher daran, dass die Kinder brav und praktisch sind? ȤȤ Bei welchen dieser Erwartungen steht das Wohl der Kinder im Vordergrund und bei welchen dieser Erwartungen eher das Wohl von Erwachsenen (z. B. Eltern)? ȤȤ Welche dieser Erwartungen sind Sie tatsächlich bereit zu erfüllen, und welche dieser Erwartungen wollen Sie zukünftig auch aktiv zurückweisen? Zum Sortieren der Erwartungen mag Ihnen folgendes RollenSchema helfen. Einige dieser Rollen von Pädagoginnen und Pädagogen werden sehr wahrscheinlich in der Erwartungsliste auftauchen: 5.1.1 Bindungs- und Vertrauensperson Diese Rollen halte ich als Entwicklungspsychologe für eine grundsätzliche Anforderung an jede pädagogische Fachkraft. Sie gehören für mich zum Pflichtprogramm und müssen bearbeitet werden, bevor alle anderen Rollen greifen. Bindung kommt für mich vor Bildung. Die Fachkraft muss sicherstellen, dass sich bei ihr jedes Kind wohl, geschützt und sicher fühlt. Dazu gehört die Eingewöhnung aller Kinder (ohne Ausnahme und für alle Kinder gleichermaßen) nach einem festen Eingewöhnungsprogramm (»Herr Mienert, wir wollen ja alle Kinder eingewöhnen, aber manchmal kann die Mutti nicht, da sie schon am nächsten Tag ihre neue Arbeit antreten muss«, »Manche Kinder brauchen gar keine Eingewöhnung. Die freuen sich sogar, wenn Mama und Papa endlich gehen!«), regelmäßige individuelle Gespräche mit allen Kindern, spezielle Zeiten, die Sie als Fach-

Erwartungen und Rollenanforderungen83

kraft mit nur einem Kind verbringen. Besondere Aufmerksamkeit brauchen dabei die ruhigen und braven Kinder, die im Alltag schnell untergehen, da es ihnen kaum gelingt, die Aufmerksamkeit der Fachkraft so unmittelbar zu gewinnen wie die lauten und frechen Kinder. 5.1.2 Fachkraft für kindliches Lernen Gerade in Auseinandersetzung mit der Schule erscheint die Kindheitspädagogik manchmal als Pädagogik der zweiten Wahl. Dem großen Selbstbewusstsein von Lehrkräften halten Erzieherinnen und Erziehern manchmal nicht stand. Früh- und Hortpädagogik sind eigenständige pädagogische Richtungen, die sich den Lehrkräften auf Augenhöhe präsentieren müssen. Dafür brauchen die Fachkräfte fundiertes Wissen über moderne Pädagogik, neueste Forschungsergebnisse, entwicklungspsychologisches Wissen, neue Studienergebnisse, Fort- und Weiterbildungen. 5.1.3 Netzwerker Kinder gestalten ihre Entwicklung selbst. Sie setzen sich eigene Lernziele und verfolgen diese an den eigenen Themen. Die klassische Pädagogik hat am Kind gearbeitet. Dies halte ich für überholt. Moderne Pädagogik spielt sich um das Kind herum ab. Dem Kind ist ein lerngeeigneter Lebensraum zur Verfügung zu stellen. Pflichtprogramm sind für mich also gute Raumgestaltung, Stellen von Material, sachlicher Austausch über Pädagogik im Team (ohne sich persönlich anzugreifen – eine Herausforderung, die vielen Teams immer noch sehr schwer fällt), erziehungspartnerschaftliche Zusammenarbeit mit Elternhaus und Schule, Pflege der Kontakte zu Jugendamt und zur Polizei (beim Verdacht auf Kindeswohlgefährdung) und Wissen über die eigenen Handlungsmöglichkeiten und -grenzen bzw. wenn notwendig der Annahme externer Hilfe von Therapeutinnen und Therapeuten, Fachberatung oder Erziehungs- und Familienberatung. Dies berührt gleich auch die nächste Erwartungsgruppe. 5.1.4 Erwachsenenbildner und Erziehungspartner Alle Pädagoginnen und Pädagogen sind in den Beruf gegangen, weil sie gern mit Kindern arbeiten wollten. Das stellte die wichtigste Motivation dar und war auch zentraler Ausbildungsinhalt. Wovor

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»Sie sind doch gar kein Pädagoge, Herr Mienert!«

Sie keiner gewarnt hat, war, dass Sie die Hälfte Ihrer Arbeitszeit eben nicht mit Kindern verbringen, sondern mit Erwachsenen, im Team, mit externen Vertretern und auch immer wieder mit Eltern. Die wenigsten haben in ihrer Ausbildung profunde Kenntnisse in der Erwachsenenbildung und Erziehungspartnerschaft erworben. Ich erlebe gerade hier einen großen Nachholbedarf für die Fort- und Weiterbildungen. Wie setze ich mich mit Erwachsenen auseinander? Wie führe ich gute Entwicklungsgespräche, Konfliktgespräche, Informationsgespräche? Wie gelingt es mir, neue Fachkräfte gut einzuarbeiten? Wie kann ich mich auf Augenhöhe mit Externen (z. B. der Schule, Kinderärztinnen und -ärzten, Trägervertreterinnen und -vertretern) auseinandersetzen, zum Wohl der Kinder? Die Erziehung von selbstbewussten Kindern braucht selbstbewusste Fachkräfte, die ihre Rolle in der Erwachsenenpädagogik bewusst einnehmen und die Erziehungspartnerschaft zum Kindeswohl mit Eltern und Schule aktiv gestalten. 5.1.5 Beobachter und Dokumentatoren Gerade diese Rolle erscheint vielen Fachkräften als ungewohnt und trotzdem ja irgendwie auch vertraut. »Wir haben die Kinder doch immer schon beobachtet«, so lautet eines der »Ja, abers«, die ich bei Fortbildungen zum Thema Beobachtung und Dokumentation immer wieder höre. Gute Beobachtung und Dokumentation ist aus meiner Sicht jedoch sachlich und neutral, interpretationsfrei und frei von eigenen Werten und Zielen. Solch eine sachliche Beobachtung und Dokumentation, bei der die eigenen Fantasien erstmal ausgeschaltet bleiben, ist in der Praxis jedoch nach wie vor selten anzutreffen. Kinder erscheinen mir häufig in Kategorien eingeteilt, es wird mir eher berichtet, »wie die Kinder sind«, anstatt korrekterweise »was die Kinder wirklich tun«. Für mich stellt die sachliche Beobachtung und Dokumentation von Kindern und das immer dazugehörende Gespräch mit allen Kindern eine Grundvoraussetzung guter pädagogischer Arbeit dar. 5.1.6 Basteltante Immer tolle Bastelideen von den Pädagoginnen? Tolle Dekorationen für das Haus? Die immer gleichen Zitronenschweine, Kastanienzoos,

Erwartungen und Rollenanforderungen85

Schneeglöckchenbilder? Verstehen Sie mich nicht falsch, von mir aus kann in den Kitas und Horten gern gebastelt und gemalt werden. Als pädagogische Königsdisziplin kann ich das Basteln jedoch nicht sehen. Alles was beim Basteln gefördert wird, kann auch durch andere selbstbestimmte Tätigkeiten der Kinder erreicht werden. Grob- und Feinmotorik entstehen beim Stecken von Star Wars-Figuren genauso wie beim Herbstgesteck. Nichtsdestoweniger werden viele Erzieherinnen und Erzieher nach wie vor an der Zahl und der Qualität der kindlichen Bildungsprodukte gemessen, die erwartungsgemäß in den Fluren der Einrichtungen aushängen oder ausgestellt sind. Immer gleiche Produkte für eine selbstbestimmte kreative Zukunft der Kinder? Für mich passt das überhaupt nicht zusammen. Solche Rollenerwartungen sollten Sie – aus meiner Sicht – frühzeitig zurückweisen. 5.1.7 Feldwebel Kinder gut im Griff haben, auch in großen und lauten Gruppen, auch solche Erwartungen werden an pädagogische Fachkräfte herangetragen. Ich sehe diese Erwartungen mit sehr gemischten Gefühlen. Ja, Gruppen müssen geführt werden, und zum Zusammenleben von Menschen gehört auch Disziplin. Pädagoginnen und Pädagogen, die sich als Dompteure von Kindern missverstehen, zeigen für mich ein Bild vom Kind, das in vergangene Jahrhunderte gehört. Keine Fachkraft muss immer die Oberhand über die Kinder behalten. Kinder müssen Auseinandersetzungen lernen, Streits selbst schlichten können, sich auch selbst mit anderen schwierigen Kindern beharken und wieder vertragen. Sich in konfliktreichen Situationen etwas zurückzunehmen und zunächst abzuwarten, wie die Kinder das lösen, gehört für mich zu pädagogischen Grundqualitäten. Erzieherinnen und Erzieher, die immer wieder ermahnen und disziplinieren, fördern aus meiner Sicht die Abhängigkeit von Kindern von erwachsener Konflikthilfe, sie belasten permanent Bindung und Beziehung zu den Kindern und werden als Vorbilder nicht anerkannt. Regeln gilt es tatsächlich gemeinsam mit den Kindern zu finden, nicht den Kindern aufzuerlegen. Grenzen müssen dabei erkennbar und sichtbar gemacht werden, dürfen aber trotzdem immer wieder neu diskutiert und infrage gestellt werden. So vollzieht sich eine Entwicklung hin zur Partizipation, Mit- und Selbstbestimmung der Kinder.

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»Sie sind doch gar kein Pädagoge, Herr Mienert!«

5.1.8 Animateure und Anbieter von Spielideen Der Stress zwischen den Einrichtungen und innerhalb der Einrichtungen nimmt zu. Früher nannte er sich »Beschäftigung«, heute nennt es sich »Angebote« oder »Inputs«. Kitas und Horte stehen um die Zahl der Angebote in Konkurrenz zueinander. Sie spezialisieren sich als Musikkitas, Haus der Kleinen Forscher oder Kneipp-Einrichtungen. Es werden Bastel-, Mal- und Sportangebote gemacht, Sprachförderprogramme durchgeführt, Spiele angeleitet, Langeweile darf scheinbar nie aufkommen. Eltern suchen sich Einrichtungen, in denen die Flut an Angeboten scheinbar nie abreißt und in denen die ganze Woche vorgeplant ist. Offene Häuser, die auf vorbereitete und geplante Angebote weitestgehend verzichten, werden mit Misstrauen betrachtet. Diese Entwicklung halte ich für ausgesprochen gefährlich, und so rate ich auch allen pädagogischen Fachkräften, die Erwartung von Kinderanimation und Angeboten zurückzuweisen. Kinder brauchen selbstbestimmte Zeit, früher wie heute. Während ich als Kind nach der Kita oder Schule noch ohne erwachsene Aufsicht mit Gleichaltrigen draußen spielen konnte, bis meine Mutter ein Geschirrhandtuch ins Küchenfenster hängte (das Signal zum Abendbrot), wird die selbstbestimmte Zeit der Kinder heute fast auf null gefahren. In Ganztagsangeboten sind die Kinder unter permanenter Aufsicht. Wenn sie nach Hause kommen, warten der Sportverein, die Nachhilfe, die Musikschule etc. als weitere vorgestaltete Angebote auf die Kinder. Sollte es dennoch mal Leerlauf geben, so stehen Fernseher und Computer unmittelbar zur Beschäftigung bereit. Wie wollen wir selbstständige, neugierige und kreative Kinder erzeugen, die nie die echte Chance auf Selbstständigkeit, Neugierde und Kreativität hatten? Aus meiner Sicht müsste es in den Einrichtungen nicht ein einziges vorbereitetes pädagogisches Angebot geben. Selbst die Masse an Spielmaterialien würde ich drastisch einschränken. Freispiel ist das Lernen der Kinder, und dem muss der größte Teil der pädagogischen Zeit gewidmet werden. Die Bildungspläne der Bundesländer haben Sie dafür auf Ihrer Seite. Schauen Sie bitte genau in den jeweiligen Bildungsplan. Steht dort wirklich drin, dass den Kindern vorbereitete Angebote zu unterbreiten sind? Zumeist werden Sie genau gegenteilige Formulierungen finden:

Erwartungen und Rollenanforderungen87

»Chancengerechtigkeit für alle Kinder zu gewährleisten, kann heute nicht mehr bedeuten, von einer Gleichheit der Kinder auszugehen und sie mit homogenen Angeboten zu konfrontieren […]« »Durch Erwachsene inszenierte Beschäftigungseinheiten und Spielangebote verfehlen ihr Ziel, wenn Spiel und Lernen als unabhängig voneinander in unterschiedlichen Situationen gedacht werden, denn im Spiel erschließen sich Kinder die sie umgebende Welt und lernen dabei …« »Lernen und Bildung im Sinne des Bildungsplans gehen in weiten Teilen mit den Formulierungen im Sächsischen Schulgesetz (§ 5) und den Lehrplänen für die Grundschule konform: Einbeziehung von Elementen spielerischen Lernens, Gestaltungsprinzip ›entdeckendes und ganzheitliches Lernen‹, Förderung der Wahrnehmungsfähigkeit, keine Einengung der Spielfantasien durch schulische Leistungsorientierung, vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten, fächerübergreifender Unterricht und Projektarbeit.« (Zitate aus dem Sächsischen Bildungsplan, Sächsisches Staatsministerium für Kultus, 2011, S. 25)

5.1.9 Pflegerin Natürlich müssen in modernen Kindertageseinrichtungen weiterhin Nasen geputzt und Popos gewischt, Windeln gewechselt und Teller gefüllt werden. Die Reduktion der pädagogischen Rolle auf die der Kinderpflege lässt jedoch schnell die Bildungs- und Erziehungsanforderungen in den Hintergrund treten. Dies wird besonders in manchen Krippen deutlich, in denen scheinbar im Akkord gewindelt, gefüttert und desinfiziert wird wobei die persönliche Beziehung zu den Kindern in das Hintertreffen gerät. »Mit den Krippenkindern kann man doch nicht reden«, »Die verstehen mich doch eh noch nicht«, solche »Ja, abers« halten sich in vielen Einrichtungen hartnäckig. Immer wieder höre ich »Partizipation und Mitbestimmung – gut und schön – aber doch nicht bei den Krippenkindern«, »Selbstbestimmte Mahlzeiten gut und schön – aber doch nicht bei den Krippenkindern«, »Selbstbestimmter Mittagsschlaf, vielleicht in Kita und Hort – aber doch nicht bei den Krippenkindern«. Ich frage mich dann immer, wann wir denn dann mit der Einbeziehung der Kinder anfangen sollten? Wenn Sie von selbst ihre Wünsche anmelden? Wie soll das gehen, wenn wir sie da nie herangeführt haben? Für mich gelten die Prinzipien von Gesprächsführung, Beobachtung,

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»Sie sind doch gar kein Pädagoge, Herr Mienert!«

Dokumentation, Arbeit an den Themen der Kinder, Einbeziehung der Kinder in alle Alltagsentscheidungen für alle Altersgruppen gleichermaßen. Als Entwicklungspsychologe gehe ich davon aus, dass das kindliche Sprachverständnis lange vor der Sprachproduktion entsteht. Kinder verstehen die Fachkraft also lange, bevor sie ihr dezidiert antworten können. Auch wenn der pflegerische Anteil in der Krippe groß erscheinen mag, er ist für mich in erster Linie pädagogische Arbeit der Beziehungsgestaltung beim Wickeln der Kinder, Erkennen und Anerkennen der kindlichen Wünsche und Bedürfnisse beim Essen, Hinführung zur Selbststeuerung beim Mittagsschlaf und Förderung kindlicher Autonomie und Selbstbehauptung bei Wut- und Trotzreaktionen der Kinder. Pflege als alleinige pädagogische Rollenerwartung, das würde ich zurückweisen. Pflege als pädagogisches Mittel zur Beziehungsgestaltung und für die kindlichen Selbstbildungsprozesse – dies jederzeit. 5. 1. 10 Wisser-Was-Das-Kind-Denkt-Und-Braucht Immer wieder überrascht es mich, mit welcher großen Selbstverständlichkeit Pädagoginnen und Pädagogen die Erwartung an sich und ihre Kolleginnen und Kollegen richten, jederzeit zu wissen, was die Kinder gerade denken und wollen. Die Fähigkeit zum Gedankenlesen habe ich als Entwicklungspsychologe leider nicht in die berufliche Wiege gelegt bekommen (wo doch gerade den Psychologen der Wille zur ständigen Deutung klischeehaft nachgesagt wird). Immer wieder begegnen mir in den »Ja, abers« Aussagen, die belegen sollen, dass nur die pädagogischen Erwachsenen wissen können, was das Kind gerade denkt und braucht. »Wenn ich mit ihm schimpfe, dann guckt er mich ganz verschlagen an und grinst. Das macht er nur, um mich zu ärgern!« oder »Ganz bewusst beißt das Kind andere Kinder, um Aufmerksamkeit zu bekommen und im Mittelpunkt zu stehen!« Gern werden dabei auch insbesondere die Eltern als Ursache für kindliche Verhaltensweisen ins Visier genommen. »Ein Einzelkind, da ist das nicht überraschend«, »Naja, die Eltern leben auch gerade in Trennung, da ist das Einnässen ganz normal«, »Das Kind schreit immer andere Kinder an, haben die Eltern da denn gar nicht drauf geachtet?«. Gerade im Hinblick auf die kindlichen Bedürfnisse scheinen manche Erzieherinnen und Erzieher geradezu hellseherische

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Fähigkeiten zu haben. »Du hast doch schon ganz kleine Augen, guck mal, wie müde du doch bist!«, »Na, da waren die Augen wohl wieder größer als der Magen, nicht?!« oder das immer beliebte »Wenn du so laut bist, dann stört das die anderen Kinder!« Merken Sie, wo und wie sich in diese »Ja, abers« hier die interpretativen Fantasien der Erzieherinnen und Erzieher verbergen? »Ich weiß, was ihr denkt und braucht« – das führt nicht nur zu einer beängstigenden Situation von Überwachung. Es hält die Fachkräfte auch häufig davon ab, sich individuell wirklich für die Kinder und ihre Gedanken und Bedürfnisse zu interessieren. So lange Pädagoginnen und Pädagogen die Erwartung an ihre Rolle richten, besser als die Kinder selbst zu wissen, was diese denken und brauchen, so lange ist Selbstbestimmung der Kinder (im Sinne eines echten Selbst-Bewusstseins, also eines Sich-Seiner-Eigenen-Wünsche-Und-Bedürfnisse-Selbst-­BewusstSein) noch Zukunftsmusik.

5.2 Verschiedene Rollen – der Versuch einer Integration »Kindeswohl ist in dem Maß gegeben, in dem das Kind einen Lebensraum zur Verfügung gestellt bekommt, in dem es die körperlichen, gefühlsmäßigen, geistigen, personalen, sozialen, praktischen und sonstigen Eigenschaften, Fähigkeiten und Beziehungen entwickeln kann, die es zunehmend stärker befähigen, für das eigene Wohlergehen im Einklang mit den Rechtsnormen und der Realität sorgen zu können.« (Sponsel, 2007, Zugriff am 30. 03. 2016)

J

ulius ganz jähzornig – »Wenn es heiß hergeht, bewahre ich selbst Ruhe.«

Diese Definition des Kindeswohls stammt nicht aus der pädagogischen oder psychologischen Fachliteratur. Diese Definition stammt aus dem Familienrecht. An ihr orientieren sich Juristinnen und Juristen, die sich bei Sorgerechtsstreitigkeiten auf die Suche nach der Bezugsperson für das Kind begeben müssen, bei der das Kind am besten aufgehoben ist. Ich habe diese Definition sehr schätzen gelernt, denn, wenn wir ganz ehrlich sind, ist doch die Auseinandersetzung darüber, was gute Erziehung ausmacht, wie pädagogische Arbeit aussehen kann und welche Rollen Erwachsene in den Bildungsprozessen der Kinder einnehmen sollten, eigentlich nichts

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»Sie sind doch gar kein Pädagoge, Herr Mienert!«

anderes als eine Art fachlicher Sorgerechtsstreit? Aus meiner Sicht enthält diese Definition alle Anforderungen an eine moderne Pädagogik, die sich wirklich am Wohl des einzelnen Kindes orientiert. Sie kann somit als Gradmesser für die eigene pädagogische Arbeit dienen und zur Überprüfung des eigenen Handelns herangezogen werden. Lassen Sie mich diese Definition in ihre einzelnen Bestandteile auflösen und ganz detailliert betrachten: Erstens: Kindeswohl bezieht sich auf den Lebensraum, der den Kindern zur Verfügung gestellt wird. Kindeswohl ist von daher Lebenswohl in der Umgebung, in der die Kinder sich aufhalten. Früher wurde am Kind gearbeitet. Das Kind wurde gefördert, beeinflusst, trainiert, motiviert und manipuliert, bis es dem Kind – aus erwachsener Sicht – gut ging. Kindgerechte Pädagogik heute arbeitet nicht am Kind, sondern arbeitet am Lebensraum, der den Kindern für ihre Entwicklung zur Verfügung gestellt wird. Dafür arbeiten Fachkräfte an der Ausstattung kindgerechter Räume, anregender Umgebungen und Materialien. Sie setzen sich im Lebensraum aber auch mit den anderen Erwachsenen auseinander, diskutieren in den Teams, gehen in Erziehungspartnerschaft mit den Eltern. Gute pädagogische Fachkräfte scheuen auch die Auseinandersetzung mit der Schule nicht. Sie fragen die Schule, ob sie kindgerechten Lebensraum zur Verfügung stellt und nicht, wie man an den Kindern arbeiten kann, bis sie schulfähig sind. Der Lebensraum kann dabei von den Kindern selbst beeinflusst werden, Räume werden nicht für die Kinder gestaltet, sondern mit den Kindern (in Krippe und Kita) und durch die Kinder (im Hort). Der Lebensraum soll so sein, dass er zum Lernen, Entdecken, Ausprobieren einlädt und die Kinder zur Aktivität auffordert. Zweitens: In diesem Lebensraum entwickeln die Kinder sich selbst. Es ist Aufgabe der Kinder, ihre aktuellen Entwicklungsthemen zu erkennen und an ihnen zu arbeiten. Nicht ein Außenstehender, Eltern, Fachkräfte können die Kinder entwickeln. Kinder entwickeln sich, wenn sie die Notwendigkeit dafür sehen. Wo sie sich nicht entwickeln wollen oder können, da wird auch keine Entwicklung von außen bewirkt werden. »Man kann den Hund nicht zum Jagen tragen« – so sieht es auch in der kindlichen Entwicklung aus. Wo keine innere Motivation für eine

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Entwicklung da ist, da hat es Motivation von außen schwer. Wenn sich ein Kind für ein Thema nicht interessiert, dann kann es von außen auch kaum dafür interessiert werden. Die Grenzen der äußeren Steuerung von Entwicklung frühzeitig zu erkennen und anzuerkennen, ist für pädagogische Fachkräfte genauso wie für Eltern ein schmerzvoller Prozess. Entwicklung im Sinne des Kindeswohls beruht auf der Definition von Lernen. Lernen ist dabei ein aktiver Anpassungsprozess an sich ändernde Umgebungen und Anforderungen. Es besteht auf dem Aufbau von Verhaltensmöglichkeiten und dem Problemlösen bei der Auseinandersetzung mit neuartigen Fragen und Herausforderungen. Wo das Kind selbst keine Notwendigkeit für neues Verhalten sieht, wird es schwer davon zu überzeugen sein, dass es sein Verhalten ändern soll. »Ja, aber, Herr Mienert, was mach ich denn mit den aggressiven Kindern, die immer ihren Willen gegenüber Schwächeren mit Gewalt durchsetzen?« Hier wird es kaum möglich sein, dem aggressiven Kind die Gewalt abzutrainieren. Die eigentliche Aufmerksamkeit muss hier dem Kind gelten, das Ziel der Gewalt ist. Mit ihm können Verhaltensmöglichkeiten und alternativen erprobt werden, wie es auf Gewalterfahrungen aktiv und kompetent reagieren kann. Andererseits sind die Kinder ständig damit beschäftigt, die aktuellen Erfordernisse und Erfahrungen in ihrem Leben zu verarbeiten, in ihnen Sinn zu erkennen und Wissen und Verhaltensmöglichkeiten aufzubauen. Nur häufig eben an Themen, die der Erwachsene als solche gar nicht erkennt. Nehmen Sie sich die Zeit, mit den Kindern dies direkt und wertungsfrei zu besprechen: »An welchem Thema arbeitest du gerade?«, »Mit welchen Herausforderungen setzt du dich gerade auseinander?«, »Was möchtest du gern wissen, was du bisher noch nicht weißt?«, »Was möchtest du gern können, was du bisher noch nicht kannst?«, »Was möchtest du gern lernen?« Erscheinen Ihnen diese Fragen zu simpel? Sie wären überrascht. Ich, der ich mein ganzes Leben lang durch erzieherische Hände gegangen bin, erzogen wurde durch Eltern und Verwandte, in allen pädagogischen Einrichtungen gewesen bin, noch heute beeinflusst und gebildet werde – ich bin in meinem ganzen Leben nicht ein einziges Mal von Erziehenden gefragt worden, was ich denn eigentlich selber möchte. Alle wussten scheinbar immer, was ich zu mögen haben solle. Was ich so denke, wie ich wirklich

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»Sie sind doch gar kein Pädagoge, Herr Mienert!«

ticke, was in meinem Kopf so vorgeht und welche Pläne ich für mein Leben habe, das hat scheinbar nie in pädagogischen Erwägungen in Bezug auf mich eine Rolle gespielt. Eine Frau hat sich dafür interessiert, was ich so bin, wie ich so denke, was mir im Leben wichtig ist. Diese Frau – meine Oma – hat immer mit mir auf der berühmten Augenhöhe gesprochen, selbst als ich viel kleiner war als sie. Schon als ich vier war, hat sie sich stundenlang mit mir unterhalten. Kein Thema war tabu, für kein Thema war ich noch zu klein. Krieg, Not, Vertreibung, das Leben und das Sterben, Politik, Gesellschaft und die kleinen teuren Freuden aus dem Feinkostgeschäft. Sie hat aus ihrem Leben erzählt, und ich aus meinem. Ganz nebenbei hab ich von ihr vieles von dem gelernt, was ich in meinem Leben heute tagtäglich brauche. Ich kann kochen, ich kann nähen, ich kann backen, ich kann einkaufen und Geld ausgeben (»Geld fortschaffen«, so hat mein Opa immer geklagt). Ich kann gut reden, erzählen, kann berichten und mir von anderen berichten lassen. Auch das habe ich von ihr gelernt. Noch heute – 20 Jahre nach ihrem Tod – ist sie mein ständiger Begleiter. Pädagogisch ist sie mein Vorbild. Und sie war keine Pädagogin. Sie war Näherin im VEB Elastikmieder. Dort hat sie für die DDR-Frauen und für den Export (das hat sie oft betont!) Büstenhalter genäht.

Drittens: Das Ziel guter Pädagogik im Sinne des Kindeswohls ist das Kind, das all die Eigenschaften, Fähigkeiten und Beziehungen entwickelt, die es für seine eigene Lebensgestaltung und Unabhängigkeit benötigt. Zunehmend stärker soll das Kind für das eigene Wohlergehen sorgen können. Zunehmend stärker für sich selbst sorgen zu können, bedeutet im Umkehrschluss auch, dass es zunehmend unabhängiger von den Erwachsenen werden muss. Gute Pädagogik führt das Kind in die eigene Unabhängigkeit. Von der guten Fachkraft lernt das Kind, auch dann noch für sich selbst zu sorgen, wenn kein anderer Mensch mehr da ist, der dem Kind helfen könnte. Die Kinder in die Unabhängigkeit zu führen, das ist erfahrungsgemäß für Eltern der allerschwierigste Teil der Erziehung. Mütter und Väter können es kaum aushalten, wenn die Kinder sie zunehmend immer weniger brauchen. Sie wollen sich kümmern, wollen für ihr Kind da sein, wollen ihm alle Schwierigkeiten aus den Weg räumen. Deswegen bemuttern sie die Kinder, getrieben von großer Sorge und dem Blick auf die langfristige Entwicklung. Das macht Bindung aus. Erzieherinnen und Erzieher sind da in einer anderen Position. Die gute Fachkraft wird ihre pädagogische Arbeit darauf

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ausrichten, dass sie längerfristig immer weniger gebraucht wird. Sie wird ihren Alltag und ihre Arbeit daraufhin überprüfen, ob sie dazu führen, dass die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit der Kinder längerfristig steigt oder ob ihr Handeln die Kinder eher in Abhängigkeit hält. Dabei behält sie die längerfristige Entwicklung der Kinder im Blick. Handlungen und Methoden, die kurzfristig den Kindern helfen, können ihrer längerfristigen Unabhängigkeitsentwicklung schaden. Ihre Rolle wird dadurch nicht weniger wichtig, sie ändert sich nur. Anstatt Trainer/in der Kinder zu sein, dient die Fachkraft als sichere Basis, die Verlässlichkeit und Vertrauen signalisiert. Das ist die wichtige Funktion der Bindung und der sozialen Beziehung. Sie gibt den Kindern die Möglichkeit zum Erkunden und Neugierigsein, also Lernen (in der Fachsprache wird dafür der Begriff der Exploration verwendet). Explorieren können nur Kinder, die sich in der Sicherheit der Nähe der Bezugsperson befinden. Fühlt sich ein Kind bedroht, unsicher oder ungeschützt, dann kann es nicht explorieren und demzufolge auch nicht lernen. Dazu ein paar Beispiele: Einem Kind wird der Aufenthalt in der Nähe von Straßen und Verkehr verwehrt. Dem Kind wird beigebracht, nur in Begleitung Erwachsener im Straßenverkehr unterwegs zu sein. Es lernt, an roten Ampeln grundsätzlich immer stehen zu bleiben. Wege werden geschützt im Auto zurückgelegt. Kurzfristig führt das zur Gefahrenabwehr und zur Sicherheit des Kindes. Längerfristig lernt das Kind aber nicht, bewusst mit den Gefahren des Straßenverkehrs umzugehen. Es kann keine Erfahrungen mit ihm sammeln. Seine Unerfahrenheit und Blauäugigkeit in solchen Gefahrensituationen sind Folge der Überbehütung. Es bringt sich längerfristig stärker in Gefahr. Regeln wie die rote Ampel lernt es nicht zu verstehen, sondern nur zu befolgen. Es wird den Wunsch haben, dem sichtbaren Vorbild von Erwachsenen zu folgen, die selbst bei Rot häufig nicht stehenbleiben, denn es will ja werden wie die Großen. Die Gefahreneinschätzung im Straßenverkehr wird ihm schwer fallen. Ein Kind bekommt eine Vielzahl von Angeboten für die Gestaltung seines Alltags. Wendet es sich an seine Erzieherin oder seinen Erzieher mit dem Satz »Mir ist langweilig«, so werden ihm sofort Spielvorschläge gemacht. Gegebenenfalls bietet sich auch sofort die Erzieherin als Spielpartnerin an. Eventuell wird ihm auch signalisiert, dass Langeweile nicht okay ist (»Warum ist dir denn langweilig? Kein anderes Kind langweilt sich.«) oder die Frage des Kindes wird ironisiert (»Mir ist auch langweilig« oder »Ach, ich wäre gern Kind. Dann hätte ich Zeit für Langeweile.«). Durch diese Reaktionen

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»Sie sind doch gar kein Pädagoge, Herr Mienert!«

lernt das Kind von den Erwachsenen, das bei Langeweile immer eine Idee parat steht. Kurzfristig kann sich das Kind von diesen Ideen beschäftigen lassen. Es nimmt gern an den Angeboten der Erwachsenen teil. Längerfristig verlernt es, seine freie Zeit selbstständig zu füllen. Es wird auf Anregungen von außen, von Erwachsenen, vom Fernsehen, von Medien angewiesen sein. Ihm wird längerfristig die Möglichkeit genommen, seine eigenen Bedürfnisse einzuschätzen und seine eigenen Interessen zu entwickeln. Jedes Kind soll mittags schlafen. Mittags wird den Kindern gesagt, jetzt ist es Zeit, ihr seid müde, ihr braucht die Erholungsphase. Die Erzieherinnen und Erzieher achten darauf, dass alle Kinder sich gemeinsam hinlegen und ruhen. Kurzfristig wird den Kindern eine Ruhephase verschafft. Auch die Erwachsenen bekommen eine Auszeit vom Trubel des Alltags. Längerfristig lernen die Kinder aber nicht, selbstbewusst ihren eigenen Körper und seine Bedürfnisse einzuschätzen. Sie lernen, dass man müde ist, wenn die Erwachsenen das sagen, dass Mittagsschlaf etwas Fremdbestimmtes ist. Die Signale des eigenen Körpers wahrzunehmen und für seinen eigenen Körper und seine Bedürfnisse selbst Verantwortung zu übernehmen, das erlernen sie nicht. Sie erleben Mittagsschlaf nicht als etwas, das man als kleine Auszeit des Alltags für sich selbst tun kann, sondern als ein Kampfthema, mit dem Erwachsene in die Autonomie der Kinder eingreifen.

Viertens: Dem Kindeswohl in der Pädagogik Rechnung zu tragen, heißt nicht, dass Kinder einfach machen können, was sie wollen. Auch hier ist die Definition des Kindeswohls ganz eindeutig: Das Sorgen für das eigene Wohlergehen muss im Einklang mit den Rechtsnormen und der Realität erfolgen. Rechtsnormen regeln, dass das Streben nach Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung eines Menschen nicht zu Lasten der Rechte anderer Menschen geht. Dazu dienen gute Regeln. Sie werden gemeinsam erarbeitet und somit von den Kindern wie von den Großen auch verstanden. Ihr Ziel ist es, allen viel Freiheit zu geben. Von daher sind gute Regeln in einer Kita oder einem Hort immer positiv formuliert. Sie erlauben, anstatt etwas zu verbieten. Sie haben dabei das Wohl der Gruppe im Blick, ohne die Freiheit des Einzelnen mehr als notwendig einzuschränken. Handlungen des Kindes, durch die die Rechte anderer nicht unmittelbar eingeschränkt werden, sind dabei immer erlaubt. Regeln, deren Funktion von Schadensverhütung oder Gefahrenabwehr nicht unmittelbar verständlich sind, haben in Kindereinrichtungen nichts zu suchen. Im Zweifelsfall gilt bei Regeln: Weniger ist mehr. Kinder im Vorschulalter haben entwicklungspsychologisch

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gesehen ohnehin noch große Schwierigkeiten, das abstrakte Konzept von Regeln nachzuvollziehen. Ihr Denken ist egozentrisch, die Funktion von Regeln zur Sicherung der Interessen aller kann von ihnen kaum verstanden werden. Im Hortalter werden Regeln besser verstanden und deshalb auch von den Kindern in Kinderkonferenzen oder Klassenräten sehr gern erarbeitet. Regeln, die die Kinder selbst erarbeitet haben, werden von ihnen auch sehr streng befolgt. Regeln, die von den Erwachsenen nur einfach vorgegeben werden, führen zu Konflikten und werden zumeist von den Kindern ignoriert: »Ja, aber, wir haben die Regeln doch mit allen Kindern gemeinsam besprochen!« Haben Sie die Regeln wirklich auch gemeinsam erarbeitet? Ist den Kindern der Sinn der Regeln klar? Konnten die Kinder ihre eigene Auffassung in die Regeln mit einbringen? War das überhaupt ein für die Kinder nachvollziehbares Problem, zu dem da Regeln besprochen wurden? »Kinder, wir hatten die Regeln doch gemeinsam entwickelt!« – »Nein, liebe Erzieherin, du hast deine Regeln uns mitgeteilt. Entwickelt haben wir da gar nichts!« Das Kindeswohl in der pädagogischen Arbeit kurz zusammengefasst: Erziehung zum Wohl der Kinder ist in erster Linie Lebensraumgestaltung, nicht Arbeit am Kind. Die eigene Entwicklung ist Aufgabe der Kinder selbst, nicht der Erwachsenen um sie herum (die sollten sich um ihre eigene Entwicklung kümmern und nicht an den Kindern herumentwickeln). Dazu gehören auch Unsicherheit und Fehler, die Kinder in ihrer Entwicklung machen können, um aus ihnen zu lernen. Entwicklung folgt dabei den eigenen Themen, Problemen und Herausforderungen, die die Kinder erleben. Ihr Lernen führt sie in die Unabhängigkeit von Erwachsenen. Sie müssen sich auf eine Zeit vorbereiten, in der sie keine erwachsene Hilfe oder Unterstützung mehr bekommen. Dafür braucht es eine sichere Basis und eine vertrauensvolle Beziehung zu den Erwachsenen. Die Sicherheit durch die Bindungs- und Vertrauensperson ermöglicht erst Explorationsverhalten, das heißt mutiges Lernen durch Ausprobieren. Die Fachkraft regt also nicht an, sondern ist die Anregung durch ihre Präsenz als sichere Basis in der Distanz. Regeln sollen dafür sorgen, dass Kinder ihr eigenes Lernen mit dem Lernen und den Wünschen anderer Kinder abstimmen. Gute

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»Sie sind doch gar kein Pädagoge, Herr Mienert!«

Regeln geben dabei allen viel Freiheit, schlechte Regeln schränken ein, ohne dass sie von den Kinder verstanden werden. Ohnehin: Wenn es gut läuft, braucht man keine Regeln. Und wenn Konflikte, Spannungen, Misstrauen da sind, dann helfen die Regeln auch nicht mehr weiter.

6. »  Und basteln dürfen wir dann auch nicht mehr?!«

T

essa traut sich alles – »Laufgitter haben uns doch auch nicht geschadet.«

Der Druck unterschiedlicher Erwartungen und die ständigen Auseinandersetzungen über das, was Bildungsarbeit bei Kindern leisten sollte und tatsächlich leisten kann, hat aus meiner Sicht bei den Fachkräften Spuren hinterlassen. Wer bin ich als Person, und in welcher Rolle befinde ich mich als Erzieherin oder Erzieher? Vielen Pädagoginnen und Pädagogen fällt es schwer, zwischen ihrer Rolle und ihrer Person zu unterscheiden. Beides scheint ineinander überzugehen und damit die Abgrenzung zwischen Persönlichem und Dienstlichem zu erschweren. Pädagogische Fachkräfte gehören zu den empfindlichsten Berufsgruppen, die mir bisher in den Fortbildungen begegnet sind. Allzu häufig werden mir die immer gleichen »Ja, abers« entgegengerufen: »Haben wir denn bisher alles falsch gemacht?!«, »Die Kinder sind doch immer gut groß geworden« und – eines der härtesten »Kampf-Ja, abers«, mit denen ich mich in Kitas und Horten auseinandersetzen muss: »Herr Mienert, haben Sie denn selber Kinder? Wenn Sie mal Kinder haben, dann werden Sie vieles aber ganz anders sehen!« Die Auseinandersetzung mit den eigenen Rollen, die ich im letzten Abschnitt beschrieben habe, ist gleichzeitig immer auch eine Auseinandersetzung mit mir selbst als Person. Bin ich tatsächlich in der Lage und bereit, all die an mich gestellten Erwartungen zu erfüllen? Welche Erwartungen an Kindheitspädagogik will ich tatsächlich persönlich in meiner Arbeit vertreten? Welche Erwartungen will ich aktiv zurückweisen – und wenn es solche gibt – wie kann ich diese Erwartungen zurückweisen? Die Suche nach dem Richtig oder Falsch in der Erziehung von Kindern ist eine Suche, die wohl so alt ist wie die Menschheit selbst. Sicherheit hatten die pädagogischen Fachkräfte immer in Zeiten ideologischer Vorgaben an Erziehung:

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»Und basteln dürfen wir dann auch nicht mehr?!«

durch Bildungspläne, vordefinierte Erziehungs- und Handlungsmuster. Mit dem modernen Ziel der Fokussierung auf die Selbstbildungsprozesse der Kinder scheint eine der wichtigsten Grundlagen für das Selbstbewusstsein pädagogischer Fachkräfte weggebrochen zu sein: die Sicherheit, dass es bestimmte Lernziele gibt, deren Erreichung bei den Kindern geschafft werden muss. An Stelle klar strukturierter Wissens- und Verhaltensziele aus der klassischen Pädagogik sind heute eher weich formulierte Ziele wie Kompetenzen, Stärken, Persönlichkeitseigenschaften getreten. Doch wie Ziele erreichen, die nie erreichbar scheinen? Und sind das wirklich meine Ziele? Als Ergebnis der intensiven Auseinandersetzung zwischen der Rolle und der Person der Fachkraft entsteht die eigene Identität. Identität ist immer ein abzustimmender Kompromiss zwischen dem, wie ich (den Erwartungen nach) sein soll und dem, wie ich (meiner Persönlichkeit und Biografie nach) nun mal so bin. Die eigene Identität zu entwickeln, ist ein langwieriger und schmerzvoller Prozess. In den meisten Lebensbereichen, in denen wir – entwicklungspsychologisch betrachtet – unsere Identität entwickeln, beginnt der Prozess der Identitätsarbeit im Jugendalter. Er endet jedoch nicht mit dem Erwachsenenalter. In allen Lebensbereichen geht die Identitätsselbstbestimmung weiter, in Politik, Familie, als Frau oder Mann, in der sexuellen Orientierung, in Freizeit und Freundeskreis, Religion, Kultur und natürlich in der beruflichen Orientierung. Exploration und Verpflichtung – also das Herausfinden und Ausprobieren unterschiedlicher Identitätsvorbilder und die sich anschließende Selbstverpflichtung Das passt zu mir, so will ich sein! gehen selten ohne Fehlschlüsse, Verletzungen, Enttäuschungen und gemischte Gefühle vonstatten. Empfindlich wie Jugendliche, die sich ihrer neu zu erarbeitenden Rollen und ihrer Person noch unsicher sind, reagieren auch Erwachsene, wenn sie in ihren tiefen Überzeugungen infrage gestellt werden oder sich selbst infrage gestellt sehen. Pädagogischen Fachkräften geschieht dies häufig. Sie werden durch Bildungspläne, Elternwünsche, Trägererwartungen, Kolleginnen und Kollegen, Lehrkräfte, Kinderärzte, Bürgermeister und eben auch freche Fortbildner wie mich immer wieder infrage gestellt, müssen sich für eigene Positionen erklären und rechtfertigen. Die klassische Pädagogin von einst musste vieles, aber sich erklären für ihre Arbeit,

»Und basteln dürfen wir dann auch nicht mehr?!«99

das musste sie nicht. Wenn sie sich an die Vorgaben der staatlichen Pläne hielt, so war sie automatisch eine gute Pädagogin, an deren Arbeit keiner zweifelte oder zu zweifeln hatte. Heute zu lernen, die eigene pädagogische Arbeit gegenüber fachlichen Laien (und das sind Eltern, Trägervertreter und Ärzte, auch Fortbildner nun mal) zu begründen, ohne sich zu rechtfertigen, eigene Ziele und Methoden auch im Kollegenkreis zu vertreten und dabei auszuhalten, dass es im Team auch unterschiedliche Auffassungen geben kann, fällt vielen Fachkräften schwer. Dazu ein Beispiel, das ich häufig in der Praxis erlebe: Oft werde ich zum Thema Kommunikation und Konfliktbearbeitung in Teams eingeladen. Ich nehme solche Termine gern wahr, da sie mir die Chance geben, ein bisschen des Teufels Anwalt zu sein und die Teams durcheinanderzubringen. In der Regel beginne ich die Fortbildungen mit der Frage: »Gibt es denn bei Ihnen Konflikte?« Die Antwort lautet fast immer: »Nein«. Ein kleiner Ost-West-Unterschied zeigt sich dann im zweiten Satz. Im Westen heißt es: »Wir sind ein super Team.« Im Osten: »Wir sind ein super Kollektiv.« Weitere Ost-West-Unterschiede kann ich in den nun folgenden Diskussionen nicht bemerken. Ich freue mich also zunächst spitzfindig und biete an, dass wir früher Feierabend machen, wo es doch keine Konflikte gibt. Ich erlaube mir aber ein paar kleine Fragen nach dem pädagogischen Alltag. Wie halten Sie es denn im Team mit dem Thema Mittagessen? Müssen alle Kinder essen? Muss alles wenigstens probiert werden? Müssen alle Kinder sitzen bleiben, bis alle Kinder fertig sind? Und wie ist das mit dem Mittagsschlaf? Ist der Pflicht oder kann man auch aufbleiben? Wie ist das mit dem Draußenspielen? Jederzeit, oder nur zu vorbestimmten Zeiten? Wie halten Sie es mit den Angeboten? Gar keine? Nur freiwillige? Oder werden die Kinder doch motiviert? Und finde ich Ausstellungen identischer Bastelprodukte mit Namen der Kinder, wenn ich in Ihre Räume gehe? Langsam beginnt die Fassade zu bröckeln. Einige Erzieherinnen bekommen Schnappatmung, einige Arme werden verschränkt, die eine fängt an zu weinen, die andere geht raus, die dritte verkündet »Ihr seid ja eh immer gegen mich!«, die vierte kündigt an »Ab jetzt sag ich gar nichts mehr!«. Ich lächle und freue mich, ich bin hier unter Menschen, die Arbeit kann beginnen.

