»Die Erfahrungen, die wir machen, sprechen gegen die Erfahrungen, die wir haben«: Über Formen der Erfahrung in den Wissenschaften [1 ed.] 9783428500963, 9783428100965

Wissenschaftliche Erfahrung ist einem verbreiteten Mythos zufolge ganz anders als Alltags- und Lebenserfahrung. Ihrem In

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»Die Erfahrungen, die wir machen, sprechen gegen die Erfahrungen, die wir haben«: Über Formen der Erfahrung in den Wissenschaften [1 ed.]
 9783428500963, 9783428100965

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"Die Erfahrungen, die wir machen, sprechen gegen die Erfahrungen, die wir haben"

ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwiasenschaften

Band 86

.,.,Die Erfahrungen., die wir machen., sprechen gegen die Erfahrungen., die wir haben" Über Formen der Erfahrung in den Wissenschaften

Herausgegeben von

Michael Hampe Maria-Sihylla Lotter

Duncker & Humhlot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

"Die Erfahrungen, die wir machen, sprechen gegen die Erfahrungen,

die wir haben": über Formen der Erfahrung in den Wissenschaften / Hrsg.: Michael Hampe ; Maria-Sibylla Lotter. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Erfahrung und Denken; Bd. 86) ISBN 3-428-10096-4

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-10096-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

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Inhaltsverzeichnis Michael Hampe / Maria-Sibylla Lotter Einleitung: Enttäuschende Erfahrungen

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Michael Hampe Pluralismus der Erfahrung und Einheit der Vernunft

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Oliver Robert Schotz " ... die Erfahrungen anderer ... adoptiren ... ". Zum erkenntnistheoretischen Status des Zeugnisses anderer ..............................................................

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SIe/an Hübsch ,,Eine Empirie zweiten Grades". Zum Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und Kunstgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Christian Gremmels Religion, Theologie und Erfahrung

81

Daniel Krochmalnik Das Mirakel von Giwon. Wissenschaft und Wunder im jüdischen Denken von Maimonides bis Spinoza ................................................................

95

Waller Grasnick Methodenlehre als Erfahrungswissenschaft........... . ..... . ..... . .................. 127 Marianne Leuzinger-Bohleber Psychoanalyse - Erfahrungswissenschaft des Unbewußten .......................... 145 Maria-Sibylla Lotter Fremderfahrung und Selbsterfahrung in der Ethnologie ............ . ................. 169

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Inhaltsverzeichnis

Manjred Stöckler

Am Rande der Sichtbarkeit. Zur RoUe der Erfahrung in der Kosmologie. . . . . . . . . . . .. 195 Friedrich Steinle

Die Vielfalt experimenteUer Erfahrung: Neue Perspektiven.......................... 213 Hans-Jörg Rheinberger

Dimensionen der DarsteUung in der Praxis des wissenschaftlichen Experimentierens 235 Michaela Haase

Erfahrungsbegriffe in der Betriebswirtschaftslehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 247

Autorenverzeichnis .................... . ................ . ..... . ........................ 271

Einleitung: Enttäuschende Erfahrungen Von Michael Hampe und Maria-Sibylla Lotter

I. Wissenschaftliche Erfahrung, Alltagserfahrung und Lebenserfahrung Wenn wir eine Erfahrung machen, widerfährt uns etwas Neues. Neu kann das Erfahrene aber nur sein, wenn es vor dem Hintergrund der Erfahrungen gesehen wird, die wir schon haben. Daniel Krochmalniks Formulierung, die er in seinem Beitrag zu diesem Band auf das Verhältnis von Wunder, Tradition und Wissenschaft bezieht, macht deutlich, daß Erfahrung nichts Elementares ist. Sie ist immer auf andere Erfahrungen und Erkenntniselemente bezogen, die unter Umständen gar keinen Erfahrungscharakter haben. Diese heute selbstverständliche Einsicht in die Kontextualität von Erfahrungen war nicht immer ein Allgemeingut. Lange Zeit wurde das Wort "Erfahrung" mit der Vorstellung von etwas Einfachem verbunden, das der Erkenntnis durch Zeichen und Begriffe das Material liefert oder sie anstößt, ohne selbst mit Zeichen und Begriffen verknüpft zu sein. Es war das Zauberwort, das den neuzeitlichen Wissenschaften einen Zugang zur Wirklichkeit verschaffen sollte - einen ausgezeichneten Zugang, der, nach der von vielen neuzeitlichen Wissenschaften propagierten Sicht, nicht nur den antiken und mittelalterlichen Weisen des Wissenserwerbs, sondern überhaupt allen anderen Wissensformen abgeht. Während es der scholastischen Wissenschaft nicht um die Erzeugung neuen Wissens, sondern nur um die Begründung von längst Bekanntem gegangen sei, so die Kritik der Theoretiker der neuen Wissenschaften im siebzehnten Jahrhundert, Bacon und Descartes, streben die neuen Wissenschaften von der Natur nach der Entdeckung unbekannter Wirklichkeitsbereiche. Wie ist das möglich? Die Aufgabe, Neues zu entdecken, kann die wissenschaftliche Erfahrung nach Auffassung der neuzeitlichen Wissenschaftsphilosophie im Unterschied zur Lebenserfahrung, Alltagserfahrung und anderen Erfahrungsweisen deshalb erfüllen, weil es sich bei ihr um eine methodisch vorgehende und kontrollierte Erfahrung handelt: Eine "planlose und sich selbst überlassene Erfahrung" wie im Alltagsleben oder in methodisch ungesicherten Versuchen, so Francis Bacon um 1620, "ist [ ... ] ein bloßes Umhertappen im Dunklen, das die Menschen eher verdummt als belehrt.,,1 Nach seinem Novum Organum der Erfahrungswis-

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sensehaften hingegen verfolgen die modemen Wissenschaften "eine völlig andere Methode, Anordnung und einen andere[n] Ablauf [ ... ] bei der Entwicklung der Erfahrung [ ... ], die eindeutig und stetig nach einer bestimmten Methode voranschreitet". Die baconsehe Wissenschaft wird schöpferisch, indem sie aus methodisch kontrollierten Erfahrungen durch Abstraktion neue Annahmen herleitet, die zu neuen Erfahrungen führen. 2 Erst die Methode garantiert also den besonderen Wert wissenschaftlicher Erfahrung. Die gewöhnliche Erfahrung erscheint demgegenüber als unkreativ, weil das Auftreten vormals unbekannter oder unbeachteter Fälle nicht die Ersetzung gewohnter durch neue allgemeine Annahmen zur Folge hat, sondern nur die Einführung unwesentlicher Unterscheidungen. Dasselbe gilt nach Bacon für die aristotelische Wissenschaft, die ausdrücklich von Unterscheidungen aus dem Bereich der Alltagserfahrung ausgeht. Gerade weil sie sich direkt auf Elemente der gewöhnlichen Erfahrung stützt, erscheint sie im Lichte der neuen wissenschaftlichen Erfahrung nicht mehr als eine empirische Wissenschaft, sondern als "Dialektik" oder Spekulation. In einem merkwürdigen Kontrast zu dieser zentralen Bedeutung der Erfahrung als Unterscheidungsmerkmal und Gütezeichen der modemen Wissenschaften steht das eher geringe Interesse an der Theorie und Praxis wissenschaftlicher Erfahrung in der Wissenschaftsphilosophie des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Wahrend sich die Wissenschaftsstudien dieses Jahrhunderts ausgiebig mit dem wissenschaftlichen Fortschritt, dem logischen Aufbau von Theorien und wissenschaftlichen Beweisen, dem Wahrheitsbegriff etc. befaßten, hielt man die Struktur wissenschaftlicher Erfahrung offenbar für weniger klärungsbedürftig. Wissenschaftsgeschichte wurde lange Zeit vorwiegend als Theoriegeschichte, ergänzt durch Technikgeschichte behandelt; Erfahrung kam dabei nur indirekt, nämlich bei der idealisierten Darstellung wissenschaftlicher "Entdeckungen" vor. Und unter Wissenschajtsphilosophie verstand man bis vor kurzem sowohl von "rationalistischer" wie "empiristischer" Seite vorwiegend eine Art Erkenntnislogik, eine Diskussion von Begründungszusammenhängen. Die Bedingungen der Erzeugung konkreter Erkenntnis - für Descartes und Bacon noch der eigentliche Gegenstand der neuen Wissenschaftsphilosophie gegenüber der "unfruchtbaren" Scholastik - waren in diesem Kontext nicht mehr von Interesse: Durch die berühmte Reichenbachsehe Unterscheidung zwischen "Entdeckungs- und Rechtfertigungszusammenhängen" wurden die konkreten Voraussetzungen wissenschaftlicher Erfahrung als "äußere" Gegebenheiten von dem "inneren" logischen Aufbau von Begründungen abgetrennt. 3 So kam es dazu, daß auch eine ausdrücklich "empiristische" Wissenschaftsphilosophie wie die des "Wiener Kreises" sich für wissenschaftliche Erfahrung nur als Quelle von sogenannten Beobachtungsaussagen interessierte, die man I F. Bacon, Novum Organum, übers. v. R. Hoffmann, hg. v. W. Krohn, Hamburg 1990, Bd. I, § 100, S. 219. 2 Vgl. ebd., § 24 f., Bd. 1, S. 93. 3 V gl. H. Reichenbach, Erfahrung und Prognose. Eine Analyse der Grundlagen und der Struktur der Erkenntnis, in: Gesammelte Werke 4, Braunschweig/Wiesbadenl983, S. 1 ff.

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in ihrem logischen Verhältnis zu theoretischen Aussagen untersuchte. Wenn Erfahrung überhaupt thematisiert wurde - ob von Verfechtern oder Kritikern des wissenschaftlichen Fortschritts, von den Anhängern "naturwissenschaftlicher" oder "geisteswissenschaftlicher" Vorgehensweisen -, dann in idealisierter, von der Praxis der wissenschaftlichen Experimente, Beobachtungen und Interaktionen weit distanzierter Gestalt (etwa in Fonn von "Elementarempfindungen"). Als Paradigma wissenschaftlicher Erfahrung galt lange Zeit das physikalische Experiment, das quantitative Abhängigkeiten zwischen genau definierten Größen in künstlich erzeugten Systemen überprüft. Dennoch hat sich die Wissenschaftsphilosophie bis vor kurzem auch für das physikalische Experiment und seine Differenz zur natürlichen Beobachtung wenig interessiert. 4 Da nicht die Erfahrungsstruktur als solche, sondern die Herleitung allgemeiner Gesetzesannahmen aus Beobachtungsaussagen im Focus des Interesses stand, behandelte man das naturwissenschaftliche Experiment in der "empiristischen" Wissenschaftsphilosophie als eine Art Beobachtung mit technischen Mitteln. Damit sie eine sichere Basis induktiver Verallgemeinerungen abgeben konnte, wurde die Erfahrung dabei als eine möglichst passive Rezeption gedacht: eine Aufnahme von bloßen Sinnesgegebenheiten, die als Material für induktive Schlußfolgerungen oder zur Bestätigung bzw. Falsifikation wissenschaftlicher Hypothesen dienen. Die ursprüngliche Erfahrung besteht demnach in der Aufnahme von einfachen "Ideen" oder Sinnesdaten, die dann durch Verbindung zu komplexen Erfahrungsgegenständen werden. Auch der "kritische Rationalismus", der demgegenüber die Theoriegeladenheit aller Erfahrung hervorhob, hielt an dem allgemeinen Ideal einer rein objektiven Erfahrung fest, die von den subjektiven Erwartungen, Fähigkeiten und der persönlichen Situation der beteiligten Personen unabhängig ist, da sie beliebig wiederholt werden kann. Das kreative Moment der Wissenschaft liegt nach beiden Denkrichtungen nicht eigentlich in der Erfahrung selbst, sondern in der Bildung von Hypothesen und induktiven Schlüssen. Wenn dieses Bild von der Wissenschaft zuträfe, dann hätte wissenschaftliche Erfahrung in der Tat wenig mit Erfahrung im Sinne von Alltags- oder Berufserfahrung oder Lebenserfahrung gemein. Denn diese halten wir weder für beliebig wiederholbar, noch für situationsunabhängig und von praktischen Fragen abgekoppelt. Außerdem heißt es mit Blick auf diese Erfahrungsebenen, daß wir "aus" und "durch" Erfahrung "lernen": wir sprechen der Erfahrung hier also eine viel stärkere 4 Eine Ausnahme stellt die Studie des wissenschaftsphilosophischen Außenseiters H. Ding/er, Das Experiment, München 1928, dar. Hingegen handelt es sich bei Ian Hackings ausführlicher Diskussion der Erfahrungsaspekte von Wissenschaft in Representing and Intervening. Introductory topics in the philosophy of natural science, Cambridge 1983, nach Einschätzung vieler Wissenschaftsphilosophen nicht nur um eine Ausnahme, sondern einen Wendepunkt. Zu einer anderen Einschätzung kommt freilich P. Janich in: Was macht experimentelle Resultate empiriehaltig? Die methodisch-kulturalistische Theorie des Experiments, in: M. Heidelberger/F. Steinle, Experimental Essays - Versuche zum Experiment, Wiesbaden 1998, S. 99 f.

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Aktivität und Kreativität zu, als sie der wissenschaftlichen Erfahrung nach Auffassung einiger "Empiristen" eigen ist.

Unter Alltagserfahrung verstehen wir gewöhnlich eine über eine gewisse Zeitdauer hinweg erworbene persönliche Vertrautheit mit Personen, Gegenständen oder Tatigkeiten, mit denen wir im praktischen Leben zu tun haben; eine Gewohnheit des Umgangs, aus der praktische Kompetenz hervorgeht. Der erfahrene Arzt oder Richter ist der, der persönlich mit einer großen Anzahl von Kranken und Angeklagten zu tun gehabt und aus diesem persönlichen Involviertsein heraus bestimmte Lösungsstrategien medizinischer oder juristischer Art eingeschlagen hat. Diese Erfahrung segnet nicht nur vorher gefaßte theoretische Hypothesen ab bzw. widerlegt sie, sondern entwickelt eine Kompetenz, die dem bloß theoretisch Gebildeten gar nicht möglich ist. Aufgrund seiner praktischen Kompetenz besitzt der Erfahrene im praktischen Leben daher auch eine gewisse Autorität gegenüber dem "bloß theoretischen" Wissen. Man vertraut dem erfahrenen Arzt oder Richter bei der Einschätzung eines Krankheitsbildes oder der Bewertung einer Aussage in einem Prozeß mehr als dem, der gerade sein Examen abgelegt hat. 5 Wenn es hingegen heißt, daß jemand eine "Erfahrung gemacht" hat, dann ist gewöhnlich nicht nur der Erwerb bestimmter Kompetenzen gemeint, sondern auch eine Enttäuschung. Lebenserfahrung entsteht nicht aus dem bloßen Aufeinanderfolgen von Gegebenheiten, sondern vor allem aus der Enttäuschung von Erwartungen. 6 Sie besteht jedoch nicht allein in der Enttäuschung, und sie stellt sich auch nicht "von selbst" in der Existenz eines jeden Menschen ein. Zwar sind die Lebensläufe von Menschen unterschiedlich bewegt; ein Finanzbeamter hat vielleicht ein weniger aufregendes und ereignisreiches Leben als ein Hochseekapitän oder ein Testpilot. Doch der Begriff der Lebenserfahrung betrifft weniger die Menge an "aufregenden" Erlebnissen oder ungewöhnlichen "Grenzsituationen", die eine Person erlitten hat, als vielmehr die Verarbeitung von existentiellen Erlebnissen wie Freundschaft, Liebe, Streit und Tod, aber auch trivialeren Angelegenheiten wie der Kunst, mit schwierigen Kollegen, Chefs und Nachbarn auszukommen; Schwierigkeiten, mit denen jeder im Laufe seiner Existenz konfrontiert wird, die aber nicht jeden gleich "lebenserfahren" machen, weil nicht jeder aus diesen Schwierigkeiten Konsequenzen zieht. Wer das, was ihm in seinem Leben widerfahrt, nicht verar5 Eine wissensclUJftliche Erfahrung im alten, aristotelischen Sinne war hiervon nicht allzu verschieden. Sie bezeichnete eine praktische Fähigkeit, die vor allem durch die Erinnerung konstituiert wird, durch die etwas als etwas schon früher Wahrgenommenes wiedererkannt wird. Vgl. Aristoteles. Metaphysik 981 a und Analytica Posteriora 99 b 36 ff. Die im Erfahrungsprozeß erlernten Unterscheidungen gehören einer gemeinsamen, geteilten Lebenspraxis an. Auch physikalische Annahmen werden im Ausgang von dieser Lebenspraxis entwickelt und durch sie bestätigt. Sie können daher gar nicht in Gegensatz zu den Annahmen des Alltagslebens treten, sondern explizieren und ergänzen sie. Zum Verhältnis von physikalischen Hypothesen und elementarem Erfahrungswissen bei Aristoteles vgl. J. Mittelstraß. Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1974, S. 63 ff. 6 Zur Negativität des Erfahrungsbegriff vgl. auch H. -G. Gadamer; Wahrheit und Methode. Tübingen 1975, S. 335 f.

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beitet. "macht" auch keine Lebenserfahrung. Lebenserfahrung ergibt sich daher wesentlich aus der persönlichen Kreativität im Hervorbringen von Erfahrungen beim Umgang mit Enttäuschungen.

Eben dieser aktive und kreative Charakter der Alltags- und Lebenserfahrung wurde von der Wissenschaftsphilosophie immer mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet, nämlich als Quelle sozial und persönlich bedingter Vorurteile und Irrtümer, der Baconschen Idola. die durch die modeme wissenschaftliche Erfahrung beseitigt werden sollen. Im Kontrast zur Aristotelischen Physik, für die das alltägliche Erfahrungswissen sowohl Basis wie auch Begründungsmittel darstellt/ wurde wissenschaftliche Erfahrung im modemen Sinne von Bacon bis Bachelard und Popper ausdrücklich als eine Gegnerin der Alltagserfahrung begriffen. "Empirisch begründet" bedeutet nach der modemen Auffassung von der Wissenschaft nicht mehr, "auf nachvollziehbares Erfahrungswissen im Sinne alltäglicher Erfahrungsbezüge rückführbar", sondern "Ergebnis einer experimentellen Messung", die wenn sie wissenschaftlich interessant ist - ein im Lichte gewohnter Denkweisen neuartiges Wissen erzeugt. Was "nützt eine Erfahrung", so fragt der französische Wissenschaftsphilosoph Gaston Bachelard, "die keinen Irrtum richtigstellt, die schlicht und ohne Debatte wahr ist. Eine wissenschaftliche Erfahrung ist [ ... ] eine Erfahrung, die der gewohnten Erfahrung widerspricht. ,,8 Die konstruierten wissenschaftlichen Erfahrungen nehmen sich vor dem Hintergrund seiner Wissenschaftsphilosophie als Versuche aus, die Erfahrungsgewißheiten der Lebenserfahrung zu erschüttern. Erfahren wir nicht ganz alltäglich, daß sich die Sonne um die Erde bewegt, wenn sie ihre Bahn am Himmel zieht? Ist es nicht eine Alltagserfahrung, daß die Feder langsamer fallt als der Stein? Wie soll wissenschaftliche Erfahrung zeigen, daß sich die Erde um die Sonne bewegt und im Vakuum Feder und Stein gleich schnell fallen? Dies scheint auf den ersten Blick unmöglich. Und doch haben die Copernikanische und die Galileische Physik diesen Gewißheiten der Alltagserfahrung in eben der genannten Weise widersprochen und sich dabei auf Erfahrung bezogen: auf die exakte Beobachtung der Bewegung am Himmel im einen Fall und auf konstruierte Experimente (auch Gedankenexperimente) im anderen. Mit Blick auf solche "Revolutionen" der gewohnten Erfahrung beschreibt Karl Popper die Wissenschaft als eine Erzeugerin von Hypothesen, die um so besser sind, je unwahrscheinlicher sie im Lichte der Alltagserfahrung (und vorherrschender Wissenschaftsannahmen) erscheinen. Durch wissenschaftliche Erfahrung soll die Wissenschaft auf rein negativem Wege der Wahrheit näher kommen, indem sie die falschen Hypothesen "falsifiziert". 9 In seiner Studie über die Entstehung von wissenschaftlichen Tatsachen von 1935 hat Ludwik Fleck den sowohl von "Empiristen" wie "Rationalisten" gepflegten Mythos von der revolutionären wissenVgl. J. Mittelstraß. Die Möglichkeit von Wissenschaft, S. 64. G. Bachelard. Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, übers. v. M. Bischoff. Frankfurt a.M. 1984, S. 44. 9 K. Popper, Conjectures and Refutations, Kap. 10: Truth. Rationality and the Growth of Scientific Knowledge. London 1963. 7

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schaftlichen Erfahrung in den folgenden Worten beschrieben: "Das erkennende Subjekt fungiert als eine Art Eroberer vom Typus Julius Cäsars, der nach der Formel veni-vidi-vici seine Schlachten gewinnt. Man will etwas wissen, man macht die Beobachtung oder das Experiment - und schon weiß man es.,,10 Dieses traditionelle Bild von der wissenschaftlichen Erfahrung ist durch eine mittlerweile die Wissenschaftstheorie zunehmend dominierende Wissenschaftsgeschichte im Gefolge der schon in den sechziger Jahren veröffentlichten Untersuchungen Thomas Kuhns über die Bedingungen wissenschaftlicher Revolutionen (der dabei auf Ludwik Flecks schon in den dreißiger Jahren publizierte Studie über die Entwicklung neuer Tatsachen in der Medizin zurückgreifen konnte) obsolet geworden. Im Unterschied zu einem wissenschaftlichen Experiment, das nicht der Gewinnung neuer Erkenntnisse, sondern lediglich der Darstellung dient, handelt es sich Fleck und Kuhn zufolge bei wissenschaftlichen Erfahrungen, in denen wirklich neue Erkenntnisse gewonnen werden, um alles andere als klare, deutliche und wiederholbare Beobachtungen von (eindeutigen) Tatsachen; dieser Mythos geht auf eine nachträgliche Idealisierung von Prozessen der Entwicklung wissenschaftlicher Einsichten zurück. Schon Ludwik Fleck weist darauf hin, daß ein klares und deutliches Forschungsexperiment, durch das theoretische Annahmen verifiziert bzw. falsifiziert werden könnten, auch ein überflüssiges wäre. Denn damit es klar sein kann, muß sein Ergebnis schon vorweg bekannt sein. 11 Wo Versuche hingegen von wissenschaftlichem Erkenntniswert sind, so Fleck, sind sie gewöhnlich unklar; unfertig und im Ergebnis nicht reproduzierbar.12 Nach Fleck und Kuhn waren wissenschaftliche Beobachtungen, die zur Entdekkung von Neuem führten, keinesfalls einmalige Wahrnehmungen von Unerwartetem, wie es die klassischen, idealisierenden Darstellungen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung nahe legen. Es handelte sich vielmehr gewöhnlich um einen längeren Prozeß, in dem auftretende Anomalien anfangs gar nicht als solche wahrgenommen wurden. Wie die Anwendung gestaltpsychologischer und phänomenologischer Erkenntnisse auf die Wissenschaftsgeschichte deutlich macht, unterscheidet sich die wissenschaftliche Beobachtung hierin kaum von der gewöhnlichen Wahrnehmungserfahrung: Gestaltexperimente zeigen, daß abweichende Details in unserer Wahrnehmung über einen gewissen Zeitraum durch eingespielte Wahrnehmungsgewohnheiten so ergänzt werden, daß sie gar nicht als abweichend erfahren werden. 13 Schon im amerikanischen "Pragmatismus,,14 und der PhänomeIO L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a.M. 1980, S. 111. 11 Vgl. ebd., S. 114. 12 Vgl. ebd., S. 112. 13 Detaillierte Darstellungen gibt Thomas Kuhn in seinen Vorträgen, die in dem Sammelband Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, hg. v. L. Krüger, Frankfurt a.M. 1977, zusammengefaßt sind. 14 Zur Wahrnehmung von Zusammenhängen vgl. W James, The Meaning of Truth, Cambridge (Massachusetts) 1975, S. 7.

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nologie der lahrhundertwende wurden solche Phänomene damit erklärt, daß das Wahrgenommene eben nicht, wie nach dem Schema des modernen "Empirismus", als atomares Datum erfahren wird, sondern im Zusammenhang mit anderen sinnlichen und hinzugedachten Faktoren, nämlich als "Träger einer Verweisung."IS Ähnlich bestimmt der Wissenschaftsphilosoph Alfred North Whitehead bereits um 1919 auch die Basis wissenschaftlicher Erfahrung: "Wahrnehmungswissen besteht in der Erfassung der [ ... ] Dinge in ihren Beziehungen und als bezogen. [ ... ] Es gibt kein mögliches Wissen von Dingen als unbezogenen. ,,16 Wir nehmen die Schranktür nicht als einzelne Gegebenheiten wie Farbton, Fläche etc. wahr, sondern auch immer schon als etwas Äußeres, das auf ein Inneres (eben das Schrankinnere) verweist. Sie ist kein selbständig Vorgegebenes, zu dem dann Beziehungen (zum Schrankinneren, zum Schrankganzen etc.) hinzukommen; vielmehr resultiert ihr So-Sein überhaupt erst aus diesen Beziehungen. 17 Erfahrungen von Neuem erhalten den Sinn, durch den sie überhaupt erst zu Erfahrungen werden, immer erst im Lichte einer Deutung, die einen neuen Verweisungszusammenhang schafft und entsprechend die Aufmerksamkeit bei der Wahrnehmung auf bestimmte Faktoren lenkt. Fleck und Kuhn haben in ihren wissenschaftshistorischen Studien darauf aufmerksam gemacht, daß solche Verweisungszusammenhänge immer sozial bedingt, Erfahrung somit ein "denkstilgemäßes Sinn-sehen" (Fleck) ist: nämlich durch Erlernung von gruppenspezifischen Denk- und Wahrnehmungsschemata, die zunächst verhindern, daß Beobachtungen von Anomalien als neue Erfahrungen von soundso gearteten Wirklichkeiten realisiert werden. Erst im Verlauf von sozialen Interaktionen innerhalb einer Forschergruppe, aber auch im Austausch mit anderen relevanten gesellschaftlichen Organisationen, durch die wissenschaftsexterne Faktoren Einfluß nehmen können, werden allmählich neue Deutungsmöglichkeiten relevant, durch die Anomalien an Interesse gewinnen. Obgleich es keinen allen Erfahrungswissenschaften gemeinsamen Erfahrungsgegenstand gibt, noch eine gemeinsame empirische Basis von Sinnesdaten, scheint es doch gewisse gemeinsame Elemente der Erfahrungsprozesse und ihrer Probleme in den Wissenschaften zu geben; Gemeinsamkeiten freilich, die - so die Ausgangshypothese dieses Bandes - nicht mehr eine scharfe Grenzziehung zwischen der wissenschaftlichen und anderen Erfahrungsarten zulassen. Sobald wir nämlich wissenschaftliche Erfahrung im Sinne Bacons als Entdeckung von Neuem (und nicht nur als Basis von Begründungszusammenhängen) verstehen, werden die typischen Aspekte der Alltags- und Lebenserfahrung auch für den wissenschaftlichen Erfahrungsbegriff relevant, während der "empiristische" Gedanke einer bloßen Rezeption von Gegebenheiten zurücktritt. Dies gilt sowohl für die praktische wie die A. SchützlT. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt 2, Frankfurt a.M. 1984, S. 181. A. N. Whitehead, Principles of Natural Knowledge, Cambridge 1919, S. 12. 17 Vgl. A. N. Whitehead, The Principle of Relativity with Applications to Physical Science, Cambridge 1922, S. 19. 15

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soziale und die negative Seite der Erfahrung. Denn zur Wissenschaft selbst gehört Einübung in die Praxis des Experimentierens, des Umgangs mit Geräten etc. Wie Vertreter der Erlanger Schule der Wissenschaftstheorie schon früher hervorgehoben haben, basieren auch theoretische Zusammenhänge auf einem elementaren Unterscheidungs-, Orientierungs- und Herstellungswissen. 18 Wissenschaftliche Erfahrung ist also ohne praktische Kompetenz in der Handhabung (und Herstellung) der Werkzeuge ebenso wenig denkbar wie ohne Beobachtungspraxis. Letztere wiederum erscheint, wenn mit ethnographischen Methoden beschrieben, nicht weniger als eine Ausbildung von Erwartungen bzw. Vorurteilen als die Alltagserfahrung. Erst durch Erfahrung erwirbt sich der Wissenschaftler das Vermögen, etwas Bestimmtes wahrzunehmen. Beobachtung im Experiment ist daher ebensowenig ein beliebig wiederholbares Gegebensein klarer und deutlicher Informationen wie Beobachtung in der freien Natur. Ein unerfahrener Mediziner kann unter dem Mikroskop nicht dieselben Gestalten erkennen wie der Geübte, ein unerfahrener Verhaltensforscher nicht die sozial relevanten Bewegungen im Wolfsrudel unterscheiden. Was Stefan Hübsch in seinem Beitrag zum Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und Kunstgeschichte ausführt, trifft also auch auf Erfahrung im Sinne wissenschaftlicher Entdeckung zu: daß sie gerade nicht als das Gegebensein neutraler Sinnesdaten gedacht werden kann, sondern als ein sich selbst verstärkender Prozeß der Steigerung und Vertiefung des Wahrnehmens. Insofern auch die wissenschaftliche Erfahrung eine praktische Disziplin der Wahrnehmung erfordert, durch die eine besondere Wahrnehmungsrezeptivität erzeugt wird, würde daraus folgen, daß auch die wissenschaftliche Erfahrung eine Kunst im Sinne von Hübsch ist - allerdings in vielen naturwissenschaftlichen Bereichen eine stärker kollektiv erlernte, weniger individualisierte Kunst als in der Kunstwissenschaft. Wie in diesem Band besonders in den Beiträgen zur Rechtslehre (Grasnick), zur Psychoanalyse (Leuzinger-Bohleber) und zur Ethnologie (Lotter) hervorgehoben wird, befähigt in anderen Bereichen hingegen erst eine Art von Erfahrung, die nur persönlich erlernbar ist, zum selbständigen und tätigen Erkennen. 19

11. Die Vielfalt wissenschaftlicher Erfahrung Auch noch nach der lahrhundertwende ging die Wissenschaftstheorie des sogenannten Wiener Kreises bzw. des logischen Empirismus (Waismann, Schlick, Carnap) ganz selbstverständlich davon aus, daß es möglich sei, in der Philosophie einen für alle Wissenschaften verbindlichen Theorie- und Erfahrungsbegriff zu entwickeln, der ihr Vorgehen sowohl adäquat beschreibt als auch als normatives Ideal dienen kann. Ihr mehr an den Naturwissenschaften orientiertes Theorieideal war dabei die axiomatisierte. möglichst in logisch-mathematisch exakter Sprache abge18 19

Vgl. hierzu J. Mittelstraß. Der Flug der Eule. S. 214 f. Vgl. L. Fleck. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. S. 125.

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faßte deduktive Theorie, ihr Erfahrungsideal das empiristisch verstandene physikalische Experiment. Dieses Leitbild der Einheitswissenschaft, das zur Folge hatte, daß auch die Sozial- und Kulturwissenschaften sich nach dem Vorbild der Physik als eine Art "sozialer Physik" verstanden, gilt mittlerweile als obsolet. Hingegen hat ein anderes Relikt des neunzehnten Jahrhunderts, die schematische Unterscheidung zwischen den sogenannten Natur- und den Geisteswissenschaften, wonach die Erfahrung in den Wissenschaften vom Menschen eine grundlegend andere sein müsse als in denen von der Natur, auch heute noch Anhänger. Anhänger dieser Unterscheidung aus den "Geisteswissenschaften" stellen sich unter der modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnis die Unterordnung des Einzelnen als Fall einer allgemeinen Regel vor, unter einer "geisteswissenschaftlichen" hingegen das Verstehen der "Erscheinung selber in ihrer einmaligen und geschichtlichen Konkretion".20 Wie schon Kurt Lewin in seinem Vergleich der aristotelischen und der galileischen Physik gezeigt hat, läßt sich mit Blick auf das logische Verhältnis von Allgemeinem und Individuellem aber auch die umgekehrte Behauptung überzeugend vertreten. Wahrend nämlich für Aristoteles nur das gesetzlich - und damit begrifflich - faßbar war, was bekanntermaßen ausnahmslos geschieht, und somit das Einmalige, das Individuum als solches, aus der naturwissenschaftlichen Erkenntnis ausgeschlossen war, so Lewin, kommt es für die moderne galileische Sichtweise hingegen darauf an, die Eigenart der jeweiligen Gesamtsituation in allen ihren Eigentümlichkeiten möglichst präzis, d. h. eben auch im mathematischen Symbolismus, zu erfassen. Da es für die galileische Sichtweise nicht mehr relevant ist, wie häufig oder selten etwas vorkommt, ist es erst mit ihr möglich, so Lewin, das "wirkliche, also letzten Endes immer einmalige Geschehen zu verstehen".21 Eine andere Begründung des Unterschieds von Natur- und Geisteswissenschaften beruft sich auf die besondere Authentizität historischer Erfahrung. Eine geschichtliche Erfahrung sei unübertragbar; behauptete jüngst Reinhart Koselleck im Zusammenhang einer Diskussion über die Erinnerung an den Nationalsozialismus?2 Es sei nicht möglich, daß eine Generation ihre historischen Erfahrungen an die nächste weitergebe. Deshalb müsse Erinnerung für die, die Ereignisse selbst erlebt haben, etwas grundsätzlich anderes bedeuten als für die, die sie nur aus Erzählungen kennen. Bei diesem emphatischen Begriff der Erfahrung von historisch Erlebtem schwingt die Vorstellung unmittelbarer Evidenz und individueller existentieller Betroffenheit mit. Erzählungen können diese Art der Erfahrung nicht ersetzen, weil sie Zeichencharakter haben. Ein Zeichen ist immer etwas Allgemeines; es wird H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 2. Vgl. K. Lewin, Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie, in: ders. Werkausgabe I, hg. v. A. Metraux, Stuttgart 1981, S. 262. 22 V gl. R. Kosel/eck, Die Diskontinuität der Erinnerung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2, 1999, S. 214. 20 21

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von einer Person verwendet, um einer anderen Person etwas über einen dritten Gegenstand mitzuteilen. Damit dies möglich ist, muß geregelt sein, wie das Zeichen auf den Gegenstand, den es bezeichnen soll, bezogen ist, und es muß ein gemeinsames Wissen der Zeichen gebenden und der Zeichen empfangenden Person über diese Regel vorhanden sein, damit beide auch dasselbe unter dem Zeichen verstehen. Diese Komplexität eines jeden Zeichengebrauchs scheint der Unmittelbarkeit von Erfahrung im emphatischen Sinne geradezu entgegengesetzt. Wo Zeichen im Spiele sind, scheint alle Evidenz durch die Regeln ihres Gebrauchs vermittelt, der Weltbezug nur noch indirekt, durch den Schleier einer Repräsentation gegeben. Deshalb wird der emphatischen Erfahrung auch eine besondere Autorität zugesprochen. Denn da sie als eine historisch einmalige Angelegenheit nicht durch die Ausbildung bzw. den Erwerb entsprechender Gewohnheiten nachholbar ist, übertrifft sie bei weitem die Autorität des für den aristotelischen Erfahrungsbegriff einschlägigen erfahrenen Arztes oder Rechtsanwalts. Die Annahme einer nicht zeichenvermittelten, unmittelbaren Erfahrung erscheint jedoch aus mehreren Gründen zweifelhaft. Eine Erfahrung, die diesen Namen verdient - d. h. die nicht nur in einer unklaren Empfindung besteht, sondern in einem Erlebnis, das mindestens deutlich genug ist, um erinnert zu werden und sich auf das weitere Erleben und Handeln auszuwirken -, mag nicht in all ihren Details übertragbar sein, aber sie wird um so weniger unmittelbar sein, je intensiver sie erlebt wird. Damit ein Mord als Mord gesehen wird, muß der Sehende über einen Begriff verfügen, eben den des Mordes. Dieser steht für eine Gewohnheit des Unterscheidens. 23 Nur wer über Gewohnheiten zu unterscheiden verfügt, kann auch differenzierte Erfahrung haben. Wie Ste/an Hübsch in seinem Beitrag zur ästhetischen Erfahrung zeigt, gilt dies auch für den scheinbar unmittelbaren Prozeß der Steigerung und Vertiefung des Wahrnehmens in der Kunst, der nämlich als Kritik an etablierten Wahrnehmungsformen mit der ihnen eigenen Symbolik begriffen werden muß. Die Erfahrung ohne ein allgemeines Element der Unterscheidung wäre gar nicht Erfahrung von etwas, sondern höchstens eine rohe unbestimmte Empfindung. Und auch wenn es anders ist, einen Mord zu sehen als von ihm zu lesen, betroffen und informiert zu sein, muß das direkte Erleben keineswegs intensiver und nachdrücklicher sein als die Lektüre eines Berichts. Die Erfahrung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen, um die es bei Kosellek ging, bietet hierfür ein gutes Beispiel: Wer mit einer gewissen Routine direkt an Gewaltverbrechen "beteiligt" ist, kann sich mitunter weniger an Details erinnern als ein "unbeteiligter" Leser, der einen Augenzeugenbericht studiert. Vor diesem Hintergrund spricht wenig für die Interpretation historischer Erfahrung als emphatischer Erfahrung, die außerhalb der Vermittlungsvorgänge von Zeichen stattfindet. Umgekehrt liegt es nahe, dem Umgang mit Zeichensystemen, vor allem mit überlieferten natürlichen Sprachen, selbst Erfahrungscharakter zuzuschreiben. Hans-Georg Gadamer zufol23 Vgl. A. Ros, Was ist Philosophie? (Unveröffentlichter Vortrag, Leipzig 12. 12. 1979, zugänglich über Internet.)

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ge vermitteln uns Texte sogar Erfahrung im emphatischen Sinne, sofern ihr Verstehen Teil eines "Lebensvoll zuges" ist, nämlich als einmalige. unübertragbare und individuelle Erfahrung: "Die Aneignung der literarischen Überlieferung übertrifft sogar noch die Erfahrung, die mit dem Abenteuer des Reisens [ ... ] verknüpft ist".24 Eine besondere, negative Wendung erfährt diese Einsicht in dem Beitrag zur Grunderfahrung der christlichen Religion von Christian Gremmels. der die Aneignung frühchristlicher Lehren durch die christliche Kirche und Theologie als eine Abarbeitung enttäuschter Erwartungen - der Wiederkehr Christi - durch eine Kette von Um interpretationen deutet. Eine weitere Begründung für den wesentlichen Unterschied zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Erfahrung bezieht sich auf den vermeintlich artifiziellen Charakter naturwissenschaftlicher Erfahrung gegenüber der historischen Gegebenheit geisteswissenschaftlicher Erfahrung, die sich auf Überlieferungen, vorgefundene Artefakte, Texte etc. stützt. Vertreter eines emphatischen, authentischen Erfahrungsbegriffs kontrastieren die geschichtliche Lebenserfahrung und die nach ihrem Vorbild verstandene geisteswissenschaftliche Erfahrung gerne mit einern Bild von der naturwissenschaftlichen Erfahrung, das im Unterschied zum modemen Empirismus gerade nicht die passive Gegebenheit, sondern das methodische Erzeugnis in den Experimentalwissenschaften betont: Die Methode wird dabei als Verfahren verstanden, eine künstlich allgemeine Erfahrung herzustellen. Zwar bedienen sich die Erfahrungswissenschaften sehr verschiedener Formen der intersubjektiv nachvollziehbaren Erfahrung, und das Laborexperiment ist nur eine, wenn vielleicht auch die prominenteste Form wissenschaftlicher Erfahrungsgewinnung. Doch wenn die Behauptungen legitimierende Erfahrung intersubjektiv sein soll, so muß sie auch allgemein sein; sie kann sich nicht im individuellen Widerfahrnis erschöpfen. Es ist aber nicht nur das Experiment, sondern es sind verschiedene Formen "konstruierter" allgemeiner Erfahrung, die in den Erfahrungswissenschaften zur Legitimation von Erkenntnisansprüchen dienen; Erfahrung, die von jedem gemacht werden kann, wenn er bestimmten Anweisungen folgt, zu beobachten, zu experimentieren, zu befragen. Hans-Jörg Rheinberger vertritt in seinem Beitrag sogar die Auffassung, daß die wissenschaftlich gemachte, hergestellte Erfahrung durch und durch Zeichencharakter habe, daß sie die Fortsetzung von Argumentationen mit anderen Mitteln als der Wortsprache oder dem mathematischen Kalkül sei; ein Denken mit den Zeichen der Apparate. Und diese Apparate sind ja oft genug Anzeige- oder Schreibsysteme, die selbst Zeichenfolgen produzieren wie etwa das EKG oder das EEG.2 5 Tatsächlich wird man heute 24 H.-G. Gadamer. Wahrheit und Methode, S. 367. Für Gadamer ist die henneneutische Erfahrung, die im Gespräch und im Umgang mit Texten gemacht werden kann, ein "Geschehen" (S. 361), das uns widerfährt und einen eigenen Wirklichkeits- und vor allem Wahrheitscharakter hat. Dieser Erfahrungsbegriff steht, vor allem wenn es um den Wahrheitsgehalt geht, in vielen Verbindungen zur Lebensphilosophie, zur Phänomenologie und deren Transfonnation bei Martin Heidegger. Denn die Authentizität von Lebensvorgängen, der Offenbarungscharakter der Wahrheit. die sich "ereignet". im Gespräch oder im Prozeß des Verstehens eines Textes. sind für diesen Erfahrungsbegriff essentiell.

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schwerlich noch einen Verteidiger der "alten Vorstellung" finden, die wissenschaftliche Erfahrung teste ganz unabhängig von der Theorie, gar in Fonn eines "experimentum crucis", wissenschaftliche Hypothesen. Zu offensichtlich - und viel diskutiert - ist die Theoriegeladenheit nicht nur der Unterscheidungsgewohnheiten derer, die wissenschaftliche Erfahrungen machen, sondern vor allem der Experimental- und Beobachtungssysteme. Denn diese können in der modemen technisierten Wissenschaft nur aufgrund bestimmter Theorien gebaut werden. Beobachtungsinstrumente wie das Hubble-Teleskop oder Experimentalsysteme wie die großen Beschleuniger im DAISY oder CERN testen nicht allein Annahmen der modemen Physik, sondern instantiieren diese Physik auch in ihrem technischen Raffinement. Eine andere Art von "Theoriegeladenheit" der Erfahrung charakterisiert die Sozialwissenschaften, insbesondere die Betriebswirtschaftslehre, wie Michaela Haase in ihrem Beitrag zu Erfahrungsbegriffen in der Betriebswirtschaftlehre diskutiert. Die Erfahrungsobjekte der Betriebswirtschaftslehre erscheinen als empirische Konstrukte, nämlich als auf der Grundlage von Theorien konstruierte Entitäten, in die jedoch auch das Alltagswissen bzw. die Alltagstheorien der Erfahrungswissenschaftler eingeflossen sind: Entitäten wie ein "Haushalt" oder ein "Unternehmen" sind weder Wahrnehmungsgegenstände noch rein theoretische Gegenstände, sondern unseren gewohnten Ordnungen und Deutungen der Alltagserfahrung entnommen. Das bedeutet jedoch nicht, daß Merkmale, die dem nichtbeobachtbaren System, wie beispielsweise einem japanischen Unternehmen als solchem (und nicht nur seinen Elementen, den beobachtbaren Mitarbeitern etc.), zukommen, nicht "erfahrbar", sondern nur interpretierbar wären. Um zu verstehen, was man erfahrt beispielsweise die Folgen einer Bürokratisierung -, ist freilich der Rückgriff auf Theorien erforderlich. Dies geschieht auch schon im gewöhnlichen Betriebsalltag: durch die Beschäftigung von studierten Betriebswirtschaftlern in Betrieben (und den Einsatz von Unternehmensberatern und Betriebspsychologen, etc.) geht ständig auch Theoretisches in AIltagserfahrung und Organisationskompetenz über. Erfahrung in der Betriebswirtschaft beruht daher mehr als in aIlen anderen Sozialwissenschaften nicht nur auf den sozialen Interaktionen der Beteiligten, sondern auch auf den Gestaltungsversuchen der ErfahrungswissenschaftIer selbst, die nach ihrem Studium als Betriebswirte oder als Unternehmensberater und Arbeitspsychologen untersuchend und beratend tätig werden. Mittlerweile hat sich innerhalb der Wissenschaftsphilosophie, unterstützt durch die zunehmende Autorität der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, die Überzeugung verbreitet, daß nur durch eine gen aue Untersuchung der Gegenstände und Aufgaben in den verschiedenen Wissenschaften bestimmt werden kann, welches Theorieideal sie tatsächlich verfolgen, welchen Erfahrungsbegriff sie dabei zugrunde legen und ob sie hierbei ihren Inhalten angemessen Rechnung tragen oder 25 Vgl. neben seinem Beitrag in diesem Band auch H.-i. Rheinberger, Experiment, Differenz, Schrift: Zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg 1992, sowie H.-i. Rheinbergerl M. Hagner, Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften, Berlin 1993.

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sich - eventuell gerade durch eine zu starke Ausrichtung an fachfremden Kriterien der Wissenschaftlichkeit oder der Wissenschaftskritik - auf methodische Abwege begeben. Die Einteilung der Wissenschaften in Natur- und Kultur- bzw. Sozialwissenschaften erscheint heute als viel zu grob, um die Erfahrungsbegriffe der gegenwärtig etablierten Wissenschaften zu unterscheiden. Dasselbe gilt für die Unterscheidung zwischen einem Erfahrungsmaterial, das vom Beobachter im Experiment "hergestellt" wird, und einer "vorgegebenen" Erfahrung. So ist eine Ethnologin, wie Maria-Sibylla Latter in ihrem Beitrag zur ethnologischen Erfahrung erörtert, nach dem Methodenideal der Feldforschung als "teilnehmender Beobachtung" nicht nur als Beobachterin und Interpretin an der Konstruktion ihres Gegenstands beteiligt; in der Feldsituation nimmt sie selbst als affektives und soziales Wesen an ihm teil. Denn ebenso wie im Fall einer Psychoanalytikerin, wie sie Marianne Leuzinger-Bohleber in ihrem Beitrag vorstellt, handelt es sich hier um soziale und moralische Interaktionen, die bei der "Feldforscherin" nicht anders als bei der "Therapeutin" zwangsläufig Affekte auslösen, die bei der Erfahrung prägen und die erst durch nachträgliche Deutung von ihrem Gegenstand "als solchem" subtrahiert werden können. Darüber hinaus müssen beide ihre Mittel der Beobachtung - distanzierte Betrachtung, Interviews, Gespräche, schweigende Anwesenheit etc. - nicht zuletzt bewußt als Störungen des gewöhnlichen Verhaltens ansehen, da sie ein Verhalten auslösen, das andernfalls nicht aufgetreten wäre; indem sie das Erlebte als teilweise von ihnen selbst hervorgerufen deuten, können sie sich die Auswirkungen des eigenen Verhaltens auf den Gegenstand als Informationsquelle zunutze machen. Wahrend die Entdeckung, daß Ethnologen an der Erzeugung ihrer Gegenstände aktiv und konstruktiv beteiligt sind, in der Ethnologie neuerdings dazu geführt hat, die Erfahrung gegenüber der literarischen Konstruktion abzuwerten, scheint die Erfahrung in der psychoanalytischen Gesprächssituation allein schon aus therapeutischen Gründen unhintergehbar. Hier stellt sich die Frage, wie die Wahrnehmungsverzerrungen bzw. Projektionen der Analytiker und Analytikerinnen von wahren Wahrnehmungen unbewußter Zusammenhänge zu unterscheiden sind. Dies, so Leuzinger-Bohleber, geschieht in der selbstkritischen Reflexion auf die eigene "Übertragung" und "Gegenübertragung" in der psychoanalytischen Gesprächssituation, wie sie sie an einem Beispiel dokumentiert: Eine Analytikerin, auf die sich zunächst die unbewußten Wünsche der Patientin übertragen, kann sich aufgrund ihrer professionellen Schulung diese fremden psychischen Elemente bewußt machen und sie in Gegenübertragungsreaktionen wie Deutungsvorschlägen wieder "veräußerlichen". Wie im Beispiel deutlich wird, erfordert die Kunst, hier zwischen Gegenübertragungen von Fremdpsychischem und Projektionen von Eigenpsychischem zu unterscheiden, nicht nur lehrbuchmäßige Selbstanalyse, sondern - ähnlich wie Grasnick dies für die Rechtslehre zeigt - praktische Erfahrung im Vergleichen von Fällen. Wahrend also die ethnologische Feldforschung und die Psychoanalyse ebenso wie die Physik "experimentelle" Elemente enthalten, die freilich im Gegensatz zur Physik die Subjektivität des Forschers involvieren, erweisen sich umgekehrt die 2*

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Beobachtungen eines Radioastronoms als von grundsätzlich anderer Art als die eines ElementarteiIchen- oder eines Festkörperphysikers. Denn der Radioastronom experimentiert nicht; er beobachtet vielmehr Vorgänge, die er allein schon deswegen nicht beeinflussen kann, weil sie meist weit in der Zeit zurückliegen. Seine Empirie scheint also mehr Gemeinsamkeiten mit der eines Paläontologen aufzuweisen als mit der eines Experimentalphysikers, der Systeme präpariert und diese Präparationen als Paradigmen für funktionale Abhängigkeiten auch außerhalb des Labors nimmt. Natürlich verwendet der Radioastronom auch physikalische Theorien aus dem Bereich der ElementarteiIchenphysik, wenn er beispielsweise die Entwicklung von Sternen beschreibt. Doch diese theoretische Verbindung zur experimentell verfahrenden Physik ändert nichts an der Tatsache, daß der Erfahrungsgegenstand des Astronomen von eher historischer Art zu sein scheint (so wie umgekehrt der Gegenstand des von Oliver Schotz in seinem Beitrag erwähnten Historikers, der mittels chemischer Verfahren die Datierung eines Dokuments feststellt, eher zur "Natur" zu zählen wäre). Deshalb stehen manche Physiker der physikalischen Kosmologie, die auf der Basis radioastronomischer Erkenntnisse Einsichten über die Entwicklung unseres Universums produzieren möchte, sehr skeptisch gegenüber und betrachten sie als mathematisches Märchen. Manfred Stöckler zeigt in seinem Beitrag zur physikalischen Kosmologie, daß Kosmologien seit jeher immer auf die den Menschen zugänglichen Erfahrungen bezogen waren und dann Extrapolationen von diesen darstellten. Dies gilt auch für die moderne wissenschaftliche Kosmologie. In ihren Meßverfahren, aber auch in ihren historischen Spekulationen, bringt sie nicht nur die experimentelle und die gängige theoretische Physik zur Anwendung, sondern sie testet diese auch hinsichtlich ihrer Kohärenz. Dabei werden methodische Prinzipien der Physik überhaupt deutlich, die nicht nur die empirische Begründbarkeit betreffen (wie der Schluß auf die beste Erklärung). Stöckler zeigt also, daß die Annahme, in der physikalischen Kosmologie geschehe etwas Besonderes und im Grunde Unphysikalisches, nicht berechtigt ist. Nur wenn man die Rolle der Erfahrung in der "normalen" Physik falsch einschätzt und die feine Abstimmung ganz unterschiedlicher physikalischer Erfahrungsbereiche und Theorien in ihrer kosmologischen Anwendung ignoriert, wird man dieser Wissenschaft eine Sonderrolle geben oder ihr gar den Charakter einer Erfahrungswissenschaft absprechen wollen. Als ein ganz anderer Typ von Empirie als der physikalische erscheint die Suche nach bestimmten chemischen Verbindungen wie beispielsweise eines Neurotransmitters durch einen Neurophysiologen, der zu diesem Zweck Hirnsubstanz zentrifugiert, um in den Sedimenten eine Substanz mit einer von ihm aufgrund von Experimenten prognostizierten chemischen Struktur nachzuweisen. Er ist auf Spurensuche wie der Paläontologe oder der Radioastronom, sucht jedoch nicht nach Spuren vergangener Vorkommnisse, sondern vielmehr gegenwärtig in den Organismen wirkender Agenzien, die er an ihren Wirkungen bereits annäherungs weise erkennen zu können glaubt. Wiederum eine hiervon stark differierende Form der Empirie stellt die Computersimulation dar, die mittlerweile in der Evolutionsbiologie,

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der Metereologie, aber auch in den Wirtschaftswissenschaften angewendet wird. Denn hier wird weder mit realen Substanzen experimentiert noch bloß beobachtet, wie in der Radioastronomie oder Verhaltensforschung, auch werden keine Spuren gesucht. Stattdessen werden Symbolsysteme präpariert, die eigenen Entwicklungsprozessen unterliegen, die vom Präparator nicht exakt voraussagbar sind. Aufgrund der Autonomie der Symbolsysteme, ihrer eigenen Entwicklungsdynamik und der Komplexität der Entwicklungsvorgänge gelangt man hier auf einem anderen Weg zur Prognose als bei der Beobachtung oder dem Experiment. Die sehr schnell ablaufende Symbolentwicklung im Computer, die von einem bekannten Ausgangszustand beginnt, dient hier als vorwegnehmende Beschreibung einer Realentwicklung. Diese Beispiele machen deutlich, daß sich der Bereich der methodisch geleiteten Empirie in den Wissenschaften in unserem Jahrhundert stark ausdifferenziert hat, und daß die Rede von "dem wissenschaftlichen Experiment" eine wissenschaftstheoretische Vereinfachung darstellt, die den methodischen Eigenheiten der Einzelwissenschaften nicht gerecht werden kann.

Friedrich Steinle zeigt jedoch in seinem Beitrag zum physikalischen Experiment, daß schon die Rekonstruktion der experimentellen Untersuchungen zum Elektromagnetismus eine viel differenziertere Sicht des Experimentes erfordert. Nicht alle Experimente sind bereits in den Dienst einer Theorie gestellt und sollen sie bewähren oder falsifizieren. Vielmehr wird auch da experimentiert, wo noch gar keine Theorie vorhanden ist. Das von Steinle so genannte "explorative Experimentieren" ist nicht ein wüstes Herumprobieren, sondern eine Suche nach relevanten Faktoren, die eventuell einmal Bausteine einer Theorie über die explorierten Phänomene werden können. Steinles Untersuchungen zeigen, daß nicht nur vielfaltige nicht-experimentelle Erfahrungen wissenschaftlich relevant sind, sondern daß auch die experimentelle Erfahrung nichts Homogenes darstellt. Die philosophische Reflexion der Wissenschaften ging bisher in der Regel entweder von ideal- oder normalsprachlichen Konzeptionen aus. Das bedeutet, daß sie wissenschaftliche Grundbegriffe entweder aus einer von ihr, der Philosophie, selbst konstruierten semantischen Ordnung her verständlich zu machen suchte oder sich an der Bedeutung dieser Begriffe in der Umgangssprache orientierte. Dies führte oft zu dem unangemessenen Vorwurf, daß eine Wissenschaft unverständliche Begriffe verwende. Der Begriff der Zeit, den die Einsteinsehe Allgemeine Relativitätstheorie entwickelt, ist beispielsweise nicht mit dem alltagsprachlichen Zeitbegriff rekonstruierbar. Legt man diesen dennoch zugrunde, dann muß der Zeitbegriff Einsteins zwangsläufig unplausibel erscheinen. 26 Neben idealsprachlichen Vorstellungen bestimmen schematische Konzepte von Theoretizität oder der Differenz von Natur- und Geisteswissenschaften manche wissenschaftstheoretische Kritik. Eine Theorie, die einem bestimmten Erklärungsmuster nicht gerecht wird, 26 Für eine neuere Verfahrensweise in diesem Sinne aus der Schule des kritischen Rationalismus vgl. von Mettenheim, Popper versus Einstein: on the Philosophical Foundations of Physics. Tübingen 1998.

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das von der Wissenschaftsphilosophie als grundlegend für Naturwissenschaften überhaupt angesehen wird, oder die nicht in den Rahmen hermeneutische Wissenschaft versus Naturwissenschaft gespannt werden kann, erscheint dann als grundsätzlich unwissenschaftlich. Beispielhaft für dieses Vorgehen ist etwa Adolf Grünbaums Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse?7 Betrachtet man wissenschaftliche Sprachen dagegen (etwa im Anschluß an Nelson Goodman 28 ) als autonome Symbolsysteme, dann muß man sie auch aus den semantischen Regeln rekonstruieren, die sich durch die Verwendung der Begriffe in den einzelnen wissenschaftlichen Theoriezusammenhängen ergeben. Das muß nicht heißen, daß man von vornherein ausschließt, daß wissenschaftliche Begrifflichkeiten inkohärent sein können. Es hat jedoch zur Folge, daß die Haltung, die die Hermeneutik bei der Beurteilung philosophischer Begrifflichkeiten zugrunde legt: diese auch aus sich heraus zu verstehen und nicht allein mit einem den philosophischen Systemen fremden Maßstab zu beurteilen, auch in der wissenschaftstheoretischen Rekonstruktion gegenüber den einzelwissenschaftlichen Terminologien akzeptiert wird. Daß eine solche Einstellung nicht in einen allgemeinen Relativismus führen muß, versucht Michael Hampe in seinem Beitrag zum Pluralismus der Erfahrung zu zeigen. Für die Rekonstruktion der Erfahrungsbegriffe folgt daraus, daß sie weder mittels einer idealisierenden philosophischen Konzeption von wissenschaftlicher Erfahrung, die sich vornehmlich an der Sinneswahrnehmung orientiert, begriffen werden dürfen, noch der alltagssprachliche Erfahrungsbegriff alleiniger Maßstab der Rekonstruktion wissenschaftlicher Erfahrung sein kann. Aus ihrer Geschichte, ihren Problemlösungsstrategien und Untersuchungsmethoden heraus entwickeln die einzelnen Wissenschaften nicht nur unterschiedliche ErfahrungsbegrifJe, sondern auch unterschiedliche ErfahrungsJonnen, die als Techniken des Erfahrens von denen, die diese Wissenschaft betreiben wollen, erlernt werden müssen. Deshalb unterscheidet sich die experimentelle Erfahrung eines Physikers von der klinischen Erfahrung eines Psychotherapeuten und diese wiederum von der hermeneutischen Erfahrung eines Kunstwissenschaftlers. Mit dem idealisierten Bild "der" wissenschaftlichen Erfahrung fällt auch ihre scharfe Abgrenzung zu "der" ästhetischen und "der" religiösen Erfahrung weg, die im Vergleich einerseits ebenfalls "enthomogenisiert" werden, andererseits Parallelen zu wissenschaftlichen Erfahrungsformen aufweisen. Oliver Schotz befaßt sich in seinem Beitrag zum erkenntnistheoretischen Status des Zeugnisses anderer mit einem Aspekt von Erfahrung, der von der Philosophie der modernen Erfahrungswissenschaften lange in den Hintergrund gedrängt bzw. als zweitrangig betrachtet wurde: dem Zeugnis anderer im Kontrast zur eigenen 27 V gl. A. Grünbaum, The Foundations of Psychoanalysis. A Philosophical Critique, Berkeley 1984 (dt. Stuttgart 1988), und A. Grünbaum (Hg.), Kritische Betrachtungen zur Psychoanalyse. Adolf Grünbaums "Grundlagen" in der Diskussion, Berlin u. a. 1991. 28 N. Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M. 1998, S. 16 f., S. 117.

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Beobachtung und Erfahrung. Wahrend wir im Alltagsleben ebenso wie in den Wissenschaften de facto den größten Teil unseres Erfahrungsvorrats anderen verdanken, galt das Zeugnis anderer für Locke und andere neuzeitliche "Empiristen", die unser Bild von wissenschaftlicher Erfahrung geprägt haben, nur insoweit als von Belang, als es direkt auf eigene Beobachtung und Erfahrung reduziert werden konnte. Scholz kritisiert diese Reduktionsthese und plädiert dafür, das Zeugnis anderer als eine rationale, und der eigenen Beobachtung gleichwertige epistemische Quelle zu begreifen.

Demgegenüber betont Christian Gremmels in seinem Beitrag die Differenz zwischen der persönlichen Erfahrung und der überlieferten Erfahrung, durch die der reale Entstehungszusammenhang von Erfahrungen meist durch ihren kommunikativen Zweck - andere von einer Auffassung zu überzeugen - verdrängt wird und in Vergessenheit gerät. Ihm zufolge gilt dies in besonderer Weise für die christliche Erfahrung im Neuen Testament, die eigentlich keine ist. Gremmels zufolge hat man es eher mit einer kontrafaktischen Erfahrung zu tun, die als "Bild vom Reiche Gottes die Möglichkeiten dessen, was erfahrbar sein könnte", zur Kritik der gewohnten Erfahrung einsetzt: eine "experientia in futuris experienda". Die christliche Religion erscheint in dieser Auslegung als eine Religion durchkreuzter Erwartung, nämlich des Ausbleibens der Parusie als einer Grunderfahrung, aus der sich die Kirche als Institution der Abarbeitung von Enttäuschung herleitet. Ein ganz anderes Bild der religiösen Erfahrung liefert dagegen Daniel Krochmalnik. der die wechselhafte Auslegung der biblischen Wunder angesichts wissenschaftlicher Erfahrung untersucht. Krochmalnik zeigt, daß es innerhalb der jüdischen Tradition eine Vielfalt von Umgangsweisen mit dem Spannungsverhältnis von wissenschaftlicher Erfahrung und Wunder- und Offenbarungserfahrung in der biblischen Überlieferung gegeben hat. Zunächst ging es darum, entweder die Wunder und Offenbarungen als Durchbrechungen der kosmischen Ordnungserfahrungen zu interpretieren oder aber beide nebeneinander bestehen zu lassen und zu diesem Zweck zu relativieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem, daß für die jüdische Tradition die Vorstellung einer Naturerfahrung oder einer kosmischen Erfahrung als eines gesetzmäßigen Ordnungszusammenhanges, der keine Ausnahmen zuläßt und der von der religiösen Erfahrung abgetrennt werden oder ihr gegenübergestellt werden kann, etwas Fremdes darstellt. Hier treffen zwei Fonnen der Welterfahrung aufeinander: eine religiös und eine wissenschaftlich geprägte, die jüdische und die hellenistische. In einem Kontext, in dem die religiöse Erfahrung die Primärerfahrung darstellt, die auch die Alltagserfahrung organisiert, spielt die wissenschaftliche Erfahrung eine andere Rolle als dort, wo sich die Kultur als ganze "verwissenschaftlicht" hat und den Wissenschaften zugestanden wird, die Alltagserfahrung ebenso in Frage zu stellen wie die religiöse Erfahrung. Die Frage nach dem Verhältnis von Offenbarung und Wundem auf der einen Seite und wissenschaftlicher Erfahrung auf der anderen belegt deshalb in ihrer Geschichte, wie sich unsere Welterfahrung durch die wissenschaftliche Erfahrung geändert hat.

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Ein sicher auf Grund der jüdisch-christlichen Welterfahrung in unserer Gegenwart sehr relevanter, aber immer noch nicht in die naturwissenschaftliche Erfahrung einfach "glatt" integrierbarer Erfahrungsbereich ist der von Recht und Gerechtigkeit. Sofern Erfahrungen von Recht und Gerechtigkeit nicht durch die religiösen Symbolsysteme organisiert werden, scheinen von Menschen gesetzte Gesetze ihnen eine Form zu geben. Diese Formgebung ist von einer Komplexität, die eine eigene Rechtswissenschaft nötig macht. In der Regel wird man diese Wissenschaft als eine auslegende verstehen, in der Erfahrungen mit Texten gemacht werden. Dieser Gedanke mag immer noch für die juristische Methodenlehre und Ausbildung relevant sein, er entspricht dem Beitrag von Walter Grasnick zufolge jedoch ganz und gar nicht den Tatsachen juristischer Praxis. Grasnick fordert eine Theorie der Rechtsprechung, die der praktischen Erfahrung der Gerichte entspricht: Rechtslehre als Erfahrungswissenschaft. Denn, so seine These, "das Recht steckt nicht im Gesetz". Während Richter und Richterinnen so tun, als würden sie Gesetze auslegen, greifen sie sowohl rezeptiv wie kreativ auf vorgegebene Erfahrungen zurück: Sie stellen ohne zwingende Vorgaben Fallvergleiche an und konstruieren dabei sowohl den Fall wie die Fallösung. Diese Orientierung an bereits entschiedenen Fällen muß nicht anders als die medizinische Fertigkeit geübt werden - was an der Universität bislang nicht geschieht. Die Beiträge dieses Bandes dokumentieren einerseits die Vielfalt wissenschaftlicher Erfahrungsformen und zeigen verschiedene Probleme auf, von denen man zwar nicht immer im strengen Sinne sagen kann, daß sie allen Erfahrungsformen eigen sind, aber doch, daß die meisten hierin eine "Familienähnlichkeit" im Wittgensteinsehen Sinne aufweisen. Darüber hinaus zeigen sie auch die Komplexität der Beziehungen wissenschaftlicher zu nicht-wissenschaftlichen Erfahrungsweisen wie der sogenannten Alltagserfahrung, religiösen Erfahrungsformen, Erfahrungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, ästhetischer Erfahrung, historischer Erfahrung, kommunikativer Erfahrung etc. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie vereinfachend Schemata wie der phänomenologische Begriff der Lebenswelt oder die Daseinsontologie mit ihrem Begriff des In-der-Welt-seins sind, die die Alltagserfahrung als das durchgängige Fundament wissenschaftlicher Erfahrung betrachten. Nicht weniger eingleisig erscheint die szientistische Leitidee, daß wissenschaftliche Erfahrung immer gegen die Alltagserfahrung oder die religiöse Erfahrung in ihren Erkenntniserweiterungen und aufklärerischen Ansprüchen vorgehe. Freilich ist es nicht möglich, in systematischen Untersuchungen historisch gewachsener Begriffe wie den philosophischen und wissenschaftstheoretischen Untersuchungen von Erfahrung und Theorie in den Wissenschaften ohne Vereinfachungen auszukommen. Allerdings sollte man sich über den Preis im klaren sein, den man für das jeweilige Abstraktionsniveau zu zahlen hat. Wenn Philosophie und Wissenschaftstheorie für die Einzelwissenschaften irrelevant werden, weil sie u. a. mit Erfahrungsbegriffen operieren, die keinen Zugang zu den ErfahrungsweIten der Einzelwissenschaften mehr vermitteln, gehen die Kosten der Simplifizierung zu hoch. Es kann freilich nicht darum gehen, die Selbstdarstellungen der Ein-

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zelwissenschaften in Philosophie und Wissenschaftstheorie einfach nachzuerzählen. Der hier vorgenommene Vergleich von Erfahrungsbegriffen in den Wissenschaften beabsichtigt vielmehr, deren eigene Welthaltigkeit zu bewahren und untereinander zu vermitteln; mit dem Ziel, eine für die Einzelwissenschaften und ihre Anwendungsbereiche relevante Wissenschaftsphilosophie zu befördern.

