Das Gießener Evangeliar und die Malerische Gruppe der Kölner Buchmalerei [1 ed.] 9783412524890, 9783412524876

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Das Gießener Evangeliar und die Malerische Gruppe der Kölner Buchmalerei [1 ed.]
 9783412524890, 9783412524876

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Das G i e ss ener E va ngeli a r UND DIE MALERISCHE GRUPPE DER KÖLNER BUCHMALEREI Klaus Gereon Beuckers | Ursula Prinz (Hg.)

Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters BAND 9

Herausgegeben von Klaus Gereon Beuckers, Andreas Bihrer und Timo Felber

Klaus Gereon Beuckers, Ursula Prinz (Hg.) unter Beteiligung von Markus Späth

Das Gießener Evangeliar und die Malerische Gruppe der Kölner Buchmalerei

BÖHLAU VERLAG  WIEN KÖLN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Detail mit dem Evangelisten Matthäus im Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen Hs 660, fol. 11r. Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52489-0

Inhalt

Geschichte eines Forschungsprojektes Zur Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Olaf Schneider Von Köln nach Gießen Wie ein ottonisches Evangeliar nach Mittelhessen gelangte 

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Klaus Gereon Beuckers Das Gießener Evangeliar und die ‚Malerische Gruppe‘ der Kölner Buchmalerei  . .

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Ursula Prinz Auf ganzer Linie ORNAMENTAL Zur expressiven Formensprache des Gießener Evangeliars aus Köln  . . Doris Oltrogge und Robert Fuchs Bemerkungen zu Farbmitteln, Metallen und Maltechnik des Gießener Evangeliars  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vivien Bienert „et continuo exivit sanguis et aqua“ Bemerkungen zur Kreuzigungsdarstellung auf fol. 188r des Gießener Evangeliars  . .

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Matthias Schrör Ein König und drei Bischöfe Die Medaillons der Liber generationis-Seite des Gießener Evangeliars (fol. 12r) und ihr historischer Hintergrund  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Lieven Lotharingien im späten 10. Jahrhundert Zur Integration des Raums zwischen Rhein, Maas und Mosel in das Reich der Ottonen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Beate Braun-Niehr Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und zu den Capitularien der Kölner Evangeliare des 10. / 11. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



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Inhalt | 5

Joshua O’Driscoll The Tituli of Cologne’s Painterly Group of Illuminated Manuscripts Problems of their Use and Meaning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fabrizio Crivello Das Mailänder Evangeliar (Biblioteca Ambrosiana, C 53 sup.) Überlegungen und offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Cécile Voyer De pourpre et d’or Réflexions sur le sacramentaire à l’usage de Cologne (Paris, BnF, ms. lat. 817)  . .

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Elisabeth Luger-Hesse Das ottonische Evangeliar Bestand 7010 Nr. 312 im Historischen Archiv der Stadt Köln Provenienz und Restaurierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Höhl Prüm und Köln oder: ‚Notizen aus der Provinz‘  . .

Eliza Garrison Varietas and Ductus Ottonian Manuscript Illumination Around the Year 1000  . .

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Jochen Hermann Vennebusch Ottonische Resonanzräume karolingischer Kunst Die Werkgruppe des Thebäer-Elfenbeins und ihre Beziehungen zur Kölner Buchmalerei des 10. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . .

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Markus Späth Goldschmiedekunst und Buchmalerei in Köln um 1000  Abbildungsnachweis  . . Farbtafeln  . .

6 | Inhalt

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Geschichte eines Forschungsprojektes Zur Einleitung

Unter den vielbeachteten Handschriften der ‚Malerischen Gruppe‘ der Kölner B ­ uchmale­rei des 10./11. Jahrhunderts erfuhr das Gießener Evangeliar durch die Forschung die mit Abstand geringste Aufmerksamkeit. Zwar wurde die Handschrift immer wieder gerne ausgestellt, aber das Interesse galt deutlich stärker beispielsweise dem Pariser Sakramentar und vor allem dem Hitda-Codex, für die Peter Bloch schon in den 1960er Jahre selbständige Publikationen vorgelegt hat;1 selbst das kaum zugängliche Mailänder Evangeliar fand mehr Interesse, enthielt es doch über die Evangelisten und die für Köln so typische Hieronymus-Darstellung hinaus wenigstens noch ein rätselhaftes Widmungsbild. Erst die Untersuchung von Ursula Prinz zur Kölner Rahmenornamentik stellte die hohe Qualität und die ungewöhnlichen Details des Gießener Codex besonders heraus und akzentuierte so einen neuen Blick.2 Es lag also nahe, diese Handschrift für den abschließenden Band des Kieler Forschungsprojektes zur Kölner Buchmalerei des 10./11. Jahrhunderts zu wählen, zumal sie deutlich erreichbarer als die Mailänder Handschrift ist. Der Anfang des Kieler Projektes ist eng mit Anton von Euw (1934 – 2009) verbunden. Der zu frühe Tod des großen Kunsthistorikers, der seine ganze berufliche Tätigkeit am Museum Schnütgen in Köln verbracht hat, förderte bei der auf Bitten seiner Frau Erika (1937 – 2019) erfolgten Durchsicht des Nachlasses ein Vortragsmanuskript zum HitdaCodex hervor, das inhaltlich zwar weitgehend auf seinen Ausführungen im Ausstellungskatalog Vor dem Jahr 1000 von 1991 basierte,3 aber in von Euws unverkennbarer Diktion seine feinen Beobachtungen mit der klaren Formulierung des Forschungsdilemmas der Kölner Malerei auf den Punkt brachte. Anton von Euw war damals als junger Wissenschaftler an der Entstehung des 1967 und 1970 veröffentlichten Korpuswerkes von Peter Bloch (1925 – 1994) und Hermann Schnitzler (1905 – 1976) am Schnütgen-Museum beteiligt gewesen,4 zumal er als Schweizer keinen Reisebeschränkungen unterlag und deshalb an 1 Peter Bloch: Das Sakramentar von St. Gereon, München 1963. – Peter Bloch: Der Darmstädter Hitda-Codex. Bilder und Zierseiten aus der Handschrift 1640 der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek, Berlin 1968. 2 Ursula Prinz: Die Ornamentik der ottonischen Kölner Buchmalerei. Studien zur Rahmenornamentik (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen ­Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 71), Köln 2018. 3 Vor dem Jahr 1000. Abendländische Buchkunst zur Zeit der Kaiserin Theophanu, Ausst. Kat. Schnütgen-­ Museum Köln, hg. v. Anton von Euw, Köln 1991. 4 Peter Bloch / Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, 2 Bde., Düsseldorf 1967/70.