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»Und basteln dürfen wir dann auch nicht mehr?!«

»Aber die Eltern wollen das doch so.« »Und was ist mit der Schule später?«, »Wir können doch auch nicht machen, was wir wollen.«, »Wir verstehen Sie ja, Herr Mienert, aber unsere Räume (unser Personalschlüssel, unser Träger etc.) geben das leider nicht her!« Konflikte werden an den Anforderungen von Eltern und Schule festgemacht, da vielen Kolleginnen und Kollegen das Risiko eines Konflikts im Team zu groß erscheint. Supervisionen oder kollegiale Beratungen fehlen in den meisten Einrichtungen. Aus meiner Sicht muss Supervision für alle Pflicht sein, die mit ihrer eigenen Person als Werkzeug mit anderen Menschen zusammenarbeiten. Sonst kann die Abgrenzung zwischen der eigenen Rolle und der eigenen Person längerfristig nicht ohne psychische Belastungen gelingen. Viele Teams haben eine lange gemeinsame Zeit hinter sich. Man hat sich in den eigenen Unterschiedlichkeiten eingerichtet, drückt ein Auge zu, wenn die Kollegin Unsinn verzapft, dann schaut sie weniger kritisch beim eigenen Unsinn, man hat gemeinsame Leichen im Keller, ist vielleicht auch privat befreundet, verbringt Freizeit und Feierlichkeiten miteinander. Nicht selten war man selbst schon als Kind in dieser Einrichtung oder hat die eigenen Kinder in der Betreuung von Kolleginnen und Kollegen. Allzu oft herrscht Burgfrieden, an dem bitte sehr nicht gerührt werden sollte. Wenn es überhaupt Unzulänglichkeiten gibt, so liegen sie angeblich in den Bedingungen und den äußeren Faktoren. Insbesondere beim Kritisieren der Eltern lässt sich in den Teams ganz schnell ein Gefühl von Gemeinsamkeit erzeugen. Sich in den Teams fachlich zu streiten, ohne sich persönlich anzugreifen, dieses Ziel scheint unter diesen Bedingungen häufig noch in weiter Ferne zu sein.

6.1 Pädagoginnen und Pädagogen verfolgen Ziele

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ritz macht immer Faxen – »Dieses Kind hat ADHS, kein Zweifel.«

Als ich vor 20 Jahren mein Studium der Psychologie abgeschlossen habe und mich für die Spezialisierung in Entwicklungspsychologie und Pädagogischer Psychologie (Sie sehen, so ganz weit auseinander sind wir dann an manchen Stellen doch nicht) entschied,

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war mir noch nicht klar, wie grundsätzlich unterschiedlich manchmal der pädagogische und der psychologische Blick sind. Heute, als Autor und besonders als Fortbildner treffe ich in meiner Arbeit nahezu ausschließlich auf pädagogische Fachkräfte. Die intensive Arbeit und die Auseinandersetzungen mit den Pädagoginnen und Pädagogen beginnen häufig dann, wenn die unterschiedlichen Perspektiven beider Fachrichtungen aufeinanderprallen. Pädagoginnen und Pädagogen arbeiten zielorientiert mit Kindern. Die pädagogische Arbeit zielt darauf ab, Veränderungsprozesse bei den Kindern anzuregen. Dafür setzen sich die Fachkräfte zunächst Erziehungsziele – sie überlegen also, wie die Kinder sein sollen, bevor sie sich dann im zweiten Schritt Methoden überlegen, wie sie die Kinder näher an diesen Sollzustand heranführen. Der Sollzustand ist der pädagogische Ausgangspunkt. In den Bildungsplänen der Bundesländer, in den Konzeptionen der Einrichtungen sind diese als Sollzustand gewünschten Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder dargelegt. Sie werden in Grob- und Feinziele unterteilt und als Zielkompetenzen von Kindern gekennzeichnet. Neugierig sollen die Kinder sein, selbstbewusst, selbstständig, kreativ und problemlösefähig. Die Kinder sollen soziale Kompetenzen erwerben, sollen sich teamfähig und konfliktfähig mit anderen Kindern auseinandersetzen können. Bildungsbereiche in den Bildungsplänen der Bundesländer beschreiben Domänen, in denen Wissen und Fertigkeiten erworben werden sollen. Grobmotorisch und feinmotorisch geschickt sollen die Kinder Körperbewusstsein erwerben, sie sollen sich mit mathematisch-naturwissenschaftlichen, physikalischen, biologischen und chemischen Prozessen auseinandersetzen, Wissen erwerben, sich die Kulturtechniken Lesen, Rechnen, Schreiben aneignen, sich emotional kompetent ausdrücken, die Körperhygiene beherrschen, sauber werden, Stifthaltung und Schereschneiden beherrschen, still sitzen und abwarten können und gleichzeitig ihre eigenen Wünsche artikulieren können … Fällt Ihnen in der Aufzählung etwas auf? Die Liste der Sollzustände ist unendlich lang und kann trotzdem immer noch weiter erweitert werden. Tagtäglich scheinen die Anforderungen an das, was Kinder lernen sollen, weiter anzuwachsen. Gleichzeitig stehen diese pädagogischen Ziele oft auch miteinander und

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mit dem Alltagsleben in der pädagogischen Einrichtung im Widerspruch. 20 neugierige, kreative, selbstbewusste und selbstständige Kinder, die sich beim Mittagessen treffen sollen? Die Mittagsschlaf halten sollen? Oder noch ihre Hausaufgaben erledigen sollen? Hand aufs Herz, wollen sie die wirklich? Oftmals kollidieren die in den Bildungsplänen und den Konzeptionen der Einrichtungen formulierten längerfristigen Erziehungsziele mit den kurzfristigen pädagogischen Zielen von Schadensbegrenzung, Gefahrenabwehr, Aufsichtspflicht, Gruppendisziplin und Aufrechterhaltung von Ordnung und Tagesablauf. Schnell kann so aus dem Wunsch nach neugierigen, kreativen, selbstständigen und selbstbewussten Kindern ein Wunsch nach braven, gehorsamen, disziplinierten, ruhigen und steuerbaren Kindern werden. Die größte Herausforderung für die pädagogischen Fachkräfte erwächst immer dann, wenn die vorformulierten Sollzustände von Konzeptionen und Plänen auf Kinder treffen, die selbst keine Lust haben, an diesen Zielen zu arbeiten. Die pädagogische Arbeit gerät immer dann automatisch an ihre Grenzen, wenn die Kinder diese Ziele nicht als die eigenen Ziele erkennen oder erreichen wollen. »Man kann den Hund nicht zum Jagen tragen!«, dieses Sinnbild aus der Jägersprache trifft auch auf die pädagogische Arbeit zu. Sie ist ein Kinderspiel, wenn die Kinder Lust auf diese Ziele haben – und sie ist nahezu unmöglich, wenn Motivation und Eigeninteresse der Kinder nicht auf diese Ziele ausgerichtet sind. Psychologinnen und Psychologen wie ich haben es da von ihrem Selbstverständnis her zunächst etwas leichter. Genauso wie die Pädagoginnen und Pädagogen arbeiten wir mit Menschen, wir begleiten Menschen in ihrer Entwicklung, bauen Beziehung zu ihnen auf und versuchen sie bei der Erreichung ihrer Ziele zu unterstützen. Im Gegensatz zu den pädagogischen Fachkräften verfolgen wir jedoch keine von außen vorgegebenen Ziele. Für unsere Arbeit gibt es keine Konzeption und keinen Bildungsplan. Wir überlegen uns nicht vorher, wie der Sollzustand menschlicher Entwicklung sein könnte. Der Ausgangspunkt unserer Arbeit ist der Istzustand beim einzelnen Individuum. Wie ist das Kind? Wie ist der Jugendliche? Wie ist der Erwachsene? An welchen Themen arbeiten sie gerade? Welche Herausforderungen sehen sie selbst in ihrem Leben?

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Was möchte das Kind selbst lernen? Was möchte es können, was es bisher noch nicht kann? Was möchte es wissen, was es bisher noch nicht weiß? Der Ansatz der Psychologie ist also individuumszentriert, während der Ansatz der Pädagogik zunächst ein gruppenzentrierter ist. Mein Blick auf das einzelne Kind erscheint mir dadurch oft etwas gelassener und entspannter als der Blick einer pädagogischen Fachkraft auf dasselbe Kind, die sich im Spannungsfeld zwischen dem, wie das Kind idealerweise sein sollte und wie es nun mal so ist, befindet. Aus dem Druck, einen pädagogischen Sollzustand zu erreichen, ergibt sich meiner Erfahrung nach häufig Unzufriedenheit bei den Fachkräften. Wenn die Kindheitspädagogik zwar (noch) nicht so stark durch konkrete Lehrpläne, Bildungs- und Leistungsziele bestimmt ist wie die Schulpädagogik, so hat doch auch in den Kitas und Horten der Bildungsdruck in den letzten Jahren stark zugenommen. Noch ein Angebot, das den Kindern unterbreitet werden muss, noch ein Vorschultraining, das angeboten werden muss, noch ein Förderprogramm, noch eine therapeutische Unterstützungsmaßnahme … die Liste der pädagogischen Maßnahmen wird auch in den Kitas und Horten immer länger. Dies betrifft nicht nur die allgegenwärtigen Sprachförderprogramme, sondern auch zahllose Experimentieranordnungen, Sozialtrainings, Gesunde-ErnährungsTrainings, Integrationsanforderungen, musikalische Früherziehung und Sport. Ich selbst sehe diesen Bildungsdruck mit großer Sorge, da er – meiner Meinung als Psychologe und Externer nach – vom eigentlichen Ziel pädagogischer Arbeit zunehmend ablenkt – einem gesunden, glücklichen Kind, das gerne spielt, sich den alltäglichen Anforderungen stellt, seine Ziele verfolgt und sich seiner Wünsche selbst bewusst wird. Dieses ganz normale Kind, das ist es, was für Entwicklungspsychologinnen und Entwicklungspsychologen das eigentliche Ziel darstellt. »Ist das Kind normal entwickelt?«, das ist unsere wichtigste Frage, und wenn die Antwort auf diese Frage »ja« lautet, so kann das Kind aus meiner Sicht so bleiben, wie es ist. Dann muss ich nicht überlegen, wie ich es noch optimieren und fördern kann, wo es seine Stärken und seine Schwächen hat oder wo es noch Unterstützungsbedarf zeigt. Solche Begriffe spielen für mich in der entwicklungspsychologischen Arbeit kaum eine Rolle.

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»Ist das Kind normal entwickelt?« – aus dieser Frage ergibt sich ein weiteres Spannungsfeld von Unterschieden zwischen dem Blickfeld von pädagogischen Fachkräften einerseits und den Psychologinnen und Psychologen andererseits. Immer wieder berichten mir Erzieherinnen und Erzieher, dass sie bei einzelnen Kindern Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsprobleme vermuten, angefragte psychologische Fachkräfte diese Diagnose aber nicht bestätigen wollen oder können. Pädagoginnen und Pädagogen fühlen sich dann häufig von den Externen alleingelassen mit ihren Ängsten und Sorgen um die Entwicklung von Kindern. Hier zeigt sich, dass die Einschätzungen von Normalität menschlicher Entwicklung in Pädagogik und Psychologie grundsätzlich anders sind. Pädagogische Fachkräfte sind in ihrer Profession aufgefordert, sich an sogenannten Idealnormen zu orientieren. Bildungsziele aus Lehrplänen und Bildungsplänen entsprechen diesen Idealnormen. Idealnormen sind künstliche Einschätzungen davon, wie sich ein ideales Kind bei idealen Ausgangsbedingungen, idealer häuslicher und pädagogischer Förderung und idealer Selbststeuerung idealerweise entwickeln würde. Sie stellen somit den Zenit möglicher Entwicklung von Kindern dar. In der Schule werden sie durch die Note eins ausgedrückt. Kaum ein Kind ist jedoch in der Lage oder gar willens, sich ideal zu entwickeln. Es wird im Alltag also fast immer eine Lücke zwischen dem pädagogischen Ideal einerseits und den realen Kindern andererseits bleiben. Entwicklungspsychologische Fachkräfte orientieren sich nicht an Idealnormen, sondern an den sogenannten Realnormen, das heißt, an dem, was tatsächlich bei Kindern beobachtet und dokumentiert werden kann. Zwei Normen sind dabei für uns von besonderer Bedeutung. Zum einen die sogenannte statistische Normalnorm. Sie beschreibt, wie sich das durchschnittliche altersgleiche Kind in einem bestimmten Leistungs- oder Verhaltensbereich zeigt. Sie beruht auf großen Stichproben von Kindern und bildet als »normal« das durchschnittliche Kind in seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten ab. Zum anderen bedienen wir uns der individuellen Bezugsnorm. In ihr wird das Kind in seiner Entwicklung mit seinen bisherigen Leistungen, also mit sich selbst im Altersverlauf verglichen. Abweichungen vom bisherigen Verhalten wecken unser Interesse.

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Die Spannweite dessen, was Entwicklungspsychologinnen und Entwicklungspsychologen als »normal« bezeichnen, ist sehr groß. 90 bis 95 Prozent der Kinder werden von uns als normal beschrieben. Erst wenn das Verhalten eines Kindes grundsätzlich anders ist als bei 90 bis 95 Prozent seiner Alterskameradinnen und -kameraden beziehungsweise ein Kind eine Fähigkeit nicht besitzt, die 90 bis 95 Prozent der Gleichaltrigen bereits besitzen, dann würden wir über therapeutische Arbeit nachdenken. Dazu ein Beispiel aus der Praxis von Kindertageseinrichtungen und Horten, das mir schon häufig begegnet ist: Eine Kindertageseinrichtung zeigt sich besorgt über das Verhalten eines bestimmten Kindes. Die Auffälligkeiten des Kindes haben im Alltag zu zahlreichen Problemen geführt. Nach Schilderung der Kitaleiterin zeigt sich das Kind »verhaltensauffällig«, »aggressiv«, »es stört die Gruppenabläufe« und »gefährdet sich und andere«. Da Erzieherinnen und Erzieher selbst nur Verdacht äußern können, aber keine Diagnosen stellen dürfen, werde ich – natürlich nach Rücksprache mit den Eltern – in die Kita eingeladen, um das Kind zu beobachten und gegebenenfalls zu diagnostizieren. Im Morgenkreis, an dem ich dann teilnehme, schleicht sich die Leiterin heimlich und scheinbar unbemerkt an eines der Kinder von hinten heran und deutet in meine Richtung auf das Kind vor ihr. »Das ist unser verhaltensauffälliges Kind«, flüstert sie mir verschwörerisch zu. Mein Auftrag scheint also zu sein, dieses Kind heimlich zu beobachten, während ich so tue, als ob ich mit den anderen Kindern beschäftigt sei. So etwas würde ich nie machen. Ich gehe also auf das Kind zu und sage zu ihm: »Guten Morgen, ich bin Malte, und ich bin heute hier, um mit dir gemeinsam den Tag zu verbringen. Ich habe gehört, du bist der Fritz, und du bist ein verhaltensauffälliges Kind?«. Die Kinder sagen immer »Ja« auf diese Frage, was mich darin bestätigt, dass die Kinder ihre eigene »Diagnose« (die es ja bisher noch überhaupt nicht geben dürfte!) schon oft zu hören bekommen haben. Wir setzen uns dann beide zusammen, wir erzählen voneinander, ich lasse mir von dem Kind die Einrichtung zeigen, ich lasse mir erzählen, was das Kind gern macht und was nicht so gern, welche Erzieherinnen es gern mag und welche nicht so sehr, wie der Tagesablauf so ist und so weiter. Gemeinsam ziehen wir von Raum zu Raum, von Angebot zu Angebot, von Essen zu Schlafen und von Basteln zu Singen. Aus den Augenwinkeln bemerke ich die zunehmende Unruhe der Kitaleiterin. Wann zeigt das Kind nun endlich seine Unberechenbarkeit, wann bekommt es nun endlich seinen üblichen Ausbruch? Der Ausbruch bleibt aus. Das Kind zeigt sich als das normalste Kind von der Welt. Für eine Diagnose »verhaltensauffällig« sehe ich keinerlei sachliche Grundlage. Um vier schleicht sich die Leiterin sichtlich genervt erneut von hinten an das Kind heran und flüstert in meine Richtung: »Na, heute war Fritz aber auch ganz anders …«

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Was ist passiert? Warum war heute alles ganz anders? Und ist es fair, so einen relativ kurzen Ausschnitt aus dem Leben eines Kindes heranzuziehen, dass sich ja scheinbar an allen anderen Tag anders verhält als an diesem besonderen Tag mit mir? Ja, ich war anders. Ich hatte Zeit. Ich konnte mich den ganzen Tag ganz individuell nur einem einzigen Kind widmen. Ich hatte keine Erwartungen und keine Vorgeschichte. Ich konnte mich auf das Kind einstellen. All dies können Erzieherinnen und Erzieher im Alltag oft nicht. Große Gruppen, Stress, Lärm, viele Anforderungen, Personalmangel und Zeitdruck machen es oft schwer, sich dem einzelnen Kind individuell zu widmen. Ein Luxus, den ich an diesem Tag hatte und mit dem und für das Kind nutzen konnte. Ist das die Schuld des Kindes? Eine Diagnose »verhaltensauffällig« erteile ich nur, wenn eine Bedingung erfüllt ist: Das Kind muss sich situationsübergreifend auffällig, abweichend verhalten. Ein Kind, das eine echte psychische Störung, eine verhaltensbeeinträchtigende körperliche oder geistige Behinderung, einen frühkindlichen Hirnschaden, eine Intelligenzminderung, Autismus, ein schweres Trauma, kindliche Depression o. ä. aufweist, zeigt Verhaltensauswirkungen dieser Störung in allen Situationen seines Lebens. Es kann sich auch dann nicht anders verhalten, wenn ich dabei bin anstelle seiner Erzieherin oder seines Erziehers. Seine Störung wird auch durch mich beobachtbar und dokumentierbar sein. Dies ist bei dem Kind in meinem Beispiel anders. Es verdeutlicht, dass es sich anders verhalten kann, wenn die Situation eine andere ist. Somit kann ich nicht das Kind als auffällig diagnostizieren, sondern muss Ursachen in der Situation suchen, in der sich das Kind an den anderen Tagen befindet. Diese gilt es zu analysieren und zu verändern. Für den Stress des Alltags, die Gruppensituation, den von außen aufgebauten Druck, mit denen sich das Kind durch auffälliges Verhalten auseinandersetzt, kann ich das Kind nicht verantwortlich machen. Ist Ihnen an diesem Beispiel der grundsätzliche Unterschied zwischen dem psychologischen und dem pädagogischen Blick auf den Alltag mit Kindern deutlich geworden? Dieser Unterschied der sich aus dem pädagogischen Sollzustand und dem scheinbar idealisierten Blick auf den normalen Istzustand bei Kindern ergibt, stellt den roten Faden dieses Buches dar. Bitte vergessen Sie beim Lesen

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nicht, Sie sind Pädagoginnen und Pädagogen und müssen Ihren Blick nicht aufgeben. Er entspricht dem Ziel Ihrer Profession und stellt Ihr Selbstverständnis dar. Manchmal vermag aber vielleicht ein wenig entwicklungspsychologische Distanz Ihnen den Alltag zu erleichtern. Sie können sich im Alltag manchmal etwas mehr entspannen, wenn Sie Slogans pädagogischer Selbstverständlichkeit als das hinterfragen, was sie sind – »Ja, abers«, die die Reflexion der eigenen Arbeit behindern. Vielleicht lassen sich zu den pädagogischen Alltagsargumenten ja noch ein paar neue Slogans – diesmalaus entwicklungspsychologischer Perspektive – ergänzen: »Sie tun es nicht, um uns zu ärgern!«, »Jetzt machen wir erstmal nüscht!«, »Ich habe keine Ahnung, was du gerade lernst, aber ich bin mir sicher, du lernst gerade etwas.« sowie »Jeder kann machen, was er will, aber jeder muss für die Folgen seines Verhaltens Verantwortung übernehmen!«, diese Slogans würde ich persönlich in den täglichen Auseinandersetzungen in Tagesstätten und Horten häufiger hören wollen.

6.2 Pädagoginnen und Pädagogen schwanken zwischen dem Kind und der Gruppe

Ü

mran übt das Ü – »Auch hochbegabte Kinder müssen sich in die Gruppe einfügen.«

»Herr Mienert, Ihr Leben hätten wir gern. Wollen Sie mal einen Tag bei uns in der Kita verbringen? Wenn Sie 20 auffällige Kinder auf einmal haben?« Wie oft habe ich dieses »Ja, aber« in den Tageseinrichtungen gehört. Deutlich wird mir dabei, dass Psychologinnen und Psychologen einerseits und Pädagoginnen und Pädagogen andererseits oft von zwei grundsätzlich unterschiedlichen Blickrichtungen auf die Kindergruppe schauen. Ein Entwicklungspsychologe wie ich schaut sich die individuellen Veränderungen von Menschen im Lebenslauf an (so lautet die Definition der Entwicklungspsychologie). Diese Blickrichtung ermöglicht es mir, das einzelne Kind genauer in den Blick zu nehmen und dabei in der sachlichen Beobachtung und Dokumentation von Verhalten Begleitumstände, die Menschen um das Kind herum, seine Lebenswelt, räumliche und materielle

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Bedingungen, zunächst einmal auszublenden. Für die pädagogischen Fachkräfte erscheint dies wie ein unglaublicher Luxus. In der täglichen Arbeit sind sie bemüht, das Kind als Teil der Kindergemeinschaft zu betrachten. Die Kindergemeinschaft – die Gruppe – gilt es im Blick zu behalten, zu betreuen, untereinander abzustimmen und durch den Tagesablauf zu begleiten. 20 Individuen auf einmal, mit ihren Lebensgeschichten, unterschiedlichen Themen, abweichenden Bedürfnissen, Anliegen, Sorgen, Gefühlen gleichzeitig persönlich und trotzdem zielorientiert zu begleiten, dieser Herausforderung würde ich mich tatsächlich selbst nicht stellen wollen. Für pädagogische Fachkräfte stellt dies jedoch die Grundlage allen Arbeitens dar. Ist es jedoch tatsächlich notwendig? In den letzten Jahren haben sich die Diskussionen um die Öffnung der pädagogischen Arbeit in den Einrichtungen – auch unter dem Einfluss der neuen Bildungspläne – verstärkt. Pädagoginnen und Pädagogen diskutieren, wie es gelingen kann, den Alltag für die Kinder zu entschleunigen, die Zahl von vorbereiteten Angeboten im Tagesablauf zu reduzieren, mehr Selbstbestimmung im Freispiel zu ermöglichen und alle Räume allen Kindern nach Wahl als Funktionsräume zugänglich zu machen. Dadurch lösen sich auch traditionelle Gruppenformen auf, die klassische Erzieherin, die ihre Kinder in ihrem Raum durch ihren Tagesablauf führt, verliert an Bedeutung. Neue Gemeinschaften entstehen, Nestgruppen für die Krippenkinder, Stamm- oder Bezugsgruppen für die Größeren, Fachkräfte und Kinder haben stärker denn je die Chance, sich auch nach persönlicher Sympathie und gemeinsamen Themen zu finden. In dem Maß, wie die Kinder selbstständig an ihren eigenen Themen arbeiten können, sinkt auch der Druck, alle Kinder jederzeit ständig anzuleiten und zu führen. Individuellere Begleitung der Kinder im Tagesablauf wird möglich. Dies erfordert jedoch für pädagogische Fachkräfte einen Abschied vom klassischen Gruppendenken. Diesbezügliche Befürchtungen äußern sich dann in »Ja, abers« wie »Dann können die Kinder ja gar keine Bindung zur Erzieherin aufbauen«, »Die Kinder gehen mir im Tagesablauf verloren«, »Ich weiß gar nicht, wo die Kinder gerade sind oder was die Kinder gerade machen« und »Wie sollen wir denn da die Aufsichtspflicht gewährleisten?« Als wichtigster Grund für die traditionelle Gruppenstruktur wird zumeist jedoch

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der Klassiker aller »Ja, abers« in Kindertageseinrichtungen genannt: »Wie sollen wir denn so individuelle Betreuung gewährleisten, angesichts des schlechten Betreuungsschlüssels, des Fachkräftemangels, der unzureichenden räumlichen und materiellen Ausstattung der Einrichtung – sprich angesichts der zahlreichen strukturellen Mängel?« Strukturelle Mängel in den Tageseinrichtungen und Horten sind unbestreitbar. Reale Betreuungsschlüssel über 1 zu 20 in vielen Hort- und Ganztagseinrichtungen und von 1 zu 14 der Drei- bis Sechsjährigen in Kindertagesstätten sind schlicht inakzeptabel und müssen zügig beseitigt werden. Wäre nicht aber gerade bei großen Zahlen von Kindern die Öffnung der pädagogischen Arbeit eine Notwendigkeit, sogar ein Ansatz zur Lösung des Gruppenproblems? Was hat das klassische Gruppendenken für viele Pädagoginnen und Pädagogen so attraktiv gemacht? Mir scheint es mehrere Gründe zu geben, die mancher Fachkraft den Abschied von der geschlosse­ nen Einrichtung so schwerfallen lassen. Die räumlichen und strukturellen Bedingungen zu nennen, verdeckt, dass es häufig auch um Machtfragen zwischen Erwachsenen und Kindern geht. Die pädagogische Rolle ist grundsätzlich immer mit einer gewissen Macht versehen. Der Alltag der Kinder findet in dem Rahmen statt, den die pädagogische Fachkraft bereit ist einzuräumen. Traut sie sich, den Kindern mehr Freiraum, Mit- und Selbstbestimmung zuzugestehen, so wächst die Eigenverantwortung der Kinder für das tägliche Lernen. Will sie jedoch alle Fäden selbst in der Hand behalten, so braucht sie den unmittelbaren Zugriff auf ihre Kinder und muss den Druck erhöhen, um ihre Ziele durchzusetzen. Damit gerät sie unmittelbar in eine Kraftprobe mit jedem Kind, das über zwei Jahre alt ist. Entwicklungspsychologisch entsteht zu diesem Zeitpunkt bei den Kindern das sogenannte Ich-Konzept, was das Wissen umfasst, eine eigenständige, losgelöste Person mit eigenen Zielen und Wünschen zu sein. Von diesem Zeitpunkt an wird jedes Alltagsanliegen potenziell zum Kampfthema zwischen Erwachsenen und Kindern. Nicht umsonst wird dieser Altersabschnitt als Wut- oder Trotzphase bezeichnet. Hier liegt die Quelle für alltägliche Machtkämpfe, die Erzieherinnen und Erzieher mit Kindern führen, Kämpfe um das Anziehen der Matschhose, das Kosten beim Mittagessen, den Mittagsschlaf,

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das Drinnenbleiben und Rausgehen. Manche Fachkraft, die ich in Einrichtungen beobachtet habe, scheint es für ihren eigenen Selbstwert zu benötigen, jeden Machtkampf mit einem Kind zu gewinnen. »Wenn das jeder machen würde?!« oder »Wenn ich das heute durchgehen lassen, dann wollen das morgen alle!«, so lauten die »Ja, abers« im Kita-Alltag, die mir entgegenschallen, wenn ich solche Machtkämpfe mit etwas Abstand zu betrachten versuche. Macht es denn wirklich jeder? Wollen das morgen wirklich alle? Mir scheint es genau umgekehrt der Fall zu sein. Wenn es der Fachkraft gelingt, den Kindern manche Entscheidung selbst zu überlassen, so verschwindet die Grundlage für die Auseinandersetzung, und mancher Wutanfall löst sich von allein. Etwas Abstand bewahren, selbst ruhig bleiben, nicht jeden Kampf gewinnen wollen, den Kindern im ohnehin stark vorbestimmten Alltag so viel Selbst- und Mitbestimmung wie möglich zu geben, scheint mir eine der wichtigsten Grundprinzipien für ein entspanntes Miteinander. Den Kampf um Schlaf und Zähneputzen mit Härte zu führen, endet schnell in einem Kampf ums berühmte Prinzip – und der wird von keinem gewonnen, belastet aber längerfristig die Beziehung zwischen der pädagogischen Fachkraft und dem Kind. Ein zweiter Grund für das Festhalten am Gruppendenken bzw. dem Gruppenblick und der Gruppenstruktur scheint mir die Eifersucht von Erzieherinnen und Erziehern zu sein. Meine Kinder sind dann nicht mehr meine Kinder? Wo halten sich die Kinder auf, wenn die Türen der Gruppenzimmer geöffnet werden? Machen wir uns da nichts vor, es wird für einige Erzieherinnen und Erzieher eine schmerzvolle emotionale Erfahrung sein, zu merken, dass sich nur wenige Kinder bei ihr oder ihm aufhalten, wenn die Wahl der Bezugsperson für die Kinder frei steht. Um Kinder werben müssen, nett zu allen Kindern sein, auf die kindlichen Bedürfnisse tatsächlich eingehen, das ist für manch alteingesessene und sehr traditionsorientierte pädagogische Fachkraft eine ganz neue Erfahrung. In der Einrichtung mit geschlossenen Gruppen und geschlossenen Türen war das nicht notwendig. Die Kinder waren durch Zufall zugeteilt, und man verbrachte die folgenden Jahre in einem Gruppenverband, ob man sich nun mochte oder nicht. Für die Kinder unauflösbar, und für die Fachkraft entstand ein neues »Ja, aber« »Ich muss alle Kinder

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gleichermaßen mögen«, was ich aus entwicklungspsychologischer Sicht für völlig abwegig halte. Wenn es nach mir ginge, wäre die Gruppenstruktur zunächst in allen Einrichtungen offen. Neue Kinder, auch die allerkleinsten, dürften zwischen zwei oder drei Fachkräften wählen, von wem sie sich gern eingewöhnen lassen würden. Von dieser Eingewöhnungserzieherin oder diesem Eingewöhnungserzieher ausgehend kann dann jedes Kind in den nächsten Wochen Kontakt zu anderen Fachkräften aufnehmen. Über Beobachtung und Gespräche mit den Kindern wird dann ermittelt, wer die Bezugserzieherin oder der Bezugserzieher des Kindes ist. Diese sollten für das Kind wenigstens einmal täglich für ein persönliches Gespräch und den Eltern als Ansprechpartner für Entwicklungsgespräche zur Verfügung stehen. Ansonsten sollte sich im Tagesablauf jede Fachkraft für jedes Kind verantwortlich fühlen. Kein Kind darf in der geöffneten Einrichtung verloren gehen. Insbesondere bei stillen, braven und angepassten Kindern ist ganz stark darauf zu achten, dass diese tatsächlich das gleiche Maß an Aufmerksamkeit erfahren wie die lauten und temperamentvollen Kinder, die sich die notwendige Aufmerksamkeit ohnehin jederzeit holen. Die Pädagogin und der Pädagoge haben den Gruppenblick, so hatte ich diese Ausführungen über Herausforderungen in der pädagogischen Rolle begonnen. Der Gruppenblick ist wichtig und richtig, und er muss jederzeit bewahrt werden können. Das gehört zur Aufsichtspflicht einer Fachkraft dazu. Der Gruppenblick darf aber nicht bedeuten, dass damit auch die gesamte Verantwortung für das Lernen des Kindes in der Gruppe bei der Fachkraft liegt. Wichtigster und erster Pädagoge für sein eigenes Lernen ist das Kind selbst. Seine individuellen Interessen und Lernziele, seine körperlichen und geistigen Leistungsvoraussetzungen für das Lernen, seine Lernbiografie und seine Lebenswelt stecken ab, woran das Kind derzeit arbeitet, was es lernen will, was es können will. Durch einen verallgemeinernden Blick in die Gruppe hinein, über die Köpfe der Kinder hinweg, lassen sich diese individuellen Bedürfnisse jedes Kindes nicht erfahren. Persönliche, individuelle, interpretationsfreie Gespräche auf Augenhöhe sind dafür der wichtigste Zugang. Bei allem Gruppendruck, wenn diese nicht gelingen,

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so bleibt das Bildungs- und Entwicklungspotenzial von Kita und Hort ungenutzt. Kinder lernen die Welt selbst kennen. Kinder können nicht durch Erwachsene belehrt werden. Kinder erwerben ihr Wissen von der Welt und ihre Fähigkeiten, indem sie die Welt neugierig erforschen, dabei auf Widersprüche und »Unerklärliches« stoßen und diese Phänomene so lange untersuchen, bis sie Erklärungen gefunden haben, die die Widersprüche auflösen. So entsteht Schritt für Schritt im kindlichen Kopf ein immer feiner differenziertes Bild von der Welt. Jedes Kind hat sein eigenes Bild von der Welt, das auf unterschiedlichen Vorerfahrungen beruht. Zweiter wichtiger Pädagoge des Kindes sind die anderen Kinder. Aus der altersgemischten Kindergemeinschaft kommen die wichtigsten Anregungen für das individuelle Lernen. Das Kind greift auf die Erfahrungen der anderen Kinder zurück, die ebenfalls über eigenes Wissen von der Welt verfügen. Mit den anderen Kindern kann man seine Weltsicht austauschen und gemeinsam Lösungen für die aufgetretenen Fragen entwickeln. Wenn der Lösungsweg das eigentliche Ziel ist, kann das Nachdenken über möglichst unterschiedliche Lösungswege gefördert werden. Nicht das »richtige« oder »falsche« Ergebnis sollte im Vordergrund stehen. Die Kinder können zum gegenseitigen Austausch in Kleingruppen angeregt werden. Kinder mit unterschiedlichen Entwicklungsständen können sich gegenseitig besser unterweisen, als es Erwachsene je könnten, da die Kinder sich in die Denkweise der anderen Kinder besser hineinversetzen können als die Erwachsenen. Dieses Prinzip des Lernens in der »Zone der nächsthöheren Entwicklung« (vom russischen Entwicklungspsychologen Vygotzky schon vor Jahrzehnten beschrieben) gelingt effektiv am besten, wenn das Kind in altersgemischten Gruppen aufwächst. In der Diskussion in der Kindergruppe drohen jedoch, Lösungsvorschläge verloren zu gehen, wenn unsystematisch exploriert wird. So sollten unterschiedliche Vorgehensweisen von den Kindergruppen oder der Fachkraft als Begleitung dokumentiert werden – dadurch geht kein Lösungsansatz verloren, und der Grundstein für Lerngeschichten und Portfolios ist gelegt. Die Fachkraft sollte dabei ihre eigene Lösungsidee als eine von vielen möglichen Lösungsideen ansehen, die nicht »richtiger« oder »falscher« ist als die Ideen der Kinder selbst. Von daher

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sollte sie sich mit Bewertungen der kindlichen Ideen weitestgehend zurückhalten und vielmehr die Kinder dazu anregen, die unterschiedlichen Ideen auszuprobieren und untereinander zu diskutieren. Von besonderer Bedeutung für die Öffnung von Gruppen – und damit eine Individualisierung der pädagogischen Arbeit – ist die Gestaltung des dritten kindlichen Pädagogen, Situation/Raum und Material. Prinzipiell sollte dabei alles Material allen Kindern zur Verfügung stehen. Im Zimmer sollte es keine Bereiche geben, die von den Kindern zwar gesehen, aber nicht genutzt werden dürften (schon ruft es mir aus den Kitas und Horten entgegen: »Aber ich brauche doch meinen Schreibtisch mit meinem Telefon in meinem Funktionsraum!«). Kein Raum, kein Material, kein Gegenstand ist Eigentum der Fachkraft, alles dient in erster Linie dem kindlichen Lernen im Spiel (und ich höre die Streits in den pädagogischen Teams »Das ist mein Raum, die Kollegin war wieder an meinem Material, sie hat meine Geräte genutzt …!«). Mein Raum, dein Raum – so ein Denken hat aus meiner Sicht in den Einrichtungen heute nichts mehr verloren. Sollte es tatsächlich Materialien geben, die von den Kindern nicht oder nur unter Aufsicht genutzt werden sollten, so sind diese tatsächlich unerreichbar und nicht sichtbar (!) für die Kinder aufzubewahren. Nichts ist verlockender für das neugierige Kind wie ein Hammer, der sich knapp außer Reichweite aufhält. In der Reihe der Pädagogen des lernenden Kindes sehe ich die Fachkraft erst an vierter Stelle. Das heißt nicht, dass sie weniger wichtig sei. Aus meiner Sicht hat sie sich jedoch in der Kindheitspädagogik bisher zu viel auf ihre Schultern gepackt. Dem Kind und seinem Lernen zu vertrauen, Diskussionen und Streits von der Kindergruppe selbst bearbeiten zu lassen, sich selbst zurückzuhalten und auf die Gestaltung der Situationsbedingungen eher als auf die direkte Unterweisung der Kinder in vorbereiteten Angeboten zu setzen, das fällt vielen Pädagoginnen und Pädagogen schwer. »Abschied von der Basteltante« – so habe ich selbst viele meiner Veranstaltungen mit Fachkräften genannt und bin dabei so manches Mal auf Tränen gestoßen. »Dürfen wir denn heute gar nichts mehr – nicht einmal mehr basteln?!« – auch dies gehört zu den »Ja, abers« in Tageseinrichtungen und Horten. Wenn es nach meiner Sicht geht, dürfen Sie sich für die individuellen Gespräche

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viel mehr Zeit nehmen als bisher. Dafür dürfen Sie auf viele der scheinbar liebgewonnenen Traditionen verzichten. Aus meiner Sicht muss Krippenkindern nicht ein einziges pädagogisch vorbereitetes Angebot unterbreitet werden. Die Bewältigung des Alltags, der Wasserhahn, die Seife, der Kartoffelbrei, der Anorak, der Sand im Sandkasten, der zum Reinbeißen leckere Oberarm des anderen Kindes, der darauf folgende Konflikt und tausend Dinge mehr, all dies sind die eigentlichen Angebote, die keine aktive Steuerung durch die Fachkraft brauchen und trotzdem die wichtigste Lernerfahrung für jedes Kind ermöglichen – die selbstständige Meisterung des tagtäglichen Lebens- und Überlebens. Angebote und Arbeitsgemeinschaften dann nur für die Elementar- oder Hortkinder? Mit Erschrecken registriere ich die vielen Traditionen in den Einrichtungen, die so weiter existieren, nur weil es sie immer schon gegeben hat. Geburtstagsrituale, die selbst die Geburtstagskinder als belastend empfinden, Programme, die einstudiert werden müssen (Achtung »Ja, aber«: »Aber die Eltern wollen das doch so!«), Faschingsfeiern, bei denen sich für den Fotografen höchstens noch die Erzieherinnen und Erzieher ein braves Lächeln abringen können. Das Geburtstagssingen bei den Seniorinnen und Senioren im Ort, die immer gleichen Weihnachtsfeiern, Vogelhochzeiten und das immer wieder aus der Kiste geholte »Dornröschen« (das war wohl ein ganz »schönes Kind, schönes Kind«). »Kinder brauchen doch aber Rituale und Traditionen!« Wirklich? Würde auch nur ein einziges Kind von sich aus darum bitten, dass es endlich wieder auf einer zugigen Bühne beim Volksfest stehen darf und ein Programm aufführt, das von bratwurstessenden Erwachsenen eher beiläufig zur Kenntnis genommen wird? Angebote kommen aber auch in ganz anderen Formen daher. Da werden von den Fachkräften mit den Kindern liebevoll Dekorationen erstellt, Handarbeiten zu besonderen Anlässen kreiert (der Muttertag ist hier besonders beliebt), Experimentieranordnungen aufgebaut, Theaterstücke einstudiert, Sportstunden und Arbeitsgemeinschaften eingerichtet. Ist das etwa falsch? »Unsere Kinder machen aber gern bei unseren Angeboten mit.« und »Die Eltern wollen das aber so.« Diese »Ja, abers« sind sicher nicht ganz falsch, aber können sie als Erklärung für eine angebotsorientierte Pädagogik ausreichen? Wichtigster Grundsatz für mich wäre,

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dass die Angebote der Fachkräfte tatsächlich an den Themen der Kinder orientiert sind. Das setzt genaue Beobachtung und individuelle Auseinandersetzung mit allen Themen aller Kinder voraus. Die Initiative zur Themenbearbeitung muss dabei vom Kind selbst ausgehen, nicht in erster Linie von der Fachkraft. Wenn eine Fachkraft an einem Thema mehr Interesse hat als das Kind selbst, das erst liebevoll zur Mitarbeit angeregt oder motiviert werden muss, so bin ich mir sicher, dass hier nicht an den Themen der Kinder gearbeitet wird. »Was aber tun, wenn ein Kind nun mal gar kein Interesse an Schereschneiden oder Stifthalten hat? Was ist mit der Schule später? Sollte man das Kind da nicht doch einmal motivieren?« Ich bin sicher, dass ein Kind alles lernt, was es für sein Leben einmal braucht, wenn es sich allein mit seinen eigenen Themen beschäftigt, auch wenn dies das Schereschneiden und die Stifthaltung nicht mit einschließt. Grobmotorik, Feinmotorik, Geduld, Ausprobieren, Konzentration lernt jedes Kind an seinen eigenen Themen. Ob dies tatsächlich automatisch zur Zufriedenheit der Grundschullehrerin oder des Grundschullehrers führt, bleibt offen. Aber die Arbeit in Kindertagesstätten und Horten soll die Kinder in die Lebenstüchtigkeit führen, nicht in die Schulfähigkeit. Längerfristig wird sich auch die Schule vermehrt der Themen der Kinder annehmen müssen und von ihren eigenen »Schul-Ja, abers« Abschied nehmen müssen. Kinder, die gelernt haben, an ihren eigenen Themen dran zu bleiben, sich auch gegen Widerstände von pädagogischen Fachkräften zu behaupten und für sich selbst beim Lernen zu sorgen, können solche langfristigen Umbauprozesse im Bildungssystem vorantreiben. Sie merken, ich habe so meine Schwierigkeit mit den zahlreichen Angeboten, die scheinbar freiwillig in den Einrichtungen durchgeführt werden. Sicher, sie richten keinen unmittelbaren Schaden an. Ob sie der Selbstständigkeitsentwicklung der Kinder, ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Neugierde und ihrem Entdeckergeist sowie der Freude am eigenen Lernen tatsächlich nutzen, daran hege ich große Zweifel. Kinder lernen durch sie bereits frühzeitig, dass Lernen etwas ist, wo man sich mit von Erwachsenen vorgegebenen Themen, Inhalten und Methoden auseinandersetzen muss, dass Lernen Arbeit ist und nicht immer Spaß machen muss, dass Erwachsene scheinbar besser wissen, was man selbst für das Leben braucht und dass

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Erwachsene das Recht haben, ihre eigenen Themen über die Themen des Kindes im Freispiel zu stellen. Am Ende muss beim Lernen ein vergleichbares und vorzeigbares Produkt entstehen, und dieses wird von Erwachsenen (Fachkräften wie auch Eltern) bewertet. Lernen wird somit zu etwas extern Gesteuertem, das manchmal mit den eigenen Themen übereinstimmt, häufig aber nicht. Darüber hinaus fördern Angebote die Abhängigkeit von Kindern. Kinder lernen, dass es immer eine Idee der Pädagogin oder des Pädagogen gibt, mit der man sich beschäftigen kann, wenn gerade mal ein bisschen Langeweile aufkommt. Sie verlernen dadurch, den eigenen Lernimpulsen nachzugehen und somit auch Verantwortung für das eigene Lernen zu übernehmen. Die Zeit der Kinder wird vorstrukturiert und durchorganisiert, Freiräume für Eigenaktivität und Kreativität ohne erwachsene Aufsicht verschwinden zunehmend. Historisch gesehen hat es nie eine Zeit gegeben, in der die Kinder so stark unter erwachsener Überwachung aufgewachsen sind wie heute. Wir wünschen uns alle neugierige, kreative, selbstständige und selbstbewusste Kinder, aber sie so sein zu lassen, das trauen wir uns heute kaum noch. Dem kindlichen Lernen wird misstraut, es wird reguliert, vorbereitet, in Bahnen gelenkt, überwacht und abgesichert. Die langfristigen Lernziele von Selbstständigkeit, Kreativität, Selbstbewusstsein und Neugierde auf das eigene Lernen der Kinder werden durch die dominanten kurzfristigen Wünsche nach Aufsicht, Sicherheit, Kontrolle und Vorhersagbarkeit torpediert. Also gar keine Angebote mehr? Dazu eine Anekdote aus dem Fortbildnerleben: Als Fortbildner war ich in eine Kita eingeladen, den pädagogischen Prozess einen Tag lang zu begleiten. Die Erzieherinnen und Erzieher hatten sich keine klassische Fortbildung von mir gewünscht, sondern wollten gern, dass ich den Tag mit ihnen in der Einrichtung verbringe und so die Möglichkeit gebe, Fragen direkt aus dem Alltagsgeschehen zu stellen. Aus der Erfahrung weiß ich, dass solche Veranstaltungen meist nur theoretisch vielversprechend sind. Wenn ich dann im Alltag mittendrin bin, fühlen sich viele Fachkräfte durch meine Anwesenheit bzw. durch meine Fragen eher verunsichert und stellen eher wenig eigene Fragen. Ich selbst genieße solche Fortbildungstage jedoch sehr und habe von daher die Einladung in die Einrichtung gern angenommen. Die Einrichtung selbst hat sich in den letzten Monaten auf den Weg der Öffnung der pädagogischen Arbeit begeben. Ganz auf Angebote verzichten wollte man jedoch nicht, unter Hinweis auf die Integrativkinder (Achtung »Ja,

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aber«: »Und was ist mit der Förderung der Integrativkinder?«) und die Wünsche der Eltern. Im Morgenkreis, mit dem der Tag traditionell begann, kam ich neben Christoph zu sitzen. Christoph ist fünf Jahre alt und gilt als verhaltensoriginelles Kind, da er eher viel in Bewegung ist und gern dazwischenruft. Dass wir sofort nebeneinander saßen, kann kein Zufall gewesen sein. Nacheinander stellten alle Erzieherinnen und Erzieher ihre für heute geplanten Angebote vor. Sie erzählten von Experimenten mit Luftballons, dem Sortieren von Fotos am Computer und der weiteren Arbeit an einem Theaterstück und hielten dann Karten in der Hand, die die Kinder, die gern mitmachen wollten, dann ziehen durften. Wenn die Karten weg waren, war die Teilnahme am Angebot nicht mehr möglich. Um den Interessen der Kinder jedoch stärker als bisher entgegenzukommen, konnten auch Kinder Angebote unterbreiten (was ich für eine gute Idee halte). Das einzige Kind mit einem Angebot war Christoph: »Ich möchte heute am Feuerwehrhaus weiterbauen und suche andere Kinder, die dabei mitmachen möchten«. Schnell hatte auch er seine Karten verteilt, und eine Karte bekam automatisch ich zugesteckt. Soweit so gut. Am Ende des Morgenkreises hat die Leiterin der Einrichtung alle Angebote noch einmal erneut vorgestellt und allen viel Spaß am Tag gewünscht. Christophs Angebot hat sie dabei vergessen.   Natürlich habe ich die Leiterin nach dem Morgenkreis sofort danach gefragt, was denn hier gerade passiert war. Sie war ehrlich erschrocken und hat sich sofort bei mir und bei Christoph entschuldigt. Die Botschaft bei den anderen Kindern und vielleicht auch bei Christoph selbst war jedoch schon gesendet: Christophs Angebot war wohl weniger wert als die Angebote der Fachkräfte.