Pluralismus der Erfahrung und Einheit der Vernunft* Von Michael Hampe Die Philosophie hat, ebenso wie andere Wissenschaften und wie die Künste, hohe Zeiten, wilde Jahre neben Phasen der Stagnation, vielleicht sogar des Niederganges erlebt. In den Hoch-Zeiten erscheint alles neu, die mit der Philosophie Befaßten gehen wie enthusiasmiert ihrer Tätigkeit nach, ohne Zweifel, daß das, was sie tun, von höchster Relevanz für die Menschen ist. Solche Epochen der Begeisterung können sowohl durch große denkerische Individuen wie durch inspirierende Ideale ausgelöst werden, und häufig geht beides Hand in Hand: Ein großes Individuum erzeugt eine Idee, die seine gesamte Generation und vielleicht noch eine nachfolgende begeistert, oder eine inspirierende Idee zieht die Besten einer Generation an und bringt die begabtesten Geister in den Dienst des Faches. Bereits zweimal in der Zeit der neueren Philosophie seit 1600 hat die Idee der Einheit aller Wissenschaften, eine Einheit, erzeugt aus philosophischen Prinzipien, dieser Disziplin blühende Jahre gesteigerter Kreativität beschert: einmal im Kantisehen Denken und seinen Folgen, die wir heute als den deutschen Idealismus zusammenfassen, das andere Mal in dem Projekt von Frege, Russell und Whitehead zu Beginn unseres Jahrhunderts und dessen Konsequenzen im sogenannten logischen Empirismus, einer philosophischen Richtung, die sich im Wien der 20er Jahre entwickelte und deren Mitglieder, meist Juden und Sozialisten, nach dem sogenannten Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich in die USA flohen, wo die analytische Wissenschaftstheorie u. a. aus dieser Schule hervorging. Bei Kant und Fichte war es das Selbstbewußtsein, die philosophische Beschreibung seiner Grundoperation, die erlauben sollte, alles Wissen aus einem sogenannten unbedingten Wissen abzuleiten und mit formalen Verfahren miteinander zu verknüpfen, die bei Hegel als Dialektik berühmt und berüchtigt wurde. So entstanden Wissenschaftslehren, transzendentale Systeme und philosophische Enzyklopädien, die zumindest prinzipiell alles menschliche Wissen in einem in sich zusammenhängenden philosophischen Wissen vereinheitlichen sollten. Von dieser Bewegung des deutschen Idealismus war die des logischen Empirismus, obwohl ihr das selbst nicht klar war, nicht unbeeinflußt. Die Rolle von Fechner als vermittelndem Glied zwischen diesen bei den Schulen ist erst in den letzten

* Derselbe Vortrag wurde im Rahmen des Studium generale "Wertepluralismus" der Universität Heidelberg im WS 98/99 gehalten und ist in der Dokumentation dieser Vorlesungen 1999 in Heidelberg erschienen.

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Jahren deutlich geworden. Dem logischen Empirismus schien es jedoch, daß es mit den Sprachen von Freges Begriffsschrift und der Principia Mathematica von Russell und Whitehead gelungen war, die seit Leibniz gesuchte Universalsprache des Denkens zu konstruieren. In dieser Sprache sollten alle Wissenschaften reformulierbar und miteinander verbindbar sein. Der junge Whitehead träumte beispielsweise noch davon, daß auch die Theologie und die Kunstwissenschaft einst die Sprache verwenden werden, die er mit Russell zur Ableitung der Arithmetik aus der Prädikaten logik entwickelt hatte. Diese Einheitsideale waren zuerst vor allem theoretischer Natur. Es ging darum, die Architektonik der unterschiedlichen Theorien verschiedener Wissenschaften auf ein gemeinsames Fundament zu stellen, die verschiedenen Theoriesprachen in einer einzigen philosophischen oder logischen Übersprache zu vereinigen. Doch der logische Empirismus unseres Jahrhunderts verband diesen Gedanken einer logischen Einheitssprache, wie der Name dieser Richtung schon sagt, mit dem Gedanken einer vereinheitlichten Empirie, einer universalen wissenschaftlichen Erfahrung. Alle wissenschaftliche Erfahrung, wie kompliziert sie auch sei, durch was für raffinierte Apparate sie auch erzeugt worden sein mag, sollte auf einen Urgrund der Erfahrung zurückgeführt werden, nicht unähnlich dem Selbstbewußtsein des deutschen Idealismus als Urgrund allen Urteilens. Dieser Urgrund der Erfahrung sollte im Gegebensein sogenannter Sinnesdaten oder Elementarerlebnisse, wie sie Rudolf Carnap nannte, zu finden sein. Wie alle Euphorien, so waren auch die der philosophischen Einheitswissenschaft ohne Bestand, sie vergingen wieder. Es wäre eine eigene Geschichte, von ihrem Untergang zu berichten. Hier will ich nur feststellen, daß mir heute kein ernst zu nehmender Vertreter der Philosophie bekannt ist, der noch ein einheitswissenschaftliches Programm vertritt. Doch der Untergang dieser Enthusiasmen war von einem beständigen Prozeß begleitet, der das einheitswissenschaftliche Projekt eigentlich hätte immer dringlicher erscheinen lassen müssen: Ich meine den Prozeß der stetigen Ausdifferenzierung der Wissenschaften. Denn seit dem späten achtzehnten Jahrhundert wächst die Zahl der an den Universitäten gelehrten Wissenschaften beständig. Die Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommene Unterteilung der entstandenen Disziplinenvielfalt in Geistes- und Naturwissenschaften ist heute viel zu grobschlächtig, um sich in einer gründlichen Ordnung vor Augen zu führen, mit welchen Gestalten der Wissenschaftlichkeit wir es gegenwärtig zu tun haben. Schon lange ist offensichtlich, daß es nicht mehr möglich ist, einen einheitlichen Theoriebegrijffür all diese Wissenschaften zu formulieren. Es gibt nicht die Form einer wissenschaftlichen Theorie, die sich in Mathematik, Physik, Biologie, Psychologie, Soziologie, Altertumswissenschaft, Geschichte und Neuphilologie wiederholen würde, ganz zu schweigen von Medizin, Jurisprudenz und Theologie; Disziplinen, die es nicht nur mit spezifischen Formen der Theoretizität, sondern darüber hinaus mit Anwendungen von Wissen zur Pflege der Gesundheit, der Gerechtigkeit und der Seelsorge zu tun haben. Diese Anwen-

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dungen werfen eigene wissenschaftstheoretische Probleme auf, die in der Reflexion über die spezifischen Verfahren der sogenannten Urteilskraft entstehen. Die Einsicht in die Vielfalt von Formen des Theoretisierens hat Konsequenzen, die über die Verabschiedung des Ideals einer theoretischen Vereinheitlichung aller Wissenschaften hinausgehen. Denn in der Philosophie der letzten 50 Jahre ist immer deutlicher geworden, daß die Vorstellung der logischen Empiristen: Theorie und Erfahrung ließen sich fein säuberlich voneinander trennen, unhaltbar ist. Es ist nicht so, daß ein Wissenschaftler eine bestimmte Erfahrung macht und diese dann im nachhinein theoretisch verarbeitet. Die augenfälligste Tatsache, die diese Auffassung widerlegt, sind die physikalischen Beobachtungsinstrumente. Voltmeter, Mikroskop, Teleskop, etc. sind ja nur aufgrund bestimmter Theorien überhaupt herstellbare Apparate, die uns wiederum zu neuen Erfahrungen führen. Das heißt, die Theorie verarbeitet nicht einfach die gemachte Erfahrung, sondern sie ermöglicht sie auch. Dies gilt nicht nur für die experimentellen Wissenschaften, wo das heute offensichtlich ist. Es gilt auch, so möchte ich behaupten, für die Wissenschaften, die wir vielleicht gar nicht als Erfahrungswissenschaften ansprechen, weil sich für uns heute der Begriff der wissenschaftlichen Erfahrung auf das Experiment verengt hat. Doch ich vermute, daß erstens in allen Wissenschaften, auch in den nicht experimentellen, ja selbst in Mathematik und Logik, Erfahrung eine zentrale Rolle spielt und daß zweitens Theorien als Disziplinierungsmechanismen alltäglichen Erfahrens in den Wissenschaften vielfältige neue Formen der Erfahrung hervorbringen. Die Vielfalt der wissenschaftlichen Disziplinen bedeutet also nicht nur eine Vielfalt von Formen des Theoretisierens in der Gestalt von deduktiven, induktiven, explanatorischen, prognostischen und normativen Argumentationsformen. Dieser Vielfalt entspricht und aus ihr ergibt sich vielmehr auch eine Vielfalt wissenschaftlicher Erfahrung. Disziplin bedeutet ja ursprünglich "Zucht" und "Ordnung". Und wissenschaftliche Disziplin bedeutet nicht nur, daß man sein Denken einer spezifischen Ordnung unterwirft, sondern auch seine Gewohnheiten, die Welt zu erfahren. Ich selbst hatte beispielsweise einige Schwierigkeiten, in meinem Biologiestudium Zeichnungen von Gewebeschnitten nach mikroskopischen Präparaten anzufertigen. Um diese Aufgabe zu bewältigen, müssen Sie nicht besonders schwierige Gedanken nachvollziehen, sondern Sie müssen ganz genau hinsehen und sich die gewohnten Symbolisierungen von Geweben, die Sie vielleicht aus Lehrbuchabbildungen kennen, aus dem Kopf schlagen. Denn Sie sollen das mikroskopische Präparat ja nicht zu einem Anlaß ihrer Erinnerung machen, sondern lernen, neue Strukturen möglichst genau zu erkennen. Wenn Sie gelernt haben, genau hinzusehen, müssen Sie noch genau das, was Sie sehen, aufzeichnen, und zwar so, wie Sie es sehen. Die Selbstkontrolle, die Sie hier erwerben müssen, betrifft vor allem die Fähigkeit, vorhandene Seherwartungen und gängige Symbolisierungsschemata beiseite legen zu können. Ganz ähnliche Schwierigkeiten wirft die Anfertigung des Verhaltensprotokolls eines Tieres auf, das man erforschen will; das Erstellen eines sogenannten Ethogramms. Wenn Sie, mit einer Stoppuhr bewaffnet, alle 30 Sekunden aufschrei-

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ben sollen, was ein Tier macht, so werden Sie sehen, daß diese Aufgabe auch bei einem relativ trägen Lebewesen wie einem Elefanten oder Bären, Ihre Geduld und Beobachtungsgabe vor ungeahnte Disziplinierungsschwierigkeiten stellt. Wenn man jedoch diese Schwierigkeiten beim mikroskopischen Zeichnen und in der Verhaltensbeobachtung im Feld bewältigt, das heißt, wenn man lernt, sich in seinen Erfahrungsgewohnheiten zu disziplinieren, so erfährt man Tatsachen, die einem ohne diese Disziplinierung von Beobachtungsgabe, Geduld und Aufmerksamkeit völlig unzugänglich geblieben wären; sie hätten einfach nicht existiert, ebensowenig wie die Jupitennonde in unserer Erfahrung erschienen wären, wenn niemand durch ein Fernrohr geschaut hätte. Ob mit oder ohne Beobachtungsinstrument, immer hat es Wissenschaft mit der Disziplinierung von Erfahrung zu tun. Wer eine Philologie studiert hat, hat seine Leseerfahrungsgewohnheiten so diszipliniert, daß er an einem Text ganz andere Erfahrungen machen kann als jemand, der in diesem Fach nicht ausgebildet worden ist. Wer Musikwissenschaft beherrscht, hört Musik anders als der sogenannte naive Hörer, wer Kunstwissenschaft gelernt hat, sieht Bilder anders als jemand ohne diese Disziplin, wer Chemie studiert hat, unterscheidet vermutlich auch Gerüche und Geschmäcke anders als der Nicht-Chemiker, und wer sich der physikalischen Schulung unterworfen hat, sieht bei einem schwingenden Pendel etwas anderes als der Nicht-Physiker. Die Diszplinierung unserer Erfahrung erfolgt in den Wissenschaften nach Idealen und Werten. Beispiele für solche Ideale und Werte sind Genauigkeit, Vollständigkeit, Repräsentativität und Kontrastschärfe. Diese Ideale gibt es auch in der Alltagserfahrung. Denn es gibt eine Kontinuität von Alltagserfahrung und wissenschaftlicher Erfahrung, so wie es eine Kontinuität von Alltagsdenken und wissenschaftlichem Denken gibt. Doch das Entscheidende der wissenschaftlichen Erfahrung gegenüber der Alltagserfahrung ist, daß durch Disziplinierung der Erfahrungsgewohnheiten der Bereich des Erfahrbaren ausgedehnt wird. Und diese Ausdehnung ist nicht einfach nur eine rein quantitative: daß also in der Wissenschaft noch mehr erfahren wird als im Alltag. Dies ist zwar auch der Fall. Denn wer durch ein Mikroskop guckt oder ein Fernrohr, sieht mehr sehr kleine und sehr weit entfernte Dinge als jemand ohne diese Geräte. Doch wissenschaftliche Erfahrung ist nicht einfach nur mehr als alltägliche Erfahrung, sie ist auch genauer, vollständiger, repräsentativer und kontrastschärfer als die alltägliche Erfahrung. Ein Gärtner und ein viehzüchtender Landwirt wissen einiges über Pflanzen und Tiere - sie haben ein Alltagswissen, das sich in vieler Hinsicht auf dieselbe Erfahrung bezieht wie die Biologie. Elektriker und Mechaniker wissen viel über Strom, Hebel und Kraftübertragung - sie haben ein Alltagswissen, das sich in vielerlei Hinsicht auf dieselben Erfahrungen bezieht wie das Wissen der Physiker. Ein Färber, ein Bäcker und ein Koch wissen einiges über das Verhalten verschiedener Stoffe bei Mischung, Erhitzen, Abkühlen usw. - sie haben ein Wissen, das sich auf ähnliche Erfahrungen bezieht wie das eines Chemikers. Man könnte noch viele Berufe nennen, die in unserem Alltag wichtig sind, in denen ein spezifisches Wissen

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gefragt ist, und man sich bestimmte Disziplinierungen der Erfahrung angeeignet haben muß, um diese Berufe gut auszuüben. Trotzdem gehen die Kompetenzen dieser Berufe nie in das wissenschaftliche Wissen über. Warum nicht? Um diese Frage zu beantworten, muß man seine Aufmerksamkeit auf die Werte richten, die als Zwecke des betrachteten Wissens und der Disziplinierungsanstrengungen der Erfahrung verfolgt werden. Der Obstgärtner und der Milchbauer sammeln Erfahrungen über Bäume und Rinder, um einen guten Ertrag an Obst und Milch zu erzielen. Der Elektriker und Mechaniker sammeln Erfahrungen über Stromflüsse, Hebel und Kraftübertragung, um Maschinen wieder in Gang zu setzen. Färber, Bäcker und Koch wollen Stoffe und Leder wetterresistent einfarben und Kuchen und Mahlzeiten zubereiten, deshalb sammeln sie technisches Wissen über die Art und Weise, wie sich Stoffe verbinden, scheiden und auf Temperaturwechsel reagieren. Die Werte der Genauigkeit, Vollständigkeit, Repräsentativität und Kontrastschärfe werden von ihnen nur so weit in der Disziplinierung ihrer Erfahrung verwirklicht, wie es die übergeordneten Ziele des Obstanbaus, der Milchproduktion, Maschinenreperatur, Färbetechnik und des Erzeugens wohlschmeckender Speisen verlangen. Die Werte der Genauigkeit, Vollständigkeit, Kontrastschärfe der Erfahrung sind hier also keine letzten Zwecke, die Erfahrung wird nicht um ihrer selbst willen diszipliniert, sondern letztlich um des Zweckes des Gelderwerbs. Das sage ich ohne Geringschätzung. Es ist völlig vernünftig, daß sich ein Obstbauer nicht mit Molekularbiologie, ein Elektriker nicht mit Quantenphysik, ein Bäcker nicht mit der Chemie irreversibler thermodynamischer Prozesse beschäftigt, weil dieses Wissen ihre beruflichen Kompetenzen eben nicht verbessern würde. Der Wissenschaftler strebt dagegen die Genauigkeit, die Vollständigkeit, die Repräsentativität und Kontrastschärfe seines Wissens selbst als letzte Zwecke an. Er will immer mehr immer genauer, vollständiger, repräsentativer und kontrastschärfer wissen, um der Qualität seiner Erfahrung und seines Denkens willen und nicht, um mit seinem Wissen und seinem disziplinierten Denken und Erfahren noch etwas anderes in der Welt anzufangen. Es mag zwar sein, daß eine wissenschaftlich disziplinierte Erfahrung und ein wissenschaftliches Wissen dazu taugen, noch allerlei anderes in der Welt zu vollbringen, doch sie werden nicht mit dieser Intention erworben. Wenn Politiker neuerdings fordern, die Universitäten sollten ihren Studenten Zwecke setzten, die außerhalb der Werte liegen, die in der Diszplinierung der Erfahrung und des Denkens verwirklicht werden, so verlangen sie im Grunde, daß die Universitäten aufhören sollen, wissenschaftlich auszubilden. Durch einen Bezug aller Werte wissenschaftlichen Erfahrens und Denkens auf den einen Wert des Reichtums oder der Lebenstüchtigkeit mag man zwar eine Vereinheitlichung der universitären Ausbildung herbeiführen können, jedoch um den Preis der Aufgabe der wissenschaftlichen Werte als letzter Zwecke der wissenschaftlichen Lebensform. Wenn man von den Werten der Genauigkeit, Vollständigkeit, Repräsentativität und Kontrastschärfe in der Disziplinierung wissenschaftlicher Erfahrung spricht,

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so muß man sich vor Augen führen, daß diese sehr abstrakten Erkenntniswerte in den verschiedenen Wissenschaften unterschiedlich realisiert werden. Die Genauigkeit des Physikers ist eine andere als die Genauigkeit eines Altphilologen. Die Vollständigkeit, die ein Biologe in seiner Erfahrung vom Leben einer bestimmten Algenform anstreben mag, unterscheidet sich signifikant von der Vollständigkeit, mit der ein Historiker das Leben in einer vergangenen Epoche zu kennen versucht. Die Repräsentativität eines Spurennachweises in der ökologischen Chemie ist etwas anderes als die Repräsentativität einer Umfrage in der empirischen Sozialforschung. Und die Kontrastschärfe eines mathematischen Beweises, in dem man mit großer Klarheit die Wahrheit eines Theorems einsieht, ist verschieden von der Kontrastschärfe in der hermeneutisch genialen Auslegung einer Bibelstelle in der Theologie. Es hat seinen Sinn, sowohl in Physik wie Altphilologie von Genauigkeit, in der Biologie und Geschichte von Vollständigkeit, in Chemie und Sozialforschung von Repräsentativität und in Mathematik und Theologie von Scharfsinn zu sprechen. Doch man kann nur lernen, was diese Werte in diesen jeweiligen Wissenschaften bedeuten, indem man lernt, diese Wissenschaften zu betreiben, das heißt, in ihnen Erfahrungen gewinnt und in ihnen denkt. Um das zu lernen, gibt es Wege, Leitfäden, Verfahrensregeln, damit die Ziele, die die jeweiligen Wissenschaften in ihrem Erkenntnisstreben verfolgen, mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit erreicht werden. Das griechische Wort für solche Wege, Leitfaden, Verfahrensregeln ist methodos. Weil die allgemeinen Erkenntniswerte, um deren Verwirklichung willen in den Wissenschaften die Erfahrung und das Denken diszipliniert werden, in den Wissenschaften auf jeweils eigene Weise verwirklicht werden, deshalb gibt es einen Pluralismus der wissenschaftlichen Methoden. Wer gelernt hat, was Genauigkeit in der Physik bedeutet, hat es mit Hilfe der Methoden des physikalischen Experimentes und des physikalischen Rechnens gelernt. Diese Methoden sagen ihm noch nicht, was die genaue Übersetzung eines homerischen Textes ist. Wer das lernen will, muß sich die Methoden der Altphilologie aneignen. Anders geht es nicht. Es gibt keine Methode, keinen Weg, der einen zur Genauigkeit in der Wissenschaft überhaupt befähigt oder zur Vollständigkeit überhaupt usw. Weil alle Wissenschaften mit je eigenen Erfahrungen verbunden sind und sich die Methoden der Wissenschaft zu einem Teil als Anleitungen zur Disziplinierung der Erfahrung lesen lassen, sind wissenschaftliche Methoden weitgehend unübertragbar. Ein Mathematiker oder Logiker, der die Erfahrung der Evidenz angesichts eines besonders scharfsinnigen Beweises macht, mag diese Erfahrung zwar mit der des Theologen vergleichen, der eine bestimmte Auslegung schlagend, glasklar, absolut überzeugend findet. Trotzdem müssen die Wege zur hermeneutischen und zur deduktiven Evidenz verschieden sein, weil die hermeneutische Evidenzerfahrung und die deduktive Evidenzerfahrung verschiedene Erfahrungsgegenstände betreffen: einmal formale Kalküle, das andere Mal kulturelle Sinnzusammenhänge, die in bedeutungsvollen Texten erinnert werden. Entsprechendes gilt für die Erfahrungen und Methoden der Erfahrungsgewinnung in anderen Wissenschaften.

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Lassen Sie mich eine Zwischenbilanz ziehen über das, was wir bisher über den Pluralismus der Wissenschaften im allgemeinen und die wissenschaftliche Erfahrung im besonderen herausgebracht haben: Erstens ist die Vielfalt der Wissenschaften nicht allein eine Vielfalt wissenschaftlicher Gegenstände. sondern zweitens auch eine von wissenschaftlichen Theoriefonnen. Diese unterschiedlichen Theoriefonnen bringen drittens eine Vielfalt wissenschaftlicher Eifahrungen hervor. Die Vielfalt wissenschaftlicher Erfahrungen ist durch Disziplinierung unserer alltäglichen Erfahrung möglich. Dabei machen wir die Qualität der Erfahrung, ihren Wert hinsichtlich Genauigkeit, Vollständigkeit etc. zu einem Zweck an sich. In den verschiedenen Wissenschaften verwirklicht sich die Vielfalt dieser Erkenntniswerte auf unterschiedliche Weise, und sie haben unterschiedliche Methoden entwickelt, um zu garantieren, daß die für sie jeweils spezifische Genauigkeit, Vollständigkeit, Kontrastschärfe etc. auch Schritt für Schritt entwickelt werden kann. Der Pluralismus der Wissenschaften ist also erstens einer der Theorien. zweitens einer der Eifahrungen. drittens einer der Erkenntniswerte und viertens einer der Methoden. Läßt sich diese Vielfalt vereinheitlichen? Wer diese Frage stellt, muß zurückgefragt werden, warum denn vereinheitlicht werden soll. Die Antwort darauf ist in der Regel: um dem Relativismus Einhalt zu gebieten. Wenn Theorie jeweils etwas anderes bedeutet, wenn ich von einer mathematischen, physikalischen, biologischen oder soziologischen Theorie spreche, habe ich dann überhaupt noch einen Theoriebegriff? Bedeutet Theorie dann nicht jeweils für jede Wissenschaft etwas anderes? Und wenn wissenschaftliche Erfahrung in der Physik etwas anderes ist als in der Theologie, ist dann Erfahrung nicht disziplinenrelativ? Wenn die Genauigkeit eines Mathematikers eine andere ist als die Genauigkeit eines Archäologen, ist dann nicht auch wissenschaftliche Genauigkeit kein absoluter, sondern ein relativer Wert geworden? Auf diese Fragen muß man mit "Ja!" antworten. Theoretizität, Erfahrung, Genauigkeit, Evidenz - all das ist disziplinenrelativ. Man kann nur verstehen, was es bedeutet, wenn man sich einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin unterwirft. Doch folgt daraus mitnichten Beliebigkeit. Jemand, der nicht zeigen kann, wie man sein Denken zu disziplinieren hat, um seine Theorie zu verstehen, wie man die Erfahrung disziplinieren muß, um die von ihm venneintlich gemachten relevanten Erfahrungen auch zu haben, wer nicht sagen kann, was für ihn Genauigkeit, Vollständigkeit und andere epistemische Werte bedeuten und mit welchen Methoden er sie verfolgt - eine solche Person akzeptieren wir nicht als Wissenschaftler. Allgemein kann gesagt werden, daß nicht gemeinsame Denkfonnen, Erfahrungen oder Methoden Wissenschaftlichkeit ausmachen, sondern die Bereitschaft und Fähigkeit zur Intersubjektivität in der Vennittlung der jeweils unterschiedlichen Methoden, Denk- und Erfahrungsfonnen bei gleichzeitigem Verzicht auf charismatische Initiation als Bedingung dieser Intersubjektivität. Darüber hinaus gilt: Wem es nicht zuallererst um die Qualität seiner Erkenntnisse, das heißt um die Werte geht, die er in seinem disziplinierten Denken und Erfahren verwirklicht, 3 LouerlHampe

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sondern ums Geldverdienen oder Überleben, um charismatischen Einfluß oder gesellschaftliche Entscheidungskompetenz, dem gestehen wir nicht zu, im emphatischen Sinne Wissenschaftler zu sein. Erst da, wo das Überleben und gut Leben halbwegs gesichert ist und eine Differenzierung in priesterliche, politische und der Erkenntnis gewidmete Tätigkeit - möglichst durch Trennung der entsprechenden Institutionen - eingetreten ist, entsteht ein Freiraum und eine Muße, die die Konzentration allein auf die Qualität des Gedachten und Erfahrenen erlaubt. Wer diese Muße nicht mit methodischem und diszplinierten Denken und Erfahren ausfüllt und nicht bereit ist, die Ergebnisse seines Denkens und Erfahrens an andere weiterzugeben, sondern Gedanken- und Erfahrungsfolgen zur eigenen Zerstreuung sich beliebig einstellen läßt, der ist kein Wissenschaftler, sondern ein Müßiggänger. Der von uns bisher eingesehene Pluralismus der Wissenschaften führt also an keiner Stelle zu einem Relativismus, der es uns unmöglich machte, zu erkennen, wann wir es mit Wissenschaft zu tun haben und wann nicht. Doch, so wird unser Gegenüber einwenden, was ist mit der Wahrheit und was mit der Vernunft? Streben nicht alle Wissenschaften nach Wahrheit und ist die nicht dieselbe für alle Wissenschaften? Wollen sie nicht alle dieselbe Welt erkennen, und zwar auf vernünftige Weise, so daß es einen allen Wissenschaften gemeinsamen Welt- und Vernunftbegriff geben muß, in dem die bisherige Vielfalt wieder aufgehoben wird? Diese Anfragen sind schwerwiegender. Denn sie betreffen ein philosophisches Wissenschaftsverständnis, das gerade für die anfangs erwähnten Bewegungen der Einheitswissenschaft charakteristisch gewesen ist. Doch dieses Wissenschaftsverständnis ist falsch. "Welt", "Wahrheit" und "Vernunft" sind keine einzel wissenschaftlichen Begriffe. Keine Einzelwissenschaft erforscht die Welt als solche und ganze, auch nicht die physikalische Kosmologie. Denn in ihr spielen menschliche Lebenskrisen, Kunstwerke und soziale Entwicklungen, die die psychologische, die kulturelle und die politische Welt ausmachen, bekanntlich keine Rolle. Und auch wenn wir selbstverständlich davon ausgehen, daß kein Wissenschaftler sich selbst oder seine Hörer und Leser belügt, ist die Wahrheit im emphatischen Sinne nicht das verfolgte Ziel einer oder aller Wissenschaften, dazu ist sie etwas viel zu Abstraktes. Wer wahre Auskünfte über die Ägypter, die Pflanzen und Tiere, die Materie oder die Bibel geben will, darf als AltertumswissenschaftIer, Biologe, Physiker oder Theologe natürlich nicht schwindeln. Das Streben nach Wahrhaftigkeit ist deshalb eine persönliche Voraussetzung wissenschaftlichen Arbeitens. Doch damit läßt sich kaum eine interessante Vereinheitlichung aller Wissenschaften bewerkstelligen. Wissenschaft ist immer auf wahre Erkenntnisse in einem bestimmten begrenzten Gegenstandsbereich aus, nicht aber sucht sie die Wahrheit als solche, über die sich eher die philosophischen Wahrheitstheorien auslassen, wenn sie Wahrheit als die Übereinstimmung von Vorstellung und Gegenstand, als Kohärenz von Behauptungssystemen oder unverstellte Offenbarung bestimmen.

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Auch die Vernunft ist - so wie sie sich in den Wissenschaften verwirklicht kein VereinheitJichungsprinzip. Alle Wissenschaftler müssen klug nach den richtigen Mitteln suchen, um ihre Erkenntnisziele zu verwirklichen. Insofern handeln sie alle zweckrational, also pragmatisch vernünftig. Doch weil sich die Erkenntniswerte, wie wir gesehen haben, in den verschiedenen Wissenschaften unterschiedlich verwirklichen und sie deshalb verschiedene Methoden verfolgen müssen, deshalb ist auch vernünftiges Erkenntnishandeln in den Wissenschaften jeweils etwas anderes. Ein vernünftiges Experiment ist ein gutes Mittel, um eine vernünftige Hypothese zu prüfen, die beim gegenwärtigen Stand einer experimentellen Wissenschaft besonders relevant ist. Eine vernünftige Übersetzung ist ein gutes Mittel, um die Bedeutung, den Klang und die Atmosphäre eines Textes einer Sprache in einer anderen Sprache wiederzugeben. Vernünftigkeit ist - so könnte man sagen wie Wahrhaftigkeit Teil der Grundnusstattung eines jeden Wissenschaftlers. Doch keine Wissenschaft hat die Vernunft als solche gepachtet, und wenn man sich alle Verfahren aller Wissenschaften, die erfolgreich nach der Verwirklichung ihrer Erkenntniswerte streben, vor Augen führt, dann erhält man ebenfalls nicht so etwas wie die Vernunft. sondern eine Enzyklopädie zweckrationaler epistemischer Verfahrensweisen. Es gibt jedoch eine Tradition der philosophischen Reflexion über den Welt-, den Wahrheits- und den Vernunftbegriff, die nicht einfach die Wahrhaftigkeit des einzelnen Forschers, die Zweckrationalität seines Erkenntnishandelns und nicht nur die Gesamtheit der Erkenntnisgegenstände, die wir als Welt bezeichnen mögen, betrifft. Um diese Tradition zu betrachten, müssen wir uns kurz von der Vielfalt der Einzelwissenschaften abwenden und das philosophische Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis ins Auge fassen. Menschen streben nicht allein nach Erkenntnis oder nach Erkenntnis einer bestimmten Qualität in Denken und Erfahrung. Zuerst wollen sie überleben und dann möglichst gut leben. Nicht wenige auf der Welt streben darüber hinaus nach religiöser Erlösung. Die Zwecke des Überlebens, des guten Lebens und der Erlösung sind mit eigenen praktischen Werten verbunden. Sie können ebenfalls nur mit Wahrhaftigkeit und Zweckrationalität .verfolgt werden. Ein Jäger, der sich selbst bei der Spurensuche etwas vormacht, wird ebensowenig eine Beute, die ihm und seiner Familie das Überleben sichert, nach Hause bringen wie einer, der die falschen Mittel zum Erlegen der gejagten Tiere wählt. Wahrhaftigkeit und Zweckrationalität sind für alle Lebenspraktiken wichtig, nicht nur die auf Erkenntnis bezogenen, und ich unterstelle hier, obwohl das sicher einer eigenen Argumentation bedürfte, daß sie auch für die Lebenspraktiken, die der religiösen Erlösung gewidmet sind, eine Rolle spielen; sei es die Nachfolge Christi oder eine buddhistische Meditationspraxis oder das Verhalten innerhalb einer anderer Religion. Die philosophische Frage, die sich nun ergibt, betrifft das Verhältnis der Zwekke, die wir in unserem pragmatischen Überlebenshandeln, unseren religiösen Praktiken und unserer wissenschaftlichen Erkenntnis verfolgen. Es kann nämlich gefragt werden, ob sich die Zwecke, die wir in den Erfahrungen des Selbsterhaltungs3*

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strebens und in der religiösen und der wissenschaftlichen Erfahrung realisieren, zu einem Zusammenhang fügen, den wir mit gutem Gewissen noch eine Welt nennen können. Auch gibt es das Ihnen allen gut bekannte Problem, ob sich die Alltagswahrheiten, die wir ebenfalls aus Selbsterhaltungsinteressen glauben, mit den religiösen und den wissenschaftlichen Wahrheiten widerspruchsfrei vereinbaren lassen. In diesen Überlegungen erscheint nun plötzlich die Wissenschaft als ein einheitliches Gebilde. Dies ist nicht so, weil wir jetzt ein Prinzip der Vereinheitlichung gefunden hätten, sondern weil wir die Zwecksetzungen der Wissenschaft, ihr Streben nach der Verwirklichung von Erkenntniswerten als Zwecken an sich oder letzten Zwecken einer Lebensform, nämlich der wissenschaftlichen, mit anderen Zwecken kontrastieren, die Menschen ebenfalls verfolgen und die ebenfalls Anspruch auf den Titel "letzte Zwecke" erheben können, wie das Überleben, das gute Leben und die religiöse Erlösung. Es ist die große Distanz, die wir hier in einer philosophischen Fragestellung, in der wir Lebensformen miteinander vergleichen, einnehmen, die uns auf einmal die Wissenschaften als ein einheitliches Gebilde, als die Wissenschaft, erscheinen läßt, so wie ein Wald von einem Flugzeug aus als ein einheitliches Gebilde neben Stadt und See erscheinen mag, auch wenn für den Fußgänger jeder Baum eine eigene Pflanze bleibt. Diese distanzierte philosophische Perspektive ist nicht wahrer als die nähere, die wir vorher eingenommen haben. Und deshalb wäre es auch ein fataler Fehler zu glauben, daß ein Vereinheitlichungsprinzip in der nahen Perspektive auffindbar sein muß, wenn es möglich ist, etwas aus der Distanz als in sich zusammenhängend zu erkennen. Wenn lediglich in der weiten Perspektive einer sinnvollen Fragestellung Abstraktionen gemacht werden, die spezifische Differenzen verwischen, so muß das nicht heißen, daß diese Differenzen nicht in einer anderen Perspektive sehr wichtig sein können. Nur weil die Philosophie die wissenschaftliche, die religiöse und die der Überlebensnot verpflichtete Lebensform miteinander vergleichen kann, wird die Wissenschaftstheorie, die sich um Religion und Überlebensnot nicht kümmert, nicht dazu verpflichtet, ein Vereinheitlichungsprinzip aller Wissenschaften zu finden. Nun ist sehr fraglich, ob die Zwecksetzungen der wissenschaftlichen Erkenntnis mit denen der Religion und denen des Überlebens und guten Lebens in einen konfliktfreien Zusammenhang gebracht werden können, ob sie in ein und derselben Erfahrungswelt verwirklicht werden können oder ob man sich zu entscheiden hat, in weicher Erfahrungswelt man leben will. Fragen nach dem Verhältnis von letzten Zwecken, die alle für sich in Anspruch nehmen können, eine ganze Lebensform zu organisieren, und Reflexionen, die sich mit den Wertkonflikten beschäftigen, die die Konkurrenzen verschiedener letzter Zwecke mit sich bringen können, werden nun in der Philosophie ebenfalls unter der Überschrift "Vernunft" behandelt. Hier geht es allerdings nicht um die Vernunft, die nach den angemessenen Mitteln für vorgegebene und nicht hinterfragte Zwecke sucht, sondern um die, die Zwecke selbst auswählt, bewertet; vielleicht sogar setzt. Jenseits der Zweckrationalität ergibt sich also die Aufgabe der Vernunft, letzte Zwecke, die eine menschliche Le-

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bensform organisieren, zu bewerten und nach den vorgenommenen Bewertungen auszuwählen. Die Frage, die sich hier der Vernunft als Richterinstanz stellt, ist: Wie ist die wissenschaftliche Lebensform mit der religiösen und der alltäglichen des Über- und besser Lebens vereinbar? Welche Rangfolge besteht eventuell zwischen den Werten dieser unterschiedlichen Lebensbereiche? Gesundheit und Gerechtigkeit sind Werte, die das Überleben und besser Leben betreffen. Nur wer gesund ist, überlebt auf lange Sicht und lebt gut, und in einer gerechten Gesellschaft, in der Verträge gehalten und Ressourcen gleich verteilt werden, lebt es sich besser als in einer ungerechten, in der keine Verteilungsgerechtigkeit herrscht und Versprechen nichts gelten. Dürfen wir Gesundheit und Gerechtigkeit aufs Spiel setzen, um Werte der wissenschaftlichen Erkenntnis wie Genauigkeit oder Vollständigkeit der Erfahrung zu fördern? Einzelne Wissenschaftler mögen diese Frage mit ,,Ja" beantworten, wenn sie ihre Gesundheit in der Überarbeitung aufs Spiel setzen und Anträge für Milliarden teure Hochenergiebeschleuniger stellen, obwohl in ihrer Gesellschaft Armut herrscht. Doch wenn wir das Wohl einer zumindest imaginierbaren Weltgesellschaft betrachten, werden wir der Gesundheit und der Gerechtigkeit Priorität gegenüber den Erkenntniswerten einräumen, ohne vielleicht zu wissen, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse der Gesundheit und Gerechtigkeit auf lange Sicht einmal förderlich sein werden. Schwieriger ist es bei der Verhältnisbestimmung der Werte der Heiligkeit, des erlösten Lebens und der Erkenntnis, die von Anfang an in einem Konflikt standen. Im Born Judas des Micha Josef bin Gorion findet sich unter den Historien der fingierte Brief des Aristoteles an seinen Schüler Alexander, in dem der Philosoph sein der Erkenntnis gewidmetes Leben bereut: ,,Ich trieb die Lehre vom Wesen aller Dinge", heißt es dort, "und wähnte alles mit dem Verstande zu erfassen [... ]. Aber nun traf ich, da ich alt wurde, mit einem Weisen, einem Sohne Judas zusammen, und der [... ] wies mich auf die Schrift [... ]. Er fesselte mein Herz durch die Worte seiner Lehre [... ]. Ich aber, ein Thor und Nichtswissender ahnte bislang nicht, daß die Mehrzahl der Dinge da liegt, wo man mit dem Verstande nicht hinreicht. [ ... ]. Hiermit verkünde ich aber offen und klar, daß [... ] die ganze Kunst des Denkens [... ] etwas Sündhaftes, und Philosophie ein leerer Wahn" ist. 1 Für die umgekehrte Bekehrung: von der naiven Frömmigkeit, der vermeintlichen Unmündigkeit eines Lebens in religiösen Traditionen zur verstandesklaren, befreienden Einsicht der Wissenschaft könnte ich ebensolche Zeugnisse von Spinoza, Hobbes, Hume oder Voltaire herbeiziehen. Ich erspare mir das in diesem Rahmen, in dem die Philosophie ja gegenwärtiger ist als die Religion. Und daß beide: Religion wie Philosophie aus dem Blickwinkel pragmatischer Wissenschaft, die an Detailproblemen arbeitet, vor allem aber in der Perspektive der Überlebenstechniken derer, die ohne Muße existieren müssen, oft genug als geistige und seeI Der Born Judas. Legenden, Märchen und Erzählungen, gesammelt von M. J. bin Gorion, hg. v. E. bin Gorion, Frankfurt a.M. 1993, S. 131 f.

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lische Überspanntheiten angeklagt werden, auf die nur verfallen kann, wer keine Überlebensnot mehr erleidet, ist Ihnen allen ebenfalls bekannt. Es herrscht zwar kein Krieg, nicht mal ein Streit der Fakultäten zwischen den Gelehrten des Erlösungswissens, wie Max Scheler es genannt hat, des Bildungswissens und des positiven Wissens. Doch daß Einigkeit darüber bestünde, ein einziges Projekt zu verfolgen: nämlich vernünftig die den Menschen angemessenste Lebensform anzustreben, wäre wohl auch zu viel gesagt. Die Zwecke setzende und bewertende philosophische Vernunft sucht jedoch gerade nach dieser Einigkeit. Sie ist angetrieben von der Idee, vielleicht dem Wahn, daß menschliches Überleben, sittliches Glück und wissenschaftliche Erkenntnis sich nicht ausschließen müssen. Diese Idee der Vernunft, wie wir sie etwa bei Platon oder bei Kant oder Peirce finden, ist keine einer Einzelwissenschaft und auch keine der Religion. Es handelt sich um eine philosophische Idee, oder genauer: um eine Idee bestimmter Philosophien, die von diesen Philosophien sowohl an die Wissenschaften wie an die Religionen herangetragen wird. Der Gedanke eines vernünftigen gemeinsamen Kerns aller Weltreligionen, wie ihn etwa Lessing vertreten hat, oder die Kantische Vorstellung eines Zusammenhanges von theoretischer und praktischer Vernunft und ihrer Vereinbarkeit mit der Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft, all diese Gedanken sind Ideale der Einheit, die ohne Einheitswissenschaft auskommen. Es geht um die kulturelle Kompatibilität der verschiedenen Zwecksetzungen menschlichen Lebens, eine Vereinbarkeit, die letztlich praktisch verwirklicht werden muß, die diese Philosophien jedoch als theoretisch möglich bereits vor ihrer praktischen Realisierung nachzuweisen versuchen, um damit die praktische Einheit theoretisch zu befördern. Die Einheit der Wissenschaften in einer Überwissenschaft ist dagegen ebenso unmöglich wie unnötig. Die Einheit der Vernunft als ein Projekt aufgeklärter spekulativer Philosophie, die die Kompossibilität von wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Erfahrung, von theoretischem und praktischem Denken zeigt, ist dagegen eine dringende Aufgabe, auch wenn sie heute nicht mehr von vielen philosophischen Strömungen verfolgt wird, sondern Dezisionismus und Relativismus breite Anerkennung finden. Denn vor allem angesichts der gegenwärtigen Spannungen zwischen den religiös geprägten islamischen und fernöstlichen Kulturen auf der einen und der wissenschaftlich bestimmten westlichen Zivilisation auf der anderen Seite scheint mir diese Aufgabe besonders akut geworden. Die Einheit der Vernunft ist dabei nicht als etwas zu begreifen, was man entdecken könnte. Weil die Wissenschaften sich ständig wandeln und neue Erfahrungen und Formen des Denkens hervorbringen, die auch unsere Alltagspraktiken verändern, weil sich auch die Religionen entwickeln und menschliche Lebensweisen verändern, muß die Philosophie ständig die Einheit der Vernunft erfinden, indem sie die Inhalte der wissenschaftlichen und religiösen Erfahrung zur Kenntnis nimmt und deutet. Für dieses Deutungsgeschäft muß sie sich einen eigenen Standpunkt wahren, sie darf weder Magd der Einzelwissenschaft noch der Religion, noch Anwalt des soge-

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nannten Alltagsverstandes sein, wenn sie das Projekt der Einheit der Vernunft nicht aufgeben will. Zweifellos gibt es Philosophien, die dieses Projekt mit guten Gründen fallen lassen; die Skeptiker oder die in die Religion führenden Philosophien. Montaigne, Hume und der späte Wittgenstein oder Jacobi, Kierkegaard und Heidegger wären Beispiele. Sie lasse ich einmal außer Acht, ohne sie damit philosophisch mißachten zu wollen. Kritisieren wollte ich jedoch die Fehler einer einheitswissenschaftlichen Philosophie, die nicht allein irrte, als sie sich in der Suche nach formalen Kriterien der Wissenschaftlichkeit überhaupt von den Inhalten der Erfahrung der Wissenschaften entfernte, sondern die auch die Autonomie der Philosophie nicht ernst nahm, die nicht Überwissenschaft sein kann, sondern ein Denken, das bei aller Vertrautheit mit den Einzelwissenschaften, den Religionen und dem Alltagsverstand sich um seiner eigenen Wissenschaftlichkeit willen doch auf Äquidistanz zu diesen drei zu halten hat, niemals die Wissenschaft gegen die Religion oder den common sense gegen beide ausspielen darf, wenn sie die Einheit der philosophischen Vernunft nicht aufgeben will. Nur in dieser Äquidistanz kann auch die Pluralität der wissenschaftlichen Erfahrung als möglicher Beitrag zu einer vernünftig strukturierten Kultur gedeutet werden, in der sich die Zwecksetzungen der Menschen nicht bekriegen, sondern gegenseitig ergänzen.

" ... die Erfahrungen anderer ... adoptiren ..." Zum erkenntnistheoretischen Status des Zeugnisses anderer! Von Oliver Robert Scholz

I. Die historischen Wissenschaften und das Zeugnis anderer Aus der institutionellen Ausdifferenzierung der Wissenschaften und ihrer theoretischen Reflexion ist eine kaum noch überschaubare Fülle von Wissenschaftsklassifikationen hervorgegangen. Wahrend der Platz der Naturwissenschaften stets klar und sicher erschien, wurde die Stellung der Gruppe von Wissenschaften, die diesen gegenübergestellt oder sogar entgegengesetzt werden sollte, stets als wesentlich problematischer angesehen. Schon bei ihrer Bezeichnung fällt eine Häufung auf: So spricht man im Englischen etwa von "moral sciences", aber auch von "human sciences" und "humanities" und in neuerer Zeit mehr und mehr von "social sciences", im Deutschen von "Geistes-", "Kultur-", "Human-" oder "Sozialwissenschaften" sowie von "historischen Wissenschaften". Klar ist, daß alle diese Bezeichnungen einen Kontrast zu den Naturwissenschaften zum Ausdruck bringen sollen; worin genau er besteht, bleibt damit noch weitgehend offen? Unklar ist insbesondere, was die Gruppe der Naturwissenschaften auf der einen, ihr Komplement auf der anderen Seite jeweils auszeichnet, wodurch sie sich im einzelnen voneinander unterscheiden. Versuche einer Charakterisierung der Geisteswissenschaften können auf ihren Gegenstandsbereich, ihre epistemischen oder anderweitigen Ziele und ihre Methoden bezogen werden. Die Diskussion dieser Fragen hat darunter gelitten, daß sie in der Regel zu idealtypisch geführt wurde. Beschränkt man die Betrachtung etwa auf Physik und Geschichtswissenschaft, so wird man leicht zu starken Behauptungen über grundlegende Unterschiede verführt - besonders, wenn man sich auch noch von diesen Wissenschaften ein vereinfachtes Bild 1 Zur Titelformulierung vgl. I. Kant. Logik BIomberg. Akad.-Ausg. XXIV. 1, S. 245: "Ein großer Theil unserer Erkenntniße entspringt durch Glauben, und ohne den Glauben würden wir sehr vieler historischen Erkenntniße entbehren müßen, wir würden keine größere Erkenntniße haben, als höchstens des Orts, wo wir leben, und der Zeit, in der wir leben.! Ein großes Hilfs-Mittel der historischen Erkenntniße ist also die Erfahrungen anderer zu adoptiren, hiedurch können wir erfahren, was 1000 Jahre vor uns, und 1000 Meilen weit von uns geschehen ist." 2 Der Natur (physis; natura) sind im Laufe der Geschichte Gesetz, Sitte und Konvention, Geist, Kultur und Geschichte - dem Natürlichen das Sittliche, das Willkürliche, das Künstliche und das Soziale - gegenübergestellt worden.

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macht. 3 Stellt man sich dagegen der tatsächlichen Vielfalt der in den Forschungsinstitutionen gepflegten und an den Universitäten, Akademien, Fachhochschulen und anderen Bildungseinrichtungen gelehrten Wissenschaften, dann wird man mit pauschalen Thesen bedeutend zurückhaltender und vorsichtiger sein. 4 Im Rahmen der lange Zeit vorherrschenden idealtypischen Diskussionen sind immer wieder pauschale Thesen über mutmaßliche fundamentale Unterschiede bei der Wissenschaftsgruppen aufgestellt worden, an denen sich heftige, oft auch ideologisch aufgeladene, Debatten entzündet haben. Als prominente Beispiele seien hier nur der Streit um eine geisteswissenschaftliche versus eine erklärende Psychologie, die Werturteilsdiskussion und der Positivismusstreit in Erinnerung gerufen. Geht man von der tatsächlichen Praxis der Wissenschaften aus, so findet man ein breites Spektrum von Formen der Wissenschaftlichkeit vor. Bei näherem Hinsehen erweist sich jede der existierenden Wissenschaften selbst schon als eine in vielfacher Hinsicht gemischte Angelegenheit: Schon in ein und derselben Wissenschaft können eine Reihe von Untersuchungsebenen, Verstehensformen und Methoden koexistieren. Beispielsweise gehört es zu den typischen Tätigkeiten eines Historikers, Dokumente zu finden und zu datieren, gegebenenfalls zu entziffern, ihre Echtheit zu prüfen, sie zu interpretieren und dergleichen mehr. s Für Fragen der Datierung und Altersbestimmung wird er auf heterogene Verfahren zurückgreifen, unter denen auch physikalisch-chemische eine bedeutsame Rolle spielen können. Er wendet also ganz selbstverständlich "geisteswissenschaftliche" Methoden (wie z. B. Methoden der Textkritik und -interpretation) und "naturwissenschaftliche" Methoden (wie z. B. die C14-Methode, die auf physikalischen Theorien des radioaktiven Zerfalls beruht) nebeneinander an. Und er tut nicht nur gut daran, die Ergebnisse der Anwendung aller solcher heterogener Methoden zu berücksichtigen; er muß sich in einem weiteren Schritt natürlich auch bemühen, sie in eine kohärente Darstellung zu integrieren. 3 Bei näherem Hinsehen erweisen sich die Verhältnisse in der Physik und in der Geschichte als komplizierter, als uns einflußreiche Darstellungen glauben machen wollten. Bereits die Rede von der Physik, der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, der Psychologie etc. stellt ja eine extreme Abstraktion und Vereinfachung dar. 4 Blättert man etwa in den einschlägigen Organen die Stellenanzeigen unter der Rubrik ,,Lehre und Forschung" durch, dann trifft man auf einige hundert Bezeichnungen, unter denen wissenschaftliche Forschung und Lehre betrieben wird. Mag man bei einigen dort genannten Fächern - ich hüte mich, Beispiele zu nennen - mit einem gewissen Recht an ihrem Wissenschaftscharakter zweifeln, so finden sich doch zweifelsohne genügend anerkannte Wissenschaften darunter, um vergleichende wissenschaftstheoretische Untersuchungen auf eine breitere Grundlage zu stellen. Viele der Klischees über Natur- und Geisteswissenschaften erledigen sich bereits, wenn ernsthaft Wissenschaften wie Chemie, Geologie, Biologie und Psychologie einbezogen werden. S Eine lehrreiche exemplarische Analyse einer Geisteswissenschaft liefert J. M. Bochenskis kleine Arbeit Logische Stichproben aus der Ägyptologie, in: P. Weingartner/G. Schurz (Hg.), Logik, Wissenschaftstheorie und Erkenntnistheorie (Akten des 11. Internationalen Wittgenstein-Symposiums), Wien 1987, S. 303-314.

..... die Erfahrungen anderer ... adoptiren ... "

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Statt so große und hybride Einheiten wie ganze Wissenschaften oder sogar Wissenschaftsgruppen miteinander zu vergleichen, erscheint es aus einer systematischen erkenntnistheoretischen Sicht sinnvoller, mit komparativen Untersuchungen zu den beteiligten epistemischen Quellen,6 den relevanten Verstehensformen 7 und den zur Erreichung der epistemischen Ziele angewandten Methoden zu beginnen. Bei dieser Gelegenheit sollen eine Quelle und eine damit verbundene Verstehensform in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden: das Zeugnis anderer und das Verstehen sprachlicher Äußerungen.

11. Quellen Fragt man nach den epistemischen Quellen, werden in den traditionellen Lehrbüchern in der Regel die folgenden aufgezählt: Wahrnehmung (bzw. Beobachtung), Introspektion, Erinnerung sowie verschiedene Formen des Schließens. 8 Das Zeugnis anderer (lat. testimonium; eng!. testimony)9 wurde entweder gar nicht genannt oder stiefmütterlich behandelt, obwohl man sich leicht vor Augen führen kann, daß es sich um eine der am reichsten sprudelnden epistemischen Quellen handelt. Erst seit einigen Jahren beginnt sich die Lage zu bessern; 10 die erkenntnistheoretische Diskussion der Testimonialerkenntnis erlebt zur Zeit ihre längst fallige Renaissance. 11 6 Den Terminus ..epistemische Quellen" verwende ich, wenn ich zusammenfassend über Quellen für (i) Meinungen, für (ii) gerechtfertigte Meinungen und für (iii) Wissen sprechen möchte; wenn es auf die Unterschiede ankommt, benutze ich die spezielleren Ausdrücke. 7 Der größte Teil der Verstehensobjekte kann unter eine der folgenden Klassen subsumiert werden: (\) Personen (und andere intentionale Systeme); (2) intentionale Einstellungen von Personen; (3) (individuelle und kollektive) Handlungen (inc\. Sprechhandlungen und andere Zeichenhandlungen); (4) Regeln (und regelkonstituierte Gebilde) und (5) bestimmte Produkte (und andere Resultate) individueller oder kollektiver Handlungen (z. B. Artefakte, Zeichen, Texte, Theorien u. a. m.). 8 Das Vermögen zu schließen (unter Einschluß der dafür vorauszusetzenden Fähigkeiten) wurde traditionell als Vernunft oder auch als Verstand (Iat. ratio; eng\. reason) bezeichnet. Kant hat zwischen Verstand und Vernunft weiter zu differenzieren versucht; vg\. KrV B 355 - 359, 386. 9 Neben dem Terminus .. (das) Zeugnis (anderer)" führe ich die Kunstausdrücke ..Testimonialüberzeugungen", ..Testimonialrechtfertigung" und ..Testimonialerkenntnis" ein, um jeweils Überzeugungen, Rechtfertigung und Wissen aus dem Zeugnis anderer bezeichnen zu können. 10 Aus den Veröffentlichungen, die zur Wiederbelebung des Interesses an diesem wichtigen Gegenstand beigetragen haben, sind zwei besonders hervorzuheben: Das 1992 in Oxford erschienene Buch Testimony: A Philosophical Study von C. A. J. Coady, in dem dieser seine bedeutenden Arbeiten zum Thema gesammelt und in einen systematischen Rahmen gestellt hat, und die von B. K. Matilall A. Chakrabarti herausgegebene exzellente Aufsatzsammlung Knowing from Words: Western and Indian Philosophical Analysis of Understanding and Testimony aus dem Jahre 1994.

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Einer angemessenen Würdigung der Testimonialerkenntnis standen zahlreiche Hindernisse im Wege. Ein beträchtlicher Teil der traditionellen Erkenntnistheorie war durch verfehlte Ideale und utopische Träume belastet. Die Rolle des Helden spielte in dieser Disziplin allzuoft der zurückgezogene einzelne Denker - einsam, aber autonom - im Kampf gegen die Windmühlen des Skeptizismus, unablässig auf der Suche nach absoluter Gewißheit. Diese Figur ist uns nicht nur sehr unähnlich; vor allem gibt es wenig Grund, sie zu beneiden.

III. Umfang und Vielfalt der Testimonialerkenntnis Bevor wir uns den Streitfragen zum epistemischen Status des Zeugnisses anderer zuwenden, sollten wir uns bemühen die Phänomene zu beschreiben, um die es geht. Beginnen wir mit Geschichten, die das Leben schrieb: (1) Vor vielen Jahren informierte unser Geschichtslehrer mich und meine Klassen-

kameraden, daß die Perser bei Marathon besiegt wurden. Wir fügten diese wertvolle Neuigkeit ohne Zögern unserem Meinungsschatz hinzu. Später las ich Herodots Bericht über dieses Ereignis. Wenn Sie mich fragen, woher ich weiß (bzw. auf weIcher Grundlage ich glaube), daß die Perser bei Marathon besiegt wurden, dann lautet die beste, ja die einzige relevante Antwort, die ich geben könnte, daß ich es von meinem Lehrer gelernt habe und später durch die Lektüre von Herodot (vermutlich die Quelle, auf die sich auch mein Lehrer gestützt hatte) darin bestärkt wurde.

(2) In der "Tagesschau" wird die Nachricht verlesen, daß Boris Jelzin zurückgetreten ist. Seitdem gehe ich davon aus, daß Jelzin nicht mehr im Amt ist. (3) Meine Armbanduhr ist stehengeblieben. Ich frage einen Passanten nach der Uhrzeit. Er blickt auf seine Uhr und sagt mir, es sei kurz vor Mitternacht. Aufgrund dieser Mitteilung verlasse ich mich darauf, daß es kurz vor Mitternacht ist. (4) Ich besuche eine Stadt, in der ich mich nicht auskenne. Um an die Ziele zu gelangen, die ich ansteuern muß, verlasse ich mich auf die Auskünfte von Passanten und Taxifahrern, auf einen Reiseführer und auf den Stadtplan. 11 Von einer Wiedergeburt muß man sprechen, da es im 17. und 18. Jahrhundert schon einmal eine sehr extensive und intensive Diskussion gegeben hat. Zum historischen Hintergrund vgl. u. a. A. Seifert, Cognitio historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie, Berlin 1976, M. Völkei, "Pyrrhonismus historicus" und "fides historica". Die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis, Frankfurt a. M. / Bem / New York 1987, und L. Daston, C1assical Probability in the Enlightenment, Princeton, NJ. 1988, Kapitel 6. Wie differenziert diese Erörterungen ausfallen konnten, belegt etwa das Kapitel "Von der historischen Wahrscheinschlichkeit" in: C. A. Crusius, Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis, Leipzig 1747,11. Teil, Kap. VIII, §§ 605-627 (S. 1041-1079).

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Vor dem Hintergrund dieser Beispiele können wir zunächst die sprachliche Phänomenologie der Testimonialerkenntnis beleuchten: Wie sprechen wir über das Zeugnis anderer? Ausdrücke wie "Zeugnis", "Zeuge" u. ä. sind zunächst in rechtlichen Zusammenhängen zu Hause, in denen es eine alte und gut etablierte Institution des formalen Zeugnisses gibt. 12 Diese Institution des formalen Zeugnisses stellt zweifellos einen eigenen interessanten Forschungsgegenstand dar - und das nicht nur für Juristen, sondern auch für Erkenntnistheoretiker. Gleichzeitig sollte aber klar sein, daß es sich von einem logischen Standpunkt aus nicht um die fundamentale Art handeln kann. Die Fälle des natürlichen oder informellen Zeugnisses - bei denen jemand, grob gesprochen, etwas behauptet in einem prima facie-Versuch, Informationen zu übermitteln - sind sowohl verbreiteter als auch grundlegender. Die Institution des formalen Zeugnisses würde und könnte es nicht geben ohne eine vorgängige Praxis des informellen Zeugnisses. Wenn wir uns nicht häufig auf das verlassen könnten, was Leute uns außerhalb des Gerichtssaals sagen, hätte es wenig Sinn, die Institution des formalen Zeugnisses einzuführen und aufrechtzuerhalten. 13 Unser Hauptgegenstand wird also das natürliche Zeugnis sein. Für diese informellen Fälle der Weitergabe von Informationen klingen Ausdrücke wie "Zeugnis" und "bezeugen" viel zu feierlich und gewichtig. Und natürlich stehen uns in allen entwickelten Sprachen zahlreiche umgangssprachlichere Ausdrücke für das Ablegen und Empfangen des Zeugnisses anderer zur Verfügung. So kann man im Deutschen einfach sagen, eine Person habe einer anderen erzählt (oder mitgeteilt), daß p, oder sie habe diese in Kenntnis gesetzt (oder informiert), daß p. Auf der Rezeptionsseite ist es üblich zu sagen, daß wir p von soundso gehört oder erfahren haben. Im folgenden werden wir "Zeugnis" (in einem weiten Sinne) als philosophischen terminus technicus für die mit den genannten Beispielen grob umrissene Familie von Sprechhandlungen verwenden. In der Sprechakttheorie werden diese kommunikativen Handlungen typischerweise unter der Rubrik "Assertive" geführt. 14 Der illokutionäre Witz der Sprechhandlungen dieser Klasse ist es, den Sprecher auf die Wahrheit der ausgedrückten Proposition festzulegen. Zu den typischen Vorbereitungsregeln zählen: Der Sprecher hat Grund zu glauben, daß p; der Hörer besitzt noch kein Wissen über den Sachverhalt, über den er informiert wird (oder zumindest gilt: es ist nicht für beide - Sprecher und Hörer - offensichtlich, daß der Hörer weiß, daß p). 12 Vgl. C. A. J. Coady, Testimony, S. 27 ff.; R. Audi, Epistemology. A Contemporary Introduction to the Theory of Knowledge, London / New York 1998, Kapitel 5, S. 130 f. 13 Man muß dies schon deshalb betonen, weil die übermäßige Konzentration auf den Fall des formalen Zeugnisses leicht die problematische Idee nährt, daß Überzeugungen, die auf dem Zeugnis anderer beruhen, generell durch einen Schluß aus Annahmen über die Glaubwürdigkeit des bezeugenden Sprechers zustande kämen. 14 J. R. Searle, Expression and Meaning, Cambridge 1979, S. 12 f., und J. R. Searle / D. Vanderveken, Foundations ofIllocutionary Logic, Cambridge 1985, S. 182 ff.