Geschichte eines Forschungsprojektes | 7

ihrer Stelle beispielsweise das Sakra­mentar aus Tyniec in Warschau und das Evangeliar in New York einsehen konnte.5 Aber er war mit den Datierungen und der diesen zugrunde liegenden angeblichen Abhängigkeit der Kölner Werke von dem Manchester Codex (John Rylands University Library, Ms. 98) nicht mehr einverstanden. Im Kölner Ausstellungskatalog hatte er 1991 stillschweigende Korrekturen vorgenommen,6 fand aber, dass eine Neudiskussion des gesamten Gefüges notwendig sei. Nachdem ­dieses Thema in meiner Dissertation aufgrund seiner Komplexität eher deskriptiv behandelt worden war,7 bot die Lektüre seines Vortragsmanuskriptes den Impuls, dies endlich anzugehen. Im Jahre 2011 wurden in Kiel alle Autoren eingeladen, die sich in den letzten Jahren mit dem Hitda-Codex und der Identifizierung seiner Stifterin substantiell beschäftigt hatten. Sie trugen ihre jeweiligen Argumente und Thesen vor und daraus sollte ein Gespräch entstehen, das die Kölner Handschriften verstärkt unter historischen Gesichtspunkten betrachten sollte. So heterogen die Meinungen waren, so ertragreich war die Tagung, weil sie viele neue Aspekte aufwarf. Sie zeigte aber auch, dass über die Stifterin Hitda weder eine Datierung des Codex noch der ‚Malerischen Gruppe‘ insgesamt zu argumentieren ist, da eine eindeutige Identifizierung der Äbtissin aus den Quellen und Nekrologüberlieferungen unmöglich ist. Die Publikation der Beiträge in einem Band der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt 8 ergänzte die dort zwei Jahre vorher erschienene Monografie aus der Feder von Christoph Winterer.9 Ulrich Kuder, der 1989 seine umfangreiche Habilitationsschrift zur ottonischen Buchmalerei verfasst hatte, gruppierte in dem Tagungsband 2013 die Kölner Handschriften neu und bot damit eine provokante Grundlage für eine umfassende Neudiskussion.10 Diese setzte dann anhand des Gerresheimer Evangeliars ein, dessen Erforschung anlässlich eines Besuches des ‚Essener Arbeitskreises zur Erforschung des Frauenstifts‘ im November 2014 in Gerresheim vereinbart wurde.

5 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 9. – Vgl. hierzu auch Klaus Gereon Beuckers: Der Kunsthistoriker Anton von Euw. Ein Schweizer in Köln, in: Anton von Euw. Bibliographie seiner Schriften 1962 bis 2011, hg. v. Wolfgang Schmitz (Kleine Schriften der Universitäts- und ­Stadtbibliothek Köln, Bd. 29), Köln 2011, S. 5 – 17, hier S. 8 – 10. 6 Kat. Köln 1991 (wie Anm. 3). 7 Klaus Gereon Beuckers: Die Ezzonen und ihre Stiftungen. Eine Untersuchung zur Stiftungstätigkeit im 11. Jahrhundert (Kunstgeschichte, Bd. 42), Münster 1993, S. 263 – 267. 8 Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640). Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013. 9 Christoph Winterer: Das Evangeliar der Äbtissin Hitda. Eine ottonische Prachthandschrift aus Köln. Miniaturen, Bilder und Zierseiten aus der Handschrift 1640 der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Darmstadt 2010. 10 Ulrich Kuder: Der Hitda-Codex im Zusammenhang der Kölner Buchmalerei des 10. und 11. ­Jahrhunderts, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 8), S. 89 – 111, insb. S. 110 f.

8 | Klaus Gereon Beuckers

Bloch / Schnitzler hatten – im modifizierten Aufgriff der Einteilung von Heinrich Ehl (1888 – 1963)11 – die Kölner Prachthandschriften des 10./11. Jahrhunderts in vier aufeinander folgende Hauptgruppen eingeteilt: Die ‚Malerische Gruppe‘, die ‚Malerische Sondergruppe‘, die ‚Reiche Gruppe‘ und die ‚Strenge Gruppe‘. Kuder hatte (einem Impuls der Rezension des Werkes von Bloch / Schnitzler durch Carl Nordenfalk folgend 12) in seiner Neuordnung die ‚Malerische Sondergruppe‘ aufgelöst und die Handschriften teilweise – wie das Gerresheimer Evangeliar – sehr früh an den Anfang der Kölner Malerei noch in die 960er Jahre gesetzt. Anhand des Gerresheimer Evangeliars wurde dies im Oktober 2015 auf einer Tagung am Ort der Handschrift in Gerresheim diskutiert und am Befund überprüft. Ein wichtiger Ansatz der Tagung waren die Nachträge, die in das Evangeliar eingetragen sind. Schon länger war die Weiternutzung von Evangeliaren nach ihrer liturgischen Ausmusterung zuerst in Stuttgart und dann am Kieler Lehrstuhl ein Forschungsthema, bei dem vor allem Handschriften aus Frauenstiften eine größere Rolle spielten. Das Gerresheimer Evangeliar mit seinen zahlreichen Nachträgen bot jetzt eine Gelegenheit, diese zu transkribieren und im Zusammenhang systematisch zu untersuchen. Tagung und Band hatten also neben den kunsthistorischen Th ­ emen ein stark historisches Konzept, was zur Begründung einer neuen Buchreihe im Böhlau-Verlag Köln Anlass gab.13 Die Auflösung der ‚Malerischen Sondergruppe‘ ließ sich jedenfalls nicht bestätigen und auch die anschließende Untersuchung des Gundold-Evangeliars in Stuttgart, das Bloch / Schnitzler ebenfalls hierein verortet hatten, bestätigte einen Neubeginn der Kölner Handschriftenproduktion in den 1020/30er Jahren unter Nutzung sowohl älterer Vorlagen der ‚Malerischen Gruppe‘ als auch bisher unverwendeter Lagen, wie der ersten zehn Blätter des Gundold-Evangeliars.14 Nach ­diesem eher tastenden Neuanfang schwang sich die Kölner Buchmalerei in der ‚Reichen Gruppe‘ zu einer imponierenden Qualität auf, die bei dem ersten erhaltenen Codex der Gruppe, dem Evangeliar aus Mariengraden in der Diözesan- und Dombibliothek Köln nicht ohne Wechselwirkungen mit dem von Reichenauer Malern in Köln geschaffenen 11 Heinrich Ehl: Die ottonische Kölner Buchmalerei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der frühmittelalterlichen Kunst in Westdeutschland (Forschungen zur Kunstgeschichte Westeuropas, Bd. 4), Bonn 1922. 12 Carl Nordenfalk: Rezension zu Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 4), in: Kunstchronik. Monatsschrift für Kunstwissenschaft, Museumswesen und Denkmalpflege 24 (1971), S. 292 u. 298 – 309, hier S. 305. 13 Das Gerresheimer Evangeliar. Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Beate Johlen-Budnik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittel­alters, Bd. 1), Köln 2016. 14 Klaus Gereon Beuckers: Das Gundold-Evangeliar in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Bemerkungen zu einem Kölner Prachtcodex des 10./11. Jahrhunderts, in: Philologia sanat. Studien für Hans-Albrecht Koch zum 70. Geburtstag, hg. v. Gabriella Rovagnati und Peter Sprengel, Frankfurt am Main 2016, S. 41 – 65.