6.3 Pädagoginnen und Pädagogen wollen von den Eltern gemocht werden »Ja, aber die Eltern wollen das doch so.« Dies soll wohl bedeuten: »Herr Mienert, ich würde ja gern ganz anders arbeiten, aber das würde Konflikte mit den Eltern heraufbeschwören. Solche Konflikte möchte ich nach Möglichkeit vermeiden.« Der Wunsch, von allen Eltern gemocht zu werden, gehört aus meiner Sicht zu einem der »Grund-Ja, abers« in Kindertageseinrichtungen und Horten. Pädagogische Fachkräfte sehnen sich nach Anerkennung und sind bereit, viel Verständnis und Entgegenkommen für andere Erwachsene zu entwickeln, damit sie diese Anerkennung letztendlich auch bekommen. Dieser Wunsch treibt aus meiner Sicht in den letzten Jahren merkwürdige Blüten.

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»Und basteln dürfen wir dann auch nicht mehr?!«

6.3.1 »Wir arbeiten in Erziehungspartnerschaft mit den Eltern«

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unus macht zuhause alles anders – »Wir müssen doch alle an einem Strang ziehen.« im und Kathi feiern keinen Karneval, Fritz und Fine reagieren bei Fasching ganz verstört – »Aber die Eltern wollen doch den Karneval/den Fasching.«

»Wir sind doch Dienstleister für die Eltern, das wird uns von unserem Träger immer wieder gesagt!« – Aus einem falsch verstandenen Dienstleistungscharakter der pädagogischen Arbeit mit Kindern ist der Druck auf die Fachkräfte noch größer geworden. Eltern sind sich ihrer Macht den Trägern gegenüber zunehmend bewusst und formulieren ihre individuellen Wünsche sehr dezidiert und konkret, unter Berufung auf das scheinbare »Dienstleistungsverhältnis«. In sich möglicherweise anschließenden Auseinandersetzungen zwischen dem pädagogischen Fachpersonal und dem Träger sehen sich viele Fachkräfte von ihren Vorgesetzten allein gelassen. »Eltern sind unsere Kunden« und »Eltern haben das gesetzliche Recht auf Mitbestimmung«, mit diesen Argumenten und »Ja, abers« werden Diskussionen innerhalb der Einrichtungen und der Träger sehr schnell abgewendet. Der Kunde ist König, und Mütter und Väter nehmen diese Königsrolle sehr gern ein. Die Zeilen, die ich hier über die Erziehungspartnerschaft mit Eltern schreibe, mögen viele Leserinnen und Leser überraschen, die mich als Verfechter einer engen Zusammenarbeit zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern kennen. Ich selbst bin ein großer Fan einer echten Erziehungspartnerschaft. Erziehungspartnerschaft heißt aber keinesfalls, darauf zu setzen, von allen Eltern gemocht zu werden und alle Eltern gleichermaßen zu mögen, es allen Eltern recht zu machen, die Elternwünsche zu erfüllen und den Eltern praktische Kinder zu liefern. Erziehungspartnerschaft heißt aber auch nicht Elternarbeit, das heißt Arbeit an den Eltern, bis diese zur Einrichtung, ihren organisatorischen und pädagogischen Zielen und den Wünschen der Fachkräfte passen. Erziehungspartnerschaft ist eine

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Zusammenarbeit mit den Eltern, die mit nur einem einzigen Ziel auskommt: das Wohl der Kinder bestmöglich in beiden Lebensräumen zu sichern, in denen das Kind aufwächst. Eltern und Fachkräfte tauschen sich dabei über die aktuellen Beobachtungen des Kindes und seiner Themen und Entwicklungsschritte aus und überlegen gemeinsam, was das Kind an Unterstützung in der jeweiligen Lebenswelt braucht. Erziehungspartnerschaft dient also ausdrücklich nicht dem Wohl der Erwachsenen, sondern ausschließlich dem Wohl des Kindes. Sein Wohlbefinden, seine Entwicklung, sein Lernen und seine Lebensbewältigung sind dabei die Maßstäbe erfolgreicher Erziehungspartnerschaft. Dazu ein Beispiel: Ein Kita-Team berichtet in der Fortbildung von verschiedenen Themen, die in letzter Zeit häufig zu Konflikten mit Eltern geführt haben. Als Beispiele werden dabei das Mittagessen (»Die Kinder essen nicht genug, und die Eltern ärgern sich über die trotzdem gezahlten Beiträge«) und der Mittagsschlaf (»Eltern bitten, dass wir die Kinder mittags nicht so lange schlafen lassen, damit die Kinder abends leichter ins Bett zu bekommen seien«) genannt. Inzwischen ist man in der Kita so weit, sogar Listen über das Essen und das Schlafen der Kinder zu führen. Für jedes Kind gibt es somit individuelle Vereinbarungen mit den Eltern darüber, was beim Essen der Kinder zu beachten ist und wie lange die Kinder schlafen sollten. Die Kinder werden mit sanftem Enthusiasmus zum Essen angeregt (»Alles wenigstens mal probieren!«), und die Schlafzeiten der Kinder werden protokolliert und ggf. die Kinder auch geweckt. Auf mein ehrlich erschrockenes Nachfragen dazu, was dies denn mit den Interessen und dem Wohl der Kinder selbst zu tun hätte, hörte ich eines meiner »Lieblings-Ja, abers«: »Haben Sie denn selber Kinder, Herr Mienert? Wenn Sie selbst Kinder hätten, dann würden Sie das aber ganz anders sehen.«

Zugegeben, ich reagiere zunehmend empfindlicher auf diese Äußerung. Sie scheint für mich eines der Grundprobleme in der pädagogischen Auseinandersetzung zwischen Fachkräften und Eltern zu berühren: die fachliche Anerkennung der Leistungen von Erzieherinnen und Erziehern in der täglichen Arbeit mit Kindern. Bedeutet gute pädagogische Arbeit wirklich nicht mehr als nur eine erwartete Dienstleistung von praktischer Betreuung den Eltern gegenüber zu erbringen? Ist man von daher automatisch eine bessere Erzieherin oder ein besserer Erzieher, wenn man selbst Kinder hat und von daher ein besonderes Verständnis für die Wünsche von Eltern entwickeln kann? Wie mögen sich die Kolleginnen und Kollegen in den

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Teams angesichts solcher Äußerungen fühlen? In den letzten Jahren haben wir gemeinsam viel für die Verbesserung der fachlichen Qualität in den pädagogischen Einrichtungen getan. Anhand der neuen Bildungspläne der Bundesländer haben die Fachkräfte ihre Arbeit neu überprüft, neue Konzeptionen entwickelt und die Ziele ihrer Arbeit neu angepasst. Viel wurde in die Verbesserung der Aus- und Weiterbildungen der Fachkräfte investiert. Viele Erzieherinnen und Erzieher haben sich über Fach- und Hochschulstudien weiterqualifiziert. Und nun fallen sie in das alte Argument zurück, dass man für die Betreuung der Kinder nichts weiter bräuchte als eigene Kinder? Was dem gesellschaftlichen Vorurteil entspricht, dass eine Erzieherin oder ein Erzieher kaum mehr als die nette Person sei, die schön mit den Kindern kuschelt und spielt? In der Frage nach dem »Haben Sie denn selbst Kinder?« wird aus meiner Sicht noch ein zweiter Konflikt sichtbar. Was wäre denn tatsächlich anders, wenn ich selbst Kinder hätte? Was genau wäre es, das ich dann ganz anders sehen würde? Ich bin mir sicher, wenn ich selbst Vater wäre, würde es mir heute viel leichter fallen, die Perspektive von Vätern oder Müttern einzunehmen. Ich hätte mehr Verständnis für die Eltern, das gebe ich gern zu. Aber ist es denn meine Aufgabe als pädagogische Fachkraft, die Eltern besser zu verstehen? Ich befürchte, dass ich in dem Moment, da ich die Eltern besser verstehe, möglicherweise die Bedingungen für die Kinder verschlechtere. Diese haben nun zwei Parteien gegen sich, die pädagogischen Fachkräfte und nun auch noch die Eltern, die sich gut verstehen. Wer vertritt da die Perspektive des Kindes? Denken Sie bei dieser Gelegenheit an Noah und den Mittagsschlaf. Stellen Sie sich vor, Noah würde gern mittags lange schlafen. Es gäbe bestimmt Eltern von solchen Noahs, die dann an Sie herantreten würden und Sie bitten würden: »Lassen Sie den Noah bitte mittags nicht so lange schlafen, ich bekomme den abends immer so schwer ins Bett!«. Wenn ich selbst Mutter oder Vater bin, kann ich dieses Anliegen von Eltern sicher gut nachvollziehen. Ich kenne das Drama des Schlafengehens abends und den verständlichen Wunsch von Eltern, dass ihr Kind endlich schläft und die Eltern noch etwas Zeit für sich haben. Ich wäre dann also sicher eher geneigt, dem Wunsch der Eltern nachzugeben. Ich würde Noah mittags früher wecken. Aber wäre das im Sinne Noahs, der mittags

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müde ist? Das Verständnis für die Eltern versperrt häufig die Sicht auf die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder. Wenn die Eltern in ihren Wünschen und Anliegen bedient werden, leiden häufig die Kinder. Mehr Angebote, weniger Mittagsschlaf, alles Essen essen (Eltern haben ja schließlich dafür bezahlt), Kinder ohne Eingewöhnung nehmen (Eltern sind halt im Stress), für die Eltern die Sauberkeitsentwicklung der Kinder vorantreiben und so weiter und so fort. Einer solchen Perspektive kann ich mich als Nicht-Vater viel leichter verweigern. Ich bin nicht tätig, um die Eltern zu verstehen, sondern die Kinder. Dafür bin ich Fachkraft geworden. Dass manche Fachkräfte selbst Mütter oder Väter sind, macht ihr fachliches Leben von daher nicht leichter, sondern eher schwerer. Und mal ehrlich, jede Fachkraft weiß, dass die ganze gelernte Pädagogik (und die Psychologie leider auch) versagt, wenn es um die eigenen Kinder geht. Das Leben in der Familie, wo langfristige Bindungen herrschen, ist eben doch grundsätzlich anders als das Leben im pädagogischen Alltag. Von daher meine Bitten: Bitte benutzen Sie im Alltag das Argument, ob die Kollegin bereits Kinder hat oder nicht, nie als Mittel der Auseinandersetzung. Bitte rechtfertigen Sie sich auch nicht, wenn Sie selbst keine Kinder haben. Sagen Sie selbstbewusst: »Zum Glück der mir anvertrauten Kinder habe ich selbst keine eigenen. Ich kann mich also ganz auf die Bedürfnisse der Kinder in der Einrichtung konzentrieren.« Oder sagen Sie einfach: »Um ein guter Chirurg sein zu können, muss ich selbst keinen offenen Beinbruch gehabt haben.« Oder: »Ich muss nicht selbst gestorben sein, um ein guter Bestatter sein zu können.« Obwohl, sagen Sie Letzteres vielleicht doch lieber nicht. Aber denken Sie es gern. Die Situation in einer Tageseinrichtung oder einem Hort unterscheidet sich grundsätzlich von der familiären Betreuung. In einer pädagogischen Einrichtung arbeiten gut ausgebildete Fachkräfte in einem pädagogischen Team mit pädagogischen Zielen und Methoden. Sie betreuen Kinder in Gruppen, führen diese durch einen gemeinsamen Tagesablauf und widmen sich der bestmöglichen Bildungs- und Betreuungsarbeit, die am Lernerfolg der Kinder ausgerichtet ist. Dafür sind sie ausgebildet und qualifizieren sich ständig weiter. Der Blick der Pädagogin oder des Pädagogen auf das Kind

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ist dabei ein grundsätzlich anderer als der Blick seiner Eltern. Fachkräfte können aufgrund der jahrelangen Erfahrung mit vielen Kindern eine gut distanzierte, fachlich-sachliche Einschätzung über den Entwicklungsstand des Kindes und sein Lernen abgeben. Sie vermögen es, das Kind im Gruppenkontext einzuschätzen und sehr zuverlässige Prognosen über die weitere Entwicklung des Kindes zu geben. Untersuchungen zeigen, dass Erzieherinnen und Erzieher mit neunzigprozentiger Sicherheit den Schulerfolg von Kindern vorhersagen können, besser als jedes Elternurteil, jede Schuleingangsuntersuchung, jeder Test oder jedes Lehrerurteil: »Ja, Herr Mienert, aber wir werden bei den Schulfähigkeitsuntersuchungen beim Kinderarzt ja gar nicht gefragt …« Das Leben und Lernen der Kinder zuhause unterscheidet sich von dem in der pädagogischen Einrichtung grundsätzlich. Hier sind die Kinder in die familiäre Geschichte und die familiären Traditionen eingebunden. Sie teilen mit ihren Eltern Vergangenheit und Zukunft, Kultur, Sprache, gemeinsame Werte und Normen. Oft sind sie Einzelkinder oder leben nur mit wenigen Geschwistern und fast nie mit Gleichaltrigen zusammen. Eltern sehen von daher ihre Kinder ausgesprochen individuell, mit hoher Empathie und großer emotionaler Bindung. Eltern stehen unter großem Druck hinsichtlich der Entwicklung ihrer Kinder. Sie machen sich längerfristig Sorgen und wünschen sich bereits heute eine perfekte lebenslange Entwicklung für die Kinder, wohingegen pädagogische Fachkräfte eher am derzeitigen Wohl der Kinder orientiert sind. Von daher sind Eltern auch eher bereit, derzeitigen Druck auf die Kinder in Kauf zu nehmen, wenn sie der Meinung sind, dass die Kinder dadurch einen zukünftigen Entwicklungsvorteil haben: »Die Eltern sagen, wir sollen das Kind ruhig auch mal zwingen, an den Angeboten teilzunehmen, auch wenn es ihm nicht so viel Spaß macht. Lernen – nach Meinung der Eltern – muss nicht immer Spaß machen!« Im Gegensatz zu den Fachkräften sehen Eltern von daher auch nie die Kindergruppe, sondern grundsätzlich nur ihr eigenes Kind. In einer Gruppe von 15 Kindern sind 14 Kinder einer Mutter oder einem Vater sehr wahrscheinlich völlig egal, sie wollen nur, dass es ihrem Kind gut geht. Das lässt sie häufig sehr hart reagieren, wenn sie den Eindruck haben, dass es ihrem Kind schlecht geht, wenn das

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Kind zum Beispiel mit Bissverletzungen durch andere Kinder aus der Einrichtung kommt. In solchen Momenten können Eltern kaum rational reagieren. Sie stehen unter dem Druck, ihr Kind für viele Stunden am Tag in fremde Hände zu geben, ohne zu wissen, was dort den ganzen Tag über mit dem Kind geschieht. Dieser Druck speist sich bei vielen Eltern, insbesondere bei Müttern, zusätzlich noch aus einem schlechten Gewissen, das sich aus dem traditionellen Gedanken, dass Kinder häuslich, und nicht institutionell betreut werden sollten, ergibt. Hinzu kommt, und auch das soll nicht verschwiegen werden, eine gestiegene Anspruchshaltung von Eltern der frühkindlichen und außerschulischen Betreuung gegenüber. Diese reflektiert sehr eindrücklich den gesellschaftlichen Kulturwandel vom Kollektivismus hin zum Individualismus, den ich eingangs kurz skizziert hatte. Während früher Eltern die pädagogische Arbeit von Erzieherinnen und Erziehern kaum infrage gestellt haben und den Fachkräften eher vertrauten, wissen sie heute um Qualitätsunterschiede und das Ringen um bestmögliche Betreuung in den Einrichtungen unter oft schwierigen Rahmenbedingungen. Die pädagogische Arbeit wird von daher stark hinterfragt. Solche Fragen treffen auf pädagogische Fachkräfte, die oftmals nicht ausreichend auf eine pädagogische Begründung ihrer fachlichen Arbeit vorbereitet sind und sich von kritischen Fragen der Eltern schnell verunsichern lassen. Diese ungleichen Ausgangsbedingungen stellen die Erziehungspartnerschaft zwischen Fachkräften und Eltern auf harte Proben. Welche Empfehlungen würde ich nun den pädagogischen Fachkräften geben? Ich habe meine Empfehlungen unter drei Überschriften gestellt. »Sie tun es nicht, um uns zu ärgern!«, »Erziehungspartnerschaft ist wie Dirty Dancing!« und »Probleme müssen besprochen werden, bevor sie aufgetreten sind!«. 6.3.2 »Sie tun es nicht, um uns zu ärgern«

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aisy ist unser Dickerchen – »Haben die Eltern denn da nicht drauf geachtet?«

Eigentlich handelt es sich dabei nicht um eine Überschrift, die sich nur auf die Erziehungspartnerschaft mit Eltern bezieht. Für mich

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betrifft dies genauso die pädagogische Arbeit mit Kindern und auch die Zusammenarbeit innerhalb des pädagogischen Teams. In konfliktreichen Situationen neigen Menschen dazu, einen persönlichen Angriff hinter Äußerungen anderer zu vermuten. In den allermeisten Fällen ist dies unbegründet. Menschen haben für ihr Verhalten tausende Gründe, und nur in den allerseltensten Fällen sind sich Menschen der eigenen Gründe für ihr Verhalten wirklich bewusst. Von daher ist grundsätzlich etwas Abstand gefragt, bevor die Äußerungen und Verhaltensweisen eines Gegenübers persönlich interpretiert werden. »Hat mein Kind schon wieder nichts gegessen?«, »Haben Sie mein Kind wieder den ganzen Tag schlafen lassen?« oder – ein Klassiker »Hat das Kind heute wieder den ganzen Tag nur gespielt – oder hat es heute denn auch mal was gelernt?« oder auch »Haben Sie denn selber Kinder?« – solche Äußerungen von Eltern können in den allermeisten Fällen auf einen gemeinsamen Kern gebracht werden, und dieser Kern beinhaltet keinen persönlichen Angriff den Fachkräften gegenüber. »Geht es meinem Kind bei Ihnen gut?«  – diese eigentliche Frage wird von den Eltern hinter den scheinbar spitzfindigen Angriffen verborgen, und diese eigentliche Frage gilt es zu thematisieren, bevor Fachkräfte sich auf eine fruchtund endlose Diskussion über Nahrungsmengen, Schlafdauer und den pädagogischen Wert des Spiels gegenüber vorbereiteten Lernangeboten einlassen. Ich empfehle, diesen Satz tatsächlich zu verbalisieren und somit Gesprächsbereitschaft für die wahren Anliegen und Fragen der Eltern zu signalisieren: »Sie fragen sich, ob es Ihrem Kind bei uns gut geht. Sie machen sich Sorgen, ob Ihr Kind bei uns in all seinen Besonderheiten voller Liebe und Aufmerksamkeit beachtet wird. Sie möchten sicher sein, dass Ihr Kind bei uns all das bekommt, was es für seine Entwicklung und seine Zukunft braucht.« Sie werden überrascht sein, wie dankbar und erleichtert viele Eltern auf diese Worte reagieren. Sie sprechen Eltern aus dem Herzen und zeigen das Verständnis, das sich alle Eltern von den pädagogischen Fachkräften wünschen. Oft ist dann ein offenes und einfühlsames er­zieh­ungs­partnerschaftliches Gespräch darüber notwendig, was Kinder für ihre langfristige Entwicklung brauchen und inwieweit beide Seiten, Fachkräfte wie auch Eltern, ihr Bestes für das Wohl des Kindes geben.

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Elterlichen Anliegen gegenüber Nein zu sagen, die eigene Fachlichkeit zu verteidigen, das fällt vielen Erzieherinnen und Erziehern noch schwer. Dies ergibt sich sicher auch aus der sehr persönlichen Beziehung, die sich über die gemeinsame Verantwortung für die Kinder über eine lange Zeit ergibt. Viele glauben, dass diese persönliche Beziehung nur über ein harmonisches, scheinbar konfliktfreies Miteinander realisiert werden kann. Über die Jahre hinweg entwickelt sich auch ein tiefer Blick in die Familien hinein. Selbst familiäre Schwierigkeiten lassen sich vor den Erzieherinnen und Erziehern kaum verbergen, egal wie sehr man sich als Eltern auch bemühen mag. Was das Kind in der Brotbüchse hat, wie seine Materialien aussehen, wie es gekleidet ist, wie seine Hygiene ist, all dies nehmen Erzieherinnen und Erzieher jederzeit wahr, genauso natürlich wie die unmittelbaren Äußerungen der Kinder im Gespräch, aber auch die Bemerkungen, die die Kinder im Gespräch mit anderen Kindern, mit Puppen oder beim Betrachten von Bilderbüchern machen. Die Erziehungspartnerschaft ist durch dieses ungleiche Kräfteverhältnis immer unter besonderer Anspannung: Eine pädagogische Fachkraft schaut tief in die Familien hinein, wohingegen Eltern von der Fachkraft und deren Leben nahezu nichts wissen. Wenn dann noch Bewertungen auftreten und Eltern sich durch die Fachkraft kritisiert fühlen, können solche unterschwelligen Konflikte schnell eskalieren. Die alte Erfahrung, das Pädagoginnen und Pädagogen uns bewerten dürfen, wir sie aber nicht, teilen alle Menschen aus der eigenen Kita- und Schulzeit. Als Erwachsene werden wir uns jedoch nicht mehr bewerten lassen wollen. So kann eine scheinbar sachliche Bemerkung einer Pädagogin oder eines Pädagogen von Eltern schnell als persönlicher Angriff missverstanden werden und dazu führen, dass alte Erfahrungen und Verletzungen an dieser Fachkraft quasi abgearbeitet werden, ein Phänomen, das die Psychologie als Übertragung kennt. Darauf mit Gegenübertragung zu reagieren, das heißt, als Fachkraft dann all die angesammelten negativen Erfahrungen mit Eltern in genau dieser Situation abzuarbeiten, ist sehr verlockend, führt aber häufig in einen dauerhaften Konflikt mit manchen Eltern. Dann gilt es sich selbst erneut daran zu erinnern: »Sie tun es nicht, um mich zu ärgern!« und auch den Eltern gegenüber klarzumachen: »Ich wollte Sie nicht ärgern, ich bin Ihnen mit mei-

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nem Anliegen offensichtlich persönlich zu nahe getreten und habe da einen wunden Punkt bei Ihnen berührt. Bitte lassen Sie uns einen neuen Gesprächsanlauf nehmen und gemeinsam überlegen, wie wir – trotz persönlicher Differenzen – erziehungspartnerschaftlich zum Wohl des Kindes zusammenarbeiten können.« Dies führt mich zur zweiten Überschrift, unter die die Erziehungspartnerschaft mit Eltern gestellt werden kann: 6.3.3 »Erziehungspartnerschaft ist wie Dirty Dancing«

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mines Eltern kommen nie – »Typisch, beim Elternabend fehlen wieder die, die es eigentlich brauchen würden.« ias Papa ist weg – »Dem Kind fehlt schon der Vater, das merkt man sehr.«

Können Sie sich noch an Dirty Dancing erinnern? Es lohnt sich, diesen Film noch einmal im Team gemeinsam zu schauen und dabei für die Erziehungspartnerschaft mit Eltern einen neuen Blick zu gewinnen. Erziehungspartnerschaft mit Eltern ist ein enges, gemeinsames Tanzen. Es gelingt am besten, wenn einer die Führung übernimmt und ein Prinzip immer beachtet wird: »Es gibt deinen Tanzbereich, und es gibt meinen Tanzbereich!« In der Erziehungspartnerschaft mit Eltern fällt die Führungsrolle den pädagogischen Fachkräften zu. Ihre Aufgabe ist es, die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit allen Eltern zu suchen. So ist es gesetzlich vorgeschrieben und in den Bildungsplänen der Bundesländer und in den darauf beruhenden Konzeptionen der Einrichtungen festgeschrieben. Erziehungspartnerschaft ist mit allen Eltern einzugehen. Es geht dabei nicht um persönliche Sympathie und Antipathie, und so ist es auch keinesfalls notwendig, alle Eltern zu mögen oder gar mit ihnen befreundet zu sein, um mit ihnen partnerschaftlich zusammenzuarbeiten. Im Gegenteil, manchmal schiene es mir sogar leichter, mit allen Eltern zusammenzuarbeiten, wenn etwas mehr Abstand gewahrt werden würde. Ich sehe es kritisch, dass Eltern und Fachkräfte in den Einrichtungen sich duzen, miteinander befreundet sind oder sogar Freizeit miteinander verbringen. Eine kritische Auseinandersetzung über

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das Wohl des Kindes ist dadurch eher behindert. Sie spiegelt auch nicht die geforderte pädagogische Professionalität wider, sondern gibt eher dem schon oben beschriebenen »Ja, aber« der Erzieherin als »kuschelige Bastel- und Betreuungstante« Vorschub. Würden Eltern die Lehrerinnen und Lehrer ihrer Kinder einfach so duzen? Würden Sie mit ihnen befreundet sein oder Freizeit mit ihnen verbringen? Schon daran wird deutlich, wie leichtfertig und schnell Erzieherinnen und Erzieher ihre professionelle Distanz verlieren, die von Lehrerinnen und Lehrern ganz selbstverständlich gepflegt wird. Die Führung in der Erziehungspartnerschaft zu übernehmen, bedeutet auch, immer wieder und erneut den Kontakt zu Eltern zu suchen, mit denen bisher wenig Kontakt besteht oder wo der Kontakt durch einen Konflikt in der letzten Zeit stark nachgelassen hat. Die Initiative zur Versöhnung, zum nächsten Versuch, ist dabei von den Fachkräften zu starten. Längerfristig ergeben sich erfahrungsgemäß sogar sehr produktive und intensive Erziehungspartnerschaften mit den Eltern, bei denen zunächst eher eine kühle und distanzierte Kontaktaufnahme erfolgte, wohingegen sich manch ach so sympathische Mutter und manch total netter Vater längerfristig als schwierige Partnerin oder schwieriger Partner in der Erziehungspartnerschaft entpuppten. »Mein Tanzbereich  – dein Tanzbereich«  – so wie beim Dirty ­Dancing ist diese Abgrenzung auch in der Erziehungspartnerschaft eine grundsätzliche Anforderung, die über den Erfolg oder Misserfolg des gemeinschaftlichen Tanzens entscheidet. Erzieherinnen und Erzieher sind in der Verantwortung dafür, wie die Bildungs- und Erziehungsarbeit in der pädagogischen Einrichtung aussieht. Innerhalb der pädagogischen Einrichtung sind sie es, die die Arbeit mit den Kindern definieren, pädagogische Ziele formulieren und über die Methoden der pädagogischen Arbeit entscheiden. Eltern sollen über die Ziele und Methoden der pädagogischen Arbeit informiert werden, aber sie haben kein grundsätzliches individuelles Recht, die Ziele der Einrichtungen vorzugeben oder zu ändern. Das elterliche Mitbestimmungsrecht in den Einrichtungen ist ein demokratisches Recht, Eltern sind aufgefordert, sich an die demokratischen Spielregeln zu halten und sich über die demokratisch gewählte Elternvertretung in die

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pädagogische Ausrichtung der Ziele und Methoden der Einrichtung einzubringen. Erzieherinnen und Erzieher haben das Recht, individuelle Einmischungen in die aktuelle Arbeit unter Verweis auf den demokratischen Weg zurückzuweisen. »Wenn Sie – Frau Müller – mit unserer Gestaltung des Mittagsschlafs der Kinder nicht einverstanden sind, so wenden Sie sich bitte mit Ihrer Anfrage nicht an mich, sondern an die demokratisch gewählte Elternvertretung als Ihre Interessenvertretung. Wenn diese sich über die Mehrheitsverhältnisse in der Elternschaft zur Frage des Mittagsschlafs einen Überblick verschafft hat, so kann diese dann das Anliegen an die Kitaleitung herantragen. Dann kann im Kitaausschuss darüber diskutiert werden, wie das mehrheitliche Anliegen der Elternschaft im Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben des Bildungsplans und der Konzeption unserer Einrichtung steht. Einzelwünsche von Eltern zu den Schlafplänen für ihre Kinder werde ich als Erzieherin nicht berücksichtigen.« Haben Sie als Fachkraft den Mut, Eltern gegenüber Ihren Tanzbereich in der Form zu verteidigen? Ich würde es Ihnen wünschen. »Mein Tanzbereich  – dein Tanzbereich«  – dies gilt jedoch nicht nur für die pädagogische Arbeit in der Einrichtung. Eltern haben genauso das Recht, ihre Kinder häuslich so zu erziehen, wie sie es für richtig und angemessen halten. Zur Erziehungspartnerschaft gehört es demzufolge auch, die elterliche Erziehung zu Hause nicht zu kritisieren oder zu hinterfragen. Eltern können zuhause grundsätzlich andere Erziehungsziele verfolgen, als es die Einrichtung tut. Der klassische Erziehungsmythos »Eltern und Pädagogen müssen doch gemeinsam an einem Strang ziehen!« ist fachlich nicht haltbar. Die konzeptionelle Ausrichtung der pädagogischen Arbeit, die Arbeit mit Gruppen und nicht mit Einzelkindern sowie der andere Blick und die anderen Methoden und Materialien der Fachkräfte werden immer zu einer anderen Art von Erziehung führen als sie Eltern – als pädagogische Laien, die emotional mit ihren Kindern tief verbunden sind – leisten. Für die Kinder ist dies im Allgemeinen nicht nur kein Problem, sondern sogar eine ganz wichtige Lernerfahrung. In unterschiedlichen Lebenswelten gelten unterschiedliche Regeln und Erziehungsvorstellungen. Kinder lernen dadurch, dass sie sich zuhause anders verhalten können und sollen als in der Einrichtung und als bei den

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Großeltern, im Sportverein, in der Schule oder in der Freizeit, im Freundeskreis. Dies verstehen sogar kleinste Kinder sehr schnell. Erzieherinnen und Erzieher sind von daher aufgefordert, wohlwollend auf die häusliche Erziehung durch die Eltern zu schauen und nicht vorschnell, direkt oder über kleine Bemerkungen und Kommentare über die Kinder hinweg das elterliche Erziehungsverhalten zu kritisieren. »Na, du hast aber kleine Augen heute, habt ihr doch wieder lange ferngesehen am Wochenende?« oder »Sag mal, magst du deinem Papa nicht mal sagen, dass du für den Buggy ja schon viel zu groß bist?!« Solche Einmischungen in die häusliche Erziehung werden nicht nur von den Eltern mit feinen Antennen registriert und führen dann zu entsprechenden Gegenreaktionen. Schlimmer noch erscheint mir, dass sie bei den Kindern zu einem unauflösbaren Loyalitätskonflikt führen. Kinder bemerken, dass die Personen, die sie über alles in der Welt lieben – die Eltern – und die Personen, die sie auch mögen und mit denen sie einen großen Teil ihres Lebens verbringen – die Erzieherinnen und Erzieher – sich nicht mögen. Nicht nur dass die Kinder aus diesem Dreiecksverhältnis nicht freiwillig raus können. Sie werden auch gezwungen, Position zu beziehen und werden dadurch für einen Konflikt der Erwachsenen instrumentalisiert. Der Bindungsaufbau zu den Fachkräften wird erschwert bis unmöglich gemacht. Von daher gilt, dass Konflikte zwischen Fachkräften und Eltern nie im Beisein der Kinder besprochen werden dürfen. Belastet wird das erziehungspartnerschaftliche Dirty Dancing durch ein Phänomen, das nach wie vor stark in den Köpfen pädagogischer Fachkräfte existiert. Dieses Phänomen wird als »Elternschuldhypothese« bezeichnet. Dahinter verbirgt sich die pädagogische Grundüberzeugung, dass die Ursache für Verhaltens- und Entwicklungsprobleme der Kinder zuallererst in elterlichen Erziehungsfehlern und familiären Schwierigkeiten zu suchen sei. So beginnt die Ursachenforschung zumeist bei den schwierigen Familienkonstellationen »Typisch Einzelkind«, »Alleinerziehende Mutter – dem Kind fehlt schon der Vater.« oder »Das Kind hat zwei Mütter? Na mal sehen, wie lange das gut geht …« »Haben die Eltern da nicht drauf geachtet?!« – Die Suche nach häuslichen Erziehungsfehlern als Ursache für kindliche Auffälligkeiten

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widerspricht aus meiner Sicht grundsätzlich dem selbstbildungsorientierten Charakter moderner Pädagogik. Wenn wir ehrlich davon ausgehen, dass Kinder ihre Entwicklung und ihr Lernen von Anfang an selbst steuern, dann müssen wir auch davon ausgehen, dass sie Fehlwege und Unsinn selbst verzapfen. Eltern sind dem Fehlverhalten der Kinder häufig genauso hilflos ausgeliefert wie die Fachkräfte. Wenn ein Kind beispielsweise andere Kinder beißt, so liegt die Ursache dafür sicherlich nicht in der elterlichen Erziehung. Genauso können Eltern auch kaum unterstützend auf die Erziehung des Kindes weg vom Beißen einwirken – zuhause gibt es nicht mal andere Kinder, mit denen man das Nicht-Beißen üben könnte. »Die Eltern lassen uns häufig mit den problematischen Verhaltensweisen ihrer Kinder allein.« und »Zuhause macht mein Kind das nicht, das ist häufig das Einzige was wir von den Eltern zu hören bekommen!« In diesen »Ja, abers« wird eine falsch verstandene Vorstellung von Erziehungspartnerschaft deutlich, die noch den traditionellen Charakter von Elternarbeit, also der pädagogischen Arbeit an den Eltern (im Sinne von Elternerziehung) hat. »Mein Tanzbereich – dein Tanzbereich« gilt auch und besonders dann, wenn Schwierigkeiten in der Erziehung der Kinder auftauchen. An der Lösung der Probleme müssen die arbeiten, in deren Tanzbereich die Probleme aufgetaucht sind. Verhält sich das Kind auffällig in der Einrichtung, so ist es die Aufgabe der Fachkräfte, mit dem Kind pädagogisch zu arbeiten und Verhaltensalternativen zu entwickeln. Eltern sind darüber zu informieren, aber es ist den Eltern gleichzeitig zu verdeutlichen, dass es nicht ihre Aufgabe ist, für die Einrichtung das Problem zu lösen. Genauso gilt umgekehrt auch, dass die Einrichtung nicht zu Beratung und Hilfe verpflichtet ist, wenn zuhause Schwierigkeiten aufgetreten sind. Wenn das Kind abends schwer einschläft, so muss die Familie nach Lösungen (z. B. Änderungen im Abendrhythmus) suchen und kann nicht die Einrichtung auffordern, das Kind praktischer zu machen. Erzieherinnen und Erzieher sollten hier nicht vorschnell eine beratende Position einnehmen, selbst wenn Eltern auf Ratschläge von den Fachkräften drängen. Pädagogische Fachkräfte sollten eher auf professionelle Beratungseinrichtungen verweisen. Die Ratschläge, die sie selbst geben würden, sind selten professionell, da sie die Situation zuhause

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nie genau einschätzen können. Erzieherinnen und Erzieher sind zumeist auch nicht in der Elternberatung ausgebildet. Sie würden durch Beratung der Eltern auch eine Verantwortung für den Tanzbereich der Eltern übernehmen und so zum einen die Abhängigkeit der Eltern von weiteren Ratschlägen fördern und zum anderen in den Tanzbereich der Eltern hineinagieren. Eine besondere Herausforderung für die erziehungspartnerschaftliche Zusammenarbeit ergibt sich, wenn klinisch relevante Entwicklungsverzögerungen oder Verhaltensauffälligkeiten im Sinne von Störungen mit Krankheitswert auftreten. Dazu zählen wir als Entwicklungspsychologinnen und Entwicklungspsychologen tatsächlich nur einen winzigen Bruchteil auffälligen Verhaltens von Kindern. Nur bei fünf bis zehn Prozent auffälligen Verhaltens würden wir eine längerfristige Entwicklungsproblematik vermuten. Die in Brandenburg entwickelten »Grenzsteine der Entwicklung« (­Laewen, ohne Jahr, Zugriff am 30. 03. 2016) können dafür ein Frühwarnsystem darstellen, das es in den Einrichtungen zu etablieren und mit den Eltern zu besprechen gilt. Wenn echte Entwicklungsprobleme auftreten, so ist eine sehr diplomatische Zusammenarbeit mit den Eltern notwendig, da diese sich oft schwer tun, Entwicklungsprobleme bei ihren Kindern wahrzunehmen oder anzuerkennen. Fachkräfte befinden sich hier in der schwierigen Situation, auf die Mitarbeit der Eltern angewiesen zu sein, da sie selbst ja keine Diagnosen durch Kinderärzte oder Therapeuten veranlassen dürfen. Hier gilt es, im Gespräch mit den Eltern immer wieder konkrete, sachliche Beobachtungen zu schildern und der eigenen persönlichen Sorge über die längerfristige Entwicklung des Kindes Ausdruck zu verleihen und dabei auf vorgefertigte Diagnosen und Urteile grundsätzlich zu verzichten. Versuchen Sie also sachliche Schilderungen wie: »Heute Morgen bin ich im Spielzimmer von hinten an Marie herangetreten und habe Marie, schau, was ich dir mitgebracht habe gesagt. Dazu war ich auf die Knie gegangen, und mein Mund befand sich beim Sprechen in einem Abstand von 30 cm zu Maries Hinterkopf. Maries Kopf blieb nach vorn gerichtet, in ihrem Verhalten konnte ich keine Hinweise erkennen, dass Sie mich wahrgenommen hat. Ich bin daraufhin um Marie herum gegangen und habe meine Hand auf Maries Schulter gelegt. Marie hat aufgesehen, und ihr Blick ging in meine Richtung. Ich habe meinen Satz Marie

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gegenüber wiederholt. Maries Augen gingen in die Richtung meiner Lippen. Ihre Stirn war in Falten gelegt. Ich mache mir große Sorgen, ob Maries Hörvermögen beeinträchtigt ist. Ich bitte Sie, zu meiner und zu Maries Sicherheit, das Hörvermögen von Marie baldmöglichst vom Kinderarzt abprüfen zu lassen. Ich werde Sie nächsten Montag erneut auf meine Sorge ansprechen.«