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In den einfachsten Fällen befinden sich ein Sprecher, der etwas bezeugt, und ein Hörer in einer Face-to-face-Kommunikation. Der Sprecher bezeugt absichtsvoll die Wahrheit einer Proposition p, die in der einen oder anderen Weise in Frage stand. Der Adressat hört und versteht die Äußerung und verwendet das Zeugnis als empirischen Beleg, um die Angelegenheit zu bestimmen. Schließlich macht er sich die Meinung, daß p, zu eigen. Natürlich gestalten sich viele Fälle, in denen wir etwas aus Worten lernen, in verschiedenen Hinsichten komplizierter. Die Reihe der Zeugnisse kann länger als einstufig, in einzelnen Fällen sehr lang sein: Es mag sich um ein Zeugnis aus zweiter, dritter oder n-ter Hand handeln. Und es kann eine Menge Zeit verstreichen zwischen dem Auftreten eines Zeugnisses und seiner Aufnahme und Auswertung. Darüber hinaus gibt es viele Formen dokumentarischer (Geburts-, Heirats- oder Sterberegister und dergleichen) und institutioneller Zeugnisse (wie beispielsweise Verkehrszeichen, Richtungsangaben auf Straßenbahnen etc.). Das Zeugnis braucht auch nicht absichtlich gegeben zu werden; es kann ungeplant und beiläufig erfolgen. Der ursprüngliche Sprecher oder Schreiber braucht nicht intendiert und nicht einmal geahnt zu haben, daß seine (mündliche oder schriftliche) Äußerung jemandem später einmal als Zeugnis dienen wird. Wie unsere Beispiele belegen, sollten wir natürliche Erweiterungen unseres Begriffes des "Zeugnis" für verschiedenartige Fälle nonverbaler Übermittlung von Meinungen zulassen: Wie wir vieles vom Hörensagen und aus Büchern wissen, so wissen wir viele Dinge aus Bildern, Piktogrammen, Fotografien und Filmaufzeichnungen. Dies wirft interessante Fragen über die Natur und den epistemischen Wert von Bildern, Fotografien, Filmen und anderen nonverbalen Zeichen und Medien auf, die in einer umfassenden Theorie der Testimonialerkenntnis beantwortet werden müssen - aber sicher nicht in dieser moderaten Skizze. Wenden wir uns stattdessen von der sprachlichen Phänomenologie der Phänomenologie der Sachintuitionen zu: Was glauben wir vor-theoretisch über das Zeugnis anderer (als epistemische Quelle)? Welches vor-theoretische Bild machen wir uns von der Möglichkeit, dem Umfang und der Natur der Testimonialerkenntnis? Schon gesunder Menschenverstand versichert uns, daß das Zeugnis anderer die Quelle eines sehr beträchtlichen Anteils unserer Meinungen und Überzeugungen ist. Jeder von uns schuldet einen riesigen Teil dessen, was er glaubt, dem, was andere Leute ihm gesagt haben. Unsere Meinungssysteme sind dementsprechend von der Annahme des Zeugnisses anderer durchtränkt. Daß wir uns häufig auf das Wort anderer verlassen, scheint sowohl im gewöhnlichen Leben als auch in unseren spezielleren theoretischen Anstrengungen eine sehr grundlegende epistemische Einstellung zu sein. In welchem Umfang wir in alltäglichen Dingen auf das Zeugnis anderer angewiesen sind, sollte offensichtlich sein. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, woher man weiß, wie man heißt, wann und wo man geboren ist und was derglei-

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chen Einzelheiten mehr sind. Für die unzähligen Meinungen über Geschehnisse, Sachen und Personen, die uns aus dem einen oder anderen Grund räumlich oder zeitlich nicht zugänglich waren oder sind, müssen wir uns wesentlich an das halten, was andere Leute uns sagen oder schriftlich überliefert haben. Aber auch unsere höchstentwickelten theoretischen Aktivitäten, die vielfältigen Wissenschaften, wären unmöglich, wenn wir nicht aus dem Zeugnis anderer lernen könnten. Dies gilt nicht nur für die Geschichtswissenschaft, sondern beispielsweise auch für die Psychologie, die Astronomie und sogar für die theoretische Physik. 15 Besonders fundamental ist die Testimonialerkenntnis aber sicherlich für alle historischen Wissenschaften sowie alle Geistes- und Sozialwissenschaften, die einen starken historischen Anteil haben. "History depends in an essential way on testimony", wie es der Wissenschaftsphilosoph Gordon Brittan einmal ausgedrückt hat. 16

IV. Der erkenntnistheoretische Status des Zeugnisses anderer Jeder muß also zugeben, daß das Zeugnis anderer eine reiche Quelle für unsere Meinungen ist und daß wir uns beständig auf diese Quelle verlassen. Nichtsdestoweniger sind das Ausmaß und die zentrale Bedeutung unserer Angewiesenheit auf das Zeugnis anderer in der traditionellen Erkenntnistheorie zumeist stark unterschätzt worden. Von den meisten Philosophen ist die Testimonialerkenntnis entweder einfach ignoriert oder aber als zweitrangig eingestuft worden. Diese Tradition der Vernachlässigung des Zeugnissses anderer hat ihre Wurzeln in mehreren Tendenzen der Geschichte des menschlichen Denkens. Von besonderer Bedeutung ist dabei eine individualistische Auffassung der epistemischen Situation des Menschen, die in der Philosophie der Neuzeit vorgeherrscht hat. 17 In erkenntnistheoretischen Zusammenhängen ist das individualistische Bild durch das heroische Ideal des autonomen Erkenntnissubjekts gekennzeichnet, das epistemisch maximal autark sein sollte. 18 Sein Motto ist: Know it yourself!

IS V gl. J. Hardwig, Epistemic Dependence, in: The Journal of Philosophy 82, 1985, S. 335 - 349; C. A. J. Coady, Testimony, S. 10 ff. 16 G. Brittan, History, Testimony, and Two Kinds of Scepticism, in: B. K. Matilall A. Chakrabarti (Hg.), Knowing from Words, S. 273. 17 Dieser Individualismus in der Erkenntnistheorie war in der Regel mit ähnlichen individualistischen Neigungen in der Philosophie des Geistes und in der Sprachphilosophie sowie in der Moral und politischen Philosophie verknüpft. (Diese Zusammenhänge verdienten einmal eine eingehendere Untersuchung.) 18 Vgl. J. L. Mackie, The Possibility of Innate Knowledge, in: Proceedings of the Aristotelian Society 70, 1969 - 70, S. 254; dazu C. A. J. Coady, Testimony, S. 20 f., 80 ff.; C. A. J. Coady, Testimony, Observation, and ,,Autonomous Knowledge", in: B. K. Matilall A. Chakrabarti (Hg.), Knowing from Words, S. 225 ff.

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Die theoretische Ausfonnung dieser individualistischen Haltung hatte stets die Gestalt einer reduktionistischen Behandlung der Testimonialerkenntnis. Ein Reduktionismus bezüglich des Zeugnisses anderer l9 zeichnet sich durch die folgenden Annahmen aus: (R-Nec) Um das Zeugnis anderer als Quelle von gerechtfertigter Meinung und Wissen zu vindizieren, ist eine Zurückführung auf andere epistemische Quellen erforderlich. Innerhalb des reduktionistischen Lagers muß man zwischen Optimisten und Pessimisten unterscheiden. Pessimisten leugnen, daß die erforderliche Reduktion möglich ist: Non-(R-Poss) Die erforderliche Zurückführung ist nicht möglich. Dies führt sie zu dem Schluß, daß das Zeugnis anderer - allem Anschein zum Trotz - keine Quelle von gerechtfertigter Meinung und Wissen ist. So endet der pessimistiche Reduktionismus im Zeugnisnihilismus. In den unvergeßlichen Worten John Lockes: "The floating of other Men's Opinions in our brains makes us not one jot the more knowing, though they happen to be true. ,,20 Der pessimistische Reduktionismus verletzt fundamentale Intuitionen und Adäquatheitsbedingungen, die sich folgendennaßen artikulieren ließen: (CS 1) Der Begriff des Wissens sollte eine Funktion erfüllen; d. h., er sollte sich nicht als leer (oder nahezu leer) herausstellen. (CS 2) Explikationen des Wissensbegriffs sollten so ausfallen, daß das, was wir laut Explikation wissen, der Menge von Meinungen (zumindest entfernt) ähnelt, von der wir nonnalerweise annehmen, daß wir sie wissen. 19 Vgl. zum folgenden C. A. J. Coady, Testimony, S. 22 f., 80 f., sowie die hilfreichen Differenzierungen bei E. Fricker, Critical Notice: Telling and Trusting: Reductionism and AntiReductionism in the Epistemology of Testimony, in: Mind 104, 1995, S. 394. Mit Frickers Schlußfolgerungen stimme ich, wie weiter unten deutlich werden wird, nicht überein. 20 Da der Passus die Rhetorik des erkenntnistheoretischen Individualismus sehr schön i\Iustriert, sei ein längeres Zitat gestattet: "Truth has been my only aim; and where-ever that has appeared to lead, my Thoughts have impartially followed, without minding, whether the footsteps of any other lay that way, or no. Not that I want a due respect to other Mens Opinions; but after all, the greatest reverence is due to Truth; and I hope, it wi\l not be thought arrogance, to say, That, perhaps, we should make greater progress in the discovery of rational and contemplative Knowledge, if we sought it in the Fountain, in the consideration of Things themselves; and made use rather of our own Thoughts, than other Mens to find it. For, I think, we mayas rationally hope to see with other Mens Eyes, as to know by other Mens Understandings. So much as we our selves consider and comprehend of Truth and Reason, so much we possess of real and true Knowledge. The floating of other Mens Opinions in our brains makes us not one jot the more knowing, though they happen to be true. [ ... ) In the Sciences, every one has so much, as he really knows and comprehends: What he believes only, and takes upon trust, are but shreads; which however weil in the whole piece, make no considerable addition to his stock, who gathers them. Such borrowed Wealth, Iike Fairy-money, though it were Gold in the hand from which he received it, wi\l be but Leaves and Dust when it comes to use." (Essay I, iv, 23; zit. Ausg.: J. Locke, An Essay concerning Human Understanding [1690), hg. v. P. H. Nidditch, Oxford 1975, S. 100 f.; vgl. IV, xvi, 7 -14.)

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(CS 3) Das Zeugnis anderer ist - zumindest in einigen Fällen - eine Erkenntnis-

quelle.

Die Konsequenzen einer Leugnung besonders von (CS 3) sind schwer zu schlukken: Wissen wäre sehr viel seltener als gemeinhin angenommen wurde. Die fragliche Auffassung würde die Kenntnis unseres Namens und Geburtstags, das Wissen davon, wer unsere Eltern sind, und das Wissen zahlloser anderer Dinge, die wir zweifellos zu wissen beanspruchen, ausschließen. Optimisten bezüglich einer Reduktion der Testimonialerkenntnis sind dagegen der Ansicht, daß die erforderliche Reduktion möglich ist: (R-Poss) Die erforderliche Zurückführung ist möglich. Diese Auffassung ist fraglos um einiges attraktiver als der Zeugnisnihilismus. Ein solcher optimistischer Reduktionismus scheint jedenfalls auch die vorherrschende Position gewesen zu sein; sie kann am ehesten den Titel der überkommenen Lehre beanspruchen. Ihren bekanntesten Ausdruck findet sie in den erkenntnistheoretischen Schriften David Humes: u[ ... ] our assurance in any argument of this kind is derived from no other principle than our observation of the veracity of human testimony, and of the usual conformity of facts to the reports of witnesses.,,21 Wie dieser Passus belegt, vertrat Hume eine besondere Variante, eine - wie wir sagen werden - induktive Version des Zeugnis-Reduktionismus. Testimonialüberzeugungen können gerechtfertigt sein, aber nur auf der Grundlage vermeintlich grundlegenderer zeugnisfreier Überzeugungen, nämlich auf der Basis der eigenen Beobachtungen des (einzelnen) Erkenntnissubjekts, seiner Erinnerungen und seiner induktiven Schlüsse aus ihnen. Die Testimonialerkenntnis läßt sich somit nach Hume auf eine Art des induktiven Schließens zurückführen. Der Reduktionismus (in seinen pessimistischen und optimistischen Spielarten) konnte, obwohl er lange Zeit das Feld beherrschte, nicht für alle Zeiten unwidersprochen bleiben. Der Anti-Reduktionismus (bezüglich des epistemischen Status des Zeugnisses anderer) kann dabei zunächst so vorgehen, daß er die Unhaltbarkeit der reduktiven Positionen zeigt - insofern als (i) sie impraktikabel und/oder sogar (ii) inkohärent sind. Wenn der Anti-Reduktionismus mehr als die Destruktion des Reduktionismus und seines Verbündeten, des erkenntnistheoretischen Individualismus, sein will, wird er (iii) eine alternative nicht-reduktive Auffassung der Testimonialerkenntnis entwickeln und verteidigen und so zeigen, daß (R-Nec) falsch ist. Der Anti-Reduktionismus bezüglich der Testimonialerkenntnis kann in einigen indischen Schulen der Logik und Erkenntnistheorie auf eine ehrwürdige Tradition zurückblicken. 22 In der westlichen Welt war Thomas Reid einer der wenigen, die 21 Enquiry, Section X, Part I, 88; zit. Ausg.: D. Hume. An Inquiry Concerning Human Understanding [London 1748], Oxford 1975, S. 111. 22 B. K. Matilall A. Chakrabarti (Hg.), Knowing from Words: Western and Indian Philosophical Analysis of Understanding and Testimony, Dordrecht 1994.

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sich der überkommenen Lehre mit Entschiedenheit entgegengestellt haben?3 In jüngerer Zeit gibt es erste Anzeichen für ein Umdenken. Trotz dieser Entwicklungen muß gesagt werden, daß der Reduktionismus in seinen zahlreichen Spielarten nach wie vor die herrschende Lehre ist. Und wie so oft haben, bevor die Revolution richtig in Gang gekommen ist, bereits restaurative Tendenzen eingesetzt. 24

v. Das HauptangritTsziel: Der Reduktionismus bezüglich des Zeugnisses anderer

Da der Reduktionismus unser Hauptangriffsziel ist, sollten wir etwas präziser angeben, was dabei unter Reduktion zu verstehen ist. 25 Was könnte es heißen, das Zeugnis anderer auf andere epistemische Quellen "zurückzuführen"? Worin würde eine solche Reduktion bestehen? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir ein Minimum an theoretischem Hintergrund und zugehöriger Terminologie einführen. Unser Paradigma wird das folgende sein: (Z) Ein Sprecher S vollzieht (bei der Gelegenheit 0) eine assertorische Äußerung U, mit der er behauptet, daß p?6 Gemäß unserer natürlichen Weltauffassung ist das Zeugnis anderer einer aus einer Reihe informationaler Prozesse (neben der sinnlichen Wahrnehmung, dem Bewußtsein der eigenen geistigen Zustände und der Erinnerung), durch die wir Informationen über die empirische Wirklichkeit empfangen und aufbewahren. Jede dieser epistemischen Verbindungen ist eine reiche Quelle für Meinungen?7 Freilich ist jede dieser Verbindungen fehleranfällig, so daß in jedem einzelnen Fall diese Meinungen durch widerstreitende Erfahrungen angefochten oder sogar aufgehoben werden können. Wir sind damit vertraut, daß die epistemischen Verbindungen, obwohl sie in der Regel gut funktionieren, unter bestimmten Umständen versagen können. Für jede Verbindung sind besondere Gültigkeitsbedingungen und besondere Annullierungsbedingungen einschlägig. So gehört es zu den Gültigkeitsbedingungen der verschiedenen Sinne, daß die äußeren Wahrnehmungsbedin23 T. Reid. Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense [1764], eh. 6; vgl. C. A. J. Coady. Testimony, S. 23, 54 ff., und besonders Kapitel 7 (S. 120-129.)

24 So wurde etwa Coadys Anti-Reduktionismus von Elizabeth Fricker als "an epistemic charter for the gullible" gebrandmarkt (E. Fricker, Against Gullibility, in: B. K. Matilal / A. Chakrabarti (Hg.), Knowing from Words, S. 126). Wir kommen darauf zurück. 25 Vgl. wiederum die Klärungen bei E. Fricker, Critical Notice: Telling and Trusting,

S. 397 f.

26 Vgl. E. Fricker, Against Gullibility, in: B. K. Matilal! A. Chakrabarti (Hg.), Knowing from Words, S. 147. 27 Vgl. G. Evans, Varieties ofReference, Oxford 1982, S. 122-124,236, sowie E. Fricker, Against Gullibility, S. 137, und: E. Fricker, Critical Notice: Telling and Trusting, S. 397 ff.

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gungen und der Zustand des wahrnehmenden Subjekts annähernd optimal oder zumindest normal sind,zs Für das Zeugnis anderer sind die Gültigkeitsbedingungen: (i) daß die bezeugende Person bei ihrer Äußerung aufrichtig ist, d. h., daß sie glaubt, was sie behauptet (Bedingung der Aufrichtigkeit), und (ii) daß sie (bei der Gelegenheit 0) kompetent bezüglich des Sachverhalts p ist, um den es in ihrer Äußerung geht - und zwar in dem starken Sinne, daß die durch die Behauptung ausgedrückte Überzeugung wahr ist (Bedingung der Kompetenz).29 An den beiden Bedingungen zusammengenommen be mißt sich die Glaubwürdigkeit der bezeugenden Person. Die durch das Wirken einer epistemischen Verbindung hervorgebrachten Überzeugungen werden zu Recht angefochten, wenn das epistemische Subjekt Anhaltspunkte dafür hat, daß die einschlägigen Gültigkeitsbedingungen nicht erfüllt waren. Im Falle des Zeugnisses anderer bedeutet dies: daß der Sprecher (bei dieser Gelegenheit) unaufrichtig oder (in der in Frage stehenden Sache) inkompetent war. Betrachten wir nun den glücklichen und häufigen Fall, daß die Gültigkeitsbedingungen erfüllt waren, die epistemische Verbindung also richtig funktionierte. Dann stehen hinsichtlich der Einschätzung des epistemischen Status zwei Grundoptionen offen. Einerseits könnte geltend gemacht werden, daß das Fürwahrhalten dessen, was die jeweilige epistemische Quelle liefert, nur dann als Wissen angesehen werden kann, wenn es sich auf unabhängiges empirisches Wissen stützt, daß die Gültigkeitsbedingungen bei dieser Gelegenheit erfüllt sind. Ein rationales epistemisches Subjekt sollte - dieser Auffassung zufolge - das, was die Verbindung liefert, erst und nur dann akzeptieren, wenn es über positive Belege verfügt, daß die einschlägigen Bedingungen erfüllt sind. Für den Fall des Zeugnisses anderer hieße dies, daß Überzeugungen aus dieser Quelle nur dann als Wissen angesehen werden dürften, wenn das epistemische Subjekt über empirisch gewonnene unabhängige Anhaltspunkte dafür verfügt, daß die bezeugende Person (bei der fraglichen Gelegenheit) aufrichtig und (für das Thema) kompetent war. Dieses Bild ist jedoch nicht ohne Alternative. Einer anderen Konzeption zufolge hat ein epistemisches Subjekt eine präsumtive Berechtigung, dem, was eine epistemische Verbindung liefert, zu glauben. Sie orientiert sich an der (freilich anfechtbaren) Präsumtion, daß die entsprechenden Gültigkeitsbedingungen erfüllt sind, ohne bereits über positive Belege darüber verfügen zu müssen, daß sie es im vorliegenden Fall auch tatsächlich sind. Wir können jetzt genauer sehen, worauf ein Reduktionismus bezüglich der Testimonialerkenntnis hinausläuft: Wenn das Zeugnis anderer als eine Quelle von ge28 Darüber, was dies im einzelnen beinhaltet, weiß auch der Laie recht gut Bescheid. Auf der Grundlage der wahrnehmungspsychologischen Forschung lassen sich solche Optimalitäts- bzw. Normalbedingungen in präziser und nicht-zirkulärer Weise spezifizieren. 29 Vgl. E. Fricker, Critical Notice: Telling and Trusting, S. 398. 4'

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rechtfertigten Überzeugungen und von Wissen vindiziert werden soll, dann muß unsere mutmaßliche epistemische Berechtigung, zu glauben, was andere Leute uns sagen, als in anderen, als basaler betrachteten epistemischen Quellen fundiert ausgewiesen werden können. Traditionell kommen dafür Wahrnehmung, Erinnerung und Introspektion in Verbindung mit verschiedenen Formen des Schließens in Betracht.

VI. Was bereitwillig zugestanden wird Soll der eigentliche Streitpunkt nicht verdunkelt werden, muß man sich vor Äquivokationen hüten, die drohen, wenn dem Zeugnis anderer der Status einer "indirekten", "sekundären" oder "abgeleiteten" Quelle für Meinungen zugeschrieben wird. In manchen Lesarten dieser Wörter ist dies trivialerweise wahr und wird infolgedessen von niemandem bestritten, nicht einmal von den glühendsten Verehrern der Testimonialerkenntnis. So bedarf das Zeugnis eines epistemischen Ursprungs und eines epistemischen Mediums außerhalb seiner selbst. Insbesondere ist das Geben und Empfangen von Testimonien, wie jedermann zugesteht, nur vermittels der Wahrnehmung möglich - gelegentlich unter Mithilfe von Erinnerung und Schließen. In anderen Bedeutungen ist die Behauptung, Testimonialerkenntnis sei etwas Sekundäres, weniger trivial; vor allem ist sie nicht trivialerweise wahr. Die Lesart, die von unverbesserlichen epistemischen Individualisten und Zeugnis-Reduktionisten zumeist intendiert ist, sollte inzwischen klar sein: Die Testimonialerkenntnis sei, wie es ein neuerer Erkenntnistheoretiker ausgedrückt hat, "a second-c1ass citizen ofthe epistemic republic",3o und zwar in dem Sinne, daß sie epistemisch weniger grundlegend sei als die für klassisch erachteten Quellen von Meinungen, Rechtfertigung und Wissen, also etwa Wahrnehmung, Erinnerung, Introspektion und Schließen. Eine zusätzliche Quelle der Verwirrung liegt in einer unerläuterten Verwendung des Beiworts "inferentiell", wenn etwa gesagt wird, Testimonialüberzeugungen bzw. Testimonialerkenntnis seien inferentiell. Wiederum könnte sich unter bestimmten Voraussetzungen die These, daß der größte Teil der Erkenntnis aus dem Zeugnis anderer inferentielles Wissen ist, in einer Lesart als trivialerweise wahr herausstellen. Um in den Genuß des Zeugnisses anderer zu kommen, muß der Hörer die Behauptung richtig wahrnehmen und verstehen. Nun sind einigen Theorien der Wahrnehmung und des Sprachverstehens zufolge bereits in diesem Stadium der kognitiven Auswertung Schlüsse im Spiel. 31 In jedem Falle ist die Frage, ob 30

A. Plantinga. Warrant and Proper Function, New York 1993, S. 87.

31 Meine eigene Haltung zu diesen vertrackten Fragen möchte ich wenigstens kurz anmer-

ken: Wahrnehmung beruht normalerweise nicht auf irgendeiner Form von Schließen. Das Verstehen sprachlicher Äußerungen beruht manchmal darauf und manchmal nicht; Schlüsse

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und in welchem Umfang Wahrnehmung und Sprachverstehen mit Schlüssen einhergehen, unabhängig von dem Streit zwischen Reduktionisten und Anti-Reduktionisten über die Frage, ob Testimonialerkenntnis inferentielles Wissen in der spezielleren Hinsicht ist, daß es auf zeugnisfreien Annahmen über die Glaubwürdigkeit des Sprechers beruhe. Der Hauptstreitpunkt läuft, wie wir diese Erwägungen jetzt zusammenfassen können, auf die folgende Frage hinaus: Ist das Zeugnis anderer im Vergleich mit den anerkannten Wissensquellen (vor allem Wahrnehmung, Erinnerung und Schließen) generell epistemisch von niedrigerem Rang?

VII. Theoretischer Rahmen und Thesen Die Argumentationen, die wir jetzt ins Feld führen, dienen einem doppelten Zweck: Sie sollen zeigen, daß der Reduktionismus in seinen verschiedenen Spielarten unhaltbar ist; zugleich motivieren und stützen sie eine angemessenere nichtreduktionistische Alternative. Zu den herausragenden Aufgaben der Erkenntnistheorie zählt die Untersuchung der Rechtfertigungs- und Wissensprinzipien für die verschiedenen Quellen der Meinung, der Rechtfertigung und des Wissens. Ich gehe von zwei grundlegenden Annahmen aus: (I) Jede der epistemischen Verbindungen ist fehlbar.

(11) Die Art und Weise, wie jeder von uns durch die epistemischen Verbindungen sein Meinungssystem aufbaut, wird durch Präsumtionen gesteuert. Meiner Auffassung nach sind die allgemeinen Rechtfertigungs- und Wissensprinzipien Präsumtionsregeln mit widerleglichen oder anfechtbaren Präsumtionen. Im elementarsten Falle hat eine Präsumtionsformel die folgende Form: (Pr-F) Aufgrund von P wird Q präsumiert. P wird dabei die präsumtionserzeugende Tatsache, Q die präsumierte Tatsache genannt. Eine Präsumtionsregel für eine widerlegliehe oder anfechtbare Präsumtion hat die folgende Form: (Pr-R) Gegeben p ist der Fall, verfahre so, als sei q der Fall, bis Du zureichende Gründe hast, zu glauben, daß q nicht der Fall ist. Beim Aufbau unseres Meinungssystems lassen wir uns von bestimmten Präsumtionen leiten. Es ist keine kleine Aufgabe, die angemessenen präsumtionserzeugenden Tatsachen und Widerleglichkeitsklauseln für alle relevanten epistemischen Verbindungen zu spezifizieren. Da ich die Wahrnehmung, die Erinnerung, die Inkönnen bei den komplizierteren Fällen der Interpretation von nicht-wörtlichen Äußerungen. von indirekten Sprechakten und verschiedenen anderen Arten von Implikaturen ins Spiel kommen.

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trospektion und die Formen des Schließens hier nicht im Detail erörtern kann, beschränke ich mich zum Zwecke der Illustration auf relativ grobe und informelle Formulierungen der einschlägigen Prinzipien, die bei einer eingehenderen Analyse sicher in zahlreichen Hinsichten zu verfeinern wären. Meine hauptsächlichen Beispiele werden die Wahrnehmung und die Erinnerung sein. Die Grundidee lautet, daß es eine Wahrheitspräsumtion zugunsten dessen gibt, was uns die Sinne und das Gedächtnis darbieten. Eine grobe Formulierung der einschlägigen Präsumtion könnte für den Fall der visuellen Wahrnehmung folgendermaßen lauten: (Perz-Pr-F) Daß x für das epistemische Subjekt S F aussieht, gibt S eine präsumtive Berechtigung, zu glauben, daß x die Eigenschaft F besitzt. (Perz-Pr-R) Gegeben, daß x für Dich F aussieht, gehe solange davon aus, daß x die Eigenschaft F besitzt, bis Du Gründe zu der Annahme hast, daß einschlägige Annullierungsbedingungen erfüllt sind. Für den Fall der Erinnerung gelten entsprechende Präsumtionen: (Mem-Pr-F) Daß sich S des Sachverhalts p entsinnt, gibt S eine präsumtive Berechtigung, zu glauben, daß p geschehen ist. (Mem-Pr-R) Gegeben, daß Du Dich des Sachverhalts p entsinnst, gehe solange davon aus, daß p geschehen ist, bis Du Gründe zu der Annahme hast, daß einschlägige Annullierungsbedingungen erfüllt sind. Die zentrale Frage bezüglich der Reduktion der Testimonialerkenntnis kann nun wie folgt reformuliert werden: Gibt es eine basale Präsumtionsregel und eine zugehörige präsumtive epistemische Berechtigung für die Annahme des Zeugnisses anderer oder nicht? Der Reduktionist antwortet mit einem ,,Nein!", der Anti-Reduktionist - nicht weniger emphatisch - mit einem "Ja!" Das heißt, ihm zufolge gibt es eine Präsumtion, das Zeugnis anderer als wahr zu akzeptieren. Natürlich ist diese Präsumtion - wie die anderen - empirisch anfechtbar: (Z-Pr-F) Es gibt eine Präsumtion, das Zeugnis anderer solange als wahr zu akzeptieren, bis man Gründe zu der Annahme hat, daß besondere Umstände vorliegen, die die Präsumtion annullieren. Wie oben bemerkt, gibt es zwei Annullierungsbedingungen: (i) Anhaltspunkte dafür, daß der Sprecher (bei der fraglichen Gelegenheit) nicht aufrichtig ist, und (ii) Anhaltspunkte dafür, daß der Sprecher (in bezug auf das fragliche Thema) nicht kompetent ist. Die entsprechende Präsumtionsregel kann dann folgendermaßen formuliert werden: (Z-Pr-R) Gegeben, daß ein Sprecher S (bei der Gelegenheit 0) eine verständliche assertorische Äußerung U vollzogen hat, mit der er sich auf die Wahrheit von p festlegt, gehe solange davon aus, daß p wahr ist, bis Du Gründe zu der Annahme hast, daß eine Annullierungsbedingung erfüllt ist.

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Vor diesem Hintergrund kann ich meine positiven Thesen über die Präsumtionsregel für den Umgang mit dem Zeugnis anderer formulieren: (These 1) Normale epistemische Subjekte folgen faktisch einer Präsumtionsregel dieser Art. (Sie umschreibt, nota bene, die generelle Politik im Umgang mit dem Zeugnis anderer, die in verschiedenen Hinsichten modifiziert werden kann, wenn man es etwa mit besonderen Arten von Sprechern oder besonderen Themen zu tun hat.) (These 2) Daß wir dies tun, ist nicht bloß ein eigentümliches soziologisches oder psychologisches Phänomen; einer solchen Präsumtionsregel zu folgen ist vielmehr auch rational. Es gibt zahlreiche gute Gründe für eine solche Politik, die von moralischen und prudentiellen bis zu transzendentalen Gründen reichen. (These 3) Die Erkenntnis aus dem Zeugnis anderer besitzt dieselbe generelle Art des epistemischen Status wie unsere anderen grundlegenden Informationsquellen (Wahrnehmung, Erinnerung etc.).

VIII. Die Argumente Wenden wir uns nun einigen besonders einschlägigen Argumenten gegen reduktionistische - und für anti-reduktionistische - Auffassungen der Testimonialerkenntnis zu.

1. Negative Argumente I Wie erinnerlich läuft das, was der Reduktionist ala Hume sagt, auf etwas hinaus wie: ,,Du sollst dem Zeugnis einer Person, daß p, nur dann Glauben schenken, wenn das Paar aus dem Zeugnis und der Tatsache ein Unterfall einer induktiven Generalisierung ist, die Typen von Zeugnissen mit Typen von Tatsachen korreliert und von der Du bereits viele andere Fälle unabhängig beobachtet und geprüft hast." Diese Idee ist einer Reihe von schwerwiegenden Einwänden ausgesetzt: (l) Das geforderte Reduktionsprojekt ist äußerst unrealistisch und impraktika-

bel.

Die Vorstellung, normale epistemische Subjekte hätten - jedes für sich - das ungeheure Ausmaß an Feldstudien betrieben, das von der reduktionistischen These gefordert wird, ist natürlich vollständig absurd. Niemand hat mehr als einige wenige Zeugnisse anderer überprüft; und es wäre auch praktisch unmöglich, mehr als einen winzigen Bruchteil der Berichte und Mitteilungen zu prüfen, die wir Tag für Tag erhalten. Bei den meisten der Überzeugungen, die als unabhängige Basis für den induktiven Schluß auf die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses dienen müßten,

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verlassen wir uns tatsächlich ohne weiteres wiederum auf das, was uns andere sagen. Eine gereinigte autarke Grundlage für die geforderte Induktion würde in jedem Falle viel zu schmal ausfallen, um die erhoffte Rechtfertigung der Zeugnisse zu liefern, die wir zu Recht akzeptiert haben. 32 Dieses gravierende Problem wird oft durch die Art und Weise verdeckt, in der der Reduktionist seine Position formuliert. Hume und seine Gefolgsleute vermengen nämlich beständig individuelle und soziale Lesarten von Ausdrücken wie "observation" (Beobachtung) und "experience" (Erfahrung). (2) Schlimmer noch: Humes Variante des Reduktionismus ist nicht nur impraktikabel; sie ist auch inkohärent. Sie faßt ja die Möglichkeit ins Auge, daß individuelle Beobachtung aufdecken könnte, daß es - im Extremfall - gar keine Korrelation zwischen dem, was Leute anderen Leuten sagen, und dem, was tatsächlich der Fall ist, gibt. Die Vorstellung, daß sich alle Berichte als falsch herausstellen könnten, ist jedoch inkohärent. Die bloße Existenz einer Sprache, in der Zeugnis gegeben wird, verbürgt bereits ein beträchtliches Ausmaß an positiven Korrelationen. Als erstes ist festzuhalten, daß die fraglichen Äußerungen in dem ausgemalten korrelationslosen Szenario nicht als Zeugnisse zählen könnten. Mithin würde es in diesem Szenario die Institution des Zeugnisgebens und -empfangens schlicht und einfach nicht geben. Selbst wenn man dies für einen Augenblick ausblendet, bliebe das Problem, daß niemand die Korrelationen zwischen den Äußerungen und den Tatsachen prüfen könnte, da es keine Möglichkeit gäbe, zu bestimmen, was die mutmaßlichen Berichte bedeuten. Eine Lage, in der jegliches Zeugnis falsch wäre, würde es für jedermann unmöglich machen, eine Sprache als ein System von Bedeutungen zu erwerben und aufrechtzuerhalten. Mithin wäre geradezu die Möglichkeit der Entstehung, des Erwerbs und des Fortbestands einer öffentlichen Sprache in Frage gestellt. 2. Negative Argumente 11: Argumente aus der Analogie und wechselseitigen Abhängigkeit unserer epistemischen Quellen Ein anderer Strang von Argumenten schlachtet die tiefgehenden Analogien und wechselseitigen Verknüpfungen aus, die zwischen der Erkenntnis "ex auditu" und den traditionell akzeptierteren epistemischen Quellen bestehen. Beachten Sie zunächst, daß die vermeintliche epistemische Inferiorität des Zeugnisses anderer nicht der unleugbaren Tatsache geschuldet sein kann, daß diese 32 V gl. C. A. J. Coady, Testimony and Oberservation, in: American Philosophical Quaterly 10, 1973, S. 149-155, hier: S. 150 f.; und: Testimony, S. 80 ff., 93; F. F. Schmitt, Socializing Epistemology: An Introduction through Two Sampie Issues, in: F. F. Schmitt (Hg.), Socializing Epistemology. The Social Dimensions of Knowledge, Lanham, Maryland 1994, S. 12. Dies wird auch von E. Fricker; Critical Notice: Telling and Trusting, S. 402, zugestanden.

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Quelle fallibel ist. Denn schließlich ist jede der epistemischen Verbindungen wesentlich fehlbar. In dieser Hinsicht sitzt die Testimonialerkenntnis also im selben Boot wie die anderen Quellen?3 Sehen wir uns also nach aussichtsreicheren Versionen des Inferioritätsverdachts um. Betrachten wir als nächstes diesen Vorschlag: Wenn es zu einem Konflikt zwischen dem Zeugnis anderer und, sagen wir, der Wahrnehmung kommt, muß der Wahrnehmung stets der Vorzug gegeben werden. Freilich ist richtig, daß uns eine Beobachtung - in manchen Fällen! - dazu bringen wird, das eine oder andere Zeugnis zurückzuweisen. Diese wichtige Einsicht muß jedoch um Betrachtungen ergänzt werden, die das Bild ausbalancieren. In vielen Fällen werden wir dem, was andere Beobachter uns sagen, (mit Recht) mehr Gewicht beimessen, als dem, was wir selbst zu sehen glaubten - besonders dann, wenn diese in der einen oder anderen Hinsicht in einer besseren Position waren, die fraglichen Vorgänge zu beobachten. Nicht selten akzeptieren wir bereitwillig die Korrektur unserer (Fehl-)Wahrnehmungen durch die Berichte anderer. Das Zeugnis anderer kann uns unter Umständen auch davon überzeugen, daß wir einer Halluzination unterlagen - oder aber daß dies nicht der Fall war. Bertrand Russell hat eine solche Begebenheit aus seinem Leben erzählt: ..I was once giving a lecture to a large audience when a cat stalked in and lay down at my feet. The behavior of the audience persuaded me that I was not suffering from hallucination.,,34 Und schließlich ist es in vielen Fällen wiederum ein weiteres Zeugnis, das uns dazu führt, an einer zuvor gehörten Mitteilung zu zweifeln, ohne daß individuelle Beobachtung bei der ganzen Angelegenheit überhaupt ins Spiel kommt. 35 Zwischen dem Rückgriff auf das Zeugnis anderer und dem Rückgriff auf das Gedächtnis besteht noch eine engere Parallele. 36 Wenn wir aufgrund einer Erinnerung eine Überzeugung bilden, gelangen wir im Regelfall nicht auf dem Wege eines Schlusses aus Annahmen über die gegenwärtige oder durchschnittliche Verläßlichkeit dieser epistemischen Verbindung zu dieser Überzeugung. Sicherlich gibt es auch hier Ausnahmen; aber sie können nicht die Regel sein. Wenn ich den Eindruck habe, mich auf ein Geschehnis zu besinnen, aber außerdem glaube, daß mein Gedächtnis nicht verläßlich ist, dann mag ich über die Wahrscheinlichkeit nachdenken, daß mein Gedächtnis mir einen Streich gespielt hat; komme ich zu der Einschätzung, daß dies im gegenwärtigen Falle eher unwahrscheinlich ist, werde 33 Die Fehlbarkeit des Zeugnisses anderer kann auch kein Grund sein, dieser Quelle ein eigenes Prinzip der epistemischen Berechtigung zu verweigern, solange es als Präsumtionsregel mit einer anfechtbaren Präsumtion gefaßt wird. 34 B. Russell, Human Knowledge: Ist Scope and Limits, New York 1948, S. 191; weitere Beispiele bei C. A. J. Coady, Testimony, S. 98. 35 Vgl. C. A. J. Coady, Testimony, S. 97. 36 Ausführlichere Vergleiche stellen T. Burge, Content Preservation, in: The Philosophical Review \02, 1993, S. 457-488, und M. Dummett, Testimony and Memory, in: B. K. Matilall A. Chakrabarti (Hg.), Knowing from Words, S. 251-272, an.

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ich zu der Schlußfolgerung gelangen, daß die Erinnerung nicht getrogen und somit das Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. Hier war ein Schluß vonnöten, um einen Zweifel zu zerstreuen. Aber im Normalfall taucht gar kein solcher Zweifel auf. Im Regelfall ist meine Erinnerung an ein Ereignis einfach die Reaktivierung der Überzeugung, daß das Ereignis stattgefunden hat. 37 Dasselbe gilt offenbar in dem Fall, in dem ich aufgrund des Zeugnisses anderer zu einer Überzeugung oder zu einem Wissen gelange. Im Regelfall kommt dies nicht durch einen Schlußvorgang zustande - zumindest nicht durch einen Schluß aus empirisch untermauerten Annahmen über die Glaubwürdigkeit des Sprechers. Natürlich kann es in besonderen Fällen so ablaufen. Wenn ich aus Erfahrung weiß, daß auf einen bestimmten Informanten - in bezug auf ein gegebenes Thema, z. B. den aktuellen Stand der Fußball-Bundesliga - wenig Verlaß ist, könnte ich im Falle einer entsprechenden Auskunft aufwendige Wahrscheinlichkeitserwägungen darüber anstellen, ob er sich vielleicht irrt, ob er unaufrichtig ist oder sich einfach einen Spaß erlaubt, und am Ende zu einer Konklusion gelangen. Aber solche Räsonnements stellen sicherlich die seltene Ausnahme dar. Bislang habe ich versucht, Sie daran zu erinnern, daß das Zeugnis anderer in den epistemisch relevanten Hinsichten auf einer Stufe mit den anderen epistemischen Verbindungen - etwa Wahrnehmung oder Erinnerung - steht. Man muß jedoch hervorheben, daß jede These einer generellen epistemischen Inferiorität der Testimonialerkenntnis aus fundamentaleren Gründen zum Scheitern verurteilt ist. Wie schon bereitwillig zugestanden wurde, kann man nicht in den Genuß der Zeugnisse anderer kommen, wenn man sie nicht erst einmal wahrgenommen (und verstanden) hat. Nichtsdestoweniger impliziert diese Art von Abhängigkeit keine generelle epistemische Priorität der Wahrnehmung und sei es nur, weil sie die Möglichkeit offenläßt, daß sich die Verhältnisse als Beziehungen der wechselseitigen Abhängigkeit entpuppen. Der Reduktionist setzt voraus, daß das Zeugnis anderer von der individuellen Wahrnehmung, der Erinnerung und dem Schließen in hinreichender Weise zu trennen ist, so daß es einer unabhängigen Beurteilung fahig wird. Diese unterstellte Trennbarkeit entpuppt sich als Illusion. Es gibt im Gegenteil einen hohen Grad von individueller und sozialer wechselseitiger Durchdringung der Erkenntnisquellen?8 Die folgenden Argumente stellen diese Annahme der Separierbarkeit in Frage und verdeutlichen im Gegenzug die tiefgehende wechselseitige Abhängigkeit der epistemischen Quellen. Ein beträchtlicher Teil unseres Wahrnehmens, Wiedererkennens und Klassifizierens ist dadurch geprägt, daß wir soziale sprachverwendende Geschöpfe sind und uns die Beobachtungen, Erinnerungen und Theorien unserer Mitmenschen zunutze machen. 39 Vgl. und M. Dummett, Testimony and Memory, S. 260. Die wechselseitige Angewiesenheit kann zwei Hinsichten betreffen: (i) die Art und Weise, wie es uns möglich wird, die fraglichen Fähigkeiten auszuüben, und (ii) die Beurteilung ihrer Resultate (vgl. C. A. J. Coady, Testimony, S. 133). 39 Dies betonen u. a. C. A. J. Coady, Testimony, S. 168 - 176, und P. F. Strawson, Knowing from Words, in: B. K. Matilal / A. Chakrabarti (Hg.), Knowing from Words, S. 25 - 27. 37

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Diese Überlegungen liefern den Hintergrund für zwei Argumente, die die Abhängigkeit der Wahrnehmung von dem, was wir von anderen gehört haben, oder besser gesagt: die wechselseitige Verknüpfung beider Quellen akzentuieren. (a) Wahrnehmung, Begriffe, Zeugnis: Die Grundidee des ersten Arguments läßt sich bündig folgendermaßen formulieren: Die meisten - wenn nicht alle - Wahrnehmungen schließen die Anwendung von Begriffen ein. In den meisten Fällen war das Zeugnis anderer am Erwerb dieser Begriffe beteiligt. Also hängt ein beträchtlicher Teil der Wahrnehmung von der Aufnahme des Zeugnisses anderer ab. (b) Wahrnehmung, Begriffe, Theorien und Zeugnis: Eine verwandte, aber etwas weiter ausgreifende Begründung läuft wie folgt: Die meisten - wenn nicht alle Wahrnehmungen schließen die Anwendung von Begriffen ein. Der Besitz eines Begriffs geht in den meisten Fällen mit dem Besitz einer rudimentären Alltagstheorie4o über die Dinge einher, die unter den Begriff fallen. In der großen Mehrheit der Fälle war das Zeugnis anderer am Erwerb dieser Theorien beteiligt. Was landläufig als "Wahrnehmungsmeinungen" bezeichnet wird, sind in den meisten Fällen gemeinsame Errungenschaften der Sinnlichkeit, der Erinnerung und des Zeugnisses anderer.

3. Positive Argumente: Argumente aus dem Lernen und der Sprache Die individualistischen und reduktionistischen Ansätze kranken nicht nur an naiven Vorstellungen von den Beziehungen zwischen den epistemischen Quellen, sie scheitern darüber hinaus an simplistischen Bildern von Sprache, Kommunikation und Lernen. Die Sprache, die Institution des Zeugnisgebens und -empfangens und das menschliche Lernen sind Phänomene, die wechselseitig so voneinander abhängen, daß die Existenz, der Erwerb und der Fortbestand einer gemeinsamen Sprache Hand in Hand gehen mit einem beträchtlichen Ausmaß an unmittelbarer Akzeptanz der Zeugnisse anderer. Betrachten wir zunächst das frühe Faktenlernen. Wittgenstein bemerkt dazu in "Über Gewißheit" sehr treffend: "Ein Kind lernt viel später, daß es glaubwürdige und unglaubwürdige Erzähler gibt, als es Fakten lernt, die ihm erzählt werden.,,41 Natürlich müssen wir die Psychologen fragen, über welchen Zeitraum sich die relevanten Entwicklungsphasen erstrecken; aber - wie auch immer die empirischen Details sich herausstellen - schon jetzt ist klar, daß jedes epistemische Subjekt einen Entwicklungsprozeß durchlaufen hat, währenddessen seine Einstellung gegen40 Hilary Putnam spricht in diesem Zusammenhang von einem "Stereotyp" (vgl. H. Putnam, Mind, Language and Reality [Philosophical Papers, Vol. 21. Cambridge 1975, S. 247); dazu o. R. Scholz. Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zur Grundlegung von Henneneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt a. M. 1999. S. 216-227. 41 L. Wittgenstein. Über Gewißheit. On Certainty. Oxford 1969. § 143. vgl. §§ 160, 170.

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über seinen Eltern, Lehrern und vielen anderen Informanten notwendigerweise eine des einfachen Vertrauens gewesen ist. Was für das frühe Erlernen von Fakten gilt, trifft a fortiori auf den Fall des Spracherwerbs ZU. 42 Deuten wir die entsprechende Argumentation an: Wenn wir jemanden die Bedeutung eines Wortes lehren, dann geht dies mit Mitteilungen, Berichten u. ä. - kurz mit Zeugnisgeben einher. Um eine Sprache zu lernen, muß der Lernende dem Zeugnis seiner Lehrer glauben. Solche auf dem Zeugnis der Lehrer beruhenden Meinungen werden erworben, bevor es eine zeugnisfreie Basis für einen induktiven Schluß auf die Verläßlichkeit der Bezeugenden gibt oder auch nur geben könnte. Testimonialerkenntnis kann also nicht generell auf einen induktiven Schluß der angegebenen Art gegründet sein. Die letzte Sorte von Erwägungen bringt Kohärenzgesichtspunkte ins Spiel: Wie wir den Argumenten aus dem Spracherwerb und dem frühen Faktenlernen entnehmen konnten, müssen wir mit einer Verpflichtung auf ein gewisses Maß an Verläßlichkeit der Zeugnisse anderer beginnen. Später wird dieses Commitment durch die Kohäsion und Kohärenz unserer Meinungen über die Welt gestützt und verstärkt. 43 In diesem Sinne könnte man in mehreren Schritten wie folgt argumentieren: Unser Theorie über die Welt ist kohärent. Was die verschiedenen epistemischen Verbindungen liefern, weist einen hohen Grad von Kohäsion und Kohärenz auf. Ein Schluß auf die beste Erklärung erlaubt uns den Übergang zu: Unsere Theorie über die Welt ist im großen und ganzen korrekt. Also gilt: Die epistemischen Verbindungen sind im allgemeinen wahrheitsgetreu. Also ist auch das Zeugnis anderer im allgemeinen wahrheitsgetreu. 44

IX. Die epistemischen Pflichten rationaler Hörer Es bleibt ein Bedenken: Sind wir nicht äußerst irrational, wenn wir eine (wenn auch anullierbare) Wahrheitspräsumtion zugunsten des Zeugnisses anderer verfechten? Predigen wir damit nicht Leichtgläubigkeit? So denkt zumindest Elizabeth Fricker: "The PR [= Presumptive Right; O.R.S.] thesis is an epistemic charter for the gullible and undiscriminating".45 Wenngleich Fricker einräumt, daß eine globale Reduktion der Testimonialerkenntnis unmöglich ist, so möchte sie doch an einem lokalen Reduktionismus festhalten, worunter sie folgendes versteht: "It can be the case that, on a particular occasion 0 when a speaker S makes an utterance U and in doing so asserts that P to a hearer H, H has, or can gain, independent evidence sufficient to warrant her in ta42 43

44 45

Soweit sich die beiden Formen des Lemens überhaupt trennen lassen. C. A. J. Coady, Testimony, S. 170 ff. Ebd.,S.119, 168-176. E. Fricker, Against Gullibility, S. 126.

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king S to be trustworthy with respect to U.,,46 Vor allem aber empfiehlt sie als Gegengift gegen die Leichtgläubigkeit ein "active sub-personal monitoring of the speaker by the hearer for signs of lack of sincerity or competence",47 das heißt: "the hearer should be discriminating in her attitude to the speaker, in that she should be continually evaluating hirn for trustworthiness throughout their. exchange, in the light of the evidence, or cues, available to her.,,48 Ich muß mich bei dieser Gelegenheit auf einige kurze Kommentare zu dieser Idee beschränken. Als erstes ist daran zu erinnern, daß das Befolgen der Präsumtionsregel die generelle Politik umschreibt, die modifiziert werden kann (und wird), wenn wir es mit besonderen Informanten, besonderen Berichten und besonderen Themen zu tun haben. Eine vollständigere rationale Rekonstruktion wird ein komplizierteres System von Präsumtionsregeln mit stärkeren und schwächeren Präsumtionen vorsehen, je nachdem weIche Gültigkeitsbedingungen als erfüllt angenommen werden könnten. 49 Nichtsdestoweniger wird es sich um ein System präsumtiver epistemischer Berechtigung handeln, in dem die unmodifizierte Präsumtionsregel das Default-Szenario definiert, das als allgemeiner Orientierungspunkt dient. Die These des lokalen Reduktionismus brauche ich gar nicht zu bestreiten; ich möchte nur darauf beharren, daß eine erfolgreiche lokale Reduktion nicht der Normal fall sein wird und auch nicht sein kann. Was aber Frickers positive Forderungen an einen rationalen Hörer betrifft, so scheinen sie in jedem Falle sowohl die Phänomenologie als auch die Epistemologie des Zeugnisgebens, -empfangens und -bewertens beträchtlich zu verzerren. Das Verhalten ihres rationalen Hörers ist genauso entfremdet, wie es unrealistisch ist. Das Kind beginnt - wie Fricker zugesteht - notgedrungen mit einer Haltung des schlichten Vertrauens in das, was ihm gesagt, erzählt, beigebracht wird. Natürlich entwickelt es im Verlauf seiner Entwicklung kritischere Einstellungen. Auch für Erwachsene ruht die erworbene kritischere Haltung aber auf einer generellen Hintergrunddisposition des Vertrauens auf. Wiederum gleicht diese Einstellung gegenüber dem Zeugnis anderer unserer reifen Haltung gegenüber Wahrnehmung und Erinnerung. Das Bewußtsein des Erwachsenen von den Arten und Weisen, wie ihn die Sinne und das Gedächtnis gelegentlich täuschen können, ist nur möglich vor dem Hintergrund eines allgemeinen präsumtiven Vertrauens auf unsere Wahrnehmungs- und Erinnerungsfahigkeiten. Freilich wird von dem gereiften epistemischen Subjekt erwartet, daß es über eine allgemeine Vertrautheit mit den jeweiligen Gültigkeits- und Annullierungsbedingungen für jede epistemische Verbindung verfügt. Das heißt, es sollte damit ver46

Ebd., S. 150.

E. Fricker, Critical Notice: TeJling and Trusting, S. 405; Against GuJlibility, S. 150 f. E. Fricker, Against GuJlibiIity, S. 150. 49 Gerade der methodologisch reflektierte Historiker muß sich für diese spezieJleren Prinzipien interessieren. Immer noch lesenswert dazu: C. A. Crusius, Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis, 11. Teil, Kap. VIII, und B. Bolzano, Wissenschaftslehre, Sulzbach 1837, § 389, vgI. §§ 306, 388. 47

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traut sein, daß - und in welchen Situationen - Wahrnehmung und Gedächtnis für Illusionen oder Halluzinationen anfällig sind. Ebenso muß es sich dessen bewußt sein, daß das Zeugnis anderer durch Unaufrichtigkeit oder Unkenntnis korrumpiert sein kann. Aber alle anspruchsvolleren höherstufigen Anforderungen an das Zeugnis anderer - wie etwa die Bedingungen, auf die Fricker dringt - würden dem epistemischen Subjekt eine überzogene und somit unrealistische Last auferlegen, da sie ihm alle erdenklichen Arten substantieller und expliziter Vorkenntnisse über bestimmte Leute, deren Fachgebiete und deren psychologische Dispositionen abverlangen müßte, Kenntnisse, über welche die allermeisten Subjekte in den fraglichen Situationen schlicht und einfach nicht verfügen. 50 Angesichts dieser Schwierigkeiten sollten wir uns nach realistischeren Bildern für die kritische Haltung umsehen. Meiner Ansicht nach könnte eine generelle Hintergrunddisposition, wachsam zu sein und gegebenenfalls von einer Präsumtionsregel zu einer spezifischeren umzuschalten, diese Rolle ausfüllen. 51

X. Lehren Abschließend wollen wir es wagen, einige Lehren aus unseren Betrachtungen zu ziehen. Wenn das Zeugnis anderer einer der Testfälle für den epistemologischen Individualismus ist,52 dann sehen die Aussichten für den Individualismus und sein Ideal des autonomen Wissenssubjekts düster aus. "Know-it-yourseIr' kann nicht das Motto eines rationalen Erkenntnissubjekts sein; es ist das Motto von Mr. Know-Nothing. Wenn wir die damit verknüpften falschen Ideale hinter uns lassen, wird der Weg offen für eine Erkenntnistheorie, die der sozialen und holistischen Natur unserer epistemischen Unternehmungen Gerechtigkeit widerfahren läßt. Der Effekt davon - neben den Fähigkeiten zum Wahrnehmen, Erinnern und Schließen -, die Fähigkeit zu besitzen, von anderen lernen zu können, ist nicht einfach additiv. Was wir dem Zeugnis anderer entnehmen, vermehrt unseren Schatz gerechtfertigter Meinungen nicht nur in quantitativer Hinsicht, es beeinflußt und bereichert auch die anderen Quellen. Dies wird deutlich, wenn man ein Tier, das über keine Sprachfähigkeit verfügt, mit einem menschlichen Kind und erst recht mit einem normalen Erwachsenen vergleicht. Der deutliche qualitative Sprung zwischen den kognitiven so Vgl. M. O. Webb, Why I Know about as Much as You - A Reply to Hardwig, in: The Journal of Philosophy 90, 1993, S. 260-270, hier S. 263, sowie C. A. J. Coady, Testimony, S. 46 ff. 51 Andere Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einer Filterfunktion ("fiItering role"; siehe R. Audi, Epistemology, S. 132) oder auch von "default triggers" (P. Lipton, The Epistemology of Testimony, in: Studies in History an Philosophy of Science 29, 1998, S. 1 31, hier: S. 25 f.). 52 V gl. F. F. Schmitt, Socializing Epistemology, S. 4.

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und epistemischen Fähigkeiten von Tieren, die ja auch über Sinne und Gedächtnis verfügen, und uns Menschen erklärt sich wesentlich daraus, daß uns die Institutionen der Sprache und des Zeugnisgebens und -annehmens zu Gebote stehen. Darauf beruht auch die Möglichkeit von Tradition und Geschichte.

"Eine Empirie zweiten Grades". Zum Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und Kunstgeschichte Von Stefan Hübsch

I. Der ästhetische Charakter der Wahrnehmung Wie der Name es schon andeutet: ästhetische Erfahrung ist Erfahrung mit der Wahrnehmung, Wahrnehmungserfahrung. Darum bedarf es zweierlei, um einen stimmigen Begriff ästhetischer Erfahrung zu entwickeln. Zum einen sind die Merkmale aufzuzählen, die ästhetische Erfahrung zu einer Erfahrung machen. Das ist die Aufgabe, der die folgenden Ausführungen im Ganzen gewidmet sind; in sieben Abschnitten sollen diese Merkmale Schritt für Schritt dargelegt werden. Zum anderen und vordringlich ist jedoch zu klären, was wir unter einer Wahrnehmung zu verstehen haben und wie es möglich ist, mit ihr Erfahrungen zu machen. Mit dieser Aufgabe stehen wir vor einer besonderen Schwierigkeit, denn was wir "Wahrnehmung" nennen, ist durch eine Fülle philosophischer und wissenschaftlicher Theorien mit einem gedanklichen Schutt überdeckt, der erst beiseite geräumt werden muß, um Wahrnehmung angemessen zu begreifen. Der Grund dafür ist nicht, daß diese Theorien im einzelnen wie im allgemeinen schlechthin falsch wären. Er liegt vielmehr im Begriff der Wahrnehmung selbst: Was sie zum Kern ästhetischer Erfahrung macht, ist, daß sie sich ihrem Wesen nach immer wieder von dem Begriff löst, den man sich von ihr gemacht hat. Ich will mit zwei Bemerkungen versuchen, das zu erläutern; ein Verfahren, das auch in allen weiteren Abschnitten beibehalten wird. I. Die philosophische Tradition mußte den inneren Bezug der Wahrnehmung zur ästhetischen Erfahrung auf umständliche Weise herstellen. Einer der Gründe dafür ist, daß sie den Begriff der Wahrnehmung seit Aristoteles I im Rahmen einer Theorie der Sinnlichkeit zu klären versuchte, die Aufschluß über die natürlichen Bedingungen menschlichen Erkennens geben soll. In solchen Theorien erschließt sich das Wesen der Wahrnehmung daraus, daß sie als wichtiger Bestandteil eines Vorgangs begriffen wird, in dessen Verlauf wir zu wahren oder falschen Aussagen über die uns umgebende Welt gelangen. Fast alle diese Theorien machen jedoch zwei Zugeständnisse, die belegen, daß sie um die von ihnen vollzogene Einschränkung des Wahrnehmungsbegriffs wissen: Zum einen wird häufig eingeräumt, daß nicht I

Aristoteies, Über die Seele. Buch 11.5 - 12.

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die Wahrnehmung als solche, sondern erst deren begriffliche Verarbeitung der Grund von Irrtümern sei; zum anderen gestehen viele Theorien neben dem Begriff sinnlicher Wahrnehmung noch ein umfassenderes Verständnis von Wahrnehmung zu, das ohne einen Bezug auf die menschlichen Sinne auskommt. Der Grund für diese Zugeständnisse ist leicht zu sehen. Für das, was wir als eine Wahrnehmung anerkennen, hat der Bezug auf die Tätigkeit der Sinnesorgane nämlich keinerlei begründende Funktion. Nicht demjenigen, der uns etwas über den Zustand seiner Augen oder Ohren erzählt, glauben wir, daß er eine Wahrnehmung gemacht hat (es sei denn, daß gerade dies der Gegenstand seiner Wahrnehmung sein soll). Glauben schenken wir vielmehr dem, der uns mit der Beschreibung des von ihm Wahrgenommenen etwas zu entdecken gibt, das wir bislang noch nicht bemerkt hatten: Wahrnehmung ist allein durch sich selbst bezeugte, stets überraschende Sachentdeckung. Darum kann es keinen universellen Begriff der Wahrnehmung geben. Jede Wahrnehmung ist Wahrnehmung von diesem oder jenem, und was hier jeweils Wahrnehmung heißt, sagt uns allein die Darstellung des Wahrgenommenen. Jede Theorie der Wahrnehmung dagegen schränkt deren Begriff ungebührlich ein: wer in der Absicht, Wahrnehmung zu erklären, etwa behauptet, das ..eigentlich" Wahrgenommene seien Substanzen, Eigenschaften, Impressionen, Daten oder anderes, drängt uns lediglich eine begriffliche Vereinheitlichung des Wahrgenommenen auf; und wer festsetzt, Wahrnehmen sei ..eigentlich" ein Aufnehmen der immateriellen Formen der Dinge, eine räumliche Projektion kausaler Affektionen oder nichts anderes als ein Setzen von Unterscheidungen, der will uns einreden, daß sich eine Wahrnehmung nur auf bestimmte Weise zustande bringen läßt. 2. Aus diesen Überlegungen folgt, daß jede Wahrnehmung ästhetischen Charakter hat. Die Annahme, ästhetische Wahrnehmung müsse durch besondere Merkmale von Wahrnehmung überhaupt unterschieden werden,2 liegt nur dann nahe, wenn der Wahrnehmungsbegriff bereits von anderen, verwandten Begriffen her verstanden und nicht in seiner Eigenart erfaßt wird. So macht ein Wissenschaftler auch Wahrnehmungen; gleichwohl betrachten wir sein Tun für gewöhnlich nicht als ein Beispiel ästhetischer Erfahrung. Dieser Einwand übersieht jedoch, daß das, was der Forscher tut, wenn er durch ein Mikroskop schaut oder auf den Zeiger eines Meßinstruments achtet, in der Regel nicht durch den Begriff der Wahrnehmung, sondern als Beobachtung oder Feststellung spezifisch gekennzeichnet ist. Für ihn ist die Probe oder der Ausschlag des Zeigers eine Information, die als Bestätigung oder Widerlegung einer Hypothese dient. Das schließt nicht aus, daß der Wissenschaftler, während er beobachtet, die Form einer Zelle oder die Bewegung eines Zeigers als solche wahrnimmt und so eine ästhetische Erfahrung macht. So formuliert, scheint meine These eine Variante von Kants Begriff ästhetischer Erfahrung zu sein. Ästhetische Wahrnehmung ist, so könnte man ihn interpretieren, jede Wahrnehmung, die ..um ihrer selbst willen,,3 vollzogen wird. Diese Auffas2

3

So z. B. M. Seel, Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt a. M. 1996, bes. S. 36-69. Ebd., S. 14 f.

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sung beruht jedoch bei Kant auf einer Theorie, die das ästhetische Urteil aus der Reflexion auf einen "Zustand des freien Spiels der Erkenntnisvermögen" herleitet, der vor aller Begriffsbildung eine Voraussetzung für Erkenntnis überhaupt ist. 4 Um seiner selbst willen vollzogen wird hier also nicht eine Wahrnehmung, sondern das Wahrnehmen, sofern es als ein Zustand verstanden wird, in welchem ich mir selbst gegenwärtig bin. Begreift man dagegen Wahrnehmung überhaupt und nicht nur Selbstwahrnehmung als den Kern ästhetischer Erfahrung, dann besteht keine Veranlassung, diese durch die Abwesenheit von Interessen auszuzeichnen. Der Forscher macht nicht dann eine ästhetische Erfahrung, wenn er von seinen besonderen Interessen absieht und die Bedingungen von Wahrnehmung reflektiert, sondern wenn er im Zusammenhang mit seinem Interesse an Wissen eine Wahrnehmung macht. Wahrnehmungserfahrung impliziert kein Zurücktreten von unseren theoretischen und praktischen Zwecken; sie steht lediglich in einem anderen Verhältnis zu ihnen als (beispielsweise) das Beobachten.

11. Die Vertiefung der Wahrnehmung Gleichwohl ist die von Kant hergeleitete These, ästhetische Wahrnehmung sei eine solche, die um ihrer selbst willen vollzogen wird, durchaus berechtigt. Zur ästhetischen Erfahrung wird Wahrnehmung nämlich genau in dem Maße, in dem sich an ihr ein Prozeß der Steigerung und Vertiefung des Wahrnehmens vollzieht. Wahrnehmung ist zwar stets entdeckend, weist aber auch Grade unterschiedlicher Intensität auf, die von der Bestimmtheit und dem Beziehungsreichtum ihrer Elemente abhängen. Wer etwas wahrnimmt, kann noch mehr wahrnehmen. Wahrnehmung als einen sich selbst verstärkenden Prozeß zu bezeichnen, bedeutet allerdings nicht, ihr eine Dauer zuzuweisen. Betrachten und Zuhören sind Zustände, deren Dauer wir beobachten und messen können. Auf Wahrnehmung läßt sich der Begriff der Dauer dagegen nicht anwenden. Wahrnehmung hat ihre Zeit; sie ist ein Ereignis, das in der Zeit stattfindet, aber kein Zustand, für den es wesentlich wäre, eine Weile anzudauern. Zwar brauche ich Zeit, um eine ästhetische Erfahrung zu machen, ästhetisch bedeutsam ist Zeit jedoch nur insofern, als sie, in Gestalt z. B. von Dauer, Folge oder Bewegung, einen Aspekt des Wahrgenommenen selbst ausmacht. Daß ich bei einer Wahrnehmung verweile,5 ist daher kein wesentlicher Bestandteil, sondern lediglich eine äußere Bedingung und Folge ästhetischer Erfahrung. Was heißt es dann aber, Wahrnehmung als einen sich selbst verstärkenden Prozeß zu verstehen? Zwei Bemerkungen sollen das erläutern. 1. Entscheidend für den Vorgang der Steigerung und Vertiefung, durch den Wahrnehmung zur ästhetischen Erfahrung wird, ist, daß ihr eine innere Dynamik zukommt, die sich aus einem für jede Wahrnehmung spezifischen Erschließungs4

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5'

Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft. § 9. M. Seel, Ethisch-ästhetische Studien, S. 50.

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charakter einzelner Wahmehmungselemente ergibt. Diesen Erschließungscharakter, wie es nahezuliegen scheint, allgemein als einen symbolischen zu betrachten, würde jedoch wiederum bedeuten, eine spezifische Form der Wahrnehmung zur Grundlage ästhetischer Erfahrung überhaupt zu machen - selbst dann, wenn wir, mit Nelson Goodman, mehrere Arten der Symbolisierung unterscheiden,6 um dem Reichtum ästhetischer Erfahrung gerecht zu werden. Symbolische Beziehungen herzustellen ist eine von vielen Möglichkeiten, Wahrnehmungselemente zu isolieren und aufeinander zu beziehen. Diese eine Möglichkeit zur Bedingung ästhetischer Erfahrung überhaupt zu erklären, ist darüber hinaus insofern problematisch, als eine symbolische Theorie der Wahrnehmung notwendigerweise auf dem Unterschied zwischen dem "Was" und dem "Wie", dem Gegenstand und den Mitteln einer Wahrnehmung beharren muß. Die ästhetische Intensivierung der Wahrnehmung vollzieht sich nun aber gerade dadurch, daß die Gegenstände einer Wahrnehmung zugleich als deren Mittel in Anspruch genommen werden. Zum Element einer ästhetischen Erfahrung wird eine Linie, wenn sie meine Aufmerksamkeit auf eine geometrische Figur oder einen Farbkontrast lenkt, Dauer und Höhe eines Tons, wenn sie den Klang eines Instruments hervortreten lassen, eine Geste, wenn sie die Bedeutung eines Wortes beleuchtet. So beschrieben, beruht die ästhetische Steigerung und Vertiefung der Wahrnehmung darauf, daß eine Wahrnehmung aus sich selbst heraus Mittel zu ihrer Fortsetzung und Spezifizierung gewinnt; ästhetische Erfahrung ist Erfahrung mit der Wahrnehmung. Darin liegt auch der Hauptunterschied zur Beobachtung. Wenn ich mich in eine günstige Position bringe, um etwas beobachten zu können, dann tue ich es, um etwas über einen Gegenstand herauszufinden, von dem ich bereits einen Begriff habe: ich beobachte nicht irgendetwas, sondern den Ablauf einer chemischen Reaktion oder das Verhalten eines Menschen. Wenn ich dagegen eine Wahrnehmung mache, dann erfahre ich erst durch die Wahrnehmung, womit ich es überhaupt zu tun habe und wie ich mich verhalten muß, um es angemessen wahrzunehmen. Das Wahrgenommene bildet selbst den Leitfaden seiner Wahrnehmung. 2. Diese Eigenart der Wahrnehmung, stets die Wahrnehmung eines sie selbst bestimmenden Gegenstandes zu sein, ist die Grundlage für einen weiteren Aspekt ihrer ästhetischen Intensivierung. Ästhetische Erfahrung beinhaltet, daß die Wahrnehmung im Gegenstand und der Gegenstand in der Wahrnehmung aufgeht. Das Aufgehen der Wahrnehmung im Gegenstand kennzeichnet die subjektive Seite ästhetischer Erfahrung: es gehört zu ihr, daß wir uns in der Wahrnehmung selbst vergessen. Zwar sind wir, wie ich noch zeigen möchte, in besonderer Weise tätig, wenn wir wahrnehmen; aber je mehr der ästhetische Gegenstand seIbst zum Mittel seiner Wahrnehmung wird, desto weniger haben wir Anlaß, die Wahrnehmung auf etwas zurückzuführen, das wir in diese Wahrnehmung mit einbringen. Die andere, objektive Seite der Intensivierung, das Aufgehen des Gegenstandes in der Wahrnehmung, ist meines Erachtens das, was im Begriff der Schönheit festgehalten 6 N. Goodman. Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols. Indianapolis 1976.