Geschichte eines Forschungsprojektes | 9

Hillinus-Codex zu verstehen ist. Offensichtlich entstanden beide Handschriften mit guter Kenntnis der anderen, vielleicht sogar im gleichen Skriptorium durch unterschiedlich ausgebildete Kräfte, womit die Datierung des Hillinus-Codex (Dombibliothek Köln, Cod. 12) um 1025 auch für den Start der ‚Reichen Gruppe‘ gelten kann. Das Projekt eines Kunst­ buches mit Faksimileblatt durch den Quaternio-Verlag in Luzern gab 2016 die Gelegenheit zu einer umfangreichen Monografie, die die Problematik der ‚Reichen Gruppe‘ diskutieren konnte.15 Schon bei dem Gerresheim-Projekt hatte es eine enge Zusammenarbeit mit Doris Oltrogge gegeben, die sich den Farbmitteln und technologischen Fragen der Handschrift gewidmet hatte. Dies wurde bei dem Evangeliar aus Mariengraden fortgesetzt, schließlich rundete im November 2016 ein Vortrag zu den Kanontafeln in der Dombibliothek das Thema ab.16 Vorher hatte bereits ein Besuch in New York im Mai 2016 im Rahmen eines Forschungsprojektes zum Hildesheimer Email des 11./12. Jahrhundert zusammen mit Joshua O’Driscoll, der schon bei der Hitda-Tagung 2012 beteiligt gewesen war und inzwischen seine wichtige Dissertation zur ‚Malerischen Gruppe‘ vorgelegt hatte,17 eine intensive Betrachtung des Evangeliars aus St. Aposteln in der Pierpont Morgan Library ermöglicht, w ­ elche die anhand des Evangeliars aus Mariengraden gemachten Beobachtungen zur ‚Reichen Gruppe‘ bestätigten – und zu O’Driscolls Beitrag über den New Yorker Codex 2017 in Kiel führten. Mit einem anderen methodischen Zugang als im Gerresheim-Band wurde nämlich anschließend das Sakramentar aus Tyniec im Sommer 2017 zum Gegenstand einer diesmal wieder Kieler Tagung.18 Diese Kernhandschrift der ‚Strengen Gruppe‘ ist eng mit Herzog Kasimir dem Erneuerer (verst. 1058) verbunden, der als Enkel des rheinischen Pfalzgrafen Ezzo und Sohn von Königin Richeza von Polen direkte Beziehungen nach Köln unterhielt, wohin er 1037/38 floh und woher er 1041 mit Unterstützung seines Onkels Erzbischof H ­ ermann II. von Köln (amt. 1039 – 1056) seine Rückkehr nach Polen bewerkstelligen konnte. Die Tagung, für die etliche polnische Kollegen nach Kiel kamen und während deren Vorbereitung Ursula 15 Klaus Gereon Beuckers: Das Prachtevangeliar aus Mariengraden. Ein Meisterwerk der salischen Buchmalerei aus Köln. Die Handschrift Cod. 1001a der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek Köln (mit einem Beitrag von Doris Oltrogge), Luzern 2018. 16 Klaus Gereon Beuckers: Zum Typus der Kölner Kanontafeln im 10./11. Jahrhundert und ihren Vorbildern. Am Beispiel des Evangeliars aus St. Maria ad Gradus (Diözesanblibliothek Köln Cod. 1001a), in: Mittelalterliche Handschriften der Kölner Dombibliothek. Siebtes Symposion November 2016, hg. v. Harald Horst (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen ­Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 70), Köln 2018, S. 15 – 62. 17 Joshua O’Driscoll: Image and Inscription in Painterly Manuscripts from Ottonian Cologne, Diss. Harvard University Cambridge Mass. 2015. 18 Das Sakramentar aus Tyniec. Eine Prachthandschrift des 11. Jahrhunderts und die Beziehungen ­zwischen Köln und Polen in der Zeit Kasimir des Erneuerers, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Andreas Bihrer unter Mitarbeit von Ursula Prinz (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 3), Köln 2018.

10 | Klaus Gereon Beuckers

Prinz zu dem Projekt hinzustieß, stellte deshalb die Beziehungen z­ wischen Köln und Krakau und Tyniec aus verschiedenen Blickwinkeln von der Archäologie bis zu reichspolitischen und regionalpolitischen Aspekten in den Mittelpunkt. Bereichert wurde dies durch Untersuchungen vor allem zu verschiedenen Handschriften der ‚Strengen Gruppe‘ wie der Schwesterhandschrift aus Mönchengladbach in Freiburg oder dem Abdinghof-Evangeliar in Berlin, das hier durch Beate Braun-Niehr als aus St. Severin stammend identifiziert werden konnte. Die stilistischen Diskussionen ergänzten die historischen Datierungsansätze und erbrachten damit eine Frühdatierung der ‚Strengen Gruppe‘ gegenüber Bloch / Schnitzler in die 1040/50er Jahre. Dies bestätigte 2018/19 die Bearbeitung des Lyskirchen-Evangeliars, dessen Kernbestand der ‚Strengen Gruppe‘ zugehörig ist, bevor es s­ päter mit Malerei ausgestaltet wurde, in einem weiteren Projekt, das diesmal ohne Tagung als Buchvorhaben angelegt wurde.19 Erneut standen hier die zahlreichen Nachträge im Blickpunkt, wie auch die Einbindung in den Kirchenschatz von St. Georg in Köln, der durch das eingetragene Schatzverzeichnis überliefert ist, und die Parallelhandschriften über die Einbände. Kunsthistorisch wurde dabei die 1870 verbrannte Straßburger Handschrift durch Ulrich Kuder monografisch erläutert und ein größerer Rahmen für die stilistische Diskussion der ‚Strengen Gruppe‘ geschlagen. Wie in allen diesen Sammelbänden im Böhlau-Verlag wurden auch hier alle gestalteten Doppelseiten der Handschrift in der Art eines Faksimiles dem Band beigebunden. Einen wesentlichen Fortschritt der Diskussion bedeutete 2017 die systematische Behandlung der Rahmenornamentik der gesamten Kölner Prachthandschriften des 10./11. Jahrhunderts durch Ursula Prinz, die erstmals überhaupt für eine Handschriftengruppe der ottonischen Buchmalerei eine s­ olche detaillierte Analyse versuchte und dabei neue Abhängigkeiten erkennen konnte.20 Ihre Ergebnisse flossen in das Projekt zum Lyskirchen-Band ein und wurden 2018 durch einen Vortrag vor Ursula Prinz auf die Initialornamentik anhand des EvergerLektionars der Kölner Produktion erweitert.21 Über die Rahmenornamentik gelangte das Gießener Evangeliar stärker in den Blick. Das Konzept der Gießener Tagung war wieder stärker kunsthistorisch geprägt. Nachdem sich eine Datierung der ‚Malerischen Gruppe‘ anhand der Stifterin Hitda auf der Tagung 19 Das Jüngere Evangeliar aus St. Georg in Köln. Untersuchungen zum Lyskirchen-Evangeliar, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Anna Pawlik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 5 / Studien zu Kunstdenkmälern im Erzbistum Köln, Bd. 5), Köln 2019. 20 Prinz 2018 (wie Anm. 2). 21 Ursula Prinz: Die älteste ottonische Kölner Prachthandschrift. Überlegungen zur malerischen Ausstattung des Everger-Epistolars (Cod. 143) unter besonderer Berücksichtigung der Ornamentik, in: Mittelalterliche Handschriften der Kölner Dombibliothek. Achtes Symposion der Diözesan- und Dombibliothek Köln zu den Dom-Manuskripten 2018, hg. v. Harald Horst (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen K ­ irchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 73), Köln 2019, S. 153 – 205.