Solche Äußerungen sind zwar sehr lang, und an manchen Stellen mögen Sie auch etwas technisch klingen. Sie sind aber der Erfahrung nach weit zielführender als pauschale »Ich glaub, Marie hört nicht richtig« oder »Schauen Sie doch nur, wie Marie vom Gruppenleben ausgeschlossen ist.« oder gar ein »Marie ist ganz traurig, dass sie nicht richtig hören kann!« Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass auch die Fachkräfte selbst die Konsumhaltung der Eltern im Hinblick auf die pädagogische Arbeit mit ihren Kindern befördert haben. Elterlichen Anliegen gegenüber Nein zu sagen, dazu gehört Mut, den die wenigsten Erzieherinnen und Erzieher aufzubringen wagen. Auf der anderen Seite bemühen sich die Fachkräfte jedoch, die Eltern in die Arbeit der Kita mit einzubeziehen. Da sollen Eltern mitarbeiten, in dem sie Kuchen backen, Bänke streichen, kaputtes Spielzeug reparieren. Beliebt scheint es auch zu sein, die Großeltern mit einzubeziehen, an Opa-und-Oma-Tagen. Gerade wenn es um landestypische Gebräuche geht, wird auch gern auf Eltern mit Migrationshintergrund zurückgegriffen, die dann in der Einrichtung mit den Kindern folkloristisch tanzen und singen sollen. In der Zeit der knappen Betreuungsplätze soll es sogar Kitas gegeben haben (aus dem Hort ist mir das noch nicht zu Ohren gekommen), die Fragebögen an potenzielle Eltern herausgegeben haben. »Was kann denn die Mutti oder der Vati besonders gut?« – je nach Antwort auf diese Frage haben sich die Einrichtungen dann die Eltern ausgesucht, die aus ihrer Sicht das ElternZuarbeits- und Mitarbeitsrepertoire perfekt zu ergänzen schienen. Wenn die Eltern erst einmal auf diese Art und Weise in die Kita und den Hort einbezogen sind, wird es schwer sein, sie dann – wenn es passt – mitbestimmen zu lassen und dann – wenn es nicht passt – aus der Mitbestimmung heraushalten zu können. Der Aufforderung, sich in den pädagogischen Alltag einzubringen, folgen viele Eltern gern. Ein ohnehin vorhandenes Misstrauen, ob die Kinder in der Einrichtung denn tatsächlich all das bekommen, was sie aus Elternsicht

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brauchen (»Die Eltern fragen ja immer, habt Ihr denn heute wieder nur gespielt, oder habt Ihr denn auch mal was gelernt?«) mag dabei ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Der elterliche Zweifel, dass Kindheitspädagogik im Vergleich zur Schulpädagogik, überhaupt echte fachliche Arbeit ist, wirkt ebenfalls. Dass die pädagogische Arbeit, die für viele Eltern ja ein leistungs- und bildungsorientiertes Kindertraining sein sollte, nun noch weiter heruntergefahren werden soll, es weniger Angebote, mehr Freispiel, weniger Anleitung, mehr Selbstund Mitbestimmung der Kinder geben soll, das löst bei vielen Eltern große Verunsicherung aus. Von daher wollen sie sich einmischen, sich einbringen, ihre Bildungsideen verwirklicht sehen. Sie erwarten Beweise für die Effektivität der Arbeit an ihren Kindern, Produkte, die Fortschritte aufzeigen, bewertbar und vergleichbar sind. In den Ausstellungen der kindlichen Produkte in den Einrichtungen finden die Eltern dafür ihre Bestätigung. »Mein Kind kann bereits …, wie ist es denn bei deinem Kind?«, solche Dialoge von Eltern sind häufig vor den ausgehängten Schneemannbildern und Sonnenblumenbasteleien zu verfolgen. Wenig Zeit verwenden Eltern dabei auf die Betrachtung des Werks selbst. Die Werke werden umgedreht, und es wird das Produkt mit dem Namen und dem Alter des eigenen Kindes gesucht. Warum Eltern so sind? Eltern haben Angst um die Zukunft ihrer Kinder. Den Druck, unter dem Eltern heute stehen, habe ich bereits an verschiedenen Stellen beschrieben. Er resultiert aus dem Glauben an die Leistungsgesellschaft, der Hoffnung auf ein lebenslanges Wohlbefinden ihrer Kinder: Wenn sie doch nur einen guten Schulabschluss, eine erfolgreiche Ausbildung und einen lebenslangen Beruf erlangen. Er speist sich auch aus den eigenen Erfahrungen der pädagogischen Vergangenheit und der Angst, dass diese Erfahrungen selbst heute nicht mehr angemessen und aktuell sein könnten. Offene Arbeit? Keine Angebote mehr? Eine beziehungsorientierte Pädagogik, die weniger auf Training und Anleitung und mehr auf Selbststeuerung des kindlichen Lernens anhand der Neugierde auf die eigenen Themen setzt? Solch eine Pädagogik ist für Eltern im Allgemeinen schwer vorstellbar. »Keine Experimente auf dem Rücken unserer Kinder«, mit solchen Slogans hat sich schon manche Elternschaft in Kitas und Hort gegen vorsichtige Öffnungstendenzen zur Wehr gesetzt. Am Ende stand dann – wie leider so häufig – ein fau-

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ler Kompromiss. Mehr Freispiel an einem Tag und mehr Anleitung und Angebote an anderen Tagen. Solche faulen Kompromisse, die Konflikte zwischen den Erwachsenen vermeiden sollen, nennen sich dann »halboffene Arbeit«, »teiloffene Arbeit« oder »situationsorientiertes Arbeiten« (Oh, mit diesem letzten Begriff werde ich mir viel Ärger mit anderen Fortbildnern einfangen, die gerade den situationsorientierten Ansatz – also das Beobachten aktueller Themen der Kinder und das Ausrichten der Angebote auf diese Beobachtungen – als die Lösung präsentieren). Fremdbildung durch die Hintertür, noch mehr Stress, noch mehr pädagogische Unsicherheit im Schwanken zwischen »Wie viel Selbststeuerung der Kinder ist möglich und wie viel Fremdsteuerung durch die Erwachsenen ist nötig?« Die Gestaltung des pädagogischen Alltags in den Einrichtungen ist eine Aufgabe der Fachkräfte, nicht der Eltern. Eltern muss die pädagogische Arbeit im Tanzbereich der Erzieherinnen und Erzieher nicht gefallen. Sie müssen damit auch nicht zufrieden sein. Ziel der pädagogischen Arbeit ist in allererster Linie die Schaffung bestmöglicher Lern- und Entwicklungsbedingungen der Kinder. Wenn dies darin bestehen könnte, die Zahl der Angebote zugunsten persönlicher beziehungsförderlicher Dialoge mit allen Kindern zu reduzieren, dem selbstbestimmten Freispiel der Kinder den Platz, den Raum und die Zeit zu verschaffen, die ihm gebühren, dann dürfen dafür gern Konflikte mit den Eltern riskiert werden. Selbstbewusste und neugierige, kreative Kinder sollten das Ziel zeitgemäßer Pädagogik sein. Dieses Ziel braucht selbstbewusste, neugierige und kreative Pädagoginnen und Pädagogen, die sich auf ihre fachlichen Stärken besinnen und den Lebensraum Kita und Hort an den Bedürfnissen der Kinder und nicht an den Wünschen ihrer Eltern ausrichten. »Ja, aber Herr Mienert, dann drohen uns die Eltern damit, ihr Kind aus der Einrichtung abzumelden!« Muss es automatisch so sein, dass eine kindgerechte Kita oder ein kindgerechter Hort unüberbrückbare Differenzen mit solchen Konsequenzen für die Erziehungspartnerschaft mit sich bringt? Ich bin sicher, dass fundierte, fachlich versierte, mit Selbstbewusstsein vertretene und kindorientierte pädagogische Arbeit nicht automatisch zu Konflikten führt. Wer weiß, was sich wirklich unter der Wasseroberfläche bei Eltern verbirgt, die mit der Kündigung des Betreuungsplatzes drohen. Dann

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sollen die Eltern schauen, ob es nicht wirklich für sie eine bessere Betreuungseinrichtung gibt. Ein Konfliktgespräch wäre es mir zunächst allemal wert. »Mein Tanzbereich – dein Tanzbereich« – diese Haltung in erziehungspartnerschaftlicher Zusammenarbeit endet dann, wenn in einem der Tanzbereiche das Kindeswohl gefährdet ist oder eine Kindeswohlgefährdung droht. Sollten Sie als Fachkräfte Zeichen einer (drohenden) Kindeswohlgefährdung bemerken, so befinden Sie sich in einer Wächterfunktion für das Kind. Die nun notwendigen Schritte der weiteren Beobachtung und Dokumentation der Zeichen von Kindeswohlgefährdung sowie eine sich möglicherweise anschließende Elternarbeit (im Sinne einer erzieherischen Arbeit an den Eltern) gehören aber in die Hände spezifisch ausgebildeter Fachkräfte. Die meisten Erzieherinnen und Erzieher sind dafür nicht spezialisiert. Sie benötigen ein gutes Netzwerk innerhalb der Einrichtung zu Leitung und Träger sowie zu den dafür zuständigen staatlichen Stellen von Polizei, Jugendamt und Fürsorge. Für viele pädagogische Fachkräfte ist es eine kaum auszuhaltende Erfahrung, Kindeswohlgefährdung zu vermuten und selbst nicht eingreifen zu können oder zu sollen. Bedenken Sie bitte, dass Sie dem Kind weit mehr helfen, indem Sie selbst Ruhe bewahren und den Eltern zunächst weiterhin neutral begegnen. Die insofern erfahrenen Fachkräfte sowie die staatlichen Stellen werden die nächsten Schritte besprechen. Sie als Erzieherin oder Erzieher haben die wichtige Aufgabe, dem Kind in der Einrichtung bestmögliche Bedingungen zu geben. Vor den häuslichen Bedingungen können Sie das Kind im Moment ohnehin nicht schützen. Dass Erziehungspartnerschaft dort endet, wo eine Kindeswohlgefährdung droht oder aufgetreten ist, gilt jedoch natürlich nicht nur für das häusliche Leben der Kinder. Als pädagogische Fachkraft sind Sie genauso in der Verantwortung, Zeichen von Kindeswohlgefährdung durch andere Fachkräfte wahrzunehmen, gezielt zu beobachten und in das Netzwerk zu tragen. Auch pädagogische Fachkräfte verhalten sich kindeswohlgefährdend, manchmal aus Unsicherheit oder Unerfahrenheit, manchmal aus Erziehungstraditionen heraus, manchmal aus Überforderung. Insbesondere bei externalisierenden (also nach außen getragenen) Verhaltensauffälligkeiten von Kin-

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dern, aggressiven Verhaltensweisen, Wutausbrüchen oder gezielten Attacken von Kindern auf andere Kinder sowie Erwachsene greifen einige Fachkräfte zu Verhaltensweisen, die ihre Kompetenzen weit überschreiten und somit kindeswohlgefährdend sein könnten. Der Schutzauftrag anderen Kindern gegenüber, die Aufsichtspflicht und die Schadensvermeidung rechtfertigen keine körperlichen Übergriffe auffälligen Kindern gegenüber. Dazu gehören aus meiner Sicht bereits das feste Anpacken, das sie In-einen-anderen Raum-Zerren, das festhaltende Umarmen oder das Anschreien von Kindern. Wenn Sie dies beobachten, so müssen Sie als Kollegin oder Kollege eingreifen. Körperlich bestrafende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig. Im Zweifelsfall ist bei einer Gefährdung anderer Kinder die Polizei einzuschalten, übrigens unabhängig vom Alter der Kinder (Achtung: »Ja, aber«: »Die Polizei kommt doch bei Minderjährigen sowieso nicht!« oder »Sie wollen doch nicht ernsthaft bei einem Vierjährigen die Polizei rufen?«). Längerfristige Verhaltensauffälligkeiten von Kindern müssen mit ausgebildeten Fachkräften besprochen werden. Mit den Erzieherinnen und Erziehern sind Verhaltensalternativen zu diskutieren, die ohne körperliche Übergriffe auf die Kinder auskommen. So können zum Beispiel alle angegriffenen Kinder den Raum verlassen und nicht das angreifende Kind zum Verlassen des Raumes gezwungen werden. 6.3.4 »Probleme müssen besprochen werden, bevor sie aufgetreten sind!«

S

imon isst kein Schweinefleisch – »Können die Eltern ihre Religion nicht wenigstens aus der Krippe raushalten?«

Eigentlich ist die Zusammenarbeit mit den Eltern doch ganz einfach? Erzieherinnen und Erzieher sollten einfach nichts mehr persönlich nehmen und ansonsten das Prinzip der Nichteinmischung in die gegenseitigen Tanzbereiche verteidigen? Meine bisherigen zwei Überschriften für erfolgreiche Erziehungspartnerschaft klingen für viele Fachkräfte nach großer Distanz zu den Anliegen der Eltern und einer Abgrenzung, die viele als unpersönlich und unhöflich empfinden. Im gemeinsam geteilten Anliegen – der Schaffung bestmögli-

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cher Lern- und Entwicklungsbedingungen für die Kinder – entsteht oft sehr viel Nähe und Vertrautheit. Solche fast freundschaftliche Nähe hat so ihre Tücken. Sie macht es schwer, sich über die vielfältigen Anforderungen und Probleme in der pädagogischen Arbeit sachlich und mit Blick auf das Wohl des Kindes auszutauschen. Drohen die Eltern mit Liebesentzug, geht für viele pädagogische Fachkräfte eine wichtige Quelle der Selbstbestätigung verloren. Sie scheinen stark darauf angewiesen zu sein, von den Eltern jederzeit und immer gemocht zu werden. Das macht angreif- und erpressbar. Erschwerend kommt hinzu, dass viele pädagogische Fachkräfte eine Rückendeckung von der Leitung und den Trägervertretungen in den Auseinandersetzungen mit elterlichen Anliegen und Wünschen vermissen. Mein Tanzbereich – dein Tanzbereich? Viele Träger würden dieses Motto ganz sicher nicht so leicht unterschreiben. Der Druck, es allen Eltern immer recht zu machen, wird dann über die Leitungen an die pädagogischen Fachkräfte weitergereicht. Die Liste der alltäglichen Malaisen und Konfliktthemen mit Eltern ist schier unerschöpflich. »Wann geht denn endlich die Vorschulerziehung der Kinder los?«, »Habt ihr wieder nur gespielt oder auch mal was gelernt?«, »Sie haben einen tollen Job, den ganzen Tag mit Kindern spielen und Kaffee trinken!« Eltern, die ihre Kinder morgens zu spät bringen und am Nachmittag erst nach der offiziellen Schließzeit abmelden. Die leidige Diskussion darüber, ob ein krankes Kind wirklich krank ist und wie aussagekräftig dabei die »Gesundschreibung« vom Kinderarzt ist, die gleich mit dem fiebrigen Kind an die Fachkraft überreicht wird. Eltern, die nie Zeit haben für Entwicklungsgespräche und beim Elternabend nie auftauchen. Andere, die sich dauernd einmischen und immerzu neue Materialien und Spielideen in die Einrichtung bringen. Eltern, die nach dem Verabschieden nicht gehen wollen und so lange Küsschen verteilen, bis das Kind endlich zu weinen beginnt. Der immerwährende Kampf um Wechselwäsche und neue Windeln. Eltern, die panisch reagieren, wenn ihre Kinder schmutzig sind – und was ist mit den Matschhosen? Und wo ist schon wieder die Turnhose des Kindes hin, die hatten Sie doch zu suchen und zu finden versprochen! Eltern, die den Ausschluss bestimmter Kinder aus der Gruppe fordern, weil angeblich das eigene Kind schädlich beeinflusst werde. Eltern, die mit

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Anwälten drohen, wenn ihre Kinder mit Pflastern nach Hause kommen. Die sich in WhatsApp-Gruppen zusammenschließen und in der Elternschaft diskutieren, ob ein männlicher Erzieher denn wirklich so gut für die eigenen Kinder sei, gerade beim Windeln wechseln und so? Die sowieso immer gern vor der Tür der Einrichtung stehen und die Köpfe sorgenvoll wiegen, mit Blick zu den Pädagoginnen und Pädagogen – und natürlich »ist dann überhaupt nichts«, wenn man zum Gespräch einlädt? Ergänzen Sie gern an dieser Stelle alles, was Ihnen ansonsten noch an alltäglichen Konfliktthemen einfällt, und dann nehmen wir uns dieses Sammelsurium noch mal ganz in Ruhe vor, schrittweise, bezogen auf unsere bisherigen Erkenntnisse und mit dem Abstand, den man für die Erziehungspartnerschaft mit Eltern immer wieder einmal braucht. Schritt eins: Das Ziel der Zusammenarbeit von Eltern und pädagogischen Fachkräften ist das Wohl der Kinder, für die eine gemeinsame Verantwortung besteht. Dies ist der einzige Grund, warum Fachkräfte und Eltern überhaupt zusammenarbeiten. Es geht nicht um das Wohl der Erwachsenen, sondern um bestmögliche Entwicklungsbedingungen für die Kinder. Dafür schließen sich die Erwachsenen in einer Partnerschaft zusammen. Die Partnerschaft ist keine private Partnerschaft, die dem eigenen Wohlbefinden dienen soll (wie Ehen, Freundschaften, Lebensgemeinschaften). Sie ist auf die Kinder ausgerichtet und lebt von dem Willen beider Seiten, ihre jeweiligen spezifischen Kompetenzen bestmöglich für das Kindeswohl zur Verfügung zu stellen. Erzieherinnen und Erzieher liefern dabei als Kompetenzen die eigene Fachlichkeit, ihre Kompetenzen in der Betreuung von Kindergruppen, ihre Berufserfahrung, ihr Wissen um die normale Entwicklung von Kindern, ihr kritisch distanzierter Blick auf das Entwicklungsgeschehen, ihre Möglichkeiten, den Kindern einen organisierten Tagesablauf und Materialien zur Verfügung zu stellen, in einem speziell auf Kinder vorbereiteten Ort. Pädagoginnen und Pädagogen haben als Kompetenz weiterhin den Rückhalt eines fachlichen Teams, Aus- und Fortbildungen. Die Kompetenzen der Eltern liegen in der intensiven Bindung an das eigene Kind. Eltern kennen ihre Kinder von Anfang an. Ihr Blick ist in die Zukunft gerichtet, sie begleiten die Entwicklung ihrer Kinder lebenslang. Dafür bieten sie ihre familiären Traditionen, die eigene

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Kultur, die eigene Sprache, großes Verständnis auch bei schwierigen Verhaltensweisen des eigenen Kindes. Beides zusammen tut den Kindern gut. Keine Seite kann die Kompetenzen der anderen Seite wirklich ersetzen. Schritt zwei: Eltern tun nichts von dem, was sie tun, um die Fachkräfte zu ärgern. Eltern wollen keine Konflikte mit den pädagogischen Fachkräften. Trotzdem geraten sie häufig in solche Konflikte, insbesondere immer dann, wenn sie das Gefühl haben, ihrem Kind ginge es in der Einrichtung nicht gut oder ihr Kind bekomme in der Einrichtung nicht all das, was es bekommen sollte. Pädagoginnen und Pädagogen sind dünnhäutig? Eltern nicht viel weniger. Sie werden irrational kämpfen, wenn sie ihre Kinder bedroht sehen. Das ist gut so, und ich würde Eltern auch immer dazu ermuntern, in Konfliktsituationen sich selbst nicht zu Verständnis für die pädagogischen Fachkräfte zu zwingen. Eltern sollen hundertprozentig auf der Seite ihrer Kinder sein. Hinter allen Bemerkungen von Eltern vermute ich von daher zunächst immer die oft unausgesprochenen Fragen, ob das eigene Kind wirklich gut aufgehoben ist, ob es individuell betrachtet wird, ob es von der Erzieherin oder dem Erzieher so gemocht wird, wie es von den Eltern selbst geliebt wird. Die Anspannung, unter der die Eltern in dieser Frage stehen, ist immens. Viele Eltern, insbesondere Mütter, tun sich insgesamt mit der Betreuung ihres Kindes in einer pädagogischen Einrichtung schwer. Bin ich wirklich eine gute Mutter, wenn ich mein Kind zu einer Erzieherin oder einem Erzieher gebe? Wäre das Kind zuhause nicht viel besser aufgehoben? Bin ich eine schlechte Mutter, weil ich mein Kind fremd betreuen lasse? Nicht nur traditionell eingestellte Mütter und Väter geraten früher oder später an solche Auseinandersetzungen im Freundeskreis, in der Familie, mit den eigenen Eltern. Trotz aller Untersuchungen, die längerfristig die positiven Seiten einer pädagogischen Betreuung aufzeigen, der Zweifel ist da, und er bleibt. Von daher empfehle ich allen Fachkräften, diese Diskussion von sich aus anzusprechen. »Sie fragen sich, ob das Kind bei uns in der Krippe, in der Kita, im Hort gut aufgehoben ist. Sie hören von unterschiedlichen Seiten Unterschiedliches darüber, ob Kinder glücklich aufwachsen können, wenn sie fremdbetreut werden?« Bei Vätern besonders: »Sie fragen sich manchmal, ob die Zeit, die Sie mit

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dem Kind haben, ausreicht?« Solche Fragen klingen sehr intim und sollten sicherlich nicht den Auftakt des erziehungspartnerschaftlichen Dialogs darstellen. Ich würde aber empfehlen, sie direkt zu stellen, wenn sie eine Verunsicherung bei den Eltern wahrnehmen, die sich oft in vielen kleinen Fragen des Alltags niederschlägt (»Hat das Kind gegessen?«, »Hat das Kind genug getrunken?«, »Hat das Kind Freunde gefunden?«, »Hat das Kind alle Hausaufgaben gemacht?«). Sie werden überrascht sein über die Erleichterung, die Eltern zeigen, wenn ihnen durch aktives Zuhören angeboten wird, über das zu sprechen, was sie wirklich bewegt. Auch wenn das ursprüngliche Anliegen der Eltern Ihnen wie ein Angriff vorkam (»Denken die Eltern etwa, wir lassen die Kinder in der Einrichtung verhungern oder verdursten?«), Eltern tun es nicht, um Sie zu ärgern. Betrachten Sie die elterlichen Äußerungen immer wohlwollend, unter der Perspektive der Sorge, die alle Eltern haben. Manche Eltern wirken recht hart, verabschieden sich auch nur kurz, der Kontakt zu den Kindern scheint distanziert und unpersönlich? Lassen Sie sich auch davon nicht täuschen. Sie wissen nie, wie es im Inneren der Mutter oder des Vaters aussieht. Manche verabschieden sich eher lange und emotional, manche eher kurz und unpersönlich. Für beide sind dies legitime Möglichkeiten, die Trennung für sich und das Kind gut meistern zu wollen. Manche Mutter wurde schon weinend im Auto vor der Einrichtung gefunden, nachdem sie sich knallhart von ihrem Kind verabschiedet hatte. Ich wiederhole nochmals meine Bitte: Lassen Sie sich nicht auf eine persönliche Auseinandersetzung mit Eltern ein. So etwas passiert schnell, wenn man sich von Elternäußerungen persönlich angegriffen fühlt. Eltern greifen Sie nicht als Person an, sondern in der Rolle, in der Sie sich eben befinden, als Betreuungs- und Erziehungsperson ihres Kindes mit eigenen Kompetenzen und eigenen Zielen. Argumentieren Sie also nach Möglichkeit aus fachlicher Sicht und unter Verweis auf Ihre pädagogische Arbeit, Ihre Konzeption und – das sollten Sie dabei auf keinen Fall außer Acht lassen – unter Verweis auf die gesetzlichen Vorgaben, die in den Bildungsplänen der Bundesländer festgelegt sind. Lesen Sie diese intensiv im Team, legen Sie sich dazu Zitate bereit und scheuen Sie sich nicht, diese als Hinweise auf die gesetzlichen Grundlagen der pädagogischen

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Arbeit auch im Elterngespräch aufzuführen. Die Bildungspläne der Bundesländer sind am Kindeswohl orientiert, und sie liefern somit reichhaltige Fülle an Argumenten, wie die pädagogische Arbeit am Wohl der Kinder ausgerichtet werden kann. Ein Fehler darf Ihnen in allen Auseinandersetzungen mit Eltern nicht passieren: Sie dürfen auf keinen Fall das Kind selbst ins Feld führen oder über das Kind versuchen, Druck auf die Eltern auszuüben. Die erziehungspartnerschaftliche Auseinandersetzung darf nicht auf dem Rücken des Kindes ausgetragen werden. »Schauen Sie mal, wie traurig Ihr Kind ist, wenn sie es wieder zu spät bringen. Es hätte doch auch gern von Anfang an beim Angebot mitgemacht!«, »Theodor, hast du deiner Mama gar nicht erzählt, wie viel Spaß du beim Toben hattest und dass das doch gar nicht schlimm war, als du dir eine Beule geholt hast? Sag deiner Mama doch mal, dass sie sich viel zu viele Sorgen macht!«, solche Äußerungen sind anmaßend, da niemand von uns die Gedanken des Kindes wirklich lesen kann und somit auch niemand außer dem Kind selbst sagen kann, was es denkt und fühlt. Sie sind auch eine gefährliche Quelle für einen Loyalitätskonflikt des Kindes, das aufgefordert ist, Partei zu beziehen, und ahnt, dass es dabei nur verlieren kann. Als Pädagogin oder Pädagoge liegt Ihnen natürlich nicht nur das Wohl eines Kindes am Herzen, sondern das Wohl aller Kinder. Von daher haben Sie eventuell auch das Recht, darauf zu verweisen, dass z. B. ein krankes Kind ein Gesundheitsrisiko für andere Kinder darstellt und deswegen nicht betreut werden kann oder dass eine Sonderregelung für das eine Kind möglicherweise auch Sonderregelungen für andere Kinder nach sich ziehen könnte. Solche Argumentationen sind jedoch heikel. Eltern sind sehr geschickt darin, sich an vergleichbare Situationen zu erinnern, wo es anderen Kindern mit anderen Eltern ja ganz genauso ging und warum man da eine Ausnahme gemacht habe. Prinzipiell fällt es Eltern immer schwer, Verständnis für die Situation der Gruppe und der anderen Kinder zu entwickeln. Sie sind auf ihr eigenes Kind geeicht, und für das Kind ist das auch gut so. »Alle Kinder haben eine vegetarische Woche? Aber mein Klaus braucht doch sein Kotelett!«. Schritt drei: Klare Tanzbereiche schaffen. Sie bestimmen die Regeln in der Tageseinrichtung oder im Hort. Die Eltern bestim-

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men die Regeln zuhause. Erziehungspartnerschaft beruht auf diesen Tanzbereichen, die es zu erkennen und zu respektieren gilt. »Geht es meinem Kind bei Ihnen gut!?«, »Geht es Ihrem Kind bei uns in der Einrichtung gut?«, diese Fragen sind perfekt, da sie das gemeinsam geteilte Anliegen, das Wohl des Kindes, thematisieren. Alle Abstimmung mit Eltern sollte also auf diesen Fragen beruhen. Ist das Kind krank oder vielleicht doch eher gesund? – Was wissen wir darüber, was wir tun können, damit es dem Kind heute gut geht? Wann geht die Vorschulerziehung endlich los? Was können wir tun, damit das Kind auf die Schule und das weitere Leben gut vorbereitet ist? Hat das Kind wieder nur gespielt oder auch was gelernt? Was konnte das Kind heute alles lernen, als es zwei Stunden lang nur mit Lego gespielt hat? Das Kind hat sich heute schmutzig gemacht oder gar eine Beule geholt? Wie viel Spaß hatte das Kind heute, als es sich am Klettergerüst drei Stufen höher getraut hat als noch letzte Woche? »Ein anderes Kind hat ihre Tochter heute gebissen? Sie möchten, dass ich dieses andere Kind von Ihrer Tochter fernhalte? Das werde ich nicht tun, da Ihre Tochter so eine wichtige Lernmöglichkeit für sich verlieren würde, nämlich die Chance, selbstständig Strategien dafür zu entwickeln, wie man reagiert, wenn man gebissen wird und niemand da ist, der einem helfen könnte. Ich habe mich in der Nähe der beiden aufgehalten und war jederzeit bereit einzugreifen, wäre die Situation eskaliert. Aber ich konnte beobachten, dass die Lösungen, die Ihre Tochter selbst gefunden hat, viel alltagspraktischer waren als alles, was ich in derselben Situation hätte tun können.«

Sie sehen, die Gesprächsführung mit Eltern aus erziehungspartnerschaftlicher Perspektive muss immer auf das Erleben und Lernen des Kindes und seine Zufriedenheit ausgerichtet sein, nicht auf die Zufriedenheit der Erwachsenen. Solch eine Perspektive fällt vielen Erwachsenen zunächst schwer. Gerade wenn das eigene Kind augenscheinlich zu Schaden gekommen ist, wird es erfahrungsgemäß sehr schwer, hier etwas längerfristig Positives für das Kindeswohl mit einer aufgebrachten Mutter herauszuarbeiten. Thematisiert wird ja die Selbstständigkeitsentwicklung des Kindes als eines der wichtigsten Erziehungsziele im Sinne des Kindeswohls. Dass Selbstständigkeit auch mit Risiken und Gefahren verbunden sein kann, ist für viele Eltern kaum auszuhalten. Trotzdem lohnt es sich, diese Diskussion mit den Eltern immer wieder neu zu führen, weil die längerfris-

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tige Selbstständigkeit aus meiner Sicht wahrscheinlich das Einzige ist, das wir den Kindern wirklich erzieherisch vermitteln können. Sollten Eltern Wünsche an die Einrichtung äußern, die mit dem Anliegen des Kindeswohls selbst und der längerfristigen Selbstständigkeitsentwicklung des Kindes nichts zu tun haben, so sollten solche Anliegen von den Pädagoginnen und Pädagogen konsequent und mutig zurückgewiesen werden. Wo die Turnhose des Kindes geblieben ist? Ist das Kindeswohl bedroht, wenn seine Turnhose fehlt? Versprechen Sie am besten gar nicht erst, dass sie eine Turnhose suchen würden, auch nicht später, auch nicht, wenn Zeit ist. »Ich werde die Turnhose Ihres Sohnes nicht suchen. Am Eingang der Einrichtung steht eine Fundkiste, dort landet alles, was liegen bleibt. Es steht Ihnen frei, gemeinsam detektivisch auf die Turnhosensuche in der Einrichtung zu gehen.« »Sie möchten, dass ich Ihr Kind mittags nicht so lange schlafen lasse? Dieses Ansinnen weise ich zurück. Ich werde Ihr Kind nicht mittags wach halten, damit es abends für sie praktischer ist. Wenn Ihr Kind nach den Aktivitäten des Vormittags müde ist, darf es bei mir schlafen, bis es aufwacht. Es zu wecken, widerspricht meiner Auffassung vom Wohl des Kindes.« Ob die Eltern nach solchen Äußerungen auf Sie sauer sind? Das kann ich mir gut vorstellen, schließlich brechen solche Aussagen ja mit allem, was sie bisher von der Tageseinrichtung gewohnt waren. Ob der Kontakt zu den Eltern durch solche Klarheit und scheinbare Härte längerfristig belastet wird? Das glaube ich nicht. Erfahrungsgemäß können Eltern sehr gut mit solchen Ansagen leben, wenn sie nachvollziehbar sind und das Wohl des Kindes thematisiert wird. Klare Standpunkte ermöglichen festen Stand und Orientierung. Nettes Wischiwaschi mit den Eltern, sodass wir uns jederzeit mögen, schafft längerfristig eher genau das Gegenteil davon. Das Dirty Dancing mit den Eltern im Gespräch setzt voraus, dass die Tanzbereiche tatsächlich auch immer klar abgegrenzt sind. In jeder Kita und jedem Hort gibt es einzelne Bereiche, wo zunächst gar nicht klar ist, wer hier die Regeln aufstellt und beim Tanzen führt. Erfahrungsgemäß zeigen die Kinder besonders in solchen Bereichen unklarer Zuständigkeiten die merkwürdigsten Verhaltensweisen. Zu solchen unklaren Tanzbereichen gehören häufig der Weg zwischen Hoftür und Kita-Tür, in den Horten der Flur, die Garderobe und im

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Allgemeinen immer der Spielplatz zur Abholzeit der Kinder. Kinder sind wie ausgewechselt, fangen auf einmal an zu toben, obgleich sie den Tag über still waren. Bekommen einen Wutausbruch, wo sie doch eher brav sind. Reißen sich los und wollen nicht nach Hause gehen? Büchsen aus? Hauen oder treten sogar nach den Eltern? Wer sagt in diesen Situationen, was gemacht wird und was nicht? Wer greift ein, wenn die Kinder sich daneben benehmen? Vielleicht ist innerhalb der Pädagogenschaft darüber Klarheit gegeben, aber wurde diese auch tatsächlich mit allen Eltern besprochen? Für viele Eltern ist es sehr wichtig, dass sie diese Zuständigkeiten deutlich besprechen. Verweisen Sie dabei darauf, dass Kinder sich an solchen Orten in Übergangssituationen befinden, an denen sie den Wechsel zwischen den Tanz- und Lebensbereichen hinbekommen müssen. Da in unterschiedlichen Lebensbereichen unterschiedliche Regeln gelten, sind die Kinder aktuell gerade im Konflikt unterschiedlicher Regelanforderungen. Bewerten Sie auf keinen Fall das Verhalten der Kinder in irgendeiner Form als Zeichen dafür, dass die Kinder nicht gern nach Hause wollen oder dass die Mütter und Väter ihre Kinder nicht im Griff hätten. Agitiertes (= unruhiges) Verhalten der Kinder in der Abholsituation oder gar Wutausbrüche sind aus entwicklungspsychologischer Sicht fast nie ein Hinweis auf Konflikte zwischen Eltern und Kind. Ich würde umgekehrt viel eher Ursachen dafür in Konflikten zwischen Tageseinrichtung und Kind vermuten. Die Frage wäre dann nicht, warum das Kind jetzt auf einmal so aufgedreht und wütend seiner Mutter oder seinem Vater gegenüber ist, sondern vielmehr, warum es seine Gefühle von Überforderung und Wut nicht der Erzieherin oder dem Erzieher gegenüber zeigt, obgleich doch die Situation grundsätzlich dem Tanzbereich der Einrichtung zuzuordnen wäre. Warum war das Kind bei der Erzieherin oder dem Erzieher den ganzen Tag so brav? Warum zeigt es seine Emotionen erst, wenn die Person da ist, der sich das Kind wirklich nahe fühlt. Erfahrungsgemäß zeigen alle Menschen ihre gemeinen und verletzenden Verhaltensweisen am ehesten den Menschen gegenüber, denen sie am meisten vertrauen. Für alle belastenden Alltagserfahrungen werden am ehesten die unmittelbaren Familienmitglieder bestraft. In der Einrichtung hat sich das Kind also angepasst gezeigt, da es sich der Erzieherin oder dem Erzieher noch nicht so

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nahe fühlt, dass es sich trauen würde negatives Verhalten zu zeigen. Mama und Papa gegenüber fällt dies jedoch leicht. Schritt vier: Einigkeit im Team erreichen. Erfahrungsgemäß ist gerade dieser Schritt der schwerste. Er ist allerdings auch der einzige, der Ihnen in Zukunft wirklich konkret die Zusammenarbeit mit Eltern erleichtern wird. In Teams, in denen Konflikte aus der Erziehungspartnerschaft mit Eltern berichtet werden, spielen häufig Teamkonflikte eine verhängnisvolle Rolle. Eltern merken sehr schnell, wenn sich die Teammitglieder bei bestimmten Standards nicht einig sind. Es kann den Eltern dann kein Vorwurf daraus gemacht werden, wenn sie die Unterschiedlichkeit erkennen und sich dann jeweils individuell an bestimmte Erzieherinnen oder Erzieher wenden, von denen sie wissen, dass diese ihren Anliegen am ehesten entgegenkommen werden. Machen Sie sich auf einer Ihrer nächsten Dienstbesprechungen gemeinsam an die Arbeit. (Beim Lesen des bisher Geschriebenen fällt mir gerade auf, ich habe Ihnen schon viele Aufträge für die nächsten Teamsitzungen gegeben. Die werden voll mit pädagogischen Diskussionen sein. Gut so, weniger Zeit, die an Nebenschauplätze wie Urlaubsplanung und Sommerfestgestaltung verschwendet werden könnte.) Tragen Sie in Ihrem Team fünf Themen oder Situationen zusammen, bei denen Sie im Alltag häufig mit Eltern in Konflikt geraten. Es ist dabei völlig egal, ob es sich da um Grundsätzliches oder um scheinbare Kleinigkeiten handelt. Wichtig ist nur, dass es Themen sind, die immer wieder, auch mit neuen Eltern in neuen Gruppen zu den bekannten alten Diskussionen führen. Solche fünf Themen könnten zum Beispiel sein: 1. Das Bringen der Kinder – Eltern, die nicht gehen wollen. 2. Das zu späte Abholen der Kinder – Eltern, die erst nach der offiziellen Schließzeit kommen. 3. Krankheiten der Kinder – Eltern, die ihre kranken Kinder abgeben und eventuell sogar eine »Gesundschreibung« vom Kinderarzt dabei haben. 4. Die Zahl der Angebote in der Einrichtung – Eltern, die mehr Vorschultraining wollen und das viele Spielen der Kinder beklagen. 5. Die Fundsachen – Das Suchen von Turnhosen und Spielzeug.

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Denken Sie daran, das sind nur Beispiele. Die Liste der Konfliktthemen kann in Ihrer Einrichtung ganz anders aussehen. Wenn Sie im Team Ihre Liste zusammengetragen haben, müssen Sie sich nun im Team verbindlich darauf verständigen, wie Sie sich zukünftig einheitlich in diesen Situationen verhalten wollen. Die Verbindlichkeit ist dabei das A und O. Sie müssen gemeinsam eine Vorgehensweise entwickeln, die von allen im Team so getragen wird. Ich werde als Vater Müller in Zukunft von allen Teammitgliedern dieselbe Vorgehensweise und Reaktion zu hören bekommen. Diese Einigkeit im Team zu erreichen, stellt erfahrungsgemäß die größte Hürde dar. Diese dann den Eltern gegenüber einheitlich zu kommunizieren, ist dann erstaunlich einfach. Alle Teammitglieder müssen dem nun entwickelten Verfahren zustimmen und das eventuell auch unterschreiben: 1. Eltern dürfen sich beim Bringen der Kinder nicht länger als 3 Minuten im Gruppenraum aufhalten. Eltern, die länger bleiben wollen oder sich länger von ihren Kindern verabschieden wollen, dürfen dies nur auf dem Freigelände. Eine Ausnahme stellt hier nur die offizielle Eingewöhnungszeit dar. 2. Für angefangene 5 Minuten, die die Eltern nach der offiziellen Schließzeit ihre Kinder aus der Einrichtung abholen, müssen die Eltern 5 Euro in die Kaffeekasse der Einrichtung tun. Dieser Betrag ist sofort fällig. 3. Die Einrichtung kann die Annahme von Kindern morgens verweigern, wenn das Kind offensichtlich krank ist. Dies geschieht unabhängig von einer eventuellen Bescheinigung des Kinderarztes. Sollte das Kind im Tagesverlauf Fieber bekommen oder neue Krankheitsanzeichen aufweisen, so werden die Eltern angerufen und müssen das Kind innerhalb von 45 Minuten abholen. 4. In der Einrichtung gibt es kein spezielles Vorschultraining. Vorschulkinder besuchen die zukünftige Schule einmal im Monat und machen sich dort mit der Lehrerin und dem Gebäude vertraut. Schulische Anforderungen wie Lesen, Rechnen, Schreiben, Stifthaltung, Schereschneiden werden in der Vorschulzeit grundsätzlich nicht spezifisch geübt. 5. Für die Fundsachen gibt es eine einheitliche Kiste am Eingang. Kinder und Eltern sind für mitgebrachtes Spielzeug selbst ver-

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antwortlich. Erzieherinnen und Erzieher suchen keine verlorenen Gegenstände. Bitte, auch diese Liste ist nur voller Beispiele. Ihre individuellen Lösungen können völlig anders aussehen. Wichtig ist Folgendes: Von heute an ist diese Liste der wichtigsten Konfliktthemen das allererste, das sie mit allen neuen Eltern besprechen: »Frau Müller, ich freue mich, dass sie sich überlegen, Ihre Kathi bei uns in der Einrichtung anzumelden. Ich würde Ihnen gern die Einrichtung zeigen, aber zuvor möchte ich mit Ihnen fünf Punkte besprechen. Kathi kann sich schon derweil einmal hier umsehen. In der Erziehungspartnerschaft mit Eltern kann es auch Konflikte geben. Wir im Team haben die fünf häufigsten Konfliktthemen zusammengetragen und entschieden, wie wir diese Themen einheitlich handhaben. Ich möchte diese Liste gern mit Ihnen durchgehen und von Ihnen erfahren, ob sie sich auf dieses Vorgehen einlassen können. Es gibt Eltern, die morgens ihre Kinder bringen und sich dann sehr lange noch im Spielzimmer aufhalten. Dadurch haben wir Probleme, mit dem pädagogischen Alltag zu beginnen. Wir als Team haben uns darauf verständigt, dass Eltern sich morgens nicht länger als drei Minuten im Spielzimmer aufhalten dürfen. Wenn Eltern morgens länger mit ihren Kindern zusammenbleiben wollen, so dürfen sie das, allerdings nur auf der Freifläche vor der Einrichtung. Können Sie, Frau Müller, sich darauf einlassen?« Wenn ja, so geht es weiter in der Liste. Wenn eine Antwort einmal Nein ist, dann: »Es tut mir leid, aber dann können Sie Ihre Kathi nicht bei uns anmelden.«

Wenn ein Elternteil ursprünglich allen Punkten zugestimmt hat und nun nach Monaten doch das alte Thema aufkommen lässt: »Wissen Sie, lieber Erzieher, ich hab im Moment große Probleme mit der Kathi. Ihre Puppe ist in der Einrichtung verschwunden und nun weint sie immer bitterlich. Können Sie nicht doch bitte eine Ausnahme machen und mal gründlich nach der Puppe schauen?«– Dann müssen Sie stark sein: »Frau Müller, können Sie sich noch an unser erstes Gespräch erinnern? Da hatte ich Ihnen erläutert, dass wir verlorene Gegenstände nicht suchen. Sie hatten dem zugestimmt. An unserer Vorgehensweise im Team hat sich nichts geändert.« An dieser Stelle wird besonders deutlich, wie wichtig die Einigkeit im Team ist. Ich kann Ihnen garantieren, diese Mutter versucht ein ähnliches Gespräch bei zwei oder drei anderen Kolleginnen und

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»Und basteln dürfen wir dann auch nicht mehr?!«

Kollegen. Ich als Fachkraft muss mich selbst nun darauf verlassen können, dass mein Team sich ebenso äußert. Es steht mir aber als Fachkraft auch frei, die Sinnhaftigkeit einer einmal getroffenen Regelung in einer Dienstberatung erneut zur Diskussion zu stellen und zu schauen, ob die Erfahrungen im Alltag nicht abgeänderte Regeln erfordern. Bis dahin müssen sich alle im Team an die Abmachung halten. »Ja, aber Herr Mienert, so hart kann man doch nicht mit Eltern umgehen. Man kann die Eltern doch nicht so vor den Kopf stoßen.« Bitte denken Sie immer daran, die fachliche Arbeit muss am Wohl der Kinder, nicht am Wohl seiner Eltern ausgerichtet sein. Die Alltagserfahrungen zeigen, dass viele Eltern sehr wohl sehr gut mit solchen klaren Ansagen umgehen können. Sie geben Sicherheit, machen den Alltag vorhersagbar und belasten zumeist die Beziehung nicht – vorausgesetzt, sie wurden tatsächlich mit den Eltern vorher besprochen, bevor das aktuelle Problem aufgetaucht ist. Beziehungsbelastender ist vielmehr das nervige Verhandeln, wenn für ein Problem erst dann Lösungen gesucht werden, wenn das Problem bereits da ist. Das sollten Sie nach Möglichkeit in Zukunft vermeiden.