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wird. Zu diesem Begriff wäre viel zu sagen, ich will mich jedoch auf zwei kurze Anmerkungen beschränken. Zum einen scheint es mir angesichts des bisher Dargelegten unabdingbar, Schönheit nicht - mit Platon, Thomas, Hegel oder Adorno an den Begriff der Wahrheit, sondern an den der Wirklichkeit zu binden. Wahrnehmung vennittelt uns keine Erkenntnisse, sondern die jeweils eigene Weise einer Sache, da zu sein; in ihr erschließt sich uns, um es vollends in den Worten Heideggers zu sagen, "das Massige und Schwere des Steins, [ ... ] das Leuchten und Dunkeln der Farben, [ ... ] de[r] Klang des Tones und [ ... ] die Nennkraft des Wortes",7 die Fonn also, in der etwas dieses oder jenes ist. Nicht daß die Rose rot ist, erfaßt die Wahrnehmung, sondern wie rot sie ist. Zum anderen folgt aus meinen Überlegungen, daß die heute gängige Auffassung, Schönheit sei kein wesentlicher Zug ästhetischer Erfahrung, falsch sein muß. Diese mit der Romantik aufgekommene und durch die modeme Kunst scheinbar bestätigte Auffassung beruht auf der Annahme, daß der Schönheitsbegriff Ausdruck für die Geltung von Idealen sei, an die wir heute nicht mehr glauben können. An die Stelle des Schönen sei daher das Frappierende und Erschreckende, das Rätselhafte und Inkommensurable getreten. Diese Begriffe kennzeichnen jedoch nichts anderes als unterschiedliche Weisen, in denen etwas Gegenstand einer Wahrnehmung ist; sie umschreiben jene gesteigerte Präsenz des Gegenstandes in der Wahrnehmung, die wir Schönheit nennen. Die Meinung, die modeme Kunst desavouiere sich durch eine Abwendung vom Schönen, ist ebenso verkehrt wie die entgegengesetzte, daß gerade darin ihr Recht liege. Ästhetisch bedeutsam sind ein Gedicht von Baudelaire, ein Orchesterstück von Schönberg oder eine Zeichnung von Beuys, weil sie, auf jeweils eigene und überraschende Weise, schön sind.

In. Die ästhetische Disziplin Was bisher über ästhetische Erfahrung gesagt wurde, scheint eine kritisch gemeinte Beobachtung Schleiennachers zu bestätigen: die Beobachtung nämlich, daß die seit Baumgarten als "Theorie der Empfindungen" konzipierte Ästhetik "den Menschen", sofern er sich mit dem Schönen beschäftigt, "in einem leidenden", d. h. passiven ,,zustande auf[faßt]".8 Diese Beobachtung trifft tatsächlich nicht nur die Kantische Ästhetik, auf die sie bei Schleiennacher bezogen war; sie enthüllt einen Grundzug der gesamten modemen Ästhetik, den nur wenige Positionen nicht aufweisen. Man denke nur an Adorno, der die Bedeutung großer Kunst daran knüpft, daß sie, bei aller konstruktiven Leistung, unwillkürlicher mimetischer Ausdruck gesellschaftlichen Leidens ist. 9 Daß ästhetische Erfahrung eine Fonn von Passivität darstellt, prägt darum nicht zufallig die Einstellungen, die 8

M. Heidegger; Holzwege, Frankfurt a. M. 1980, S. 31. F. Schleiermacher; Vorlesungen über die Ästhetik, hg. v. C. Lommatzsch, Berlin 1974,

9

Th. W Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1977, S. 169.

7

S.8.

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man heute gemeinhin zu ihr hat. Für viele stellt sie eine Art des Verhaltens dar, das sich in besonderer Weise zur Ausfüllung der arbeitsfreien Zeit eignet, weil es keiner Anstrengung und Übung zu bedürfen scheint. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würden meine Ausführungen zum Begriff der Wahrnehmung diese Meinung stützen. Was ich über Wahrnehmung bislang gesagt habe, wird jedoch erst dann verständlich, wenn wir erkennen, inwiefern sie "llitigkeit voraussetzt. Die eigenartige Intensivierung, durch die Wahrnehmung zur ästhetischen Erfahrung wird, wäre ohne ein bestimmtes Können gar nicht möglich. Auch dazu nun zwei erläuternde Bemerkungen. l. In welcher Weise Wahrnehmungserfahrung Tatigkeit voraussetzt, bekommen wir in den Blick, wenn wir versuchen, in Worte zu fassen, was wir denken, wenn wir eine Wahrnehmung machen. Mir scheint, als drückten wir dieses in der Wahrnehmung involvierte Denken am treffendsten in der Gestalt von Aufforderungen aus. Sprächen wir zu uns selbst, wenn wir etwas wahrnehmen, dann würden wir beispielsweise sagen: "schau auf die Neigung dieses Hügels", "achte auf die gleichfönnige Bewegung der Hände", "sieh diese Farbe als Symbol der Reinheit". An diesen Fonneln läßt sich zweierlei ablesen. Zum einen unterstreichen sie meine Behauptung, daß ästhetische Erfahrung durch eine Transfonnation von Wahrnehmungsgegenständen in Mittel der Wahrnehmung gekennzeichnet ist. Zu dieser Behauptung gehört auch die These, daß die Wahrnehmungselemente einer ästhetischen Erfahrung nicht nur stets die Elemente dieser einen Wahrnehmung sind, sondern daß sie, darüber hinaus, immer auf eine spezifische, nicht zu verallgemeinernde Weise aufeinander bezogen werden. Die Bewegung einer Linie wird zur Bewegung meines Blicks; eine Strebe "teilt" den Raum, ein Ton "folgt" einem anderen, eine Bemerkung "beruhigt" die Streitenden. Zum anderen belegen die Formeln, daß die Wahmehmungserfahrung tatsächlich so etwas wie eine Disziplin der Aufmerksamkeit voraussetzt. Der Gegenstand der Wahrnehmung erschließt sich nur dadurch, daß wir uns einer Disziplin unterwerfen, deren spezifische Regeln wir dem Gegenstand selbst entnehmen müssen. Wenn wir mal auf dieses, mal auf jenes achten, machen wir keine ästhetische Erfahrung. Es macht deren praktischen Reiz aus, daß wir immer erst noch herausfinden müssen, wie wir vorzugehen haben, um eine Wahrnehmung zu machen. Eine solche Disziplin, die wir mit Adorno als eine Art von ,,Mimikry" beschreiben können,1O zeichnet sich dadurch aus, daß sie sich die Regeln ihres Vollzugs im Vollzug selbst erarbeitet: ästhetische Praxis ist selbsterschließende Praxis. Diese Ausrichtung des Tuns an der Wahrnehmung ist nun aber ein wichtiges Element jeder Tatigkeit. Ob wir eine Tür schließen, eine Hand schütteln oder einen Vortrag halten: immer beinhaltet die Tatigkeit Wahrnehmungen, die bestimmend sind für die Ausführung dieser Tatigkeit. Fehlt dieses Element, das die philosophische Tradition mit dem Ausdruck "Takt" bezeichnet hat, 11 völlig, dann herrscht blinde Gewalt. 10

Ebd., S. 190.

11

F. Schleiermacher. Ethik, Hamburg 1981, S. 158.

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2. Aus der Einsicht, daß Wahrnehmung eine Disziplin voraussetzt, läßt sich eine weitere Folgerung über die Bedingungen ästhetischer Erfahrung ziehen, die uns gleich zu drei wichtigen Begriffen führt. Weil Wahrnehmung nur nach bestimmten, dem Wahrgenommenen selbst entnommenen Regeln zustandekommt, weist das Wahrgenommene immer eine Form auf, der ein bestimmter Stil der Wahrnehmens entspricht. Die ästhetische Form eines Gegenstandes der Wahrnehmung ist das Verfahren seiner Wahrnehmung. Diese Einsicht sollte uns jedoch nicht dazu verleiten, den Kern ästhetischer Erfahrung darin zu sehen, daß in ihr eine jeweils individuelle Perspektive auf einen Gegenstand zur Darstellung komme. 12 Die Form einer Wahrnehmung läßt sich von ihrem Gegenstand ebensowenig abtrennen wie der Gegenstand von der Art und Weise, in der er wahrgenommen wird. Darauf gerade verweist die Erfahrung von Schönheit: eine Linie ist schön in ihrem Schwung, ein alter Baum ist schön in der Mächtigkeit seines Stammes, den vielfachen Verzweigungen seiner Äste und im Spiel seiner Blätter. Die Abhängigkeit der Wahrnehmung von einer bestimmten Form des Wahrnehmens führt allerdings dazu, daß derjenige, der eine Wahrnehmung macht, stets glaubt, Wahrnehmung nur in der Weise machen zu können, in der er sie tatsächlich zustande gebracht hat. Diese Erfahrung, die einen zentralen Aspekt der ästhetischen Erfahrung bildet, ist vor allem im 18. Jahrhundert und zwar unter dem Titel des Geschmacks ausführlich diskutiert worden. 13 Der Geschmack besteht darauf, daß wir den Gegenstand überhaupt nur dann wahrnehmen, wenn wir ihn so wahrnehmen. Darin liegt seine Ambivalenz: Er ist Bedingung von Wahrnehmung und das, was Wahrnehmung verhindert. In Kants Ästhetik spielt der Geschmack eine besonders prominente Rolle. Sie beruht darauf, daß Kant das Geschmacksurteil als Beleg dafür betrachtet, daß auch die ästhetische Urteilskraft auf Prinzipien apriori beruht. Das hat jedoch zur Folge, daß Kant die "Beistimmung" zum Geschmacksurteil als eine transzendentale, nämlich "subjektiv notwendige" Unterstellung versteht. 14 Blicken wir zurück auf die Formeln, mit denen wir die Wahrnehmungstätigkeit beschrieben haben, dann läßt sich jedoch leicht erkennen, daß die Einhelligkeit des Geschmacks nicht unterstellt, sondern hergestellt wird. Die Formeln zeigen nämlich, daß Wahrnehmung wesentlich eine gemeinsame Entdeckungsleistung ist: "achte darauf, wie dieser Pfeiler das Gewölbe stützt".

IV. Die Wahrnehmung als Kunst Meine Ausftihrungen über die Abhängigkeit ästhetischer Erfahrung von einer praktischen Disziplin lassen sich in der These zusammenfassen, daß Wahrnehmung So F. Schleiennaeher, Vorlesungen über die Ästhetik, S. 8 f. A. Bauemler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts, Darrnstadt 1981, S. 65 - 82. 14 I. Kam. Kritik der Urteilskraft. § 22. 12

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eine Kunst ist. Selbst wenn wir inzwischen anerkennen sollten, daß Wahrnehmung ohne eine auf spezifische Weise geregelte Tatigkeit gar nicht möglich ist, mag diese Behauptung noch überraschen. Überraschend wirkt sie vor allem deshalb, weil sie den Ausdruck ,Kunst' auf eine ungewöhnliche Weise zu gebrauchen scheint. Dieser Eindruck rührt jedoch nur daher, daß wir uns, vor dem Hintergrund der Entwicklung der philosophischen Ästhetik vom 18. zum 19. Jahrhundert, daran gewöhnt haben, den Begriff der Kunst in ästhetischen Zusammenhängen immer mit dem zu verbinden, was einmal die ,schöne Kunst' genannt wurde: mit Objekten also, die eigens dafür da sind, um mit ihnen eine ästhetische Erfahrung zu machen. Dabei gebrauchen wir den Ausdruck ,Kunst' sehr häufig in einem wesentlich weiteren Sinne; so reden wir von der Kunst des Bogenschießens wie von der Kunst eines Koloratursoprans oder eines Bildhauers. Die folgenden bei den Bemerkungen sollen zeigen, daß die Gleichheit des Ausdrucks in diesen zunächst ganz unterschiedlichen Fällen uns nicht zum Narren hält, sondern etwas Wesentliches trifft. Nach meiner Auffassung verstehen wir ,die' Kunst nur, wenn wir sie im Zusammenhang mit solchen Tätigkeiten sehen, die wir ,kunstvoll' nennen. Das setzt jedoch voraus, daß wir umgekehrt das Wesen der kunstvollen Tätigkeit von der Rolle her in den Blick nehmen, die Wahrnehmung für sie spielt.

I. Was ist das Besondere an Tatigkeiten, die wir als kunstvolle Tatigkeiten auszeichnen? Sehen wir genauer hin, dann heben sich solche Tätigkeiten von anderen Verrichtungen dadurch ab, daß in ihren Vollzug Wahrnehmungen eingehen. Kunstvoll geht nicht schon der Koch vor, der die in einer langen Ausbildung erlernten Regeln für die Zubereitung und Zusammenstellung der Speisen richtig und vollständig anwendet. Der gute Koch ist daran erkennbar, daß er ein besonderes Sensorium für die aktuellen Abläufe während des Kochvorgangs hat; er sieht, wenn das Gemüse weich wird, und weiß, wann die Soße anzubrennen beginnt. Der Kochkünstler jedoch zeichnet sich gegenüber seinen Kollegen dadurch aus, daß er im Umgang mit den Zutaten Entdeckungen macht: er nimmt einen bislang übersehenen Würzeffekt, eine noch unbekannte Kombinationsmöglichkeit wahr. Auf ähnliche Weise unterscheidet sich vom gewöhnlichen der begnadete Fußballer: Er nimmt beim Spielen Entfernungen und die Flugeigenschaften des Balles in einer Weise wahr, die den anderen verschlossen bleibt. Daß wir es hier tatsächlich mit ästhetischen Erfahrungen zu tun haben, wird dadurch belegt, daß solche Kunst des Wahmehmens die Erfahrung von Schönheit vermittelt. Nicht nur mag dem Koch oder dem Fußballer in besonderen Momenten die Form einer Paprika oder die Flugbahn des Balles schön erscheinen. Die außergewöhnlich schmackhafte Speise oder der geniale Paß in die Tiefe sind auch für den, der ein Gericht genießt oder ein Spiel verfolgt, etwas Schönes. Die eine erschließt uns, was es heißt, etwas zu essen und zu schmecken, der andere, was Entfernung, Geschwindigkeit und Körperbeherrschung für ein Fußballspiel bedeuten. Die Wahrnehmungskunst, die ihnen zugrundeliegt, gibt auch anderen etwas wahrzunehmen. Daran zeigt sich der behauptete Zusammenhang von Kunst und Wahrnehmung. Wahrnehmung setzt die Kunst voraus, die Aspekte 15 eines Gegenstandes zu entdecken, die uns erschließen,

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wie er das ist, was er ist; 16 und solche Kunst ist das, was eine Tätigkeit, über die bloße Geschicklichkeit hinaus, zu einer kunstvollen macht. Jede Kunst ist eine Kunst der Wahrnehmung, weil Wahrnehmung selbst Kunst ist. Dieser verschlungene Zusammenhang ist wohl auch der Grund dafür, daß wir Menschen in besonderer Weise schön finden, wenn sie ganz in einer Tätigkeit aufgehen, die intensives Wahrnehmen beinhaltet; man denke an das Spiel kleiner Kinder oder an die Versunkenheit eines Musikers. Daß Platons Sokrates zur Erläuterung von Schönheit immer wieder das Beispiel der erotischen Beziehung anführt, gewinnt vor diesem Hintergrund eine besondere Plausibilität. 2. Mit diesen Ausführungen über das Verhältnis von Kunst und Wahrnehmung ist eine Einsicht verbunden, die einem weiteren Aspekt des heute üblichen Verständnisses ästhetischer Erfahrung widerspricht. Die enge Verbindung, die zwischen kunstvollen Tätigkeiten und unseren Wahmehmungsfahigkeiten besteht, zeigt an, daß die Kluft zwischen ästhetischer Rezeptivität und ästhetischer Produktivität nicht so groß ist, wie man gemeinhin annimmt. Ich meine damit nicht, daß im Grunde jeder ein Künstler sei. Den meisten fehlt nicht nur das Geschick, sondern eben auch die gesteigerte Fähigkeit zur Wahrnehmung, die sich an besondere Fertigkeiten zu knüpfen vermag. Wer über bestimmte Fertigkeiten nicht verfügt, der ist gar nicht in der Lage, die Wahrnehmungen zu machen, die diese zur Kunst erheben. Was ich dagegen behaupten möchte, ist, daß zwischen der Fähigkeit zu künstlerischer Produktion und der ästhetischen Rezeptivitat ein Kontinuum besteht. Wer in der Lage ist, die besondere Anordnung eines Blumengebindes und die Art und Weise, wie es seine einzelnen Bestandteile zur Geltung bringt, in allen Einzelheiten wahrzunehmen, dem fehlt nicht mehr viel, um Ähnliches zustande zu bringen. Umgekehrt zeichnet sich der bedeutende Komponist nicht nur dadurch aus, daß er die Regeln der Satztechnik beherrscht und um die Effekte weiß, die sich durch eine neuartige Verbindung von Klängen und Rhythmen hervorrufen lassen. Zu einem bedeutenden Komponisten wird nur, wer, darüber hinaus, Musik anders zu hören vermag als wir normalen Menschen; er kann nur deshalb so Komponieren, daß sich uns das Eigentümliche von Klang und Rhythmus neu erschließt, weil er diese auf eine noch nicht dagewesene Weise wahrnimmt. Künstlerische Kreativität beruht auf besonderen rezeptiven Fähigkeiten; ihre Hervorbringungen bleiben uns jedoch nur darum nicht unverständlich, weil wir, eben anhand solcher Hervorbringungen, rezeptive Fähigkeiten entwickeln können, durch die wir erfassen, was da hervorgebracht wurde und warum es unsere Aufmerksamkeit fesselt. Dieses Kontinuum von ästhetischer Kreativität und Aufnahmefähigkeit ist besonders von John Dewey hervorgehoben worden. Seine Ästhetik, die "Kunst als Erfahrung" begreift und die "Kluft zwischen Hersteller und Verbraucher" sowie eine "weitgehende Trennung zwischen gewöhnlicher und ästhetischer Erfahrung" be15 Vgl. L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1984, S. 475. 16 M. Heidegger. Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 160.

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klagt,17 hat darum nicht zufallig eine stark kulturkritische und pädagogische Ausrichtung. Die Rolle, die jede Art von Kunst in der Kultur spielt, ist erst dann verstanden, wenn wir sie als den entscheidenden Faktor bei der Vertiefung und Steigerung unserer Wahrnehmungsfähigkeiten betrachten.

V. Die ästhetischen Gegenstände Wenn wir dem Begriff Kunst eine derartig weite Bedeutung geben, dann wird es nötig, zusätzliche Bestimmungen einzuführen, die eingrenzen, was wir unter ,der' Kunst im engeren Sinne verstehen wollen. Dies geschieht am besten, indem wir uns den Gegenständen ästhetischer Erfahrung zuwenden, den Objekten also, die sich dadurch auszeichnen, Wahrnehmung zu ermöglichen. Aus dem bisher Dargelegten folgt, daß buchstäblich alles zum Gegenstand ästhetischer Eifahrung werden kann, wobei diese Formulierung insofern mißverständlich ist, als uns solche Gegenstände nicht bereits gegeben sind; was Gegenstand ästhetischer Erfahrung wird, ist gerade das, was wir wahrnehmend erst entdecken. Gleichwohl können wir einräumen, daß unterschiedliche Gegenstände unterschiedliche Grade ästhetischer Erfahrung zulassen, die vom Beziehungsreichtum ihrer Aspekte abhängen. Solche ästhetischen Eigenschaften sind jedoch keine absoluten; etwas sehr Einfaches, wie ein einzelner Farbton, kann Bezugspunkt einer sehr intensiven Wahrnehmung werden und etwas äußerst Komplexes, wie eine mathematische Formel, kann sich, bei mangelnder Fertigkeit, der ästhetischen Erfahrung völlig verschließen. Setzen wir dies voraus, dann bildet die Klasse der Gegenstände, die wir im engeren Sinne Kunstwerke nennen, den engsten Kreis ästhetischer Gegenstände. Zwischen diesem und dem weitesten Kreis aller Wahrnehmungsgegenstände überhaupt stellt die Gruppe der Gebrauchsgegenstände gleichsam eine Art Übergangsform dar. Wieder muß ich mich auf zwei Bemerkungen beschränken, um dies zu erläutern. 1. Es ist behauptet worden, daß ästhetische Gegenstände sich dadurch auszeichnen, daß sie imaginative Objekte sind. 18 Diese These, die vor dem Hintergrund einer symbolistischen Theorie der Wahrnehmung entwickelt worden ist, macht die ästhetische Bedeutung von Gegenständen davon abhängig, daß sie als Zeichen für anderes verstanden werden können. Ästhetische Erfahrung vermittelt demnach ein Sonnenuntergang erst dann, wenn wir ihn z. B. als Symbol der Vergänglichkeit auffassen. Solche Formen der Wahrnehmung sind jedoch lediglich Sonderfalle ästhetischer Erfahrung: Symbolische Deutung ist nur eine Form der Intensivierung unserer Gegenstandswahrnehmung. Dieselbe Verzerrung liegt vor, wenn wir Gebrauchsgegenstände nur insofern als ästhetische Objekte gelten lassen, als wir ihnen eine symbolische Bedeutung zuweisen können; den Hammer, wenn er als 17

J. Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt a. M. 1988, S. 17.

Diese These schreibt M. Seel zu Recht Goodman und Danto zu; vgl. M. Seel, Ethischästhetische Studien, S. 136. 18

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Zeichen der Gewalt, den Stuhl, wenn er als Symbol der Behaglichkeit interpretiert wird. Ebensowenig müssen wir, wie Kant meinte,19 den Gebrauchsgegenständen einen geringeren ästhetischen Wert zuerkennen, weil sie notwendig Gegenstände von Begriffen sind, die darüber hinaus einen bestimmten praktischen Zweck anzeigen. Die begriffliche Bestimmtheit eines Gegenstandes schließt ästhetische Erfahrung nicht aus, sondern ein, da begriffliche Eigenschaften immer auch ästhetische sind. Ein schöner Stuhl ist nicht bloß beiläufig, sondern wesentlich ein schöner Stuhl. Die Wahrnehmungserfahrung, die wir mit ihm machen, entsteht nicht trotz seinen funktionalen Eigenschaften, sondern unter ihrem Einschluß. Nicht nur, daß ein schöner Stuhl dazu beitragen kann, uns einen Raum auf ganz neue Weise wahrnehmen zu lassen: es sind seine Gebrauchseigenschaften. durch die unter anderen er sich uns als Wahrnehmungsgegenstand erschließt. Ein schöner Stuhl, so können wir mit Platon sagen, ist ein exemplarischer Stuhl; einer, an dem uns aufgeht, was ein Stuhl sein kann. Wegen dieses platonischen Hintergrundes hatte auch die mittelalterliche Ästhetik ein unbefangeneres Verhältnis zur ästhetischen Qualität von Gebrauchsgegenständen als Kant. So ist für Thomas von Aquin eine gläserne Säge keine schöne Säge. 2o Zwar hängt diese Auffassung mit theologischen Vorstellungen zusammen, welche die Schönheit einer Sache davon abhängig machen, daß sie dem Zweck angemessen ist, den Gott ihr zugewiesen hat. Aber auch ohne diese Voraussetzungen können wir Thomas zustimmen: Glas ist einfach weniger gut geeignet als glänzendes und undurchdringliches Metall, das Eigentümliche einer Säge hervorzuheben. 2. Trotz der erheblichen Gemeinsamkeiten mit anderen ästhetischen Objekten unterscheiden sich Kunstwerke dennoch deutlich von anderen Artefakten. Das heißt nicht, daß es hier keine fließenden Übergänge gäbe. Die Architektur ist dafür das klassische Beispiel. Gebäude können schön sein, insofern sie den spezifischen Zweck hervorheben, der mit ihnen verbunden ist. Sie können jedoch auch in der Hinsicht schön sein, daß sie uns den Raum, das Licht und die Eigenschaften der verwendeten Materialien entdecken lassen. In dieser zweiten Hinsicht sind sie, ohne irgendeinen Abstrich, Beispiele für Kunstwerke im engeren Sinne. Sie sind ästhetische Objekte als Gebrauchsgegenstände, aber auch als Gegenstände der Wahrnehmung, bei denen man von einem spezifischen Zweck abstrahieren kann. Solche Gegenstände sind dadurch Objekte ästhetischer Erfahrung, daß ihre Form als solche ästhetisch bedeutsam ist. Die ästhetische Form eines Stuhls, ist die Form eines Stuhls, auf den man sich setzen kann; die ästhetische Form eines Kunstwerkes ist allein die Form dieses Werkes. Kunstwerke sind Wahrnehmungs/ormen und nichts weiter: Bei ihnen bildet die Art und Weise, wie sie wahrgenommen werden, das alleinige Prinzip der Formgebung. Daher heben sich Kunstwerke durch mindestens zwei Eigenschaften von anderen Gegenständen ab. Erstens zeichnen sie sich gegenüber den Gebrauchsgegenständen durch eine größere Freiheit der FormgeKant. Kritik der Urteilskraft. § 2. Thomas v. Aquin. Summa Theologiae I 91,3; zit. n. R. Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1987, S. 30 und 231. 19 /.

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bung aus. Da sie nicht an bestimmte Gebrauchszwecke gebunden sind, kann bei ihnen die Form ihrer Wahrnehmung selbst zum durchgängigen Gestaltungsprinzip werden. Eine einzelne Farbe ist hier nur dazu da, eine andere Farbe hervorzuheben; eine besondere Art des Pinsel strichs dazu, den Schwung einer Geste oder die Bewegtheit eines Grashalms sichtbar zu machen. Dies zeigt eine zweite Eigenschaft von Kunstwerken an: da ihre Formgebung nicht an Gebrauchszwecke gebunden ist, können die Kunstwerke frei wählen, was sie darstellen wollen. Solche Sujets unterscheiden sich in ästhetischer Hinsicht jedoch insofern nicht von Gebrauchszwecken, als auch ihr ästhetischer Wert davon abhängt, ob sie selbst einen Aspekt der spezifischen Wahrnehmungsform bilden, zu der ein Kunstwerk sich ausgestaltet. Nicht nur muß die jeweilige künstlerische Gestaltung dem Thema angemessen sein, dem sie sich gewidmet hat; schön ist ein Kunstwerk auch nur dann, wenn umgekehrt sein Sujet uns dazu führt, die Art seiner Behandlung wahrzunehmen. Der Gegenstand einer Skulptur überzeugt uns nur dann, wenn an ihm die Gestaltungsprinzipien des Bildhauers deutlich hervortreten; das Sujet eines Dramas nur, wenn es sich zur Erschließung menschlicher Konfliktlagen eignet.

VI. Die Autonomie der Kunst Die Selbständigkeit des Kunstwerks als eines Gebildes, das nur seiner eigenen Darstellungsform verpflichtet ist, ist das, was die Autonomie der Kunst genannt wird. Diese Idee ist, historisch betrachtet, eine modeme Idee. Sie findet sich zum erstenmal bei Karl Philipp Moritz, für den sich das Schöne vom Nützlichen dadurch unterscheidet, daß es seinen Zweck in sich selbst hat: "Bei der Betrachtung des Schönen", so sagt er, "wälze ich den Zweck aus mir in den Gegenstand zurück: ich betrachte ihn als etwas, nicht in mir, sondern in sich selbst Vollendetes".21 Diese Definition belastet den Begriff des schönen Kunstwerks jedoch insofern mit einem erheblichen Gewicht, als sie ihn in Analogie zum Begriff des Organismus versteht. Die Schönheit eines Werkes wird davon abhängig gemacht, daß es ein bestimmtes, am Begriff der Zweckmäßigkeit ausgerichtetes Verhältnis von Teil und Ganzem aufweist. Diese Übersteigerung des Kunstwerks zu einem lebendigen Individuum kulminiert in der Ästhetik Adornos, der Kunstwerke, mit einem Leibnizschen Terminus, als ,,Monaden,,22 versteht, in denen sich gesellschaftliche Antagonismen nur deshalb spiegeln können, weil sich die modeme Kunst von äußeren Zwecken freigemacht hat. Faßt man die Autonomie des Kunstwerks bescheidener von seiner Eigenschaft, eigenständige Wahrnehmungs formen auszubilden, dann läßt sie sich von dem überzogenen Vergleich mit Organismen lösen; zugleich wird es möglich, Kunstwerken Autonomie unabhängig von einer eventuellen Zweckbindung zuzuschreiben. 21 22

K. P. Moritz, Schriften zur Ästhetik und Poetik, hg. v. J. Schrimpf, Tübingen 1962, S. 3. Th. W Adorno, Ästhetische Theorie, S. 15.

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I. Die Idee, daß Kunstwerke autonom sind, insofern sie eine eigenständige Wahrnehmungs form darstellen, läßt sich in zwei Richtungen verfolgen, von denen uns eine, wollten wir sie bis zum Ende verfolgen, zu einer Theorie der Künste führen würde. Das ist insofern kein Zufall, als der Begriff der Autonomie schon bei Moritz als Grundlage einer Theorie der Künste gedacht war, die deren Gemeinsamkeit in der Nachahmung der schönen Natur sieht. Dieses Prinzip ist es jedoch nicht, was wir im Auge haben sollten, wenn wir den Begriff der Autonomie der Kunst auf etwas gründen, das sich erst mit einer Theorie der Künste einholen läßt. Gemeint ist vielmehr folgendes: Da Kunstwerke ihre spezifische Form nicht mehr daraus beziehen, daß sie bestimmte Gegenstände im Hinblick auf ihren Gebrauchszweck gestalten, besteht das primäre Material, mit dem sie sich in ihren Gestaltungsleistungen auseinandersetzen, in dem, was das jeweilige Medium ihrer Wahrnehmung ausmacht. Der Maler arbeitet mit Pinsel und Leinwand, mit Farben, Linien und Gestalten; der Komponist komponiert Töne, Klänge und Rhythmen zu Melodien, Kontrapunkten und Perioden. Die Regeln, nach denen sie beide vorgehen, orientieren sich dabei, wie Adorno ganz richtig gesehen hat,23 an dem historisch gewachsenen Zustand der Materialien. Für die ästhetische Erfahrung besteht das Eigentümliche solcher künstlerischen Materialien darin, daß sie, wie bei jedem ästhetischen Objekt, zugleich die Gegenstände und die Mittel der Wahrnehmung sind - mit dem entscheidenden Zusatz freilich, daß diese Wahrnehmungselemente nun selber Gegenstand der künstlerischen Gestaltung geworden sind. Der Tischler arbeitet mit Holz, Leim und Hobel, um einen Tisch zu fertigen; bei ihm treten das Material und das Produkt, das mit solchem Material zustande gebracht wird, also auseinander. Der Maler dagegen malt mit Farben Farben, mit Gestalten Gestalten, der Komponist gestaltet Klänge aus Klängen, Rhythmen aus Rhythmen. Darin gründet die besondere Bedeutung der Kunst für die ästhetische Erfahrung. Sie beruht darauf, daß Kunstwerke, im Unterschied zu anderen Artefakten, direkt an den jeweils spezifischen Bedingungen unserer Wahrnehmungsfähigkeit arbeiten. Erst so sind die eigentlich künstlerischen Formen, Portraits und Büsten, Stilleben und Installationen, Konzerte und Opern, Dramen und Romane, die sogenannten Gattungen also, zu verstehen: Sie sind Beispiele für autonome ästhetische Objekte, die ihre Gestaltungsprinzipien dem Zweck verdanken, unsere Wahrnehmungsfähigkeiten durch die Ausbildung von komplexen und zugleich kohärenten Formen der Erschließung umzuprägen und so zu intensivieren. 2. An diesem Punkt angelangt, bin ich endlich in der Lage, meine mit den Worten Deweys formulierte These über den Zusammenhang von ästhetischer und alltäglicher Erfahrung, Kunst und Kultur näher zu erläutern. Inzwischen dürfte nämlich besser verständlich sein, warum es die Kunst im engeren Sinne ist, die den wichtigsten Beitrag zur Erneuerung und Intensivierung unserer Wahrnehmungsfähigkeiten liefert. Nach Mozarts "Cosi fan tutte" oder Büchners "Woyzeck" haben wir einen anderen Blick dafür, was zwischen Menschen möglich ist; seit Albertis 23

Ebd., S. 313 f.

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St. Andrea oder Wrights Coonley House nehmen wir Räume anders wahr; nachdem wir Lorrains "Opfer an Apollo" oder Cezannes Bilder vom Mont Sainte-Victoire gesehen haben, schauen wir anders in die Landschaft hinein; seit Gryphius' "Grabschrift Mariannae" oder Kirschs "Bei den Stiefmütterchen" kennt die Trauer neue Formen. Die Kunst greift die Anteile von Wahrnehmung auf, die in unser Denken und Verhalten eingehen, und verwandelt sie unter ihren Händen in etwas, mit dem wir uns die Welt neu erschließen und so unseren Handlungen eine andere Richtung geben können. Die Autonomie der Kunst ist der Begriff für einen eigenständigen, vom Alltag abgeschiedenen Erfahrungsbereich, in dem wir uns mit den uns leitenden Formen der Wahrnehmung auf experimentelle Weise auseinandersetzen. Kunstwerke im engeren Sinne sind gleichsam die Versuchslabors, in denen wir Grundlagenforschung in Sachen Wahrnehmungserfahrung betreiben. In seinem Buch über den Komponisten Gustav Mahler hat Adorno diese eigentümliche Leistung der Kunst mit der treffenden Formel "eine Empirie zweiten Grades,,24 umschrieben. Bei Adorno ist diese Formel auf die traumähnliche Textur der späten Mahlersehen Sinfonien bezogen, und er verwendet sie, um der psychoanalytischen These, alle Musik sei Abwehr von Paranoia, eine relative Wahrheit einzuräumen. Im Hinblick auf das, was ich über die Autonomie der Kunst gesagt habe, können wir der Formel jedoch einen grundsätzlicheren, weniger deprimierenden Sinn geben: Kunst ermöglicht es uns, Erfahrungen mit der Erfahrung zu machen. Nicht, daß wir durch sie in der Lage wären, von einem Standpunkt jenseits der Erfahrung die Form unseres Weltverhältnisses zu durchschauen und zu überblicken. Einen solchen Standpunkt gibt es nicht, und insofern kann, genau genommen, von einer Form unseres Weltverhältnisses auch gar nicht die Rede sein. Kunst erlaubt es uns aber immerhin, uns mit den Formen der Wahrnehmungserfahrung zu beschäftigen, in denen sich anderen Wirklichkeit erschlossen hat.

VII. Die Geschichtlichkeit der Kunst Bedeutende Kunstwerke sind geschichtliche Dokumente ersten Ranges. Sie sind es jedoch nicht bloß in dem Sinne, in dem uns ein Landschaftsbild Auskunft über den Grad der Industrialisierung oder ein Drama Informationen über die politischen Verhältnisse einer Zeit an die Hand gibt. In einem Kunstwerk sind solche historischen Gehalte lediglich Aspekte einer Wahrnehmungs form, zu der die Sujets ebenso gehören wie die spezifische Art ihrer Behandlung. Solche Wahrnehmungsformen gehen von Erkenntnissen aus und eröffnen neue Perspektiven möglicher Erkenntnis; zudem hängen sie von bestimmten Fertigkeiten ab und geben diesen zugleich eine neue Richtung. Darum sind Kunstwerke gleichsam Momentaufnahmen der Form von Welterfahrung, die für eine bestimmte Zeit charakteristisch ist. Sie geben uns zu erkennen, was und auf welche Weise die Menschen anderer Zeiten 24

Th. W. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik, Frankfurt a. M. 1981, S. 98.

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sahen und hörten, was sie dachten, wie sie sich bewegten und welche Gefühle sie prägten. Als Gegenstände ästhetischer Erfahrung erlauben sie uns darüber hinaus sogar, solche Erfahrungen bis zu einem bestimmten, durch unsere eigenen Beschränktheiten begrenzten Grad wahrnehmend nachzuvollziehen. Heißt das aber, daß Kenntnisse über das historische Umfeld eines Werkes unabdingbar für ästhetische Erfahrung sind? Und was folgt daraus für das Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und Kunstgeschichte? I. Die Geschichtlichkeit der Kunst ist weder eine besondere Eigenschaft der sogenannten ,postmodernen' Kunst, noch ist sie bloß eine Perspektive auf die Kunst, die wir seit dem 19. Jahrhundert einnehmen. Der Grund dafür ist, daß die Beziehung auf bereits gegebene Formen der Wahrnehmung ein Bestandteil jedes Kunstwerks ist. Jedes Kunstwerk gewinnt seine besondere Art der Gestaltung nämlich aus der Abgrenzung gegen Wahrnehmungsformen, die zu der Zeit seiner Herstellung etabliert sind. Das liegt daran, daß das ästhetische Bedürfnis nach der Intensivierung unserer Wahrnehmung es nötig macht, gegen ihre Verfestigung zu einer bestimmten Form anzukämpfen. Die Kunstwerke fordern den Geschmack und damit auch das heraus, was wir für eine gut begründete Einsicht und eine sinnvolle Handlung halten. Daher rühren die erbitterten, über das bloß Ästhetische in Moral, Religion und Wissenschaft ausgreifenden Anwürfe gegen neue Formen der Kunst, die uns aus der historischen Rückschau so kleinlich erscheinen. Daß Kunstwerke wesentlich durch die Auseinandersetzung mit anderen Kunstwerken ihre spezifische Gestalt gewinnen, daß, wie Adorno es formuliert hat "ein Kunstwerk der Feind des anderen ist",25 ist daher nicht in erster Linie in Eitelkeit oder dem Wunsch gegründet, die Vorgänger zu überbieten. Der Grund ist vielmehr, daß die Werke, von denen sich die Künstler absetzen, die besten Repräsentanten etablierter Wahrnehmungsformen sind; will man diese aufbrechen, dann muß man sich mit jenen beschäftigen. Darum bedarf es keiner historischen Kenntnisse, um ästhetische Erfahrungen mit der Kunst zu machen. Ohne die Beschäftigung mit den Bildern Coutures hätte Manet nicht so gemalt, wie er es getan hat; und ohne die Auseinandersetzung mit Stockhausens Musik klängen die Stücke von Wolfgang Rihm anders. Beide wenden sich mit ihrer Kunst jedoch nicht bloß gegen den Stil eines Lehrers, sondern gegen die Seh- und Hörgewohnheiten, die sich im Pathos der akademischen Malerei und im konstruktiven Eifer der seriellen Musik spiegeln. Die ästhetischen Erfahrungen, die wir mit Manets Bildern ebenso wie mit den Kompositionen von Rihm machen, beruhen also nicht auf historischen Kenntnissen, sondern darauf, daß deren Kunst sich an unseren Vorstellungen davon reibt, was wir ,Wahrnehmen' nennen. Dieses Verhältnis zu unseren Wahrnehmungsgewohnheiten ist das eigentliche Maß für die ästhetische Bedeutsamkeit vergangener und zeitgenössischer Kunst. Das schließt ein, daß einmal hochgeschätzte Werke für uns völlig belanglos werden; es schließt aber nicht aus, daß wir an wohlbekannten, zum bloßen Kulturbestand herabgesunkenen Werken neue Entdeckungen machen. 2S

Th. W Adorno. Asthetische Theorie. S. 314 f.

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2. Gleichwohl ist mit der Entwicklung kunstgeschichtlichen Wissens, die sich seit dem 19. Jahrhundert vollzieht, eine neue Situation eingetreten. Die Steigerung der historischen Einsicht als eine Gefahr für ästhetische Erfahrung zu betrachten, scheint mir unangebracht. Zwar muß derjenige, der sich mit den historischen Abhängigkeiten zwischen Künstlern und Kunstschulen, mit dem Wandel von Gattungen oder Stilen oder mit den sozialen Bedingungen künstlerischer Produktion befaßt, die ästhetischen Erfahrungen, die er mit seinen Gegenständen gleichwohl machen kann, hinter das Interesse an wissenschaftlicher Objektivierung zurückstellen. Meine Darlegungen zeigen jedoch, daß ein solches Wissen wieder in ästhetische Erfahrungen eingehen kann. Wir müssen bestimmte Dinge nicht wissen, um ästhetische Erfahrung zu machen; trotzdem können historische Kenntnisse zu ihrer Vertiefung beitragen. Die ästhetische Wirkung, die der erste Akkord des Schlußsatzes von Beethovens 9. Sinfonie hat, erschließt sich uns auch ohne daß wir wissen, wie er zusammengesetzt ist, und doch ist sie intensiver, wenn wir wissen, daß dergleichen bei Mozart nicht möglich gewesen wäre. Auch Einsichten können zum Mittel der Wahrnehmung werden. Problematisch ist die Anhäufung des historischen Wissens viel eher für die Künstler selbst. Wie Nietzsehe in seiner Schrift über den ,,Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" bemerkt hat, lähmt das Wissen um die historische Vielfalt der Stile den kreativen Impuls des Künstlers, weil er nicht mehr weiß, wogegen sich sein ästhetisches Bedürfnis abgrenzt und in welcher Richtung es sich am ehesten befriedigen läßt. Es ist darum kein Zufall, daß die bedeutendsten Künstler unserer Tage die sind, denen entweder eine eigenständige Synthese des immensen historischen Materials oder aber der Rückgang in eine Naivität gelingt, die mit den elementarsten Bedingungen des Schreibens oder MaIens noch einmal von vorne anfangt. Uneingeschränkt hilfreich sind die wissenschaftlich erhobenen Einsichten in die Geschichte der Kunst dagegen für die Disziplin der philosophischen Ästhetik. Kunstgeschichte verweist uns nämlich nicht nur auf die vielfaltigen Abhängigkeiten künstlerischer Produktion, sondern darüber hinaus auch auf den inneren Zusammenhang zwischen philosophischer Ästhetik und der Kunst ihrer Zeit. Die Einsicht in diesen Zusammenhang erlaubt es der heutigen Ästhetik, dem Wandel ästhetischer Erfahrung begrifflich besser gerecht zu werden. Daß uns die Kunst Wahrheiten über die Erfahrungen vergangener Zeiten vermittelt, bedeutet jedoch nicht, daß sie dies auch im Blick auf unsere eigene Zeit tun könnte. Auch für die Philosophie besteht die Bedeutung der zeitgenössischen Kunst allein darin, Wirklichkeit auf neue Weise zu entdecken.

Religion, Theologie und Erfahrung! Von Christian Gremmels

I. "Erfahrung" gehört heute zu jenen Großbegriffen in den Wissenschaften, die in terminologischen, definitorischen und disziplinären Hinsichten einen Grad an Ausdifferenzierung erreicht haben, bei dem allmählich schon wieder unsichtbar zu werden beginnt, was mit der Sache des Begriffs gemeint ist. Auch außerhalb der explizit empirisch ausgerichteten Disziplinen gehört "Erfahrung" - in einer jeweils spezifisch organisierten Bedeutungsgestalt - zu denjenigen Termini, auf die eine scientific community, die auf sich hält, nicht gut verzichten kann. Ähnlich verhält es sich mit der Vielfalt von Erfahrung, wenn wir über die Grenzen der wissenschaftlichen Welt hinaus in den Bereich der vorwissenschaftlichen Lebenswelt eintauchen; kennzeichnend ist hier die Entgrenzung der Erfahrungsräume, durch die ob esoterisch oder virtuell vollzogen - im sinnlichen oder übersinnlichen Bereich immer wieder neue Zonen von Erfahrbarkeit bereitgestellt werden. "Erfahrung" heißt heute: Alles wird Erfahrung, und jede Erfahrung gilt gleichviel wie jede andere; kurzum: "Erfahrung" ist - sowohl im wissenschaftlichen wie im vorwissenschaftlichen Bereich - zu einem semantisch außer Kontrolle geratenen Begriff geworden; und die Frage ist daher die: Wie ist mit einem durch Überbestimmung bestimmungslos gewordenen Begriff umzugehen? Was ist zu tun angesichts der Leere dieses Begriffs? Ein möglicher Ausweg ergab sich, als ich bei der Lektüre von Rüdiger Safranskis Buch über den ,,Meister aus Deutschland" eine Bemerkung Heideggers zitiert fand, besagend, daß die Leere von Begriffen unvermeidlich ist, "wenn wir nicht zuvor ergriffen sind von dem, was sie begreifen sollen"? Von dem in dieser Bemerkung enthaltenen Rat mache ich ganz unheideggerisch dadurch Gebrauch, daß ich dieses "zuvor-Ergriffensein" in der Form einer lebensgeschichtlichen Anamnese auf die älteste der Erfahrungen hin befrage, an die ich mich erinnern kann. Worin bestand diejenige Erfahrung, die - vor den ersten eigenen Erfahrungen lieI Theologischer Beitrag zur Ringvorlesung ,,Die Vielfalt wissenschaftlicher Erfahrung" (WS 1998/1999). Für den Druck wurde die Vortragsgestalt im wesentlichen beibehalten. 2 M. Heidegger. Gesamtausgabe. Ausgabe letzter Hand, Bd. 29/30, S. 9; zit. n. R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt a.M. 1997, S. 219.

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gend - fortan alle eigenen Erfahrungen wie ein Schatten begleitet hat? Ich beschreibe die Szene; sie spielt im Jahr 1947 - und dies ist, was sie zeigt: Ein deutsches Herrenzimmer, ausgestattet mit Ledersesseln; Männer, ehemalige Wehrmachtsoffiziere, vor kurzem aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen, die jetzt in bürgerlichen Berufen sich zurechtzufinden suchen; beratschlagend, was zu tun sei. Und darüber muß es wohl Abend geworden sein, gelockerte Stimmung, Gewirr von Stimmen, auf- und absteigend; denn die, die in diesen Sesseln sitzen, reden und reden - wovon sie reden? Vom Krieg. Wovon denn sonst. Und darunter ist einer, der redet besonders viel ich war damals sechs Jahre alt, und da ich ein Junge war, hatte ich selbstverständlich Zugang, war also dabei, als der Vater den unterbricht, der gar nicht wieder aufhören will mit seinen Reden: "Was du so alles weißt!", sagt der Vater. "Du warst doch nur Kommandant eines rückwärts gelegenen Verpflegungslagers, was hast du schon erfahren!" Darauf setzt ein Gelächter ein, das das Zimmer erfüllt, das gar nicht aufhören will, das eigentlich nie ein Ende gefunden hat. Und diesem Gelächter folgte das Schweigen, ein Schweigen, das über Jahrzehnte aufrechterhalten wurde.

Vor diesem Hintergrund habe ich Goethes rätselhaft formulierte Einsicht "Erfahrung [ist] nur die Hälfte der Erfahrung,,3 stets nur so verstehen können, daß die Erfahrung, die mitgeteilt wird, von der Erfahrung, die gemacht wurde, bereits abgezogen hat, was lebensgeschichtlicher Zensur und sozialer Kontrolle zum Opfer fiel - und eben dies macht Erfahrung zum Gegenstand eines Verdachts; Erfahrung wird verdächtigt, durch Eintragungen der unterschiedlichsten Art immer schon spezifisch interpretierte Erfahrung zu sein; und unter diesen Vorweg-Interpretationen wird die wohl am häufigsten anzutreffende die sein, Erfahrung als Bestätigung einer Überzeugung zu nehmen, von der der Erfahrende stets schon überzeugt war. Wann immer von Erfahrung in einem nicht-empirisch bestimmten Verständnis die Rede ist, wird man sich daher unschwer auf eine Grundeinsicht einigen können, die Hans-Georg Gadamer in "Wahrheit und Methode" so formuliert hat: "Der Begriff der Erfahrung scheint mir - so paradox es klingt - zu den unaufgeklärtesten Begriffen zu gehören, die wir besitzen ...4 Dies unaufgeklärte Moment im Begriff der Erfahrung ist selbstverständlich kein bisher noch nicht geklärtes Moment, so daß Hoffnung bestünde, es ließe sich durch Aufklärung über Erfahrung eines Tages erhellen; nein - das unaufgeklärte Moment 3 J. W. v. Goethe, Maximen und Reflexionen über Kunst, in: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 48 (Schriften zur Kunst. 1800-1806), Weimar 1897, S. 202, 13 -17 (HdV): "Wenn Künstler von Natur sprechen, subintelligiren sie immer die Idee, ohne sich's deutlich bewußt zu sein. Eben so geht's allen, die ausschließlich die Erfahrung anpreisen; sie bedenken nicht, daß die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist. .. 4 H.-G. Gadamer. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Aufl., durch einen Nachtrag erweitert, Tübingen 1965, S. 329. Zur theologischen Variante dieser Einsicht vgl. o. Weber. Grundlagen der Dogmatik, Bd. I, 2. Aufl. Neukirchen 1959, S. 602: "Die christliche Erfahrung ist in sich selber widersprüchlich. Wir glauben nicht auf Grund unserer Erfahrung, sondern trotz unserer Erfahrung - nur freilich so, dass auch dieses ,trotz' innerhalb von ,Erfahrung' in Sicht genommen wird."

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im Begriff von Erfahrung ist ein für Erfahrung konstitutives Moment, so daß - dies vorausgesetzt - die Frage auch nicht ist, wie es beseitigt werden kann, sondern wie dieser Erfahrung der Erfahrung im Umgang mit Erfahrung Rechnung zu tragen ist.

Ein Verstoß gegen einen zuträglichen Umgang mit Erfahrung ist der Rekurs auf die ihr angeblich eignende Evidenz - am häufigsten vorkommend im Gespräch von Angehörigen unterschiedlicher Generationen. Dort die Älteren mit dem verständlichen Wunsch, "daß Erfahrung Bestand haben" möchten; hier, bei den jüngeren, nicht weniger verständlich, der Wunsch, die Freiheit haben zu dürfen, Erfahrungen als eigene "erst einmal [ ... ] machen" zu könnens - nichts ist vergeblicher, als in solchen Konstellationen "Erfahrung" als Argument geltend machen zu wollen. In Thoreaus "Walden"-Roman, jener ersten amerikanischen Zivilisationskritik aus dem vorigen Jahrhundert, heißt es dazu: ,Jedenfalls habe ich rund dreißig Jahre auf dem Buckel und warte noch immer auf den ersten brauchbaren oder auch nur erwägenswerten Rat eines älteren Menschen" - übrigens mit einer Begründung für die Vergeblichkeit dieses Wartens, die unserem Berufsstand Angehörende gewiß sehr nachdenklich werden läßt: "Das Alter", fährt Thoreau fort, "taugt nicht zum Lehrmeister der Jugend, hat es doch mehr eingebüßt als gewonnen.,,6 Dienlicher, als auf Erfahrung selbst sich zu berufen, scheint mir, die Situationen offenzulegen - die Geschichten zu erzählen, in deren Verarbeitung Erfahrung sich bildet. Denn das Ereignis, das der Erfahrung vorausliegt, läßt sich leichter vennitteIn als die Deutung, die ihr folgt; im Zuge lebensgeschichtlicher Zitation von Erfahrung verblaßt der Entstehungszusammenhang, dem diese sich verdankt, so daß eines Tages der auf Erfahrung sich Berufende selbst nicht mehr weiß, was ihm widerfuhr. Hinzukommt, daß in der ,,Erfahrung" die Deutungsarbeit des Subjekts stets mitenthalten ist - und: Da die Transfonnationen, in denen Ereignisrelevanz in Erfahrungsrelevanz umgesetzt wird, kraft des mitbeteiligten subjektiven Faktors ohnehin schwer zu erschließen sind, ist zu erzählen, was mir widerfuhr. kommunikativer, als Erfahrung bloß zu benennen; sie ist deswegen kommunikativer, weil der am Widererfahrnis haftende Schmerz eines anderen Menschen demjenigen, dem davon gesprochen wird - analogiebildend - "Ähnlichkeiten" bewußt werden läßt, durch die das henneneutisch unterstellte "Gemeinschaftliche" im Prozeß des Verstehens sichtbar bzw. mit Händen greifbar wird - und das heißt, daß eine Hermeneutik der Erfahrung gut daran tut, die in der Abbreviatur "Widererfahrnis" angesprochene Vorgeschichte von Erfahrung miteinzubeziehen.

5 D. Mieth, Nach einer Bestimmung des Begriffs ,,Erfahrung": Was ist Erfahrung?, in: Concilium 14/1978, S. 159-167, hier S. 160. 6 Henry D. Thoreau, WaIden oder Hüttenleben im Walde, 2. Aufl. Zürich 1988, S. 14.

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11. In der Theologiegeschichte dieses Jahrhunderts lassen sich zu ,,Erfahrung" und den mit ihr verbunden gedachten Einstellungen zwei grundsätzliche Positionen voneinander unterscheiden. Erfahrung auszuschließen war das Merkmal der "dialektischen Theologie", ihr Einfluß kennzeichnete die theologische Entwicklung bis in die sechziger Jahre. Am prägnantesten hatte Emil Brunner 1921 diesen theologischen Ausschluß von Erfahrung begründet: "Es ist das königliche Vorrecht des Glaubens [ ... ], daß er auf die Berücksichtigung der menschlichen Erfahrung verzichten und sich gleichsam mit bei den Füssen auf das, was jenseits aller Erfahrung liegt, stellen darf. Darum ist zwischen dem Glauben und allem übrigen inneren Geschehen ,eine tiefe Kluft befestigt', eine absolut unüberbrückbare Kluft.,,7 Entsprechend heißt es auch vierzig Jahre später noch bei Rudolf Bultmann: "Wir können nur an Gott glauben trotz der Erfahrung. ,,8 Kein theologisches Programm der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts war erfolgreicher, jedoch war auch keines folgenreicher als der Versuch, im ,,Absehen von allem Menschlich-Psychologischen" und "im prinzipielle[n] und radikale[n] Ignorieren aller inneren Prozesse,,9 die jeder natürlichen Vermittlung sich entziehende absolute Unvermitteltheit des Glaubens durchzusetzen. Folgenreich wurde dieser Versuch durch sein Scheitern; um der Souveränität des Glaubens willen betrieben, kam der offenbarungstheologisch, d. h. gegen jede Gestalt der natürlichen Theologie sich wendende Ausschluß von Erfahrung dem Glauben gerade nicht zugute; denn eine Theologie, die um der Reinheit ihrer Lehre willen sich von allem mit "Erfahrung" verbundenem "Schmutz" reinfegt, konnte kein Gehör haben für die Stimme der Ariadne, die solchem Tun die Melodie vorsingt: "Es gibt ein Reich, wo alles rein ist. Es hat auch einen Namen: Totenreich." Daß der Ausschluß von "Erfahrung" auf Dauer nicht gutgehen konnte, zeigen dann auch jene Klagen, die, nach 1965 beginnend, im Bereich der katholischen und evangelischen Theologie zu einem Chor anschwollen: "Selbst die zentralsten Begriffe der Theologie, Gnade, Heil, Sünde, Gott, sind heute weitgehend zu Vokabeln geworden, unter denen man sich nichts mehr vorstellen kann, die der Erfahrung entbehren. Sie gleichen oft einer Währung, die nicht mehr abgedeckt ist durch die lebendige Erfahrung des Glaubens und des christlichen Lebens inmitten der Geschichte.,,10 Ebenso Gerhard Ebeling: ,,Das Erfahrungsdefizit oder weniger modisch ausgedrückt: der Erfahrungsmangel - bedeutet für die Theologie eine Erkrankung, die tödlich sein kann.,,11 Und schließlich E. Schillebeeckx: ,,Die heutige Krise der [ ... ] Theologie scheint mir [ ... ] die äußerste Leugnung E. Brunner; Erlebnis, Erkenntnis und Glaube, Tübingen 1921, S. 37. R. Bultmann, Jesus Christus und die Mythologie. Das Neue Testament im Licht der Bibelkritik, Hamburg 1964, S. 99. 9 E. Brunner; Erlebnis, Erkenntnis und Glaube, S. 35. 10 W Kasper; Methoden der Dogmatik, München 1967, S. 70. 11 G. Ebeling, Die Klage über das Erfahrungsdefizit in der Theologie als Frage nach ihrer Sache, in: Ders., Wort und Glaube, Bd. III, Tübingen 1975, S. 3 - 28, S. 3. 7

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jedweder Form ,natürlicher Theologie'" zu sein, sie hat zur Folge, daß "zwischen menschlicher Erfahrung und christlichem Glauben" nicht mehr vermittelt werden kann. 12 Die genannten Stimmen stehen hier für die Diagnose der theologischen Krise, als deren Therapie, Mitte der 60er Jahre beginnend, nunmehr der Zugriff auf Erfahrung empfohlen wurde. Seither ist dieser Begriff in die Theologie eingewandert und hat in Sonderheit die Bereiche der Systematischen und Praktischen Theologie erfaßt. ,,Erfahrung" wurde als "Verifikationsprinzip" (G. Ebeling) oder "Kriterium" (W. Mostert) einer als "Erfahrungswissenschaft" (E. Herms) sich begreifenden Theologie aufgefaßt, und dies in einem Ausmaß, daß Theologie - unbeschadet konfessioneller und positioneller Ausdifferenzierung - seither einen "einheitlichen Zug" darin hat, "daß in ihr die Forderung nach Erfahrbarkeit und Erfahrung des Glaubens allgemein erhoben wird und Erfahrung geradezu zu einem theologischen Topos aufgewertet erscheint.,,13 "Zwei Übertreibungen", heißt es bei Pascal: "Ausschluß der Vernunft, nur die Vernunft gelten zu lassen.,,14 Ersetzt man "Vernunft" durch ,,Erfahrung", so sind die beiden Übertreibungen benannt, von denen Theologie in diesem Jahrhundert Gebrauch gemacht hat. Vor diesem Hintergrund erscheint es angemessen zu sein, noch einmal neu nach dem Stellenwert von ,,Erfahrung" im Rahmen von ,,Religion" und "Theologie" zu fragen. Dabei entspricht es guter protestantischer Tradition, wenn eine solche Vergewisserung anhand biblischer Beispiele vorgenommen wird.

12

E. Schillebeeckx, Gott - die Zukunft des Menschen, München/Mainz 1970, S. 66.

13

L. Scheffczyk, Die Frage nach der ,,Erfahrung" als theologisches Verifikationsprinzip,

in: Dienst der Vermittlung. FS zum 25jährigen Bestehen des philosophisch-theologischen Studiums im Predigerseminar Erfurt, hg. v. W. Ernst/K. Feiereis u. a. (EThSt 37), Leipzig 1977, S. 353 -373, hier S. 353. Vgl. als Beispiel für den durch Übergebrauch inflationär werdenden Erfahrungsbegriff die religionspädagogische Forderung, es gelte die Erfahrungen der Schüler so anzusprechen, daß eine ,Jntegration ,einzelner' Erfahrungen in ,Glaubenserfahrungen'" möglich wird; um dieses Ziel zu erreichen, ist es erforderlich, eine "erfahrungsgetragene und erfahrungsoffene und zugleich mit den reflektierten Erfahrungen der Glaubensund Theologiegeschichte belastbare Sprache" zu entwickeln, für die es jedoch keine "sichere Gewähr" gibt. Als unstrittig soll gelten, daß die Religionslehrerinnen und Religionslehrer "auf Grund eigener reicher (Glaubens-, Lebens-) Erfahrungen die Kraft" haben müssen, ,,Erfahrungen ,anderer auszuhalten "'; um die wiederum aushalten zu können, muß der Religionslehrer ,jung bleiben", gilt für ihn doch, "daß er immer wieder in das Feld der ,elementaren' Erfahrungen hinaus muß". (G. Kaufmann, Religionsunterricht: Sprach-Not als Chance, in: W. Beinert/G. Kaufmann u. a., Sprache und Erfahrung als Problem der Theologie, Paderborn 1978,S. 141,S. 134,S. 137) 14 B. Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensees), übertragen und hg. v. E. Wasmuth, Berlin 1937, Fragment 253, S. 134.

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III. Allenthalben wird in der einschlägigen Literatur versichert, es gelte in der Korrelation von biblischer und heutiger Erfahrung das "damals" Erfahrene "heute" erfahrbar zu machen. Angesichts derartiger Versicherungen fragen wir: Wo um alles in der Welt ist denn von "Erfahrung" im Neuen Testament überhaupt die Rede? Im Gleichnis von den "Arbeitern im Weinberg" etwa? Am Beispiel eines Arbeitgebers also, der allen seinen Arbeitern - unabhängig von der Arbeitszeit - den gleichen Lohn gibt? Das wird doch Erfahrung erst werden, wenn das Reich Gottes herbeigekommen ist; solange es aber noch nicht herbeigekommen ist, wird man mit Blick nicht nur auf dieses Gleichnis von "Erfahrung" doch allenfalls in einem hoch-reflexiven Sinn sprechen dürfen; wir haben es mit einer kontrafaktischen Erfahrung zu tun, deren Absicht es ist, im Bild vom "Reich Gottes" die Möglichkeiten dessen, was erfahrbar sein könnte, zur Kritik jener Erfahrung werden zu lassen, die immer nur erfahren, die immer wieder nur in dieser Gestalt erfahren wird. Und da die Gleichnisse des NT nach Auskunft der exegetischen Wissenschaft ja ohnehin nicht von hiesigen, gar ökonomischen oder sozialen Verhältnissen sprechen, kann der Typus von Erfahrung, der in ihrem Zusammenhang vermittelt werden kann, einzig eine experientia in futuris experienda sein: eine Erfahrung, von der zu hoffen ist, daß sie einmal gemacht werden kann. Noch einmal also: In welchem Sinn soll denn im Neuen Testament von Erfahrung die Rede sein? Zunächst einmal wird in aller Nüchternheit der historisch-kritische Befund zur Kenntnis genommen werden müssen, daß in den neutestamentlichen Schriften der Begriff der ,,Erfahrung" so gut wie überhaupt nicht vorkommt. Zwar gibt die deutsche Konkordanz für die revidierte Luther-Übersetzung zum Verb "erfahren" eine Handvoll Stellen an,15 bei denen YLVc.OOXELV (Joh 13,7; Apg 17,19, Eph 6,22; 1 Thess 3,5) bzw. E3nYLvc.OoxELV (Lk 1,4) oder xu'tw..UIJ.ßavELv (Apg 10,34) mit "erfahren" übersetzt wird. Für das Substantiv ,,Erfahrung", das mit nur einer Referenz ausgewiesen ist (Phil 1,9), steht im Griechischen äi.a3TJo~; Die beiden einzigen für ,,Erfahrung" wirklich relevanten Stellen im Neuen Testament 16 werden dagegen nicht mit "Erfahrung" übersetzt; an beiden Stellen (Hebr 11,29 und 11,36) wird von dem im klassischen Griechisch geläufigen Wort 1tELQU Gebrauch gemacht: Peira, das ist die Probe, der Versuch und die aufgrund von Erprobung und Versuch zuteil gewordene Erfahrung; und 1tELQU ('tLVOC;) A.UIJ.ßavELv ist daher die Erfahrung, die mit etwas gemacht wird. In diesem Sinn heißt es Hebr 11,29: ,,Durch den Glauben gingen sie durchs Rote Meer wie über trockenes Land; das versuchten die Ägypter auch und ertranken." Im Trübnerschen Lexikon findet sich als Zusammenfassung älterer Bedeutungsschichten von ,,Erfahrung" der lapidare Eintrag: ,,Meist handelt es sich um etwas 15

Wortkonkordanz zum revidierten Luthertext, Stuttgan 1981, S. 167.

16 Vgl. hierzu: H. Seesemann, Art. ,,:rtEiQa Xt)." in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen

Testament, Bd. VI, S. 23-37.