Geschichte eines Forschungsprojektes | 11

2012 als nicht konsensfähig erwiesen hatte, verlagerte sich der Blickwinkel auf die anderen Handschriften der ‚Malerischen Gruppe‘. Neben der Erfassung des Gießener Evangeliars als ein Beispiel dieser ersten Phase der Kölner Buchmalerei des 10./11. Jahrhunderts sollten alle ihre besonderen Seiten wie die Liber Generationis-Seite, deren Medaillons bisher undiskutierte Hinweise zur Datierung enthalten, oder die ungewöhnliche Kreuzigungsdarstellung genauso besprochen werden wie die Texte, die Rahmenornamentik und die anderen künstlerischen Ausstattungsteile. Zudem sollten die anderen Handschriften der ‚Malerischen Gruppe‘ vorgestellt und auch vor dem Hintergrund der neuen Überlegungen zur Datierung diskutiert werden. Neue Argumente für das Verhältnis der Handschriften zueinander erbrachte die Analyse der Capitularien in den Evangeliaren der Kölner Produktion mit überraschenden Zusammengehörigkeiten und starken Argumenten für eine Lokalisierung des Skriptorium nach St. Pantaleon. Eine historische Einbettung, die von den Medaillons der Liber Generationis-Seite ausgehend notwendig war, sollte auch auf den Wirkungskreis rund um Theophanu erweitert werden. Als Ergebnis der Untersuchungen hat sich unter anderem herausgestellt, dass der gesamte Kern der ‚Malerischen Gruppe‘ nicht über Jahrzehnte hinweg, wie dies noch Bloch / ­Schnitzler glaubten und auch Kuder vermutete, sondern innerhalb weniger Jahre z­ wischen der Mitte der 980er und den frühen 990er Jahren entstanden sind. Sie bilden somit eine enge Folge einer selbst in den heute eher zufällig noch erhaltenen Handschriften offenbar überreichen Produktion, die – wie zeitgleich auch die Egbert-Werkstatt in Trier – mit den frühen 990er Jahren ausgelaufen zu sein scheint, bevor sie eine Generation ­später im 11. Jahrhundert reaktiviert wurde. Auch wenn sicherlich etliche Handschriften verloren sind und ­dieses Zeitfenster präzisieren mögen, so ist die konzise Produktion im erhaltenen Bestand sehr bemerkenswert und auch vor dem Hintergrund der gleichzeitigen Reichenauer Produktion, die ebenfalls nach den 980er Jahren abgebrochen zu sein scheint, bevor sie um 1000 in neuem stilistischen Gewand wiedererstand, sehr bemerkenswert. Eine Erklärung für die vorläufige Unter­ brechung der Kölner Produktion mag die Krise Kölns nach dem Tod Ottos III. 1002 und die Kölner Parteinahme gegen den dann erfolgreichen König ­Heinrich II. (amt. 1002 – 1024) gewesen sein, die auch schon in anderen Bereichen festgestellt worden ist. Als Erklärung für die fehlenden Handschriften der 990er Jahre ist sie allerdings kein Argument, hier wird die Forschung also noch weiter aktiv sein müssen. Mit d ­ iesem Tagungsband und einer 2024 erscheinenden Monografie zum Evangeliar im Historischen Archiv der Stadt Köln (Best. 7010, Nr. 312)22 endet das Kieler Forschungsprojekt zur Kölner Buchmalerei nach zwölf Jahren und acht Buchpublikationen sowie etlichen Aufsätzen. Es wurde flankiert durch Seitenprojekte wie der Herausgabe der bisher unpublizierten Habilitationsschrift von Ulrich Kuder als bislang ausführlichster Untersuchung 22 Klaus Gereon Beuckers / Ursula Prinz: Das Kölner Kaiserinnen-Evangeliar. Ein ottonisches Prachtevangeliar im Historischen Archiv der Stadt Köln (Best, 7010, Cod. 312), Darmstadt 2024.

12 | Klaus Gereon Beuckers

zur ottonischen Buchmalerei,23 durch einen Sammelband zu Epistolar-Illustrationen 24 und etliche Aufsätze zu Th ­ emen der ottonischen Buchmalerei auch außerhalb Kölns.25 Die Veröffentlichung der Dissertation zum sogenannten Gregormeister und der Trierer Buchmalerei von Ursula Prinz steht bevor, wie auch noch einige kleinere Beiträge folgen werden. Die Neuchronologisierung der Kölner Malerei und ihre damit verbundene andere Einbettung in die Geschichte der ottonischen Buchmalerei ist ein Ergebnis, dessen Konsequenzen die zukünftige Forschung wird ausarbeiten müssen. Mit der Blickergänzung, die nicht nur den Anlagebestand der Codices betrachtet, sondern sich mit gleicher Sorgfalt auch den späteren Ergänzungen, Veränderungen und Verschiebungen widmet, werden die Handschriften in ihrem Charakter als Objekte mit eigener Geschichte ernstgenommen, die auch Subjekte von Geschichte und kommunikativem Austausch sind, deren Gestaltungen und Programme Aussagen über die Sicht auf ­solche Handschriften jenseits einer liturgischen Verwendung treffen. Damit werden die Kunstwerke Gegenstand einer Kunstgeschichte, die sich nicht verengt als Bildwissenschaft versteht, sondern als Objektwissenschaft, die sich den historischen Kontexten sowohl der Entstehung als auch der weiteren Existenz und der Rezeption zuwendet. Für diese letzte Tagung des Gesamtprojektes konnten wir auf Unterstützung in Gießen bauen. Sigrid Ruby, die wir im Dezember 2020 um eine Zusammenarbeit angefragt hatten, brachte ihren neu berufenen Kollegen Markus Späth ins Spiel, mit dem wir aus unseren 23 Ulrich Kuder: Studien zur ottonischen Buchmalerei [Habilitationsschrift Ludwig-Maximilian-Universität München 1989], hg. und eingeleitet von Klaus Gereon Beuckers (Kieler Kunsthistorische Schriften, N. F. Bd. 17), 2 Bde., Kiel 2018. 24 Illustrierte Epistolare des frühen und hohen Mittelalters, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Vivien Bienert und Ursula Prinz, Regensburg 2021. 25 Klaus Gereon Beuckers: Bildnisse des 10. und 11. Jahrhunderts als rhetorische Konstruktion memorialer Funktion. Bemerkungen zum Widmungsbild des Svanhild-Evangeliars und den Essener Stifteremails, in: Netzwerke der Memoria [Festschrift für Thomas Schilp], hg. v. Jens Lieven, Michael Schlagheck und Barbara Welzel, Essen 2013, S. 85 – 106. – Klaus Gereon Beuckers: Zur Mainzer Buchmalerei unter Erzbischof Willigis (amt. 975 – 1011), in: In Gold geschrieben. Zeugnisse frühmittelalterlicher Schriftkultur in Mainz, Ausst. Kat. Dom- und Diözesanmuseum Mainz, hg. v. Winfried Wilhelmy und Timo Licht (Publikationen des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums Mainz, Bd. 9), Regensburg 2017, S. 164 – 219. – Klaus Gereon Beuckers: Der verfügte Adressat. Manifestation und Autorenschaft in Herrscherbildern ottonischer und frühsalischer Buchmalerei, in: Mäzenaten im Mittelalter aus europäischer Perspektive. Von historischen Akteuren zu literarischen Textkonzepten, hg. v. Bernd Bastert, Andreas Bihrer und Timo Reuvekamp-Felber (Encomia Deutsch, Bd. 4), Göttingen 2017, S. 239 – 266. – Klaus Gereon Beuckers: Zur Verwendung von Evangeliaren des Früh- und Hochmittelalters anhand von Beispielen aus Essen und anderen Frauenstiften, in: Fragen, Perspektiven und Aspekte der Erforschung mittelalterlicher Frauenstifte, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 15), Essen 2018, S. 67 – 110. – Vivien Bienert / Ursula Prinz: Das Stötterlingenburger Evangeliar in Jena und seine Entstehung um 1000 in Quedlinburg, in: St. Servatius zu Quedlinburg. Studien zum gotischen Chorbau, zum Münzenbergportal und zum Stötterlingenburger Evangeliar, hg. v. Klaus Gereon Beuckers (Kieler Quedlinburg-Forschungen, Bd. 3), Kiel 2018, S. 56 – 73.