6.4 Pädagoginnen und Pädagogen haben viel Nachsicht für ihresgleichen Jeder Mensch hat wunde Punkte, aus der eigenen Biografie heraus, den eigenen Kindheitserfahrungen, alten Konflikten mit Mitmenschen und alten Mustern, in die man immer wieder hineinzurutschen droht. Menschen lösen bei Menschen etwas aus, und das wird immer schnell persönlich. Menschen erinnern uns an Leute, mit denen wir einst bestimmte Erlebnisse und Erfahrungen gemacht haben. Über bestimmte Sätze, manchmal sogar einzelne Wörter, über Mimik und Gestik, manchmal sogar schon über einen bestimmten Geruch reaktivieren Menschen bei uns diese alten Erfahrungen und lassen bei uns alten Ärger neu entstehen. Im letzten Kapitel habe ich kurz das Phänomen der Übertragung erläutert, das im Kontakt mit Eltern manches scheinbar zunächst sachliche Anliegen im Gespräch eskalieren lassen kann. Wenn wunde

Pädagogen haben viel Nachsicht für ihresgleichen149

Punkte und eigene Grenzen berührt werden, so reagieren Menschen empfindlich. Es fällt ihnen dann schwer, sachlich beim Anliegen zu bleiben. Sie fühlen sich ertappt und berührt, beginnen sich zu rechtfertigen und selbst anzugreifen. Das Gegenüber, das diese Verhaltensweisen nicht einzuordnen vermag, reagiert selbst überrascht und hat häufig keine andere Möglichkeit, als diese Reaktion als persönlich motiviert zu betrachten und nun seinerseits in Angriffsund Verteidigungsmodus zu gehen. Das besonders Überraschende und dabei so Schwierige mit den wunden Punkten und den eigenen Grenzen ist oft die Heftigkeit und die Unmittelbarkeit, mit der sie in das eigene Handeln eingreifen. Selbst aus guter Laune heraus an einem guten Tag vermag eine einzelne Geste oder ein einzelner Satz meines Gegenübers meine Stimmung völlig kippen zu lassen. Das Gegenüber kann nichts dafür, es hat durch Zufall meinen wunden Punkt berührt und wundert sich nun über die Heftigkeit der emotionalen Reaktion. »Ich als Erzieherin muss doch authentisch bleiben – die Kinder (respektive die Eltern) dürfen gern wissen, wenn es mir schlecht geht, ich möchte mich doch nicht verstellen müssen« – auch dies gehört zu den »Ja, abers«, die mir im Alltag von Kindertageseinrichtungen und Horten immer wieder begegnen. Muss man immer authentisch sein? Darf man immer authentisch sein? Und ist es wirklich sinnvoll, den eigenen Stimmungen im Kontakt mit anderen Menschen nachzugeben? Die Arbeit in der pädagogischen Einrichtung hat dem Ziel des Kindeswohls zu dienen. Das Kindeswohl ist ganz sicher dann besonders gut zu gewährleisten, wenn es den Erwachsenen, die mit den Kindern arbeiten, ebenfalls gut geht. Das Erwachsenenwohl steht aber nicht über dem Kindeswohl. Insofern kann gute pädagogische Arbeit auch einen gehörigen Anteil an Schauspielerei beinhalten. Ich kann Kindern zwar sagen, dass es mir heute nicht so gut geht – aber auf die Qualität der Interaktion mit den Kindern darf sich das dann trotzdem nicht auswirken. Pädagogische Arbeit ist eine berufliche Tätigkeit. Sie beruht auf einer fachlichen Ausbildung, beinhaltet – so hoffe ich jedenfalls – eine Stellenbeschreibung, fundiert auf wissenschaftlichen, pädagogischen Prinzipien, ist ziel- und zukunftsorientiert. Für ihre Tätigkeit hat die Fachkraft einen Arbeitsvertrag unterschrieben, und sie wird dafür bezahlt. Kindheitspädagogik ist

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sicher kein Ort für Menschen mit ungefestigter, unsicherer Persönlichkeit. Sie erfordert sehr viel Kraft, Disziplin, Belastbarkeit und Selbst­reflexion. Wenn diese nicht bereits in der Ausbildung erworben werden, so wird es schwer sein, diese erst im Berufsalltag zu entwickeln. Manche Kolleginnen und Kollegen schildern zwar, sie hätten eine gewisse berufliche Gelassenheit erst im Verlauf zahlreicher Arbeitsjahre entwickeln können, ich selbst glaube aber nicht, dass sie allein eine Folge von Alter und Lebenserfahrung ist. Ich kenne Pädagoginnen kurz vor der Rente, die so gestresst und ungehalten sind, wie sie es immer gewesen waren. Ich kenne solche aber auch unter den ganz jungen Fachkräften, die gerade erst die Ausbildung abgeschlossen haben. Natürlich gibt es genauso das umgekehrte Phänomen. Was ist also zu tun mit den Kolleginnen und Kollegen, die von ihren Empfindlichkeiten nicht lassen wollen, die Qualität ihrer eigenen Arbeit nach der Tagesform ausrichten und ihren Stress durchaus authentisch an den Kindern auslassen wollen? Leiterinnen und Leiter haben mich gelegentlich gefragt, wie sie es wohl schaffen könnten, alle im Team ins Boot zu bekommen, alle zur fachlichen Reflexion ihrer Arbeit anzuregen und auch so manch harten Knochen in der Kollegenschaft davon zu überzeugen, endlich das alte Denken aufzugeben und in die kindzentrierte Pädagogik einzutauchen. Diesen Leiterinnen und Leitern wünsche ich zum einen mehr Mut und zum anderen mehr Härte. Mut zur fachlich strengen Auseinandersetzung, die sich an den konkreten Beobachtungen (mit Datum und Uhrzeit), der wörtlichen Rede von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber Kindern und ihren tatsächlichen Handlungen (nicht den wohlmeinenden Absichten) orientiert. Sie dürfen und müssen die Kolleginnen und Kollegen in der Arbeit überprüfen, durch Hospitationen, Auswertung von Videosequenzen, Einforderung von pädagogischen Begründungen für das fachliche Handeln. Ob man die Leitungen dann dafür mögen wird? Ganz sicher nicht. Aber das ist nicht die Aufgabe von Leitungen – gemocht zu werden. Ihre Aufgabe ist es, für alle Kinder bestmögliche Entwicklungs­bedingungen zu ermöglichen. »Ja, aber Herr Mienert, die Kollegin X ist doch nur noch zwei Jahre bei uns. Sie wird sich nicht mehr ändern.« Aus meiner Sicht muss auch Kollegin X sich dringlichst ändern. Zwei Jahre sind eine

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lange Zeit im Leben der Kinder, die nach wie vor durch die Hände von Kollegin X müssen. »Ja, aber, irgendwie kann ich die Kollegin auch verstehen. Sie hat sehr viel Stress zuhause, ihr Mann ist sehr krank, sie selbst muss sich im Moment sehr viel um ihre eigene Familie kümmern.« Ja, und? So hart das klingt (und mit diesen Zeilen mache ich mir sicherlich nur wenig Freunde), das Privat­ leben der Erzieherinnen und Erzieher darf sich nicht auf die berufliche Tätigkeit auswirken. Alle Kolleginnen und Kollegen im Team bekommen das gleiche Geld und müssen die gleiche gute Arbeit leisten. Können sie dies nicht, so müssen sie über eine Stundenreduzierung, eine Versetzung oder gar den Wechsel des Berufs nachdenken. »Ja, Herr Mienert, wir leisten schon viel Überzeugungsarbeit im Team, damit alle Kolleginnen und Kollegen die kindzentrierte Pädagogik nach dem Bildungsplan verstehen. Wir möchten, dass alle Kolleginnen und Kollegen von dieser Art des Arbeitens überzeugt sind.« Wie lange wollen sie da warten? Die Bildungspläne sind bereits jetzt und schon seit vielen Jahren gesetzliche Grundlage des pädagogischen Handelns. Jede Kollegin, jeder Kollege muss sich an der ihnen innewohnenden Haltung Kindern gegenüber orientieren, die Selbstbildungsarbeit der Kinder unterstützen, die Rolle von Vertrauensperson, Beobachterin und Dokumentatorin kindlichen Lernens aktiv einnehmen. Ob sie diese Rollen verstehen, ist dabei eigentlich unerheblich. Wenn sie es nicht schaffen, ihre Arbeit bereits heute dementsprechend zu gestalten, so muss ihnen unverzüglich ein Wechsel des Berufs nahegelegt werden. In den ersten Jahren meines Fortbildnerdaseins hatte ich selbst die Überzeugung, dass es irgendwie, mit guten Argumenten, viel Zureden, praktischen Beispielen schon klappen würde mit den Verbesserungen. Ich habe dies im Verlauf meiner Jahre langsam abgebaut. Heute habe ich einen anderen Fokus. Ich vertrete meine Positionen gegenüber allen Pädagoginnen und Pädagogen sehr deutlich und fordere sie auf, ihre eigenen Positionen, Handlungen, Einschätzungen fachlich zu begründen. Fachlich bedeutet dabei für mich: pädagogisch am Kindeswohl orientiert. Dabei fällt mir auf, dass die meisten Begründungen keine fachlichen sind, sondern alltagspraktische, an der Reibungslosigkeit und Konfliktfreiheit mit Eltern und Kollegen orientierte Argumente beinhalten. Kinder müssen nicht

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»Und basteln dürfen wir dann auch nicht mehr?!«

praktisch sein. Die pädagogische Arbeit muss nicht einfach und reibungsfrei sein. In meiner eigenen Arbeit versuche ich all die Kolleginnen und Kollegen zu stärken, die dies erkannt haben und ihre Tätigkeit am Wohl der Kinder ausrichten. Die anderen werde auch ich schwer erreichen können. Sie sollen aber nicht die Deutungshoheit und Meinungsführerschaft in den Einrichtungen haben. Ich habe schon manchmal zu starrsinnigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern gesagt: »Ich weiß, dass Sie auch nach unserer Veranstaltung so weitermachen wie bisher. Aber bitte – ganz offiziell – von heute an, halten Sie Ihr Handeln bitte nicht für den Gipfel von Pädagogik. Machen Sie alles weiter wie bisher, aber bitte haben Sie wenigstens ein bisschen schlechtes Gewissen dabei!«

7. »  Nicht mal mehr loben soll man?« – Von der trainingsorientierten zur beziehungsorientierten Pädagogik

7.1 Der alltägliche Kampf um Sieg oder Niederlage

N

oah ist natürlich nicht müde  – »Jedes Kind braucht Mittagsschlaf.«

Der Kampf um die Vormachtstellung Erwachsener gegenüber Kindern ist kein Thema, das allein nur auf traditionellen Erziehungsvorstellungen von »genetischen Reifungsprozessen unfertiger kleiner Menschen, die es zu formen und zu steuern gilt«, beruht. Erzieherische Arbeit mit Kindern ist immer auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Macht und dem eigenen Wunsch, diese Macht gegenüber Kindern durchzusetzen. Die Reflexion von Macht und Kontrolle gehört von daher für mich zu den wichtigsten Anforderungen an pädagogische Aus- und Fortbildungsarbeit. Sie verbirgt sich hinter zahlreichen, der hier betrachteten, »Ja, abers« wie zum Beispiel »Wenn ich dem einen Kind das jetzt erlaube, dann wollen das morgen alle!« »Kinder müssen frühzeitig auch an Regeln und Grenzen gewöhnt werden« oder »Bei uns Erwachsenen kann ja auch nicht jeder machen, was er will«. Traditionelle Erziehungsvorstellungen dieser Art stammen aus einer Zeit von so genannten Kommandofamilien und der kindlichen Unterordnung unter erwachsene Forderungen. Viele der Erzieherinnen und Erzieher sind selbst in Kommandofamilien aufgewachsen, in denen die Eltern Forderungen stellten, denen die Kinder widerspruchslos nachzukommen hatten. Pädagogische Einrichtungen waren häufig von ähnlicher Struktur, mit strengen Erwachsenen, die vorgaben, was zu tun und was zu lassen war und ihre Forderungen auch mit Härte durchsetzen durften. Denen war man selbst als Kind ausgeliefert, immer im Zwiespalt zwischen »es selbst als Kind ja gar nicht anders zu kennen«, »auch die strengen Erwachsenen natürlich zu lieben«, »für Härte von Erwachsenen irgendwie ja auch Verständnis zu haben – denn man

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»Nicht mal mehr loben soll man?«

war ja selbst als Kind auch manchmal ziemlich frech« und scheinbar am eigenen Beispiel bestätigt zu sehen, dass »es uns ja selbst auch nicht geschadet hat, wenn wir manchmal etwas härter angepackt wurden«. Auch dazu wieder eine kleine Episode aus meinem Fortbildungsalltag: In einer Veranstaltung zum Thema »Gewaltfreie Erziehung« diskutieren wir, inwieweit bereits ein kleiner Klaps auf die Hand oder den Po oder sogar bereits das drohende Anheben der eigenen Hand, in Andeutung eines möglichen Schlags, schon Gewalt darstellen und somit in der Erziehung von Kindern unzulässig sind. Ich selbst verdeutliche, dass ich alle diese »Erziehungsmaßnahmen« als falsch und unzulässig erlebe. Dabei treffe ich immer wieder auf rechtfertigende Äußerungen von Kolleginnen und Kollegen, die Gewalt natürlich ablehnen, aber selbst von eigenen Gewalterfahrungen in der Kindheit berichten und diese im Nachhinein zu rechtfertigen scheinen. »Wir sind doch trotzdem groß geworden« – so scheint das Motto bei diesen Kolleginnen und Kollegen zu sein. Ich selbst berichte von meiner eigenen Erziehung, davon, dass meine Eltern, die selbst als Kinder mit Schlägen konfrontiert waren, mich nie geschlagen haben und – trotz aller unvermeidlicher Erziehungsfehler – immer gewaltfrei geblieben sind. Ich berichte auch, dass ich als Kind im Kindergarten einmal eine Plastiktüte über den Kopf gezogen bekam, da ich angeblich zu viel gequatscht hätte – »Wer nicht hören will, muss fühlen«. Das Entsetzen darüber ist groß, und trotzdem fällt danach die Äußerung: »Herr Mienert, aber aus Ihnen ist doch trotzdem was geworden, Doktor und Professor heute. Es hat Ihnen also doch auch nicht geschadet.«

Was ist das Ziel von Pädagogik, damals wie heute? Ist es nur ein »Pädagogik soll nach Möglichkeit nicht schaden«? Soll Pädagogik nicht der Entwicklung von Kindern langfristig nutzen und nicht nur »nicht schaden«? An dieser Episode wird mir deutlich, wie schwer es nach wie vor selbst für ausgebildete Fachkräfte ist, selbst erlebtes Erziehungsverhalten kritisch zu reflektieren, Verhaltensalternativen zu den selbst erlebten Erziehungsmethoden zu entwickeln und diese dann auch im Stress des Alltags zu bewahren. Selbst wenn traditionelle Erziehungsmethoden wie der kleine Klaps heute zum Glück bei den meisten pädagogischen Fachkräften nicht mehr anzutreffen sind, so sind im Alltag nichtsdestoweniger viele Erziehungsmethoden zu beobachten, die sich von ungelernten, elterlichen und traditionellen Erziehungsmethoden nicht unterscheiden. All diese Erziehungsmethoden werden in der Kommunikations-

Der alltägliche Kampf um Sieg oder Niederlage155

theorie der »Gewaltfreien Kommunikation« den Methoden des »Kampfes um Sieg oder Niederlage« zugeordnet. Sie sind grundsätzlich durch das Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen gekennzeichnet. Sie beruhen auf dem Prinzip, dass nur der Erwachsene letztendlich entscheiden darf, was richtig und was falsch ist und seine Ansprüche durchsetzen darf. In der tagtäglichen Kommunikation versucht der Erwachsene durch sie also, die eigene Überlegenheit in jeder Situation zu verdeutlichen, das Kind zu besiegen, erwachsene Ansprüche und Forderungen durchzusetzen und dem Kind somit eine Niederlage beizufügen. Hierzu einige Beispiele aus dem Alltag von Kitas und Horten:

A B C D E F G H

nalysieren der Kinder – »Dir fällt es eben schwer, auch mal abzuwarten, du bist ja ein Einzelkind.«

estechen der Kinder – »Wenn du jetzt einen Moment wartest, darfst du nachher als Erstes an die Spielzeugkiste.« anceln – »Caty, ja, ich wollte dir aus dem Buch vorlesen. Ich muss aber erstmal gucken, was Conny im Waschraum treibt!«

iagnostizieren der Kinder – »Daisy ist unser Dickerchen. Sie hat eine Essstörung.«

rpressen der Kinder – »Wenn Ihr nicht sofort still seid, fällt das Fußballspielen heute flach.«

esthalten oder Fixieren von verhaltensauffälligen Kindern ute Ratschläge erteilen – »Wenn der Paul dich wieder haut, dann sagst du einfach ›Halt, Stopp, ich möchte das nicht!‹ zu ihm!« elfen – »Harald, du spielst ganz allein? Hört mal her, Kinder, habt ihr denn den Harald nicht mitspielen lassen?«

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»Nicht mal mehr loben soll man?«

I J K L M N O P Q R S

ronie – »Das hast du aber fein gemacht, mach nur weiter so.« a-Aber sagen – »Heute draußen spielen? Ja, aber habt ihr denn vergessen, dass morgen Muttertag ist?«  alitionen bilden – »Karl, wenn du nicht endlich kommst, dann o können wir alle nicht mit dem Essen beginnen. Kinder, ihr habt doch schon Hunger, oder?«

oben der Kinder – »Du bist doch immer so zuverlässig, bei dir weiß ich den Tischdienst in den besten Händen.« oralisieren – »Wenn das jeder machen würde, wo kämen wir denn dann hin?«

örgeln – »Ach menno Kinder, das macht gar keinen Spaß mit euch zu spielen, wenn ihr immer so laut seid!« bjektivieren – »So, jetzt sprechen alle der Reihe nach, wer hat angefangen? Was hast du genau gesagt? Wie lange hatte Olga das Spielzeug denn bereits …?«

a uschalisieren – »Paul, du bist immer der Letzte, nie hältst du dich an unsere Absprachen, jedes Mal muss ich dir eine Extraeinladung geben.« uengeln – »Komm endlich, Quentin, alle warten auf dich, wie oft muss ich dich denn noch rufen …«

a tionalisieren – »Wir können uns erst richtig miteinander unterhalten, wenn wir uns auch in die Augen sehen können. Dazu musst du erstmal mit dem Weinen aufhören!«

eufzen und Schweigen, vorwurfsvoll Schauen

Der alltägliche Kampf um Sieg oder Niederlage157

T U V W X Y Z

ime Outs erteilen – »Du gehst jetzt raus und kommst erst wieder zu uns, wenn du über dein Verhalten nachgedacht hast.« nterbrechen der Tätigkeit der Kinder – »Ulla, räum das Spielzeug vom Tisch, die Küchenfrau will endlich das Essen austeilen!«

orführen der Kinder – »Schaut doch mal, Viktor benimmt sich wie ein kleines Baby.« arum-Fragen – »Warum hast du das gemacht? Wer hat angefangen? Wer hat Schuld?«

ylophon, Glöckchen, Triangel – »Kinder, habt Ihr denn mein Läuten nicht gehört?«

in und Yangs, Mandalas und Yoga – »Kinder, jetzt machen wir erstmal was zur Entspannung.«

ynismus – »Euren Affenstall hab ich echt satt.«

Ich glaube, diese Liste verdeutlicht, in welchen subtilen Formen Manipulationen von Kindern und der Kampf um die Oberhand im Erziehungsalltag erscheinen können. Fast scheint es, dass da keine Kommunikation mit Kindern im Alltag mehr übrig bleibt. Sogar das Loben von Kindern soll zu den Manipulationstechniken gehören? »Herr Mienert, gut und schön, aber das Loben ist eine pädagogische Grundregel. Belobige das Wunschverhalten, ignoriere das Fehlverhalten, so haben wir es gelernt.« »Und was soll denn falsch sein an Warum-Fragen? Wir müssen doch wissen, was hinter dem Verhalten des Kindes steckt.« »Und schweigen darf man jetzt wohl auch nicht mehr?« Was darf man denn stattdessen? Wie kann eine Kommunikation mit Kindern aussehen, die nicht auf Siege und Niederlagen setzt und Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten befördert? Mit einem sich gesellschaftlich langsam ändernden neuen Bild vom Kind, das die Gleichberechtigung von Kindern und Erwachsenen fokussiert, ist auch in die familiären und pädagogischen Kom-

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»Nicht mal mehr loben soll man?«

mandostrukturen Bewegung gekommen. Es sind Verhandlungsfamilien entstanden, in denen alle Themen des Zusammenlebens von Erwachsenen und Kindern gemeinsam besprochen und geklärt werden. Ziel der Verhandlungsfamilien ist es, die Zufriedenheit aller weitestgehend sicherzustellen. Dabei erkennen die Erwachsenen das Mitspracherecht der Kinder an und räumen ihnen die Möglichkeit ein, für alle sie betreffenden Fragen selbst Vorschläge einzubringen oder sich zwischen verschiedenen Vorschlägen zu entscheiden. Solche Verhandlungsfamilien sind ein neues Phänomen, dem die traditionell gewachsenen Erziehungsmethoden bisher fehlen. Von daher erscheinen Verhandlungsfamilien vielen aus klassisch-erzieherischer Sicht sehr umständlich und unangemessen. Hinter dem Mythos »Kinder können doch nicht alles selbst entscheiden, das überfordert die Kinder doch« versteckt sich häufig der Mythos »Sollen die Kinder auf einmal alles selbst entscheiden? Wird jetzt nur noch gemacht, was die Kinder wollen?« Darüber hinaus sind Verhandlungen mit Kindern häufig auch langwierig, Erwachsene vermissen in den Verhandlungen auch die erwachsene Vernunft bei den Kindern, sie befürchten unvorhersehbare Risiken und scheinen gleichzeitig immer zu wissen, welche Gefahren drohen und wovor die unreifen, unerfahrenen Kinder geschützt werden müssen. Oftmals fehlt es auch konkret an methodischem Wissen. »Können denn wirklich Verhandlungen mit Kindern geführt werden?«, »auch mit Kleinst- und Krippenkindern? Die verstehen das doch noch gar nicht«, und selbst wenn, »wie soll das denn aussehen«? Traditionelle Erziehungsmethoden des Kampfes um Sieg oder Niederlage sind demgegenüber viel vertrauter, pädagogische Fachkräfte wie auch Laien haben sie selbst tausendfach erfahren, sie sind quasi in Fleisch und Blut übergegangen. Erziehungsmethoden, die auf der beziehungsorientierten (oder gewaltfreien) Kommunikation beruhen, sind demgegenüber künstliche Techniken, die von Kommunikationstheoretikern erst entwickelt werden mussten. Sie kommen im alltäglichen Leben so gut wie nie vor, müssen von daher erst erfahren und geübt werden. Die Techniken der Manipulation sind demgegenüber allgegenwärtig, verfügbar, entsprechen dem nach wie vor landläufigen Gedanken kindlicher Unterordnung und versprechen scheinbar schnellen Erfolg in Auseinandersetzungen mit Kindern.

Jeder macht, was er will159

Beziehungsorientierte Methoden erfordern somit viel Disziplin und Haltung den Kindern gegenüber. Sie beruhen auf sachlicher Beobachtung der aktuellen Situation, auf einer neutralen Schilderung dieser Beobachtung und auf dem Angebot, über die neutrale Situationsschilderung hinaus mit dem Kind in eine Beziehung zu gehen. Wenn es dem Erwachsenen vordergründig darum geht, die Situation in seinem eigenen Sinne zu lösen und in der Auseinandersetzung mit dem Kind einen Sieg davonzutragen, so lassen sich Kommunikationstechniken der beziehungsorientierten Methode natürlicherweise nicht verwenden. Sollte der Erwachsene es dennoch tun und auf diese Techniken zurückgreifen, so werden sie vom Kind als Manipulationstechniken erkannt, und das Kind wird versuchen, sich dem Gespräch zu entziehen: »Kinder, ich muss euch mal ganz ehrlich sagen, wenn Ihr immer mit den Fingern im Essen herumstochert, so macht mich das ganz traurig!«

7.2 Beziehungsorientierte Pädagogik heißt nicht: Jeder macht, was er will

X

aver, Xenia x-beliebig  – »Bei Ihnen können die Kinder wohl machen, was sie wollen.«

Wenn wir über die Verhandlungen mit Kindern und die beziehungsorientierte Pädagogik sprechen, so fällt mir häufig auf, dass die Angst von pädagogischen Fachkräften vor Mitbestimmung, Partizipation und Demokratie in den Einrichtungen auf der Annahme beruht, dass diese Begriffe mit Anarchie und »Jetzt wird nur noch gemacht, was die Kinder wollen« verwechselt werden. »Gewinnen denn nun immer nur die Kinder?«, »Wird jetzt immer nur noch das gemacht, was die Kinder wollen?« – Der Gedanke, dass es in den alltäglichen Auseinandersetzungen mit Kindern immer ums Gewinnen oder Verlieren gehen muss und dass es am Ende einer Auseinandersetzung immer nur einen geben kann, der zufrieden aus dem Gespräch geht, sitzt bei vielen pädagogischen Fachkräften tief. Vielen fällt es schwer sich vorzustellen, dass man sich auch als Erwachsener mit Kindern streiten kann, ohne dass es am Ende

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»Nicht mal mehr loben soll man?«

einen »Sieg«, eine »Lösung«, eine neue »Regel, an die sich nun alle halten müssen«, eine »Vereinbarung« oder eine »Verbesserung« geben muss. Noah will mittags nicht schlafen – wie bringe ich ihn nun dazu, mittags doch gern und freiwillig zu schlafen? Lennart will nicht aufräumen – wie schaffe ich es, ihn doch zum Aufräumen zu bringen? Ornella hält keine Ordnung – wie kriege ich sie dazu? Und Rike, die keine Roten Rüben mag? Wenn ich sie doch zum Kosten bewegen kann, vielleicht schmecken sie ihr ja sogar? Und vielleicht ist sie mir am Ende ja sogar dafür dankbar, dass ich sie angeregt habe? Woher will sie denn überhaupt wissen, ob ihr die schmecken, wenn ich sie nicht dazu gebracht habe? Heißt beziehungsorientierte Kommunikation nun, dass Noah eben nie mehr schlafen muss und mittags machen kann, was er will, dass Lennart nicht mehr aufzuräumen hat und Ornella nicht mehr Ordnung halten muss? Dass Rike vielleicht ab heute gar nichts mehr in der Kita isst und ich das gut finden soll? Wo ist denn nun die Lösung? Die Lösung würde aus meiner Sicht nur darin bestehen können, dass es bei manchen Problemen eben nicht sofort eine Lösung geben wird oder gar geben muss. Was am Ende eines Gesprächs herauskommt, ist zunächst völlig offen. Wichtiger als das Festhalten einer verbindlichen Lösung ist es aus meiner Sicht, dass tatsächlich die Sichtweisen von Erwachsenem und Kind ausgetauscht werden und beide Seiten ihre Motive für ihr Verhalten und ihre Forderungen offenlegen können, ohne dass sie dafür kritisiert oder bewertet werden. Die beziehungsorientierte Gesprächsführung mit Kindern ist demzufolge nicht lösungsorientiert, sondern sie ist, wie der Name es ja bereits verrät, beziehungsorientiert. Sie stellt hohe Anforderungen an die Selbstreflexion der lösungssuchegewohnten Erwachsenen, die häufig noch heimlich, still und leise die Hoffnung in sich tragen, dass ein kurzer Wortwechsel mit Kindern dafür genügen könnte, die Kinder dazu zu bekommen, sich erwachsenenwunschgemäß zu verhalten. Insofern stellt sie eben auch keinen manipulatorischen Trick dar, wie man – jetzt noch moderner und effektiver – die Kinder zur Räson bringen könnte. Im Gegenteil, die Anforderungen an ihre Anwender sind hoch.

Beziehungsorientierte Pädagogik braucht Zeit161

7.3 Beziehungsorientierte Pädagogik braucht Zeit »Ich muss immer sofort reagieren.« »Ich muss immer sofort richtig reagieren.« »Ich muss für jedes passende Problem immer sofort gleich die richtige Lösung parat haben.« »Ich bin doch die Fachkraft, von mir wird man erwarten, dass ich immer sofort für jedes Problem gleich die richtige Lösung habe.« Manchmal möchte ich in meinen Gesprächen mit pädagogischen Fachkräften nur meine Hände begütigend auf die Schultern meiner Gegenüber legen, ihnen tief in die Augen schauen und ihnen den Ratschlag geben, den mir schon meine Mutter immer dann gegeben hat, wenn die ganze Welt über uns zusammenzubrechen drohte. In solchen Augenblicken hat sie mir nur tief in die Augen geschaut und gesagt: »Malte, jetzt machen wir erstmal nüscht!«. Dieses Prinzip, das ich inzwischen das Birgit-Mienert-Prinzip der Kommunikation genannt habe (natürlich benannt nach meiner niederschlesisch mundartlich geprägten Mutter) stellt für mich eine der Grundvoraussetzungen für eine beziehungsorientierte Kommunikation nicht nur mit Kindern, sondern zwischen allen Menschen dar. Kein Problem, das an mich herangetragen wird, kann so entsetzlich sein, dass ich sofort reagieren müsste. Kein Gelehrter/keine Gelehrte kann so weise sein, dass er oder sie sofort die richtige Lösung wüsste. Und kein Mensch kann von mir erwarten, dass ich sofort und richtig reagiere, wo offenbar vorher verzögert und falsch reagiert wurde. Ich würde allen pädagogischen Fachkräften empfehlen, prinzipielle Probleme, die im Alltag aufgetreten sind, grundsätzlich erst nach einer überschlafenen Nacht zu thematisieren. Eine Nacht drüber schlafen, das hat wundersam heilende Wirkung. Ist das Problem nach einer Nacht immer noch so dramatisch? Dann kann jetzt in Ruhe und mit frischen Gedanken reagiert werden. Und wenn es nun gar nicht mehr so dramatisch ist? Umso besser, dann kann die Energie für andere Probleme eingesetzt werden. Und wenn tatsächlich gerade unmittelbar Gefahr für Leib und Leben besteht? Bei diesen Gelegenheiten höre ich von den Fachkräften immer wieder die folgenden »Ja, abers«: »Und wenn das Kind nun gerade auf die Straße rennt?« »Und wenn das Kind aber gerade dem anderen Kind in den Oberarm beißt?« oder »Und wenn mir die Kinder gerade den

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»Nicht mal mehr loben soll man?«

Waschraum unter Wasser setzen?« Gerade in diesen Momenten fällt es Fachkräften besonders schwer, Ruhe zu bewahren und möglicherweise erst einmal nicht zu reagieren, vielleicht ja auch nur für 5, 10 oder sogar 20 Sekunden. Die Angst vor der Verletzung einer Aufsichtspflicht, die Angst vor der Gefahr und die Angst vor langwierigen Folgen der Situation, wenn ich sie jetzt scheinbar geschehen lasse, sitzen den Fachkräften tief in den Knochen. Das unmittelbare Eingreifen schadet häufig jedoch mehr, als es tatsächlich nutzt. Kindern wird dadurch die Möglichkeit genommen, selbst mit gefährlichen Situationen umzugehen. Sie verlieren die Möglichkeit, eigene Lösungen für Schwierigkeiten zu entwickeln. Es verschwindet auch die Möglichkeit für andere (beteiligte und unbeteiligte) Kinder, selbst die Situation zu regeln. Offen bleibt häufig auch, ob die Situation tatsächlich unmittelbar gefährlich war, oder ob es nur die eigene katastrophisierende Fantasie war, die die Situation hat im eigenen Kopf so gefährlich wirken lassen. Damit sind wir bereits bei der zweiten Voraussetzung für beziehungsorientierte Kommunikation mit Kindern.

7.4 Beziehungsorientierte Pädagogik geht unter die Wasseroberfläche Immer die gleichen Diskussionen. Es geht um das Anziehen der Kinder, den Anorak, die Matschhosen, es geht um den Mittagsschlaf, den Kostehappen, die vollen Windeln. Es geht um das Hauen und Beißen, das Petzen und das Haareziehen. Immer wieder wird über das Rennen und die Lautstärke diskutiert. Fachkräfte reden sich den Mund fusselig über das Basteln, die Muttertagskarten, die Osterdekoration. Geht es denn darum wirklich? Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen der alltäglichen Kommunikation im Kampf um Sieg oder Niederlage mit meinem Gegenüber und den Methoden der beziehungsorientierten Pädagogik ist, dass es in Ersterer zuallererst immer um irgendwelche Symptome geht, Letztere aber sich relativ wenig um die Symptome kümmert, sondern sich den dahinter liegenden eigentlichen Anliegen widmet. In der Kommunikationsforschung hat sich dafür das Bild des Eisbergs etabliert. Das kennzeichnende Merkmal eines Eisbergs ist seine Spitze, die

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aus der Wasser­oberfläche ragt. Die Spitze des Eisbergs ist für alle gut sichtbar und kann von allen beschrieben und besprochen werden. Sie stellt aber nicht das eigentliche Problem dar. Das eigentlich gefährliche am Eisberg ist das, was tief unter der Wasseroberfläche verborgen ist, die Masse an Eis, mit dem man bereits kollidiert ist, wenn man die Spitze des Eisbergs wahrnimmt. Versuchen Sie sich dieses Bild vom Eisberg zu vergegenwärtigen, wenn Sie die alltägliche Kommunikation zwischen den Menschen näher betrachten. Wir streiten uns fast immer über irgendwelche Symptome, aber über das, worum es eigentlich geht, wo die Konflikte, die Unterschiede, die Unvereinbarkeiten wirklich liegen, wird im Alltag fast nie gesprochen. Im Alltag versuchen wir demzufolge häufig, für das Symptom des Konflikts, also für die sichtbare Spitze des Eisbergs, eine Lösung zu finden, diese Spitze also quasi zu beseitigen – und wundern uns dann, dass wir dennoch aneinander geraten und der Konflikt dann mit einem neuen Symptom wieder an die Wasseroberfläche dringt. Vielleicht ist es die Berufskrankheit eines Psychologen, hinter Alltagskonflikten mit Kindern immer eine tiefere, verborgene Ursache zu vermuten. Mir hat es jedoch im Alltag häufig geholfen, wenn ich meinem Gegenüber (und mir selbst) im Gespräch angeboten habe, nicht nur kleinlich über Symptome zu streiten, sondern der Frage hinter der Frage, dem Problem hinter dem Problem, dem Eisberg unter der Wasseroberfläche auf die Spur zu kommen. Wenn sich ein Mensch mit einem Anliegen an mich wendet, versuche ich von daher, nicht nur das Anliegen selbst zu betrachten, sondern dem Gegenüber auch die Möglichkeit zu geben, über ein mögliches Anliegen hinter diesem Anliegen zu sprechen. Genauso halte ich es auch mit meinen eigenen Anliegen. Warum ist mir das so wichtig? Welchen Punkt bei mir berührt das Anliegen meines Gegenübers, der mich so empfindlich trifft? Wieso fällt mir bei einigen Themen das Finden von Kompromissen so leicht und bei anderen wiederum so schwer? Warum scheine ich bei einigen Dingen immer sofort reagieren zu müssen, und kann mir bei anderen Dingen viel mehr Zeit lassen? Drei beispielhafte innere Monologe von Erzieherinnen und Erziehern mögen dies verdeutlichen:

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»Nicht mal mehr loben soll man?«

»Noah will mittags nicht schlafen – geht es mir bei der Auseinandersetzung mit Noah wirklich um sein Wohlbefinden und den Schlaf an sich? Oder habe ich eher Angst vor den Folgen, falls ich Noah mittags einfach wach bleiben lasse? Die möglichen Fragen seiner Eltern, für die ich keine Antwort habe. Die Blicke der Kolleginnen und Kollegen, wenn ich Noah Sonderrechte einräume, oder die Wünsche der anderen Kinder, dann möglicherweise auch mittags nicht schlafen zu wollen? Wäre es so schlimm, Noah aufbleiben und spielen zu lassen? Würde er dann möglicherweise nie wieder schlafen wollen? Und wie ist es mit meinen eigenen Schlafbedürfnissen? Habe ich als Kind Mittagschlaf machen müssen? Wie ging es mir dabei? Und wie gern würde ich heute als Erwachsener mittags schlafen, darf aber nicht, und treffe nun auf einen Noah, der mittags schlafen dürfte, aber nicht will … Am besten wäre es wohl, wenn Noah einfach mittags schlafen würde wie alle anderen Kinder auch. Dann müsste ich mir alle diese Gedanken nicht machen. Aber er will einfach nicht schlafen. Und er soll doch eine selbstbestimmte Persönlichkeit werden, die selbst wissen soll, wie es ist, müde zu sein und für sich selbst zu entscheiden, zu schlafen oder auch nicht?!« »Lennart soll aufräumen lernen. Er nimmt einfach Sachen aus dem Regal, spielt kurz damit, lässt die Sachen dann liegen und nimmt sich etwas Neues. Dann geht er aus dem Zimmer, die Dinge liegen nach wie vor auf dem Tisch. Lennart ist drei Jahre alt. Natürlich versteht er noch nicht, was Aufräumen genau ist. Aber irgendwann muss er es doch lernen. Wenn ich es ihm heute nicht beibringe, was ist dann später in der Schule? Da soll er doch ordentlich sein und seine Sachen gut sortieren. Und die anderen Kinder? Die wollen doch ordentliches Spielzeug vorfinden. Soll ich es vielleicht lieber selbst wegräumen? Aber es geht doch ums Prinzip. Wenn ich das einmal mache, dann räumt er nie auf. Wir haben doch die Regel, dass jeder sein Spielzeug nach dem Spielen wieder zusammenpackt und an seinen Ort zurücklegt. Scheinbar bin ich sowieso die Einzige hier, die das wirklich interessiert. Meine Kollegin sagt immer, ich soll da lockerer sein. Sie selbst räumt ja auch nicht so besonders viel auf. Ich finde das irgendwie auch unhöflich von ihr, ich bin da anders erzogen worden. Aber mich dauernd mit ihr zu streiten, wegen so was? Sie hält mich eh schon für so unentspannt, ich bin ja auch schon ein bisschen älter als sie. Ich ärgere mich trotzdem über Lennart. Oder ärgere ich mich über mich, dass ich da nicht lockerer sein kann? Eigentlich ärgere ich mich auch über die Kollegin. Warum muss ich mich eigentlich rechtfertigen, wenn ich es gern ordentlich habe. Man ist doch nicht allein auf dieser Welt. Wenn nun jeder seine Sachen so rumliegen lassen würde?« »Rike will keine Roten Rüben probieren. Ich hab ihr wirklich nur zwei kleine Stückchen auf den Teller gelegt, nur mal so zum Kosten. Sie hat sie an den Rand des Tellers geschoben und nur die Kartoffeln gegessen. Ich hab sie gefragt, ob sie die Roten Rüben nicht mag. Sie hat nur mit

Beziehungsorientierte Pädagogik geht unter die Wasseroberfläche 165

den Schultern gezuckt. Dabei war es wirklich nicht viel. Sie hätte auch bestimmt die beiden Stückchen nicht aufessen müssen. Wirklich nur probieren, und wenn sie die Roten Rüben nicht mag, dann kann sie sie doch übrig lassen. Ich würde doch nie einem Kind Essen reinzwingen, so wie früher, als ich den Milchreis aufessen musste und dann erbrochen habe. Die Zeiten sind doch Gott sei Dank vorbei. Ich finde trotzdem, dass die Kinder nicht so mäkelig sein sollten, Rike besonders. Ihre Eltern lesen ihr ja jeden Wunsch von den Augen ab, da darf sie ja alles. Rike hat wohl ihre Eltern gut im Griff, aber das geht doch hier in der Kindergruppe nicht, wir können doch nicht für jedes Kind eine Extrawurst braten. Außer für die muslimischen Kinder, das versteh ich ja, wobei die Kinder doch für die ganze Religion eh noch viel zu klein sind. Jetzt kommen schon die ersten Kinder von Vegetariereltern. Wo soll denn das hinführen?«

Vielleicht ist es an diesen drei Beispielen deutlich geworden: Der vordergründige Kampf um den Mittagsschlaf, das Aufräumen des Spielzeugs und die Roten Rüben ist nur ein Scheinkampf. Vielmehr geht es in diesen Auseinandersetzungen um unter der Wasseroberfläche verborgene Werte, Erziehungsideale, eigene Biografie und Kultur, eigene Gefühle, Ziele, enttäuschte Erwartungen, die eigene Identität und Unsicherheiten, diese gegenüber einem anderen auszudrücken, zu erklären und zu verteidigen. Da uns das Bewusstwerden und das Verbalisieren dieser eigentlichen Beweggründe so schwer fällt, diskutieren wir lieber über das so offensichtliche Symptom. Gleichzeitig lässt sich aber auch erahnen, dass solche tiefer liegenden Konflikte auch nicht verschwinden, selbst wenn Noah nun wie durch ein Wunder auf einmal mittags schläft, Lennart sein Spielzeug aufräumt und Rike Rote Rüben isst. Beziehungsorientierte Pädagogik beruht darauf, solche eigentlichen Beweggründe für das eigene Wollen und Handeln stärker zu thematisieren als die vordergründigen Symptome. Dies setzt aber voraus, dass ich die eigentlichen Gründe tatsächlich auch reflektieren kann und will, dass ich mir der eigentlichen Gründe dann auch wirklich bewusst werde und dass ich daraufhin auch bereit bin, diese im Gespräch mit meinem Gegenüber wirklich zu offenbaren. Bin ich bereit, diese drei oben als Beispiel beschriebenen inneren Monologe einem Kind zu erläutern? Würde ein Kind das überhaupt verstehen? Und wenn ja, was würde ein Kind dann mit diesem intimen Wissen über meine Gedanken wirklich anfangen? Und – sicher noch schlimmer – wie würden die anderen Erwachsenen damit umgehen, die Eltern, die Leitung und gerade auch mein Team?