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Unangenehmes.,,17 Das wird jetzt nicht als Kommentar zur Erfahrung der Ägypter zitiert, sondern als Hinweis, daß zu "Erfahrung" in einem ursprünglichen Sinn das Moment des "Schmerzlichen" und "Erleidens" gehört - etwas "Unangenehmes", das entsteht, wenn etwas Unerwartetes eintritt; denn: "Erfahrung ist nie das reine, unmodifizierte Eintreffen des Erwarteten". 18

IV. Gehen wir von der lexikalischen Bestimmung des neutestamentlichen Erfahrungsbegriffs zur Sache von Erfahrung im Neuen Testament über, so bietet sich ein anderes Bild, und zwar gerade dann, wenn wir dabei der einleitend formulierten hermeneutischen Empfehlung Rechnung tragen, indem wir zum Verständnis von Erfahrung auf die Vorgeschichte von Erfahrung eingehen; thematisch heißt das, daß wir - um von Erfahrung im Rahmen der neutestamentlichen Urgmeinde sprechen zu können - zunächst deren Erwartungen in den Blick nehmen müssen; und was sie angeht, sind wir in der glücklichen Lage, auf exegetisch unstrittige Sachverhalte verweisen zu können: Übereinstimmung besteht jedenfalls darin, daß die Erwartung des nahe herbeigekommenen Gottesreiches im Zentrum der jesuanischen Botschaft steht, Mk 1,31: "Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium." Die Vorstellung vom kommenden Reich Gottes verband sich nach dem Tode Jesu mit der Erwartung des wiederkommenden Christus, dessen Eintreffen von der ersten Generation noch zu ihrer Lebenszeit erwartet wurde. ,,Maranata" betete die Urgemeinde, "unser Herr kommt" ( 1 Kor 16,22; vgl. Offenb. 22,20). Die Vorstellung von der Wiederkehr des Menschensohnes ist für die Urgemeinde mehr als nur Inhalt des Glaubens, sie ist dessen motivierende Voraussetzung - stark genug, in der Bewegung des "frühchristlichen Wanderradikalismus" eine Sozialform reiner Erwartung zu verwirklichen: Jüngerinnen und Jünger Jesu, die in der unmittelbaren Nachfolge ihres Herrn die auf Dauer hin angelegten Institutionen von Familie und Besitz hinter sich ließen. 19 Die urchristliche Religion ist eine Religion der Erwartung - einer Erwartung, die ins Leere lief, die Parusie blieb aus; genauer noch: Die christliche Religion ist in ihrem Anfang eine Religion durchkreuzter Erwartung. Das Ausbleiben der Parusie bewirkte jene Ent17 Trübners Deutsches Wörterbuch, hg. v. A. Götze, 2. Bd., Berlin 1940, S. 218; zit. n. O. F. Bollnow, Was ist Erfahrung?, in: R. E. Vente (Hg.), Erfahrung und Erfahrungswissenschaft. Die Frage des Zusammenhangs wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung, Stuttgart 1974, S. 19-29, hier S. 20. 18 N. Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a.M. 1971. S. 42; zit. n. O. F. Bollnow, Was ist Erfahrung?, S. 21. 19 V gl. dazu: G. Theißen, Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums (Theologische Existenz heute, Nr. 194), München 1977.

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täuschung, die als Grunderfahrung der christlichen Religion diese zugleich nötigte, sich auf das Fortbestehen der Welt einzulassen, mithin historisch sich als Kirche zu organisieren: Kirche ist Institution zur Abarbeitung von Enttäuschung; und Kirche war gut beraten, sich mit der Theologie eine Wissenschaft beizugesellen, die nun begründbar zu machen hatte, warum in der fortbestehenden Zeit Christinnen und Christen Hoffnung haben sollen aufgrund enttäuschter Hoffnung. Als neutestamentliches Beispiel für den unauflöslichen Zusammenhang von Religion, Theologie und Erfahrung kann der 2. Petrusbrief herangezogen werden. In dieser um die Mitte des 2. Jahrhunderts entstandenen pseudoepigraphischen Schrift eines unbekannten Verfassers werden Leute zitiert, die unschwer als Anwälte der beschriebenen Enttäuschungserfahrung erkennbar sind: "In den letzten Tagen werden Spötter voller Spott auftreten, die nach ihren eigenen Leidenschaften wandeln, und sagen: Wo ist die Verheißung seiner Parusie? Denn seit die Väter entschlafen sind, bleibt alles so seit dem Beginn der Schöpfung." (2. Petr 3,4) "Spötter", die sich von ihren "eigenen Leidenschaften" treiben lassen, werden die genannt, die mit dem Ausbleiben der Parusie "ein grundsätzliches Problem des frühen Christentums,,20 ansprechen! Schon im Kapitel davor wurden sie in einer alles Maß verlierenden Polemik mit "Tieren" verglichen, die "von Natur dazu geboren sind, daß sie [ ... ] geschlachtet werden" (2 Petr 2,12). Die Maßlosigkeit dieser Aburteilung darf als Indiz für die Aktualität des Problems genommen werden, das hier vorgetragen wird. Denn die Frage "Wo ist die Verheißung seiner Parusie?" besagt: Warum ist das von uns Erwartete für uns noch nicht zur Erfahrung geworden? Nichts hat sich geändert; schon sind "die Väter", die der ersten Generation Angehörenden, entschlafen; tot sind bereits die, denen die Zeugenschaft der Parusie doch verheißen war. Statt des erhofften Neuen, Wiederholung auf Wiederholung dessen, was wir kennen; nichts hat sich geändert; seit Anbeginn der Schöpfung ist alles beim Alten geblieben. Die daraufhin erfolgende theologische Antwort des Briefes lautet: "Dies eine soll euch nicht verborgen bleiben, Geliebte, daß ein Tag bei dem Herrn wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag sind." (2 Petr 3,8) Die Zeitrechnung des Menschen wird durch die Zeit Gottes außer Kraft gesetzt; was "Verzögerung der Parusie" genannt wird, ist keine Verzögerung, denn: Gott ist nur "Iangmütig gegen euch, weil er nicht will, daß einige untergehen, sondern alle zur Umkehr gelangen." (2 Petr 3,9; vgl ebenso I Tim 2,4). Im hier entwickelten Gedanken von der I-LaxQo'I'hJl-Lla,21 der "Langmut" Gottes, ist Theologie der ihr in der Abarbeitung von Enttäuschung erwachsenden Aufgabe nachgekommen. Der Atemlosigkeit urchristlicher Erwartungserwartung wird im 20 Der Zweite Petrusbrief und der ludasbrief. Übersetzt und erklärt von H. Paulsen (Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, begründet von H. A. W Meyer, Bd. XII/2), Göttingen 1992, S. 157. Vgl. auch: E. Käsemann. Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1,4. Auf!. Göttingen 1965, S. 135 -137. 21 Zum jüdisch-theologischen Hintergrund des Begriffs vgl. F. Horst, Art ... I1UKQo'I'hJI1La K't).", in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. IV, S. 377 - 390.

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Namen des längeren Atem Gottes widersprochen. Das zwischen der Erfahrung ausgebliebener Parusie und der auf sie Bezug nehmenden Theologie der "Langmut Gottes" bestehende Entsprechungsverhältnis setzt sich fort in der jetzt entstehenden Religion des Frühkatholizismus, die ihren spezifischen Ausdruck in dem weder bei Paulus noch bei den Synoptikern vorkommenden Begriff der "Frömmigkeit" erhält (2 Petr 1,3; 1,6; 3,11). ,,Frömmigkeit" wird zum Kriterium einer Religion, die von der entstehenden Kirche auf die "vorhandene Wahrheit" (2 Petr 1,12) eingeschworen wird. Aus der "eschatologischen Gemeinde der Entweltlichten" (R. Bultmann) wird eine Institution, die - auf die "Langmut Gottes" sich berufend - in der Bewahrung des Bewährten sich auf Dauer einzurichten beginnt. Die kurze Skizze des Begriffs "Langmut" steht hier für die Einsicht, daß christliche Theologie sich von Anfang an als ..Gelegenheitstheologie" entfaltet: sie nimmt sich der in ihrer jeweiligen Zeit als unabweisbar geltenden historischen Erfahrungen an, indem sie auf das von ihnen angefochtene religiöse Bewußtsein solange interpretativ beruhigend einzuwirken versucht, bis dieses die Gewißheit zurückerhält, trotz allem mit der koexistenten Erfahrung der Zeit kompossibel zu sein. In dem Maße aber, in dem sich die Geltung derartiger theologischer Ausgleichs- und Vermittlungsbegriffe durchsetzt, tritt die Erinnerung an ihre Genese zurück. So auch hier: Die Geschichte des Begriffs "Langmut" wurde im Zuge seiner theologischen Metaphysizierung zur "Eigenschaft Gottes,,22 gleichsam "vergessen"; darin teilt dieses attributum dei das Schicksal aller anderen Attribute, dies gilt vorzüglich für das der "Allmacht Gottes", das im folgenden Abschnitt auf diejenige historische Konstellation von "Erfahrung" und "Religion" hin durchsichtig gemacht werden soll, der es sich verdankt.

v. Noch immer findet sich die Behauptung: "Die Rede von Gott als dem Allmächtigen ist [ ... ] durch die biblischen Schriften vorgegeben.,,23 Dies aber ist nicht der Fall. Für das Erste Testament gilt: "die hebräische Sprache der Bibel hat kein Wort für den ,Allmächtigen' ".24 Die Vorstellung von der ,,Allmacht" Gottes kommt erst 22 Die Lehrsysteme der protestantischen Orthodoxie unterscheiden bei den "Eigenschaften Gottes" zwischen Attributen des göttlichen Seins, Wissens und Willens; zu letzteren gehören ..sanctitas", ..amor" und "justitia", die sich als "Gerechtigkeit Gottes" in Gestalt seiner ,,Langmut" ("longanimitas") ausdifferenziert. Vgl. z. B.: Hutterus redivivus. Dogmatik der Evangelisch-Lutherischen Kirche, 12. Aufl. Leipzig 1883, S. 121. 23 W Härle, Dogmatik, Berlin/New York 1995, S. 258. 24 P. Eicher, Der Allmächtige. Von der Faszination der Gewalt, in: K. Hofmeister I L. Bauerochse (Hg.), Bekenntnis und Zeitgeist, Würzburg 1997, S. 46. Vgl. auch: R. Feldmeier, Nicht Übermacht noch Impotenz, in: W. H. Ritter I R. Feldmeier u. a., Der Allmächtige. Annäherungen an ein umstrittenes Gottesprädikat, 2. Aufl. Göttingen 1997, S. 13-42; insbes. S. 20- 30: ..Die alttestamentlich-jüdische Tradition".

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im 3. und 2. vorchristlichen Jahrhundert, mithin relativ spät zum Durchbruch, und zwar im Zuge der Septuaginta-Übersetzung, die die hebräischen Gottesnamen "Gott Zebaoth" (wörtlich: "Gott der Heerscharen") und "EI Schaddaj" (wörtlich: "Gottes schreck") durch :rcavtOxQu"twQ übersetzt. Mit "Pantokrator" ist nun allerdings der "Allmächtige" gemeint, und eben dieser Ausdruck findet sich dann später auch in der Literatur des griechischsprechenden Frühjudentums, so z. B. in den apokryphen - zwischen 175 und 63 vor Christus entstandenen Makkabäerbüchern. Sie gehören einer Zeit an, in der die Juden "im Kontext von Feindbedrängnis und Feindabwehr,,25 politisch-staatliche Eigenständigkeit gegen Fremdherrschaft durchzusetzen versuchen. In den Worten von Peter Eicher: "Der Feind schien diesen Verteidigern der väterlichen Religion so übermächtig, daß sie in ihrer militärischen und psychischen Ohnmacht zur himmlischen Übermacht um Hilfe riefen. Aus höchster religiöser Scheu vermieden sie es zwar, den Namen Gottes auszusprechen. Aber in ihrer verzweifelten Suche nach der Rettung [ ... ] flehten sie im öffentlichen Kult und im persönlichen Beten jetzt doch erstmals zum ,pantokrator', zum allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde. Judas Makkabäus feuert seine Truppen zum Angriff an: ,Jene [ ... ] vertrauen auf Waffen und Waghalsigkeit, wir aber bauen auf den allmächtigen Gott. Durch ein Nicken seines Kopfes vermag er unsere Feinde und die ganze Welt niederzustrecken' (2 Makk 8,18).,,26 Was nun weiterhin die Schriften des neuen Testaments angeht,27 so gilt hier: "allmächtig", der "Allmächtige", ,,Allmacht Gottes" kommt bei den Synoptikern nicht vor, nicht in der Apostelgeschichte, nicht im Johannesevangelium, nicht bei Paulus,28 einzig die Johannes-Apokalypse weist Gott "Allmacht" als Eigenschaft zu: Die Belegstellen (1,8; 4,8; 11,17; 15,3; 16,7.14; 19,6.15; 21,22) spiegeln Erfahrungen wider, die in bestimmter Hinsicht denen vergleichbar sind, die für das Aufkommen der Allmachtsvorstellung zur Zeit der Makkabäeraufstände nachzuweisen sind. Die wahrscheinlich gegen Ende der Regierungszeit Domitians (81-96) entstandene Apokalypse des Johannes beschreibt eine Situation, in der Christen sich in einer Lage der Ohnmacht, Rechtlosigkeit und Unterdrückung befinden; sie erleiden Verfolgung, sie werden in den Arenen des Kaisers getötet. In dieser Situation beschwört der "Seher" der Johannesapokalypse die vergeltende Macht eines göttlichen Beistands, Apokalpyse 19,15 (HdV): "Aus seinem Mund kam ein scharfes Schwert; er wird die Völker mit ihm schlagen. Er beherrscht sie mit eisernem Zepter und tritt Wein im Kelter, den Wein der Rache und des Zorn, den Wein des allmächtigen Gottes." Entmachtung der römischen Macht, der Macht des Kaisers in Rom, durch die mächtigere Macht des allmächtigen Gottes. Im Leiden stehend, der Gewalt unterworfen, wird lobpreisend das Ende der Leiden vorweggenommen: R. Feldmeyer, Nicht Übermacht noch Impotenz, S. 26. P. Eicher, Der Allmächtige, S. 48. 27 Vgl. hierzu die Übersicht zum Neuen Testament bei R. Feldmeyer, Nicht Übermacht noch Impotenz, S. 31-35. 28 Mit der Ausnahme von 2 Kor 6,18, einem Septuaginta-Zitat aus 2 Sam 7,8 innerhalb eines Abschnitts, dessen paulinische Verfasserschaft exegetisch umstritten ist. 2S

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"Wir danken dir Herr, allmächtiger Gott, der du bist und der du warst, daß du an dich genommen hast deine große Macht und herrschest." (Apk. 11,17; HdV) Auch die Macht des Kaisers ist von Gott verliehene Macht. Jetzt aber wird Gott seine dem Kaiser geliehene Macht wieder an sich nehmen: "sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babyion, die Große" (Apk 18,2), "die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden". (Apk 17,5) Die politische Entmythologisierung, die hier im Code der Sprache der verfolgten christlichen Gemeinde vorgenommen wird, überbietet die bestehenden Machtverhältnisse in der Hoffnung auf den allmächtig handelnden Gott. Aus der Bedrängnis der römischen Christenheit erhebt sich so der Jubel der Gläubigen: "Halleluja! Denn der Herr, unser Gott, der Allmächtige, hat das Reich eingenommen." (Apk 19,6; HdV). Die voranstehenden Bemerkungen lassen erkennen, daß wir es bei der Allmachtseigenschaft Gottes nicht mit einer indikativischen, sondern mit einer optativen Aussage zu tun haben. Die situationslos-objektivierend verwandte Feststellung "Gott ist allmächtig" ist durch ihre bekennend-assertorische Gestalt zu ersetzen, deren religiöser Ausdruck das Gebet ist: Gott möge sich als mächtiger als alles andere erweisen?9 Ich möchte diesen Abschnitt mit zwei Überlegungen abschließen, die sich als Konsequenz des bisher Gesagten nahelegen: Erstens: Wenn "Allmacht Gottes" auf die Vorstellung hinausläuft, daß bei Gott kein Ding unmöglich ist, dann "ist eben dies die Zerstörung jeden möglichen Kontexts von Erfahrung".3o Zweitens: Als vor Jahren Gitta Sereny Franz Stangl, den ehemaligen Kommandanten von Treblinka, fragte: "War Gott in Treblinka?", da lautete dessen Antwort: ,,Ja. Wie hätte es sonst geschehen können.,,31 Stets haben sich auf den ,,Allmächtigen" auch die berufen, die es gewesen sind, um damit zu sagen, daß sie es nicht gewesen sein können, weil: Wenn sie es gewesen wären, dann wäre doch der nicht, ohne den nichts geschieht. Daher: Wenn "Allmacht Gottes" auf die Vorstellung hinausläuft, daß Gott als der Allmächtige der Lenker der Geschichte ist, dann bedeutet dies die Aufhebung jeden Begriffs ethischer Verantwortung. 29 Diese These kann ihrerseits als Kommentar zu M. Luthers Erklärung zum ersten Gebot im "Großen Katechismus" von 1529 gelesen werden; vgl.: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 5. Aufl. Göttingen 1963, S. 560, 9-24: "Was heißt ein Gott haben oder was ist Gott? Antwort: Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben, wie ich oft gesagt habe, daß alleine das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abgott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch Dein Gott recht, und wiederum, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott. Worauf Du nun, (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott." 30 G. Bader, Melancholie und Metapher. Eine Skizze, Tübingen 1990, S. 49. 31 "War Gott in Treblinka?" Bekenntnisse eines Biedermanns. Franz Stangl gibt zu Protokoll", aufgezeichnet von G. Sereny. in: Die Zeit, Nr. 44 vom 29. 10. 1971, S. 10. Vgl. auch: Dies.: Am Abgrund: Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka, überarbeitete Neuausgabe, Müchen 1995.

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VI. "Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen,,32 - in Analogie zu diesem Satz Ludwig Wittgensteins ist zu sagen, daß auch die Welt der Erfahrung eine andere ist als die Welt der Interpretation von Erfahrung; jene ist die der Religion, diese ist die der Theologie. Ist das so, so ist der Theologie gerade darin kein Vorwurf zu machen, daß sie nicht das Subjekt derjenigen Erfahrungen ist, von denen sie spricht; abgesehen davon, daß sie oft vorgibt, es dennoch zu sein, gilt Kritik einzig dem Umstand, daß das Subjekt historischer und religiöser Erfahrungen, der in die Geschichten seines Lebens verstrickte Mensch, in den theologischen Weltdeutungen seine eigene Lebenswelt nicht wiedererkennt. Es ist daher nicht der "Erfahrungsmangel", an dem Theologie leidet, sondern der mangelnde Umgang mit Erfahrung, der doktrinal eingeschränkte und positioneIl verstellte Blick der Erfahrungserfassung, der ins Gewicht fällt. Vor diesem Hintergrund täte Theologie gut daran, beschleunigt den Rückgang auf die historische und religiöse Lebenswelt anzutreten, um so dazu beizutragen, die Kluft zwischen ihren Denkakten und den Lebensakten, derer, um derentwillen sie ist, zu verringern. "Erfahrung ist, wenn einer wohl versucht ist, und kann davon reden, als einer der da bey gewesen ist. ,,33 Luther selbst hat diese Einsicht stets bedacht, denn seine theologischen Begriffe - "Rechtfertigung", "Gnade", "neues Leben" - tragen unvertilgbar die Spuren der lebensgeschichtlichen Erfahrung von Angst, Zweifel und Gewissensquai, der sie ein Ende setzen. 34 Thetisch formuliert: Theologische Begriffe sind resultative Begriffe und als solche können sie nicht ohne Explikation ihrer auf Erfahrung beruhenden Voraussetzungen sinn- und nachvollziehbar in Geltung gesetzt werden. Mit dieser Erinnerung an Luther wäre die gegenwärtige evangelische Theologie eingeladen, sich auf die alle Erfahrung sprengende Erfahrung dieses Jahrhunderts einzulassen, für die Lessings Faust-Fragment und die in ihm enthaltene Beantwortung der Frage "Was heißt Erfahrung?" als literarisches Vorspiel gelesen werden kann: ,,Faust unter seinen Büchern bei der Lampe. Schlägt sich mit verschiednen Zweifeln aus der scholastischen Weltweisheit", so beginnt der erste Aufzug; es folgt die Beschwörung des Teufels, der Faust in der Gestalt des Aristoteles begeg32 L. Wittgenstein, Tractatus-Iogico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a.M. 1963, S. 113 (Satz 6.43). 33 M. Luther; Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Weimar 1883 ff. (zitiert: WA), Abt. Deutsche Bibel, Bd. 7; 43 (Neue Glosse 5,4). 34 Vgl. z. B. WA 41; 582, 37 -42 (Predigten des Jahres 1536. Nr. 16 vom 14. Mai 1536): "Was hätte ich selbst darum gegeben in meiner Finsternis, wenn mich jemand erlöst hätte [ ... ] von der Marter und Angst meines Gewissens [ ... ]. Ich wäre auf der Erde gekrochen bis an das Ende der Welt." Zum Begriff der "Erfahrung" bei Luther: H. M. Müller; Erfahrung und Glaube bei Luther, Leipzig 1929; S. Degkwitz, Wort Gottes und Erfahrung. Luthers Erfahrungsbegriff und seine Rezeption im 20. Jahrhundert (Beiträge zur theologischen Urteilsbildung Bd. 6), Frankfurt a.M. 1998.

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net; Aristoteles aber, der sonst auf die "spizigisten Fragen" zu antworten weiß, ist heute müde. Faust spricht darauf die Beschwörungsformel ein zweites Mal; und diesmal erscheinen die sieben Geister der Hölle: "Ihr? Ihr seid die schnellesten Geister der Hölle? [ ... ] Seid ihr alle sieben gleich schnell? [ ... ] Und welcher von euch ist der schnelleste?" Darauf geben sie eine Probe ihres Könnens. Doch die Antworten - so schnell wie die Pfeile der Pest, so schnell wie die Hügel des Windes, die Strahlen des Lichts, die Gedanken des Menschen, die Rache des Rächers stellen Faust nicht zufrieden. Faust fragt den siebenten und letzten Geist: "Faust: [ ... ] Wie schnell bist du? Der siebente Geist: Unzuvergnügender Sterblicher, wo auch ich dir nicht schnell genug bin --Faust: So sage, wie schnell? Der siebente Geist: Nicht mehr und nicht weniger, als der Übergang vom Guten zum Bösen. Faust: Ha! du bist mein Teufel! So schnell als der Übergang vom Guten zum Bösen! - Ja, der ist schnell; schneller ist nichts als der! - Weg von hier, ihr Schnecken des Orkus! Weg! - Als der Übergang vom Guten zum Bösen! Ich habe es erfahren, wie schnell er ist! Ich habe es erfahren !,,35

Für einen solchen Übergang - den der Kultur in Barbarei - steht in diesem Jahrhundert, was von Theodor W. Adorno mit dem Satz "Auschwitz war.,36 benannt wurde. Was niemals zuvor jemals für möglich gehalten wurde,37 gehört seitdem zur historischen Erfahrung, deren variierende Wiederholbarkeit als die andere Möglichkeit fortan theologisch mitzubedenken ist bei allem, was uns möglich ist.

35 G. E. Lessing, Gesammelte Werke in zehn Bänden, hg. v. P. Rilla, Bd. 11: Dramen, Dramenfragmente, 2. Auf!. Berlin / Weimar 1968, S. 553 - 559. 36 Th. W Adorno. Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt a.M. 1969, S. 85. 37 "Hier ist etwas geschehen, was bis dahin niemand auch nur möglich halten konnte. Hier ist an eine tiefe Schicht der Solidarität zwischen allem, was Menschenantlitz trägt, gerührt worden; die Integrität dieser Tiefenschicht hatte man bis dahin - trotz aller naturwüchsigen Bestialitäten der Weltgeschichte - unbesehen unterstellt. Ein Band von Naivität ist damals zerrissen worden [ ... ]." (J. Habermas, Die Moderne - ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977 -1990, Leipzig 1990, S. 161 f.; vgl. hierzu: ehr. Gremmels. Bonhoeffer, The Churches, and Jewish-Christian Relations, in: Union Seminary Quarterly Review 46/1992, S. 295 - 305).

Das Mirakel von Giwon Wissenschaft und Wunder im jüdischen Denken von Maimonides bis Spinoza Von DanieI Krochmalnik Reiner Wiehl zum 70. Geburtstag Wir haben oder wir machen Erfahrungen. Die Erfahrungen, die wir haben, sprechen gegen die Erfahrungen, die wir machen, und die Erfahrungen, die wir machen, sprechen gegen die Erfahrungen, die wir haben. Und doch können wir Erfahrungen nur machen, weil wir Erfahrungen haben, und die Erfahrungen, die wir haben, bestehen aus Erfahrungen, die wir gemacht haben. Wir erwarten, daß sich unsere alten Erfahrungen ständig wiederholen, und machen immer wieder neue Erfahrungen. Die gewohnten Erfahrungen kommen uns so vor wie der natürliche Lauf der Dinge, die unheimlichen Erfahrungen wie die einmaligen Ereignisse der Geschichte. Der Erfahrungsschatz des alten Israel ist in den biblischen Weisheitsbüchern gesammelt, und ihr Motto könnte der Spruch des abgeklärten Königs von Jerusalem sein: "Es gibt nichts Neues unter der Sonne" (Koh 1, 5 u. 9), seine neuen Erfahrungen sind hingegen in den biblischen Wundergeschichten überliefert, und als ihr Motto könnte die Überraschung angesichts der Unterbrechung des Sonnenlaufs dienen: "Und es ward kein Tag diesem gleich, weder vorher noch nachher" (Josua 10, 12-14). Weisheit und Wunder prallen in der Bibel aufeinander, so z. B. in der Geschichte der zehn Plagen. Die hebräischen Sklaven sehen die Wunder als Zeichen des Umsturzes, während sie die ägyptischen Weisen - deren Weisheit freilich zur Torheit wird - als normale Erscheinungen betrachten, die sie bis zu einem gewissen Grad sogar reproduzieren können. Der Gegensatz von Weisheit und Wunder sollte sich noch verschärfen, nachdem die griechischen Weisen den Naturbegriff eingeführt haben und das Wunder nicht mehr ein Problem der Hermeneutik, sondern der Physik geworden war. Allerdings bricht dieser Gegensatz zwischen Weisheit und Wunderglaube nicht erst im Konflikt mit den fremden Weisheiten, sondern in der israelitischen Weisheit und dem Wunderglauben selber auf. Die Gewißheiten der Weisheit werden z. B. durch die individuelle Leidenserfahrung erschüttert. In ihrem Licht lernt Hiob die Schöpfung neu sehen, nicht mehr als gesicherte, sondern als eine von den Kräften des Chaos ständig bedrohte Ordnung, gleichsam als dauerndes Wunder. Umgekehrt wird auch der Wunderglaube durch falsche Zeichen falscher Hoffnung falscher Propheten erschüttert und muß sich vor einer Art Weisheit der Wunder ausweisen. Wir wollen hier jedoch den Gegensatz

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von Weisheit und Wunder im nachbiblischen jüdischen - und gelegentlich auch christlichen - Denken an den Deutungen der erwähnten Stelle aus dem Josuabuch verfolgen. Dieses Beispiel eignet sich besonders gut, um die Dialektik der Struktur- und Antistrukturerfahrungen darzutun, weil hier die historische Singularität in den Bereich kosmischer Periodizität hineingetragen wird. Im Grunde scheint es nur die Alternativen zu geben, entweder die Wunder- oder die Ordnungserfahrung zu negieren. Doch solange die Offenbarung und die Natur als Erfahrungsquellen der Wahrheit galten, wich man dem offenen Konflikt aus: Entweder wurde die Bibel der Wissenschaft angepaßt und das Wunder als Sinnestäuschung oder als Redensart eskamotiert, oder die Wissenschaft wurde der Bibel angepaßt und ihre Aussagen skeptisch kritisiert, oder beide wurden affirmiert und ihre Aussagen relativiert. Diese drei Umgangsweisen mit dem Wunderbericht können grosso modo auch drei Epochen zugeordnet werden: Die erste ist typisch für den mittelalterlichen Aristotelismus im Anschluß an Moses Maimonides, die zweite für den spätmittelalterlichen Fideismus im Anschluß an Chasdai Crescas und die dritte für den neuzeitlichen Dualismus von Glauben und Wissen, der bei Baruch Spinoza seinen klassischen Ausdruck fand.

I. Der Tag von Giwon in Bibel und Talmud Jedes Wort, jedes Detail des Wunderberichts wurde in der Interpretationsgeschichte ausgeschlachtet. Darum ist es wichtig, sich seinen Wortlaut und die Umstände des Mirakels genau einzuprägen. Bei der Schlacht von Giwon besiegte Josua eine feindliche Koalition, die die mit ihm verbündete Stadt Giwon bedroht hatte. Auf ihrem Rückzug wurden die Feinde von einem verheerenden Hagel geschlagen und Josua wollte ihre versprengten Reste noch vor Anbruch der Dunkelheit aufreiben. Er bat "vor den Augen Israels: Sonne halt still in Giwon, und Mond, im Tale Ajalon!" Die Bibel fährt fort: "Da stand die Sonne still und der Mond blieb stehen, bis sich das Volk an seinen Feinden gerächt hatte. Ist dies nicht geschrieben im Buch des Redlichen? Die Sonne stand mitten am Himmel [oder auch: in der Hälfte des Himmelskreises] und beeilte sich nicht unterzugehen, fast einen ganzen Tag [oder auch: wie am längsten Tag]. Und es ward kein Tag diesem gleich, weder vorher noch nachher, daß der Herr so auf die Stimme eines Menschen hörte; denn der Herr kämpfte für Israel" (Josua 10, 12-14). Josua hält die Weltuhr an, um den Befreiungskampf Israels zu vollenden. Der Fall steht in der Bibel nicht ganz einzigartig da: Als Zeichen der Genesung eines Königs, des Aufschubs seines Todes, ging z. B. nach 2 Könige 20, 8 - 10 und Jesaja 38, 8 eine Sonnenuhr zurück. Doch scheint auch der Bibel das Josuawunder unheimlich zu sein, und sie beruft sich etwas unsicher auf ein anderes Buch. I Ein so massiver Eingriff in die Ordnung der I Zur traditionellen Identifizierung dieses Buches vgl. BerRab zu I Gen I, 18 u. bAwSa 25a. Bei der Zitierung der rabbinischen Literatur folgen wir in der Regel dem Abkürzungsverzeichnis der Frankfurter Judaistische(n) Beiträge 1 (J 974).

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Dinge widerspricht in der Tat auch biblischen Auffassungen, wie sie in jenem schon erwähnten von der ewigen Wiederkehr des Gleichen zum Ausdruck kommt: "Die Sonne geht auf und die Sonne geht unter und läuft an ihren Ort, daß sie dort wieder aufgehe ... es geschieht nichts Neues unter der Sonne" (Koh 1,5 u. 9). Obwohl auch Rabbinen mit dem Prediger den Satz von der Erhaltung der Naturordnung behaupten, 2 hat der Talmud das Wunder von Giwon nach Kräften vermehrt. 3 Aus den bei den ersten Angaben im Vers: "Die Sonne stand mitten am Himmel (oder: in der Hälfte des Himmelskreises) und beeilte sich nicht unterzugehen, fast einen ganzen Tag" schließt er, daß es zwei Wunder gegeben haben muß: eines am Mittag und eines am Abend und aus der letzten Angabe die unterschiedliche Dauer der Wunder, nämlich entweder sechs Stunden am Mittag und sechs am Abend, oder je zwölf Stunden, oder zwölf und - wenn man die Angabe: "fast einen ganzen Tag" nur auf den Abend bezieht - vierundzwanzig Stunden ..Im ersten Fall hätte der "ganze" Tag von Giwon vierundzwanzig, im zweiten sechsunddreißig, im dritten insgesamt achtundvierzig Stunden gedauert. Mit ihrer frechen Übertreibung der Macht Josuas über die Sonne setzen die Rabbinen freilich nur eine Tendenz des biblischen Schöpfungsberichtes fort, der der Sonne ihren Nimbus genommen und sie zur funktionellen "Himmelsleuchte" im Dienst des Menschen degradiert hat (1 Mose I, 14). Manche Ausleger haben das hebräische Wort für Sonne "Schemesch" sogar vom Wort "Schamasch " ("Diener") abgeleitet. 4 Ein sehr eindrucksvolles rabbinisches Gleichnis illustriert die Überlegenheit des Menschen über die Sonne: "Der Fußballen des ersten Menschen", heißt es dort, "verdunkelte die Sonnenkugel (Galgal Chamah), um wievieJ mehr der Glanz seines Angesichtes! Wundere dich nicht darüber, gewöhnlich wenn ein Mensch Schüsseln (Diskari) macht, eine für sich und eine für sein Haus, so macht er wohl seine schöner als die andere, so war auch der erste Mensch zum Dienste Gottes erschaffen und die Sonnenkugel zum Dienste der Geschöpfe."s So gehorcht die Sonne auch dem vollkommenen Menschen Josua, der nicht nur die irdischen, sondern auch die himmlischen Heerscharen befehligt und nicht nur die Heiden, sondern auch ihre sichtbaren Götter besiegt. 6 Eine ganze Reihe von Midraschim schildert gleichwohl auch den Einspruch 2 Der Satz lautet: "Olam KeMinhago Noheg", Schab 30b. Dieses Prinzip kann man folgendermaßen mit M. Lazarus übersetzen: "Die Welt, das Universum, die Natur geht ihren gewohnten, das heißt geordneten, gleichmäßigen, geregelten Gang". Die Ethik des Judentums, Frankfurt a. M 1899, S. 242 f. Zur Ableitung dieses Satzes aus der Koheletstelle vgl. Si phOt Ha'asinu 306 u. M. Maimonides, Einleitung zu mAb, hg. v. M. Wolf, Acht Kapitel. Eine Abhandlung zur jüdischen Ethik und Gotteserkenntnis 8, (arab.- dt.) (1903), 2. Aufl., hg. v. F. Niewöhner, Hamburg 1981, S. 64. 3 bAwZa 25a. 4 Zu dieser ,,Etymogelei", vgl. Sohar Chadasch 15a (Midrasch HaNeelam). 5 WajR 20, 2, dt. v. A. Wünsche. Bibliotheca Rabbinica, Bd. 5, S. 131, und bBBa 58a. 6 GenR 6, 9; KohR 3, 14; MidrTeh zu Ps 8, 4-7. Dort heißt es z. B.: "Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst [ ... ]? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott [ ... ]. Du hast ihn zum Herren gemacht über deiner Hände Werk." Zum letzten Vers sagt der

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der Sterne und Elemente, die sich nicht von solchen Helden herumkommandieren lassen wollen und klarstellen, daß sie letztlich nur dem Schöpfer gehorchen. 7

11. Der Tag von Giwon findet nicht statt Eine ganz andere Welterfahrung liegt der mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophie zugrunde. Gegenüber der theo- und anthropozentrischen Welterfahrung von Bibel und Midrasch setzt sich die kosmozentrische der griechischen Philosophie durch. Der gestirnte Himmel wird das Idealbild der ewigen Ordnung, und es ist die Bestimmung des Menschen, Gott anhand dieser Ordnung zu erkennen. Sogar den irren Lauf der Wandelsterne haben die antiken Astronomen auf vollkommene, wenn auch zusammengesetzte Kreisbahnen zurückgeführt. Demgegenüber erschien das irdische Chaos als Abfall, und ausgerechnet der Erdgeborene sollte die göttlichen Kreise, die schöne Ordnung des Kosmos stören? Einen aktiven Einfluß auf die sublunare Welt konnte der Mensch nur dann ausüben, wenn er sich zum Gefäß und Werkzeug des aktiven Intellekts, einer Art weltumspannenden Noosphäre machte. 8 Es war völlig undenkbar, daß er sein hinfälliges Geschick und sein wechselhaftes Glück in diese Ewigkeit eintragen könnte. In der siderischen Frömmigkeit der mittelalterlichen jüdischen und arabischen Philosophie gab es keinen Platz für einen hybriden Solis Stator. Wie wurde man nun vor diesem Hintergrund mit der geo- und anthropozentrischen Zweckbestimmung von Sonne und Mond fertig, von denen es im Schöpfungsbericht heißt: "Und Gott setzte sie an die Ausdehnung des Himmels, auf die Erde zu leuchten" (LeHalr; 1 Mose 1, 17). Moses Maimonides (1138-1204), genannt RaMBaM, warnt seinen Leser vor einem teleologischen Fehlschluß: "Laß dich aber hierin nicht irre machen [ ... ], indem du etwa glaubst, es bedeute, daß sie dies tun sollen. Es dient vielmehr nur dazu, ihre Natur zu kennzeichnen, mit welcher er sie so erschaffen wollte, nämlich als Leuchtkörper [ ... ], ähnlich wie in dem Ausspruch: ,Und herrscht über die Fische des Meeres' (1 Mose 1, 28), welcher nicht bedeutet, daß der Mensch dazu erschaffen ist, sondern nur seine Natur bezeichnet, die ihm Gott eingeprägt hat.,,9 Als Leuchtkörper beleuchten die Sterne Midrasch: "Du hast ihn zum Herren gemacht über deiner Hände Werk': Das geht auf Josua, der die Lichter harren (eigent!. schweigen) ließ, wie es heißt: ,Sonne schweige in Giwon und Mond im Tal Ajalon' (Jos 10, 12), ferner: ,Und es schwieg die Sonne und der Mond stand' (ebd. 13)." Zum Motiv der Allmacht des Gerechten in der rabbinischen Literatur, vg!. R. Mach, Der Zaddik in Talmud und Midrasch (Diss.), Leiden 1957, S. 110-114. 7 SchemR 21,6 und MidrTeh zu Ps 113, 3. 8 Vg!. A. Ravitzky, The Anthropological Theory of Miracles in Medieval Jewish Philosophy, in: ders.: History and Faith. Studies in Jewish Philosophy (Amsterdam Studies in Jewish Thought, Bd. 2), Amsterdam 1996, S. 154-161. 9 Le Guide des Egares. Traite de theologie et de philosophie par Moise ben Maimoun dit Maimonides (arab.-franz), hg. v. S. Munk, Paris 1856-66, Nachdruck, Osnabrück 1964; dt.,

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zwar auch die Erde, sie wurden aber nicht deshalb erschaffen; wir dürfen den Nutzen einer Sache nicht mit ihrem Zweck verwechseln! Maimonides verallgemeinert dieses hierarchische Prinzip: "Und demgemäß müssen wir jede Schriftstelle, in der wir bemerken, daß nach ihr ein höheres Wesen um eines geringeren willen geschaffen worden sei, deutlicher erklären und müssen sagen, sie bedeutet, daß dies sich notwendig aus dessen Natur ergibt.,,10 Geschweige denn, daß die Sterne dem Menschen zu willen wären. Ein menschlicher Eingriff, wie der Sonnenstillstand über Giwon, wäre nach Maimonides zudem keine Wohltat, sondern eine nicht wiedergutzumachende Katastrophe - ein kosmischer Herzstillstand. 11 Das konnten Gott und Josua nicht gewollt haben! Maimonides' Auslegung der Bibelstelle ist aber keineswegs allegorisch, sondern literalistisch. Er bemerkt zunächst, daß das Wunder nach Josua 10, 12 ausdrücklich nur für die anwesenden israelitischen Truppen (LeEinei Jisrael) geschah, und reduziert es mithin auf ein lokales Ereignis und auf eine subjektive Wahrnehmung: Der Tag sei ihnen erschienen, "wie der längste Tag" (KeJom Tamim) als wollte die H. Schrift sagen, daß dieser Tag nach ihrer Meinung dem längsten der dort vorkommenden Sommertage gleich gewesen sei. 12 Der Tag kam den Zeugen also so vor, wie ein - im Wortsinn - Solstitium. Maimonides insistiert, daß die Sonne nicht wirklich länger geschienen, sondern daß es den Kämpfern nur so erschienen sei. Der Sonnenstillstand war also nichts anderes als ein subjektiver Eindruck am großen Tag von Giwon, an dem Israel seinen ,'platz an der Sonne" eroberte. Gegner wie Jünger des Maimonides haben vermutet, daß er die Wunder überhaupt bezweifelte. 13 Doch im berühmten 25. Kapitel des 2. Teils des Führer(s) der Unschlüssigen sagt Maimonides ausdrücklich, daß das Judentum mit dem Schöpfungs- und Wunderglauben stehe und falle,14 und er hat an anderen Stellen die Realität der Wunder, auch unseres Wunders, ausdrücklich zugegeben. In seinem Kommentar zu dem rabbinischen Zahlenspruch der Vater: "Zehn Dinge wurden kurz vor Schabbateingang in der Dämmerung erschaffen [ ... ],,15 - macht er zwar gegen die muslimischen Okkasionalisten geltend, daß die jüdischen Weisen nicht Führer der Unschlüssigen III, 13, dt. v. A. Weiss, Leipzig 1923, Nachdruck, mit einer Einl. und BibI. v. J. Maier, 2. Aufl., Hamburg 1972, Bd. 11.2, S. 72 f. 10 Maimonides, Führer 111, 13, hg. v. Weiss, Bd. 11.2, S. 73. 11 Maimonides, Führer 11, 11, hg. v. Munk, Bd. 2, S. 95, hg. v. Weiss , Bd. II.1, S. 78 f. Zum anthropomorphen Weltbild des Maimonides vgl. Führer I, 72, hg. v. Munk , Bd. I, S. 362, hg. v. Weiss, Bd. I, S. 304. 12 Maimonides, Führer 11, 35, hg. v. Weiss, Bd. 11, S. 236 f. 13 A. Ravitzky, The Secrets of Maimonides: Between the Thirteenth and the Twentieth Centuries (1990), in: ders.: History and Faith. Studies in Jewish Philosophy (Amsterdam Studies in Jewish Thought, Bd. 2), Amsterdam 1996, S. 259 ff., zur Ambivalenz des Maimonides vgl. ders., The Anthropological Theory of Miracles, S. 167 ff. Zur radikalen Position des Moses Narboni (1300-1362), Be'ur LeSefer More Newuchim, Wien 1852 z. St. 14 Maimonides, Führer 11, 25, hg. v. Weiss, Bd. II.1, S. 172. 15 mAb 5, 6. 7·

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an ständig neue Entscheidungen und Eingriffe Gottes (Chiddusch HaRazon BeChol Et) in den Lauf der Natur geglaubt hätten, sondern daß alle Ereignisse, darunter

auch die seltenen oder einmaligen - eben die "Wunder" -, bereits in der Schöpfung, der Möglichkeitsbedingung aller Wunder, apriori angelegt gewesen seien. So habe der Schöpfer am vierten Schöpfungstag die Sonne bereits so programmiert, daß sie an jenem Tag von Giwon stehen bleiben würde. 16 Maimonides Doktrin von der Natürlichkeit der Wunder ist gar nicht so unbiblisch, wie es scheint, denn Wunder sind in erster Linie Zeichen, d. h. vorhergesagte Erscheinungen und somit in der Offenbarung bzw. in der Schöpfung vorweggenommene Ereignisse. 17 Die Tatsache, daß Maimonides an einigen Stellen die Realität der Wunder im allgemeinen, und unseres Wunders im besonderen, zugibt und an anderen Stellen trotzdem dessen Phänomenalität beweist, zeigt, daß er die Wunder zumindest minimieren wollte. Im Maimonidesstreit, der 1233 mit der kirchlichen Konfiskation und Verbrennung des Führer(s) der Verirrten in MontpeJlier seinen ersten Höhepunkt erreichte, griffen die Gegner Maimonides insbesondere wegen seiner Eskamotierung des Mirakels von Giwon an. lehuda ben losef Alfachar aus Toledo, einer seiner scharfsinnigsten Gegner, moniert, daß Maimonides die Schöpfungs- und die Wunderberichte naturwissenschaftlichen Kriterien unterwerfe und, wo sie sich nicht wegrationalisieren ließen, soweit wie möglich minimiere. Dagegen wendet Alfachar ein: Entweder wird die Möglichkeit der Wunder bejaht oder verneint - ein eingeschränktes Wunder bleibt nichtsdestotrotz ein Wunder. 18 In Wirklichkeit gäbe es jedoch, so Alfachar, zwischen dem Naturalismus der griechischen Weisheit (Chochmat lewanit) und dem Supranaturalismus der Offenbarung keinen Mittelweg. Maimonides, der die Weltordnung (Minhago Schel Olam) so wenig wie möglich stören wolle, hielt die jüdische Offenbarung und die griechische Weisheit für zwei Zwillingsschwestern und wolle sie in einem Zelt vereinen, 19 doch welch Geschrei! Sie könnten nicht einmal zusammen auf der gleichen Erde wohnen. Zwi-

16 Vg!. auch die Einleitung zu diesem Kommentar, Acht Kapitel, 1981, S. 64, wo er auf die Stelle in Kohelet und den erwähnten rabbinischen Satz von der Erhaltung der Natur Bezug nimmt; sowie der Führer der Verinten, II, 29, hg. v. Weiss, Bd. II.l, S. 191 -195. Sehern Tow und Narboni haben nach der hebräischen Übersetzung Samuel ibn Tibbons angenommen, daß Maimonides die Doktrin der Rabbinen nicht teilen würde, der arabische Text läßt aber eine andere, plausiblere Lesart zu. 17 Vg!. F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung II, Ein!.: Vom Wunder, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Den Haag 1976, S. 106. 18 Briefwechsel mit dem Exegeten RaDaK (R. David ben loser Kimchi, gest. ca. 1235), Kowetz Tschuwot HaRarnbam Welggerotaw (Collection of the Responsa of Maimonides and his Letters), A. L Lichtenberg (Leipzig 1859), Nachdruck 1969, 11. 3 (Iggerot Kenaot), Sp. 2a-b. Das Wunder von Giwon, bzw. den Führer der Verinten II, 35, erwähnt Alfachar ebd., Sp. lc u. 2b. Vgl. D. J. Si/ver, Maimonidean Criticism and the Maimonidean Controversy, Leiden 1965, S. 150-153, 175-179; B. Septimus, Hispano-lewish Culture in Transition. The Career and Controversies of Ramah (R. Meir HaLevi Abulafia; ca. 1165 - 1244), (Haryard ludaic Monographs, Bd. 4), Carnbridge/ Mass., London 1982, S. 68 f. u. 95 -96. 19 Der Mairnunist Kimchi empfahl nach Koh 7,18 an beiden festzuhalten.

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sehen ihnen herrsche, wie zwischen Hebräerinnen und Ägypterinnen (2 Mose I, 19) - Ägypten ist bei Alfachar eine Chiffre für Moses Maimonides -, wie zwischen Sara und Hagar, Hanna und Pnina, den beiden Frauen in I Könige 3, 23 Rivalität auf Leben und Tod?O Gewiß, auch Alfachar erlaubt, wie schon die Gaonen, eine nichtliteralistische Exegese, etwa der biblischen Anthropomorphismen und -pathismen, doch sei das Kriterium hierfür nicht die Vernunft- oder Naturwidrigkeit, sondern lediglich ihre Schriftwidrigkeit - und die Schöpfung und die Wunder sind ohne Zweifel schriftgemäß. Spinoza wird seine Hermeneutik zwischen Maimonides und Alfachar verorten. 21 R. Salomon ben Adret, gen. RaSCHBa, (1235 - 1310) hat schließlich am 31. Juli 1305 in der Synagoge von Barcelona das unqualifizierte Philosophiestudium verdammt und Bücher, die etwa die Wunder leugnen, zum Scheiterhaufen verurteilt. 22 In einem Gutachten nimmt er zur Wunderfrage Stellung. Gott, führt er aus, kann keine logischen oder mathematischen Wunder tun, wohl aber natürliche, d. h. nur unserem beschränkten Verstand unmöglich scheinende Wunder, wie die Veränderung der physikalischen, namentlich, in Josuas Fall, der astronomischen Dinge?3 Und was Gott kann, können auch seine Heiligen. 24 Handelt es sich um glaubensentscheidende Wunder, wie die Offenbarung, von der in diesem Responsum die Rede ist, dann ist eine wörtliche Auffassung (Keji HaPschat) Pflicht, ansonsten sind sie wahlweise der philosophischen Spekulation oder der fundamentalistischen Affirmation freigegeben. 25 Wie man sieht, verlangt auch der unzweifelhafteste Vertreter der zeitgenössischen Rechtgläubigkeit kein credo quia absurdum, sondern läßt der philosophischen Auslegung einen gewissen Spielraum. Die Verurteilung von 1305 bedeutete denn auch nicht das Ende der philosophischen Spekulationen im Judentum. Die konsequenteste Synthese des biblischen und philosophischen Weltbildes, wie sie Maimonides vorexerziert hatte, stand mit Gersonides vielmehr noch bevor und seine philosophische Erledigung dieser crux, die Interpretation von Josua 10, 12, hat einen dauerhaften Eindruck hinterlassen.

Für Levi ben Gerson (1288 - 1344), gen. RaLBaG oder Gersonides aus Bagnols, einen der größten jüdischen Astronomen des Mittelalters, war das gewöhnliche Verständnis des Sonnenwunders nicht nur naturwissenschaftlich, sondern auch logisch unmöglich. 26 Er war nämlich der Ansicht, daß weder Gott noch der Mensch, Kowetz Tschuwot HaRambam WeIggerotaw., ebd. 2b. B. Spinoza. Tractatus-Tbeologico Politicus XV, hg. v. C. Gebhardt, Opera, Bd. III. Heidelberg 1925, S. 180 ff. 22 S. ben Adret. Sche'elot Utschuwot HaRaschba, Nachdruck Jerusalem 1976, Bd. I, Nr. 416, BI. 53c-d. 23 S. ben Adret, Nr. 234,11. IV, Bd. 2, BI. 34b-c, zit. u. üb. bei G. Vajda. Recherches sur la Philosophie et la Kabbale dans la pensee juive du Moyen Age (Etudes Juives), Paris, Den Haag 1962, S. 245, Anm. 24 Chiddusche Aggadot, Jerusalem 1976, zit. bei A. Ravitzky, Tbe Anthropological Tbeory of Miracles, S. 174 f. u. Anm. 50. 25 Responsum, Nr. 234, BI. 34c, oben. 20

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sondern der "aktive Intellekt" Ursache der Wunder sei. 27 Denn das Wunder muß als vorhersehbares Ereignis im Weltplan, den der aktive Intellekt entwirft und den Propheten offenbart, auch vorgesehen sein. Es spricht alles gegen einen willkürlichen Eingriff Gottes in diesen Plan. Der "aktive Intellekt" ist aber nur für die sublunare Sphäre zuständig und kann daher keine Veränderung in einer der höheren translunaren Sphären, wie die der Sonne bewirken?8 In seinem Kommentar zu unserer Bibelstelle 29 will Gersonides anhand des Wortlautes der Bibel zeigen, daß der Text eigentlich gar nicht vom Stillstand der Sonne spricht. Erstens fordert Josua die Sonne auf, in Giwon, aber nicht schlechthin stillzustehen. Wenn wir sagen, X verweile an einem Ort Y, so hieße das nur, daß er sich in dem betreffenden Gebiet aufhalte, nicht aber, daß er dort ruhe. Zweitens, heißt es im Vers 13 ausdrücklich, daß die Sonne sich nicht "beeilte" unterzugehen, nicht aber, daß sie stillgestanden habe. Drittens, wenn die Sonne im Zenit "steht", dann scheint sie für den mit Meßinstrumenten ausgerüsteten Beobachter - Gersonides hat als erster das Baculus Jacobi genannte Astrolab beschrieben - eine Weile zu ruhen. Viertens schließlich versteht Gersonides das Adjektiv "Tamim" (ganz) wie Maimonides nicht im quantitativen, sondern im qualitativen Sinne, d. h. die Sonne "stand" solange im Zenit wie an einem "vollkommenen" sonnigen Tag. Die "Vollkommenheit" bezieht sich auf die Vollendung des Tages im Mittag. Der Wunderbericht sagt also in bezug auf die Sonne gar nichts Außergewöhnliches aus! Warum betont die Bibel dann, wie wunderbar der Tag von Giwon war, und warum stellt sie Josua als unvergleichlichen Wundertäter dar? Nach Gersonides bezog sich das Wunder gar nicht auf die Sonne, sondern auf die Schlacht. Es heißt ja nicht schlechthin: "Die Sonne stand still und der Mond blieb stehen", sondern: "Die Sonne stand still und der Mond blieb stehen, bis sich das Volk an seinen Feinden gerächt hatte". Der 26 Vg!. Mi1chamot HaSchern (Die Kriege Gottes, 1328) VI, 12, hg. v. pr. Riva di Trento 1560 (5320), Nachdruck, Israel o. 0., o. J.; 74 c ff. (in dieser Ausgabe fehlen die eigentlichen astronomischen Partien des Werkes). Die Kämpfe Gottes. Religionsphilosophische und kosmische Fragen in sechs Büchern abgehandelt, 2. Aufl., Berlin 1923, S. 457 ff. (wir zitieren gewöhnlich nach dieser Ausgabe), teilweise dt. v. B. Kellermann, 2 Tle. (Schriften der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums, Bd. III, Heft 1- 2 u. Bd. 5, Heft 1 - 3), Berlin 1914-16. Zum Sonnenwunder vg!. C. Touati, La Pensee philosophique et theologique de Gersonide, Paris 1973, S. 469-477. M. M. Kellner; Gersonides and his Cultured Despisers: Arama and Abravanel, in: Journal of Medieval and Renaissance Studies 6 (1976), S. 269296; ders., Maimonides and Gersonides on Mosaic Prophecy, in: Speculum. A Journal of Medieval Studies 52 (1977), S. 76 f., Anm. 26. Seymour Feldman, "Sun stand still" - A Philosophical-Astronomical Midrash, in: Proceedings of the Ninth World Congress of Jewish Studies (Jerusalern, Aug. 4-12, 1985), Div. C.: Jewish Thought and Literature, Jerusalem 1986, S. 77 -84. 27 Milchamot HaSchern VI, 11, 10, 21923, S. 443 - 450. Mit Berufung auf 11, 3 ff. ebd., S. 98 ff. Eine detaillierte Wiedergabe der Argumentation von Gersonides findet sich bei M. M. Kellner; Gersonides and his Cultural Despisers: Arama and Abravanel, S. 279 - 283. 28 Mi1chamot HaSchern S. 456-458, Ch. Touati, ebd. S. 476. Vg!. eh. Touati, La Pensee philosophique et theologique de Gersonide, S. 472. 29 In der Biblia Rabbinica z. St., eng!. v. L Jacobs, Jewish biblical exegesis (The Chain of Tradition Series, Bd. IV), New York 1973, S. 92-99.

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scheinbare Sonnenstillstand betraf demnach die Dauer der Schlacht; das eigentliche Wunder war die Geschwindigkeit, mit der die Israeliten ihre Feinde besiegt haben. Und auch dieses Wunder hat nichts mit Gottes unmittelbarem Eingriff oder mit okkulter Astralmagie zu tun, sondern mit der Kraft des Feldherrn, dem Gott bloß "gehorchte". Gersonides hat den Wunderbericht somit vollkommen entzaubert. Von der Sonne über Giwon spricht er so, wie man später - nicht ohne providentieIlen Beiklang - von der "Sonne über Austerlitz" gesprochen hat, von jenem wunderbar sonnigen 2. Dezember 1805, an dem Napoleon die Koalition der feindlichen Könige besiegte. Mit dieser Wunderdeutung wurde Gersonides zur bete noire der spätmiuelalterlichen und frühneuzeitlichen Fideisten. Ehe wir auf ihre Einwände eingehen, lohnt es sich, zum Vergleich einen Blick auf die einschlägige christliche Diskussion zu werfen.

IH. Und die Sonne steht doch! Auch in der Kirche hat die Rationalisierung des Josuawunders zu scharfen Reaktionen geführt. Unter den 219 Thesen, die der Bischof von Paris, Etienne Tempier, 1277 verurteilen ließ, besagte die 100.: "Theologen, die behaupten, daß der Himmel zuweilen stillsteht (quod celum quandoque quiescit), gehen von einer falschen Voraussetzung aus. Zu sagen, es gebe einen Himmel, aber er bewege sich nicht, heißt Widersprüchliches vorbringen. ,,30 Da die himmlischen Sphären, an denen die Planeten (auch Sonne und Mond) hängen, sich nach Aristoteles von Natur aus gleichmäßig drehen,31 kann das Josuawunder in Wirklichkeit nicht stattfinden. Zumal aus der ewigen Sphärenbewegung die Existenz des ersten Bewegers abgeleitet wurde 32 - eine These, die in Paris gleichfalls auf Kritik gestoßen war. 33 Nach der Verurteilung von Paris haben die Theologen Gott von den Himmelskugeln befreien wollen, an die ihn die Aristoteliker gekettet hatten, und damit zugleich, wie der Wissenschaftshistoriker Pierre Duhem meinte, die Naturwissenschaft aus dem Zwinger einer dogmatischen Philosophie erlöst. Genau hundert Jahre nach der Verurteilung von Paris hat der Bischof von Lisieux, Nicole Oresme (ca. 1320-1382), in seinem französischen Kommentar zu Aristoteles' De coelo, dem Livre du ciel et 30 Vgl. K. Flasch. Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris übersetzt und erläutert, Mainz 1989. S. 182 f.; R. Hisette. Enquete sur les 219 articles condamnes a Paris le 7 Mars 1277, Louvain, Paris 1977, S. l37, 142 u. 286. Hier hat die fragliche These die Nr. 192. 31 Aristoteles. De coelo I, 269bl- 10; 11, 283b30-284a20, dt. hg. v. O. Gigon. I. Aufl .• Zürich 1950, Zürich, München 1983. S. 59 u. 100 f. 32 Vgl. Aristoteies. Physik VIII, 5-6. 256a-260a u. Metaphysik, XII. 6-7, 1071b1073a. M. Maimonides. Mischne Tora, Sefer HaMada, Hi\chot Jessode HaTora I, 5; I, 7. u. Hi\chot Akum I, 3; Führer der Verirrten 11, 1-2, hg. v. Weiss, Bd. II.I, S. 21 ff.. 33 These Nr. 156, K. Flasch. Aufklärung im Mittelalter?, S. 220 f.; vgl. hingegen die anderen Versionen bei R. Hisette. Enquete surles 219 artic\es, Art. 79, Note, S. 142.

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du monde,34 eine der Verurteilung von Paris Rechnung tragende Kosmologie entwickelt, die auch dem Josuawunder gerecht wird. 35 Nach dem Sparsamkeitsprinzip (lex parsimoniae) gilt nämlich, daß auch Gott seine Wunder tun muß, "sanz muer le commun cors de nature fors au moins que ce peust estre", und folglich, daß er eher die Erde als die Sonne angehalten habe?6 Da nach dem Relativitätsprinzip die Begriffe von Ruhe und Bewegung vom Standpunkt des Beobachters abhängig seien,37 mache es auch gar keinen Unterschied, ob man die Revolution von Sonne, Mond und Sternen oder die Rotation der Erde annehme. 38 Geht man aber vom Himmelsstillstand als Normalzustand aus, dann fragt sich, weshalb Josua die Sonne, oder wie Oresme meint, den ganzen Himmel anhalten mußte. 39 Hier nimmt Oresme zum Akkommodationsprinzip Zuflucht: "elle [die Schrift] se conforme en ceste partie a la maniere de commun parler humain".4o Oresme verwirft freilich wieder - zumindest verbal - diese interessante heliostatische Hypothese. 41

Nicole Oresme hat vielleicht auch den jüngeren jüdischen Aristoteleskritiker Chasdai Crescas aus Aragon (1340-1410/11) beeinflußt. 42 Wie die moderni doctores aus Paris hat auch Crescas die kosmologischen Gottesbeweise der Aristoteliker, namentlich den des Maimonides, kritisiert. 43 Wenn die Rotationsbewegung den Himmeln inhärent wäre, dann könnte aus ihr ebensogut ein Beweis gegen den überflüssigen Himmelsbeweger geführt werden. Gott ließe sich vielmehr eher aus der Unterbrechung als aus der Fortsetzung der Himmelsbewegung, z. B. aus einem 34 N. Oresme, Le Livre du ci el et du monde, engl. hg. v. A. D. Menut, A. 1. Denmoy, Madison, Milwaukee, London 1968. 35 Er bezieht sich auch auf Habakuk 3, 11, N. Oresme, Le Livre du ciel et du monde 11, 8, fol. 92b, hg. v. Menut, Denmoy, S. 364, 192 ff. Aus der Erwähnung von Sonne und Mond in der biblischen Stelle schließt Oresme, daß der gesamte Himmel stillstand, denn hätte nur die Sonne allein still gestanden, dann wäre der ganze Himmel in Unordnung geraten, ebd., fol. 95a-b, S. 374, 384 ff. In diesem Zusammenhang sagt er in bezug auf die in These 156 vertretene Notwendigkeit der Himmelsbewegung: ,,Et dire le contraire est selon un artic1e condempne a Paris", ebd. S. 383 - 85. 36 N. Oresme, Le Livre du ciel et du monde, H, 25, fol. 144b, hg. v. Menut, Denmoy, S. 536, 334 ff. 37 Ebd., fol. 138b ff., hg. v. Menut, Denmoy, S. 521 ff. 38 Ebd., fol. 138b-l44b, hg. v. Menut, Denmoy, S. 519-539. 39 Ebd., fol. 14Oc-d, hg. v. Menut, Denmoy, S. 526, 169. 40 Ebd., fol. 141d-142a, hg. v. Menut, Denmoy, S. 530, 227-240. H. A. Wolfson, Crescas' Critique of Aristotle. Problems of Aristotle's Physics in Jewish and Arabic Philosophy, Cambridge I Mass. 1929. 41 N. Oresme, Le Livre du ciel et du monde, fol. 144b, hg. v. Menut, Denmoy, S. 536, 355 f. 42 Vgl. W Z. Harvey, Physics and Metaphysics in Hasdai Crescas (Amsterdam Studies in Jewish Thought, Bd. 6), Amsterdam 1998, S. 23-29, unterstreicht allerdings auch den Unterschied zwischen Oresme und Creskas. 43 Vgl. Or Adonai (Licht des Herren) 1,1,6, hg. v. S. Fischer, Jerusalem 1990, S. 37; engl. H. A. Wolfson, Crescas' Critique of Aristotle, S. 236.11-16; Or Adonai I, 2, 8, S. 83; I, 2,15, S. 89; I, 2, 20, S. 94; IV, 3, S. 394-95; W Z. Harvey, Physics and Metaphysics, S. 46-56.

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Sonnen stillstand, beweisen. 44 Bei Gersonides hebt die Ordnung das Wunder auf, bei Crescas umgekehrt das Wunder die Ordnung, es sprengt das Notwendigkeitssystem der arabischen und jüdischen Aristoteliker und offenbart unmittelbar die Macht Gottes. Crescas beharrt also auf der Realität dieses Wunders von Giwon und beruft sich dabei auf einen Punkt im biblischen Bericht, den Maimonides und Gersonides bei ihren phänomenalistischen Interpretationen außer acht gelassen hatten. Wenn die Sonne über Giwon nämlich nur scheinbar am Mittag stehen geblieben wäre, wozu erwähnt die Bibel dann auch den Stillstand des Mondes? Offenbar will die Bibel uns - so Crescas wie Oresme - damit sagen, daß Sonne, Mond und Sterne gleichzeitig ihren Umlauf unterbrachen, um Unordnung am Himmel (ScheLo litbalbel Siddur) und Katastrophen auf Erden zu verhindern. 45 Der Bericht spricht jedenfalls von einem realen, nicht von einem eingebildeten Wunder. Dennoch setzt Crescas das soeben gerettete Wunder herab, vordergründig um den Vorrang des Mose vor losua sicherzustellen, eigentlich aber, weil er die kosmischen Hierarchien der Aristoteliker, die gerade dieses Wunder so unwahrscheinlich gemacht und seine Rationalisierung erzwungen hatten, in Frage stellen will. Wenn die Planeten keine höheren Lebewesen sind, wie die Aristoteliker annahmen, sondern "tote Körper" (Gufim Metim), dann steht jede Ameise höher als sie46 - vom Menschen ganz zu schweigen! Das Wunder von Giwon wäre also bei aller Großartigkeit im Vergleich mit anderen biblischen, mosaischen Wundern eher minderwertig. Die Schüler von Crescas zogen dann eine Konsequenz, die der Meister, der sich hierin in Übereinstimmung mit Gersonides befand, noch scheute. 47 Der mit Gott verbundene Mensch ist über den Kosmos erhaben und kann durch das übernatürliche Gesetz Wunder bewirken. Crescas' einflußreichster Schüler, losef Albo (ca. 1360-1433), sagt im ausdrücklichen Gegensatz zu den Philosophen: ,,[ ... ] wer an Gott und seine Lehre glaubt, der [gibt] der Seele einen so hohen Grad von Vollkommenheit und Vereinigung, daß die Natur sich ihm beugt, um seinen Willen zu erfüllen; denn dadurch, daß sich seine Seele durch den Glauben auf eine über alle natürliche Dinge erhabene Stufe erhebt, kann er dieselben beherrschen.,,48 Ohne in 44 Or Adonai, II, 4, 2-3; hg. v. S. Fischer, S. 194, 197,201-202, IV.!, 6, I, S. 358. Vgl. W. Z. Harvey, Physics and Metaphysics, S. 53 u. 56 Anm. 22. 45 Or Adonai H, 4, 3, hg. v. S. Fischer, S. 202, u. N. Oresme, Le Livre du ciel et du monde II, 8, fol. 92b, hg. v. Menut, Denmoy, S. 364, 203 - 6. Vgl. S. Feldman, "Sun stand still", S. 81. Diese Möglichkeit hatte bereits Pseudo-Dionysios Areopagita im Brief an Polykarp erwogen, M. de Gandillac (Hg.),

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Abb. 1.2. Hubble-Diagramm nach A. Sandage aus dem Jahre 1968. Als Maß für die Geschwindigkeit ist (logarithmisch) die Rotverschiebung angegeben, die über der Helligkeit (Größenklasse) der Objekte als Maß für ihre Entfernung aufgetragen ist. Das kleine schwarze Rechteck unten links zeigt den Bereich von Hubbles Messungen aus dem Jahre 1929.