Geschichte eines Forschungsprojektes | 13

Projekttexten einen DFG-Antrag als Kooperation ­zwischen Gießen und Kiel auf den Weg brachten, durch den wir die internationale Zusammensetzung der Tagung finanzieren konnten. Leider ließen die DFG-Regularien eine Mitantragstellung durch Ursula Prinz, obwohl sie erheblichen Anteil an der Konzeption und der Abfassung der Texte hatte, nicht zu. Olaf Schneider von der Universitätsbibliothek unterstützte uns und alle Autoren bei ihren Recherchen an der Handschrift selbst und steuerte einen gewichtigen Forschungs­ beitrag für den Band bei. Wir danken der UB Gießen für die gute Kooperation, die digitalen Bildvorlagen zu der Handschrift und die Erlaubnis, diese im Rahmen des Gesamtprojektes abbilden zu dürfen, sowie für einen Zuschuss zu den Druckkosten. Ebenfalls danken wir der Christian-Albrechts-Universität Kiel, dem Bistum Limburg und weiteren Förderern für Mittel zur Drucklegung des Bandes. Die organisatorische Durchführung der Tagung vom 8. bis 10. September 2022 in Gießen lag in den Händen von Markus Späth, der auch einen Teil der Druckkosten einwarb. Dafür sei ihm und seinem Mitarbeiter Matthias Schulz herzlich gedankt. Die Tagung wurde vor allem aus Mitteln der Deutschen Forschungsgesellschaft gefördert. Weitere Unterstützung stellen die Gießener Hochschulgesellschaft und das Kunsthistorische Institut der Christian Albrechts-Universität zu Kiel zur Verfügung. Die Redaktion in Kiel wurde von den beiden Herausgebern unter tatkräftiger Mitarbeit der Autoren geschultert. Unterstützung fanden wir in Kiel bei unserem Institutsreferenten Marc Asmuß, der die Bildredaktion begleitete, und bei Nadine Waschull, die eine letzte Korrekturlektüre durchführte. Danken möchten wir ihnen allen, vor allem aber den Autorinnen und Autoren, die nicht nur zügig ihre Texte geliefert und für die Drucklegung überarbeitet haben, sondern auch untereinander in einem regen Austausch standen, Ergebnisse teilten und weitergaben, sich mit anderen Thesen beschäftigten und so durchgängig lesenswerte Beiträge teilweise mit erheblichem neuem Forschungsgehalt vorgelegt haben – und dies gilt nicht nur für die 17 Beiträge in ­diesem Band, sondern für die insgesamt 63 Autorinnen und Autoren, die im gesamten Projekt insgesamt allein in den Tagungs- und Sammelbänden 83 Beiträge geschrieben haben. Wir danken allen, die uns in den letzten Jahren auf dem Weg durch ­dieses Großprojekt und seine vielen Teilbereiche begleitet und durch ihre Texte, Gespräche und Ratschläge ganz wesentlich zu seinem Erfolg beigetragen haben. Besonders verbunden fühlen wir uns denen, die seinen Abschluss nicht mehr erleben durften, wie meinem Freund Thomas Labusiak (1970 – 2017), der beim Hitda-Band noch aktiv dabei war, oder meinem verehrten Lehrer Rudolf Schieffer (1947 – 2018), der das Paket mit seinen Belegexemplaren des Tyniec-Bandes nicht mehr entgegennehmen konnte. Es ist ein großer Verlust, dass wir die Ergebnisse nicht mehr mit ihnen und auch nicht mit Anton von Euw teilen und diskutieren können, aber wir sind sicher, dass das Gesamtprojekt und seine Ergebnisse ihr Interesse, vielleicht sogar ihre Zustimmung gefunden hätten. In dankbarer Verneigung widmen wir ihnen diesen Band. 

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Klaus Gereon Beuckers

Olaf Schneider

Von Köln nach Gießen Wie ein ottonisches Evangeliar nach Mittelhessen gelangte

Johannes Fried zum 80. Geburtstag

Das in Gießen so genannte ‚Kölner Evangeliar‘ aus der Zeit vor dem Jahr 1000 ist sicher eine der bedeutendsten und vielleicht auch bekanntesten Handschriften, die in der Universitätsbibliothek Gießen aufbewahrt werden. In den zurückliegenden Jahren wurde sie immer wieder für Ausstellungsvorhaben angefragt und als Leihgabe zur Verfügung gestellt. Zuletzt war sie 2012 im Kulturhistorischen Museum Magdeburg anlässlich von Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike bis zum Mittelalter zu sehen. Dabei handelte es sich um die Landesausstellung Sachsen-Anhalt aus Anlass des 1.100. Geburtstages Ottos des Großen.1 Im Jahr 2006 wurde sie dort schon einmal gezeigt im Rahmen der Doppelausstellung Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806, der 29. Ausstellung des Europarates in Magdeburg und Berlin und Landesausstellung Sachsen-Anhalt. Sie war Bestandteil des ersten Ausstellungsteils in Magdeburg Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters.2 Die vorausgehende 27. Europaratsausstellung Europas Mitte um 1000 war als Wanderausstellung konzipiert und wurde von August 2000 bis September 2002 nacheinander im Nationalmuseum Budapest, im Nationalmuseum Krakau, im Berliner Martin-Gropius-Bau, in der Reitschule der Prager Burg sowie im Nationalmuseum 1

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An dieser Stelle gilt mein Dank dem Direktor der Universitätsbibliothek Gießen, Dr. Peter Reuter, für die Möglichkeit zur intensiven Recherche, Erarbeitung und Abfassung ­dieses Beitrages. Mein Dank gilt ferner Dr. Bernd Bader, dem früheren Leiter der Gießener Handschriftenabteilung, für eine kritische Korrektur des Textes sowie meinem Kollegen Lutz Trautmann M. A. vom Gießener Universitätsarchiv für eine weitere Durchsicht. Endlich sei Maureen Bössow M. A. für eine letzte Prüfung gedankt. UB Gießen, Hs 660: Evangeliar – Capitulare evangeliorum de circulo anni, 250 Blätter, Pergament, 26,5 × 21 cm, Köln ca. 985/6, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-67353 [11. November 2022]. – Vgl. Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike zum Mittelalter, Ausst. Kat. Kulturhistorisches Museum Magdeburg, hg. v. Matthias Puhle und Gabriele Köster, Regensburg 2012, Kat. Nr. V.60, S. 662 – 664 (Thomas Labusiak). Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters, Ausst. Kat. Kulturhistorisches Museum Magdeburg, hg. v. Matthias Puhle und Claus-Peter Hasse, 2 Bde., Dresden 2006, Bd. 1, Kat. Nr. II.30, S. 82 f. (Irmgard Siede).

Von Köln nach Gießen | 15

Bratislava präsentiert. Hier war die Gießener Handschrift während der Berliner Ausstellungsetappe vom 13. Mai bis zum 19. August 2001 zu sehen.3 1991 wurde sie im Kölner Schnütgen-Museum anlässlich des 1.000. Todestages von Kaiserin Theophanu am 15. Juni 991 gezeigt,4 nachdem sie in Gießen im Rahmen des 375jährigen Universitätsjubiläums 1982 einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert worden war.5 Die Katalogbeiträge zu den genannten Ausstellungen sind alle eher kurz und ­deskriptiv. Bis heute liegt keine ausführliche wissenschaftliche Beschreibung der Handschrift vor, wenn sie auch in der Fachliteratur immer wieder behandelt worden ist.6 Besonders intensiv wurde sie einmal in Gießen von Hermann Otto Vaubel im Rahmen seiner 1924 vorgelegten und 1926 erschienenen Dissertation mit einer Einordnung in den Kölner und ottonischen Kontext, die auf der Dissertation von Heinrich Ehl basierte, besprochen.7 3