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»Nicht mal mehr loben soll man?«

7.5 Beziehungsorientierte Pädagogik beruht auf Ehrlichkeit Die Ehrlichkeit in der Offenheit über die bisher verborgenen wahren Beweggründe für das eigene Handeln – das ist die große Stärke in der beziehungsorientierten Pädagogik. Sie gibt mir selbst die Chance, meine eigenen Wünsche und Befürchtungen besser zu verstehen. Sie hilft mir auch dabei, die wirklich wichtigen Anliegen von nur scheinbar wichtigen Anliegen besser zu unterscheiden. Wichtig ist nicht, ob Noah mittags schläft, sondern wie wir den Mittagsschlaf so organisieren können, dass wir wirklich den kindlichen Bedürfnissen gerecht werden. Diese Ehrlichkeit macht jedoch auch verletzlich. In dem Moment, da mein Gegenüber weiß, was mir wirklich wichtig ist, habe ich mich meinem Gegenüber auch geöffnet. Er kann mit diesem Wissen verständnisvoll umgehen und gemeinsam mit mir am eigentlichen Anliegen arbeiten, wenn er es möchte. Andererseits könnte er dieses Wissen aber auch gegen mich verwenden, es veröffentlichen oder gerade diesen wunden Punkt bei mir immer wieder neu berühren, um mich zu provozieren. Gewohnt an den Kampf um Sieg oder Niederlage im Alltag haben wir uns damit abgefunden, unsere eigentlichen Anliegen, Wünsche und Verletzlichkeiten vor unseren Mitmenschen zu verbergen. Mit Leidenschaft diskutieren wir in den Dienstberatungen die Nebenschauplätze von Dienstplangestaltung, Tagesablauf, Organisation des Kartoffelsalats beim Sommerfest und Thema des nächsten Elternabends. Die eigentlichen Auseinandersetzungsthemen von Erziehungszielen, der beruflichen Unsicherheit zwischen pädagogischer Fremdsteuerung der Kinder und ihrem Wunsch nach selbstbestimmtem Lernen, der Frage nach Macht und Autorität, der Ungewissheit in schwierigen Erziehungsfragen, der Hilflosigkeit im Umgang mit herausfordernden Kindern und Eltern sowie der Überforderung, wirklich allen Kindern mit ihren Bedürfnissen gerecht zu werden und trotzdem viel zu schaffen – diese Fragen werden hingegen im Alltag zumeist vermieden. Sie würden Gräben in den Teams eröffnen und die gegenseitigen Verletzlichkeiten sichtbar machen. Sollten solche Fragen tatsächlich einmal auftauchen, so beobachte ich immer ein sehr schnelles Bemühen um Schadensbegrenzung, ein Beteuern

Beziehungsorientierte Pädagogik beruht auf Ehrlichkeit167

»dass das doch alles nicht so schlimm sei«, ein schnelles Suchen einer Kompromisslösung und einen starken Wunsch nach einer einheitlichen Regelung, die alle gut finden und die von allen unterschrieben werden kann und muss. Der Wunsch nach Harmonie zwischen den Erwachsenen ist oft größer als der Wunsch echter Auseinandersetzung mit den Kolleginnen und Kollegen und ein Ringen um Veränderungen, die tatsächlich an dem ansetzen, was unter der Wasseroberfläche schlummert. So ist auch die große Bereitschaft erklärlich, Unsicherheiten in der eigenen pädagogischen Arbeit auf die äußeren Rahmenbedingungen, fehlendes Personal, schlechte materielle und räumliche Ausstattung, Anforderungen der Schule, mangelnde Unterstützung seitens der Träger, elterliche Erziehungsfehler usw. zu schieben. Im Lauf der Fortbildungsarbeit reagiere ich selbst immer empfindlicher auf den Ruf nach besseren Rahmenbedingungen und besserer gesellschaftlicher Unterstützung und Wertschätzung der pädagogischen Arbeit. Was konkret würde denn besser werden, wenn es mehr Personal, mehr Material, größere Räume gebe? Was heißt denn eigentlich besser? Würden die pädagogischen Fachkräfte dann den Kindern mehr Angebote unterbreiten oder weniger? Würden die Fachkräfte sich dann wirklich mehr um die stillen, braven und angepassten Kinder kümmern, die bisher im Alltag zu oft untergehen – oder doch nur noch verstärkter um die auffälligen, lauten und frechen Kinder, um die man sich zumeist längerfristig ohnehin keine Sorgen machen muss. Würden die Fachkräfte dann stärker als bisher miteinander kooperieren oder sich genauso wie bisher die passenden Kolleginnen und Kollegen aussuchen, mit denen man ohnehin am harmonischsten und konfliktfreisten zusammenarbeitet? Würden die Eltern dann tatsächlich verstärkt erziehungspartnerschaftlich einbezogen oder eher nur noch mehr die Eltern, mit denen man ohnehin schon gern zusammenarbeitet. Würden die Kinder mehr Zeit für die Arbeit an den eigenen Themen und Interessen bekommen oder hätten die Erzieherinnen und Erzieher nun nur noch mehr Gelegenheit, sich in das kindliche Spiel einzumischen und ihm ihre erwachsenen Regeln aufzudrängen? Wenn es besser werden soll, so müsste zunächst eine ehrliche pädagogische Auseinandersetzung darüber stattfinden, was bisher schlecht ist und was verändert werden muss. Vielen Fachkräften

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»Nicht mal mehr loben soll man?«

würde in dieser Diskussion deutlich werden, dass es dabei keiner grundsätzlichen Veränderung von Rahmenbedingungen bedarf, um den Bildungsplänen der Bundesländer gerecht zu werden. Es würde nur erfordern, die eigene Arbeit grundsätzlich neu zu überdenken, die eigenen Werte und Erziehungsvorstellungen zu hinterfragen und das eigene pädagogische Handeln stärker als bisher an der längerfristig positiven Entwicklung der Kinder auszurichten, und nicht an einer kurzfristig scheinbar harmonischen, konfliktarmen Zusammenarbeit der Erwachsenen. Sie sehen daran, die beziehungsorientierte Gesprächsführung mit Kindern beschreibt eine Grundhaltung in der pädagogischen Arbeit und keine Gesprächstechnik zur Konfliktlösung. Die Ehrlichkeit, der sie bedarf, zeigt sich nicht im direkten Gespräch mit dem Kind, sondern viel stärker in der Auseinandersetzung mit den beteiligten Erwachsenen. Am Ende kann für mich dann auch stehen, dass die Erwachsenen sich über den Mittagsschlaf, das Aufräumen und den Kostehappen nicht einig sind. Sie können aber das Verhalten der Kollegin besser verstehen, es richtig einordnen und unkonventionelle Wege ermöglichen, die ohne persönliche Niederlagen auskommen. Von einem pädagogischen Team würde ich mir wünschen, dass es sich in einer Dienstberatung gezielt die Zeit nimmt, kritische Bereiche der Kita oder des Hortes in den Blick zu nehmen und sich gemeinsam im Team von den eigenen Empfindlichkeiten in diesen kritischen Bereichen zu berichten. Im zweiten Schritt könnte dann im Team eine Abstimmung gefunden werden, wie diese kritischen Bereiche in Zukunft gehandhabt werden könnten, ohne dass einzelne Teammitglieder wiederholt mit ihren wunden Punkten konfrontiert werden müssten. Dies setzt natürlich eine längerfristige Öffnung der pädagogischen Arbeit voraus, da dieses Vorgehen davon ausgeht, dass Kolleginnen und Kollegen raumübergreifend und situationsübergreifend tätig sein würden. Folgendermaßen könnten die Fragen an das Team (an Beispielen natürlich) lauten: Wer von euch kann es gut aushalten, wenn Kinder im Alter von 0 bis 6 Jahren auch mit dem Essen spielen? Wer von euch isst selbst gern und mit Leidenschaft und genießt es, das Essen spielerisch mit den Kindern zu zelebrieren? Diese Kollegin oder dieser Kollege

Beziehungsorientierte Pädagogik beruht auf Ehrlichkeit169

sollte in der nächsten Zeit die Betreuung der Essenssituation übernehmen und ihren Spaß und ihre Lust am Essen auf die Kinder überspringen lassen. Wer – im Gegensatz dazu – ist bei Essen eher mäkelig, mag lieber absolute Ruhe beim Essen und hält es schwer aus, wenn Kinder ihre Finger im Essen haben, nicht aufessen oder sich zu viel auftun? Diese Kollegin oder dieser Kollege darf und soll sich in der nächsten Zeit nicht in der Nähe der Essenssituationen aufhalten. Wer im Team liebt das Toben, rennt und springt gern, fällt gern auch mal hin und hat keine Angst vor Beulen und blauen Flecken? Dieses Teammitglied übernimmt es, mit allen Kindern, die gern toben, einen richtig schönen Toberaum zu gestalten, in dem ungebremst gerannt und gespielt werden kann. Kinder, die durch die Räume toben, da sie einen großen Bewegungsdrang haben, müssten nun nicht mehr diszipliniert werden, sondern sie würden zu dieser Kollegin oder diesem Kollegen geschickt werden, um sich dort nach Herzenslust austoben zu können. Wer im Team ist beim Thema Rennen, Springen, Toben und Lautstärke eher empfindlich, macht sich viel Sorgen wegen möglicher Verletzungsgefahren und der Aufsichtspflicht beim Toben? Diese Teammitglieder können sich vom Toberaum fernhalten, ohne dass ihnen deswegen ein Vorwurf gemacht wird. Wer klettert gern hoch auf die allerhöchsten Stufen am Klettergerüst, klettert gern auf Bäume und hat auch an der Kletterwand immer viel Spaß!? Das ist das Teammitglied, das die Aufsicht am Klettergerüst im Garten haben sollte. Auch die allerkleinsten Kinder könnten unter Aufsicht dieses Teammitglieds ihre Geschicklichkeit beim Klettern immer weiter steigern, ohne vorschnell eingegrenzt oder ermahnt zu werden. Wer das nicht so gut aushält, der darf sich außer Sichtweite des Klettergerüsts aufhalten und kletternde Kinder an die Kletter­ kollegin oder den Kletterkollegen verweisen. Wer im Team bastelt wirklich gern, mit Leidenschaft, mit hohem Materialverbrauch und immer neuen und unkonventionellen Ideen? Wer malt gern wild, groß, ohne Vorlagen, einfach mit Spaß? Die Gestaltung und Betreuung des Kreativbereichs gehört in die Hände dieser Kolleginnen und Kollegen. Gemeinsam mit den Kindern, die gern basteln und malen, können dort die wildesten Kunstwerke entstehen. Wer das nicht so gern mag, ob Erwachsener oder Kind, muss von heute an in Kita oder Hort nie mehr – das ist das Versprechen – basteln oder malen. Wer werkelt gern, hämmert, bohrt und sägt, mit richtigen Erwachsenenwerkzeugen, an richtigen Materialien? Wer hält es aus, dass dabei auch mal ein Finger gequetscht wird oder ein Pflaster benötigt wird? Bei wem dürfen auch die Kleinen mit den Werkzeugen der Großen arbeiten? Wer hält sich ohnehin in seiner Freizeit am liebsten im Baumarkt auf? Diese Kollegin oder dieser Kollege ist der Bauraumspezialist. Alle Kinder, die gern schrauben und handwerkeln, sind bei diesem Teammitglied am besten aufgehoben. Verletzungsängstliche, überfürsorgliche Erzieherinnen und Erzieher haben ab heute Bauraumverbot.

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»Nicht mal mehr loben soll man?«

Welches Teammitglied liebt die Natur und ist bei jedem Wetter, Wind, Regen, Schnee, Sturm und Sonnenschein immer gern draußen? Von heute an sollte es in der Einrichtung ein Wind- und Wetter-Teammitglied geben. Diese Kollegin oder dieser Kollege braucht die Jacke nie mehr auszuziehen. Von heute an ist immer jemand draußen auf dem Hof, egal was drinnen gerade passiert. Auch während des Morgenkreises, auch während des Frühstücks, des Mittags, des Mittagsschlafs, der Weihnachtsfeier. Einer oder eine ist immer draußen. Jedes Kind kann von heute an jederzeit draußen auf dem Hof spielen, ohne warten oder fragen zu müsse. Diese Kinder können auch draußen essen, draußen schlafen, draußen feiern. Eine solche Erzieherin oder ein solcher Erzieher würde zahlreiche Probleme mit einem Schlag lösen: Kinder, die nicht schlafen wollen, dürfen draußen spielen. Kinder, die nicht beim Essen sitzen bleiben wollen, dürfen draußen spielen. Kinder, denen drinnen langweilig ist beim Angebot oder die gerade andere Kinder ärgern, dürfen draußen spielen. Einen Platzmangel oder fehlende Räumlichkeiten – ab heute gibt es das in der Kita oder dem Hort nicht mehr. Wenn es den Kindern drinnen zu eng wird, draußen ist Platz genug. Kolleginnen und Kollegen, die Angst vor schlechtem Wetter, einer angeblichen Erkältungsgefahr, eingematschten Hosen oder nassen Socken haben, müssen keinen Hofdienst mehr übernehmen. Welche Kollegin oder welcher Kollege liebt den Computer, spielt am liebsten auf seinem Handy oder Tablet herum, beschäftigt sich gern mit den neuesten Trends in Technologie und Wissenschaft, braucht immer die modernsten technischen Geräte, sitzt gern am PC, bastelt an Homepages, durchsucht das Internet? Dieses Teammitglied übernimmt den Bildungsbereich Neue Technologien in der Einrichtung. Hier dürfen schon die Allerkleinsten am Computer spielen, im Internet surfen, Technik benutzen. Gemeinsam mit den Kindern werden von diesem Teammitglied die Regeln und Gefahren der Technikbenutzung besprochen. Keiner muss hier ein schlechtes Gewissen haben, die Technik wird aktiv genutzt. Kolleginnen und Kollegen, die hinsichtlich der neuen Technologien Bedenken haben, verweisen die Kinder an dieses Teammitglied. Gibt es vielleicht auch eine Kollegin oder einen Kollegen mit Fernsehaffinität? Ab heute muss das nicht mehr schamhaft verborgen werden. In der Kita oder dem Hort wird ein Fernsehzimmer eingeführt. Klar, da steht auch ein Fernseher darin. Viel wichtiger ist jedoch die Videokamera, die zu diesem Fernsehzimmer gehört. Im Fernsehzimmer wird nicht Fernsehen geschaut, sondern Fernsehen gemacht. Kinder machen sich hier gemeinsam mit der Fernsehkollegin auf den Weg, ihre eigenen Reportagen aus dem Alltag aufzuzeichnen. Gemeinsam werden Nachrichtensendungen erstellt. Die Aufführungen aus dem Theaterzimmer werden aufgezeichnet, Interviews mit Kindern durchgeführt. Gemeinsam können diese dann im Fernsehen angeschaut werden. Und nun der allerwichtigste Dienst – der Mittagsschlafdienst. Ab heute wird in unserem Team die Kollegin oder der Kollege bestimmt, die oder der mittags

Beziehungsorientierte Pädagogik beruht auf Ehrlichkeit171

total müde ist und eine Erholungspause braucht. Das ist der Mittagsschlaferzieher oder die Mittagsschlaferzieherin. Dieses Teammitglied bekommt die offizielle Erlaubnis, mittags zu schlafen. Ihr großes, gemütliches Bett steht in der Mitte des Schlafbereichs. Alle Kinder, die gern schlafen, können sich mit diesem Teammitglied gemeinsam beraten, wie das Schlafen am meisten Spaß macht. Wer schläft gern warm, wer lieber kühl? Wer braucht eine Decke, wer nicht? Wer schläft lieber im Sitzen, wer lieber im Liegen? Wer kuschelt gern mit der Erzieherin oder dem Erzieher, wer liegt lieber für sich? Wer mag gern Musik, wer lieber eine Geschichte? Wer braucht es eher dunkel, wer mag es lieber hell beim Schlafen? Alle diese Fragen werden die pädagogische Arbeit der Mittagsschlaferzieherin oder des Mittagsschlaferziehers kennzeichnen. Schlafen ist ab heute nicht mehr Pflicht. Die wichtige Botschaft der Schlaffachkraft an alle Kinder ist jedoch: »Jetzt ist Mittagsschlafzeit. Ihr könnt alle schlafen oder wach bleiben. Ich lege mich jetzt hin und schlafe. Ihr dürft machen, was ihr wollt, aber ihr dürft mich in keinem Fall beim Schlafen stören!« Sie werden überrascht sein, wie gern und wie freiwillig auf einmal nahezu alle Kinder schlafen. Der Stress ist weg, die Freiwilligkeit ist da, und die Müdigkeit nach dem Essen ohnehin vorhanden. Erzieherinnen und Erzieher, die noch an die traditionelle Schlafpflicht aller Kinder glauben, die tatsächlich glauben, jedes Kind braucht gleichermaßen seinen Mittagsschlaf, die nach wie vor auf eine »Schlafwache« setzen und alle Kinder zum Schlafen bringen wollen, brauchen und dürfen ab heute keinen Mittagsschlafdienst mehr übernehmen. Auch für andere kritische Bereiche des Kita- und Hortlebens sollte es ähnliche Absprachen innerhalb des Teams geben. Ich denke dabei zum Beispiel an das Singen und Musizieren, die Hausaufgabenzeit, das Kochen oder Vorbereiten der Mahlzeiten, das Tischdecken und Dekorieren, das Vorbereiten von Theateraufführungen, das Geschichtenerzählen oder -vorlesen, die Gestaltung von Feierlichkeiten oder auch die Waschraumsituation, das Spritzen mit Wasser, das Schminken und das Cremen und Gelen. Scheuen Sie sich im Team auch nicht, scheinbare Selbstverständlichkeiten und Kleinigkeiten abzufragen, mit denen manche Kollegin oder mancher Kollege manch überraschende Schwierigkeit hat. Wer putzt wirklich ungern schnoddrige Kindernasen? Wer ekelt sich sehr vor Erbrochenem oder Ausscheidungen? Wer schreibt gern Aushänge, und wer hasst das? Wer geht gern spazieren und wer nicht? Wer hält Star Wars, Prinzessin Lilifee und Dinosaurier besser aus als andere? Bei wem darf man auch boxen, kämpfen, hauen, schießen und ringen? Wer hat damit ein großes Problem? Wer hat viel Fantasie bei neuen Schimpfwörtern? Und wer reagiert da besonders empfindlich? Welche Kollegin oder welcher Kollege wird sich in Zukunft mit Leidenschaft für das Freispiel der Kinder stark machen und darauf achten, dass die Kinder, die einfach nur spielen, in ihrer Tätigkeit nicht gestört und unterbrochen werden. Wer sieht das Freispiel eher als Zeitverschwendung, die vom »echten Lernen« abhält? Das ehrliche Wissen um solche scheinbaren Kleinigkeiten kann viel Entspannung in den Alltag eines Teams bringen. Ich muss nicht alles können, mögen oder machen. Ich weiß aber immer eine Kollegin oder einen Kolle-

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gen im Team, der dies selbstverständlich übernehmen würde. Dort kann ich die Kinder in den entsprechenden Situationen hin verweisen. Ich weiß andererseits von dieser Kollegin oder diesem Kollegen auch um die persönlichen Grenzen und biete meinerseits meine eigene Unterstützung an, wenn deren oder dessen Grenzen berührt werden. All dies geschieht wertungsfrei. Selbst in kleinen Teams ist dieses grundsätzliche pädagogische Gestaltungsprinzip leicht umsetzbar. Manche Bereiche bleiben dann für eine Weile unbesetzt, wenn das Interesse der Kinder an diesem Thema gerade gering ist. Natürlich werden manche Fachkräfte auch gleichzeitig für zwei oder drei dieser Themenbereiche zuständig sein. Der Themenfokus kann sich jederzeit verschieben.

Sie sehen, Grundlage all dieser Bemühungen ist es, für die Kinder immer die Aufsichtspflicht zu gewährleisten und sie gleichzeitig davon zu entlasten, persönlichen Empfindlichkeiten von Kolleginnen und Kollegen in einzelnen Lebensbereichen quasi ausgeliefert zu sein. Die Freiheit und Selbstbestimmung der Kinder in diesen Bereichen steigen, der erlebte Spaß auch (da die »Spaßbremsen« nicht mehr in der Nähe sind). Die Beziehung zu den Kindern wird entlastet, da weniger gemeckert und weniger gekämpft werden muss. Nicht jede Erzieherin oder jeder Erzieher kann und muss alles im Kita- und Hortleben mit der gleichen Leidenschaft vertreten und leben. So wie die Kinder können auch die Teammitglieder ihren individuellen Interessen und Themen viel stärkeren Raum geben und dort aufblühen, wo sie wirklich mit Spaß und Leidenschaft dabei sind. Sie werden noch einen weiteren, sehr pädagogischen Effekt dieser Art der ehrlichen Aufteilung des Alltagslebens bemerken: Kinder lernen durch das Modell der Erwachsenen, dass nicht jeder in jedem Bereich gleichermaßen gut sein muss. Jeder darf seinen individuellen Interessen und Themen nachgehen, die Großen wie die Kleinen. Andererseits weiß ich als Kind natürlich auch, wo sich meine Lieblingserzieherin, mein Lieblingserzieher gerade aufhält. Wenn ich gern persönliche Zeit mit dieser Erzieherin oder diesem Erzieher verbringen möchte, dann kann ich als Kind diese Kollegin oder diesen Kollegen bei seinem oder ihrem Thema besuchen. Manchmal passiert dabei sogar das Unglaubliche: Selbst, wenn ich als Kind nicht gern bastele, so lässt doch die Nähe zu meiner Lieblingserzieherin oder meinem Lieblingserzieher im Kreativbereich den Funken für

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eine Zeit bei mir überspringen. Ich bastele dann gern mit, weil ich die Nähe zu dieser Person genieße und diese Person ihre Leidenschaft für das Basteln für eine Zeit auf mich überspringen lässt. Viel haben wir selbst als Kinder an Themen von Erwachsenen gelernt, die einfach mit Leidenschaft gerade das gemacht haben, wofür sie brennen. Das kann dann sogar Mathe oder Chemie, Russisch oder Statistik sein, der Spaß und die Leidenschaft wirken ansteckend. Sie selbst stellen dabei das pädagogische Angebot dar, nicht die Tätigkeit, die Sie gerade ausüben oder das Produkt, das Sie gerade erzeugen. Sie fragen sich gerade, was das mit dem Thema der beziehungsorientierten Pädagogik mit Kindern zu tun hat? Die beziehungsorientierte Pädagogik mit Kindern lebt von der Vorbildwirkung der Erwachsenen. Kinder beobachten ganz genau, wie wir Erwachsenen uns miteinander auseinandersetzen. Die Methoden des Kampfes um Sieg oder Niederlage, die ich von A bis Z beschrieben habe, sind ein alltäglicher Bestandteil der Kommunikation auch innerhalb des Teams, mit der Einrichtungsleitung, mit den Eltern, mit der Schule oder dem Träger. Ehrlichkeit über die eigenen Absichten, ein Offenlegen der eigenen Verletzlichkeiten und Empfindlichkeiten unter der Wasseroberfläche, ein Angebot, sich nicht mehr über kleinliche Symptome zu streiten, sondern sich darüber auszutauschen, wo die eigentlichen Probleme und Konflikte verborgen liegen, fällt vielen von uns schwer – einfach deshalb, weil wir selbst es bei unseren Kommunikationsvorbildern nie erlebt haben. Lassen Sie uns einen Anfang damit machen und den Kindern dies als ehrliches Angebot vorleben. So können sie von uns lernen, selbst auch ehrlich über ihre eigenen Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten Auskunft zu geben und von ihren wahren Gefühlen, Gedanken und Zielen zu berichten. Kinder haben genauso ihre persönlichen Grenzen wie die Erwachsenen auch. So wie Sie sich im Team auf der Dienstbesprechung über ihre wahren Interessen und Leidenschaften wie auch über ihre Empfindlichkeiten und wunden Punkte ausgetauscht haben, so steht nun im zweiten Schritt ein ähnliches Gespräch in Ihrer Kindergruppe an. Fragen Sie die Kinder genau dieselben Fragen, die Sie zuvor im Team diskutiert haben. Berichten Sie ehrlich von Ihren eigenen Schwierigkeiten und ermuntern Sie die Kinder dazu, es genauso zu tun. Seien Sie fair mit

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»Nicht mal mehr loben soll man?«

dem, was Sie von den Kindern erfahren, verwenden Sie die Äußerungen der Kinder niemals – auch unter größtem Stress nicht, auch nicht ironisch, auch nicht lustig-spaßig – gegen die Kinder. Sie verlieren sonst im Handumdrehen, durch eine einzige unbedachte Äußerung, die Beziehung, die Sie durch die gegenseitige Ehrlichkeit in der beziehungsorientierten Kommunikation mit den Kindern gewinnen können. Dies gilt natürlich genauso für Ihren Umgang mit den Erwachsenen im Team und den Eltern. Ein kleiner Witz, der auf persönlichen Unzulänglichkeiten meines Gegenübers beruht, ist schnell erzählt und kann in seinen Auswirkungen für die gegenseitige Kommunikation verheerend sein. Er würde das Gegenüber zu Gegenmaßnahmen zwingen, die Wasseroberfläche friert ein und der Kampf um Sieg oder Niederlage beginnt erneut. »Herr Mienert, das kann ich mir bei Hort- und Schulkindern ja vorstellen, aber doch nicht bei Krippen- oder Kitakindern. Die sind doch dafür noch viel zu klein. Die können sich doch noch gar nicht sprachlich ausdrücken.« Dieses Argument gegenüber einer ehrlichen, beziehungsorientierten Kommunikation mit Kindern habe ich oft gehört. Es lässt mich, ehrlich gesagt, immer etwas ratlos zurück. Wann wollen wir denn anfangen, ehrlich mit den Kindern zu reden? Wenn die Sprachentwicklung – aus unserer Sicht – ausreichend genug vorangeschritten ist? Für mich ist der Hinweis, dass die Kinder es nicht verstehen würden, schwer nachzuvollziehen. Soweit ich weiß, geht das Sprachverständnis der Sprachproduktion lange voraus. Die Kinder lernen also unsere Sprache, die Sprache des Kampfes genauso wie die beziehungsorientierte Sprache von Anfang an, lange bevor sie selbst sprechen können. Sie erfahren damit von Beginn an eine Haltung, die sie unmittelbar verinnerlichen. Kommunikation kann Kampf um Vormacht und Sieg sein, oder sie kann offenbaren und ehrlich sein. So wachsen unsere Kinder auf. Der Hinweis, die Kinder könnten sich sprachlich noch nicht entsprechend ausdrücken, greift genauso kurz. Ich erwarte nicht, dass ein Kind sich auf meine Äußerungen hin dezidiert, korrekt, tief reflektiert äußert. Vielleicht hört mir das Kind noch nicht einmal bis zum Schluss zu, verliert scheinbar das Interesse am Gespräch, da es länger ist als die Äußerungen, die es gewöhnlich zu hören bekommt. Mein Ziel der Kommunikation ist es nicht, ein Ziel beim Kind zu erreichen. Es soll

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durch diese Art der Kommunikation eine Haltung erfahren, die auf Gleichberechtigung, Beziehung und ehrlichem Interesse am Gegenüber beruht. Ich kann dem Kind Fragen stellen und muss keine Antwort erwarten. Ich kann mich nach seinen Interessen und Gefühlen erkundigen, ohne dass es unmittelbar reagiert. Das kann ich bereits bei einem Neugeborenen oder Krippenkind tun und werde es auch dann noch tun, wenn das Kind langsam in die Pubertät übergeht, eine Zeit, in der die Beziehungsgestaltung scheinbar genauso schwer ist wie in seinen ersten Lebensmonaten. Das Kind entscheidet, ob, wann und wie es auf mein ehrliches Gesprächsangebot reagiert. Das macht für mich eine Beziehung aus.

7.6 Beziehungsorientierte Pädagogik setzt auf Situationsgestaltung, nicht auf persönliche Auseinandersetzungen »Manchmal ist es, als ob aus mir eine Schallplatte mit Sprung tönt. Ich sage dem Kind immer wieder, was mich stört, aber es erfolgt keine Reaktion. Dann kann ich echt sauer werden.« Menschen haben die natürliche Tendenz, in konfliktreichen Situationen ein bevorzugtes Kommunikationsverhalten zu zeigen. Führt dies nicht zum Erfolg, so besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass das gleiche Verhalten erneut und wiederholt gezeigt wird, vielleicht noch einmal lauter, noch einmal deutlicher, aber häufig wortgleich zu den vorherigen Äußerungen. »Mehr Desselben« – so nennen die Kommunikationsforscher dieses Phänomen, das an eine zerkratzte Schallplatte erinnert, die die gleichen Sätze immer und immer wieder abspielt. Werfen Sie doch bitte noch mal einen Blick auf die alphabetische Liste der typischen Kommunikationstechniken im Kampf um Sieg oder Niederlage mit Kindern und Erwachsenen in Kapitel 7.1. Haben Sie dort schon Ihre Lieblingstechnik entdeckt? Kinder ihrerseits verfügen ebenfalls über ihre favorisierten Techniken, auf unsere Äußerungen zu reagieren. Daraus lassen sich ganze Drehbücher verfassen, die sich so, heute, morgen und in drei Wochen identisch vor den eigenen Augen und Ohren abspielen, wenn derselbe Konflikt wieder auftaucht. Aus den bisherigen Erfahrungen können Sie jetzt bereits vorhersagen, dass diese Auseinandersetzung von

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keinem Erfolg gekrönt sein wird. Weder Sie noch das Kind werden aus dieser Auseinandersetzung einen Sieg davontragen können. Die gleichen Argumente werden ausgetauscht, die gleichen Reaktionen gezeigt, und der Konflikt geht aus wie das sprichwörtliche Hornberger Schießen, mit dem 1564 die Ankunft eines Großherzogs mit viel Getöse und Tamtam begangen werden sollte, alles Pulver aber bereits verschossen war, nachdem zunächst eine Postkutsche, ein Eselswagen, eine Rinderherde und ein Krämerwagen am Horizont aufgetaucht und lautstark vorschnell begrüßt worden waren. Als der Großherzog dann endlich kam, war nichts zum Knallen und Schießen mehr übrig, sodass die Bürger letztendlich nur noch Bumbum und Täterätä mit dem Mund machen konnten, was wohl nicht sehr eindrucksvoll gewesen sein kann. Für die beziehungsorientierte Pädagogik ergibt sich in erster Linie ein Wille zur Flexibilität. Gesprächsführung mit Kindern muss immer wieder überraschend sein. Ausgeleierte Schallplattensätze führen nur zu einem »Ich kann das nicht mehr hören«. Überraschen Sie das Gegenüber mit Äußerungen, die so anders sind als alles, was Sie bisher in ähnlichen Situationen gesagt haben. Seien Sie sogar so mutig, sich ein paar Sätze bereitzulegen, die mit der aktuellen Situation überhaupt gar nichts zu tun haben. Noah ist nicht müde? »Noah, wie magst du eigentlich Pfannkuchen am liebsten? Mit Zucker oder mit Zuckerguss?« Rike starrt auf die Roten Rüben? »Wenn du Ski fährst, machst du das lieber in Österreich oder lieber in der Schweiz, Rike?« Ornella hält keine Ordnung? »Ornella, weißt du eigentlich, warum die pflanzenfressenden Dinosaurier so viel größer waren als die Fleischfresser?« Emines Eltern kommen nie zum Elternabend? »Frau Endogin, schön, dass ich sie gerade beim Abholen hier treffe. Was ich sie schon immer mal fragen wollte; Wissen sie, warum im Flugzeug die Leute so gern Tomatensaft trinken?« Anna hat Angst? »Hast du schon mal überlegt, ein Lied zu schreiben?« »Herr Mienert, was soll das denn, die fühlen sich doch veralbert!« Hmm, ja, ich gebe es zu, die Gefahr ist gegeben, dass man Sie komisch ansieht und ich würde Ihnen auch empfehlen, solche Äußerungen mit ganz großen Lächeln im Gesicht und stark verschwörerisch-übertriebener Miene zu machen. Das Ziel solcher paradoxen Äußerungen ist es ausdrücklich nicht, das

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Gegenüber zu veralbern oder lächerlich zu machen. Das Ziel ist es, zunächst eine Gesprächsgrundlage für ein Gespräch zu schaffen, das neutral ist und nicht schon wieder das alte Konfliktthema, das das Gegenüber ohnehin zu vermeiden sucht, aufbringt. Seien Sie dann auch ehrlich auf die Verwirrung Ihres Gegenübers hin. Sagen Sie, dass sie nicht schon wieder in die alte Leier verfallen wollen und sich für das Gespräch heute vorgenommen haben, alles Mögliche zu besprechen, aber das Konfliktthema ausdrücklich nicht. Dafür bieten Sie einen anderen Tag an: »Noah, den Kampf um den Mittagsschlaf führen wir heute nicht. Setz dich, wenn du magst, zu mir, und wir quatschen einfach so ein bisschen. Ich verspreche dir, das Wort Mittagsschlaf fällt heute nicht. Morgen nach dem Essen nehme ich die Diskussion mit dir erneut in Angriff.« »Rike, du musst die Roten Rüben nicht probieren. Ich wollte dich nur ablenken. Lass die Roten Rüben liegen, und wir erzählen so ein bisschen, wenn du Lust hast.« »Frau Endogin, ich will nicht so gern, dass wir uns immer aus dem Weg gehen. Ich hab mich geärgert, dass Sie gestern nicht beim Elternabend waren. Bitte lassen Sie uns morgen beim Abholen in einem kurzen Konfliktgespräch darüber sprechen. Heute – das verspreche ich Ihnen – lasse ich Sie wegen des Elternabends in Ruhe.« Die Situationsgestaltung in der beziehungsorientierten Pädagogik ist keine Situationsgestaltung im klassischen Sinne der Raumgestaltung. Sie ist eine Gestaltung der Gesprächssituation, die auf bewusster Gesprächsführung durch die pädagogische Fachkraft beruht. Die Fachkraft übernimmt die führende Rolle im Gespräch mit dem Kind oder dem Erwachsenen. Sie ist es, die den Kontakt zum Gegenüber herstellt, auch dann, wenn der Kontakt derzeit belastet oder abgebrochen ist. Dies gilt für alle Kinder in der Gruppe, insbesondere die ruhigen und zurückgezogenen Kinder, die im Alltag der Tageseinrichtungen und Horte erfahrungsgemäß immer zu wenig an individuellen Gesprächen erfahren. Dafür ist es durchaus hilfreich, eine Liste der Kinder der eigenen Bezugsgruppe bereitzuhalten und anhand dieser im Tagesverlauf zu überprüfen, ob tatsächlich mit jedem Kind wenigstens ein individuelles, an einem Thema des Kindes oder einem von Kind und Fachkraft geteilten Thema orientiertes Gespräch stattgefunden hat. Dies gilt auch für Kinder, mit denen es aktuell einen

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Konflikt gibt. Dabei sollte die Fachkraft darauf achten, dass das Konfliktthema nicht die individuellen persönlichen Gespräche dominiert. Bei einem Gespräch – wie in den Gesprächsbeispielen oben – direkt anzukündigen, dass das Konfliktthema jetzt nicht besprochen wird, hilft dabei, bei anderen, angekündigten Gelegenheiten sich wirklich auf dieses Konfliktthema konzentrieren zu können. Im Kontakt mit Eltern ist es wichtig, sogenannte Eimer-Wasser-Gespräche zu vermeiden. »Frau Endogin, da Sie gerade da sind: Beim letzten Elternabend waren Sie ja leider wieder nicht, Emine braucht noch eine neue Packung Windeln, in der Kita wird gerade an einer neuen Konzeption gearbeitet, und die Sprachentwicklung von Emine bereitet mir etwas Sorgen …« Nach diesem Guss kalten Wassers über den Kopf wird Frau Endogin sich sicher in Zukunft gründlich überlegen, wie sie den Kontakt mit der Kita noch geschickter vermeiden kann. Die Situationsgestaltung in der beziehungsorientierten Pädagogik beruht darauf, dass es verschiedene Arten von Gesprächen gibt, die mit verschiedenen Zielen geführt werden und sich an verschiedene Personen richten. Gespräch ist nicht gleich Gespräch, dies gilt im Umgang mit den Kindern genauso wie mit den Erwachsenen. Den pädagogischen Fachkräften empfehle ich von daher immer, Gespräche anzukündigen, also nicht sofort zu führen, dem Gegenüber direkt zu sagen, um was für eine Art Gespräch es sich handeln soll, kurz anzudeuten, worum es in dem Gespräch gehen und wie lang das Gespräch sein soll. Dies schützt vor Überrumpelung des Gegenübers, hilft ihm, sich selbst auf das Gespräch vorbereiten zu können und bewahrt vor schlaflosen Nächten (»Frau Endogin, morgen muss ich mich mal mit Ihnen fünf Minuten unter vier Augen unterhalten. Bis morgen dann, kommen Sie gut nach Hause!«). Situationsgestaltung heißt dann natürlich auch, für eine entsprechende ruhige Gesprächsatmosphäre zu sorgen. Hier einige Beispiele, die nicht den Anspruch der Perfektion in sich tragen: »Noah, in letzter Zeit habe ich dich nach dem Mittagessen beobachtet. Gestern bist du nach dem Mittagessen aus dem Raum gelaufen und hast in der Garderobe auf der Bank gesessen. Ich habe gerufen, ›Kinder, kommt zum Mittagsschlaf.‹ Du hast in Richtung des Aushangs in der Garderobe geblickt, deine Arme waren vor dem Körper verschränkt. Ich habe zu dir gesagt: ›Noah, magst du nicht zum Schlafen kommen.‹ Du hast geant-

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wortet: ›Immer dieser blöde Mittagsschlaf.‹ Da habe ich mich über dich geärgert, und ich hatte den Eindruck, du ärgerst dich auch über mich. Ich möchte mich morgen gern, wenn die anderen Kinder im Bett liegen, mit dir zusammensetzen und in einem 10-minütigen Konfliktgespräch mit dir bereden, wie wir die Mittagsschlafsituation für dich anders gestalten können.« »Anna, als sich heute die Kinder für den Spaziergang angezogen haben, hast du in der Puppenecke gesessen und leise auf deine Puppe eingesprochen. Ich konnte nicht verstehen, was du zu ihr gesagt hast. Ich habe mich neben dich gesetzt und gesagt, alle Kinder sind schon angezogen. Da hast du meinen Arm genommen und auf deinen Kopf gelegt. Deine Augen waren ganz weit offen, und in deinen Augenwinkeln habe ich eine Träne gesehen. Ich hab zu dir gesagt: ›Du bist doch schon ein großes Mädchen‹, und da sind Tränen über deine Wange gelaufen. Ich hab mich über meinen Satz an dich später geärgert. Hast du Lust, dich mit mir nach dem Schlafen zehn Minuten zusammenzusetzen und mit mir ein Beratungsgespräch zu machen? Dann kannst du mich beraten, wie wir das mit den Spaziergängen besser machen können, und vielleicht kann ich dich beraten, was man machen kann, wenn es einem nicht so gut geht.«

Andere Gesprächsformen neben den Beratungsgesprächen und den Konfliktgesprächen sind die regelmäßigen Entwicklungsgespräche mit allen Eltern, in denen es möglichst halbjährlich ca. 20 Minuten um die aktuellen Themen und Beobachtungen geht, Informationsgesprä­ che mit Kindern und Eltern, in denen kurz aktuelle organisatorische und pädagogische Themen aus dem Team besprochen werden, Auf­ nahme- und Eingewöhnungsgespräche, in denen mit den Kindern und den Eltern die Erfahrungen der ersten Zeit in der Einrichtung besprochen werden, Übergangsgespräche, wenn das Kind in eine andere Gruppe wechselt oder die Einrichtung verlässt, Fördergesprä­ che mit dem Kind und seinen Eltern, wenn Entwicklungsverzögerungen beobachtet oder vermutet werden sowie Planungsgespräche, wenn mit den Kindern ihre aktuellen Themen besprochen werden und gemeinsam überlegt wird, wie sich diese aktuellen Themen im Alltag realisieren lassen. Scheuen Sie sich bitte nie davor, auch gegenüber einem Kind die technischen Begriffe wie »Konfliktgespräch«, »Beratungsgespräch« oder »Planungsgespräch« zu verwenden. Das mag Ihnen jetzt sehr theoretisch erscheinen, hilft Ihnen und den Kindern oder Eltern aber längerfristig, sich im Gespräch auf das inhaltlich Anstehende und

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Wesentliche zu konzentrieren und sich und Ihrem Gegenüber Fairness im Gespräch zu ermöglichen und zuzusichern. Die Kinder greifen diese Begriffe erfahrungsgemäß selbst sehr schnell auf und können dazu ermuntert werden, diese auch in ihren Gesprächen mit anderen Kindern anzuwenden. »Herr Mienert, ist das nicht albern, wenn wir so was jetzt immer sagen würden? Wenn ich das so mache, dann hören mir die Kinder doch gar nicht zu.« Nein, Sie müssen das nicht immer machen. Das Wörtchen »immer« ist selbst ein eigenes Drama, das lange Ausführungen verdienen würde. Niemand macht etwas immer, Kinder nicht und auch nicht die Erwachsenen. Immer pauschalisiert und verschließt den Blick auf das Besondere jeder einzelnen neuen Situation. Sie müssen also nicht immer so mit den Kindern sprechen. Ich bin mir aber sicher, dass Sie bisher noch nie so mit den Kindern gesprochen haben. Insofern ist auch die Vermutung, die Kinder würden gar nicht zuhören, ebenfalls nur ein »Ja, aber«. Probieren Sie es aus, hin und wieder einmal, wenn das Gespräch mit Ihrem Gegenüber ein besonderes Gewicht bekommen soll. Geben Sie dadurch dem Gespräch auch einen besonderen Titel und einen besonderen Rahmen. Mein Vorschlag soll Ihr bisheriges Kommunikationsverhalten nicht ersetzen, sondern erweitern und Ihnen so für das Gesprächsrepertoire neue Alternativen zur Verfügung stellen. »Herr Mienert, wir sprechen doch aber immer schon mit den Kindern!« Im Kontrast dazu: »Herr Mienert, dann sind wir ja nur noch am Reden mit den Kindern. Dafür haben wir im Alltag (bei unseren Rahmenbedingungen, bei der Gruppengröße, bei dem Personalmangel, bei dem was wir sonst noch alles so machen müssen …) keine Zeit.« Wirklich keine Zeit? Ich verspreche Ihnen, zielgerichtete, beziehungsorientierte Gesprächsführung wird Ihnen längerfristig viel Zeit sparen. Sie werden Ihre Anliegen viel besser transportieren können und gewinnen einen viel genaueren Einblick in die Lebenswelt und Denkweise Ihres Gegenübers. Sie müssen nicht an den heißen Themen vorbeireden und benötigen keine Energie für einen ermüdenden Kampf um die Durchsetzung der eigenen Interessen. Kurzfristig wird es jedoch eine Zeitinvestition brauchen, da bin ich mir sicher. Viele Kinder sind diese Art der Gesprächsführung von Erwachsenen nicht gewohnt, und auch viele Eltern werden

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sich über das geänderte Gesprächsklima wundern. Viele vermuten dahinter nur eine weitere Masche geschickter Pädagoginnen und Pädagogen, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Sie reagieren also zunächst misstrauisch, sodass es einen längerfristigen Vertrauensaufbau benötigt. Ein anderer Aspekt der Situationsgestaltung in der beziehungsorientierten Pädagogik betrifft tatsächlich die Gestaltung des Lebensraums der Kinder. Dieser Aspekt ist so einfach umzusetzen, dass ich ihn grundsätzlich zuallererst in Angriff nehmen würde. Nehmen Sie sich im Team eine Woche Zeit und beobachten und notieren Sie in dieser Zeit gemeinsam, an welchen Orten innerhalb der Kita oder des Hortes Sie beobachten, dass Sie die Kinder relativ häufig ermahnen oder zur Vorsicht anhalten müssen. Tragen Sie diese Orte in einer Dienstberatung zusammen. Überlegen Sie dann gemeinsam im Team, wie Sie diese Orte so gestalten können, dass das unerwünschte oder potenziell gefährdende Verhalten von Kindern gar nicht erst auftaucht. Wird viel am Spielzeugregal geklettert? Überlegen Sie, wie das Regal entweder so an der Wand befestigt werden kann, dass es sich zum Klettern eignet oder so umgeräumt werden kann, dass es nicht mehr bekletterbar ist. Wird im Flur viel gerannt? Bauen Sie den Flur so um, dass er entweder zum gefahrlosen Rennen geeignet ist oder nicht mehr berannt werden kann. Versuchen die Kinder häufig an Gegenstände zu gelangen, die nicht für sie geeignet oder gedacht sind? Grundsätzlich muss aus meiner Sicht alles, das sich in Sicht- und Reichweite der Kinder befindet, von den Kindern auch benutzt werden dürfen. Sie ersparen sich also von vornherein viele beziehungsbelastende Ermahnungen, wenn Sie ungeeignete Gegenstände so wegschließen, dass sie nicht nur für die Kinder nicht mehr erreichbar, sondern grundsätzlich auch nicht mehr sichtbar sind. Die Materialien und die Räume müssen dabei in erster Linie aus der Sicht der Kinder gedacht und gestaltet sein. Dekoration auf Augenhöhe der Erwachsenen? Setzkästen mit kleinen Figuren im Spielzimmer, an die die Kinder aber nicht ran sollen? Bilder, die in Kopfhöhe der Großen hängen, von den Kindern aber nicht gesehen werden können? Schreibtische von Erzieherinnen und Erziehern in den Gruppenzimmern, die all die verlockenden Dinge enthalten, mit denen man

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als Kind spielen möchte, aber nicht darf (echte Telefone, Handtaschen, echte Scheren, Büroklammern, Papiere)? Solche Dinge haben aus meiner Sicht in Kindertageseinrichtungen und Horten nichts zu suchen. Sie gehören kindgerecht auf- oder weggeräumt. Erwachsene sollten sich auf Kinderhöhe hinunterbegeben, wenn sie etwas betrachten wollen, denn Erwachsene können das. Kinder können sich im Gegensatz dazu nicht auf Erwachsenenhöhe hinaufbegeben, um etwas zu betrachten. Auch an diesem einfachen, auf einen Blick in jeder Einrichtung zu erfassenden Situationsmerkmal lässt sich sofort erkennen, ob diese Einrichtung vornehmlich den Interessen der Erwachsenen oder den Interessen der Kinder dient. »Herr Mienert, aber ich als Erwachsener muss mich in der Einrichtung doch auch wohlfühlen. Ich muss dort doch auch viele Stunden meines Lebens verbringen.« Die Arbeit als Pädagogin oder Pädagoge ist in erster Linie ein Job wie jeder andere auch. Er hat seine Ziele und Rahmenbedingungen, wird erlernt und dann ausgeübt, hat seinen morgendlichen Beginn und sein nachmittägliches oder abendliches Ende. Dafür wird die pädagogische Fachkraft bezahlt. Das Ziel der Arbeit ist es, den Kindern bestmögliche Betreuung und Bildungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Das ist der Job, für den die Fachkraft bezahlt wird. Ihre eigenen erwachsenen-ästhetischen Ansprüche gehören aus meiner Sicht in Ihre Freizeit, in Ihr Zuhause, nicht in die Arbeitseinrichtung. Hier sollten in erster Linie die kind-­ ästhetischen Ansprüche der Zielgruppe wirken. Diese müssen nicht unbedingt mit den erwachsenen Ansprüchen kollidieren. Im Zweifelsfall ist aber im Sinne der Kinder zu gestalten, nicht im Sinne der Erwachsenen.