26 Die Diagramme sind aus H. Goenner; Einführung in die Kosmologie, S. 11, übernommen. Dort findet man auch die Quellenangaben der Originalabbildungen.

Die Vielfalt experimenteller Erfahrung: Neue Perspektiven Von Friedrich Steinle Das Experiment wird traditionellerweise als das wesentliche Instrument für naturwissenschaftliche Erfahrung angesehen. Daß es hier auch ganz andere Erfahrungsformen gibt - die Liste der Beiträge in diesem Band ist sehr eindrucksvoll -, wird oft übersehen. Astronomie und Naturgeschichte etwa stellen zwei wesentliche Wurzeln dar, aus denen sich die modeme Naturwissenschaft entwickelt hat. In vielen Bereichen der modemen Naturwissenschaft spielt aber das Experiment nach wie vor eine zentrale Rolle. Experimentelle Erfahrung ist weitaus vielfaItiger als man bisweilen zu glauben geneigt war. Angesichts der eminenten Bedeutung, die experimentelle Forschung für unser Leben hat - man denke etwa an die Materialwissenschaften oder die Genforschung - ist die Rolle dieses Forschungsmittels noch außerordentlich wenig untersucht und verstanden. Wenn ich mich im folgenden mit dem Experiment befasse, kann es keinesfalls darum gehen, etwas Abschließendes zu sagen. Die Diskussion ist im Flusse, und meine Überlegungen haben unfertigen, offenen Charakter. Experimentelles Arbeiten als Mittel zur Erkenntnis und das Nachdenken darüber reicht weit zurück. Ich werde mit einigen Bemerkungen zu historischen Positionen beginnen, die durch neuere Arbeiten in einem anderen Licht erscheinen. Im zweiten Abschnitt gebe ich eine Skizze der Themen, die in den letzten 20 Jahren in Philosophie, Geschichte und Soziologie der Wissenschaften zum Experiment diskutiert werden. Die bisherigen Überlegungen zum Experiment waren überwiegend an der Physik orientiert, und eine Erweiterung des Blicks in andere Fächer hinein ist derzeit erst im Gange. 1 In den weiteren Abschnitten geht es mir darum, ausgehend von wissenschaftshistorischen Fallstudien zu zeigen, daß auch in den physikalischen Wissenschaften die Rolle des Experimentes weitaus vielfältiger ist, als man das bislang gesehen hat, und hier deutlichere Parallelen zu anderen Fächern bestehen. Diese Resultate geben Anlaß zu allgemeineren Überlegungen im Hinblick auf eine erst noch zu entwickelnde Philosophie des Experimentes.

I Für den Bereich der Lebenswissenschaften seien hier die Arbeiten von Hans-Jörg Rheinberger und Michael Hagner genannt, siehe auch Rheinbergers Beitrag in diesem Band. Für ein deutlich weiteres Fächerspektrum siehe auch den Sammelband: M. Heidelberger / F. Steinle (Hg.), Experimental Essays - Versuche zum Experiment, Baden-Baden 1998.

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Friedrich Stein1e

I. Einige historische Positionen zum Experiment Experimentieren als ein Mittel, um Aufschluß über die Dinge zu gewinnen, war in lebenspraktischen Bereichen schon seit alters her verbreitet. Das gilt nicht nur für Fragen des alltäglichen Haushaltsbereichs oder handwerklichen Könnens, wie Lebensmittelzubereitung und -konservierung oder Schuh- und Textilherstellung, sondern auch für spezialisierte technologische Disziplinen wie statische Fragen in der Architektur, Schiffsbau, Metallurgie, Glasherstellung, Färberei usw. In all diesen Bereichen, in denen unmittelbar lebenspraktische Folgen involviert waren, vielleicht gar Fragen des Überlebens, hatte man seit jeher ohne Scheu einfach durch Ausprobieren, oft in ganz systematischer Weise, Verfahren entwickelt, bestätigt, verbessert, verworfen usw. Es war ein riesiger Korpus von Wissen - über Herstellungs verfahren, Rezepturen, Materialien, Dimensionierungen - zusammengekommen, der allerdings in vielen Bereichen nicht verschriftlicht, oder, wenn doch aufgezeichnet, nicht öffentlich zirkuliert, sondern bisweilen bewußt geheimgehalten wurde. Wenn es sich auch in vielen Fällen einfach um eine Kompilation von Einzelrezepten handelte, wurde in anderen, weit darüber hinausgehend, eine Systematisierung und eine Einordnung in größere Zusammenhänge vorgenommen. Die Heilkunst ist da ein herausragendes Beispiel, aber auch die Metallurgie, die oft mit später als alchemistisch bezeichneten Praktiken einherging. Wenn das antike Griechenland zu Recht als Wiege moderner Naturwissenschaft bezeichnet wird, denkt man an Bereiche wie Geometrie, Astronomie, Optik, Harmonielehre, Statik, Hydrostatik und Naturkunde. Das waren tatsächlich meistenteils keine experimentellen Wissenschaften. Ein oft angeführtes Beispiel für eine Ausnahme sind die Pythagoräer, von denen man sagt, sie hätten die Beziehung zwischen Tonhöhen und Saitenlängen experimentell mit Monochorden studiert. Berühmt wurde dieser Fall deshalb, weil Platon sich gerade darüber abfällig äußerte: So ein Verfahren, die Saiten zu schlagen, sei einer Folter ähnlich und deshalb verwerflich; eine eigentliche Erkenntnis könne auf diese Weise nicht zustande kommen. Auch Aristoteles bezog eine kritische Haltung zum Experiment, begründete sie aber nicht in ethischen, sondern grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Überlegungen. Wesentlich war seine Unterscheidung zwischen 'IjIuOl~ und "tEXVTJ ("Physis" und "Techne", im lateinischen als "natura" und "ars" übernommen). 'IjIUOLC; stand für die Natur, "tExVTJ umfaßte alles, was aktives menschliches Eingreifen, menschliche Handfertigkeit oder gar Geübtheit erforderte, also gleichermaßen Handwerk und Kunst. Durch aktives Eingreifen wurde die Natur, so Aristoteles' Überlegung, den Zwecken des Menschen entsprechend verändert. Eine Erkenntnis, eine Wissenschaft von der Natur selbst - bcLO"tTU.LTJ ("Episteme") - könne sich demgegenüber grundsätzlich nur auf die Dinge richten, wie sie ohne solches Eingreifen vorlagen. Aktive Manipulation von Dingen war ein Akt, der das Erkennen der Natur verhinderte; Experimentieren konnte nie ein Mittel zur Naturerkenntnis sein. Durch Aristoteles' Autorität hielt sich diese Überlegung bis in die frühe Neuzeit und wird in der wissenschaftshistorischen Forschung bisweilen als ein wesent-

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licher Grund dafür angesehen, der das Aufkommen experimentellen Arbeitens über fast zwei Jahrtausende hinweg verhindert habe. Allerdings muß diese Auffassung in zumindest zwei Hinsichten spezifiziert werden. Der von Aristoteles als 'tEXVTt bezeichnete Bereich war enorm weit und umfaßte auch die eingangs genannten Felder, in denen Anwendungen für den lebenspraktischen Bereich involviert, wenn auch nicht notwendigerweise das eigentliche Ziel waren. Viele dieser Aktivitäten, wie etwa Metallurgie oder Heilkunst, würden wir heute ohne jedes Zögern als experimentelle naturwissenschaftliche Forschung bezeichnen; sie fielen aber nicht unter Aristoteles' Begriff von Wissenschaft btlO't~IlTt. Einige Entwicklungslinien neuzeitlicher Naturwissenschaft wurzeln gerade hier. Experimentelles Arbeiten in der Antike war überdies - das ist mein zweiter Punkt - nicht nur auf Bereiche der 'tEXVfI beschränkt, sondern wurde auch in Bereichen betrieben, die durchaus als Wissenschaft anerkannt waren. Aristoteles' oben skizzierte Überlegung war eine philosophische Idealisierung, und man sollte nicht selbstverständlich davon ausgehen, daß diejenigen, die systematisch Naturerkenntnis betrieben, ihre Arbeit von solchen Überlegungen leiten ließen - das gilt für die Antike nicht weniger als heute. Wie ein Blick in die Erkenntnispraxis zeigt, findet sich die enorme Heterogenität der griechischen Antike auch in ihrer Naturwissenschaft wieder. Besonders deutlich wird das im Bereich der Lebenswissenschaften. Galen etwa unternahm zur Untersuchung physiologischer Zusammenhänge zahlreiche Experimente an Tieren, und selbst Aristoteles schien bei seinen naturkundlichen Forschungsarbeiten auch aktiven Interventionen zum Erkenntnisgewinn nicht grundsätzlich abgeneigt. Deshalb wird von manchen Historikern der Unterschied zwischen dem programmatischen Idealbild und den tatsächlichen Forschungsarbeiten Aristoteles' betont. Experimente wurden aber auch in mathematisierten Gebieten unternommen, die als paradigmatisch für modeme Wissenschaft gelten, so etwa in der Optik bei Euklid und Ptolemäus. Wenn es um die Beantwortung von konkreten Fragen der Naturforschung ging ("Woher sammelt die Blase ihre Flüssigkeit?" "Wie entwickelt sich ein Küken?" "Wie geht unser zweiäugiges Sehen vonstatten?"), bestand auch in der Antike vielerorts keine Scheu, aktiv in die Dinge einzugreifen und sie so zu arrangieren, daß man Aufschluß zu den gestellten Fragen erhielt. Auch ethische Bedenken wurden nicht erwähnt: Galens Experimente an lebenden Tieren waren manchmal überaus grausam. Das Experiment als Mittel zur Erkenntnisgewinnung scheint durchaus so alt zu sein wie die Idee einer systematischen Naturerkenntnis selbst, und experimentelle Traditionen setzten sich durch das ganze Mittelalter hindurch fort. Die arabisch-islamische Wissenschaft übernahm sie nicht nur, sondern erweiterte sie wesentlich (etwa in der Optik) und brachte das neue Gebiet der Alchemie hinzu, in der die Aristotelische Unterscheidung manchmal ganz explizit verworfen wurde? 2 Für eine Diskussion und weitere Literatur siehe W Newman. The Place of AJchemy in the Current Literature on Experiment, in: M. Heidelberger I F. Steinle (Hg.), Experimental

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Diese Einsicht wirft ein anderes Licht auf das 17. Jahrhundert, das nach landläufiger Meinung als Geburtsstunde der experimentellen Naturwissenschaft oder gar experimentellen Arbeitens schlechthin gilt. Tatsächlich wurde hier im Rahmen großer Programme zur Erneuerung der Wissenschaften das Experiment lautstark als zentrale Methode des Erkenntnisgewinns propagiert, allen voran durch den britischen Lordkanzler Francis Bacon und wenig später durch Robert Boyle und die von ihm mitbegründete Royal Society of London. Wissenschaft sollte vor allem eine "experimental philosophy" darstellen. Daß dabei das Experiment als eine neue Methode des Erkenntnisgewinns dargestellt wurde, ist vor allem als Rhetorik zu verstehen, um eine neue Struktur der wissenschaftlichen Forschung rechtfertigen zu können. De facto läuft Bacons Vorschlag nicht auf eine neue Methode hinaus, sondern auf die Aufwertung einer längst praktizierten. Empirischexperimentelles Arbeiten war Bacon wohlbekannt, etwa aus den Praktiken der Alchemisten. 3 Sein Programm zielte darauf, diese wohlbekannten experimentellen Verfahren stärker zu systematisieren, zu explizieren und damit kommunizierbar zu machen, vor allem aber, sie gesellschaftlich zu organisieren und ihren sozialen Status· in den einer Wissenschaft zu heben. Nicht zufällig handelt seine Utopie ,,Neu-Atlantis" wesentlich von einem durch die Gesellschaft wohlorganisierten Forschungsbetrieb, in dem Untersuchungen zur optimalen Lagerung von Lebensmitteln völlig gleichwertig zu theoretischen Studien zur Astronomie standen. Und in dem in Baconscher Tradition gegründeten ersten wissenschaftlichen Journal, den Philosophical Transactions der Royal Society, wurden wesentlich Gebiete mit langer experimenteller Tradition behandelt, die aber zuvor nicht als Wissenschaft gegolten hatten, wie etwa Metallurgie, Glasherstellung, Physiologie oder Medizin. Bacon war auf Grund seines programmatischen Anspruches einer der ersten, die versuchten, experimentelle Forschung explizit und in allgemeinen methodischen Begriffen zu charakterisieren. 4 Das Experiment hatte für ihn einen unproblematischen epistemischen Status. Gegenüber der bloßen Beobachtung bot es vor allem den praktischen Vorteil, auf bestimmte Bedingungen und Konstellationen nicht warten zu müssen, sondern sie bewußt herbeiführen zu können, wann und wie man mochte. Überdies ließen sich auch Konstellationen realisieren, die man ohne Eingreifen vielleicht nie hätte vorfinden können: die Natur ließ sich auch in ,Aus nahmesituationen' kennenlernen. Die auf diese Weise gewonnenen Erfahrungen galten ihm aber nicht als grundsätzlich verschieden von denen, die man durch bloße Beobachtung gewann. Weder von dem erkenntnistheoretischen Einwand, der den Aspekt des Eingreifens als Verzerrung ansah, noch von irgendwelchen ethischen Essays - Versuche zum Experiment, Baden Baden 1998, S. 9 - 33, und M. Schramm, Experiment in Altertum und Mittelalter, in: M. Heidelberger/F. Steinle (Hg.), Experimental Essays, S.34-67. 3 P. Rossi, Francis Bacon: from magic to science, London 1968. 4 F. Bacon, Novum Organon (1620); für eine deutsche Übersetzung siehe etwa F. Bacon, Das neue Organon, hg. v. M. Buhr, Berlin 1962.

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Bedenken war bei Bacon die Rede - dafür ist er ja berühmt-berüchtigt geworden. Aber eben auch hier stand er in einer langen Tradition. Bacon hat einer allgemeineren Tendenz des 17. Jahrhunderts besonders beredte Stimme verliehen. An vielen Orten in Europa entstanden aus dem Gewahrwerden des unbefriedigenden Zustandes der Schulwissenschaften heraus neue Forschungsansätze und neue Institutionen, insbesondere die Akademien. Eine breite, nun systematisierte und kommunizierte experimentelle Praxis begann sich zu etablieren. Anfängliche kritische Stimmen wurden bald übertönt, nicht zuletzt durch spektakuläre und publikumswirksame Instrumente wie Fernrohr, Mikroskop oder Luftpumpe. Das Programm, experimentelles Arbeiten in die Würde einer wissenschaftlichen Arbeitsweise zu heben, hatte breitesten Erfolg, und mit diesem Erfolg wurde auch die unkritische Haltung dem Experiment gegenüber tradiert. Erst deutlich später konnte eine fundamentale Kritik dieses Erfahrungsmittels geleistet werden. Eine solche findet sich im Rahmen der kritischen Unternehmung Immanuel Kants im späten 18. Jahrhundert. 5 Gegenüber dem naiven Empirismus machte er darauf aufmerksam, wie unsere eigene Konstitution als wahrnehmende und denkende Wesen wesentlich und unhintergehbar die Art und Weise prägte, in der wir die Welt erfassen. Das betraf alle Erfahrung überhaupt; insbesondere aber verschärfte Kant die traditionelle Metapher vom Experiment als einer Befragung der Natur dahingehend, daß wir uns dabei stets in der Rolle eines Richters befinden, der die Fragen diktiert. Die Antworten, die wir erhalten, sind zwar nie falsch, können aber doch in die Irre leiten - immerhin hängen sie ganz und gar von unseren Fragen ab! An einer prominenten Stelle wurde hier der epistemische Status des experimentellen Verfahrens grundsätzlich in Frage gestellt und experimentelle Erfahrung als nicht so unkompliziert aufgewiesen, wie die Propagatoren des 17. Jahrhunderts das gemeint hatten. Von den mannigfachen Diskussionen, die im Zuge des rasanten Aufschwungs der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert auch um die Rolle des Experimentes stattfanden, sei hier nur die Position John Stuart Mills erwähnt. 6 Er sah das Experiment, in guter induktivistisch-empiristischer Tradition, als wesentliches Mittel für die Theorieformung an. Sein Erfahrungsbegriff allerdings, demzufolge Erfahrungsbefunde fast zwangsläufig zu Begriffen führen und sich empirische Regeln gewissennaßen durch Hinsehen aufdrängen, trug trotz Kant durchaus naive Züge. Hier mag ein Grund für die nur geringe Resonanz seiner Überlegungen auf dem europäischen Kontinent liegen. In den späteren, differenzierteren Fonnen des EmpirisJ. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., Riga 1787, Vorrede, B xiii. J. S. Mill, A System of Logic Ratiocinative and Inductive. Being a Connected View of the Principles of Evidence and the Methods of Scientific Investigation, 1843, insbesondere Buch II1, Kap. 7 und 8. Für eine deutsche Übersetzung siehe J. S. Mill, System der deduktiven induktiven Logik, nach der achten Auflage des Originals ins Deutsche übersetzt von J. Schiel, Braunschweig 1877. Eine Skizze der Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert gibt M. Heidelberger, Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment, in: M. Heidelberger/F. Steinle (Hg.), Experimental Essays, S. 71-92. 5 6

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mus zu Beginn unseres Jahrhunderts dagegen, dem logischen Empirismus des Wiener Kreises und Poppers kritischem Rationalismus, wurde das Experiment nur seIten eigens behandelt. Zwischen einer bloßen Beobachtung und einem Experiment wurde, was ihren epistemischen Status angeht, kein prinzipieller Unterschied gesehen. Beide galten ganz gleichwertig als empirische Befunde und waren als solche gleichermaßen problematisch oder unproblematisch. Die wesentliche Rolle, die empirischen Befunden im Erkenntnisprozeß zugeschrieben wurde, war die Überprüfung (sei es nun Verifikation oder Falsifikation) von Erwartungen, die aus Hypothesen und Theorien abgeleitet waren. Dieser "standard view" zur Funktion des Experimentes fand eine wesentliche Stütze in der Unterscheidung zwischen Entdeckungs- und RechtJertigungskontext, die sich der Sache nach schon bei Pierre Duhem fand und von Hans Reichenbach ausdrücklich formuliert wurde. 7 Hier wurden die Wege, auf denen Theorien entwickelt, "entdeckt" werden, von der Art und Weise getrennt, in der sie nachträglich geprüft, bestätigt oder verworfen werden. Der erste Kontext, voll von historischen, psychologischen und biographischen Zufälligkeiten, wurde als philosophisch nicht analysierbar angesehen. Dem Verständnis von Wissenschaft sollte das aber keinen Abbruch tun, denn dieser Kontext galt als epistemisch nicht relevant: Für die Entwicklung von Wissenschaft entscheidend war nur der Rechtfertigungskontext. Hier war gewissermaßen der Tummelplatz, auf dem verschiedene Theorien gegeneinander antreten und sich bewähren sollten. Die Rolle des Experiments war dabei keine andere als die einer Prüfungsinstanz für Theorien. Wann und warum welches Experiment angestellt wurde, galt als ganz aus dem Theoriekontext bestimmt: experimentelles Arbeiten war von Anfang bis Ende theoriedominiert. 8 Man mochte wohl zugestehen, daß es im Entstehungskontext viele andere Rollen von Experimenten gab, etwa heuristische. Aber ihnen kam keine epistemische Bedeutung zu und man brauchte sich darum nicht zu kümmern. Eine solche Haltung prägte weitgehend die Wissenschaftsphilosophie und -geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts und findet sich bisweilen noch heutzutage in der Außendarstellung der Wissenschaft in den Medien und in der Schule. In den letzten 15 bis 20 Jahren ist der "standard view" aber von ganz unterschiedlichen Seiten - Geschichte, Soziologie und Philosophie der Wissenschaften - unter Kritik geraten. Es ist eine neue Diskussion um das Experiment entstanden.

11. Fragen an das Experiment Experimente sind nicht einfach da, sie werden gemacht. Selbst bei einem fertigen Aufbau ist es nicht so, daß er nur angeschaltet zu werden braucht und dann ein Ergebnis liefert, das auch noch als gültig anerkannt wird. Experimente werden von 7

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H. Reichenbach. Experience and Prediction. Chicago 1938. Besonders deutlich bei Popper. K. R. Popper, Logik der Forschung, Wien 1934.

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menschlichen Akteuren entworfen, aufgebaut, durchgeführt und ausgewertet und finden in einer bestimmten biographischen, gesellschaftlichen und historischen Situation statt. Experimente involvieren typischerweise Instrumente; es werden Materialien und Objekte verwendet. Es gibt überdies eine Wissenschaftsgemeinschaft, die das Resultat als verbindlich akzeptieren muß. Die Aspekte der Materialität, Handlungsbezogenheit, Historizität und Kommunizierbarkeit machen das Experiment als Erfahrungsmittel weitaus komplexer, als man sich das in den großen Entwürfen einst gedacht hatte.

Neuere Studien in der Wissenschaftsgeschichte haben gezeigt, wie stark experimentelle Forschung durch eine Eigendynamik der Objekte geprägt ist. In der Entwicklung eines Forschungsbereiches gab und gibt es immer wieder Punkte, an denen verschiedene Alternativen zum weiteren Forschungsweg offenstanden. WeIche davon letztlich beschritten wurde, hing nicht selten von ganz ,zufälligen' Faktoren wie der Verfügbarkeit von Material, Zeit, Handfertigkeiten usw. ab. Die ,zufällige' Wahl bestimmter Materialien und Objekte konnte (und kann) ganze Forschungsrichtungen auf lange Zeit bestimmen. Der Frosch in der Entwicklung der Elektrizität und der Physiologie ist nur ein besonders bekanntes Beispiel. Einmal etablierte experimentelle Techniken tendieren dazu, sich zu perpetuieren. Damit werden bestimmte Fragen bearbeitet, andere neu generiert, wieder andere aber eben ausgeschlossen. Materielle Ressourcen, instrumentelle Traditionen und persönliche Vorlieben spielen hier ebenso eine Rolle wie die theoretisch-begrifflichen Situation. Der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger faßt dieses komplexe Ineinander im Begriff von Experimentalsystemen mit ihrer Eigendynamik und ihrer eigenen zeitlichen Entwicklung zusammen. 9 Experimente erfordern Fertigkeiten des Experimentators. Während das bis vor einigen Jahrzehnten vor allem Handfertigkeiten waren, mögen das heutzutage etwa auch besondere Finessen im Umgang mit Computerprogrammen oder dgl. sein. Solche Fertigkeiten sind zu bestimmten Zeiten und Orten vorhanden und verfügbar, zu anderen nicht: Manche Experimente können gar nicht zu anderen Zeiten oder in anderen Kontexten durchgeführt werden. Die berühmte Bestimmung des mechanischen Wärmeäquivalentes durch James Prescott Joule in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts etwa war nur vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit Präzisionsmessungen der Temperatur möglich, die er durch die Arbeit in der damals hochmodernen Brauerei seines Vaters gewonnen hatte; im Brauereikeller fand er auch die notwendigen temperaturstabilen Räumlichkeiten. 1O Daß dieses enorm 9 H.-J. Rheinberger/M. Hagner, Die Experimentalisierung des Lebens: Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin 1993, H.-J. Rheinberger, Experimental Systems: Historiality, Narration, and Deconstruction, in: Science in Context, 7, 1994, S. 65 - 81, H. -J. Rheinberger, Towards a History of Epistemic Things: Synthesizing Proteins in the Test Tube, Stanford 1997. 10 H.-O. Sibum, Reworking the Mechanical Value of Heat: Instruments of Precision and Gestures of Accuracy in Early Victorian England, in: Studies in History and Philosophy of Science 26, 1995, S. 73 - 106.

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einflußreiche Experiment gerade zu diesem Zeitpunkt durchgeführt wurde, und nicht früher oder später, war für die begrifflich-theoretische Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Experimentelle Resultate werden an einem bestimmten Ort erzielt, und das Gewinnen allgemeiner Anerkennung erfordert bisweilen besondere Anstrengungen. Die Kommunikation experimenteller Resultate hat sich als komplex und folgenreich herausgestellt. Als der Grundstein der allgemeinen Anerkennung von experimentellen Resultaten gilt traditionellerweise die Nachvollziehbarkeit und der tatsächliche Nachvollzug durch andere. Das ist aber nur ein Aspekt unter anderen. So mögen etwa an manchen Orten schlichtweg die experimentellen Möglichkeiten fehlen. Das war in der frühen Neuzeit der Fall, wenn etwa auf Grund der Experimente mit neuen Instrumenten wie Luftpumpe oder Mikroskop weitreichendste und revolutionäre Behauptungen aufgestellt wurden. Um solchen Behauptungen und den ihnen zu Grunde liegenden Experimentalberichten Glaubwürdigkeit zu verschaffen, mußten oft genug rhetorische Mittel die fehlende Nachvollziehbarkeit kompensieren. 11 Solche Situationen sind aber auch heutzutage nicht selten: Man denke etwa nur an Experimente in der Hochenergiephysik, die prinzipiell durchaus wiederholbar sind, faktisch aber nur in den seltensten Fällen wiederholt werden, weil sie viel zu aufwendig und vor allem zu teuer sind. Auch hier ist es nicht der Nachvollzug der Experimente, der ihnen allgemeine Anerkennung verschafft; die Kriterien für Glaubwürdigkeit und Verläßlichkeit müssen anderswoher kommen. Wenn es über Jahrhunderte hinweg das Benennen hochrangiger Zeugen war, mit dem die Vertrauenswürdigkeit von experimentellen Resultaten geschaffen wurde, so spielen heutzutage das Renommee einer Experimentatorln (oder einer Forschungsgruppe) und Netzwerke von WissenschaftIerInnen eine nicht weniger wichtige Rolle. Selbst wenn es nicht an materiellen oder monetären Ressourcen mangelte, war und ist Nachvollziehbarkeit nicht trivial. Nicht nur in vorigen Jahrhunderten gab es Fälle, in denen es durch schriftliche oder verbale Mitteilungen nicht gelang, experimentelle Resultate an anderen Orten nachvollziehbar zu machen. Oft mußten auch die Apparate von einem Ort an andere transportiert werden, um dem Resultat Anerkennung zu verschaffen, bisweilen gar die Personen mit entsprechendem Wissen und Fertigkeiten. Die Einführung des Zyklotrons in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts ist da nur ein besonders markantes unter vielen möglichen Beispielen. 12 Die Beobachtung, daß die Wiederholbarkeit von Experimenten sich als nicht problemlos erweist und dabei soziales Interagieren und die Organisation von Wissenschaft wesentlich ins Spiel kommen, hat zu weitreichenden Thesen Anlaß gegeben. Ausgehend von Fallstudien zur modemen Physik wurde bisweilen - unter dem Stichwort eines "experimentellen Regresses" - die Wiederholbarkeit von Experimenten prinzipiell in Abrede gestellt; das entscheidende Kritierium für die AnII S. ShapinlS. Schaffer; Leviathan and the Air-Pump: Hobbes, Boyle, and the experimentalIife, Princeton 1985. 12 J. L. Heilbronl R. W Seidel! B. R. Wheaton, Lawrence and his Laboratory: Nuclear science at Berke1ey, 1931 - 1961, Berkeley 1981.

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erkennung experimenteller Resultate sei ausschließlich ein sozialer Prozeß. 13 Um es überspitzt zu fonnulieren: experimentelle Resultate werden nicht erzielt, sondern ausgehandelt. Eine solche weitgehende These blieb nicht unwidersprochen, und es wurde (überzeugend, wie mir scheint) gezeigt, daß die Wiederholbarkeit von Experimenten, wenn entsprechend differenziert gefaßt, nach wie vor als wesentliches Kriterium experimentellen Arbeitens gelten kann. 14 Das Verhältnis zwischen Experiment und Theorie hat sich als deutlich komplizierter herausgestellt, als der "standard view" das nahelegt. lan Hacking hat eine "baconische Vielfalt" von unterschiedlichen Funktionen angedeutet, die das Experiment in historischen Fällen für die Theorie gespielt hat. 15 Um dem Rechnung tragen zu können, muß der Begriff der wissenschaftlichen Theorie differenziert werden. So wurde etwa, ohne in naiv empiristische Denkweisen zu verfallen, die Unterscheidung wieder aufgegriffen, die man traditionellerweise zwischen "empirischen Gesetzen" und eigentlichen "Theorien" als Systemen gezogen hatte, die mittels hypothetischer "theoretischer" Entitäten diese beobachtbaren Regularitäten zu "erklären" suchen. Studien zur modemen Physik haben deutlich gemacht, wie die Bedeutung solcher experimentell erarbeiteter Regularitäten viel weittragender und fundamentaler sein kann als die hochstufiger theoretischer Sätze. 16 Das in der Wissenschaftsphilosophie so lange als selbstverständlich angesehene Primat der Theorie gegenüber dem Experiment wurde hier entschieden in Frage gestellt; Hakking sprach plakativ von einem "Eigenleben" des Experimentes. Wissenschaftsentwicklung ist nicht nur Theorieentwicklung mit Experimenten als Randbedingung. Experimente sind vielmehr ein Brennpunkt, in dem theoretische Überlegungen und gezieltes Manipulieren, Materielles, Instrumente, spezifische historische Situationen und Eigenheiten der menschlichen Akteure untrennbar zusammenspielen. Eindringlich wurde das an einer Studie zur Frage gezeigt, wann denn Experimente der Hochenergiephysik als fertig, als ausgeführt angesehen werden: Auch hier haben sich die Kriterien als außerordentlich komplex und mannigfaltig herausgestellt. 17 Die Einsicht, daß experimentelle Erfahrung nicht per se unabhängig davon ist, wer sie wann, wo, und unter weIchen Umständen macht, gibt erneut zu der schon bei Aristoteles angelegten Frage Anlaß, wie denn diese Fonn von Erfahrung zu verstehen ist, bei der das Intervenieren eine so wesentliche Rolle spielt. Ein kruder 13 H. M. Collins, Changing Order: Replication and Induction in Scientific Practice, BeverIy HiIIs! London 1985. 14 Etwa H. Radder, Experimental Reproducibility and the Experimenters-Regress, in: D. HuB! M. Forbes! K. Okruhlik (Hg.), PSA 1992: Proceedings of the 1992 Biennial Meeting of the Philosophy of Science Association, East Lansing 1992, S. 63 - 73, oder A. Franklin, How to Avoid the Experimenters' Regress, in: Studies in History and Philosophy of Science 25, 1994, S. 463-491. 15 I. Hacking, Representing and Intervening: Introductory topics in the philosophy of natural science, Cambridge 1983. 16 N. Cartwright, How the Laws of Physics Lie, Oxford 1983. 17 P. Galison, How Experiments End, Chicago 1987.

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Empirismus la Bacon oder Mill ist jedenfalls nicht haltbar, und die neueren, differenzierteren Formen des Empirismus haben sich, wie oben erwähnt, wenig um das Experiment gekümmert und sich diese Frage nicht gestellt. Demgegenüber wurden in zwei verschiedenen Richtungen konstruktivistische Positionen ausgearbeitet. Anknüpfend an wissenssoziologische und sprachphilosophische Untersuchungen wurde das sogenannte strang pragram der Edinburgher Schule entwikkelt. 18 Was wir empirische Resultate nennen - so könnte man die zentrale These formulieren -, ist stets das Resultat eines soziologischen Prozesses und gibt mehr über die soziologische Konstellation Auskunft als über eine unabhängig von ihr existierende Außenwelt. Wissenschaft ist nur als soziologisches Konstrukt zu verstehen, nicht durch Bezugnahme auf die Natur, die sie zu erforschen glaubt. Im Rahmen dieses Verdikts, in dem aller Empirie, allen ,Erfahrungs'-befunden der Anspruch genommen wird, über eine Außenwelt Aussagen zu treffen, verliert natürlich auch das Experiment jede über den sozialen Kontext hinausgehende Aussagekraft. Die schon erwähnte These vom "experimentellen Regress" wurzelt in solchen Überlegungen. Ebenfalls konstruktivistisch, aber von anderer Seite, hat sich eine schon in den 20er Jahren durch Hugo Dingler angelegte philosophische Tradition wieder Gehör verschafft. 19 Die Einsicht, daß Experimentieren vor allem geregeltes Handeln ist, wird hier dahingehend weiterentwickelt, daß wir hierbei nicht etwas über eine unabhängig von diesem Eingreifen vorhandene Wirklichkeit erfahren, sondern erst in diesem geregelten Handeln die Begriffe erlernen, mit denen wir unsere Wirklichkeit organisieren. Für elementare Begriffe der Geometrie und der Zeit hat die "Protophysik" diese These im einzelnen ausgearbeitet und den weiteren Schluß gezogen, daß alle unsere Begriffsbildung auf diesem Wege vonstatten gehe. 2o Neuerdings wird hier der Versuch einer entsprechenden Begründung der Grundbegriffe der Chemie und Biologie unternommen. In bei den Spielarten des Konstruktivismus steht unser Realitätsverständnis insgesamt zur Debatte. Das Experiment gilt vornehmlich als ein Akt des Schaffens und nicht, wie in der empiristischen Tradition, eher des Rezipierens. Von einer differenzierten Philosophie des Experimentes, die den neuen Einsichten Rechnung trägt, sind wir allerdings noch weit entfernt. 21 Ich werde mich im weiteren nur mit einem Teilbereich der hier anstehenden Fragen näher befassen. Wenngleich Experimente tatsächlich oft als Testinstanz für Hypothesen dienen, 18 D. Bloor; Knowledge and social imagery, Chicago 1976, B. Barnes/S. Shapin (Hg.), Natural order: Historical studies of scientific culture, London 1979, H. Collins /T. Pinch, Frames of meaning: The social construction of extraordinary science, London 1982. 19 H. Dingler; Das Experiment: Sein Wesen und seine Geschichte, München 1928, H. Tetens, Experimentelle Erfahrung. Eine wissenschaftstheoretische Studie über die Rolle des Experiments in der Begriffs- und Theoriebildung der Physik, Hamburg 1987. 20 G. Böhme (Hg.), Protophysik, Frankfurt a.M. 1976, P. Janich, Das Maß der Dinge. Protophysik von Raum, Zeit und Materie, Frankfurt a.M. 1997. 21 Für eine Skizze siehe H. Radder; Issues for a Well-Developed Philosophy of Scientific Experimentation, in: M. Heidelberger/F. Steinle (Hg.), Experimental Essays - Versuche zum Experiment, Baden-Baden 1998, S. 392-404.

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liegt hier sicher nicht ihre ausschließliche und vennutlich nicht einmal ihre wichtigste Rolle. Die Trennung zwischen Entdeckungs- und Rechtfertigungskontext erweist sich als nicht nur wenig hilfreich, sondern regelrecht hinderlich für ein Verständnis. Viel zu voreilig hat man Prozessen der Entstehung und Stabilisierung von Begriffen und Theorien jede epistemische Signifikanz abgesprochen und sich den Blick für andere Rollen des Experimentes verstellt.

111. Zwei Beispiele aus der Forschungspraxis Nicht von ungefähr fußen die neuen Diskussionen um das Experiment auf Untersuchungen des tatsächlichen Werdegangs der Wissenschaften, und hier muß auch der Ausgangspunkt für ein Verständnis der vielfältigen Rollen des Experiments liegen. Allerdings vennitte1n die veröffentlichten Selbstdarstellungen der Akteure nicht unbedingt eine Einsicht in die Arbeitspraxis. Viel zu lange ist man nicht gewahr geworden, daß solche Darstellungen bisweilen nach Standardvorstellungen und bestimmten Erwartungen und Klischees gefonnt sind. Daß sich etwa der erwähnte "standard view" so lange gehalten hat, liegt nicht zuletzt daran, daß die Selbstdarstellung von Wissenschaftlern oft nach diesem Muster stilisiert war: Philosophische Lehnneinung und Selbstdarstellung der Wissenschaften haben sich hier gegenseitig stabilisiert. Demgegenüber ist die Forschungspraxis in jüngerer Zeit stärker ins Blickfeld geraten. 22 Um hier einen Einblick zu erhalten, muß man hinter die Selbstdarstellung zurückgehen und die Arbeitspraxis aus anderen Quellen rekonstruieren. Meine beiden Beispiele gehören zur Entwicklung des Elektromagnetismus im frühen 19. Jahrhundert und sind hoffentlich auch für Nichtphysiker noch gut überschaubar. Als der dänische Naturforschers Hans-Christian Oersted im Sommer 1820 seine Entdeckung einer Wirkung von Elektrizität auf Magnetismus bekannt machte, löste er damit in ganz Europa einen enonnen Widerhall aus, und in kürzester Zeit wurden seine Befunde allerorten nachexperimentiert. Einmal gefunden, war der Effekt für seine Zeitgenossen leicht zu wiederholen. Die experimentelle Anordnung bestand aus einem galvanischen Element, einem "Schließungsdraht" zum Verbinden der bei den Pole dieses Elementes und einer in der Art eines Kompasses gelagerten Magnetnadel, die in der Nähe des Drahtes plaziert wurde. Sobald man den Draht mit der Batterie verband, die Batterie also "schloß" (wir würden heute von einem Kurzschluß sprechen), wurde die Nadel aus ihrer durch den Erdmagnetismus bestimmten Ruhelage ausgelenkt. Mit dieser fundamentalen Entdeckung war aufgewiesen, daß der Galvanismus eine Wirkung auf Magnetis22 Für Beispiele siehe etwa F. L. Holmes. Scientific Writing and Scientific Discovery, in: Isis 78, 1987, S. 220 - 235, A. Pickering (Hg.), Science as Practice and Culture, Chicago 1992, oder J. Z. Buchwald (Hg.), Scientific Practice: Theories and Stories of Doing Physics, Chicago 1995.

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galvanische Batterie

Verbindungsdraht der Batterie

Magnetnadel, wie ein Komptß gelagert

Fig. I: Schematische Darstellung von Oersteds Experimenten

mus ausübte - ein Effekt, der seit Voltas Erfindung der nach ihm benannten Säule im Jahr 1800 wiederholt gesucht, aber nie gefunden worden war. Einer weitverbreiteten Stimmung zufolge war hier ein neues, unbekanntes Forschungsfeld eröffnet worden. Die Wissenschaftsstrukturen und -kulturen in den verschiedenen Teilen Europas waren im frühen 19. Jahrhundert noch weit heterogener als heutzutage, und die Reaktionen auf Oersteds Bericht fielen an verschiedenen Orten charakteristisch unterschiedlich aus. Eine Besonderheit des Effekts war hier besonders wichtig: Die Ausrichtung der Nadel hing nicht nur von ihrem Abstand zum Draht ab, sondern wesentlich von ihrer relativen Position. So kehrte sich etwa die Auslenkung der Nadel um, wenn sie, bei gleichbleibender Entfernung, oberhalb statt unterhalb des Drahtes plaziert wurde. Ein solches, außerordentlich verblüffendes Verhalten widersetzte sich schon auf den ersten Blick dem traditionellen Konzept von rein entfernungsabhängigen, in Richtung der Verbindungslinie zwischen Kraftzentren wirkenden Kräften der Anziehung oder Abstoßung. Dieses Konzept spielte beim Nachdenken über physikalische Naturvorgänge eine zentrale Rolle. Überdies war eines der wichtigsten Forschungsprogramme der Zeit, die in vielen Gebieten außerordentlich erfolgreiche "Laplacesche Physik", wesentlich auf diesem Konzept aufgebaut. Das Zentrum dieser mathematischen Theorieentwicklung lag in Paris, und nicht umsonst waren die Reaktionen auf Oersteds Bericht gerade hier am heftigsten. Hinzu kam, daß in der etablierten Theorie der Elektrizität für eine Wechselwirkung zum Magnetismus kein Platz vorgesehen war. Noch vor dem Vertreter der etablierten Physik, Jean-Baptiste Biot, trat ein Außenseiter auf den Plan: Andre-Marie Ampere, Mathematikprofessor an der Ecole Polytechnique und bis dato nicht gerade für Interesse an der Physik bekannt. Sein unerwartetes Engagement hatte, neben inhaltlicher Neugier, auch mit dem Bestreben zu tun, Alternativen zur Laplaceschen Physik zu entwerfen und nicht zuletzt in

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demselben Zuge auch seine eigene, ihn nicht zufrieden stimmende berufliche Position in Paris zu verbessern. Ampere war sich der Konkurrenz zu Biot sofort bewußt und machte sich mit fieberhafter Intensität an die Arbeit. Schon zwei Wochen, nachdem der neue Befund in Paris bekannt geworden war, hielt er einen ersten Vortrag vor der Academie des Sciences, der zentralen Wissenschaftsinstitution in Frankreich. Eine Woche später folgte ein zweiter; und das war nur der Auftakt zu einer ein Vierteljahr lang andauernden, fast ununterbrochenen Serie von wöchentlichen Vorträgen. Zugleich drängte Ampere sehr stark - und mit einigem Erfolg auf eine rasche Drucklegung und Verbreitung seiner Ergebnisse. Ich werde aus seinen frühen Arbeiten, über die wir bislang nur wenig wußten, zwei Episoden herausgreifen. Amperes erste Bestrebungen waren darauf gerichtet, den Effekt selbst näher zu fassen und eine Regel für das Verhalten der Nadel anzugeben. Seine experimentellen Anordnungen sahen ähnlich aus wie die Oerstedschen (s. oben, Fig. 1) und ließen viel Platz für Variationen. Eine systematische Variation vieler experimenteller Parameter war denn auch sein erster experimenteller Schritt. Er variierte etwa die Stärke und Polung der Batterie, das Material der Nadel, die Ausrichtung des Drahtes und der Nadel relativ zum terrestrischen Magnetismus und vor allem die relative Lage zwischen Draht und Nadel: Die Nadel konnte sich oberhalb oder unterhalb, rechts oder links vom Draht, in zentrierter oder dezentrierter Position befinden; der Draht wurde horizontal oder vertikal gespannt usw. Amperes Ziel dabei war es, die verschiedenen Faktoren, die die Bewegung der Magnetnadel bestimmten, ausfindig zu machen, zu isolieren und stabile Regeln zu formulieren. Die Regularität, die er schließlich formulierte, hatte denn eine typische "Wenn-Dann"-Form, bei der sich sowohl die Bedingungen als auch die Folgen auf die Erscheinungsebene bezogen. Das war alles andere als einfach. Um eine Regel zu formulieren, war ja zumindest eine Begrifflichkeit, eine Sprache nötig. Mit Bezug auf die Lageabhängigkeit machte aber die erwähnte Besonderheit des Effektes die Verwendung der traditionellen Begriffe von anziehenden und abstoßenden Kräften unmöglich. Die Entfernung vom Draht war, wie an den Experimenten sehr deutlich wurde, nicht das entscheidende Kriterium. Viel wichtiger waren andere räumliche Verhältnisse, wie die Lage oberhalb oder unterhalb, rechts oder links des Drahtes. Um solche Verhältnisse auszudrücken, war keine differenzierte Begrifflichkeit vorhanden. Die Rede von rechts oder links involvierte stets den (zufälligen) Standort des Beobachters, und wenn man stattdessen auf die Himmelsrichtungen Bezug nahm (wie es Oersted getan hatte), konnte man nur über spezielle, wohlausgerichtete experimentelle Anordnungen Aussagen treffen. Komplizierend kam hinzu, daß alle Effekte sich invertierten, wenn die Polung der Batterie geändert wurde. Zu alledem bemerkte Ampere während seiner Arbeiten, daß nicht nur der Schließungsdraht, sondern auch die Batterie selbst magnetische Wirkungen ausübte. Als eine allgemeine Regel stellte er bald fest, daß sich die Nadel unter der ausschließlichen Wirkung des Drahtes stets rechtwinklig zu diesem einstellte. Wohin sich aber jeweils der Nord15 LoltcrlHampe

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und Südpol der Nadel ausrichtete, war nicht leicht anzugeben. Um das zu formulieren, führte Ampere schließlich neue Begriffe ein: 23 " Wenn ein Magnet und ein galvanischer Leiter in der Weise aufeinander wirken, daß einer der beiden fest ist, der andere sich nur in einer zur kürzesten Abstandslinie senkrechten Ebene drehen kann, dann wird sich der bewegliche derart zu bewegen suchen, daß die Richtung des Leiters einen rechten Winkel mit der Magnetachse bildet und der Nordpol des Magneten sich zur Linken, der entgegengesetzte zur Rechten dessen befindet, was man den galvanischen Strom genannt hat."

Der Begriff des galvanischen Stroms war von anderen schon zuvor verwendet worden; dabei hatte man stets auf (unterschiedliche) spezielle mikroskopische Theorien über die Vorgänge im Draht gezielt. Ampere dagegen führte den Begriff in rein ,instrumentalistischer' Weise ein, um eben die Regel besser formulieren zu können: "Ich verwende im übrigen hier das Wort ,galvanischer Strom' nur als eine bequeme Ausdrucksweise, um die Richtungen zu bestimmen, um die es sich handelt. Dieser Ausdruck wird verwendet, ohne die wirkliche Existenz eines solchen Stromes anzunehmen."

Die Begriffe ,,rechts" und "links" vom Strom schließlich waren gänzliche Neuschöpfungen: "Um die Bedeutung der Worte ,rechts' und ,links' vom galvanischen Strom zu präzisieren, muß man eine zur Definition von ,rechts' und ,links' eines Flusses analoge Vorstellung einführen: Ein Mensch sei von den Füßen zum Kopf in Richtung des galvanischen Stroms plaziert und habe sein Gesicht der Magnetnadel zugewandt. Dann bezeichnet die Seite seiner rechten Hand das, was ich ,rechts' vom Strom nenne, seine linke Hand entsprechend ,links"'.

Ampere unterschied in der Regel zunächst zwischen zwei Fällen: den Wirkungen des Drahtes und der Batterie selbst. Dabei mußte er die Stromrichtung, die stets mit Bezug auf die Pole der Batterie angegeben wurde, in der Batterie andersherum annehmen als im Schließungsdraht. Kurz darauf gelang es ihm, eine einheitliche Formulierung der Regel zu gewinnen. Dazu entwarf er einen weiteren neuen Begriff: den eines Stromkreises, der gleichermaßen Batterie und Draht umfaßte. 24 Die Stromrichtung wurde nun nicht mehr auf die Pole der Batterie bezogen, sondern gab den Umlaufsinn in einem Kreis an. Dieser wurde etwa durch die Polarität der Gasentwicklung in Zersetzungszellen festgestellt, die an beliebiger Stelle in diesen Kreis eingebracht werden konnten. Der uns heute so selbstverständlich erscheinende Begriff eines Stromkreises, der gleichermaßen die Quelle und den Ent23 Alle folgenden Zitate stammen aus der von mir rekonstruierten Version des Manuskripts [208 bis (f)] im Archiv der Academie des Sciences in Paris, Dossier Ampere. Die Hervorhebungen sind von mir hinzugefügt. 24 F. Steinle, Experiment, Instrument und Begriffsbildung: Ampere, das Galvanometer und der Stromkreis, in: C. Meinel (Hg.), Instrument - Experiment: Historische Studien, Berlin, Diepholz 2000, S. 98 - 108.

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ladungsdraht umfaßt, wurde hier zum ersten Mal geprägt. Es ist bemerkenswert, daß er nicht im Kontext einer mikroskopischen Theorie der Elektrizität entwickelt wurde, sondern als ein Hilfsmittel, um empirisch gefundene Regularitäten möglichst allgemein und überschaubar ausdrücken zu können. Irgendein Anspruch physikalischer Realität war mit diesem Begriff zunächst genau so wenig verbunden wie mit dem Strombegriff. Mein zweites Beispiel ist aus Amperes Arbeit einige Wochen später entnommen. Er machte sich bald an Überlegungen und Spekulationen zur "Ursache" der elektromagnetischen Wirkungen; das brachte einen ganz anderen Typ experimentellen Arbeitens mit sich. Auf verschlungenen, von ihm selbst nicht systematisierten Denkpfaden, gelangte er zu der Hypothese, daß aller Magnetismus möglicherweise auf in magnetischen Körpern vorhandenen elektrischen Kreisströmen beruhe. Der vorher in ganz anderem Kontext entwickelte Begriff des Stromkreises war dazu natürlich wesentlich. An einen direkten Aufweis solcher Kreisströme war nicht zu denken. Auf der Suche nach empirischer Stützung versuchte Ampere stattdessen, das Verhalten von Magneten durch elektrische Kreisströme zu "imitieren". Er baute Versuchsanordnungen, bei denen zu Spiralen oder Spulen aufgewickelte Leitungsdrähte an eine Batterie angeschlossen und auf ihre Wechselwirkung mit Magneten hin untersucht wurden. Von seinen zahlreichen Experimenten möchte ich nur eines diskutieren, dem er eine herausragende Bedeutung beimaß. Wenn Kreisströme mit Magneten wechselwirkten und sich dabei selbst wie Magnete verhielten - so Amperes Überlegung - dann sollten sie auch untereinander ohne Vermittlung von Magneten eine Wirkung ausüben. Als seine Experimente zur Suche nach einem solchen Effekt zunächst erfolglos blieben, vermutete er die Ursache in zu großen Reibungseffekten und in zu schwachen Batterien. Erst als es ihm gelang (für den stolzen Preis von mehr als einem halben Monatsgehalt!), die stärkste in Paris verfügbare Batterie zu erstehen, konnte er den erwarteten Effekt erzielen; und schon wenige Stunden nach diesem Erfolg stellte er das Experiment vor der Akademie stolz als einen "preuve definitif' für seine Kreisstromhypothese vor. Das Kernstück der Apparatur (In Fig. 2 ist eine spätere, ausgearbeitete Version dargestellt) waren zwei aus Draht gewickelte Spiralen A und B, von denen die eine (A) fest auf einem Ständer montiert, die andere dagegen (B) wie ein Pendel schwingfahig gelagert war. Beim Verbinden der beiden Spiralen mit einer Batterie ließ sich, je nach Polung, ein Anziehungs- bzw. Abstoßungseffekt zwischen den bei den beobachten. Im Gegensatz zu meinem ersten Beispiel stand arn Anfang dieser experimentellen Reihe eine wohlformulierte Erwartung über den Ausgang des Experimentes; sie gab Anlaß zu einem wohlbestimmten experimentellen Aufbau. Als der erwartete Effekt nicht eintrat, versuchte Ampere, mögliche hemmende Faktoren (Lagerung, Aufhängung der Spiralen, Reibung, zu kleine Abmessungen etc.) zu minimieren und mögliche fördernde (Stärke der Batterie) zu verstärken. Der grunds ätz15*

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Fig. 2: Amperes Apparatur zum Nachweis des Anziehungseffektes zwischen Strömen

liehe Aufbau aber, der aus der theoretischen Spekulation bestimmt war, blieb dabei unverändert. An Stelle einer in die Breite gehenden Variation von Parametern fand hier eine gezielte Optimierung in Hinsicht auf einen einzigen, zu erwartenden Effekt statt. Das Experiment fungierte als Bestätigungsinstanz für eine Theorie und war von der ersten Konzeption bis hin zur abschließenden Auswertung hierdurch bestimmt. Am Ende stand nicht eine "Wenn-Dann"-Rege1, sondern Ampere sprach - charakteristisch genug - von einem experimentellen "Beweis". In den bei den Beispielen liegen ganz verschiedene Formen experimentellen Arbeitens vor. Die zweite davon kommt dem "standard view" einigermaßen nahe: Das Experiment stand hier, um mit Popper zu sprechen, ganz und gar im Dienste der Theorie. Die im ersten Beispiel illustrierte Experimentierweise dagegen läßt sich so nicht fassen: So ist etwa gar keine Theorie ersichtlich, die hier eine dominierende Rolle hätte spielen können. Viel eher ist es Theorie- oder Begriffsbildung, die hier statt-

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fand. Ein solches Experimentieren, das ich als "explorativ" bezeichnet habe, ist bisher der Aufmerksamkeit weitgehend entgangen. Bevor ich mich damit näher befassen werde, sei noch ein Umstand zur historischen Situation erwähnt. Ampere selbst hat in seinen veröffentlichten Schriften vor allem Experimente vom Typ des zweiten Beispiels dargestellt. Daß ihnen eine intensive explorative Phase vorangegangen war, konnte ein Leser allenfalls erahnen; wirklich erschließen läßt sie sich nur aus Amperes erhaltenen privaten Notizen. Die einseitige Selbstdarstellung hatte mit dem akademischen Milieu zu tun, in dem Ampere agierte und sich zu behaupten hatte. Forscher in anderen Teilen Europas waren da weniger zuruckhaltend. Dadurch wissen wir, daß in der ersten Phase des Elektromagnetismus tatsächlich an vielen Orten Europas explorativ gearbeitet wurde, so etwa durch Mare-Auguste Pictet und Charles Gaspard de la Rive in Genf, durch Johann Salomo Christoph Schweigger in Halle, durch Humphry Davy in London, durch Thomas Johann Seebeck in Berlin, durch Jöns Jacob Berzelius in Stockholm oder durch Pietro Configliachi in Pavia. An diesen Orten lag, was die theoretischen Ansichten und Vorlieben anging, ein außerordentlich verschiedener Hintergrund vor. Gemeinsam war allerdings eine Unsicherheit, gar Ratlosigkeit dem neuen Befund gegenüber. Es war nicht ersichtlich, wie irgendeines der verschiedenen zur Verfügung stehenden Begriffs- und Theoriesysteme mit dem neuen Effekt umgehen könnte. Der Umstand, daß ein exploratives experimentelles Arbeiten durchgehend anzutreffen war, verweist darauf, daß es sich hier um ein allgemeines Verfahren handelt, das nicht an bestimmte theoretische Meinungen und Traditionen gebunden, sondern eher für bestimmte Erkenntnissituationen charakteristisch ist.

IV. Exploratives Experimentieren In Situationen der Unsicherheit gegenüber einem unerwarteten experimentellen Befund richtet sich das Bestreben typischerweise darauf, unabhängig von theoretischen Systemen mehr über den Effekt als solchen zu erfahren. Ein erster Schritt dazu liegt in der Suche nach Regularitäten, nach empirischen "wenn-dann"-Regeln. Erst sie ermöglichen einen stabilen Umgang mit dem Effekt. Das Erarbeiten und Formulieren solcher Regularitäten kann nur im Rahmen experimentellen Arbeitens geschehen. Hier ist das Feld explorativen Experimentierens. Ein solches experimentelles Arbeiten ist keinesfalls ein kopfloses Herumspielen mit dem Apparat, sondern verläuft nach wohlformulierbaren Richtlinien: - Systematisches Variieren einer großen Zahl verschiedener experimenteller Parameter mit dem Ziel, stabile empirische Regeln aufzufstellen. Sie haben typischerweise die Form "Wenn bestimmte Bedingungen vorliegen, dann tritt dieser oder jener Effekt ein", - Entwickeln angemessener Darstellungssysteme und Begriffe, mit deren Hilfe sich solche Regeln möglichst allgemein formulieren lassen,

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- Ennitteln, welche der experimentellen Bedingungen unerläßlich für das Auftreten des in Rede stehenden Effektes sind und weIche den Effekt nur modifizieren, - Entwickeln experimenteller Anordnungen, die nur noch die unerläßlichen Bedingungen enthalten und damit die allgemeine Regel in besonderer Klarheit zum Ausdruck bringen. Solche Anordnungen werden oft als "einfache", "allgemeine", "elementare" oder ,,reine" Fälle bezeichnet. Sie dienen als Kernpunkte, auf die eine Vielzahl von Erscheinungen in phänomenologischer Weise "reduziert" werden kann. Wie oben illustriert, ist das keineswegs ein einfacher oder epistemisch ,unschuldiger' Prozeß, wie es in der empiristischen Tradition manchmal dargestellt wurde. Um eine Regel zu fonnulieren, ist eine Sprache, sind Begriffe notwendig. Und in der Wissenschaftsentwicklung gibt es immer wieder Situationen, in denen gar nicht klar ist, welche Begriffe wirklich ,greifen'. Möglicherweise sind angemessene Begriffe und Darstellungsmittel in dem bestehenden Repertoire einfach nicht vorhanden, sondern müssen neu geprägt werden. Das ist ein schöpferischer und oft sehr aufwendiger Akt; Amperes Begriffe ,,rechts-links" vom Strom und vor allem vom Stromkreis bieten da charakteristische Beispiele. Wesentlich ist, daß diese Begriffsbildung im Kontext intensiven experimentellen Arbeitens stattfindet: Handeln und Begriffsbildung stabilisieren (oder destabilisieren) sich in einem ständigen Wechsel. Die oben genannten Richtlinien explorativen Arbeitens sind einigennaßen unspezifische, methodische Regeln. Sie ziehen eine Fülle von breit gestreuten Experimenten nach sich, die einzeln genommen nur der Richtung nach, nicht aber im Detail von den allgemeinen Richtlinien bestimmt sind. Das begriffliche Ordnungsgefüge, mit dem die Erscheinungen behandelt werden können, steht typischerweise am Ende, gerade nicht am Anfang der experimentellen Arbeit. Das sieht bei theoriebestimmtem Arbeiten ganz anders aus. Wenn sich Ampere mögliche Konsequenzen der Kreisstromhypothese überlegt und anschließend Versuchsanordnungen ausgedacht hat, mit denen sie geprüft werden konnten, dann war schon für das Entwerfen und noch mehr für das Auswerten der Experimente eine wohlgefügte Begrifflichkeit und ein - wenn vielleicht auch vorläufiges - theoretisches Konzept erforderlich. Eine solche Theoriebestimmtheit zeitigt wenige, wohl gezielte Experimente, die auch im Detail von der Theorie bestimmt sind. Die unterschiedlichen Richtlinien des experimentellen HandeIns gehen mit einem unterschiedlichen Erkenntnisziel einher. Ein weiterer Unterschied betrifft schließlich den Charakter der verwendeten Instrumente und Apparate. Wieder sind die obigen Beispiele sehr illustrativ. Amperes Apparatur bei seinen explorativen Arbeiten (Fig. 1) erlaubte ihm eine große Breite experimenteller Variationen. Zugleich ließ sie eine große Breite möglicher experimenteller Ausgänge offen; die durch die Apparatur selbst auferlegten Beschränkungen waren vergleichsweise lose. In beiderlei Hinsicht war die Apparatur

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zur Darstellung des Anziehungseffektes zwischen Spiralen (Fig. 2) von anderem Charakter. Der Aufbau war so gezielt auf die Suche nach einem spezifischen Effekt hin konstruiert, daß für Variationen der experimentellen Bedingungen kaum Möglichkeiten blieben. Ebenso taugte er zwar hervorragend zur Suche und zum Nachweis des erwarteten Anziehungs- oder Abstoßungseffektes - aber eben auch nur dieses einen Effektes. Eine Rotations- oder laterale Bewegung der Spiralen beispielsweise, wie sie nicht erwartet, aber auch nicht apriori ausschließbar war, hätte mit diesem Apparat kaum registriert werden können. Die Spezifizierung und Theoriebestimmtheit des Experimentes spiegelte sich in einer hohen Spezifität des instrumentellen Aufbaus wider und war um den Preis eines beträchtlichen Verlustes an Flexibilität und Offenheit für unerwartete Befunde erkauft. Mit der Beobachtung, daß exploratives Experimentieren typischerweise in bestimmten epistemischen Situationen unternommen wird, soll nicht gesagt sein, daß in solchen Situationen auch notwendigerweise explorativ gearbeitet wird. Das Spektrum der Möglichkeiten, mit denen auf Situationen begrifflicher Unsicherheit reagiert werden hat, ist vielfältig. Bei Ampere war die explorative Phase nur kurz und er hat sie aus verschiedenen Gründen frühzeitig abgebrochen. Sein Konkurrent Biot hatte sich schon gar nicht erst an exploratives Arbeiten gemacht. Solche Beispiele ließen sich leicht vermehren. Welcher Forschungsweg wirklich eingeschlagen wird, ist stets und notwendigerweise auch durch biographische Aspekte, die soziologische Konstellation in der Wissenschaftsgemeinschaft, die Verfügbarkeit von Laborressourcen usw. bestimmt - kurzum durch die vielfältigen historischen Spezifika der jeweiligen Situation. Wissenschaft ist ein historischer Prozeß, und viele Entscheidungen, auch solche mit nachhaltiger Wirkung, lassen sich nur aus spezifischen historischen Gegebenheiten heraus verstehen.

V. Die Vielfalt experimenteller Erfahrung Im Nachdenken über die Rolle des Experiments ist man bisher kaum gewahr geworden, welche Bedeutung exploratives Experimentieren in der Entwicklung der Wissenschaften spielte. Schon die Geschichte eines kleinen Teilbereiches, etwa der Elektrizität, bietet reichlich Material. Eine erste Liste umfaßt etwa William Gilberts erste Klassifizierung von elektrischen und magnetischen Effekten (1600), Charles Dufays Einführung der Begriffe von zwei entgegengesetzten Elektrizitäten (frühes 18. Jahrhundert), die anschließende Etablierung von Begriffen der Fortleitung von Elektrizität und der Einteilung von Materialien in Leiter und Nichtleiter (18. Jahrhundert), die neuen Begriffe und Darstellungsschemata im Zuge der Arbeiten zum Galvanismus (ab 1790), Michael Faradays über Jahrzehnte hinweg betriebene explorative Arbeit, in der die Grundbegriffe der Feldtheorie geformt wurden (zweites Drittel des 19. Jahrhunderts), Julius Plückers Arbeiten über elektrische Entladungen in verdünnten Gasen (zweite Hälfte 19. Jahrhundert), oder Heinrich Hertzs Arbeiten zu hochfrequenten elektromagnetischen Oszillationen und

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elektromagnetischen Wellen (spätes 19. Jahrhundert). Die Aufzählung ist bei weitem nicht erschöpfend, und ähnliche Listen ließen sich auch für andere Gebiete leicht angeben. Als Beispiele aus der Chemie seien etwa die Konzepte der chemischen Verbindung und Reaktion genannt, die unser Denken so tief prägen und die im Kontext breiter und systematischer experimenteller Arbeit entwickelt wurden,25 oder der Begriff zyklischer Reaktionen, wie er in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts im Rahmen der experimentellen Forschungen zur Biosynthese von Harnstoff von Hans Krebs geformt wurde?6 In der Physiologie denke man an die Arbeiten Claude Bernards im 19. Jahrhundert zum Metabolismus?? Als ein nicht im wissenschaftlichen ,mainstream' liegendes, als gescheitert angesehenes, aber sehr charakteristisches Beispiel für exploratives Arbeiten seien schließlich Goethes zahlreiche Experimente Arbeiten zur Farbenlehre erwähnt, in denen es ihm wesentlich um andere Grundbegriffe und Denkkategorien als die etablierten der Newtonschen Lichttheorie ging. In all diesen Fällen war das Experiment wesentliches Element einer Suche nach angemessenen Begriffen. Statt einer Funktion des Experimentes tut sich nun ein ganzes Spektrum auf. Je verbindlicher 'und feiner ausgearbeitet die Begriffe und Theorien eines Feldes sind, um so spezifischere Fragen können gestellt und gezieltere Experimente ausgeführt werden. So steht am einen Ende des Spektrums die Rolle des Experimentes, die der "standard view" beschreibt, und bei der aus einer festen Begrifflichkeit und Theorie heraus Experimente entworfen, durchgeführt und ausgewertet werden. Das muß nicht ein eigentlicher Test der Theorie sein (solche Fälle sind eher selten); auch die Anpassung eines numerischen Parameters oder die Bestimmung eines Zahlenwertes sind Beispiele für eine solche Rolle des Experimentes. Am anderen Ende des Spektrums liegt die von mir als explorativ bezeichnete Arbeitsweise. Hier sind nur sehr wenig bestimmte Begriffe zur Hand, die das Handeln leiten könnten, schon gar nicht eine Theorie. In einer offenen, oft geradezu instabilen Situation werden geeignete Begriffe erst gesucht und erarbeitet. Es ist ein delikates Ineinanderspiel und wechselweises Stabilisieren oder Destabilisieren von Handlung und Begriffsbildung, das hier stattfindet. Solches Experimentieren hat weitreichendste Folgen und eine immense epistemische Bedeutung: Immerhin werden hier erste Ordnungssysteme erarbeitet, die Objekte und Denkkategorien - die "epistemischen Dinge", um mit Hans-Jörg Rheinberger zu sprechen - geschaffen und festgelegt, die schließlich einen stabilen Umgang mit dem Erscheinungsbereich erlauben. Alles weitere Arbeiten auf dem Feld wird dadurch weitgehend geprägt, alle 25 U. Klein. Origin of the Concept of Chemical Compound, in: Science in Context 7, 2, 1994, S. 163 - 204, U. Klein, The Chemical Workshop Tradition and the Experimental Practice - Discontinuities within Continuities, in: Science in Context 9,1996,4, S. 251-287. 26 F. L. Holmes, Hans Krebs: Architect of Intermediary Metabolism 1933 - 1937, Oxford 1993. 27 H.-I. Rheinberger. Morphologie bei Claude Bernard, in: A. Geus/W. F. Gutmann1M. Weingarten (Hg.), Miscellen zur Geschichte der Biologie. I1se Jahn und Hans Querner zum 70. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1994, S. 137 -150.