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Europas Mitte um 1000, Ausst. Kat. Reiss-Engelhorn-Museum Mannheim u. a., hg. v. Alfried ­Wieczorek und Hans-Martin Hinz, 3 Bde., Stuttgart 2000, Katalog, Kat. Nr. 02.04.03, S. 57 f. (Kerstin ­Schulmeyer). – Ausführlicher zur Handschrift: Wolfgang Christian Schneider: Imperator Augustus und Christomimetes. Das Selbstbildnis Otto III. in der Buchmalerei, in: Kat. Mannheim 2000 (wie oben), Bd. 2, S. 798 – 808. Vor dem Jahr 1000. Abendländische Buchkunst zur Zeit der Kaiserin Theophanu, Ausst. Kat. Schnütgen-­ Museum Köln, hg. v. Anton von Euw, Köln 1991, Kat. Nr. 3, S. 34 – 36 (Anton von Euw). 375 Jahre Universität Gießen. 1607 – 1982. Geschichte und Gegenwart, Ausst. Kat. Oberhessisches Museum / Gail’sche Sammlungen Gießen, Gießen 1982, Kat. Nr. 492, S. 302 (Bernd Bader). Vgl. insbesondere Peter Bloch  /  Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, 2 Bde., Düssel­dorf 1967/70, Bd. 1, S. 54 – 59 u. 171 – 199; Bd. 2, S. 27, danach passim. – Wolfgang ­Christian Schneider: Die Generatio Imperatoris in der Generatio Christi. Ein Motiv der Herrschaftstheologie Ottos III. in Trierer, Kölner und Echternacher Handschriften, in: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 226 – 258. – Rainer Kahsnitz: Ein Bildnis der Theophanu? Zur Tradition der Münz- und Medaillon-Bildnisse in der karolingischen und ottonischen Buchmalerei, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrhunderts. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin, hg. v. Anton von Euw und Peter Schreiner, 2 Bde., Köln 1991, Bd. 2, S. 101 – 134. – Ludger Körntgen: Königsherrschaft und Gottes Gnade. Zu Kontext und Funktion sakraler Vorstellungen in Historiographie und Bildzeugnissen der ottonischfrühsalischen Zeit (Orbis mediaevalis, Bd. 2), Berlin 2001, S. 266 – 273. – Christoph Winterer: Das Evangeliar der Äbtissin Hitda. Eine ottonische Prachthandschrift aus Köln. Miniaturen, Bilder und Zierseiten aus der Handschrift 1640 der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Darmstadt 2010, S. 27 – 29. – Matthias Exner: Typus, Kopie und Nachleben. Zur Wirkungsgeschichte des Krönungsevangeliars, in: Das Krönungsevangeliar des Heiligen Römischen Reiches. Wien, Kunsthistorisches Museum, Weltliche Schatzkammer, Inv.-Nr.  XIII 18. Kommentarband zur Faksimile-Ausgabe, hg. v. Franz Kirchweger, Gütersloh 2013 (ND 2014), S. 87 – 120. Vgl. Hermann Otto Vaubel: Die Miniaturhandschriften der Gießener Universitätsbibliothek und der Gräfl. Solmsischen Bibliothek zu Laubach, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins 27 (1926), S. 4 – 94, mit 12 Tafeln, hier S. 5 – 16, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-opus-46923 [11. November 2022]. – Heinrich Ehl: Die ottonische Kölner Buchmalerei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der frühmittelalterlichen Kunst in Westdeutschland (Forschungen zur Kunstgeschichte Westeuropas, Bd. 4), Bonn 1922, insb. S. 105 – 108.

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Ab 1942 war die Handschrift nach Schloss Braunfels ­zwischen Wetzlar und Weilburg ausgelagert und überstand deshalb den Zweiten Weltkrieg sowie den Brand der Alten Gießener Universitätsbibliothek am 11. Dezember 1944 unbeschädigt.8 Um die Handschrift konservatorisch zu s­ chützen und sie zugleich für die aktuelle Forschung in einfacher Form verfügbar zu machen, wurde sie im Jahr 2015 digitalisiert und Open Access in den Digitalen Gießener Sammlungen (DIGISAM) eingestellt.9 Die Literatur zur Handschrift ist im lokalen Bibliothekskatalog nachgewiesen.10 In der Vergangenheit ist immer eine Frage offengeblieben: Wie und wann gelangte diese Handschrift in die Universitätsbibliothek, die im Jahr 1612 kurz nach der Gründung der Universität im Jahr 1607 eingerichtet wurde?11 Bis heute gibt es darauf keine befriedigende Antwort. In einer der letzten Publikationen, in denen das Evangeliar erwähnt wird, hat 2013 Matthias Exner die Provenienz ohne Nachweis der Bibliothek des Freiherrn von Senckenberg zugewiesen.12 Diese Angabe geht wohl auf Thomas Labusiak zurück, der im 8 Vgl. UB Gießen, Hs NF 232 – 2: Verzeichnis der Handschriften der UB Gießen 1944. Erarbeitet in Zusammenhang mit der damaligen kriegsbedingten Auslagerung der Handschriften, Zettelkatalog, 8 × 7,5 cm, geordnet nach Hss-Nummern, jeweils mit Angabe der Transport-Kiste und des Auslagerungsortes, 3 Bde., Gießen [1942]–1944, Bd. 2: Hs 451 – 851, Papier, 30 × 21 cm, https://nbn-resolving. de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-187739 [11. November 2022]. Die Handschrift 660 befand sich als eines der wichtigsten Stücke der Bibliothek in Kiste Nr. 1. – Zur Zerstörung der Alten Universitätsbibliothek 1944 vgl. Bernhard Friedmann / Thorsten Dette: Die Bibliothek im Zeitalter von Weltkriegen und Diktatur, in: Geschichte der Universitätsbibliothek Gießen (Studia Gissensia, Bd. 2), Gießen 1991, S. 51 – 89, hier S. 78 – 82. – Der Altbau der Bibliothek befand sich in der Keplerstraße 2 (heute: Bismarckstraße 37). 9 Vgl. die URN des Digitalisats oben in Anm. 1. – Zur Digitalisierung vgl. Olaf Schneider: Wertvollste Handschrift online. Glanzstück des Mittelalters und größter Schatz der Universitätsbibliothek. Evangeliar ­Kaiser Ottos III. wurde digitalisiert, in: uniforum 28 (2015) Nr. 5, S. 14, https://nbn-resolving. de/urn:nbn:de:hebis:26-opus-118282 [11. November 2022]. 10 Vgl. https://opac.uni-giessen.de/DB=1/LNG=DU/SID=36e8320b-0/CMD?ACT=SRCHA&IKT=8530&​ SRT=YOP &TRM=Hs+660 [11. November 2022]. 11 Zur Gründung und der frühen Geschichte der Gießener Universitätsbibliothek vgl. Emil Heuser: Beiträge zur Geschichte der Universitätsbibliothek Giessen (Beihefte zum Centralblatt für Bibliothekswesen, Bd. 6), Leipzig 1891, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-opus-74320 [11. November 2022]. – Josef Schawe: Die früheren Unterkünfte der Universitätsbibliothek Gießen, in: Universitätsbibliothek Gießen. Festgabe zur Weihe des neuen Hauses am 1. Juli 1959, hg. v. Josef Schawe, Gießen 1959, S. 15 – 25, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-opus-38139 [11. November 2022]. – EvaMarie Felschow: Die Gießener Universitätsbibliothek im 17. und 18. Jahrhundert. Raritätenkammer und erste Neuorientierung, in: Geschichte der Universitätsbibliothek Gießen 1991 (wie Anm. 8), S. 5 – 26. – Irmgard Hort: Vom ‚Untermieter‘ im 17. Jahrhundert zum eigenen Haus in der JugendstilÄra, in: Aus mageren und aus ertragreichen Jahren. Streifzug durch die Universitätsbibliothek Gießen und ihre Bestände, hg. v. Irmgard Hort und Peter Reuter (Berichte und Arbeiten aus der Universitäts­ bibliothek und dem Universitätsarchiv Gießen, Bd. 58), Gießen 2007, S. 284 – 305, https://nbn-resolving. de/urn:nbn:de:hebis:26-opus-73834 [11. November 2022]. 12 Exner 2013 (wie Anm. 6), S. 102.