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7.7 Beziehungsorientierte Pädagogik benötigt entwicklungspsychologische Grundkenntnisse

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illi will das nicht – »Und dann grinst er mich auch noch ganz frech an, wenn ich mit ihm schimpfe.«

im und Kathi feiern keinen Karneval, Fritz und Fine reagieren bei Fasching ganz verstört – »Aber die Eltern wollen doch den Karneval/den Fasching.«

nna hat Angst – »Wir machen das mit der Eingewöhnung ganz individuell.«

»Herr Mienert, glauben Sie mir, ich arbeite jetzt seit 30 Jahren mit Kindern. Ich habe tausende Kinder in meiner Arbeit erlebt. Meinen Sie etwa, ich wüsste nichts über Entwicklungspsychologie? Meine Erfahrungen sind besser als jedes theoretische Studium.« Haben Sie die Befürchtung, dass jetzt lange entwicklungspsychologische Ausführungen von mir folgen? Ein bisschen verlockend ist dies schon für mich, das muss ich zugeben. Immerhin ist die Entwicklungspsychologie mein Fachgebiet, und ich vertrete sie mit großer Leidenschaft. Klar, so ein kleines Büchlein hier wie dieses ist nicht der Ort für Vorlesungen über menschliche Entwicklungsverläufe und das was an individuellen Veränderungen bei Kindern wie auch Großen normal und altersgerecht ist oder eben auch nicht. Nichtsdestoweniger fällt mir in Gesprächen mit Fachkräften mitunter ein gewisser Mangel an entwicklungspsychologischen Grundkenntnissen auf. Vielleicht liegt das an den Ausbildungen, die dieses Thema eher untergeordnet betrachten. Vielleicht ist manchmal die Ausbildung auch einfach schon etwas zu lange her, und auch in der Entwicklungspsychologie gab und gibt es natürlich neue Trends und Erkenntnisse. Möglicherweise macht einen die Erfahrung mit vielen Kindern ja über die Jahre hinweg auch etwas betriebsblind. Die auf den langjährigen Erfahrungen mit hunderten, ja tausenden Kindern gewonnenen, persönlichen alltagspsychologischen Kenntnisse von menschlicher Entwicklung ergeben eine umfangreiche Statistik, aber ob diese Statistik dann im Einzelfall auch immer korrekte

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Aus- und Vorhersagen beim aktuellen Kind und seiner Situation ermöglicht, das bleibt offen. Vielfach habe ich mir über die Jahre hinweg den Klassiker aller »Fortbildungs-Ja, abers« anhören müssen: »Das ist doch alles Theorie, die Praxis sieht doch ganz anders aus«. Es stimmt, Entwicklungspsychologie ist eine theoretisch fundierte Wissenschaft, und das Leben in der Praxis sieht natürlich anders aus, trivial und unbestreitbar. Was aber soll der Vorwurf der Praxisferne der wissenschaftlichen Theorie? Die Theorie kann helfen, die praktischen Erfahrungen einzuordnen, neu zu betrachten, etwas Abstand zum Alltag zu gewinnen und – auf theoretischen Vorannahmen beruhend, neue Wege zu probieren. Dabei beruht die entwicklungspsychologische Theorie auf nichts anderem als praktischen Erkenntnissen durch die Beobachtung und das Studium von vielen Menschen. Empirische Forschung, so wird das entwicklungspsychologische Vorgehen bezeichnet, bei dem im Labor oder im Feld (also im Alltag) Informationen gesammelt und gezielt, systematisch untersucht werden. Diese Forschung dient dem Überprüfen und Verbessern von theoretischen Überlegungen. Praktikerinnen und Praktiker sammeln ebenfalls im Feld des Alltags Informationen, aber in der Regel werden sie sie nicht systematisch und wissenschaftlich untersuchen. Das ist die Aufgabe der Forschung. Als Wissenschaftler und Fortbildner verfolge ich zwei Wege. Zum einen arbeite ich daran, in Untersuchungen Theorien zu überprüfen und zu verbessern. Zum anderen liegt mir viel daran, theoretische Erkenntnisse für die Praxis aufzubereiten und somit der Allgemeinheit, insbesondere den pädagogischen Fachkräften nutzbar zu machen. Vielleicht stört mich deswegen die Aussage »Die Praxis sieht doch ganz anders aus« so. Dass die Praxis im Alltag mit Kindern manchmal komplizierter ist als es so manche theoretische Lehrbuchweisheit verkündet, wird keiner bestreiten. Aber dass man sich die Praxis oft selbst auch schwerer macht, wenn theoretisches Hintergrundwissen fehlt, ist ebenfalls eine kaum bestreitbare Erkenntnis. Dass solches Wissen fehlt, ist nicht die Schuld der Theorie. Es liegt an den Praktikerinnen und Praktikern, sich mit den neuesten Erkenntnissen immer wieder vertraut zu machen und aus ihnen Rückschlüsse für die Bewertung und Optimierung der eigenen Arbeit zu ziehen.

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Der Gegenstand der Entwicklungspsychologie ist die Beschreibung und Erklärung zeitlich überdauernder, im inneren Zusammenhang stehender, aufeinander aufbauender Veränderungen menschlichen Erlebens und Verhaltens über die gesamte Lebensspanne. Sie sucht nach Gesetzmäßigkeiten menschlicher Entwicklung. Dabei bedient sie sich der Beobachtung und Dokumentation menschlichen Erlebens und Verhaltens, sie macht in Prognosen Vorhersagen über zukünftige Entwicklung, beschreibt diagnostisch Ursachen unterschiedlicher Entwicklungsverläufe und gibt Hinweise auf Möglichkeiten und Grenzen der Beeinflussung von menschlicher Entwicklung, zum Beispiel durch Förderung oder Intervention. Erinnern Sie sich noch? In den ersten Kapiteln dieses Buches habe ich von den unterschiedlichen Sichtweisen der pädagogischen und der psychologischen Fachkräfte auf den Alltag mit Kindern geschrieben. An dieser Stelle möchte ich diesen Gedanken gern erneut aufgreifen. Anders als die Pädagogik beschreibt die Entwicklungspsychologie, ihrer Definition nach, lebenslange Entwicklungsverläufe. Sie betrachtet also Kinder in ihrer Veränderung genauso wie Jugendliche, Erwachsene und Menschen im hohen Lebensalter. Eine Kindertageseinrichtung oder einen Hort würden wir demzufolge nicht nur als einen Ort kindlichen Lernens beschreiben, sondern als einen Ort, an dem sich auch die anwesenden Erwachsenen, pädagogische Fachkräfte genauso wie Eltern längerfristig verändern und gemeinsam lernen. Dabei geht es um allgemeine Gesetzmäßigkeiten menschlicher Entwicklung, der Einzelfall ist dabei von geringerem Interesse. Dies ist in Fortbildungen zum Thema Entwicklungspsychologie immer für beide Seiten, also für die pädagogischen Fachkräfte auf der einen Seite und für mich als psychologischen Fortbildner auf der anderen Seite ein Potenzial von Enttäuschung. Für die Pädagoginnen und Pädagogen, da sie häufig mit einem ganz konkreten Fall, einem bestimmten Kind kommen und hoffen, dass die Fortbildung genau für diesen Einzelfall die richtige Lösung liefern kann. Für mich wiederum wird es immer dann schwierig, wenn ich versuche, grundlegende Gesetzmäßigkeiten menschlicher Entwicklung zu vermitteln, die an großen Stichproben erforscht wurden und somit zunächst allgemeine, mittlere Entwicklungsverläufe beschreiben – und wenn dann die

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Pädagoginnen und Pädagogen diese Aussagen durch anekdotische Einzelfälle mit einem Handstreich vom Tisch wischen wollen – »Bei meiner Tochter war das aber ganz anders, die war mit einem Jahr schon sauber!« Des Weiteren wird in der Pädagogik, auch das habe ich bereits beschrieben, Entwicklung eher vom Zielzustand ausgehend betrachtet. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht also, wie das Ergebnis der Entwicklung, nach der pädagogischen Arbeit aussehen soll und wie weit das Kind aktuell noch von diesem Ergebnis entfernt ist. Das Ergebnis selbst wird in der Pädagogik dabei als besser, perfek­ ter, schöner, vollkommener als der bisherige Zustand betrachtet, Entwicklung ist also etwas, das zum einem gewünschten besseren Zielzustand führt. Entwicklungspsychologie thematisiert demgegenüber den Entwicklungsverlauf selbst, wobei das Ergebnis zunächst offen ist und nicht bewertet wird. Es kann Vor- oder Rückentwicklungen geben, auf gleichem Weg können unterschiedliche Ziele erreicht werden, wo auch auf unterschiedlichen Wegen das gleiche Ergebnis entstehen kann. Gewinne und Verluste treten auf, und ob die Gewinne tatsächlich Gewinne oder nicht eigentlich doch eher Verluste sind, ist aus Sicht eines Außenstehenden kaum einzuschätzen. Kinder werden in den Krippenjahren immer schlauer? In den Gehirnen der Kinder wird genauso viel an Verknüpfungen abgebaut wie aufgebaut. Die natürliche Entwicklung der Kinder drängt auf Fokussierung und Spezialisierung? Gelernt und längerfristig behalten wird von den Kindern eher das, was dem unmittelbaren Leben und Überleben dient, was im Alltag praktisch ist und was einen einigermaßen kollisionsfrei durch die Gesellschaft führt. Vieles, was ein Neugeborenes bereits an universeller Lernvorbereitung mit auf die Welt bringt, geht schon in den ersten Monaten und Jahren unwiederbringlich verloren, zum Beispiel die Fähigkeit zur universellen Gesichterunterscheidung, die Fähigkeit, alle Lautunterschiede aller menschlichen Sprachen akustisch differenzieren zu können, Reflexe wie der Schreit-, Greif- und Hinwendereflex. All diese Fähigkeiten engen sich schnell auf das ein, was der Mensch in seiner unmittelbaren Kultur und Sprache und für sein unmittelbares Überleben benötigt. Auch die kindliche Neugierde auf das Ausprobieren und Lernen, die nahezu übermenschlich erscheinende Energie von Kleinstkindern, Dinge immer wieder zu versuchen, auch wenn es nicht klappt, der unbändige Forschergeist lassen

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nach, wenn sie frühzeitig kanalisiert, bewertet, trainiert und belehrt werden. Wir wollen neugierige, kreative, selbstbewusste, selbstständige Kinder in der pädagogischen Arbeit erst formen? Eigentlich ist das Unsinn. Die Kinder sind neugierig, kreativ, selbstständig, selbstbewusst. Pädagogische Arbeit kann so etwas nicht erreichen. Sie wäre eine selbstzerstörende Prophezeiung, wenn sie so etwas erreichen wollte. In dem Moment, da ich einem Kind auch nur sage: »Sei jetzt mal ganz selbstständig, entscheide ganz allein!«, in diesem Moment habe ich bereits die Selbstständigkeit des Kindes untergraben. Es soll es ja auf meine Anweisung hin tun, also fremdgesteuert. Wenn pädagogische Arbeit sich das Ziel setzen würde, die Neugierde, die Kreativität, die Selbstständigkeit und das Selbstbewusstsein der kleinen Kinder wenigstens zu erhalten, sie zu schützen vor den Anforderungen der fremdbildungshungrigen Gesellschaft, ihnen die Freiheiten für die Selbstbildung zu ermöglichen, die sie kaum noch haben, und dabei Vertrauen zu signalisieren, dass die Kinder es genau so richtig machen und so ihren Weg gehen, dann wäre mein Ziel bereits erreicht. Eine Erzieherin hat sich augenscheinlich sehr bedrückt an mich gewendet. »Ich kann das alles gut verstehen, aber ich habe da diesen Jungen, der möchte sich so spüren, was soll ich da tun?« – »Was meinen Sie denn mit ›spüren‹?«, frage ich nach. »Na, er will so seine Grenzen erleben und Körpererfahrungen machen!«. Ich werde immer ratloser. »Was hat er denn an Sie herangetragen, welchen Wunsch hat er denn geäußert?« Sie druckst herum, es fällt ihr offensichtlich schwer, den Wunsch des Jungen öffentlich zu formulieren: »Er hat mich gefragt, ob er seinen Kopf in die Kloschüssel stecken kann und ob ich dann mal die Spülung betätigen würde. Er möchte gern mal erleben, wie das ist, wenn das Wasser so mit Schwung über den eigenen Kopf rauscht!« Entsetzen pur bei den Anwesenden. »Aber das geht doch nicht!«, »Was werden die Eltern denken?«, »Was ist denn mit dem Jungen los?«, »Das ist doch unhygienisch, das ist doch eklig!« Ich frage in die Runde, ob auch nur eine einzige Erzieherin den Wunsch des Kindes erfüllen würde. Immerhin, die Toiletten sind doch immer desinfiziert, dafür gibt es doch einen Hygieneplan, man könnte doch vorher noch mal schnell nachputzen, man könnte es ja eventuell sogar vorher – nach Absprache mit dem Kind, auch bei den Eltern thematisieren … Trotzdem, hier bleibt die Grenze eindeutig. Eine ganz junge Kollegin im Raum – und ich (ja, ich bin schlimm, ich weiß), wir wären die Einzigen gewesen, die dem Kind seinen Wunsch erfüllt hätten.

Was das alles mit der beziehungsorientierten Pädagogik mit Kindern zu tun hat? Auch an dieser Stelle – so wünsche ich mir – soll

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deutlich werden, dass die Gesprächsführung mit Kindern keine Technik ist, sondern von einer Haltung der Erwachsenen getragen werden muss. Die Entwicklungspsychologie soll dabei helfen, ein Verständnis dafür zu fördern, dass das kindliche Erleben und Verhalten zunächst wertungsfrei zu beobachten und zu beschreiben ist. Was ein Kind kann, was ein Kind denkt, was ein Kind tut, ist weder besser noch schlechter als das Können, Denken oder Tun eines Erwachsenen. Es ist nicht unreifer, unfertiger, weniger schlau, es muss nicht verbessert oder gefördert werden, in ihm zeigen sich keine Stärken oder Schwächen. »Herr Mienert, wir sprechen doch in der pädagogischen Arbeit gar nicht mehr von Schwächen der Kinder. Wir beschreiben nur noch ihre Stärken.« Die Lust auf die Bewertung dessen, was die Kinder gerade tun, ist bei den Pädagoginnen und Pädagogen ungebrochen. Auch das Loben oder das ausschließliche Benennen von Stärken ist aus meiner Sicht nichts anderes als ein Bewerten des kindlichen Leistungsvermögens, für das mir die Maßstäbe oft schleierhaft sind. Anna hat Angst – ist das nun gut oder schlecht? Soll sie die ablegen oder doch lieber ausbauen? Kann nicht ihre Angst für sie ein wichtiges Schutzinstrument sein, das sie nicht leichtfertig aufgeben sollte, nur weil sich die Pädagogin oder der Pädagoge selbst besser fühlen würde, wenn Anna weniger Angst hätte? Max muss mal – wann ist der perfekte Zeitpunkt, an dem alle Kinder Topf oder gar Toilette benutzen? Wann ist er aus Sicht jedes einzelnen Kindes gekommen, und wann sollte er, idealerweise, praktischerweise, aus Erwachsenensicht gekommen sein? Gibt es da überhaupt so etwas wie eine Gesetzmäßigkeit? Und was ist so schlimm daran, wenn Max längere Zeit die Windel braucht als Mandy? Und ist Manfred nun besser entwickelt, wenn er früher den Topf für sich erobert? Willi will das nicht – muss das beurteilt, bewertet und gar bekämpft werden? Willi grinst die Erzieherin scheinbar frech an – können Sie sich sicher sein, dass hinter seinem sichtbaren Verhalten tatsächlich eine Absicht steckt und diese Absicht negativ ist? Und Karneval und Fasching, was macht diese Traditionen für Erwachsene so attraktiv, und können Kinder tatsächlich die gleiche Attraktivität darin finden? In den ersten Kapiteln habe ich die unterschiedlichen Entwicklungsmotoren beschrieben, die zur Beschreibung kindlicher Ent-

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wicklung vorwiegend herangezogen wurden und welche Auswirkungen das auf die Arbeit der pädagogischen Fachkräfte zu jener Zeit hatte. Vielleicht ist dabei schon aufgefallen, dass die Entwicklungstheorien, die auf den Entwicklungsmotor Gene setzen (sogenannte Reifungstheorien oder endogenistische Theorien) aus pädagogischer Sicht besonders heikel sind. Sie legen sehr stark das Bild eines unreifen, unfertigen Wesens Kind nahe, dem die erwachsene, perfekte, anzustrebende Reife noch für viele Jahre fehlen wird. Heikel sind sie auch deshalb, weil menschliche Entwicklung in ihnen als genetisch vorbestimmt und somit eigentlich unveränderlich angesehen wird. Pädagogisch lässt sich demzufolge mit Kindern kaum etwas anfangen, sie müssen nur sauber, trocken und satt gehalten werden. Erziehung, wenn überhaupt, geht nur über Maßnahmen der Dressur, wie man sie auch bei unverständigen Tieren anwenden würde. Pädagoginnen und Pädagogen, die in dieser Tradition stehen, haben es schwer, mit Kindern in ein beziehungsorientiertes Gespräch zu finden. Sie werden das Kind eher als nicht gesprächswürdig betrachten und stattdessen eher auf Absicherung, Schutz, Pflege und Überwachung der kindlichen Entwicklung setzen. Eine Beziehung zum Kind ist dabei eigentlich gar nicht notwendig, und seine Willensäußerungen lassen sich leicht ignorieren. »Ja, aber doch nicht bei Krippenkindern, die sind doch dafür viel zu klein, die verstehen das doch noch gar nicht« … solche »Ja, abers« deuten für mich eine solche Haltung an. Sie zeigt sich aber genauso auch im universellen Wunsch nach Mittagsschlaf, nach gesunder Ernährung, nach Sauberkeit (Händewaschen, Zähneputzen) sowie einem starken Wunsch nach Kontrolle kindlicher Autonomietendenzen durch Aufsichtspflicht, Gefahrenabwehr, Absicherung (»Messer, Gabel, Schere, Licht« und den noch immer beliebten Laufgittern für die Krippenkinder). Aber auch bei alleiniger Betrachtung des Entwicklungsmotors Umwelt ist der Weg zur beziehungsorientierten Gesprächsführung mit Kindern noch weit. Wenn alles, was die Kinder können, wissen, denken, lernen, wollen nur das Produkt erwachsener Unterweisung, also erwachsenen Trainings ist, so bleibt das Kind ein Produkt äußerer Mechanismen. Über die Qualität dieses Produkts können sich dann nur die wirklich austauschen, die auf dieses Produkt hingearbeitet haben, die Fachkräfte, die Eltern, die Großeltern, die Gesell­

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schaft. Mit dem Kind selbst gibt es da eigentlich nur wenig zu besprechen. Beziehung zum Kind wäre dann nur ein weiterer erwachsener Trick, die pädagogischen Maßnahmen noch zielgerichteter anbringen zu können und noch effektiver die Stärken des Kindes befördern und die Schwächen des Kindes bearbeiten zu können. Die Ziele des Lernens stehen wie in einem Handbuch bereit, sie werden als Grundkenntnisse, als Allgemeinwissen oder als Kulturtechniken bezeichnet, die von allen Kindern universell in einem bestimmten Alter beherrscht werden müssen. Dazu gehören die Sauberkeitsentwicklung zualleroberst, dann die Sprache, das vernünftige logische Denken, das Lesen, Rechnen, Schreiben, die Stifthaltung, das Schereschneiden, die Rechts-Links-Unterscheidung, das Schleifebinden, das Schuheputzen, ja, und was nicht eigentlich noch alles? Auch die dazugehörigen Lernprogramme stehen für alle Kinder fest, alle Kinder sind durch diese Programme zu führen, individuelle Unterschiede der Kinder, abweichende Themen, Motivationslagen, Stimmungen stellen dann nichts anderes als einen Störfaktor dar, den es zu erkennen und zu beseitigen gilt. In den meisten »Ja, abers« wird dieser Erziehungsgedanke für mich deutlich, er ist auch aus pädagogischer Sicht einer der attraktivsten, weil er Effektivität und Erfolg verspricht, wenn man es nur schafft, das richtige Erziehungsprogramm zu finden und es ungestört an allen Kindern ausüben kann. »Was ist mit der Schule später?«, »Jedes Kind muss doch Stifthaltung und Schereschneiden beherrschen!«, »Woher soll denn das Kind überhaupt wissen, wo seine Interessen liegen, wenn ich ihm nicht die entsprechende Angebote zunächst unterbreitet habe?« und »Das Lernen und die Disziplin dabei haben uns doch früher auch nicht geschadet!« Die starke Leistungsorientierung vieler pädagogischer Fachkräfte behindert die Beziehungsgestaltung zu den Kindern aber nicht nur durch ihre Mannigfaltigkeit und Unerreichbarkeit. Sie geht auch immer mit Bewertung einher, und Bewertung belastet die Beziehung zum Gegenüber automatisch. Zur Bewertung gehört immer jemand, der sich anmaßt, einschätzen zu können, ob die vom Kind gezeigte Tätigkeit gut oder schlecht, richtig oder falsch war. Dies ist auf Augenhöhe mit einem Gegenüber nicht möglich, es gelingt nur durch das Aufrechterhalten von Hierarchie. Bewertet wird dabei immer von oben nach unten. Die Vor-

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gesetzte bewertet ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sie selbst wird vom Trägerchef bewertet, dieser wiederum vom Bürgermeister. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bewerten die Kinder, und wen dürfen die dann bewerten? Würden Sie es sich wirklich wünschen, dass die Kinder Ihre Leistungen mit der gleichen Selbstverständlichkeit bewerten, wie Sie das umgekehrt bei den Kindern tun? Dürften Sie sich als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter wirklich erlauben, Ihre Vorgesetzten zu bewerten? Und wie würde es Ihnen als Vorgesetzter dabei gehen? Selbst wenn Sie nur Lob hören würden, so bliebe doch ein komisches Gefühl dabei – »Hat denn der Untergebene überhaupt das Recht, meine Leistungen einzuschätzen?«. Dazu eine kleine Analogie: Sie haben als Kollegin in einer neuen Einrichtung angefangen. In der Kita oder dem Hort nehmen Sie die Arbeit auf, verschaffen sich einen Überblick über die Kinder, nehmen die pädagogische Tätigkeit in Angriff, gestalten den Tagesablauf und die üblichen Anforderungen. Die Leiterin der Einrichtung hält sich in Ihrer Nähe auf. Wenn Sie mit den Kindern spielen, macht sie sich in ein kleines Büchlein Notizen, die sie nach dem Dienst in ihrem Leiterinnenzimmer verschließt. Hin und wieder kommt sie mit einem »Das kannst du ja wirklich toll, das hätte ich dir ja noch gar nicht zugetraut!« auf Sie zu. Meistens bleibt sie jedoch ruhig. Sie beobachten auch, dass die Leiterin manchmal die Augenbrauen hebt und dann besonders heftig in ihr Büchlein schreibt. Einmal kommt es vor, dass die Leiterin ihr Büchlein beiseitelegt und in die Gruppe hinein sagt »Nun muss ich aber doch mal eingreifen, das geht ja nun wirklich nicht, jetzt ist aber Schluss!« Dabei wirft sie Ihnen einen strafenden Blick zu. Nach der Arbeit hat sich die Leiterin noch mit der stellvertretenden Leiterin verabredet. Sie bemerken aus der Entfernung, wie die beiden die Notizen aus dem Büchlein diskutieren und dabei immer wieder in Ihre Richtung schauen. Nach dem Gespräch kommt die Leiterin auf Sie zu und sagt »Ich würde gern mal mit Ihren Eltern ein Gespräch führen, wie kann ich Ihren Vater und Ihre Mutter am besten erreichen?« …

Erscheint Ihnen das absurd? Sicher ist es das! Wie wäre es, wenn Sie in dieser Geschichte nicht Erzieherin wären, sondern diese Geschichte von einem Kind in Ihrer Gruppe handeln würde? Wäre die Geschichte dann immer noch so absurd? Fragen Sie sich bitte auch, wie es Ihnen ginge, wenn diese Geschichte real wäre. Und wie wäre Ihre Beziehung zu Ihrer Vorgesetzten und der Stellvertreterin? Könnten Sie den beiden uneingeschränkt ver-

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trauen? Würden Sie sich in dieser Situation wohlfühlen? Und meinen Sie, einem Kind ginge es unter diesen Umständen anders als Ihnen? Für die beziehungsorientierte Kommunikation mit Kindern sind aus meiner Sicht zunächst alle die entwicklungspsychologischen Theorien wichtig, die direkt zwischenmenschliche Beziehungsentwicklung beschreiben. Dies sind insbesondere die Bindungstheorie, die Theorie der sozialen Perspektivübernahme und die Empathietheorie. Des Weiteren würde ich den pädagogischen Fachkräften immer nahelegen, sich mit den Entwicklungstheorien auseinanderzusetzen, die sich mit den Funktionsbereichen beschäftigen, die in der pädagogischen Alltagsarbeit besonders im Fokus stehen und in den Entwicklungsbeobachtungen oder Stufenverfahren (z. B. »Grenzsteine der Entwicklung«, »Beller-Tabellen«) thematisiert werden. Dies sind insbesondere die Denkentwicklung (kognitive Entwicklung), die Sprachentwicklung, die Grob- und die Feinmotorik, die soziale und die emotionale Entwicklung. An den drei Eingangsbeispielen möchte ich den entwicklungspsychologischen Hintergrund kurz erläutern:

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illi will das nicht – »Und dann grinst er mich auch noch ganz frech an, wenn ich mit ihm schimpfe.«

Mit dem zweiten Lebensjahr entwickeln sich bei den Kindern neue Emotionen, die vorher nicht empfunden werden können. Zum ersten Mal können dann von den Kindern Neid, Empathie und Verlegenheit empfunden werden. Hintergrund dieser neuen Emotionen ist die Entwicklung des sogenannten Ich-Konzepts. Während wir bei Kleinstkindern davon ausgehen, dass sie keine Trennung zwischen sich und anderen empfinden (Ich bin meine Mutter, ich bin meine Umwelt, alle erleben dasselbe wie ich, da ich alle bin), erlernen die Kinder anhand der Alltagserfahrungen und auf Grundlage der Denkentwicklung (nach Jean Piaget vom sensomotorischen hin zum präoperationalen Denken), dass zwischen der eigenen Person und anderen eine Trennung existiert. Entwicklungsschritte dort hin sind bereits vorher zu beobachten, wenn zum Beispiel die Kinder von der Decke aufstehen, auf der sie sitzen, wenn sie aufgefordert werden, dem Erwachsenen die Decke

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zu geben, oder wenn sie auf ihren Namen reagieren. Letztendlich sichtbar wird das entwickelte Ich-Konzept in Spiegeluntersuchungen. Man lässt die Kinder vor einem Spiegel spielen und schaut, ob sie auf ihr verändertes Spiegelbild reagieren, nachdem man zum Beispiel in einem unbeobachteten Moment dem Kind mit Creme einen Punkt auf die Stirn gemacht hat oder wenn man hinter den Kindern ein Pendel bewegt. Wenn die Kinder reagieren, indem sie auf den Spiegel zeigen, ihren Namen rufen, sich an die Stirn fassen oder sich zum Pendel hin umdrehen, so kann von einem entwickelten Ich-Konzept ausgegangen werden. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ein großartiger Meilenstein. Nun entsteht das, was die Kinder das ganze Leben lang begleiten wird, die Aufmerksamkeit für sich selbst, das Wissen um die eigenen Wünsche, das SichAuseinandersetzen mit anderen. Von nun an drohen Auseinandersetzungen überall, denn jedes Anliegen von außen kann von den Kindern quasi als Eingriff in die eigene Autonomie erlebt werden, und so kann selbst ein Handschuh, ein Apfel, ein kaputtes Spielzeug zum erbitterten Kampfthema werden. Eltern nennen das Wutphase oder Trotzalter, aus meiner Sicht eine Bezeichnung, der in der pädagogischen Arbeit entgegengewirkt werden sollte. Mit dem dritten Geburtstag wird dann auch der Beginn der Entwicklung des Selbstkonzeptes deutlich. Erstmalig zeigt sich dann beim Kind auch ein Leistungsgedanke, es überlegt sich, wie es gern wäre, was wünschenswert ist, wo es gut sein will, wo nicht. Neue Emotionen sind dann Stolz, Scham und Schuld, die so vor dem dritten Geburtstag nicht erlebt werden können. Was das mit Willi und seinem Grinsen zu tun hat? Was lange noch nicht entwickelt ist bei Kindern, ist das absichtsvolle und bewusste Handeln, beruhend auf sozialer Perspektivübernahme. Kein Kind vor dem Alter von sechs Jahren ist in der Lage, sein Handeln an vermutlichen Folgen bei anderen auszurichten. Die Entwicklung dieser Art sozialer Perspektivübernahme ist in der Piagetschen Denkentwicklung an die konkreten Operationen geknüpft, die erst im Schulalter entstehen. Kinder im Vorschulalter machen mitunter »schlimme« Dinge. Sie halten sich nicht an Regeln (diese werden von ihnen in ihrer regulierenden Funktion für die Allgemeinheit ohnehin noch nicht verstanden), sie verletzen sich und andere, zeigen unerwünschtes Verhalten, obwohl sie ermahnt wer-

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»Nicht mal mehr loben soll man?«

den, manchmal lächeln sie noch, wenn man mit ihnen schimpft. Aus entwicklungspsychologischer Sicht gibt keine dieser Verhaltensweisen einen direkten Hinweis auf bewusste Schädigungsabsichten. Wir sprechen hier von »Verhaltensexperimenten« von Kindern, die an Reaktionen der Umwelt ausgerichtet sind. Häufiger gezeigt werden Verhaltensweisen, die in der sozialen Umwelt zu Reaktionen führen. Verhaltensweisen, die ohne soziale Reaktion bleiben, werden seltener. Somit ist es gerade das Weinen des anderen, das Schimpfen der Erwachsenen, das die Verhaltensweisen der Kinder noch verstärkt. Würde es gelingen, schwierige Verhaltensweisen der Kinder tatsächlich zu ignorieren oder ihnen neutral zu begegnen, so würden diese Verhaltensweisen seltener werden. »Belobige das gewünschte Verhalten, ignoriere das Fehlverhalten« gehört von daher auch zu den goldenen Regeln der Pädagogik. Der Alltag sieht jedoch komplett gegenteilig aus. Fehlverhalten wird mit Aufmerksamkeit bedacht, während das gewünschte (und weit häufigere) Verhalten im Stress des Alltags zumeist ignoriert wird. »Und dass die Kinder lächeln, wenn man mit ihnen schimpft, ist das nicht ein Beweis dafür, dass sie es mit Absicht tun?« Nein, das ist es nicht. Beim Lächeln handelt es sich um einen evolutionären Schutzmechanismus, der Unterlegenheit signalisieren soll. Es tritt als Reflex auf und kann von den Kindern auch nicht willentlich unterdrückt werden. Erwachsene lächeln übrigens auch, wenn man mit ihnen schimpft. Probieren Sie es mal mit Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner aus! Falten Sie Ihr Gegenüber mal so richtig zusammen – und wundern Sie sich, wie frech Sie daraufhin angelächelt werden.

K

im und Kathi feiern keinen Karneval, Fritz und Fine reagieren bei Fasching ganz verstört – »Aber die Eltern wollen doch den Karneval/den Fasching.«

Verkleidungsfeste stellen für Kinder in den ersten Lebensjahren einen großen Stress dar. Von daher setze ich mich sehr dafür ein, dass mit Kindern unter drei Jahren keine Verkleidungsfeste gefeiert werden. Dazu gehört auch der verkleidete Weihnachtsmann, vor dem die Kinder antreten müssen. Auch hier wirkt ein entwicklungspsychologisches Phänomen, das die Fach-

Beziehungsorientierte Pädagogik195

kräfte verstehen müssen, um es dann den Eltern erläutern zu können, die selbst oft sehr vehement für Karneval und Fasching in der Einrichtung auftreten. Zunächst die Alltagsbeobachtung: Viele Kinder über drei Jahren verkleiden sich ausgesprochen gern. Es spricht also nichts dagegen, wenn sie Fasching oder Karneval feiern, natürlich freiwillig und ohne Druck. Kinder, die daran kein Interesse haben, sollten zum Verkleiden auch nicht aufgefordert werden. Kleinere Kinder wirken häufig verstört, wenn sie mit Verkleidungssituationen konfrontiert werden. Die Fotos aus den Einrichtungen von den Karnevals und Faschingen bestätigen dies. Kaum ein Kind wirkt wirklich glücklich und entspannt, und das, obwohl die Kinder von heute sehr frühzeitig darin trainiert werden, wunschgemäß zu lächeln, wenn eine Kamera auf sie gerichtet wird. Entwicklungspsychologischer Hintergrund ist die Entwicklung der Objektpermanenz, die bis zum dritten Geburtstag noch nicht abgeschlossen ist. Objektpermanenz beschreibt das Phänomen, das Gegenstände auch dann noch weiter existieren, wenn sie gerade der unmittelbaren Wahrnehmung entzogen sind, zum Beispiel dadurch, dass sie verdeckt sind. Für unser erwachsenes Denken ist die Objektpermanenz ein unablässiger Bestandteil. Sie ermöglicht uns, dass wir uns gedanklich mit Sachverhalten beschäftigen können, ohne dass wir direkt mit den Sachverhalten hantieren müssen. Kinder in den ersten Lebensjahren denken demgegenüber sensomotorisch. Ihr Denken findet in ihren unmittelbaren Wahrnehmungen und Handlungen statt, sie begreifen Gegenstände, indem sie sie be-greifen, mit ihnen spielen, sie an den Mund führen. Erst langsam werden von den Gegenständen interne Bilder abgespeichert. Vor dem achten Monat suchen Kinder nicht nach vor ihren Augen verdeckten Gegenständen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Was das mit Fasching und Karneval zu tun hat? Schließlich geht es hier ja nicht um das Verstecken von Gegenständen. Die Objektpermanenz von sozialen Objekten (anderen Kindern, Erwachsenen) braucht länger als die Objektpermanenz für Gegenstände. Die Ursachen dafür sind nicht ganz klar, wahrscheinlich liegt es an der äußeren Variabilität von Menschen. Man muss als Kind also viele unterschiedliche Eindrücke von einem Menschen abspeichern, bis man ihn als identische Person immer auch wiedererkennen kann. Das

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»Nicht mal mehr loben soll man?«

macht Kinder in den ersten Lebensjahren sehr konservativ. Selbst eine neue Frisur der Erwachsenen, ein neues Outfit kann bei Kindern Verwirrung auslösen. Ist das immer noch dieselbe Person, die ich kenne? Fasching und Karneval stellen demzufolge die kognitive Belastbarkeit von Kindern auf eine sehr harte Probe. Man kommt als Kind eines Tages in die Einrichtung, ist selbst verkleidet (was den Kindern zumeist herzlich egal ist), trifft scheinbar auf lauter Fremde, da man unter den Verkleidungen die anderen Kinder und die Erzieherinnen und Erzieher nicht wiedererkennt – die Tagesabläufe sind anders, und man soll auch noch fröhlich sein? Diese Belastung sollten Sie allen Krippenkindern ersparen.

A

nna hat Angst – »Wir machen das mit der Eingewöhnung ganz individuell.«

Hinter dem Anliegen, alle Kinder in die Kindertageseinrichtungen und Horte einzugewöhnen, (ja, ich wünsche mir auch, dass die Kinder durch ihre Eltern in Schule und Hort eingewöhnt werden, ein frommer Wunsch, ich weiß) stecken entwicklungspsychologische Erkenntnisse aus der Bindungsforschung. Menschliches Verhalten pendelt permanent zwischen den Polen Schlafen, Explorationsverhalten und Bindungsverhalten. Explorationsverhalten ist aus pädagogischer Sicht das gewünschte Verhalten. Es beschreibt das neugierige Erforschen der dinglichen und sozialen Umwelt, das sich Fragenstellen, das Ausprobieren, das Herausfinden, wie die Welt so funktioniert. So werden neue Handlungsweisen entwickelt, es wird neues Wissen ausprobiert, Probleme werden gelöst, Anforderungen werden bewältigt, und all dies bezeichnen wir dann als menschliches Lernen. Wenn eine pädagogische Einrichtung also möchte, dass die Kinder viel lernen, so muss sie den Kindern viel Raum zum Erforschen, Ausprobieren, Handeln geben und sie muss den Kindern Explorationsverhalten ermöglichen. Explorationsverhalten selbst kann nicht geweckt oder gefördert werden. Es entspringt dem den Menschen innewohnenden NeugierdeTrieb und wird immer dann aktiv, wenn der Mensch sich mit neuen Situationen, unbekannten Herausforderungen, verwickelten, interessanten Problemen konfrontiert sieht. Zu wenig Herausforderung

Beziehungsorientierte Pädagogik197

führt zur Langeweile, gefährlich ist aber auch ein Zuviel an Herausforderung. Völlig neue, unbekannte, potenziell bedrohliche Situationen führen dazu, dass Menschen (Kinder wie auch Erwachsene) das Explorationsverhalten beenden und Bindungsverhalten zeigen. Unter Bindungsverhalten verstehen wir alle menschlichen Verhaltensweisen, die dazu führen, dass die Unsicherheit der Situation reduziert wird und subjektiv Schutz und Sicherheit wiederhergestellt werden. Explorationsverhalten und Bindungsverhalten sind Gegenspieler. Beide können niemals gleichzeitig auftreten. Wenn eine pädagogische Einrichtung also möchte, dass die Kinder viel Explorationsverhalten zeigen, so muss sie in erster Linie dafür sorgen, dass die Kinder sich in ihr wohl, geschützt und sicher fühlen. Die pädagogische Einrichtung ist für alle Kinder zunächst ein fremder, bedrohlicher Ort. In dieser Umgebung sind die Kinder auf Erwachsene angewiesen, die ihnen Schutz und Sicherheit signalisieren und den Kindern somit die Exploration der fremden Umgebung ermöglichen. Kinder erforschen die Umwelt, wenn ihre Bezugspersonen in der Nähe sind. Sie lernen dabei den Ort selbst und die Anwesenden (die anderen Kinder, die Erzieher) näher kennen. Dazu dient die Eingewöhnung. Sie muss solange dauern, bis das Kind sich in der neuen Umgebung wohlfühlt und die Erzieherin als Signalgeber für Schutz und Sicherheit akzeptiert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dem Kind – im Unterschied zu Erwachsenen, die ja auch mit Übergängen konfrontiert sind – mit ähnlichen Situationen zumeist Vorerfahrungen fehlen und dass der Übergang in die pädagogische Einrichtung aus Sicht der Kinder nicht freiwillig erfolgt. Offen ist auch, ob die Eltern wirklich Schutz und Sicherheit in der Einrichtung signalisieren können bzw. ob sich die Eltern denn selbst in der fremden Situation der Tagesstätte wohl, geschützt und sicher fühlen. Fällt es den Eltern schwer, sich von den Kindern zu trennen, so werden sie dies unbewusst den Kindern nonverbal signalisieren. Eingewöhnung der Kinder ist somit zu einem sehr großen Teil auch Eingewöhnung der Eltern. Dies sind Faktoren, die die Eingewöhnung der Kinder zusätzlich erschweren. Umso mehr erscheint mir deswegen ein Zeitraum von einer Woche für die Eingewöhnung als viel zu kurz und Trennungsversuche von den Eltern bereits nach zwei, drei Tagen als stark verfrüht. Eingewöhnung ist kein Leistungssport.