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weitere Erfahrung auf einer tiefen, später nicht mehr reflektierten Ebene strukturiert. Hier wird der Rahmen geformt, in dem die Bildung von und die Diskussion über spezielle Theorien überhaupt erst möglich wird. Exploratives Arbeiten - das sei als weitere Beobachtung erwähnt - hat starke Ähnlichkeiten zu Verfahren, mit denen wir im lebenspraktischen Kontext Probleme angehen. Wenn uns im Lebensalltag ein unbekanntes Ding gegenübertritt, das wir aus irgendeinem Grunde verstehen und handhaben wollen, werden wir typischerweise versuchen (sofern nicht offensichtliche Genihrlichkeit dagegen spräche), es nicht nur anzuschauen, sondern mit ihm zu interagieren und gerade im Erarbeiten eines stabilen Umgangs zu lernen, welche Denkkategorien und Begriffe hier angemessen sind. Exploratives Experimentieren mit seiner eminenten Bedeutung in der Wissenschaftsentwicklung ist solchen Verfahren vergleichbar. Wichtige Bereiche wissenschaftlichen Experimentierens sind von unserer Alltagspraxis und unserem Alltagsdenken nicht so abgehoben, wie es bisweilen erscheinen mochte, sondern haben sich aus ihnen heraus entwickelt. Das könnte wohl heißen, daß sich viele der oben genannten Fragen zum Status des Experimentes als Erkenntnismittel nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Art und Weise stellen, wie wir im Alltag durch Manipulieren von Dingen Erfahrung gewinnen. Umgekehrt mag der Blick auf unsere alltägliche Erkenntnispraxis auch über den Status des wissenschaftlichen Experimentes lehrreichen Aufschluß liefern.

Dimensionen der Darstellung in der Praxis des wissenschaftlichen Experimentierens Von Hans-Jörg Rheinberger Meine Ausgangsfrage ist, wie Experimentalsysteme, die man als die Arbeitseinheiten der heutigen empirischen Wissenschaften bezeichnen kann,l ihre epistemisehe Wirkmacht zur Geltung bringen. Darum soll es in diesem Beitrag gehen, der Teil einer größeren Untersuchung über das Experiment in den biologischen Wissenschaften ist? Der Molekularbiologe Fran~ois Jacob hat einmal gesagt: "Es hängt alles davon ab, welche Repräsentation man sich von einem unsichtbaren Prozeß macht, und von der Art und Weise, wie man sie in sichtbare Wirkungen übersetzt.,,3 Die Formulierung hört sich unproblematisch an, läßt bei näherem Hinsehen jedoch Entscheidendes offen. Geht es bei einer wissenschaftlichen Repräsentation darum, "Unsichtbares" "sichtbar" zu machen? Handelt es sich um ein Suchspiel, in dem Verborgenes aufgespürt wird, das aber immerhin sich dem Kundigen und Fündigen zu entdecken gibt? Oder haben wir es mit einem Vorgang der "Übersetzung" zu tun, was ja im wörtlichen Sinn bedeutet, Zeichen in andere Zeichen zu transformieren? Oder geht beides Hand in Hand?

I. Die Bedeutungen der Repräsentation Für welche Interpretation man sich auch entscheiden mag, im Kern dessen, worum es in der wissenschaftlichen Praxis geht, stoßen wir auf das Problem der Darstellung. Aber "wovon reden wir überhaupt, wenn wir von Repräsentation sprechen?,,4 Intuitiv verbinden wir den Ausdruck der Repräsentation mit dem I Zum Begriff des Experimentalsystems vgl. H.-i. Rheinberger, Toward a History of Epistemic Things. Synthesizing Proteins in the Test Tube, Stanford 1997. 2 Der Beitrag greift zurück auf H.-i. Rheinberger, Von der ZeHe zum Gen: Repräsentationen der Molekularbiologie, in: H.-J. Rheinberger/M. Hagner/B. Wahrig-Schmidt (Hg.), Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 265-279. Einige der hier aufgegriffenen Überlegungen wurden zuerst skizziert in H.-i. Rheinberger, Experiment, Differenz, Schrift, Marburg 1992. 3 F. iacob. La statue interieure, Paris 1987, S. 311. 4 M. Lynch. Representation is overrated: Some critical remarks about the use of the concept of representation in science studies, in: Configurations 2, 1994, S. 137 -149, S. 148.

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Vorhandensein von etwas, worauf die Darstellung verweist. ,,Die Repräsentation eines Objekts beinhaltet die Herstellung eines anderen Objekts, das auf das erste intentional bezogen ist. Dabei wird eine bestimmte Codierungs-Konvention unterstellt, die festlegt, was zu Recht als ähnlich gilt. ,,5 In seiner ganzen Vorsicht und Vagheit - "bestimmte Codierungs-Konvention", "was zu Recht als ähnlich gilt" klingt dieser Definitionsversuch von Bas Van Fraassen und Jill Sigman recht geradeheraus. Bei eingehenderer Betrachtung des Sprachgebrauchs jedoch erweist sich der Begriff als entschieden vieldeutiger. Wenn wir von der ,Darstellung eines Sachverhalts' sprechen, haben wir es im Sinne des zitierten Definitionsversuches mit einer Darstellung ,von' etwas zu tun. Wenn wir dagegen berichten, daß wir diesen oder jenen Schauspieler gestern abend im Theater als diese oder jene Figur auf der Bühne gesehen haben, wird die Sache schon komplizierter. In diesem Falle einer Darstellung ,als' hat Repräsentation den doppelten Sinn einer Stellvertretung und gleichzeitigen Verkörperung. Jedes Schauspiel lebt von dieser Spannung, diesem "paradoxen Trick des Bewußtseins, der Fähigkeit, etwas zur gleichen Zeit als ,da' und als ,nicht da' zu sehen.,,6 Wenn uns schließlich ein Chemiker berichtet, er habe im Labor eine bestimmte Substanz dargestellt, so ist die Bedeutung von ,etwas Anderes wiedergeben' ganz verschwunden. Hingegen ist die Bedeutung von Verkörperung im Sinne der Herstellung eines spezifischen Stoffes in den Vordergrund gerückt. In diesem Falle bezeichnet Darstellen die Realisierung einer Sache. Die Bedeutung von ,Darstellung' deckt somit einen Bereich ab, der sich von einer Stellvertretung über eine Verkörperung bis hin zur Realisierung eines Dinges erstreckt. Zu allen drei Konnotationen, die der Ausdruck "Darstellung" im Sprachgebrauch des Alltags hat, findet sich eine Entsprechung, wenn wir in der Praxis der Wissenschaften von Repräsentation oder Darstellung reden. Grob gesprochen und ohne die Parallele allzu stark strapazieren zu wollen, haben wir es im ersten Falle mit Analogien zu tun, mit hypothetischen, mehr oder weniger willkürlichen Konstrukten. Man kann diese auch mit Symbolen im Sinne von Charles Sanders Peirce in Beziehung bringen. Im zweiten Falle sprechen wir von Modellen oder Simulationen, also von Ikonen gemäß Peirces Einteilung. Im dritten Fall schließlich handelt es sich um experimentell realisierte Spuren. Diese sind in Peirces semiotischem System vergleichbar mit einem Index. 7 Ganz ähnlich argumentiert Jacob, wenn er die experimentelle Biologie von "Analogien" über ,,Modelle" zu "konkreten Modellen"g fortschreiten sieht. Wieder finden wir diese drei Varianten, wobei man Jacobs aufsteigende Linie, also die hierarchische Anordnung der Repräsenta5 B. C. Van Fraassenl J. Signum, Interpretation in science and in the arts, in: G. Levine (Hg.), Realism and Representation, Madison 1993, S. 73 -99, S. 74. 6 W. J. T. Mitchell, Iconology: Image, Text, Ideology, Chicago 1987, S. 17. 7 eh. S. Peirce, Logic as semiotic: The theory of signs, in: J. Buchler (Hg.), Philosophical Writings of Peirce, Dover/New York 1955, S. 98-119, S. 102-103. 8 F. Jacob, Le modele linguistique en biologie, in: Critique 322, 1974, S. 197 - 205, S. 203 f.

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tionsfonnen von der Analogie über das Modell zum konkreten Modell allerdings hinterfragen kann. Welche Fonn der Darstellung in einem bestimmten wissenschaftlichen Kontext im Vordergrund steht, ist vorzugsweise historisch bedingt und fallweise neu zu bestimmen. Wohlgemerkt, es geht hier um die Funktion der Repräsentation auf der Ebene der Praxis der Wissenschaften, so wie sie in der materiellen Laborarbeit ins Werk gesetzt wird. Der Übergang zur Ebene der semiologischen Abstraktion und damit zu dem Problem, wie die Ergebnisse dieser Arbeit symbolisch festgehalten werden, ist hier keineswegs abrupt. Er vollzieht sich kontinuierlich und über beliebig viele Zwischenglieder, bei denen sich wiederum ohne Schwierigkeit ausmachen ließe, wie die drei Modi der Darstellung einander abwechseln. Mir geht es hier in erster Linie darum, den Prozeß der Verfertigung von Wissenschaft als einen Vorgang zu beschreiben, in dem ständig Repräsentationen erzeugt, verschoben und überlagert werden, und zwar im Sinne der verschiedenen Bedeutungen von Repräsentation, die soeben erwähnt wurden. Wenn man sich allzu früh auf den venneintlich sauberen Schnitt zwischen Theorie und Wirklichkeit, Begriff und Sache einläßt, dann droht die - epistemologisch entscheidende - Vieldeutigkeit des Darstellungsvorgangs in der experimentellen Praxis aus dem Blickfeld zu verschwinden.

11. Ein unentwirrbares Geflecht Das Thema der Repräsentation in der wissenschaftlichen Praxis hat in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit gefunden, nicht nur in der Wissenschaftsphilosophie, sondern vor allem auch in der Wissenschaftsgeschichte und in der Wissenssoziologie. 9 Michael Lynch hat vor wenigen Jahren sogar von einer ..Überbewertung" des Begriffes sprechen können. 1O Dem ist zweifellos zuzustimmen, soweit die herkömmliche Konnotation der Referentialität, die Nähe zu dem, was man die ,,Abbildtheorie der Repräsentation" genannt hat, im Vordergrund steht. Mit Nelson Goodman kann man behaupten, daß ..die Abbildtheorie der Repräsentation von vornherein an eine Grenze stößt: die Unfähigkeit zu spezifizieren, was abgebildet werden sol1."l1 Es gibt weder konzeptuel1 noch materiel1 so etwas wie eine unpro9 B. Latour/S. Woolgar. Laboratory Life, Princeton 1986; I. Hacking, Representing and Intervening: Introductory Topics in the Philosophy of Natural Science, Cambridge 1983. Überblicke geben die Artikelsammlungen M. Lynch/S. Woolgar (Hg.), Representation in Scientific Practice, Cambridge 1990, G. Levine (Hg.), Realism and Representation; eh. L. H. Nibbrig, Was heißt "Darstellen"?, Frankfurt a.M. 1994; H.-i. Rheinberger/M. Hagner/B. Wahrig-Schmidt (Hg.), Räume des Wissens, darin besonders M. Hagner. Zwei Anmerkungen zur Repräsentation in der Wissenschaftsgeschichte, S. 339 - 354; vgl. auch die Sondernummer ,,Les vues de I' esprit", Culture technique 14 (1985), und das Sonderheft "Pictorial Representation in Biology", Biology and Philosophy 6 (1991). 10 M. Lynch, Representation is overrated. 11 N. Goodman, Languages of Art, Indianapolis 1968, S. 9.

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blematische Repräsentation eines Wissenschaftsobjekts im Sinne einer unmittelbaren Abbildung von etwas "da draußen". Bei näherem Hinsehen entpuppt sich jede vermeintlich bloße Darstellung "von" immer schon zugleich als eine Darstellung "als". Michael Lynch und Steve Woolgar bemerken: ,,Repräsentationen und Objekte sind unauflösbar miteinander verknüpft.,,12 Im Grunde läuft diese Argumentation darauf hinaus, daß jeder Referenzpunkt, sobald wir ihn festzuhalten suchen, sobald wir ihn vom Rande unserer Aufmerksamkeit, wo er gewissermaßen ein Schattendasein fuhren kann, in dessen Mittelpunkt bewegen, selbst in eine Repräsentation verwandelt werden muß. Das hängt mit dem Verhältnis von explizitem und stummem Wissen zusammen, von fokaler und subsidiärer Aufmerksamkeit, wie es von Michael Polanyi beschrieben worden ist. 13 Die referentielle Bedeutung des Begriffs Repräsentation ist daher einfach nicht ein für allemal stabilisierbar. Mit der Produktion epistemischer Dinge sind wir in eine potentiell endlose Produktion von Darstellungen verwickelt, wo der Platz des Referenten immer wieder von einer weiteren Darstellung besetzt wird. In semiotischer Perspektive liegt die wissenschaftliche Erkenntnis daher keineswegs außerhalb der Textur, von der jedes symbolische System durchwirkt ist: Metaphorizität und Metonymie. Wissenschaftliche Aktivität besteht darin, im Raum der ihr verfügbaren Repräsentationen in einem noch zu spezifizierenden Sinne materielle Metaphern und Metonymien zu produzieren. Die Semiotik hat uns gelehrt, daß ein Zeichen seine Bedeutung nicht von der bezeichneten Sache erhält, sondern von seinen diakritischen Beziehungen zu anderen Zeichen. Daß die wissenschaftliche Aktivität diese Struktur mit anderen symbolisch-materiellen Welten teilt, ist hervorzuheben, bevor man daran geht, ihre Besonderheit und Unverwechselbarkeit gegenüber anderen Kulturleistungen herauszustellen. Dazu kommt, daß wissenschaftliche Repräsentationen letztlich nur in Ketten von Darstellungen Bedeutung erhalten. Es handelt sich dabei - wie Claude Bernard in einer nicht veröffentlichten Reflexion über die physiologische Praxis seiner Zeit festhielt - um Ketten, "deren einzelne Glieder in keinerlei Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen, weder zu dem voraufgehenden, noch zu dem nachfolgenden Glied".14 So stellt sich denn für den Physiologen Bernard wissenschaftliche Darstellung als ein Prozeß heraus, dem man keinen definitiven ,Ursprung' zuweisen kann. Ohne sich auf Bernard zu beziehen, aber in merkwürdigem Gleichklang betont Bruno Latour, daß wir es hier mit einem "seltsamen, transversalen Objekt" zu tun haben, einem "Ausrichtungsoperator, der nur insoweit wahrheitsgetreu ist, als er den Übergang zwischen dem erlaubt, was vorangeht, und dem, was folgt.,,15 So paradox es klingen mag, genau dies ist die Bedingung dessen, was wir unter wisM. Lynch/S. Woolgar (Hg.), Representation in Scientific Practice, S. 13. M. Polanyi, Knowing and Being, hg. v. M. Grene, Chicago 1969. 14 C. Bernard, Philosophie. Manuscrit inedit, hg. v. J. Chevalier, Paris 1954, S. 14. 15 B. Latour. Der Pedo1ogenfaden von Boa Vista, in: H.-J. Rheinberger/M. Hagner/B. Wahrig-Schmidt (Hg.), Räume des Wissens, S. 252. 12

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senschaftlicher Objektivität verstehen, wenn wir sie nicht abbildtheoretisch fassen wollen: ihre Verpflichtung auf die nächste Runde, die sie zugleich mit einer spezifischen Historizität ausstattet.

111. Grapheme, Spuren, Inskriptionen Ein Wissenschaftsobjekt, das im Rahmen eines Experimentalsystems erforscht wird, ist zunächst einmal ein Gefüge von materiellen Spuren in einem historisch spezifizierbaren Repräsentationsraum. Solche Räume werden durch die technischen und instrumentellen Besonderheiten des jeweiligen Systems erschlossen und zugleich begrenzt. Räume wissenschaftlicher Darstellung konstitutieren dabei zugleich eine bestimmte Fonn der Iteration. 16 Repräsentationsräume exisitieren nicht unabhängig von solchen Spurengefügen, diese spannen die Räume erst auf. Die Elemente, aus denen sich solche Gefüge zusammensetzen, könnte man im Rückgriff auf Jacques Derridas "Grammatologie" auch als "Grapheme" bezeichnen, insofern sie - zum Schrecken der Logiker - nicht elementar sind, sich weniger einer originären Abstraktion als vielmehr einer ursprünglichen Synthese verdanken. Das Einfache entsteht aus ihnen erst in einem Prozeß des Verschleißes. Wie Derrida bemerkt: ,,Noch bevor man es als human (mit allen dem Menschen seit je zugesprochenen Unterscheidungsmerkmalen und dem ganzen System von Bedeutungen, das sie implizieren) oder als a-human bestimmte, wäre Gramma - oder Graphem der Name für das Element. Dieses Element wäre kein einfaches: wäre, ob als Mittelpunkt oder unteilbares Atom verstanden, Element der Ur-Synthese im allgemeinen.,,17 Innerhalb der Grenzen einer Experimentalanordnung wird das Rauschen des experimentellen Betriebs durch die Verknüpfung von Spuren oder Graphemen kanalisiert. Ian Hacking hat sie auch als ,,Marken" bezeichnet. 18 Graphematische Gefüge von Marken sind zunächst und vor allem materielle Systeme von Signifikanten, die zwischen den Polen von "Dichte" und "Artikuliertheit" oszillieren. Diese Unterscheidung wurde von Nelson Goodman eingeführt, um auf der Basis einer "Grammatik der Differenz" Hybride aller Art zwischen kontinuierlichen und diskontinuierlichen Symbolsystemen zu erfassen, von Bildern auf der einen Seite bis zu Texten auf der anderen. Dazwischen gibt es alle möglichen Fonnen diagrammatischer Übergänge. Und irgendwo dazwischen liegt auch die Vielfalt der möglichen 16 J. Derrida, Signature evenement contexte, in: Marges de la philosophie, Paris 1972, S. 365 - 393. Eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Repräsentation in Derridas Denken bietet R. Gaschi, The Tain of the Mirror. Derrida and the Philosophy of Reflection, Cambridge 1986. Gascbe betont mit Derrida, daß Repräsentation als eine Form von Iterabilität aufzufassen ist (S. 212-217). 17 J. Derrida, Grammatologie, Frankfurt a.M. 1974, S. 21 f. 18 I. Hacking, The self-vindication of the laboratory sciences, in: A. Pickering (Hg.), Science as Practice and Culture, Chicago 1992, S. 29-64, S. 44.

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Spuren, die im Experiment erzeugt werden. Quer zu dieser Grammatik der Darstellungsdifferenzen steht das oben erwähnte Kontinuum, das zwischen Analogien und Konkretionen aufgespannt ist; auch da liegen die Modelle im engeren Sinne irgendwo in der Mitte. Im Koordinatennetz dieser beiden Kontinua hat Ähnlichkeit aufgehört, als Kriterium der Bewertung zu dienen, und es läßt Raum für alle möglichen Hybridformen, diesen Garanten für "Innovation, Auswahl und unvorwegnehmbare Verschiebungen". 19 Auch Latour faßt wissenschaftliche Repräsentation als eine spezielle Art von Tätigkeit auf, als Inskriptionsvorgang, bei dem eine besondere Art VOn Objekten entsteht, die er "unwandelbare Mobile" nennt. 20 Ausgezeichnet sind sie nicht durch das, was sie transportieren, sondern durch die Art, wie sie funktionieren. Die Leistung der unwandelbaren Mobile besteht darin, flüchtige Ereignisse zu fixieren, sie dauerhaft und dadurch in Raum und Zeit verschiebbar und verfügbar zu machen. Durch solche Einschreibungsprozesse können Entitäten aus ihren ursprünglichen, lokalen Kontexten entfernt und in andere Zusammenhänge eingefügt werden. Latour zufolge sind Inskriptionen daher nicht einfach Abstraktionen, sondern Re-Präsentationen im Sinne dauerhafter und mobiler Reindarstellungen, die auf das Gefüge zurückwirken können, aus dem sie entstanden sind, und, was noch wichtiger ist, auch auf räumlich und zeitlich entfernte. Die Materialität dieser Einschreibungen macht sie widerständig gegenüber beliebig an sie herangetragene Interpretationen. Aufgrund dieser Widerständigkeit kommt das Spiel dieser ,,Maschinerie zur Erzeugung von Zukunft" grundsätzlich nicht an ein Ende. 21 Ob die in einem Experiment erzeugten Spuren sich als "signifikant,,22 erweisen, hängt davon ab, ob sie in weitere experimentelle Kontexte eingefügt werden können, um dort weitere Spuren zu erzeugen. Es gibt kein experimentelles Arbeiten, das dieser Rekursivität entkommt, diesem iterativen Prozeß, in dem eine Inskription VOn ihrer mehr oder weniger flüchtigen Referenz abgelöst und die Referenz selbst in eine Inskription verwandelt wird. Die Signifikanz eines experimentellen Befundes liegt in der Bedeutung, die er annehmen wird. Sie kommt immer ex post. Sie kann nicht deklariert, sie muß eingeholt werden. Die Besonderheit wissenschaftlicher Repräsentation liegt in dieser Besonderheit ihrer differentiellen Iteration. Die experimentelle Erzeugung VOn Spuren ist letztlich gleichzusetzen mit dem Hervorbringen epistemischer Dinge. Rekursiv stabilisiert, können diese als Verkörperungen VOn Begriffen fungieren, als "verdinglichte Theoreme", wie Gaston Bachelard es einmal ausgedrückt hat. 23 In dieser Form jedoch sind sie für die For19

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N. Goodman. Languages of Art. S. 230.

B. Latour; Drawing things together. in: M. Lynch I S. Woolgar (Hg.). Representation in

Scientific Practice, S. 26 ff. 21 F. Jacob. La statue interieure. S. 13. 22 Wissenschaftler sprechen von "signifikanten", nicht von "wahren" Spuren. 23 G. Bachelard. Les intuitions atomistiques: Essai de c1assification, Paris 1933, S. 140.

Dimensionen der Darstellung in der Praxis des Experimentierens

241

scher nicht mehr als primäre Erkenntnisobjekte von Interesse, sondern nur noch als Werkzeuge, als technische Objekte zur Konstruktion neuer Forschungsarrangements. Um es noch einmal mit Jacob zu sagen: "Aber schon interessierten mich die Erkenntnisse nicht mehr, zu denen wir gekommen waren. Wichtig war nur, was wir mit diesem Instrument weiter erreichen konnten. ,,24 Der eigentliche experimentelle Prozeß der Hervorbringung von neuen Wissensspuren, diese ,,Epigraphie der Materie",25 ist gekennzeichnet durch Ungewißheit. Ihre hauptsächliche Fortbewegungsart ist das "Tappen".26 Ihr Medium sind "die gescheiterten Versuche, die mißlungenen Experimente, die stotternden und gänzlich verfehlten Ansätze.'.27 Diese notwendige Unterbestimmtheit in der Zielrichtung hängt aufs engste mit der Natur der Mittel zusammen, durch die das experimentelle Spiel der Produktion von Graphemen realisiert wird. Die epistemischen Verfahren, durch die es diese hervorbringt, führen immer wieder zu einem Überschuß, der nicht hat vorausgesehen werden können und der allein aus dem Machen selbst hervorgeht. Wie Goodman bemerkt hat, ist Repräsentieren nicht ein "Spiegeln", sondern ein ,,Ergreifen und Tun,,?8 Repräsentation ist immer auch Intervention, Invention und Kreation. Doch die List dieser Dialektik von Fakt und Artefakt, die List des Ereignisses schlechthin besteht eben darin, daß sie nur um den Preis der permanenten Dekonstruktion ihres konstruktivistischen Aspekts funktioniert. Das Neue kommt eben nicht durch die dafür vorgesehene Pforte herein, sondern durch den unvorhergesehenen Riß in der Wand.

IV. Modelle Wir können das vertrackte Problem der Repräsentation noch aus einem etwas anderen Blickwinkel betrachten. Ich habe behauptet, daß mit einem Experimentalsystem ein Repräsentationsraum für Sachverhalte aufgespannt wird, die auf andere Weise nicht als Objekte epistemischen Vorgehens dingfest gemacht werden können. Biochemische Experimentalsysteme beispielsweise schaffen einen extrazellulären Raum für die Darstellung von Reaktionen, die in der lebenden Zelle ablaufen. Man sagt dazu traditionellerweise, daß eine solche Repräsentation ein Modell abgibt, an dem ein Vorgang oder eine Reaktion studiert werden kann. Biochemische ,In vitro-Systeme' wären dann also Modelle für ,In vivo-Prozesse'. Das Problem ist nun wiederum das der Referenz. Was spielt sich innerhalb der lebendigen Zelle ab? Es gibt keinen anderen Weg, darüber Näheres in Erfahrung zu bringen, 24

F. Jacob, La statue interieure, S. 317.

G. Bachelard, Le nouvel esprit scientifique, Paris 1968, S. 170. C. Bernard, Le~ons sur les phenomenes de la vie communs aux animaux et aux vegetaux, Paris 1966, S. 19. 27 F. Jacob, La statue interieure, S. 314. 28 N. Goodman, Languages of Art, S. 8. 25

26

16 LouerlHampe

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als ein Modell zu konstruieren. Selbstverständlich gibt es auch In vivo-Experimente. Aber als Bestandteile von Forschungsarrangements sind sie ebenfalls Modellsysteme. Der Modellierungsprozeß ist eine Hin- und Herbewegung zwischen verschiedenen Repräsentationsräumen. Wissenschaftsobjekte nehmen durch Vergleichen, Verschieben, Marginalisieren, Hybridisieren und Pfropfen verschiedener Modelle - miteinander, gegeneinander, voneinander, aufeinander - Gestalt an. Biochemiker sprechen von Modellsubstanzen, Modellreaktionen, Modellsystemen, Biologen und Molekularbiologen auch von Modellorganismen. Diese Verwendung des Begriffs ist ziemlich weit entfernt von seinem Gebrauch in der mathematischen Logik, wo als Modell die semantische Interpretation einer formalen, d. h. rein syntaktisch definierten Zeichenkette bezeichnet wird?9 Der im Labor übliche Gebrauch des Begriffes ist instruktiver und verrät genauer, worum es in der experimentellen Tätigkeit geht. In den Sprachspielen der wissenschaftlichen Praxis ist ,Modell' ein Name für Substanzen, Reaktionen, Systeme oder Organismen, die zur Herstellung von Inskriptionen im oben ausgeführten Sinne besonders geeignet sind. Ein Modell stellt gewissermaßen ein ,materielles Allgemeines' dar. Es kann im Netzwerk' einer Experimentalkultur verbreitet werden, genauer gesagt, es ist eben die Ausbreitung von solchen Modellen, die derartige Netzwerke schafft. Um wieder im Laborjargon zu sprechen: Modelle sind ,ideale' Wissenschaftsobjekte im doppelten Sinn: Erstens eignen sie sich in ganz bestimmten Hinsichten besonders gut für das experimentelle Manipulieren. Das ist die praktische Bedeutung von ,ideal'. Zweitens sind es idealisierte Objekte in dem Sinne, daß sie - in gewissem Ausmaß - standardisierte, gereinigte, isolierte, verkleinerte und in ihren Funktionen reduzierte Entitäten sind. Modelle verkörpern somit wissenschaftliche Fragen in einer Form, "die im Laboratorium beantwortet werden kann".3o Sie sind transportabel und können lokalen Modifikationen unterworfen werden. Ob das Bakterium Escherichia coli beispielsweise als Modell für die Replikation des genetischen Materials, für die Wirkungsweise von Antibiotika oder für die Verursachung von Infektionen angesehen wird, hat im Verlauf seines Daseins als Modellorganismus unmittelbare und einschneidende Auswirkungen auf seine jeweilige materielle Beschaffenheit. Die außerordentlich unterschiedlichen Laborstämme von E. coli, die in Referenzsammlungen konstant gehalten werden müssen, um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten, dokumentieren dies eindrücklich. Die Natur als solche ist somit kein ein für allemal gegebener Referenzpunkt für das Experiment. Sie wird vom Forscher sogar oft als eine Gefahr angesehen, die ein wissenschaftliches Unternehmen zum Scheitern zu bringen droht. Es besteht stets die Gefahr, daß sie ungewollt in ein Experimentalsystem eindringt. Wenn Zellen fraktioniert werden, müssen unfraktionierte Zellen aus dem Repräsentations29 V gl. beispielsweise A. Tarski, Einführung in die mathematische Logik, Göttingen, 4. Auf). 1971. 30 F. Jacob, La statue interieure, S. 277.

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raum ausgeschlossen werden. In einem In vitro-System verhält sich jede ganze Zelle als "Ganzzell-Artefakt", wie Paul Zamecnik einmal bezeichnenderweise gesagt hat. 31 Ein In vitro-Experiment darf nicht durch lebende Zellen kontaminiert werden! Wir kommen in die unangenehme Lage zu konstatieren, daß etwas, das wir ,natürlich' zu nennen gewohnt waren, zu etwas Artifiziellem gerade dadurch wird, daß es ,natürlich' bleibt. Die referentielle Verankerung eines experimentell kontrollierten Systems kann letztlich nichts anderes sein als ein weiteres experimentell kontrolliertes System. Die Referenz für ein Modell muß letztlich von einem weiteren Modell übernommen werden. Als Grundregel der wissenschaftlichen Erzeugung von Spuren stellt sich heraus: Was die Spuren erzeugt, kann jeweils nur mit Hilfe weiterer Spuren dingfest gemacht werden. Es gibt keinen Weg, der hinter diese Batterie von Spuren führt. Es sind nicht einfach die Aufzeichnungstechniken, die Inskriptionen von einem Objekt herstellen. Das Wissenschaftsobjekt selbst besteht aus einer Konfiguration von Spuren. Zwischen epistemischen Dingen und technischen Bedingungen nimmt das, was wir gewöhnlich ein Modell nennen, eine MittelsteIlung ein. Als epistemisches Objekt ist ein Modell in der Regel so weit etabliert, daß es als erfolgversprechender Forschungsattraktor wirken kann. Andererseits ist es normalerweise nicht so weit stabilisiert und standardisiert, daß es in der differentiellen Reproduktion anderer Experimentalsysteme einfach als unproblematische Subroutine eingesetzt werden könnte. Ein experimentelles Modellsystem hat daher immer etwas vom Charakter eines Supplements, in dem Sinne, den Derrida diesem Begriff gegeben hat. 32 Es steht für etwas, das seine Wirksamkeit aus seiner eigenen Abwesenheit bezieht. Ein Modell ist gerade ein Modell durch den Bezug auf eine vorgestellte Wirklichkeit, an die es nicht herankommt.

v. Noch etwas über experimentelle Spuren Die im Experiment fixierten Objekte des Wissens ziehen oft von sich aus ablesbare Spuren, wenn sie etwa Pigmente enthalten oder Strahlen absorbieren. Wenn sie nicht selbst zeichengenerierende Maschinen sind, werden Spurenerzeuger Tracer - in sie eingeführt. Das können radioaktive Marker sein, Inskriptoren, deren Weg durch den Stoffwechsel man dann verfolgen kann. Die Geschichte der Molekularbiologie ist undenkbar ohne die Einführung schwach strahlender radioaktiver Tracer und die Entwicklung der Maschinerie, um sie zu messen. 33 Es ist insofern 31 M. Lamborg / P. C. Zamecnik. Amino acid incorporation into protein by extracts of E. coli, in: Biochimica et Biophysica Acta 42,1960, S. 206-211, S. 210. 32 Vgl. l. Derrida. Gramrnatologie. bes. Kapitel 2 im Zweiten Teil: "Dieses gefahrliche Supplement". 33 H.-l. Rheinberger, Putting Isotopes to Work: Liquid Scintillation Counters, 1950-1970, in: B. Joerges/T. Shinn (Hg.), Instrumentation Between Science. State, and Industry, Dordrecht, im Druck. 16'

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auch unnötig, wie Latour und Woolgar zwischen Maschinen zu unterscheiden, die einerseits ,,Materie aus einem Zustand in einen anderen transformieren", und "Inskriptionsapparaten" andererseits, die ,,Materiestücke in geschriebene Dokumente transformieren".34 Man nehme als Beispiel die Fraktionierung der Komponenten des Zell saftes von Bakterien oder von einem Gewebe mittels einer Ultrazentrifuge. Eine solche Fraktionierung transformiert Materie - sie trennt Moleküle auf - und sie produziert gleichzeitig eine Inskription. Diese kann etwa in einem Streifenmuster im Zentrifugenröhrchen bestehen. Aber man muß hier noch einen Schritt weiter gehen und das gesamte Experimentalarrangement - einschließlich der bei den Arten von Apparaten - als Konfiguration von Spuren ansehen. Tabellarische Aufzeichnungen, gedruckte Kurven und Diagramme sind lediglich weitere Transformationen einer graphematischen Disposition von Materiestücken, die bereits in der Experimentalanordnung verkörpert ist. Sedimentierte Partikel und Überstände bilden eine Partition des Zytoplasmas, und sie werden zugleich als Inskriptionen gehandhabt. Es sind also nicht einfach die Meßapparaturen, die die Inskriptionen erzeugen. Die epistemischen Dinge selbst sind Bündel von Inskriptionen. Sie stellen eben das vor, was sich als spurenförmiges Dispositiv handhaben läßt. Sehen wir uns ein weiteres Beispiel an. Ein Agarosegel in einem molekularbiologischen Labor ist einerseits ein analytisches Werkzeug zur Auftrennung von Nukleinsäure-Fragmenten, zugleich aber auch ein Muster von Komponenten, die als gefärbte, fluoreszierende, absorbierende oder radioaktive Flecken sichtbar gemacht werden können - eine graphematische Anordnung. Solche Inskriptionen werden dann mit anderen Inskriptionen verglichen, um herauszufinden, ob eine Repräsentation die andere verstärkt, marginalisiert oder verdrängt. In der experimentellen Tatigkeit wird beständig der Gegensatz zwischen Repräsentation und Referenz, zwischen Modell und Natur unterwandert. Repräsentation ist nicht die Möglichkeitsbedingung für die Erkenntnis von Dingen, sie ist die Bedingung dafür, daß Dinge zu epistemischen Dingen werden können. Das heißt nicht, daß die Produktion von Inskriptionen willkürlich geschieht. Obwohl Wissenschaftler sich "schon immer am Schauplatz der Repräsentation befinden", sind sie dennoch mit ,,zwängen" konfrontiert. 35 Denn Repräsentationen zählen in der wissenschaftlichen Praxis langfristig nur, wenn sie einerseits untereinander kohärent und resonant gemacht oder zumindest als komplementär betrachtet werden können, und wenn sie andererseits rekursive Ausweitungen haben. Glücklicherweise ist der ganze Prozeß jedoch nicht vollständig determiniert durch technische Bedingungen und die Instrumente, auf denen sie beruhen. Sonst würde er sich schnell totlaufen. Bei der Produktion von Spuren ist ein ständiges Spiel von Anwesenheit! Abwesenheit im Gange, insofern jedes Graphem die Unterdrückung eines anderen ist. Will man eine Spur hervorheben, ist man gezwungen, eine andeB. Latour/S. Woo/gar. Laboratory Life, S. 51. K. N. Hay/es, Constrained constructivism: Locating scientific inquiry in the theater of representation, in: G. Levine (Hg.), Realism and Representation, S. 28, 33. 34

35

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re zu verwischen. Im laufenden Forschungsprozeß steht normalerweise nicht gleich fest, welches der möglichen Signale verstärkt und welches unterdrückt werden sollte. Daher muß zumindest für eine gewisse Zeit das Spiel von Anwesenheit I Abwesenheit reversibel gehalten werden. Epistemische Dinge müssen zwischen verschiedenen Zuschreibungen oszillieren können.

VI. Eine Pragmatogonie des Realen Das Problem der Darstellung nimmt somit ein anderes Aussehen an, wenn man es vom Standpunkt einer Pragmatogonie, einer Entstehungsgeschichte von Repräsentationen ansieht, die in der wissenschaftlichen Praxis ihre Wurzeln haben. Auch lan Hacking hat in seinem Buch "Representing and Intervening" eine solche Pragmatogonie skizziert. ,,Der Mensch ist ein darstellendes Wesen" sagt Hacking, und er fährt fort: "Ich spreche nicht vom homo fabe" sondern vom homo depictor. Der Mensch verfertigt Darstellungen.,,36 Hacking will unter Repräsentationen aber ausdrücklich nicht in erster Linie mentale Vorstellungen oder visuelle Abbilder verstanden wissen. Wie die Verknüpfung von Darstellung und Eingriff im Titel seines Buches anzeigt, geht es ihm gerade nicht um eine ,.zuschauertheorie der Erkenntnis".3? Primär ist für ihn der Vorgang der Verfertigung physikalischer Objekte, die ihren Charakter des ,,Ähnelns" dem Prozeß ihrer eigenen Replikation verdanken. Der Begriff der Realität kommt dann als ,,Begriff zweiter Ordnung" ins Spiel, als Folge der Praxis des Repräsentierens: als Reflexion über den Status der Replik. "Das Reale [ist] ein Attribut der Repräsentation.,,3s Das will heißen: Der Begriff der Realität als problematischer Begriff macht nur im Kontext solcher Replikation Sinn, und er wird erst dann zum Problem, wenn alternative Systeme der Repräsentation ins Spiel gebracht werden. Aber was für den Begriff der Realität gilt, läßt sich ebenso auf den Begriff der Repräsentation anwenden. "Zum Problem wird Repräsentation als Folge der analytischen Anstrengungen, Strukturen des praktischen HandeIns einen stabilen Sinn und Wert zuzuordnen, die zuvor aus analytischen Gründen aus den Zusammenhängen, in denen sie benutzt werden, herausgelöst worden sind. ,,39 Die Wissenschaften leben davon, daß sie alternative Systeme und Räume der Repräsentation hervorbringen. Edmund Husserl hat denn auch den Versuch unternommen, die Wissenschaften in ihrer Verknüpfung mit der Lebenspraxis und dann mit einer "universal interessierten Praxis" von der Vorstellung einer "Unendlich36 I. Hacking, Representing and Intervening, S. 132. Für eine paläontologische Perspektive vgl. A. Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980. 37 I. Hacking, Representing and Intervening, S. 130. 38 Ebd., S. 136. 39 Michal Lynch, Representation is overrated, S. 146.

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Hans-Jörg Rheinberger

keit von Aufgaben", von einem "unendlichen Aufgabenhorizont" her zu definieren. 40 In seinem Vortrag vor dem Wiener Kulturbund 1935, wo er dies näher ausführt, stellte er die fordernde Frage: "Wo wird nun das gewaltige Stück Methode, das von der anschaulichen Umwelt zu den Idealisierungen der Mathematik und zu ihrer Interpretation als objektives Sein führt, der Kritik und Klärung unterworfen?,,41 Die vorliegenden Ausführungen zur Dynamik der Darstellungsformen in der wissenschaftlichen Praxis verstehen sich als Versuch, zur Kritik und Klärung dieses gewaltigen Zwischenraums in epistemologischer Perspektive beizutragen.

40 E. Husserl. Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie. in: W. Biemel (Hg.), Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana Band VI. Den Haag 1976, 314-348, S. 323 f. und 329. 41 E. Husserl. Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, S. 343.

Erfahrungsbegriffe in der Betriebswirtschaftslehre Von Michaela Haase

I. Vorbemerkungen Dieser Beitrag befaßt sich explizit nur mit einem Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaft, der Betriebswirtschaftslehre. Allerdings ist vieles verallgemeinerbar, zumal hier die Ansicht vertreten wird, daß die Unterscheidung zwischen Betriebsund Volkswirtschaftslehre eher historisch-pragmatisch als analytisch bedingt ist. Aus der Perspektive einer sozial- und institutionentheoretisch begründeten betriebswirtschaftlichen Theorie' befassen sich beide Disziplinen mit sozialen Systemen und sind insofern zu den Sozialwissenschaften zu zählen. Die Unterschiede zwischen ihnen resultieren aus der im Verlauf der Entwicklung der jeweiligen Disziplin erfolgenden Fokussierung auf zwei unterschiedliche Typen sozialer Systeme. Der erste Typus - die sog. Marktprozeßinstanzen - entsteht durch marktorientierte Transaktionsbeziehungen. Darunter fallen Einzeltransaktionen, Geschäftsbeziehungen und eine Teilmenge der Menge der Unternehmungsnetzwerke. Der zweite Typus sozialer Systeme basiert auf der Ressourcenzusammenlegung von Individuen oder Organisationen. Mit der Konzentration auf unterschiedliche Typen sozialer Systeme in den bei den wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen korrespondieren disziplinspezifische Auslassungen: Während die Nationalökonomik und die spätere Volkswirtschaftslehre sich im Anschluß an die schottischen Moralphilosophen Bemard Mandeville, Adam Smith, Adam Ferguson und David Hume überwiegend der Frage widmeten, wie es zur Abstimmung der individuellen Handlungsabsichten über Märkte und nicht zum Hobbesschen Kampf aller gegen alle kommt, entwickelten sich die Betriebswirtschaftslehre und ihre Vorläufer2 1 Vgl. M. Haase, Institutionenökonomische Grundlagen der Allgemeinen Betriebswirtschaftstheorie, Habilitationsschrift des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin 1999. 2 Vgl. die Darstellung in F. Schönpflug, Betriebswirtschaftslehre. Methoden und Hauptströmungen. 2. erw. Auf). von ,,Das Methodenproblem in der Einzelwirtschaftslehre" (1933), hg. v. H. Seischab, Stuttgart 1954, A. Moxter, Methodologische Grundfragen der Betriebswirtschaftslehre, Köln/Opladen 1957, D. Schneider, Geschichte betriebswirtschaftlicher Theorie. Allgemeine Betriebswirtschaftslehre für das Hauptstudium, München I Wien 1981, F. Klein-Blenkers, Zur Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre, in: G. Assmusl H. Göschell H. Meffert (Hg.): Zur Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre in Deutschland. Festschrift anläßlich des lOO-jährigen Jubiläums der Handelshochschule Leipzig, Leipzig 1998,

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Michaela Haase

über die Analyse der Organisationen und des Handeins in Organisationen. 3 Wahrend die Volkswirtschaftslehre lange Zeit nicht den Schritt von der Analyse der Handlungsabsichten bzw. der Handlungen der Individuen zur Analyse der Organisationen machte 4 , hat sich die Betriebswirtschaftslehre mit der Analyse der Marktprozesse insofern schwergetan, als sie sich nicht als "Markttheorie" verstand und versteht. 5 Sowohl Volks- als auch Betriebswirtschaftslehre haben im Hinblick auf diese Aspekte von der Entwicklung der Neuen Institutionenökonomik Impulse erhalten, die vielleicht dazu beitragen, einige der disziplinspezifischen Abgrenzungen zu überwinden und so eine Renaissance der Forderung nach einer einheitlichen, Betriebs- wie Volkswirtschaftslehre umfassenden Wirtschaftstheorie einzuleiten. 6 Allerdings ist die Betriebswirtschaftslehre gegenwärtig alles andere als ein homogenes Gebiet, und eS ist daher nicht zu erwarten, daß solche Forderungen zur Zeit außerhalb derjenigen Fachgebiete, die sich mit Mikro- oder Institutionenökonomik befassen, große Aufmerksamkeit erhalten. Aus wenigstens drei Gründen ist es schwierig, einen Erfahrungsbegriff in der Betriebswirtschaftslehre auszumachen: Erstens ist die Betriebswirtschaftslehre ein stark inhomogenes Gebilde, was sich gegenwärtig auch in der Dominanz der sog. Speziellen Betriebswirtschaftslehren über einige kaum beachtete Allgemeine Betriebswirtschaftslehren ausdrückt. Möglicherweise lassen sich bereits Unterschiede im Erfahrungsbegriff der Speziellen S. 9-50, und J. Mugler (1998), Die Wiener Schule der Betriebswirtschaftslehre, in: Journal für Betriebswirtschaft, 48. Jg., S. 45 - 87. 3 Nach D. Schneider, Geschichte betriebswirtschaftlicher Theorie, entsteht die Ökonomik als "ethisch verankerte Organisationswissenschaft bereits im Altertum: ,,Landwirtschaftliche Betriebe herrschen vor, und in ihnen werden Haushalt und Betrieb als Einheit empfunden. Der griechische Begriff ,Oikos' deckt ganz gegenständlich (empirisch) das, was heute als Einzelwirtschaft (als Vereinigungsmenge von Haushalt und Betrieb) gedacht wird" (S. 81). 4 Erst die Neue Institutionenökonomik versuchte, Licht in die "black box" - die Unternehmung - zu bringen, die zuvor nur mit dem Konzept der Produktionsfunktion modelliert wurde. 5 Die institutionenökonomischen Ansätze weisen jedoch in diese Richtung der Verbindung von Organisationen- und Markttheorie. VgI. M. Haase, Institutionenökonomische Grundlagen der Allgemeinen Betriebswirtschaftstheorie. J. Mugler weist darauf hin, daß zu Beginn dieses Jahrhunderts das, was heute "Betriebswirtschaftslehre" heißt, anhand einer Zweiteilung in eine "Betriebslehre" und eine "Verkehrslehre" gelehrt wurde. Auch habe CourcelleSeneuil bereits 1868 zwischen ,einem Geschäft nach seinen inneren' und ,nach seinen äußern Beziehungen' unterschieden" (Die Wiener Schule der Betriebswirtschaftslehre, S. 49). Die Verkehrslehre befaßte sich, insbesondere in Gestalt ihres Begründers Josef Hellauer, mit der Exportwirtschaft und den daran beteiligten Organisationen. Allgemeiner formuliert waren die ,,zwischenbetrieblichen Verkehrsbeziehungen" Gegenstand der Verkehrslehre und der "Aufbau und das Innenleben der Betriebe" Gegenstand der Betriebswirtschaftslehre (vgI. ebd. S.57). 6 Erich Schneider verkündete bereits 1953, daß die ,,Einheit der Wirtschaftstheorie [ ... ] heute Wirklichkeit geworden [ist]. Preis-, Geld-, Konjunktur-, Finanztheorie und Betriebswirtschaftslehre sind in einer umfassenden Wirtschaftstheorie aufgegangen". E. Schneider. Einführung in die Wirtschaftstheorie, I. Teil, Tübingen 1953, S. III.

Erfahrungsbegriffe in der Betriebswirtschaftslehre

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Betriebswirtschaftslehren feststellen - ein Projekt, das hier aber nicht verfolgt wird. Nach Dieter Schneider läßt sich die "Vielfalt an Denkrichtungen, die sich in der dritten Generation [die nach 1914 geborenen] betriebswirtschaftlicher Hochschullehrer abzuzeichnen beginnen, [ ... ] darauf zurückführen, daß über drei Grundlagen des Fachs weniger Einigkeit zu bestehen scheint als in den Generationen zuvor: I. Über das Erfahrungsobjekt [ ... ] 2. Über das Erkenntnisobjekt [ ... ] 3. Über die Verbindung zu Nachbarwissenschaften [ ... ].,,7 Zweitens ist die Betriebswirtschaftslehre eine Sozialwissenschaft. Dies macht sich insbesondere dort bemerkbar, wo individuelle Handlungsabsichten und individuelles Handeln in Organisationen oder Märkten thematisiert werden. Im Prinzip sind alle Forschungsmethoden und -richtungen, die innerhalb der Sozialwissenschaften vertreten werden, auch in der Betriebswirtschaftslehre einsetzbar. Das Individuum selbst ist allerdings nicht der Erkenntnisgegenstand der Betriebswirtschaftslehre (das gilt auch für die Volkswirtschaftslehre und Soziologie): Dies sind soziale Systeme, angesiedelt im Bereich der Märkte wie der Organisationen. Daher hat es die Betriebswirtschaftslehre neben den individuellen in besonderem Maße mit kollektiven Akteuren, mit deren Zielen und Handlungen zu tun. Die Existenz solcher kollektiven Handlungseinheiten wird - wie sich im dritten Abschnitt zeigt - einerseits für den Erfahrungsbereich der Betriebswirtschaftslehre ganz selbstverständlich angenommen, andererseits überschreiten die Handlungen und Merkmale der kollektiven Akteure die Möglichkeiten dessen, was Menschen durch Erfahrung - im Sinne direkter Beobachtung - herausfinden können (4. Abschnitt). Drittens ist der Erfahrungsbegriff in der Betriebswirtschaftslehre in besonderem Maße mit dem von Alfred Amonn (1927) geprägten Begriffspaar des Erfahrungsund des Erkenntnisobjektes verbunden. Hier wird die Erfahrung nicht nur in ihrer traditionellen Schiedsrichterrolle gegenüber der Theorie gesehen, sondern soll auch dazu herangezogen werden, den Erkenntnisgegenstand (das sog. Erkenntnisobjekt) der Betriebswirtschaftslehre zu begründen. Es bietet sich daher an, die Interpretation und die Verwendung dieser Begriffe innerhalb der Betriebswirtschaftslehre zu diskutieren (3. Abschnitt). Mit diesem Beitrag wird nicht beansprucht, einen detaillierten Überblick über die Interpretation und Verwendung des Erfahrungsbegriffs in der Betriebswirtschaftslehre zu geben. Es wird auch nicht versucht, die Verwendung des Erfahrungsbegriffs in der Betriebswirtschaftslehre mit derjenigen in anderen Sozialwissenschaften zu vergleichen. Vielmehr soll ein Einblick in einige Besonderheiten der betriebswirtschaftlichen Theoriebildung und -anwendung und zur Rolle des Erfahrungsbegriffs in diesem Zusammenhang vermittelt werden. Zuvor werden einige allgemeine Ausführungen zur Einordnung des Erfahrungsbegriffs gemacht (2. Abschnitt).

7

D. Schneider, Geschichte betriebswirtschaftlicher Theorie, S. 170.

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11. Theorie und Erfahrung: Zur Auflösung einer Dichotomie Die Wissenschaftstheorie des Logischen Positivismus oder Empirismus sah in der Erfahrung bekanntlich eine sichere Basis der Erkenntnis. Anfänglich (in der positivistischen Entwicklungsphase des sog. Wiener Kreises) waren Sinneswahrnehmungen und die Sätze, die diese zum Ausdruck brachten, für die Bestimmung der Basis maßgeblich. Wissen wurde durch seine Rückführbarkeit auf die Basis ausgezeichnet. Dies drückte sich auch in dem Theoriebegriff der frühen Wissenschaftstheoretiker - der sog. Standardauffassung (Received View) - aus, der sich dadurch kennzeichnen läßt, daß durch die Rekonstruktion der Theorie insbesondere die Verbindung zwischen Theorie und Erfahrung verdeutlicht werden sollte. Theorie und Empirie waren nach dieser Konzeption zwei einander gegenüberstehende Dinge, zwischen denen (durch sog. Korrespondenzregeln) eine "Überbrükkung" zu leisten war. Nun hat nicht nur die Idee, daß es eine sichere Basis der Erkenntnis geben könnte, Kritik erfahren (in jüngerer Zeit insbesondere durch Vertreter des Kritischen Rationalismus), sondern auch die recht simple, dichotome Fassung des Verhältnisses von Theorie und Empirie durch die Standardauffassung wissenschaftlicher Theorien. So hat Patrick Suppes in den 60er Jahren betont, daß nicht nur eine Theorie der Empirie gegenüberstehe, sondern daß das Verhältnis zwischen Theorie und Erfahrung eher in einer "Schichtung" mehrerer Theorien besteht, indem sich "unterhalb" der "gemeinten" erfahrungswissenschaftlichen Theorie beispielsweise eine Theorie der Daten und eine Theorie des Experiments befinden. 8 Nach der Grundidee von Suppes sind Theorie und Erfahrung kein Gegensatzpaar, wobei das eine durch Problemerfassung und -bearbeitung und das andere durch Sinneswahrnehmungen oder Beobachtungen gekennzeichnet ist. In den Sozialwissenschaften ist in diesem Zusammenhang aber nicht nur an Theorien der Daten oder des Experiments zu denken: Dort spielen einerseits die anzuwendende Theorie, deren Vorgängertheorien und die Alltagstheorien eine Rolle (vgl. 4. Abschnitt). Andererseits müssen Sozialwissenschaftler versuchen, Erfahrungen über eine Wirklichkeit herzustellen, die von den Akteuren permanent gestaltet und umgestaltet wird. In den Sozialwissenschaften ist es daher erforderlich, eine allgemeine Handlungstheorie über die sozialen Aktionen und Interaktionen der Akteure zu entwickeln. Um konkretes Handeln zu erklären, ist es zudem notwendig, etwas über die konkreten Theorien und Handlungsmodelle, die die Handlungsabsichten und Handlungen konkreter Akteure leiten, kennenzulernen (zu erfahren). Es stehen sich also wenigstens die verschiedenen, von den Individuen benutzten Theorien, die allgemeine Handlungstheorie und die anzuwendende Theorie gegenüber. Um etwas über die 8 Vgl. P. Suppes, Models of Data, in: E. Nagel/P. Suppest A. Tarski (Hg.), Logic, Methodology and Philosophy of Science: Proceedings of the 1960 International Congress. Stanford 1962, S. 252 - 261.

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Handlungsmodelle der Individuen und die im Hintergrund relevanten Theorien zu erfahren. ist es für den Sozialwissenschaftler u. U. erforderlich. zum Teilnehmer im Sinne einer prozessural verstandenen Sozialforschung zu werden. 9 Der Erfahrungsbegriff der frühen Wissenschaftstheoretiker in und um den Wiener Kreis ist daher um zwei Aspekte zu erweitern. die beide auch nicht unabhängig voneinander sind: einen theoretischen und einen sozial-konstruktiven. Danach bezieht sich Erfahrung nicht auf voraussetzungslos Gegebenes; sie wird in den Wissenschaften eher ..inszeniert" als ..vorgefunden". Die Geschichte der Kritiken am Logischen Positivismus oder Empirismus weist in diese Richtung: Die Vorstellung von einer sicheren Basis der Erkenntnis wurde bereits in den 30er Jahren von Karl R. Popper angegriffen. Ende der 50er Jahre fügte Norwood R. Hanson zudem ein theoretisches Element in die Basis der Erkenntnis ein (dieses wurde von Popper unter der Bezeichnung ..Theoretizität der Beobachtung" in die zweite Auflage der Logik der Forschung (1958) übernommen und bekannt gemacht). Der Erfahrungsbegriff enthält aber nicht nur ein theoretisches. sondern auch ein soziales Element. Popper hatte konventionelle und damit soziale Elemente bereits in die Bestimmung der Basissätze eingebracht - ohne dies jedoch selbst explizit gemacht zu haben. Er propagierte nicht nur die ..Theoretizität". sondern auch die ..Intersubjektivität der Beobachtung" - ohne den dahinter stehenden sozialen Abstimmungs- und Bewertungsprozeß deutlich zu machen. Aus der heutigen Perspektive läßt sich insbesondere der soziale Aspekt der Wissensentstehung und -verwendung IO hervorheben: Die Erfahrung der Einzelperson ist in den Wissenschaften nur von begrenztem Wert. Durch verschiedene Verfahren wird aus der Erfahrung einzelner die einer Gruppe. Schule oder gar der ..community". Die Frage ist daher nicht nur. was Erfahrung ist. sondern auch wozu sie benutzt werden kann oder soll. Wenn man von der dichotomen Fassung von Theorie und Erfahrung Abschied nimmt und zugleich anerkennt. daß es keine sichere Basis der Erfahrung geben kann. dann stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Erfahrungsbegriffs für die Erfahrungswissenschaften. Wenigstens drei Bereiche sind in dieser Hinsicht betroffen: 1. Kann man der Erfahrung noch eine Kontrollfunktion gegenüber der Theorienbildung zugestehen? 2. Ist die Verwendung idealisierter. d. h. gezielt kontrafaktischer Theorien in den Erfahrungswissenschaften möglich? 3. Was ist. wenn die erfahrungs wissenschaftliche Theoriebildung. wie beispielsweise in der Physik. in mikro- und makrokosmische Bereiche vorstößt. die von 9 Vgl. M. Dick, Zur Notwendigkeit und Methodologie prozessural verstandener Sozialforschung - am Beispiel der Erforschung zwischenbetrieblicher Beziehungen. in: T. Wehner I E. Endres (Hg.). Harburger Beiträge zur Psychologie und Soziologie der Arbeit. Nr. 13. Technische Universität Hamburg-Harburg 1996. 10 Vgl. z. B. W. Balzer, Die Wissenschaft und ihre Methoden: Grundsätze der Wissenschaftstheorie. Freiburg/München 1997.

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Michaela Haase

Menschen nicht mehr "erfahren" werden können und für die - abgesehen von der Sprache der Mathematik - die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten fehlen?" zu 1: Auf der Grundlage der Verwendung eines weiten Erfahrungsbegriffs ist es durchaus möglich, der Erfahrung eine Kontrollfunktion gegenüber der Theoriebildung zuzugestehen. Erfahrung beruht danach nicht nur auf der Sinneswahrnehmung, sondern ist zugleich theoriegeleitet und sozial zu legitimieren. Sinneswahrnehmungen bzw. die Sätze, die diese zum Ausdruck bringen, sind nur ein Gebiet, das im Hinblick auf den Kontrollaspekt eine Rolle spielen kann - aber durchaus nicht immer muß; sie erhalten diese aber erst, nachdem sie einen sozial bestimmten Evaluationsprozeß durchlaufen haben. zu 2: Die Diskussion der Bedeutung von Idealisierungen ist in den Sozialwissenschaften sicher nicht abgeschlossen. Während beispielsweise neoklassische Mikroökonomen durch die Verwendung idealisierter Modelle Modellösungen diskutieren, deren Relevanz für die Lösung der Probleme der Referenzökonomie nicht unumstritten ist, sehen andere in der Verwendung "realistischer" Annahmen eine Voraussetzung für erfolgreiche Theorieanwendungen. zu 3: Das Problem des Vordringens in Mikro- oder Makrokosmen stellt sich für die Sozialwissenschaften sicher nicht in dem Maße wie in den Naturwissenschaften. Wie im vierten Abschnitt deutlich wird, gibt es mit den sozialen Systemen aber auch in den Sozialwissenschaften theoretische Entitäten, deren Merkmale und Aktivitäten nur begrenzt erfahrbar sind. Zum Ende dieses Abschnitts soll das Theorie-Empirie-Verhältnis noch einmal von der Seite der Theorie bzw. des Theoriebegriffs her betrachtet werden. Da an dieser Stelle nicht die Möglichkeit besteht, Theoriebegriffe zu erläutern, bleiben die folgenden Ausführungen sehr allgemein gehalten. Auf der Grundlage eines Theoriebegriffs wird expliziert, was eine Theorie sowie eine Anwendung einer Theorie ist. Damit wird zugleich eingegrenzt, welche Erfahrungen bei Theorieanwendungen gemacht werden können, bzw. es wird angegeben, welche unbedingt gemacht werden müssen. Nach den semantischen Theoriekonzeptionen, von denen man sagen kann, daß sie den Theoriebegriff der frühen Wissenschaftstheoretiker (die Standardauffassung) abgelöst haben, besteht eine Theorieanwendung im Prinzip nicht in Aktivitäten, die mit Sätzen zu tun haben, z. B. in der Konfrontation eines Satzes mit einem (durch Beobachtungen) gestützten anderen Satz, sondern in der Konstruktion von Modellen. Nach Auffassung der strukturalistischen Theoriekonzeption 12 besteht der erste Schritt bei der Erfassung eines (z. B. physikalischen, soziologischen oder ökonomischen) Systems in der Verwendung des Begriffsrah11 V gl. H. Mohr; Wissen als Humanressource, in: G. Clar /J. Doret H. Mohr (Hg.): Humankapital und Wissen: Grundlagen einer nachhaltigen Entwicklung, Berlin u. a. 1997,

S.13-27.

12 Vgl. W Balzer/C. U. Moulines/J. D. Sneed, An Architectonic for Science. The Structuralist Program, Dordrecht u. a. 1987.

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mens der anzuwendenden Theorie. Eine Theorieanwendung setzt eine begriffliche Erfassung des Bereiches, auf den eine Theorie T angewandt werden soll, voraus. Im Fall der Wirtschaftswissenschaft werden diese Bereiche als ökonomische Systeme erfaßt. Dabei wird ein Teil des Vokabulars von T benutzt. Dieses enthält eine Angabe der relevanten Entitäten und nennt deren Merkmale und Beziehungen. Die Beziehungen zwischen der begriJfsrahmengestützten begrifflichen Erfassung der Anwendungsentitäten (den sog. Intendierten Anwendungen der Theorie) und den Entitäten, die die Theorie erfüllen (den Modellen der Theorie), lassen sich modelltheoretisch spezifizieren. Wenn man die Intendierten Anwendungen der Erfahrung zuordnet und die Modelle der Theorie, dann sind sich Theorie und Erfahrung bei der Betrachtung des Verhältnisses zwischen Intendierter Anwendung und Modell konzeptionell sehr nahe: Beides sind Repräsentationen, und alles Vokabular, das für die Erfassung der Intendierten Anwendungen benutzt wird, geht auch in die Begriffsrahmen der Modelle ein (aber nicht umgekehrt). Man kann jedoch noch eine Stufe vor der Modellkonstruktion ansetzen, indem man sich auf eine informelle Charakterisierung der potentiellen Anwendungsfälle beschränkt, d. h. keinen Begriffsrahmen benutzt und insofern auch kein Modell konstruiert. Die informelle Charakterisierung der sog. Anwendungsentitäten ist daher von der anzuwendenden Theorie unabhängig. D. h. aber nicht, daß sie von allen Theorien unabhängig ist. Sie beruht auf der Alltagssprache, in die eine Vielzahl natur- und sozialwissenschaftlicher Theorien "eingesickert" sind. Dazu können auch die fachwissenschaftlichen Theorien gehören, die der anzuwendenden Theorie vorangehen. Die Anwendungsentitäten werden uns bei der Charakterisierung der sog. Erfahrungsobjekte der Betriebswirtschaftslehre wieder begegnen.

III. Zum Begriff des Erfahrungs- und des Erkenntnisobjektes in der Betriebswirtschaftslehre In diesem Abschnitt wird anhand von vier Autoren die Verwendung der Erfahrungs- und Erkenntnisobjektbegriffe in der Betriebswirtschaftslehre diskutiert. Die Autoren - Fritz Schönpflug (1933), Wilhelm HilI (1957), Adolf Moxter (1957) und Dieter Schneider (1981) 13 - interessieren sich in besonderem Maße für wissenschaftstheoretische und methodische Fragen. Es ist sicherlich nicht übertrieben, die Arbeiten von Schönpflug, Moxter und Schneider in dieser Hinsicht als "Klassiker" der Betriebswirtschaftslehre zu bezeichnen. Die Arbeit von Hili wurde ausgewählt, da er deutlich macht, daß - auch durch Abstraktionsvorgänge - das sog. Erkenntnisobjekt der Betriebswirtschaftslehre nicht durch Rückgriff auf das sog. Er13 Schneiders "Geschichte betriebswirtschaftlicher Theorie" folgten mehrere Auflagen der ,,Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre", die wiederum Anfang der 90er Jahre durch ein mehrbändiges Werk mit dem Titel "Betriebswirtschaftslehre" abgelöst wurde. Als vierter Band erscheint 1999 "Geschichte und Methoden".