Von Köln nach Gießen | 17

Magdeburger Katalog angemerkt hatte: „Über die mittelalterliche Provenienz des Gießener Evangeliars ist nichts bekannt. Nach Gießen könnte die Handschrift mit der Sammlung R ­ enatus Karl Freiherr von Senckenbergs gelangt sein.“ 13 Doch dies trifft nicht zu. Als der Gießener Professor für Recht Renatus Karl von Sencken­ berg (1751 – 1800) starb, vermachte er seine Bibliothek – und damit auch die darin enthaltene Bibliothek seines Vaters Heinrich Christian von Senckenberg (1704 – 1768) – testamentarisch der Universitätsbibliothek Gießen. Es war einer der größten Bestandszugänge. Heinrich Christian von Senckenberg war ebenfalls Professor für Recht in Gießen und s­ päter in Göttingen gewesen, bis er als Reichshofrat nach Wien ging. In dieser Schenkungsbibliothek befanden sich 900 Handschriften, neben neuzeitlichen auch zahlreiche deutschsprachige aus dem Mittelalter, und rund 16.000 gedruckte Bände. Die Schenkung war zunächst separat und zusammenhängend in einem eigenen Gebäude aufgestellt.14 Von 1837 bis 1840 wurde die Senckenbergische Bibliothek dann vom Gießener Bibliothekar und Philologieprofessor Johann Valentin Adrian (1793 – 1864) mit der davon getrennten Universitätsbibliothek sowie weiteren separaten Bibliotheken in einem Aufstellungs- und Ordnungssystem zusammengeführt.15 Für die Handschriften legte Adrian im Jahr 1840 den ersten gedruckten Gesamtkatalog vor. Adrian brachte damals alle Gießener Handschriften – ­seien sie nun mittelalterlich oder neuzeitlich – in eine Ordnung nach Themengruppen (wie Historia Litteraria, Codices Medici etc.) und nummerierte die Bände dann fortlaufend mit 1.268 Handschriftenummern durch, die zugleich und bis heute als Signaturen fungieren. So gelangte das Kölner Evangeliar in die Gruppe der Codices scripturae sacrae, der heiligen Schriften (Hss 652 – 667), und hier im Wesentlichen unter die Stücke des Neuen Testamentes (Hss 659 – 667).16

13 Kat. Magdeburg 2012 (wie Anm. 1), S. 664 (Thomas Labusiak). 14 Zur Senckenbergischen Schenkung vgl. Heuser 1891 (wie Anm. 11), S. 36, 38 – 39, 41 – 43 u. 45 – 53. – Sabine Wefers: Der Wandel der Gießener Universitätsbibliothek zu einer modernen Gebrauchsbibliothek im 19. Jahrhundert, in: Geschichte der Universitätsbibliothek Gießen 1991 (wie Anm. 8), S. 27 – 45, hier S. 29 – 30. – Bernhard Friedmann: Sponsoren, Mäzene, Stifter in der Geschichte der Universitätsbibliothek, in: Hort / Reuter 2007 (wie Anm. 11), S. 258 – 283, hier S. 267 – 269, https://nbn-resolving. de/urn:nbn:de:hebis:26-opus-73829 [11. November 2022]. 15 Zu Adrian vgl. Heuser 1891 (wie Anm. 11), S. 41 – 57. – Herman Haupt / Georg Lehnert: Chronik der Universität Gießen 1607 – 1907, in: Die Universität Gießen von 1607 – 1907. Festschrift zur dritten Jahrhundertfeier, hg. v. der Universität Gießen, 2 Bde., Gießen 1907, Bd. 1, S. 367 – 474, hier S. 415, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-opus-29966 [11. November 2022]. – Erwin Schmidt: Gießener Bibliothekare, in: Schawe 1959 (wie Anm. 11), S. 26 – 50, hier S. 39 – 41. – Wefers 1991 (wie Anm. 14), S. 30 u. 35 – 39. 16 Vgl. Johann Valentin Adrian: Catalogus codicum manuscriptorum bibliothecae academicae ­Gissensis, Frankfurt am Main 1840, S. 199 – 202, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-41169 [11. November 2022].

18 | Olaf Schneider

Abb. 1: Stempel der Senckenbergischen Bibliothek aus Hs 97, fol. 1r. Ein solcher findet sich im Gießener Evangeliar nicht.

Das Evangeliar erhielt die neue Signatur ‚Hs 660‘, den Titel Quatuor Evangelia ex versione latine vulgata und eine zweiseitige Beschreibung.17 Der Eintrag ist aus heutiger Sicht korrekturbedürftig, weil die Handschrift fälschlich dem 13. Jahrhundert zugewiesen wird, wenn auch ihre herausragende Bedeutung erkannt worden ist. Zur Provenienz bemerkt Adrian: „Nullum in hoc codice, cujus ligatura recentior est, vestigium invenire potui, unde ad nos pervenerit.“ (Ich habe an dieser Handschrift, deren Einband neuer ist, keine Spur finden können, woher sie zu uns gelangte.) Eines ist sicher: Aus dem Senckenbergischen Bestand kam sie nicht. Denn als Vorgängersignatur vor der Neuordnung gibt Adrian „B. G. (3) 31 fol. min.“ an, und damit eine ältere Signatur der Bibliotheca Gissensis, der Gießener Universitätsbibliothek. Stammte das Stück aus dem Senckenbergischen Bestand, hätte Adrian an dieser Stelle eine ‚B. S. Ms.‘-Signatur (Bibliotheca Senckenbergiana manuscriptum) genannt, wie er es an unzähligen Stellen im Katalog getan hat. Und auch in der Handschrift selbst würde sich der signifikante Stempel der Bibliotheca Senckenbergiana befinden, den nahezu alle Handschriften dieser Provenienz tragen (Abb. 1). Demnach war das Kölner Evangeliar im Jahr 1840 und bereits länger davor eindeutig Bestandteil der Gießener Universitätsbibliothek.

17 Vgl. Adrian 1840 (wie Anm. 16), S. 199 f.

Von Köln nach Gießen | 19

Im Folgenden soll deshalb die Spur des Kölner Evangeliars in Gießen anhand vorliegender Nachweisverzeichnisse und weiterer Quellen erstmals rückwärts verfolgt werden, um auf diese Weise zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Zunächst ist dabei zu klären, wann, wo und durch wen sich die Handschrift zum ersten Mal in Gießen nachweisen lässt (I.). Sodann wird zu untersuchen sein, wie die Handschrift nach Gießen kam (II.). Endlich gilt es noch, Hinweise dafür zu finden, wann und warum sie ihren ja bekannten Herkunftsort Köln verlassen haben könnte (III.).

I. Zu beginnen ist mit den Nachweisen in Gießen und damit zunächst im Evangeliar selbst. Bietet die Handschrift doch Hinweise zur Provenienzfrage? Bei näherem Blick gibt es ­solche: 1. Das Evangeliar ist neu eingebunden in einen Ledereinband mit Pappdeckeln aus dem früheren 18. Jahrhundert.18 Vielleicht wurde dieser verwendet, weil auf den letzten Seiten ein Wasserschaden zu erkennen ist,19 der den alten Einband in Mitleidenschaft gezogen haben könnte. Ob das Evangeliar einmal über einen zeitgenössischen Prunkeinband für den liturgischen Gebrauch verfügte, muss hier offenbleiben.20 2. Die Handschrift ist nicht mehr ganz vollständig. Im vorderen Bereich fehlt in der Kanonfolge z­ wischen fol. 3 und 4 ein Doppelblatt mit vier Tafeln, das herausgelöst worden sein dürfte.21 3. Einige Textstellen in der Handschrift sind abgerieben und teils mit neuer Tinte in späterer Schrift überschrieben worden. Es scheint dafür zu sprechen, dass die Handschrift noch länger benutzt wurde.22 18 Zum Ledereinband des 18. Jahrhunderts vgl. Kat. Köln 1991 (wie Anm. 4), Kat. Nr. 3, S. 34 (Anton von Euw). 19 Fol. 242 – 250, teils auch schon ab fol. 234. Am neuen Einband des 18. Jahrhunderts ist kein Wasserschaden festzustellen. 20 Zu solchen Einbänden vgl. etwa München, Bayerischen Staatsbibliothek, Clm 4453: Evangeliar Ottos III., Reichenau ca. 1000, http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00096593-3 [11. November 2022]. 21 Vgl. Kat. Magdeburg 2012 (wie Anm. 1), Kat. Nr. V.60, S. 662 (Thomas Labusiak). – Kat. Köln 1991 (wie Anm. 4), Kat. Nr. 3, S. 34 (Anton von Euw). – Vgl. hierzu und zur Frage fehlender Vorreden auch den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in ­diesem Band. 22 Abrieb auf fol. 15r unten, fol. 15v unten, fol. 35r unten, fol. 36v unten, fol. 47r unten mit Textverlust in der letzten Zeile und rechts daneben dem Nachtrag des ausgefallenen Textes, fol. 57r oben mit größerem Textverlust und größeren Nachträgen, fol. 81r unten, fol. 83r Mitte, fol. 92r Mitte, fol. 97r unten, fol. 112r mit späterer Ergänzung, fol. 114r unten mit späterem Nachtrag, fol. 121r unten, fol. 121v unten, fol. 129r unten mit späterer Ergänzung, fol. 129v unten mit Ergänzung, fol. 141r unten mit späterer Ergänzung, fol. 142r unten, fol. 147r oben, fol. 148r unten mit späterer Ergänzung, fol. 153v unten, fol. 166v unten, fol. 137r verteilt über die Seite, fol. 240r unten, fol. 241r verteilt über die Seite, fol. 246r verteilt über die Seite.