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»Nicht mal mehr loben soll man?«

In ihr steht das längerfristige Wohlbefinden der Kinder im Vordergrund, nicht praktische Erwägungen von Erwachsenen, die diesen Prozess gar nicht oder so schnell wie möglich absolvieren wollen. »Ja, aber, Herr Mienert, wir wurden doch seinerzeit auch nicht eingewöhnt. Hat uns das denn geschadet?« Diese Frage vermag ich nicht zu beantworten, da ich natürlich nicht weiß, wie perfekt wir alle uns entwickelt hätten, wenn man uns tatsächlich eingewöhnt hätte. Es geht auch nicht um einen angeblichen längerfristigen Schaden, sondern die sehr akute Belastung, die Kinder in der unbekannten Situation erleben und der sie sich selbst nicht entziehen können. Wenigstens drei Wochen Anwesenheit der Eltern oder einer erwachsenen Bezugsperson in der Einrichtung, soviel Entgegenkommen für die Anpassungsleistung der Kinder muss drin sein. Kein Kind wird ohne diese Eingewöhnung genommen, unter keinen Umständen. Und, es wird auch nicht individuell eingewöhnt, nach den sichtbaren Verhaltensweisen der Kinder. Alle Kinder bekommen genau dasselbe Programm, das vorher mit den Eltern abgesprochen wird. Keine Eingewöhnung wird verkürzt, nur weil die Kinder sich scheinbar leicht von den Eltern trennen oder scheinbar unbelastet im Alltag wirken. Die Betonung liegt hier auf scheinbar. Die Bindungsforschung spricht nicht von einer guten oder schlechten Bindung von Kindern. Es gibt auch nicht so etwas wie eine starke oder schwache Bindung zwischen Eltern und ihren Kindern. Beobachtungen aus dem Alltag der Kommunikation zwischen Eltern und ihren Kindern lassen keine Bewertungen zu. Unterschiede sind nur scheinbar, was wirklich in den Eltern und ihren Kindern in den Trennungssituationen vorgeht, kann an den äußerlich sichtbaren Verhaltensweisen nicht abgelesen werden. In der Bindungsforschung werden sichere von unsicheren Bindungstypen unterschieden. Sicher gebundene Kinder zeigen ihre Belastung dadurch, dass sie ihr Explorationsverhalten in unbekannten Umgebungen beenden und durch Weinen, Rufen, sich Anklammern Fürsorgeverhalten bei ihren Bezugspersonen auslösen. Die Bezugspersonen reagieren darauf sensitiv und kümmern sich um das belastete Kind. Nicht alle Kinder reagieren jedoch in Trennungssituationen mit sichtbarem Bindungsverhalten. Sie spielen scheinbar ungerührt weiter und nehmen auch die Wiederkehr ihrer Bezugsperson eher nur beiläufig zur Kenntnis. Diese

Beziehungsorientierte Pädagogik – ein Ausblick, kein Fazit 199

Kinder, die als unsicher-vermeidend bezeichnet werden, haben deswegen nicht weniger Bindungsbedürfnis als die Kinder, die sofort nach der Wiedervereinigung glücklich auf die Bezugsperson reagieren und weiterspielen (sicher gebundene Kinder). Ihr Bedürfnis ist auch nicht kleiner als bei den sehr empörten, heftig reagierenden Kindern, die auch durch die Rückkehr ihrer Bezugsperson nicht zu trösten sind (unsicher-zwiespältig gebundene Kinder). Das haben entwicklungspsychologische Untersuchungen zum Cortisolspiegel bei den unterschiedlichen Kindern in den Trennungssituationen eindrücklich gezeigt. Die scheinbar unbelasteten Kinder hatten einen höheren Cortisolspiegel im Speichel als die Kinder, die in der Trennungssituation Bindungsverhalten zeigten. Ihr Stresslevel war also sogar höher als bei den anderen Kindern, ein Stress, der auf der Trennung beruht und gleichzeitig auf dem gelernten Verhalten, die eigene Belastung nach außen hin nicht zeigen zu dürfen. Wenn Einrichtungen individuell eingewöhnen, kommen erfahrungsgemäß gerade die unsicher-vermeidenden, braven, stillen, angepassten Kinder zu kurz. Aus Sicht von Eltern und Einrichtungen ist das brave, stille, ungerührte Verhalten vielleicht praktisch. Es ist aber pädagogisch nicht wünschenswert.

7.8 Beziehungsorientierte Pädagogik – ein Ausblick, kein Fazit Ein Arbeiter an einer Werkbank oder am Fließband hat es leicht. Sein Werkzeug ist aus Metall, er kann damit ein Material bearbeiten und es zu einem gewünschten Produkt formen. Am Ende existieren dann Qualitätskriterien, anhand derer sich das hergestellte Produkt bewerten lässt. Hat der Arbeiter eine gute Anzahl von qualitativ hochwertigen Produkten erzeugt, so hat er an diesem Tag eine gute Arbeit geleistet. Er kann zufrieden nach Hause gehen und sich an seinem Feierabend erfreuen. War seine Leistung an einem Tag nicht ausreichend, so kann er sich vornehmen, am nächsten Tag entsprechend mehr und in besserer Qualität zu leisten. Auch seine Auftraggeber und Vorgesetzten kennen diese Qualitätskriterien und seine Leistungszahlen. Sie werden ihn im Gespräch mit diesen Anforderungen vergleichen und gute Arbeit loben und schlechte Arbeit tadeln.

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»Nicht mal mehr loben soll man?«

Und wie ist das in der Pädagogik? Wann hat eine pädagogische Fachkraft ihre Arbeit gut gemacht? Wann kann sie nach getaner Arbeit beruhigt nach Hause gehen? Ist es die Zahl der Angebote, die sie unterbreitet hat und für die sie die Kinder motivieren konnte? Ist es die Disziplin, die in der Gruppe geherrscht hat? Sind es vorzeigbare Produkte, die ausgestellt werden? Die angebots- und trainingsorientierte Pädagogik hat versucht, Wissen und Fähigkeiten von Kindern abrechenbar zu machen. Viel Stoff durchgenommen, viel geschafft, alle fertig und geschafft. Beziehungsorientierte Pädagogik kann ihren Erfolg schwerer quantifizieren. Habe ich es geschafft, mit allen Kindern meiner Gruppe heute wenigstens ein persönliches Gespräch zu führen, ohne Leistungsziele, ohne Bewertung des Kindes? Ein echtes Einzelgespräch, ohne Zeitdruck, ohne dass wir uns haben von den Geschehnissen um uns herum stören lassen? Habe ich mich dabei wirklich auf das Kind und seine Themen eingelassen, ohne meine Themen einzuschmuggeln? Ist es mir gelungen, meine Beobachtungen vom Kind wirklich sachlich und interpretationsfrei mit ihm zu besprechen? Habe ich dabei das Prinzip beachtet, dass tatsächlich jede Beobachtung vom Kind zunächst mit dem Kind selbst besprochen werden muss und dass das Kind dann entscheiden kann, was von diesen Beobachtungen an andere (Eltern, Kolleginnen und Kollegen usw.) weitergereicht wird? Habe ich dabei als Fachkraft die Vielfalt der Kinder tatsächlich befördert, individuelle Lösungen unterstützt anstatt auf Einheitlichkeit und Ordnung zu drängen? Stand beim Lernen der Kinder der selbstbestimmte Weg im Vordergrund oder doch wieder das vorbestimmte Ziel? Kann ich mich dabei auf mein Team verlassen, dass genauso vielfältig agiert wie die Kinder auch? Dokumentiere ich das Lernen des Kindes für das Kind oder doch eher für seine Eltern, Förderkräfte und die Schule? Hatten wir heute in der Einrichtung miteinander Spaß? Oder war es doch ein bisschen zäh, so wie beim Zahnarzt? Konnte ich den frechen Kindern vergeben oder war ich nachtragend? Habe ich heute wieder den Machtkampf ums Prinzip geführt, oder konnten die Kinder tatsächlich partizipativ und demokratisch ihr Lernen und Leben selbst bestimmen? Haben wir uns dabei an den langfristigen Erziehungszielen von Handlungsfreiheit und Verantwortungsübernahme orientiert oder doch eher wieder

Beziehungsorientierte Pädagogik – ein Ausblick, kein Fazit 201

an kurzfristiger Schadensvermeidung und Gefahrenabwehr? Hab ich mich mit all den Erwachsenen heute fachlich gestritten, ohne persönliche Angriffe? Und bin ich dabei Anwalt oder Anwältin der Kinder gewesen? Pädagogische Arbeit ist immer eine Arbeit für eine unsichere Zukunft. Niemand von uns weiß, was Kinder in zehn, zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren tatsächlich brauchen werden. Dieser Blick in die Glaskugel ist uns allen verwehrt. Was Kinder aber immer brauchen werden, ist das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Sie werden später kaum etwas von dem erinnern, was wir mit ihnen gebastelt oder gemalt haben. Aber sie werden sich an das Gefühl erinnern, das wir ihnen als Beziehung und Zuversicht mitgegeben haben.

8. Von den »Ja, abers« hin zu den »Auf geht’s«

»Wenn ich nur darf, wenn ich soll, aber nie kann, wenn ich will, dann mag ich auch nicht, wenn ich muss. Wenn ich aber darf, wenn ich will, dann mag ich auch, wenn ich soll, und dann kann ich auch, wenn ich muss. Denn schließlich: Die können sollen, müssen wollen dürfen.   Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte ›wo kämen wir hin‹, und niemand ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen …   Ob es besser wird, wenn es anders wird, weiß ich nicht. Dass es aber anders werden muss, wenn es besser werden soll, ist gewiss.« Johannes Conrad (1929– 2005)

A

nna hat Angst – »Bei uns werden alle Kinder mit den Eltern eingewöhnt.«

»Für die Eingewöhnung der Kinder gibt es bei uns ein festgelegtes Konzept. Das Konzept beruht auf dem Berliner und dem Münchner Eingewöhnungsprogramm. Alle Kinder bekommen bei uns dieselbe Eingewöhnung, mindestens drei Wochen in Anwesenheit von Mutter oder Vater. Grundsätzlich wird bei uns kein Kind ohne Eingewöhnung genommen. Manchmal sagen Eltern, sie könnten aus beruflichen Gründen keine Eingewöhnung machen. Wir sind zu kreativen Lösungen bereit, Eingewöhnung an einzelnen Tagen, Eingewöhnung am Nachmittag. Zur Not kann auch die Oma oder der Opa die Eingewöhnung machen, wenn zum Kind eine Bindung besteht. Ansonsten weisen wir Eltern ab. Dann können die ihr Kind eben bei uns nicht anmelden.«

B

ritta belegt sich selbst ein Brötchen – »Wir fördern die Selbstständigkeitsentwicklung der Kinder von Anfang an, auch bei den Allerkleinsten.«

»Soll eine Vierjährige wie Britta bereits mit einem Messer hantieren wie die Großen? Aber selbstverständlich. Schon im Krippenalter dürfen sich unsere Kinder an den Werkzeugen der Großen ausprobieren. Wir haben richtiges Geschirr für die Kinder mit richtigen Tassen, schönen Gläsern. Die Kinder probieren sich mit Messern, Gabeln und Löffeln aus. Wir selbst sind dabei Vorbild, aber nicht Trainer der Kinder. Beim Bauen verwenden die Kinder richtiges Erwachsenen-

Von den »Ja, abers« hin zu den »Auf geht’s«203

werkzeug, gebastelt wird mit richtigen Scheren. Na klar, manchmal passieren auch Unfälle, aber dann gibt es ein Pflaster und gut ist. Meistens geht alles gut aus. Die Kinder sind viel geschickter, als wir es ihnen je zugetraut hätten.«

C

arlos cremt gern sein Gesicht ein – »Carlos hat bei uns seine eigene Kosmetikecke bekommen.«

»Wir haben uns im Team nochmal sehr genau und bewusst mit unseren eigenen Vorurteilen auseinandergesetzt. Uns ist aufgefallen, dass wir zwar immer die Individualität der Kinder betont haben, im Alltag aber oft nicht entsprechend gehandelt haben. Carlos ist so, wie er ist. Er hat unseren Blick für die kleinen Besonderheiten aller Kinder geschärft. Conny computert gern, liebt Mathematik und Zahlen. Nichts für Mädchen? Sowas lassen wir nicht gelten. Cemal spielt mit Puppen? Was kann da wirklich unsere Besorgnis erregen? Dass er mal ein guter Vater wird? Die Gespräche mit den Eltern dazu sind manchmal wirklich nicht leicht. Uns hat geholfen, dass wir die vorurteilsbewusste Erziehung in unserer Konzeption festgehalten haben. Dabei wissen wir den Bildungsplan unseres Landes auf unserer Seite.«

D

aisy ist unser Dickerchen – »Ob dick oder dünn, die Ernährung der Kinder zuhause ist Sache der Eltern.«

»Klar, paar Kilogramm weniger würden Daisy sicherlich nicht schaden. Aber mal ganz ehrlich, wir Erzieherinnen selbst sind auch nicht alle die Allerschlanksten. Wir versuchen den Kindern in der Einrichtung ein gutes Vorbild zu sein, was die Ernährung betrifft. Im Kinderrat wird allerdings das besonders gesunde Essen immer recht schlecht beurteilt. Somit ist die gesunde Ernährung immer auch ein Kompromissthema. In die Ernährungsgewohnheiten der Familien selbst mischen wir uns nicht ein. Im Entwicklungsgespräch mit Daisys Eltern ist uns deutlich geworden, wie glücklich die Daisy zuhause ist. Ich selbst muss die Eltern ja nicht mögen, und sicherlich würde ich meine Kinder zuhause anders erziehen. Aber in unterschiedlichen Lebensbereichen gelten unterschiedliche Regeln, und Daisy kommt damit wunderbar klar. Ein echtes Entwicklungsrisiko hat sie durch ihr Dicksein nicht.«

E

mines Eltern kommen nie – »Erziehungspartnerschaft wird von uns Erzieherinnen und Erziehern initiiert. Wir bleiben dran!«

»Wir haben uns selbst überprüft. Immer, wenn wir uns an Frau Endogin gewendet haben, war es, um irgendwelche Kritik zu äußern, schlechte Nachrichten zu überbringen oder gute Ratschläge zu verteilen. Klar, dass die keine Lust mehr auf

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Von den »Ja, abers« hin zu den »Auf geht’s«

Partnerschaft mit uns hat. Ich habe in unserem Team den besten Draht zu Frau Endogin. Ich hab sie mir zur Seite genommen und gefragt, ob wir die Zusammenarbeit noch mal neu beginnen können. Dabei hab ich ihr das Versprechen gegeben, alle Belehrungen in Zukunft sein zu lassen. Frau Endogin wirkte sehr überrascht. Interessanterweise war ihr gar nicht klar, dass wir uns ihre Anwesenheit bei Elternabenden wünschen. Aus ihrer Sicht hat sich die Rollenverteilung ganz anders dargestellt. ›Sie sind doch die Erzieherin, das ist doch ihr Beruf. Warum muss ich da in der Kita mitarbeiten?‹ Darüber muss ich selbst erst noch einmal in Ruhe nachdenken«

F

ritz macht immer Faxen – »Fritz ist ein Schlingel. Um seine Zukunft müssen wir uns keine Sorgen machen.«

»Eigentlich kann ich Fritz nur bewundern. In einer Gruppe von 15 Kindern schafft er etwas, was jedem Kind zusteht – er holt sich jederzeit die Aufmerksamkeit, die er gerade braucht. Über die Jahre ist mir Fritz so ganz besonders ans Herz gewachsen. Ich weiß, Fritz hat gelernt, für sich zu sorgen, seine Themen anzubringen, andere auch für seine Interessen einzuspannen, Aufmerksamkeit zu bekommen. Nicht, dass ich das immer gut finde. Aber wenn er so weitermacht, wird aus dem ganz sicher mal eine gesellschaftliche Spitzenkraft. Ich muss nur aufpassen, dass ich bei meiner ganzen Aufmerksamkeit für Fritz nicht Franziska völlig aus den Augen verliere. Sie ist mein eigentliches Sorgenkind, weil sie so brav und angepasst ist, dass ich bisher so gar keine Beziehung zu ihr entwickeln konnte. Was mag wohl in ihrem Kopf so vorgehen?«

G

ustaf ist schon ganz gelenkig – »Ja, und dafür haben wir die Aufsicht bei uns neu geregelt.«

»Die Eltern haben wir von Anfang an darauf vorbereitet, dass bei uns viel getobt, gerannt, geklettert wird. Wir gewährleisten die Aufsichtspflicht, halten die Kinder aber nicht von allen Gefahren fern, denn wir wissen, dass die Gefährdung der Kinder steigt, wenn sie nie die Chance hatten, auch mal gefährliche Situationen im Alltag zu erleben. Nicht alle Kolleginnen halten das gleichermaßen gut aus. Deshalb haben wir die Aufsichtsbereiche neu eingeteilt. Aufsicht macht in einem Bereich immer die Kollegin, die dort das dickste Fell hat. Erzieherinnen, die sehr empfindlich sind, dürfen sich in der Nähe von Klettergerüst, Toberaum und Werkzeugkasten nicht mehr aufhalten. Ansonsten gilt bei uns ›Situationsgestaltung vor Schimpfen‹. Sachen, an die die Kinder wirklich nicht ran dürfen, sind bei uns unsichtbar und weggeschlossen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Den Flur haben wir mit Teppich umgestaltet, sodass die Verletzungsgefahr beim Hinfallen gesunken ist. Die wildesten Kinder können bei uns jederzeit rausgehen. Eine Erzieherin macht immer draußen Aufsicht.«

Von den »Ja, abers« hin zu den »Auf geht’s«205

H

annes macht nie Hausaufgaben – »Gut so, ich find Hausaufgaben auch völlig daneben.«

»Nun endlich hat es die grundsätzliche Auseinandersetzung mit unseren Lehrerinnen und Lehrern gegeben. Im Zug des Aufbaus der Ganztagsbetreuung hatten die nämlich versucht, einfach ihr altes Programm am Vormittag weiterzumachen und ganz traditionell auch dem Hort Aufgaben für den Nachmittag zuzuteilen. Hausaufgaben waren dabei ein heißes Eisen, das stimmt. Aber wir konnten uns auf folgenden Kompromiss einigen: Im Hort werden keine Hausaufgaben mehr gemacht. Kinder, die in der Ganztagsbetreuung sind, bekommen von den Lehrerinnen und Lehrern hausaufgabenfrei. Nur die Mittagskinder bekommen Hausaufgaben auf. Nun wollen alle Kinder unbedingt in den Hort.«

I

nez und Immo inklusiv – »Wir bereiten unsere Kita auf alle Kinder gleichermaßen vor.«

»Ob das nun Integration oder Inklusion heißt, ist doch eigentlich egal. Wir als Fachkräfte sind uns im Team einig: Bei uns ist jedes Kind gleichermaßen herzlich willkommen. Bei uns hat nämlich jeder so seine ganz persönliche Behinderung, die Erwachsenen genauso wie die Kinder. Bei manchen ist sie sichtbar, bei manchen nicht. Wir sind froh über schwierige Kinder, die es bei uns gibt. Auch die beißenden, auch die aggressiven Kinder, denn genau von denen können die anderen Kinder lernen, wie man im Leben damit umgeht, wenn man gebissen oder angegriffen wird. Diese Lernchance hätten die Kinder ohne unsere Verhaltensauffälligen nicht. Für die Eltern ist das schwer nachzuvollziehen, sie wollen häufig ihr Kind in Watte gepackt sehen. Aber das können die zuhause ja machen. Wir setzen uns mit allen Kindern auseinander. Wenn wir bei einzelnen Kindern nicht weiterwissen, dann lassen wir uns beraten. Im Team, in kollegialer Beratung, durch die Fachberatung, durch externe Fachkräfte.«

J

ulius ganz jähzornig – »Wenn es heiß hergeht, bewahre ich selbst Ruhe.«

»Julius ist eine große Herausforderung für uns und für die anderen Kinder. Er gibt den Kindern die Chance, den Umgang mit aggressiven Verhaltensweisen anderer Menschen adäquat zu erlernen, auch wenn das leider oft schmerzhaft ist. Gerade wenn Aggressionen auftauchen, ist es uns als pädagogische Fachkraft wichtig, keine Fehler zu machen. Mit Julius spreche ich nur in seinen ruhigen Minuten. Wenn er andere Kinder angreift, so weiß ich, dass ich selbst als Vorbild keine körperliche Überlegenheit einsetzen darf, auch nicht am Arm ziehen oder ihn festhalten. Ich bin das Vorbild, er darf von mir nicht das Recht des Stärkeren

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Von den »Ja, abers« hin zu den »Auf geht’s«

lernen. Ich konzentriere mich auf das angegriffene Kind und beobachte, welche Strategien es selbst wählt. Die anderen Kinder ermutige ich dazu, dem Schwächeren beizustehen. Im anschließenden Gespräch mit dem angegriffenen Kind bespreche ich meine Beobachtungen sachlich und neutral. Ich frage das Kind, wie es ihm ging und arbeite auf Strategienvielfalt bei ihm hin, die sich an den Grundsätzen von »Kampf«, »Flucht«, »Erstarren« orientiert. Sollte ein Kind bei Leib und Leben bedroht werden, so schalten wir die Polizei ein und ermuntern auch dessen Eltern zur Anzeige, egal wie alt das Kind ist. Das ist mit unserem Kontaktbereichsbeamten bereits so abgesprochen.«

K

im und Kathi feiern keinen Karneval, Fritz und Fine reagieren bei Fasching ganz verstört – »Bei uns wird mit Unter-Dreijährigen nichts mit Verkleiden gespielt.«

»Fasching und Karneval gibt es bei uns nur für die Kinder ab vier Jahren. Für die Kleineren grundsätzlich nicht, auch nicht freiwillig oder als Angebot. Da können die Eltern noch so betteln, da sind wir konsequent. Als Fachkräfte mit psychologischer und pädagogischer Ausbildung wissen wir um die Entwicklungsbesonderheiten der kleinen Kinder. Wir haben uns im Team noch mal mit der Denkentwicklung von Kindern beschäftigt. Im ersten Elternabend haben wir das Thema emotionale und kognitive Entwicklung den Eltern erläutert. Kleine Kinder erleben großen Stress beim Karneval, da sie ihre Bezugspersonen nicht mehr wiedererkennen. Von daher ändern wir Erzieherinnen nicht mal mehr die eigene Frisur. Klingt komisch, ist aber wahr.«

L

 nnart lernt aufräumen – »Das Übernehmen von Verantwortung e für das eigene Handeln ist das schwierigste und langfristigste Erziehungsziel von allen.«

»Ordnung ist ein sehr individuelles Thema. Selbst die Erzieherinnen sind ja sehr unterschiedlich ordentlich. Lennart erlebt, dass manche der Kolleginnen damit sehr lax umgehen, manche nicht. Warum er immer aufräumen soll, ist von daher natürlich für ihn als Kind schwer nachvollziehbar. Wir haben eine Kinderkonferenz gemacht, ganz konkret zum Thema Bausteine, nicht so allgemein zum Thema Aufräumen. Die Kinder haben vorgeschlagen, dass Bauwerke einen Tag stehen bleiben dürfen. Nicht verbaute Bausteine müssen in die Kiste zurückgepackt werden. Kinder, die sich daran nicht halten, bekommen eine Woche Bausteinverbot. So der Vorschlag der Kinder, ich fand das zu hart, aber die Kinder halten sich eisern daran. Wenn Lennart Bausteine rumliegen lässt, warte ich jetzt erstmal ab, ob die anderen Kinder reagieren. Leonie reagiert fast immer und schimpft mit Lennart. Ich glaube, hier entwickelt sich etwas Längerfristiges zwischen den beiden!«

Von den »Ja, abers« hin zu den »Auf geht’s«207

M

ax muss mal – »Der Topf beginnt im Kopf.«

»Die Sauberkeitserziehung hat sich grundsätzlich geändert. Durch die Wegwerfwindeln ist das Wickeln der Kinder kein großes Thema mehr. Früher mussten die Dinger ja noch gekocht werden. Uns im Team ist aufgefallen, dass die Windeln heute so trocken sind, dass die Kinder kaum noch spüren, wenn die Windel voll ist. Natürlich verlängert sich dadurch die Sauberkeitsentwicklung. Wir warten ab. Das Interesse am Topf kommt bei allen Kindern früher oder später. Manche wollen sogar den Topf überspringen und direkt die Toilette ausprobieren. Wir haben dafür Spezialsitze besorgt.«

N

oah ist natürlich nicht müde – »Bei uns regeln das die Kinder mit der Mittagsschlaferzieherin.«

»Wir haben uns im Team selbst einen Riesengefallen getan. Bei uns gibt es jetzt den Mittagsschlafdienst. Gemeinsam mit den Kindern haben wir den schönsten Raum zum Entspannungsraum gemacht. In der Mitte steht ein riesiges wunderschönes Bett, um das Bett herum gibt es große Körbe für die Kleinen, Sofas, Liegen, Sessel, Sitzsäcke, alles total gemütlich. Mittags geht die Mittagsschlaferzieherin ins Bett und verkündet: ›Kinder, egal was ihr jetzt macht, ich schlafe jetzt, und ihr dürft mich nicht beim Schlafen stören!‹ Die Kinder können sich ihren Schlafplatz selbst aussuchen, auch bei der Erzieherin im Bett, auf den Stühlen, auf dem Boden. Wer nicht schlafen will, muss nicht. Es gibt ja auch die Draußenerzieherin, und die Kinder können dann zu ihr rausgehen. Manche schlafen dann auch draußen.«

O

rnella soll Ordnung halten – »Jedes Kind hat sein eigenes kreatives Chaos.«

»Ich weiß, dass Ornella das kreative Chaos braucht. Ich hab meine Beobachtung mit ihr besprochen, und sie sagt, dass sie nicht richtig arbeiten kann, wenn dauernd jemand an ihr rummeckert. Dabei hat sie mich sehr vorwurfsvoll betrachtet. Warum auch nicht. Bei der Ordnung ist jeder anders. Ornella darf sich ihren Arbeitsplatz jetzt so einrichten, wie sie sich wohlfühlt. Wenn sie mit ihren Sachen in den Arbeitsplatz anderer Kinder eindringt, dann machen diese Ornella darauf aufmerksam. Sie darf auch Hausaufgaben auf dem Boden machen. Mich stört das nicht. Okay, manchmal ärgere ich auch Ornella und vertausche die Sachen auf ihrem Tisch. Dann verdreht sie die Augen und bringt alles wieder in die alte Stellung zurück. Sie mag wohl doch Ordnung ganz gern.«

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P

Von den »Ja, abers« hin zu den »Auf geht’s«

ias Papa ist weg – »Bei uns sind alle Mütter und Väter gleichermaßen herzlich willkommen.«

»Die Familiensituationen unserer Kinder sind sehr vielfältig. Bei uns gibt es kaum noch eine klassische Vater-Mutter-Kind-Familie. Wir als Team sind da selbst nicht anders. Wir haben mal in der Teamsitzung geschaut und festgestellt, dass nur noch Kollegin Petra in traditioneller Ehe lebt. Die Realitäten des Lebens bilden wir selbst also auch ab. Kann sein, dass es Pia schwer hat, da ihre Mutter alleinerziehend ist und wenig Zeit hat. Pia liebt ihre Mutter trotzdem über alles. Wenn Pia bei uns ist, versuchen wir – wie bei jedem anderen Kind ja auch – ihr eine tolle Zeit zu ermöglichen. Für manche Kinder ist das ein echter Ausgleich zum schwierigen Zuhause. Die Eltern für ihre Lebensform zu kritisieren, das tun wir nicht. Woher wollen wir denn wissen, wie es den Kindern zuhause wirklich geht? Und wer will sich anmaßen, das zu bewerten? Neulich hat Petra uns von den Schwierigkeiten berichtet, die sie selbst mit ihrem perfekten Ehemann und ihren perfekten Kindern immer wieder hat. Na schau an, selbst die klassische Familie ist wohl nicht automatisch ein Hort der Glückseligkeit.«

Q

uentins Vater quengelt – »Die Kinder lernen an ihren eigenen Themen im Spiel. Da kann Herr Quindt quengeln, wie er will.«

»Die Bildungspläne der Bundesländer haben die Selbstbildungsprozesse der Kinder ins Zentrum gestellt. Anders als früher, wo die Erzieherin die Bestimmerin des kindlichen Alltags war und alle das gleiche lernen und machen mussten, haben bei uns die Kinder heute die Freiheit, ihren eigenen Interessen zu folgen. Manche mögen das offene Arbeit nennen, aber Chaos oder Anarchie herrschen bei uns ganz sicher nicht. Die Erziehungspartnerschaft mit den Eltern ist dabei eine große Herausforderung. Sie kennen es selbst so nicht und haben als Nicht-Pädagogen den gesellschaftlichen Wandel auch nicht unbedingt reflektieren müssen. Der Übergang in die Wissensgesellschaft, das Ende des Kollektivismus und die überwachte Kindheit erfordern heute von uns Fachkräften ein grundsätzlich verändertes Verständnis des pädagogischen Alltags. Wir klären die Eltern auf, verdeutlichen Hintergründe, beziehen die Eltern demokratisch mit ein. Dienstleister, die den Eltern alles Recht machen, sind wir deshalb noch lange nicht. Eltern und wir können unterschiedliche Strategien verfolgen, aber der Wunsch nach dem Wohl der Kinder eint uns. Erziehung der Kinder zu Lernbegeisterung, Freiheit und Selbstverantwortung, das ist die Dienstleistung, die wir für die Kinder erbringen.«

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R

ike mag keine Roten Rüben – »Bei uns muss nichts gekostet werden.«

»Viel zu lange war bei uns Mittagessen ein Stress- und Kampfthema. Heute heißt es Mampf statt Kampf. Wir wollen, dass die Kinder beim Essen viel Spaß haben. Wir haben gemeinsam ein Kinderrestaurant eingerichtet. Es gibt bei uns Kinderkellner, die an den Tischen bedienen, derzeit mit viel Spaß, mal sehen, ob das so bleibt. Die Kinder können selbst essen, was, wann, wie viel und wie lange sie essen wollen. Das Kinderrestaurant ist mittags eineinhalb Stunden offen, also muss nicht jeder zur gleichen Zeit essen. Kinder, die in der Zeit nicht essen wollen, brauchen einen guten Draht zur Küchenfrau. Wir halten uns als Erzieherinnen da raus. Gekostet werden muss nichts. Wir selbst essen ja auch nicht alles. Wir setzen auf die Vorbildwirkung von uns und den anderen Kindern beim Essen. Rote Rüben mampfen wir dann mit großer Begeisterung und hoffen, dass der Funke auf die Kinder überspringt. Wenn nicht, so ist das auch okay. Verhungert ist in der Einrichtung bisher noch niemand.«

S

imon isst kein Schweinefleisch – »Konflikte müssen mit den Eltern vorher besprochen werden.«

»Die Kita ist unser Tanzbereich. Hier arbeiten wir nach unserer Konzeption und dem Bildungsplan unseres Bundeslandes. Werte, Ethik und Religion haben dabei einen festen Platz in unserer Arbeit. Dabei achten wir auf religiöse Vielfalt und bemühen uns, religiöse Traditionen nicht einfach nur einzuhalten, sondern sichtbar und für alle erlebbar zu machen. Unser Ansatz ist aber konfessionsübergreifend. Die Elternschaft trägt mitunter religiöse Themen in unsere Einrichtung hinein. Dann gibt es Streit um Weihnachten, das Schwimmen, das Essen, auch das Miteinander von Mädchen und Jungen, Frauen und Männern. Wir haben von daher begonnen, unsere pädagogische Arbeit viel nachdrücklicher von Anfang an mit allen Eltern zu besprechen. Wir sagen, welche Erziehungsziele wir haben und wie wir diese in der Arbeit verfolgen. Eltern müssen sich dann bereits bei der Anmeldung in der Einrichtung entscheiden, ob sie mit unseren pädagogischen Zielen übereinstimmen oder sich gar nicht darauf einlassen können. Zur Not müssen sich Eltern eine andere Einrichtung suchen.«

T

essa traut sich Treppen – »Gut so, unsere Treppen laden alle Kinder zum Treppensteigen ein.«

»Ob offene Arbeit tatsächlich für Krippenkinder ein geeigneter pädagogischer Ansatz sein kann, da sind wir uns im Team nicht einig. Viele Kolleginnen und Kollegen betonen, dass die Kleinen noch ihr Nest brauchen. Wir wollen die Klei-

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nen aber nicht von den anderen Kindern fernhalten. Auch unser Krippenbereich ist für die großen Kinder offen, und die Krippenkinder dürfen auch in den Bereichen der Großen gucken gehen. Unsere Treppen haben wir so umgebaut, dass Abstürze dort unmöglich sind. Das war ein zähes Ringen mit der Bauaufsicht, aber letztendlich haben wir uns durchgesetzt. Laufgitter und abgegrenzte Bereiche, die die Kleinen nicht verlassen können, gibt es bei uns nicht. Dafür haben wir aber sichergestellt, dass die Unter-Dreijährigen auch nie ohne Aufsicht sind. In unserem Team haben wir die Besten für die Kleinsten ausgewählt. Die Erzieherinnen mit Engelsgeduld und starken Nerven. Die, die es auch aushalten, wenn die Kinder mal ohne Jacke rausgehen wollen oder sich von oben bis unten in der Pfütze dreckig machen. Wir wissen, dass auch die Kleinen diese Freiheit für ihre eigene Entwicklung brauchen. Selbstständigkeit ist unser wichtigstes Erziehungsziel.«

Ü

mran übt das Ü – »Bei uns muss sich niemand einfügen. Wir mögen unsere Individualisten.«

»Ümran ist vielleicht nicht die allersozialste, zugegeben. Es fällt ihr schwer, sich mit anderen Kindern anzufreunden, bei Gruppenaktivitäten ist sie unglücklich. Ich habe meine Beobachtungen dazu mit ihr besprochen. Ich dachte, es fällt ihr aus Schüchternheit schwer, Kontakte aufzubauen, aber sie hat mir deutlich gesagt, dass sie gar nicht mit den anderen Kindern spielen will. Ich finde das in Ordnung. Ümran holt sich von mir ganz viel Futter, Bücher, Spiele, die gar nicht für ihre Altersgruppe sind. Wenn ihr der Lärm der anderen Kinder zu viel wird, dann darf sie ins Leitungsbüro. Dort beschäftigt sie sich still mit ihren Büchern. Ich lächle dann manchmal, weil ich mir Ümran als Wissenschaftlerin vorstelle.«

V

incent verballert sein Gehirn – »Der Umgang mit Technologien und Medien ist heute eine Kulturtechnik wie Lesen, Rechnen und Schreiben.«

»Zugegeben, die Meinungen zu Computer und Internet gehen in unserem Team weit auseinander. Insbesondere die älteren Kolleginnen tun sich damit schwer, teils aus eigenen Berührungsängsten, teils aus Unkenntnis. Deswegen die Kinder von den neuen Technologien fernzuhalten, käme uns aber nicht in den Sinn. Für uns ist es wichtig, dass die Kinder unter pädagogischer Betreuung, nach gemeinsam abgestimmten Regeln an die sinnvolle Nutzung von Computern, Smartphones und des Internets herangeführt werden. Auch in der Kita stehen moderne, gut funktionierende Computer zur Verfügung, derzeit beraten wir die Anschaffung von Tablets. Dabei steht bei uns die aktive Mediennutzung im Vordergrund: die Kinder konsumieren nicht nur, sondern gestalten selbst. Unter Begleitung von Victor und Verena – unseren Technikfans im Erzieher-

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team – nehmen die Kinder Filme auf, gestalten die Homepage der Einrichtung und betreuen die Fotodokumentationen in den Videobildrahmen. Wir haben uns sogar eine Wii angeschafft. An der haben sogar die älteren Kolleginnen Spaß, wenn auch erstmal nur mit dem Seniorengolfprogramm.«

W

illi will das nicht – »Willi muss so viel den Tag über wollen, was er nicht mag. Ich bin froh, dass er da manchmal die Reißleine zieht.«

»Willi ist drei Jahre alt. Als Fachkraft für kindliches Lernen kenne ich die entwicklungspsychologischen Besonderheiten seiner Altersgruppe. Als Zweijähriger hat Willi sein Ich-Konzept, also die Eigenständigkeit seiner Persönlichkeit entdeckt. Diese erprobt er in Auseinandersetzung mit anderen Personen. Im Alter von drei Jahren entwickeln die Kinder ihr Selbst-Konzept, also Ideen davon, wie sie sein wollen. Neue Gefühle von Schuld, Scham und Stolz tauchen in diesem Alter auf. Was allerdings noch bis zum Schuleintritt dauern wird, ist die Entwicklung der sozialen Perspektivübernahme. Willi ist wie alle Vorschulkinder, egozentrisch im besten Sinne. Wir haben uns ein großes Schild für unser Erzieherzimmer gemalt. Darauf steht ›Sie tun es nicht, um uns zu ärgern!‹ Das lässt uns auf manchen kindlichen Wutausbruch viel gelassener reagieren. Und dass Willi so frech grinst, wenn ich mit ihm schimpfe, das ist ein Schutzreflex, das hat die Natur allen Menschen mitgegeben. Jeder lächelt, wenn man mit ihm schimpft, als Unterwerfungsgeste, wie Hunde ihren Hals anbieten. Es soll signalisieren ›Tu mir nichts, ich bin doch keine Gefahr für dich!‹ Das wir das dann bei einem Dreijährigen persönlich nehmen, hat wohl mit unserem eigenen Stress zu tun.«

X

aver, Xenia x-beliebig – »Partizipation und demokratische Mitbestimmung finden bei uns von Anfang an ihren festen Platz im Alltag.«

»In allen Stammgruppen haben die Kinder ihre Gruppensprecher gewählt. Die Gruppensprecher treffen sich einmal in der Woche mit der Kitaleitung und diskutieren dort, welche Anliegen in den Gruppen aufgetaucht sind. Alle Kinder treffen sich regelmäßig im Kinderrat, sprechen aktuelle Probleme an, erarbeiten Lösungsvorschläge und legen Verantwortlichkeiten fest. Demokratie heißt nicht, jeder macht, was er will. Regeln werden in der Kinderkonferenz von den Kindern selbst festgelegt. Die Kinder achten auch auf deren Einhaltung. Demokratie erfordert viel Zeit, Kompromissbereitschaft, Abstimmungen und Verantwortungsübernahme. Die Mitbestimmung der Kinder beginnt dabei bereits natürlich schon in der Krippe. Die Kinder entscheiden selbst, ob sie schlafen wollen, was und wie viel sie essen, wo sie spielen möchten. Zu den Wahlen und Kinderkonferenzen werden auch die Kleinsten mit eingeladen. Auch wenn sie

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selbst dort nicht sprechen, so erleben sie sich von Anfang an als Teil der KitaGemeinschaft. Demokratie ist auch für uns im Team ein Entwicklungsziel. Wir versuchen anstehende Probleme gemeinsam zu diskutieren und Lösungsvorschläge abzustimmen. Wir legen Verantwortlichkeiten fest, haben sogar begonnen, Ausschüsse einzurichten und Leitungsfunktionen per Wahl zu besetzen. Aber der Weg zur demokratischen Einrichtung ist noch lang.«

Y

unus macht bei seinen Yuppieeltern, was er will  – »In unterschiedlichen Lebensbereichen gelten unterschiedliche Regeln.«

»Bei Yunus gelten zuhause andere Regeln – ja und? Das hat keinen Einfluss darauf, wie wir die Regeln in der Einrichtung gestalten. Zuhause ist Yunus in einer anderen Situation, als Einzelkind, mit seinen spezifischen Eltern, ihrer Kultur, ihrer Sprache, ihrer Traditionen. Hier in der Einrichtung gibt es viele Sprachen, viele Kulturen, viele Kinder. Natürlich müssen daher die Regeln bei uns anders aussehen. Yunus lernt derzeit etwas sehr Wichtiges, nämlich, dass in unterschiedlichen Lebenswelten unterschiedliche Regeln gelten. Wenn er bei den Großeltern ist, gelten ja wieder andere Regeln, oder im Sportverein, oder bei seinen Freunden. Ich würde mir manchmal wünschen, dass wir wenigstens unter den Erzieherinnen und Erziehern in der Einrichtung Einigkeit in unseren Zielen hätten – also quasi alle an einem Strang ziehen würden, auch wenn das Bild vom Strang schon sehr merkwürdig ist. Aber selbst das werden wir wohl wahrscheinlich nie ganz erreichen.«

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a charias zählt keine Zaubersteine – »Von mir bekommt die Schule einen neugierigen, kreativen, selbstbewussten, selbstständigen Zacharias.«

»Unsere Kinder haben bei uns erfahren, dass sie voller Neugierde, Kreativität, Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit an ihren Themen arbeiten können. Wir haben völlig auf künstliche Angebote verzichtet, da der Alltag selbst schon genügend Angebote für das Lernen der Kinder beinhaltet. Die Kinder haben bei uns Diskutieren und Mitbestimmen gelernt. Sie stehen zu ihrer Meinung und verteidigen diese auch gegenüber Erwachsenen. Innerlich freue ich mich, wenn ich daran denke, wie Zacharias und die anderen Kinder die altbackene Schule bei uns im Ort aufmischen werden. Leicht werden es die Lehrer mit diesen Kindern sicher nicht haben, aber das ist doch auch nicht mein Job – der Schule praktische Kinder zu liefern. Längerfristig werden Kinder wie Zacharias auch die Schulen ändern und die Kreativität ins Leben tragen. Und zählen lernt Zacharias dann, wenn es bei ihm dran ist. Vielleicht nicht an Zaubersteinen, sondern an seinem Thema, Star Wars. Da muss sich die Lehrerin halt was einfallen lassen.«

9. »  Das, was Sie erzählen, ist doch alles gar nicht neu!« – Literatur

Berger, M. (2005). Heil Hitler Dir! Du bist und bleibst der beste Freund von mir. Zur Kindergartenpädagogik im Nazi-Deutschland (1933–1945) – unter besonderer Berücksichtigung der Fachzeitschrift Kindergarten (1933–1942). Online Dokument, verfügbar unter http://www.kindergartenpaedagogik. de/1258.html (30. 03. 2016). Laewen, H. J. (ohne Jahr). Grenzsteine der Entwicklung. Ein Frühwarnsystem für Risikolagen. Online Dokument, verfügbar unter http://www.frueherziehung. ch/uploads/1/7/9/4/17948117/grenzsteine_der_entwicklung.pdf (30. 03. 2016). Sächsisches Staatsministerium für Kultus (Hrsg.). (2011). Der Sächsische Bildungsplan – Ein Leitfaden für Pädagogische Fachkräfte in Krippen, Kindergärten und Horten sowie für die Kindertagespflege. Weimar: Das Netz. Schroeter, L. (1975). Kollektiverziehung im Spiel jüngerer Vorschulkinder. Berlin: Volk und Wissen. Silbereisen, R. K. & Eyferth, K. (1986). Development as action in context. In R. K. Silbereisen, K. Eyferth & G. Rudinger (Hrsg.), Development as action in context. Problem behavior and normal youth development (pp. 3–16). Berlin: Springer. Sponsel, R. (2007). Kindeswohl-Kriterien. Familienrechtspsychologische Abteilung der SGIPT. Eine Serviceleistung der Allgemeinen und Integrativen PsychologInnen und PsychotherapeutInnen. Erlangen IP-GIPT. Online Dokument, verfügbar unter http://www.sgipt.org/forpsy/kw_krit0.htm (30. 03. 2016). Watson, J. B. (1930). Behaviorism. Revised edition. Chicago: University of Chicago Press.

10. »  Und, was verdienen Sie an den verkauften Büchern?!« – Tipps zum Weiterlesen

Die Zusammenarbeit mit Eltern verbessern Mienert, M. & Vorholz, H. (2007). Gespräche mit Eltern. Entwicklungs-, Konflikt- und Informationsgespräche. Troisdorf: Bildungsverlag eins. Mienert, M. (2014). Mit Eltern partnerschaftlich zusammenarbeiten. Von der Elternarbeit zur Erziehungspartnerschaft. klein&groß Das Kita-Magazin, 09/2014, 7–10

Regeln mit Kindern finden Mienert, M. (2016). Alles geregelt? Oder nur begrenzt? klein&groß Das KitaMagazin, 02–03/2016, 6–10 Mienert, M. & Vorholz, H. (2011). Schüler und Lehrer im Konflikt. Neue Strategien für ein respektvolles Miteinander. Paderborn: Schöningh.

Kindern mit auffälligem Verhalten begegnen Mienert, M. (Hrsg.) (2014). Kita aktuell spezial (05.2014) Verhaltens(un)auffällige Kinder. Neuwied: Carl Link, Wolters Kluwer. Mienert, M. (2014). Was ist schon normal?! Kriterien für Verhaltensauffälligkeiten aus entwicklungspsychologischer Perspektive. Kita aktuell spezial 05.2014, 15–18–

Die Pädagogik neu gestalten Mienert, M. & Vorholz, H. (2009). Kleine Kinder – große Schritte. Grundlagen der pädagogischen Arbeit mit Krippenkindern. Braunschweig: Schubi. Mienert, M. & Vorholz, H. (2011). Den Alltag öffnen – Perspektiven erweitern. Offene Arbeit in den Kitas nach den Bildungsplänen gestalten. Braunschweig: Schubi.