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fahrungsobjekt zu bestimmen ist. Diese Position verweist auf eine "Lücke", die mehr als zwanzig Jahre zuvor bereits Schönpflug erkannt hat. Wahrend Schönpflug, Moxter und Hili sich neben der Bestimmung des Erkenntnisobjektes der Betriebswirtschaftslehre auch mit der Abgrenzung zur Volkswirtschaftslehre befassen, ist diese Abgrenzungsfrage für Schneider insofern nicht mehr aktuell, als er die Betriebswirtschaftslehre und die Mikroökonomik unter den Begriff der Einzelwirtschaftslehre subsumiert. Nur makroökonomische Theorien gehören demnach noch zur Volkswirtschaftslehre. Der Nationalökonom Alfred Amonn hat eine bis in die Gegenwart reichende Diskussion um das Erfahrungs- und das Erkenntnisobjekt der Betriebswirtschaftslehre ausgelöst. Seine Konzipierung des Begriffs des Erfahrungsobjektes erinnert an frühe, positivistisch-phänomenalistische Positionen des Wiener Kreises. Eine Erfahrungswissenschaft befaßt sich nach Amonn mit dem, "was vor allem Denken dem Subjekte unmittelbar gegeben ist, [ ... ] die von aller verstandesmäßigen Verarbeitung noch völlig unberührte Wirklichkeit, wie sie in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit vom Subjekte unmittelbar erlebt oder erfahren wird. Diese Wirklichkeit oder Erfahrungswelt ist dem Subjekte schon an sich ohne Eingreifen der Denktätigkeit in einer gewissen inneren Ordnung und Regelmäßigkeit gegeben. Es scheiden sich in ihr mannigfaltige Gruppen von Erfahrungseinheiten oder -gegenständen, die in einer gewissen Selbständigkeit unabhängig voneinander erfahrbar sind. Auf einen solchen einheitlichen Erfahrungskomplex als einen empirisch gegebenen Ausschnitt aus dem gesamten Erfahrungsmaterial bezieht sich zunächst der Ausdruck ,Objekt' oder ,Gebiet' einer Wissenschaft.,,14 Das Erfahrungsobjekt ist ein begrifflich nicht erfaßbarer Erlebnisstrom. Dieser Erlebnisstrom ist für alle Erfahrungswissenschaften gleichermaßen gegeben. Dieses Prinzip des - dann auch für Volks- und Betriebswirtschaftslehre - gemeinsamen Erfahrungsobjektes wird häufig von Betriebswirten übernommen - ohne sich seiner Übertragbarkeit zu versichern, wenn das Erfahrungsobjekt nicht mit einem Erlebnisstrom identifiziert bzw. die phänomenalistische durch eine physikalistische Sichtweise l5 ersetzt wird. Wenn das Erfahrungsobjekt für Betriebs- und Volkswirtschaftslehre einheitlich ist, dann läßt sich daraus kein Kriterium zur Abgrenzung dieser Disziplinen gewinnen. Dazu bedarf es der Einführung eines disziplinspezifischen sog. Erkenntnisob14 A. Amonn, Objekt und Grundbegriffe der Theoretischen Nationalökonomie, Leipzig I Wien 1927, S. 21. 15 Gemeint ist hier die Substitution der eigenpsychischen Erfahrungsbasis durch eine sog. Dingsprache, die sich auf wahrnehmbare Eigenschaften körperlicher Dinge bezieht. L. Schäfer weist darauf hin, daß das subjektive Moment der eigenpsychischen Basis ungeeignet ist, auf Intersubjektivität des Erfahrungsbezugs bezogene Standards wie Prüfbarkeit, Reproduzierbarkeit und Meßbarkeit zu erfüllen. Dies habe Rudolf Carnap wie Otto Neurath - beide Mitglieder des Wiener Kreises - zum Einschwenken auf eine physikalistische Position geführt. Vgl. L Schäfer, Erfahrung, in: J. Speck (Hg.), Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, Bd. I, Göuingen 1980, S. 166 - 171, S. 170.

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jektes. Die Debatte innerhalb der Betriebswirtschaftslehre folgt nun der Frage, weIches ihr Erkenntnisobjekt ist und wie dieses gewonnen werden kann. Nach Amonns Auffassung wird das Erkenntnisobjekt erst durch einen "Eingriff des Denkens,,16 möglich. Das wissenschaftliche Denken leitet den "Eingriff'; es tritt "an die Erfahrung heran". 17 Dies geschieht seiner Ansicht nach - ähnlich wie beim Alltagsdenken - willkürlich, aber nicht mehr so einseitig, sondern objektiver: "Aber das wissenschaftliche Denken emanzipiert sich von der subjektiv-praktischen Willkür des alltäglichen Denkens und dessen ganz oberflächlicher Orientierung, es dringt tiefer in die allgemeineren und wesenhafteren Zusammenhänge des Erfahrenen, es ,objektiviert' zwar ebenso willkürlich, aber unter bestimmten, festgehaltenen, allgemeingültigen Gesichtspunkten.'.I8 Schönpflug folgt Amonn in den meisten Punkten. Er stellt der "Erfahrungswirklichkeit, die uns umgibt, eine andere Wirklichkeit [gegenüber], in der sich die erstere in einer höheren, reineren Form wiederfindet: die objektive. Die Schöpfung dieser geistigen, objektiven Wirklichkeit aus der Erfahrungswirklichkeit ist das Grundthema jeder Wissenschaft überhaupt.,,19 Nach Schönpflugs Auffassung ist es aber nicht möglich, den Erkenntnisgegenstand einer Wissenschaft anhand ihres empirischen Ausgangspunktes zu gewinnen: "Welches auch immer ihr empirischer Ausgangspunkt ist, stets läßt sich die bemerkenswerte Feststellung machen, daß dieser Ausgangspunkt sehr bald sich als ein zufalliger und willkürlicher erweist, dem die natürliche Tendenz innewohnt, die engen Fesseln der ursprünglich gelegten Begriffsumgrenzung zu sprengen.,,20 Schönpflugs Auffassung kann so interpretiert werden, daß zwar ein "Eingriff des Denkens" in das Erfahrungsobjekt erfolgen, daraus aber nicht der spezifische Erkenntnisgegenstand einer Disziplin gewonnen werden kann. Auch Willkür ist für ihn kein Thema. Vielmehr muß sich die Begriffsbildung Zweckmäßigkeitserwägungen stellen. D. h. für ihn, sie muß in der Lage sein, das "Ganze" zu thematisieren. Schön pflug bezieht sich auf kameralistische Arbeiten des 18. Jahrhunderts, deren "privatökonomische Forschung" seiner Ansicht nach bereits mit der Grundidee einer allgemeinen Einzelwirtschaftslehre, die u. a. auch Haushalte in ihren Gegenstandsbereich integriert, verbunden ist. Neuere Bestrebungen dagegen knüpfen immer "nur an bestimmte Teile dieser Einzelwirtschaftslehre, niemals aber mehr an das Ganze,,21 an. Von Schönpflug genannte "Teile" sind Handlungen, 16 "In diese unmittelbar gegebene und unendlich verschiedene Mannigfaltigkeit der Erfahrungserlebnisse greift nun unser Denken ordnend ein" (A. Amonn, Objekt und Grundbegriffe der Theoretischen Nationalökonomie, S. 22). 17 Ebd., S. 22. 18 Ebd.

19 F. Schönpjlug, Betriebswirtschaftslehre, S. 2. Schönpflug starb 1936. Zitiert ist die zweite Auflage von "Das Methodenproblem in der Einzelwirtschaftslehre", ergänzt um ein Vorwort und einen Anhang von Hans Seischab. 20 Ebd., S. 7. 21 Ebd.

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der Handel, der Handelsbetrieb, die Unternehmung, die Privatwirtschaft, der Betrieb. Bei Schönpflug ist die Abkehr von der phänomenalistischen Position Amonns bereits vollzogen. Sie wird jedoch nicht thematisiert. An die Stelle des Erlebnisstromes sind nun "Einzelwirtschaften" bzw. diejenigen Entitäten getreten, die unter den EinzelwirtschaJtsbegrifffallen: "Einzel wirtschaften sind grundsätzlich alle Einheiten der Wirtschaft, die leistend und Leistungen verbrauchend am allgemeinen Wirtschaftsprozeß beteiligt sind.,,22 Unklar bleibt, in welchem Verhältnis Handlungen zu Einzelwirtschaften und diese wiederum zu komplexeren Einheiten der Ökonomie stehen. Bei Schönpflug wird bereits deutlich, daß man die Erkenntnisobjekte nur auf der Grundlage einer konkreten Theorie spezifizieren kann. Ihm war das theoretische Defizit aber bewußt, wie dem Vorwort zu einem 1936 erschienenen Buch entnommen werden kann, in dem er "Untersuchungen über den Erkenntnisgegenstand der allgemeinen und der theoretischen Betriebswirtschaftslehre,,23 anstellte. Schönpflug argumentiert dafür, daß der Begriff der Einzelwirtschaft die "oberste und allgemeinste Basis für den Wissenschaftsaufbau,,24 der Betriebswirtschaftslehre darstellt, die seiner Ansicht nach daher auch besser "Einzelwirtschaftslehre,,25 Ebd., S. 14. "Weil wir über die grundlegendsten Denkobjekte, die begrifflich unserer theoretischen Arbeit zugrunde liegen und für sie richtunggebend sein müssen, nur eine unverbindliche, wissenschaftlich unzureichende Vorstellung besitzen, darum kann es eine Einheitlichkeit im Gebrauch der aus ihnen ableitbaren Grundbegriffe höherer und niederer Ordnung noch nicht geben oder es kann sich eine solche nur als mehr oder weniger zufälliges Produkt einstellen" (F. Schönpjlug, Untersuchungen über den Erkenntnisgegenstand der allgemeinen und theoretischen Betriebswirtschaftslehre als Lehre von den wirtschaftlichen Gebilden, Stuttgart 1936, S. VII). 24 Ebd., S. 7. 25 In den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts gab es beträchtliche Auseinandersetzungen um den Namen der heute als .. Betriebswirtschaftslehre" bezeichneten Disziplin. Der Streit ging natürlich nicht nur um Namen. Diese symbolisierten unterschiedliche Auffassungen bezüglich des Gegenstandsbereiches, der Methodologie und der Aufgaben betriebswirtschaftlicher Theorienbildung. Zur Diskussion standen die Bezeichnungen ..Privatwirtschaftslehre" (diese Forderung wurde 1912 bereits von M. Weyermann und Hans Schönitz vertreten; sie erlebte 1928 anläßlich der von Wilhelm Rieger veröffentlichten ..Einführung in die Privatwirtschaftslehre", die eigentlich eine Theorie der Unternehmung war, ein Comeback), die unter dem Namen .. Betriebswirtschaftslehre" firmierende Kunstlehre-Konzeption von Eugen Schmalenbach und der u. a. von dem Niklisch-Schüler Schönpflug vertretene EinzeIwirtschaftsbegriff. Bekanntlich hat sich der Name "Betriebswirtschaftslehre" durchgesetzt. Der Begriff der EinzeIwirtschaftslehre ist aber auch heute noch (z. B. in Verbindung mit der ,.EinzeIwirtschaftstheorie der Institutionen" von D. Schneider) gebräuchlich. Schönpflug hat sich drei Jahre nach dem Erscheinen des "Methodenproblems" ebenfalls von dem Begriff der Einzelwirtschaftslehre ab- und dem der Betriebswirtschaftslehre zugewandt. Er begründet seinen Schritt damit, "daß der Begriff der Einzelwirtschaft [ ... ] erstens ebensowenig wie diejenigen des Betriebes und der Unternehmung unbelastet [war] von einander widersprechenden Bedeutungen, noch war man zweitens der Aufgabe enthoben, zu fixieren, in welcher spezifi22 23

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hieße. Daher ist "das eigentliche und primäre Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt dieser Wissenschaft weder der ,Handelsbetrieb', noch die ,Privatwirtschaft', noch die ,Unternehmung' oder ein sonstwie bestimmtes Teilgebiet, sondern generell die Einzelwirtschaft überhaupt [ ... ]. ,,26 Letztlich habe es sich gezeigt, daß sich die in den über die "Teile" abgegrenzten Forschungsgebieten aufgezeigten Probleme jeweils auch in anderen Gebieten der Einzelwirtschaftslehre finden. Was die EinzeIwirtschaft genau ist, was theoretisch unter diesen Begriff fällt und was ihr empirisch entspricht, bleibt undeutlich. Darüber hinaus wird nicht nur die als "Einzelwirtschaft" charakterisierte Wirtschaftseinheit zum "Gegenstand der einzelwirtschaftIichen Forschung" erklärt, sondern zudem "die gesamte konkrete Wirtschaft".27 Die Einzel- und die Volkswirtschaftslehre unterscheidet daher "einzig und allein die Methode der Betrachtung,,:28 Während die EinzeIwirtschaftslehre methodisch beim Individuum ansetzt und von diesem ausgehend zur Analyse komplexerer Gebilde fortschreitet, setzt die Nationalökonomie bei der Analyse des "überindividuellen Zusammenhangs" an, ohne unbedingt in die "niederen Einheiten der Wirtschaft,,29 hinabsteigen zu müssen. Bei Schönpflug bleibt im Dunkeln, was "Gebilde" sind bzw. was solche mit hoher von solchen mit niederer Komplexität unterscheidet und wie der Übergang vom Individuum - "dem Menschen im Sachbereich seiner Zwecke,,3o - zur EinzeIwirtschaft geleistet werden kann. Wenn er - zum Abschluß des Abschnitts zur "Begrifflichen Grundlegung" - die Einzelwirtschaft als "Organisationslehre" kennzeichnet, so scheint er zudem die im ersten Abschnitt erwähnte "klassische Arbeitsteilung" zwischen Betriebs- und Volkswirtschaftslehre zu stützen, wonach erstere sich mit Organisationen, letztere sich mit Marktprozessen befaßt. Es ist auch nicht klar, was unter dem ,,Moment der Organisation" zu verstehen ist, welches seiner Ansicht nach die "spezifische Eigenart der Einzelwirtschaftslehre begründet".31 Geht es um das Merkmal des Organisiertseins oder darum, eine Organisaschen Bedeutung der Begriff der Einzelwirtschaft als Objekt einer eigenen Fachdisziplin zur Anwendung zu gelangen habe bzw. zur Anwendung gelangen könne" (F. Schönpjlug, Untersuchungen über den Erkenntnisgegenstand der aJlgemeinen und theoretischen Betriebswirtschaftslehre, S. X). 26 F. Schönpjlug, Betriebswirtschaftslehre, S. 7. Der einzelne Wirtschaftsbetrieb, der "empirische Ausgangspunkt der Untersuchung" (ebd. S. 14), ist aber nicht identisch mit dem Erkenntnisobjekt der Wissenschaft. 27 Ebd .. S. 15. 28 Ebd. 29 Ebd. Diese DarsteJlung ist nicht haltbar, da z. B. auch die Volkswirtschaftslehre Transaktionsbeziehungen zwischen zwei Akteuren betrachten bzw. sich von diesem Ausgangspunkt zu sozialen Systemen höherer Komplexität "hocharbeiten" kann. Wenn die Betriebswirtschaftslehre beispielsweise multinationale Konzerne thematisiert, dann kann die betrachtete Beziehungsstruktur weitaus komplexer sein als bei einer volkswirtschaftlichen Partialanalyse. 30 Ebd. 3\ Ebd .. S. 16.

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tion zu sein? Das Merkmal des Organisiertseins können nicht nur Organisationen, sondern auch die Marktprozeßinstanzen (die verschiedenen, dem Handeln über Märkte zurechenbaren Formen von sozialen Systemen) haben. Schönpflug übersieht, daß nicht nur Organisationen "die gesamte konkrete Wirtschaft" ausmachen, sondern auch der Marktprozeß auf der Grundlage der Beziehungen der individuellen wie der organisationalen (d. h. korporativen) Akteure zu analysieren ist. Wie Moxter berichtet, wurde fast fünfundzwanzig Jahre später in der Literatur immer noch die Ansicht vertreten, daß Nationalökonomie und Betriebswirtschaftslehre ein einheitliches Erfahrungsobjekt (Basis ihrer Verwandtschaft), aber ein unterschiedliches Erkenntnisobjekt (Basis der Selbständigkeit der Betriebswirtschaftslehre gegenüber der Nationalökonomie) haben. Betriebs- und Volkswirtschaftslehre sind beide Wirtschaftswissenschaften, weil sie sich mit "jenem Ausschnitt menschlichen HandeIns [befassen, M. H.], der in Verfügungen über knappe Mittel zur Erfüllung menschlicher, aus Bedürfnissen und Wünschen resultierender Zwecke besteht.,,32 Anders als Schönpflug hat Moxter jedoch nicht die EinzeIwirtschaft, sondern die Unternehmung als Erkenntnisobjekt im Visier; es ist daher für ihn naheliegender als für Schön pflug, den Marktprozeß in der Gestalt der Beschaffungs- und Absatzmärkte mit einzubeziehen. Die Entwicklung einer einheitlichen Wirtschaftstheorie für das "Sondergebiet Wirtschaft" lehnt Moxter jedoch ab, da sonst die Gefahr bestünde, daß "betriebswirtschaftliche, d. h. für die angewandte Betriebswirtschaftslehre wertvolle Aspekte unerforscht [blieben], weil sie unter dem spezifisch nationalökonomischen Erkenntnisziel nicht unmittelbar interessieren.,,33 Die Erkenntnisziele bei der Disziplinen haben sich nach Moxter am Anwendungsbezug zu orientieren, d. h. während die Betriebswirtschaftslehre "dem Unternehmer die Mittel und Wege weisen will, seine - einzelwirtschaftlichen - Ziele (soweit diese den gemeinwirtschaftlichen Bedürfnissen nicht zuwiderlaufen) optimal zu erreichen, ist die Nationalökonomie [ ... ] um die Erkenntnis jener Mittel und Wege bemüht, die der Wirtschaftspolitiker benutzt, um seine - gesamtwirtschaftlichen - Ziele verwirklichen zu können.,,34 Auch Hili geht davon aus, daß Betriebs- und Volkswirtschaftslehre das gleiche Erfahrungsobjekt besitzen. Allerdings ist das Erfahrungsobjekt der Wirtschaftswissenschaft erneut das aller Erfahrungswissenschaften. Bei Hili ist das Erkenntnisobjekt nunmehr kein Teilgebiet oder Objekt der Wirklichkeit mehr, sondern ein "Teil eines Problems".35 Hier stellt sich dann erneut die Frage, wie das Erkenntnisobjekt 32 Schneider, E. (1953), zitiert nach A. Moxter. Methodologische Grundfragen der Betriebswirtschaftslehre, S. 87. 33 A. Moxter. Methodologische Grundfragen der Betriebswirtschaftslehre, S. 89. Weniger Sorgen macht sich Moxter um die nationalökonomischen Erkenntnisziele, die ja - eine einheitliche Wirtschaftstheorie vorausgesetzt - ebenfalls in Gefahr geraten könnten. 34 Ebd., S. 93. Hervorhebungen im Original. 35 Nach Hills Ansicht ist es das "unbestreitbare Verdienst Amonns, den Unterschied zwischen Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt einer Wissenschaft abgeklärt zu haben: Als Erfahrungsobjekt ist die empirische Wirklichkeit anzusehen, wie sie sich dem Subjektbewußtsein

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bestimmt werden kann. Da das Erfahrungsobjekt nicht immer die empirische Wirklichkeit zur Gänze sein muß, es sich daher auch um Ausschnitte derselben oder um konkrete Objekte handeln kann, kann die Bestimmung des Erkenntnisobjektes nicht durch Gleichsetzung mit dem Erfahrungsobjekt erfolgen, da ja jedes beliebige Objekt oder jeder Ausschnitt gewählt werden könnte. Wenn das Erfahrungsobjekt keinen Hinweis auf das Erkenntnisobjekt einer Disziplin gibt, wie kann dieses dann gewonnen werden? Hili betont, daß diese Frage selbst dann noch aktuell ist, wenn man meint, das Erkenntnisobjekt auf der Grundlage von Abstraktionsvorgängen bestimmen zu können: "Tatsächlich birgt diese Methode die Gefahr einer schiefen, falschen oder zu engen Definition in sich, da ja aus der Objektwelt in ihrer unendlichen Vielseitigkeit praktisch alles herausabstrahiert werden kann und zudem das Auswahlprinzip willkürlich zu bestimmen ist, damit aber das Objekt selbst auch der willkürlichen Bestimmung ausgesetzt wäre.,,36 Das Erkenntnisobjekt ist nach Hili aus den Problemen der Disziplin zu bestimmen. Dazu ist zuvor die "Zusammenfassung aller Probleme und Hervorhebung der gemeinsamen Merkmale,,37 zu leisten. Im Prinzip orientiert sich Hili damit am Bestehenden, d. h. an der Menge der Probleme, die historisch mit der Entwicklung der Disziplin verbunden ist. Es ist zudem bemerkenswert, mit welchem Optimismus er davon ausgeht, daß die Vertreter der Disziplin alle Probleme erfassen sowie die Neben- von den Hauptproblemen scheiden können. Dies soll "ohne Rückbezug auf das eigene Objekt und Ziel dadurch erfolgen, daß man sie der Prüfung daraufhin unterzieht, ob eine Problemstellung nicht auch dem Objekt oder Ziel einer anderen Wissenschaft zugeordnet werden kann, welche zur betrachteten Wissenschaft im Verhältnis einer Hilfswissenschaft steht.,,38 Wie soll man aber - ohne das Erkenntnisobjekt der Disziplin zu kennen - klären können, was zur Betriebswirtschaftslehre gehört und was in die Zuständigkeit einer Hilfswissenschaft gehört?39 Hili ist jedoch zuzustimmen, daß durch Abstraktionsvorgänge und ein Auswahlprinzip allein das Erkenntnisobjekt nicht bestimmt werden kann. Diese sind nur das methodische Vehikel der Veränderung von Repräsentationen; sie besagen nichts über die Richtung und Ziele der Veränderung. Dieter Schneider ist in der Betriebswirtschaftslehre der Gegenwart einer der gewichtigsten Vertreter einer Einzelwirtschaftstheorie. Seiner Auffassung nach findet vor jeder denkenden Be- und Verarbeitung darbietet. Erfahrungsobjekt ist also die gesamte erfahrbare Wirklichkeit. Als Erkenntnisobjekt einer Wissenschaft ist dagegen das zu bezeichnen, was Objekt der wissenschaftlichen Erkenntnis ist, also Teil eines Problems, nicht reale Objekte, nicht Wahrheiten, sondern Teile eines Problems" (w. Hill, Betriebswirtschaftslehre als Wissenschaft, Zürich I St. Gallen 1957, S. 34). 36 W. Hill, Betriebswirtschaftslehre als Wissenschaft, S. 36. 37 Ebd., S. 37. 38 Ebd., S. 39. 39 Diese Frage ist in der Betriebswirtschaftslehre auch heute noch von Bedeutung, zumal in der betriebswirtschaftlichen Ausbildung vielfach auch Theorien aus anderen Disziplinen (z. B. aus der Psychologie, der Arbeits- und Rechtswissenschaft) eingesetzt werden. \7"

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sich einzelwirtschaJtliches Denken innerhalb der Wirtschaftswissenschaft sowohl in der (der Volkswirtschaftslehre zugerechneten) Mikroökonomik als auch in der Betriebswirtschaftslehre: "Das einzelwirtschaftliche Denken umfaßt die Überlegungen über das Wirtschaften einzelner Menschen bzw. Gruppen von Menschen innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft (Gesellschaft).,,4o In der Wirtschaftswissenschaft werden - wie in allen Erfahrungswissenschaften - ,,Aussagen über Teilbereiche der Wirklichkeit aufgestellt".41 Die Voraussetzung der Wirtschaftswissenschaft als Erfahrungswissenschaft ist die "empirisch saubere,,42 Trennbarkeit zwischen "wirtschaftlichen" und "nicht wirtschaftlichen" menschlichen Tatigkeiten: "Erst dann vennag die Theorie für einen Gegenstandsbereich der Wirklichkeit ,Gesetzmäßigkeiten' zu nennen, deren Gültigkeit an der Wirklichkeit überprüft werden kann. ,,43 Schneider macht allerdings wenige Seiten später klar, daß es nicht möglich ist, wirtschaftliche von nicht wirtschaftlichen Handlungen zu trennen: "Wirtschaften" ist ein Aspekt menschlichen Handeins, der jeder Handlung zukommen kann - diese Handlungen werden aber auch durch andere Aspekte oder Motive geleitet. Das "wirtschaftliche Handeln in Betrieben" etc. ist kein Auswahlprinzip, mit dem der Gegenstandsbereich der Betriebswirtschaftslehre bestimmt werden könnte. Da der "wirtschaftliche Aspekt" an Motiven und Handlungen zudem nicht unmittelbar beobachtbar ist, verlegt sich Schneider bei der Bestimmung des Erfahrungsobjektes der Betriebswirtschaftslehre auf die beobachtbaren Handlungsfolgen, die Tauschverhältnisse auf Märkten. Diese Tauschverhältnisse sind nur mittelbar (auf der Grundlage von Meßverfahren) beobachtbar: ,,In der Lehre vom Einkommensaspekt menschlichen HandeIns sind Tauschverhältnisse etwas in quantitativen Begriffen Beobachtbares.,,44 Schneider meint jedoch nicht die Preise als Ausdruck der Tauschverhältnisse, sondern die mit Zahlungen verbundenen Handlungen: "Wenn Nichtfachleute von ,Wirtschaften' reden und damit nicht entscheidungslogische Probleme, sondern eine empirische Erscheinung meinen, dann denken sie daran, daß ein Kaufmann ein- und verkauft, die Hausfrau mit dem Haushaltsgeld, eine FürsorgesteIle der Gemeinde mit ihrem Etat umgeht. Es sind also die Zahlungen gemeint, die mit einer Tatigkeit verbunden sind, oder allgemeiner: die Einkommenserzielung durch menschliches Handeln, wobei ,Einkommen' im alltäglichen Sinn als Geld- oder Güterzufluß über Märkte verstanden wird [ ... ].,,45

D. Schneider, Geschichte betriebswirtschaftlicher Theorie, S. 5. Ebd., S. 7. 42 Ebd., S. 11. 43 Ebd., 44 Ebd., S. 19. Die Beobachtungssprache fallt daher bei Schneider nicht mit der Umgangssprache zusammen. Sie ist "eine ,Wissenschaftssprache der Meßbarkeit von Sachverhalten' [ ... ], z. B. die Sprache der angewandten Statistik" (ebd., S. 37). 45 Ebd., S. 17. 40

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Die Betriebswirtschaftslehre soll aber nicht als "Lehre von den Tauschverhältnissen bei menschlichen Handlungen" bezeichnet werden, um eine Verwechslung mit der soziologischen Tauschtheorie 46 zu vermeiden, sondern als "Lehre vom Einkommensaspekt". Tauschverhältnisse sind Schneiders Ansicht nach für die Wirtschaftswissenschaft so elementar, daß sie "für die einzelwirtschaftliche Theorie ,Erfahrungsobjekt' sind".47 Innerhalb der Soziologie ist die austauschtheoretische Interpretation menschlichen Verhaltens dagegen nur eine bestimmte Sichtweise, eine "Blickrichtung" einer "bestimmten sozialpsychologischen Theorie" und insofern ein "Erkenntnisobjekt".48 Auch ist die Betriebswirtschaftslehre keine Markttheorie, wie man es bei einer Lehre von den "Tauschverhältnissen bei menschlichen Handlungen" vielleicht erwarten würde, da Schneider die für ihn interessanten menschlichen Handlungen in die sog. Sozialgebilde hineinverlegt. Beispiele dafür sind Betriebe, Haushalte und Unternehmungen. 49 Wahrend die Charakterisierung des Erfahrungsobjektes über die Verwendung der Umgangssprache erfolgt, wird beim Erkenntnisobjekt der Einkommensaspekt menschlichen Handeins theoretisch beschrieben. Eine methodologische Relevanz erhalten nach Schneider daher nicht nur die Wissenschafts- und die Beobachtungssprache, sondern erhält auch die Umgangssprache. Schneider hatte ja eine bestimmte Teilmenge von Beziehungen unter dem Label "Wirtschaften" als Erfahrungsobjekt der Betriebswirtschaftslehre verortet. Dabei dürfen "nur Begriffe aus der Umgangssprache [ ... ] verwendet werden".5o Zwei Gründe gibt Schneider dafür an: Erstens muß auch für Nicht-Wirtschaftswissenschaftler verständlich sein, 46 D. Schneider. Geschichte betriebswirtschaftlicher Theorie, verweist auf Arbeiten des Soziologen George C. Homans (S. 19, Fußnote 13). 47 D. Schneider. Geschichte betriebswirtschaftlicher Theorie, S. 19. 48 Ebd. Schneiders Auffassung zeigt, welchen Einfluß die schottischen Moralphilosophen, allen voran Adam Smith, in der Wirtschaftswissenschaft genommen haben. Nach Viktor Vanberg ist das Erklärungsmodell der schottischen Moralphilosophie "durch einen Gedanken bestimmt, der mittlerweile in der Soziologie - vor allem in der sogenannten Austauschtheorie wieder stärkere Beachtung findet, durch den Gedanken, daß Austausch- und Reziprozitätsmechanismen die grundlegenden Integrationskräfte gesellschaftlichen Zusammenlebens sind. Wenn dieser Gedanke auch vornehmlich in der klassischen Ökonomie aufgegriffen wurde. so ist er doch keineswegs - und dies wird sogar bei A. Smith deutlich - in seiner Aussagekraft auf den Bereich materieller Leistungen beschränkt" (v. Vanberg. Die zwei Soziologien: Individualismus und Kollektivismus in der Sozial theorie, Tübingen 1975, S. 15 f.). Während sich in der Wirtschaftswissenschaft das Tauschprinzip in so starkem Ausmaß durchgesetzt hat. daß es - so kann man Schneider interpretieren - bereits in die Alltagstheorien über den Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaft diffundiert ist. kehrte es in die Soziologie mit Homans mehr oder weniger erst zurück. nachdem das Fach dort stark von kollektivistischen sozialtheoretischen Konzeptionen beeinflußt worden war (und weiterhin ist). Vgl. V. Vanberg. Die zwei Soziologien. 49 "Die hier bevorzugte Sichtweise [ ... ] läuft darauf hinaus. daß sich die Betriebswirtschaftslehre nicht mit Sozialgebilden .Betrieb. Haushalt. Unternehmung' zu beschäftigen habe, sondern lediglich mit einem Aspekt menschlichen Handeins in Sozialgebilden .. (D. Schneider. Geschichte betriebswirtschaftlicher Theorie. S. 170. meine Hervorhebung). so D. Schneider. Geschichte betriebswirtschaftlicher Theorie. S. 16.

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womit sich die Wirtschaftstheorie beschäftigt. Nicht-Wirtschaftswissenschaftler denken bei dem Stichwort "Wirtschaften" an ",Einkommen' im alltäglichen Sinn als Geld- oder Mittelzufluß über Märkte".51 Zweitens ist eine infonnelle Charakterisierung der Anwendungsentitäten unerläßlich. Rein fonnal kann nicht expliziert werden, womit Theorien sich befassen: "Hintergrundwissen" und "umgangssprachliche Aussagen" sind unabdingbar. 52 Beide Begründungen werden in gewisser Hinsicht auch von dem im zweiten Abschnitt skizzierten modelltheoretischen, semantischen Theoriebegriff gestützt. Dieser ist mit der Unterscheidung zwischen den begriffsrahmengestützt konzeptualisierten sog. Intendierten Anwendungen und den sog. Anwendungsentitäten verbunden worden. Schneiders Begründungen korrespondieren mit der infonnellen Charakterisierung der Anwendungsfälle, die ja unabhängig von der anzuwendenden Theorie möglich sein muß. Man kann sich zwar darüber streiten, ob auch für Nicht-Wirtschaftswissenschaftler verständlich sein muß, womit sich die Wirtschaftstheorie beschäftigt. Richtig ist jedoch, daß, wenn die infonnelle Charakterisierung der Anwendungsentitäten auf der Grundlage von Alltagstheorien erfolgt, diese auch Nicht-Wirtschaftswissenschaftlern verfügbar sein müssen. Letztere haben dann aber im Prinzip bei alltagssprachlichen Diskursen über den Gegenstand der Wirtschaftstheorie ähnlich kompetente Teilnehmer zu sein wie bei Diskursen über physikwissenschaftliche Themen. Grundsätzlich hat hier die Wirtschaftswissenschaft keine Sonderstellung. Die Verbindbarkeit der von Schneider oben genannten Gründe mit den Voraussetzungen von Theorieanwendungen aus der Perspektive der strukturalistischen Theorieauffassung ist kein Zufall, da Schneider in seinem Werk zwar eine eigene, aber doch stark an den Strukturalismus angelehnte Theoriekonzeption entwickelt. Diese bleibt jedoch in gewisser Hinsicht ein Zwitter zwischen dem semantischen und dem syntaktischen 53 Theoriebegriff. Die Einführung und Verwendung der Begriffe ,,Modell", ,,Modellergebnis" und "Hypothese" durch Schneider machen das deutlich. Der Modellbegriff "wird hierbei im in der Wirtschaftstheorie üblichen Sinn verstanden als vereinfachtes, meist fonnalisiertes Abbild einer gedachten Wirklichkeit.,,54 Die aus diesen Modellen ableitbaren sog. Modellergebnisse sind daher auch Aussagen über die gedachte Wirklichkeit (z. B. über eine idealisierte Ökonomie), d. h. "keine Hypothesen im strengen Sinn empirisch testbarer Aussagen über die Wirklichkeit".55 Damit die Modellbildung zu "brauchbaren Modellen" führt, ist es erforderlich, daß in den sog. Modellergebnissen nur - im Schneidersehen Sinne - Beobachtungsbegriffe verwendet oder diese Modellergebnisse dementsprechend "ausgestaltet" werden. 56 Ebd., S. 17. Vgl. ebd. ~3 Die Standardauffassung wird auch als "syntaktische Konzeption" bezeichnet. 54 D. Schneider, Geschichte betriebswirtschaftlicher Theorie, S. 37 (meine Hervorhebung). 55 Ebd. 56 "Viele wirtschaftstheoretische Modelle sind deshalb unbrauchbar, weil sie überhaupt keine ,testbaren' Hypothesen aussprechen: kein Modellergebnis so ausgestalten, daß nur ~I

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Schneider blickt über die Bestimmung von Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt der Disziplin hinaus und thematisiert u. a. auch die "Spielregeln für wissenschaftliches Arbeiten in der Einzelwirtschaftslehre".57 Dabei sieht er. wie oben bereits erwähnt. die Einzelwirtschaftslehre in der Tradition der Erfahrungswissenschaften. indem er verlangt. daß die Nachprüfbarkeit der Aussagen an der Wirklichkeit anzustreben ist. Eine zweite Bedingung. die der logischen Überprüfbarkeit. sichert einerseits die •.Nachprüfbarkeit. Verständigung zwischen Menschen".58 Andererseits wird durch diese Spielregel die "Vereinbarkeit von Theorie und Wirklichkeit,,59 beeinträchtigt. In Verbindung mit der logisch-mathematischen Formulierung von Aussagen in einzel wirtschaftlichen ModeIlen tritt neben dem Vereinfachungs- oder Isolierungsproblem zudem das der Übersetzung mathematischer in nicht mathematische Aussagen auf. 60 Wenn man jedoch davon ausgeht. daß idealisierte Modelle Aussagen über idealisierte Ökonomien enthalten und ferner annimmt. daß idealisierte Aussagen gezielt kontrafaktischer Art sind. dann ist die "gedachte Wirklichkeit" die Wirklichkeit idealisierter Ökonomien. Schneiders Behauptung. wonach in den Erfahrungswissenschaften "Aussagen über Teilbereiche der Wirklichkeit aufgesteIlt,,61 werden. trifft dann insofern nicht mehr zu. als keine Aussagen über eine. sondern über zwei Wirklichkeiten getroffen werden (wenn man den Begriff der Wirklichkeit so weit dehnen möchte). Bei Schneider findet sich das für die Standardauffassung typische Überbrückungsproblem ebenfaIls. Diskrepanzen zwischen zwei Typen von Aussagen faIlen bei dem in den Wirtschaftswissenschaften häufigen "Denken in ModeIlen" unmittelbar ins Auge: "Bei logisch nachvoIlziehbaren ModeIlaussagen sieht jeder [ ... ] die Löcher zwischen Theorie und Wirklichkeit (d. h. einer Menge an Beobachtungssätzen); während die Löcher bei sog. empirischen Methoden gern überkleistert werden.,,62 Ein grundsätzliches Problem dieser Form von Erfahrungswissenschaft besteht daher in der Vermittlung dieser beiden. jeweiligen Typen von Aussagen. der idealisierten und der nichtidealisierten. der vereinfachten und der nicht vereinfachten. der mathematisch formulierten und der nicht mathematisch formulierten. AIlerdings wird das Begriffe für beobachtbare (oder mit Hilfe erfolgreich angewandter Theorien meßbare) Sachverhalte verwendet werden!" (ebd.) 57 Ebd .• S. 30. 58 .. Der Schluß von den Voraussetzungen eines Gedankenmodells auf eine Aussage über die Wirklichkeit muß einer logischen Überprüfung zugänglich sein" (ebd.). 59 ,,Logische Sprachen (z. B. unter Verwendung mathematischer Techniken) sind bis heute überaus arm in ihren Ausdrucksmöglichkeiten und von daher schon ungeeignet, alle Erscheinungsformen der Wirklichkeit zu verdeutlichen" (ebd.). 60 Schneider bestreitet jedoch. daß die Mathematik eine Sprache ist. Seiner Ansicht nach handelt es sich nur um die Syntax einer Sprache. Allerdings sind in der Wirtschaftswissenschaft viele der mathematischen Terme semantisch interpretiert. Ausgehend von bestehenden semantischen Interpretationen kann daher von einem Übersetzungsproblem nichtmathematischer in mathematische Aussagen - und vice versa - gesprochen werden. 61 D. Schneider, Geschichte betriebswirtschaftlicher Theorie. S. 7. 62 Ebd .. S. 34.

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Idealisierungsproblem von Schneider nicht explizit thematisiert oder unter den Kontext des Vereinfachens subsumiert. 63 In diesem Abschnitt wurde dargelegt, weIche Rolle die Begriffe des Erfahrungsund des Erkenntnisobjektes für die Entwicklung der betriebswirtschaftlichen Disziplin gespielt haben. Ihre jeweilige Interpretation und Verwendungsweise kann als Indikator dafür aufgefaßt werden, in weIchem Umfang die Disziplin eine Identität und ein Bewußtsein von dieser entwickelt hat. Diese Identität hat sich auch auf die Existenz einer theoretischen Grundlage und einer davon geleiteten Praxis (und Erfahrung) zu stützen. Von den hier erwähnten Autoren haben sowohl Schönpflug als auch Schneider eigene theoretische Entwürfe entwickelt. Daß Schönpflug so wenig durchdringen konnte, mag auch an seinem frühen Tod und an den politischen Verhältnissen gelegen haben. Schneiders Konzept einer allgemeinen betriebswirtschaftlichen Theorie, die sog. Einzelwirtschaftstheorie der Institutionen, hat sicherlich die Aufmerksamkeit der Disziplin gefunden, aber an der Dominanz der Speziellen Betriebswirtschaftslehren doch wenig ändern können.

IV. Empirische und theoretische Konstrukte: Zum Verhältnis von Theorie und Erfahrung am Beispiel der Institutionellen Betriebswirtschaftstheorie In diesem Abschnitt wird der Frage nachgegangen, ob die Begriffe des Erfahrungs- und des Erkenntnisobjektes aus der heutigen Perspektive nur als Relikte vergangener Zeiten zu betrachten oder noch zu verwenden sind. Das erscheint möglich, wenn beide Begriffe unter Einbeziehung eines weiten Erfahrungs- und eines semantischen Theoriebegriffes eine veränderte Interpretation erhalten. Im vorangehenden Abschnitt wurde deutlich, daß das Erkenntnisobjekt allein auf der Grundlage der Angabe bestimmter Verfahren (z. B. der Abstraktion auf der Grundlage eines Auswahlprinzips) nicht gewonnen werden kann und daß die bisherigen Versuche, darüber den Erkenntnisgegenstand der betriebswirtschaftlichen Disziplin zu bestimmen, als gescheitert angesehen werden müssen. Im zweiten Abschnitt wurde zudem dafür argumentiert, daß das Erfahrungsobjekt nicht mit einem voraussetzungslos Gegebenen identifiziert werden kann. Auf der Grundlage eines semantischen Theoriebegriffs lassen sich beide Konzepte - Erfahrungs- und Erkenntnisobjektbegriff - unter Berücksichtigung der oben genannten Voraussetzungen zusammenführen. Das Erkenntnisobjekt einer Disziplin wird dabei mit dem Modellbegriff der semantischen Theoriekonzeptionen in Beziehung gesetzt, d. h. im Sinne eines Modells einer Theorie interpretiert. Das Erfahrungsobjekt ist dann in Verbindung mit den potentiellen Anwendungsfällen der Theorie zu sehen. 63 "Das Vereinfachen (Isolieren) von Zusammenhängen geschieht doch nicht nur in der Hypothese einer Theorie, sondern genauso bei jedem Beobachtungssatz über die Wirklichkeit" (ebd., S. 33).

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Ein Modell im Sinne der semantischen Konzeptionen ist eine Entität, die die Aussagen der Theorie erfüllt. 64 Daß wissenschaftliche Gemeinschaften (oder Gruppen bzw. Schulen innerhalb der Gemeinschaften) über die Theorien der jeweiligen Disziplin verfügen (können), dient zur Begründung der Auffassung, daß es letztlich die wissenschaftlichen Gemeinschaften (Gruppen oder Schulen) sind, die - über die Theorien vermittelt - ihre Erkenntnisobjekte bestimmen. Im Hinblick auf die begriffliche Dimension der Modelle setzt dies voraus, daß die Theorien axiomatisiert oder wenigstens axiomatisierbar sind, damit die Begriffsrahmen der Modelle spezifiziert werden können. Aber selbst aus wissenschaftstheoretischer Perspektive ist so das Modell nicht vollständig erfaßbar. Neben den modelltheoretischen bedarf es dazu der Berücksichtigung historischer, pragmatischer und holistischer Aspekte. 65 Nachfolgend soll anhand eines aktuellen Beispiels aus der betriebs wirtschaftlichen Theorienbildung - der Institutionellen BetriebswirtschaJtstheorie (ffiWT) - dargelegt werden, daß und wie die Begriffe des Erkenntnis- und des Erfahrungsobjektes als theoretische respektive empirische Konstrukte interpretiert und dementsprechend benutzt werden können. Aus der erfahrungswissenschaftlichen Perspektive der ffiWT werden die Modelle als soziale Systeme66 interpretiert. Diese Systeme können in zwei Typen und in unterschiedliche Ordnungen eingeteilt werden. Letztere entstehen dadurch, daß sowohl individuelle als auch korporative Akteure spezifizierbar sind; erstere durch die Unterscheidung zwischen zwei - aus ökonomischer Perspektive - grundsätzlichen Formen der sozialen Interaktionen, die die Systeme konstitutieren: 67 die Ressourcenzusammenlegungen, die Organisationen oder konstitutionelle Systeme 68 64 Die semantischen Theoriekonzeptionen benutzen den Modellbegriff der Logik und Mathematik: "A possible realization in which all valid sentences of a theory T are satisfied is called a model of TU (Alfred Tarski (1953), zit. n. P. Suppes, A Comparison of the Meaning and Uses of Models in Mathematics and the Empirical Sciences, in: Synthese, 12. Jg., 1960, S. 287 - 301, S. 287). Suppes vergleicht den Modellbegriff in der Logik und Mathematik mit dem der empirischen Wissenschaften, den er wie folgt charakterisiert: ,Jt is a very widespread practice [ ... ] to use the word ,model' to mean the set of quantitative assumptions of the theory, that is, the set of sentences wh ich in a precise treatment would be taken as axioms, or [ ... ] would constitute the intuitive basis for formulating a set ofaxioms" (ebd.). Suppes macht auch deutlich, daß die Modellbegriffe der Mathematik und der empirischen Wissenschaften kompatibel sind: Im Prinzip ist es unerheblich, ob eine Entität als Modell einer Satzklasse oder eine Satzklasse als Modell einer Entität bezeichnet wird. 65 Vgl. C. U. Moulines, Wer bestimmt, was es gibt? in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 48. Jg., 1994,S. 175-191. 66 Formal sind diese Systeme strukturierte Mengen. Inhaltlich wird dem Systembegriff gefolgt, wie er von Ta1cott Parsons spezifiziert wurde, ohne jedoch dessen funktionalistische Vorgehensweise zu übernehmen: "Das Wort System soll ausdrücken, daß bestimmte Beziehungen wechselseitiger Abhängigkeit in der Gesamtheit empirischer Phänomene bestehen. Der Gegensatz zum System-Konzept ist Zufallsveränderung" (T. Parsons, 1962, zit. n. V. Vanberg, Die zwei Soziologien, S. 185, Fußnote 49). 67 "Alle sozialen Systeme entstehen aus der Interaktion von menschlichen Individuen als Einheiten" (T. Parsons, 1962, zit. n. V. Vanberg, Die zwei Soziologien, S. 189, Fußnote 49).

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begründen, und die verschiedenen Formen der marktbezogenen Austauschbeziehungen, die zu den Marktprozeßinstanzen führen können. Grundsätzlich enthalten soziale Systeme als mengentheoretische Strukturen folgende Bestandteile (Mengen, Relationen und Bestimmungen): • Akteure: individuelle oder kollektive Handlungseinheiten, • Ressourcen: Güter und Ereignisse (Handlungsfolgen), • Beziehungen zwischen Akteuren und Ressourcen:

• 1. Interesse: Akteure haben Interesse an bestimmten Ressourcen und versuchen, • 2. Kontrolle über diese Ressourcen zu erlangen. Systemkonstitutierend ist jedoch erst die dritte Beziehung, die die Interaktion zwischen den Akteuren zum Ausdruck bringt. Sie wird auch als Transaktionsbeziehung bezeichnet: • 3. systemkonstituierende Transaktionsbeziehung: Die Akteure treten in ihrem Bestreben, die Kontrolle über Ressourcen von Interesse zu erlangen, in Interaktion. Entitäten, die diese Bedingungen erfüllen, werden als "soziale Systeme" bezeichnet. Von ökonomischen Theorien (z. B. der IBWT) spezifizierte Systeme sind Elemente einer Menge sozialer Systeme. Die betriebs wirtschaftliche Theorie läßt sich nach dieser Konzipierung als Theorie der ökonomischen Systeme (der konstitutionellen Systeme und der Marktprozeßinstanzen), ihrer Beziehungen und Aktivitäten interpretieren. Sie ist insofern eine Makrotheorie. auch wenn das Verhalten der ökonomischen Systeme unter Bezugnahme auf Handlungsabsichten und Handlungen der Individuen zu erklären ist. Soziale Systeme als Erkenntnisobjekte der betriebswirtschaftlichen Theorie (oder der Ökonomik insgesamt) sind theoretische Entitäten, deren - durch die Theorie beschriebenen - Eigenschaften und Aktivitäten empirisch nicht unbedingt analoge Merkmale und Aktivitäten gegenüberstehen. Dies betrifft insbesondere die mit den kollektiven Handlungseinheiten verbundenen sog. emergenten Eigenschaften. Ausgehend von der Theorie sind also die Erkenntnisobjekte zu spezifizieren, die - als Modelle der jeweiligen Theorien - auch als theoretische Konstrukte aufgefaßt und bezeichnet werden können. Was ist aber mit den Erfahrungsobjekten? Diese müssen vor und unabhängig von einer Theorieanwendung bekannt oder feststellbar sein - auch wenn der Vorgang der Theorieanwendung in einem ersten Schritt darin besteht, die Anwendungsentitäten unter Rückgriff auf den Begriffsrahmen der Theorie zu beschreiben. Das ist möglich, obwohl, mit der anzuwendenden Theorie im Hintergrund, bereits ein bestimmter "Blickwinkel" vorgegeben ist, da mit den Erfahrungsobjekten ja die potentiellen Anwendungsfälle der Theorie erfaßt werden sollen: So ist bezüglich der IBWT maßgeblich, daß nicht einzelne Individuen, ihre 68 Hier wird auf die sozialtheoretischen Arbeiten von James S. Coleman zurückgegriffen. Vgl. z. B. J. S. Coleman. Foundations ofSocial Theory, Cambridge u. a. 1990.

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Handlungsabsichten, Handlungen und Handlungsfolgen in Frage kommen, sondern daß mindestens zwei Individuen im Hinblick auf ihre Beziehungsstruktur zu betrachten sind. Die Symmetrieeigenschaften des Modellbegriffs können auch für den Begriff des Erfahrungsobjektes nutzbar gemacht werden, indem - ohne Axiomatik im Hintergrund 69 - darunter sowohl gegenständliche (Objekte bzw. Entitäten) als auch nicht gegenständliche (linguistische, verbale, mentale etc.) Repräsentationen gefaßt werden. Da die Erfahrungsobjekte selbst als Repräsentationen auffaßbar sind, können Realismus- oder Wirklichkeits probleme ausgeklammert werden, die die tatsächliche wissenschaftliche Arbeit nicht beeinflussen. Die Erfahrungsobjekte werden als "empirische Konstrukte" bezeichnet, weil sie - auf der Grundlage assimilierter Theorien und des im zweiten Abschnitt vorgestellten weiten Erfahrungsbegriffs - konstruierte Entitäten (Repräsentationen) sind. Sie werden auf der Grundlage von Theorien beschrieben, die der anzuwendenden Theorie vorangehen und in die das Alltagswissen bzw. die Alltagstheorien auch der Erfahrungswissenschaftler "eingesickert" sind. Dazu gehören in den Sozialwissenschaften auch naturwissenschaftliche Theorien?O Aus - der IBWT vorangehenden Theorien stammen beispielsweise der Betriebs- und der Unternehmensbegriff. Diese Begriffe sind, anders als der der Einzelwirtschaft, aus dem Wortschatz der meisten Menschen kaum wegzudenken - ungeachtet wechselnder und nicht präzise festgelegter Bedeutungen. Aus der Perspektive der IBWT besitzt der Betriebsbegriff jedoch keine analytische Relevanz. Das ,,E" im Akronym ,JBWT" drückt daher nur den Anschluß an eine der IBWT vorangehende betriebswirtschaftliche Theoriebildung aus bzw. bringt zur Kenntnis, daß eine bestimmte wissenschaftliche Gemeinschaft - die betriebs wirtschaftliche - über die IBWT verfügt. Das Erfahrungsobjekt ist das, was mit dem nur auf der theoretischen Ebene vollständig erfaßbaren sozialen System auf der Ebene der Alltagstheorien korrespondiert. Nicht alle Eigenschaften des sozialen Systems sind auf dieser Ebene erfaßbar - insbesondere solche, die dem "Systemcharakter" entsprechen, können Schwierigkeiten bereiten. In der Betriebswirtschaftslehre sind dies beispielsweise die Unternehmenskultur, das organisationale Lernen und die Ziele der Unternehmung. Trotzdem werden Begriffe wie "Haushalt", "Unternehmung", "Unternehmungsnetzwerk" oder "Staat" in der AIltagssprache ohne zu zögern benutzt - obwohl es 69 Damit ist nicht ausgeschlossen, daß die Erfahrungsobjekte Modelle von Theorien sind, deren Anwendung gerade nicht zur Debatte steht. 70 Die prozessurale Sozialforschung macht deutlich, daß ein Raum- und ein Zeitfaktor eine Rolle spielen: "Die Untersuchung jedes natürlichen und gesellschaftlichen Phänomens ist ein Problem von Raum und Zeit. Gegenstände sind nicht nur als physische Objekte zu lokalisieren, was hieße, sie existierten lediglich durch ihre räumliche Ausdehnung an einer bestimmten Stelle im Raum zu irgendeinem Moment. Ihre Existenz wird ebenso durch zeitliche Ausdehnung bestimmt, sie benötigen eine bestimmte Zeitspanne, um überhaupt als Gegenstand oder Sachverhalt wahrgenommen zu werden" (M. Dick, Zur Notwendigkeit und Methodologie prozessural verstandener Sozialforschung, S. 9).

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beispielsweise unmöglich ist, einen Haushalt, eine Unternehmung oder den Staat und seine Körperschaften zu beobachten. Nur einige Merkmale etwa der Unternehmung sind beobachtbar: die Sachanlagen, die Mitarbeiter, einige Aktivitäten. D. h. jedoch nicht, daß bestimmte Merkmale, die nur dem System zukommen können wie die Existenz einer Unternehmenskultur -, nicht Gegenstand der menschlichen Erfahrung sein können. Die Unterschiede zwischen der Unternehmenskultur von HP (Hewlett Packard) - dem sog. HP-way - und einer beliebigen, hierarchisch-bürokratisch organisierten Unternehmung sind von den Mitarbeitern sicher auch zu erfahren. Um zu wissen, was man da erfährt, ist jedoch der Rückgriff auf eine Theorie notwendig, da die Unternehmenskultur eine emergente Systemeigenschaft ist. Im zweiten Abschnitt wurde behauptet, daß die Theorie teilweise selbst vorgibt, weIche Erfahrungen bei einer Theorieanwendung gemacht werden müssen. Dies soll anschließend am Beispiel der ffiWT kurz erläutert werden. Wenn geprüft wird, ob etwas ein soziales System im Sinn der ffiWT sein kann, dann wird versucht, es unter Verwendung der im Begriffsrahmen enthaltenen Begriffe zu beschreiben. Zu spezifizieren sind daher im konkreten Fall die Akteure und die Ressourcen. Festzustellen ist weiterhin, ob die Beziehungen des Interesses, der Kontrolle und die systemkonstituierende Transaktionsbeziehung vorliegen. Darüber, weIche Beziehungen gegeben sein müssen, gibt die begriffliche Komponente des Modells formal Auskunft - aber nicht darüber, was Akteure oder Ressourcen sind oder was genau unter die Begriffe "Kontrolle" oder "Interesse" fallt. Es obliegt der jeweiligen wissenschaftlichen Gemeinschaft festzulegen, was ihrer Ansicht nach z. B. ein Akteur oder eine Ressource ist. Dabei spielen dann die theoretischen Auseinandersetzungen im Verlauf der Geschichte der Disziplin eine Rolle. Formal ist durch den Begriffsrahmen der Modelle in der ffiWT beispielsweise nicht determiniert, ob Haushalte als betriebswirtschaftlieh relevante soziale Systeme zu analysieren sind oder ob eine Haushaltsproduktion als Systemaktivität existieren soll.71 Ähnliche Freiheitsgrade gibt es bei der Festlegung des Ressourcenbegriffs: Was ist eine Ressource von betriebswirtschaftlichem Interesse? Sind es nur mit Marktpreisen bewertete Güter oder auch die Zuwendungen, die innerhalb von Gruppen getauscht werden können? Die Anwendung der Theorie besteht in der Konstruktion eines Modells, in der Übertragung von Begriffen und in der Prüfung der Frage, ob bestimmte Beziehungen zuschreibbar sind. Insofern leitet die Theorie die Erfahrungen, die in Verbindung mit ihren Anwendungen zu machen sind.

71 Nach tradierter Festlegung der Begriffe in der Wirtschaftstheorie produzieren nur Unternehmungen, während Haushalte konsumieren. Selbst wenn man sich in der Wirtschaftswissenschaft darauf verständigt, daß auch in Haushalten Produktionsfaktoren kombiniert werden und daher produziert wird, besteht immer noch die Möglichkeit, diese Aktivität als betriebswirtschaftlich nicht relevant zu bezeichnen.

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V. Fazit Dieser Beitrag kann als Referenz für die Behauptung angesehen werden, daß es nicht den einen Erfahrungsbegriff in den Erfahrungswissenschaften gibt, möglicherweise aber etwas, das allen Erfahrungswissenschaften gemein ist, nämlich der Einfluß der Theorien und der sozialen Gemeinschaften auf die Gewinnung und Verwendung der Erfahrung. Der Einfluß der Theorien ist ein doppelter: Zum einen spielt dabei eine Rolle, daß nur im Lichte von Theorien beobachtet werden kann, zum anderen, daß das, was zu beobachten ist, auch von Theorien geleitet wird. Beides hängt nicht an dem hier exemplarisch benutzten semantischen Theoriebegriff. Auch wer unter einer Theorieanwendung eher Vorgänge versteht, die dazu führen, daß danach Sätze zueinander in Beziehung gesetzt werden (z. B. bei der Aufstellung von Erklärungs- oder Vorhersageargumenten), erfährt, daß Theorien sowohl die Suche nach Erfahrungen als auch deren Charakterisierung leiten. Auf der sozialen Ebene finden die Prozesse statt, die zur Legitimation und Akzeptanz der Erfahrungen innerhalb von Gruppen, Schulen oder Gemeinschaften führen. Bezüglich dieser Vorgänge gibt es vermutlich innerhalb der Erfahrungswissenschaften keine prinzipiellen Unterschiede. Hervorzuheben ist, daß die Erfahrung in allen Erfahrungswissenschaften daher "hergestellt" und nicht "vorgefunden" wird.

Die Vorgänge. die in Verbindung mit der "Herstellung" der Erfahrung jeweils vonstatten gehen. unterscheiden sich jedoch. Ebenso die Probleme. zu deren Lösung die Erfahrung angerufen wird. Typisch für die Betriebswirtschaftslehre ist es, daß ihr die Erfahrung - in Gestalt der Erfahrungsobjekte - bei der Suche nach einem Erkenntnisgegenstand helfen sollte72 - ein Anspruch, der - wie sich zeigte nicht eingelöst werden konnte. Sofern in der Betriebswirtschaftslehre nicht nur der Erfahrungs-, sondern auch der Erkenntnisgegenstand thematisiert wurde, stellte sich heraus, daß auch diese Wissenschaft von den für alle Erfahrungswissenschaften typischen Problemen betroffen ist, die sich daraus ergeben, daß Theorien keine Zusammenfassungen von Beobachtungssätzen sind, sondern ihre wissensgenerierende Aufgabe im Prinzip nur erfüllen können, wenn sie darüber hinausgehen. Das Ergebnis sind abstrakte oder idealisierte Repräsentationen und die Frage, wie diese mit dem, was an Erfahrung hergestellt werden kann, verbunden werden können. Ferner spielt eine Rolle, daß bei diesem Vorgang nicht mehr nur zwei Ebenen betroffen sind, eine theoretische und eine empirische, sondern daß hier eher verschiedene Typen von Theorien zusammentreffen. Dabei ist gerade in den Sozialwissenschaften nicht nur an die - im zweiten Abschnitt erwähnten - Theorien der Daten oder des Experiments zu denken, da sich dort nicht nur die anzuwendende Theorie, deren Vorgängertheorien und die Alltagstheorien gegenüberstehen, sondern auch 72 Vgl. z. B. K. Stüdemann. Allgemeine Betriebswirtschaftslehre. München!Wien 1990, M. Schweitzer, Gegenstand der Betriebswirtschaftslehre, in: F. X. Bea! E. Dichtl! M. Schweitzer (Hg.), Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Bd. I: Grundfragen, Stuttgart! Jena 1992, S. 17 -56. und G. Wöhe. Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, München 1996.

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die Handlungstheorien und -modelle der individuellen wie auch korporativen Akteure zu berücksichtigen sind. Die Verwendung von ausschließlich annahmengestützten Handlungstheorien scheint nicht auszureichen bzw. durch ein Studium der "Binnenperspektive" ergänzt werden zu müssen?3 Was erfahren werden kann, beruht einerseits auf den sozialen Interaktionen der Akteure, andererseits auf den Ergebnissen der Gestaltungsversuche von Erfahrungswissenschaftlern (Betriebswirten, Arbeitspsychologen, Ingenieuren etc.). Wissenschaftler sind nicht nur Teilnehmer, sie sind auch Gestalter und Problemlöser. Gerade dieser Anspruch ist in der Betriebswirtschaftslehre immer sehr hoch gewesen. Die Betriebswirtschaftslehre hat hier in zweierlei Hinsicht auch besondere Möglichkeiten: Erstens durch den Einsatz der Wissenschaftler selbst (indem diese untersuchen, beraten, gestalten); zweitens durch die Absolventen ihrer Studiengänge, die in den Organisationen tätig werden. Es gibt heute kaum eine zweite Sozialwissenschaft, die eine ähnlich starke Durchdringung der Handlungspraxis in Organisationen mit ihren Vertretern und Theorien erreicht hat wie die Betriebswirtschaftslehre. Mittlerweile sind ein ansehnlicher Anteil der Mitarbeiter und Führungskräfte in Unternehmungen Betriebswirte. Es ist davon auszugehen, daß diese versuchen werden, Gelerntes zu übertragen und auf diese Weise auch zur Diffusion betriebswirtschaftlichen Gedankengutes in Alltagstheorien oder in die Handlungsmodelle der Akteure beizutragen. Auch hier entstehen theoriegeleitete Erfahrungen, ohne daß es sich um Theorieanwendungen im klassischen Sinn handelt (die ja von Wissenschaftlern vorgenommen werden). Die Frage, wie wissenschaftliches Wissen in Alltagswissen und in organisationales Wissen übergeht, ist bisher wenig untersucht worden. Falls es einmal dazu kommt, ist das betriebswirtschaftliche Wissen ein geeigneter Ansatzpunkt.

73 Ein aktuelles Beispiel aus der betriebswirtschaftlichen Forschung ist die Analyse eines Allianzsystems aus dem Bereich der Telekommunikation von G. Müller-Stewens / eh. Lechner (Zur Entwicklung von Allianzsystemen - oder die Emergenz kollektiv geteilter Fähigkeiten, in: J. Engelhard/E. 1. Sinz (Hg.), Kooperation im Wettbewerb, Wiesbaden 2(00). Dort finden sich bei den methodologischen Erläuterungen folgende Ausführungen: "Um den Entwicklungsprozeß eines Allianzsystems zu verstehen, ist die alleinige Beobachtung aus der Außenperspektive nicht ausreichend. Erst dann, wenn man sich auch in die Binnenperspektive bewegt und zu einem kompetenten Teilnehmer der dortigen Praktiken, Rollen und Normen wird, erhält man die Möglichkeit den Verlauf der Interaktionsprozesse zwischen den Teilsystemen sowie die Entwicklung des Allianzsystems sinnvoll zu verstehen. Da wir von der Annahme ausgehen, dass Realitäten sozial konstruiert werden, waren wir besonders an den Ursachen und Interpretationen der Ereignisse interessiert, die unsere Gesprächspartner als wichtig und richtungsweisend für die Entwicklung der Allianz erachteten. Sie galt es aufzuspüren, einander gegenüberzustellen und auf Konsens bzw. Dissens hin zu überprüfen. um das ,Warum' der Allianzentwicklung zu verstehen" (S. 4).

Autorenverzeichnis Dr. Walter Grasnick Professor für Strafrecht sowie Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und juristische Methodenlehre an der Philipps-Universität Marburg. Früher Oberstaatsanwalt in Düsseldorf. Grimmstraße 22, 40235 Düsseldorf Dr. Christian Gremmels Professor für Evangelische Theologie (Systematische Theologie) an der Universität Gesamthochschule Kassel. Vorsitzender der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft. Sektion Bundesrepublik Deutschland. Mitherausgeber der "Dietrich Bonhoeffer Werke" (Bd. I - 17, 1986-99). Universität Gesamthochschule Kassel, Fachbereich I, Fach: Theologie, Nora-Platiel-Straße I, 34 \09 Kassel Dr. Michaela Haase Privatdozentin für Betriebswirtschaftslehre am Institut für Marketing der Freien Universität Berlin. Gegenwärtig Gastwissenschaftlerin am Department of Economics der St. Louis University. Department of Economics, Campus Box 1208, One Brookings Drive, St. Louis, Missouri 63130-4899, USA Dr. Michael Hampe Professor für Philosophie an der Universität Bamberg. Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Lehrstuhl für Philosophie 11, 96045 Bamberg

Dr. Ste/an Hübsch Arbeitet an einem Buch über die Philosophie-Konzeptionen von Heidegger und Wittgenstein. Adlerstraße 3, 68199 Mannheim. Dr. Daniel Krochmalnik Professor für Jüdische Philosophie, Geistesgeschichte und Religionspädagogik an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Privatdozent für Jüdische Philosophie an der Universität Heidelberg. Hochschule für Jüdische Studien, Friedrichstraße 9, 69117 Heidelberg

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Autorenverzeichnis

Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber Professorin für Psychoanalytische Psychologie am Institut für Psychoanalyse der Universität Gesamthochschule Kassel. Ord. Mitglied der Schweizerischen Psychoanalytischen Gesellschaft und der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung. Institut für Psychoanalyse, Universität Gesamthochschule Kassel, Nora-Platiel-Straße I, 34 \09 Kassel Dr. Maria-Sibylla Lotter Habilitationsstipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Lehrbeauftragte für Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Panzerleite 68, 96049 Bamberg Dr. Hans-Jörg Rheinberger Professor und Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Wilhelmstraße 44, \0 1\ 7 Berlin Dr. Oliver Robert Scholz Privatdozent für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Mitarbeiter der DFG-Forschungsgruppe "Kommunikatives Verstehen". Freie Universität Berlin, Institut für Philosophie, Habelschwerdter Allee 30,14195 Berlin Dr. Friedrich Steinle Research Scholar am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Wilhelmstraße 44,10117 Berlin Dr. Man/red Stöckler Professor für theoretische Philosophie mit dem Schwerpunkt Philosophie der Naturwissenschaften an der Universität Bremen. Universität Bremen, Studiengang Philosophie, Fachbereich 9, Postfach 330440, 28334 Bremen