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All dies deutet auf Veränderungen am Objekt spätesten im 18. Jahrhundert hin, vielleicht schon früher. Der Einband des 18. Jahrhunderts spricht für einen Zugang in die Gießener Bibliothek oder einen Besitzerwechsel in dieser Zeit. Die weiteren Beobachtungen deuten auf einen recht pragmatischen Umgang mit dem Objekt. Als nächstes soll die Suche in den zeitgenössischen älteren handschriftlichen Gießener Bibliothekskatalogen aufgenommen werden. Der Alphabetische Katalog der Universitätsbibliothek Gießen in drei Bänden aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beruht auf vorausgehenden Vorarbeiten des Gießener Bibliothekars Christoph Friedrich Ayrmann (1695 – 1747), der gleich noch genauer zu behandeln ist. Dieser Katalog wurde von zwei weiteren Gießener Bibliothekaren erstellt. Zunächst bearbeitete ihn der Logik- und Mathematikprofessor Andreas Böhm (1720 – 1790, seit 1757 Bibliothekar) bis 1771.23 Später führte ihn der Professor für Beredsamkeit und Poesie Christian Heinrich Schmid fort (1746 – 1800, seit 1787 zweiter Bibliothekar, seit 1790 Nachfolger Böhms als Bibliothekar).24 Im ersten Band findet sich folgender Eintrag. Er ist recht versteckt aufgeführt unter den Evangelia auf fol. 273v: „IV . evangelior. ex versione lat. vulg. codex membranaceus Mstus. fol. min. B. M. (II .) 2.** “ (Abb. 2). Es ist das Kölner Evangeliar und die einzige in dieser Gruppe der Evangelien aufgeführte Handschrift unter vielen Drucken.25 Böhm war es gelungen, diesen ersten und gleich dreibändigen gemeinsamen alphabetischen Katalog der Universitätsbibliothek anzufertigen. Dieser beinhaltet neben der Universitätsbibliothek zudem die genauso umfangreichen Bände der Bibliothek Johann ­Heinrich Mays des Jüngeren (1688 – 1732) (Abb. 3). Im Katalog sind ferner weitere Neuzugänge 23 UB Gießen, Hs 28ab: Andreas Böhm / Christian Heinrich Schmid / Johann Ernst Christian Schmidt: Index Alphabeticus Universalis in Libros Bibliothecarum Academiae Giessensis compositus scriptusque ab Andrea Boehmio. Finit A. 1771. Cal. Februar. Continuatus (Zusatz von J. E. C. Schmidt: „et pessime inquinatus“  ) a Chr. Henrico Schmidio [Alphabetischer Katalog der Universitätsbibliothek Gießen in 3 Bänden], Gießen zweite Hälfte 18. Jh., Bd. 1: https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26digisam-148522, Bd. 2: https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-148539, Bd. 3: https:// nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-148547 [11. November 2022]. – Zu Böhm vgl. Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte. Seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten, 21 Bde., Bd. 16 hg. v. Ludwig Wachler, Bd. 17 – 19 hg. v. Karl Wilhelm Justi, Bd. 20 – 21 hg. v. Otto Gerland, Kassel u. Marburg (Bd. 16 – 18) 1781 – 1868, hier Bd. 1, 1781, S. 479 – 488, https://hds.hebis.de/ubgi/Record/HEB22933976X [11. November 2022]. – Heuser 1891 (wie Anm. 11), S. 28 – 32. – Haupt / Lehnert 1907 (wie Anm. 15), S. 419. – Schmidt 1959 (wie Anm. 15), S. 34 f. – Zum Abschluss des Kataloges im Jahr 1771 vgl. Andreas Böhm: Kurze Geschichte der Universitätsbibliothek zu Giessen (Nach einem handschriftlichen lateinischen Aufsatz des seeligen Geheimrats Böhm), in: Journal von und für Deutschland 8 (1791), S. 968 – 974, hier S. 970. 24 Zu Schmid vgl. Strieder 1802 (wie Anm. 23), Bd. 13, S. 61. – Heuser 1891 (wie Anm. 11), S. 32 – 36. – Haupt / Lehnert 1907 (wie Anm. 15), S. 454. – Schmidt 1959 (wie Anm. 15), S. 35 – 37. 25 UB Gießen, Hs 28ab, fol. 273v, https://digisam.ub.uni-giessen.de/ubg-ihd-hn/content/pageview/4020632 [11. November 2022].

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Abb. 2: Eintrag des Evangeliars im ersten Band des alphabetischen Kataloges aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Hs 28ab-1, fol. 273v).

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Abb. 3: Johann Heinrich May d. J. (1688 – 1732), Gemälde aus der Gießener Professorengalerie (Bildarchiv von Universitätsbibliothek und Universitätsarchiv Gießen, HR A66a).

enthalten. May hatte schon im Jahr 1732 seine große und bedeutende Privatbibliothek mit rund 3.000 Bänden, 13 Inkunabeln, etwa vierzig Handschriften sowie Münzen an die Universität Gießen mit der Auflage geschenkt, dass diese vollständig und separat aufgestellt werde und einen eigenen Bibliothekar erhielte.26 May, der mit zwölf Jahren an der Gießener Universität sein Studium begann und mit 19 abschloss, übernahm im Jahr 1709 die Professur für Griechisch und Orientalistik von seinem Vater Johann Heinrich May dem Älteren (1653 – 1719). Später wurde er Professor für Antiquitäten und Pädagogiarch. Eine besondere Freundschaft verband ihn mit dem bedeutenden Frankfurter Büchersammler Zacharias Konrad von Uffenbach (1683 – 1734), mit dem 26 Zu May und seiner Bibliothek vgl. Strieder 1788 (wie Anm. 23), Bd. 8, S. 350 – 359. – Heuser 1891 (wie Anm. 11), S. 19, 22 – 28 u. 30. – Haupt / Lehnert 1907 (wie Anm. 15), S. 443. – Erwin Schmidt: Johann Heinrich May der Jüngere und die Gießener Münzsammlung (Berichte und Arbeiten aus der Universitätsbibliothek Gießen, Bd. 6), Gießen 1964, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26opus-36065 [11. November 2022]. – Friedmann 2007 (wie Anm. 14), S. 265 f. – Bernd Bader: Mäzene, Künstler, Büchersammler. Exlibris der Universitätsbibliothek Gießen (Berichte und Arbeiten aus der Universitätsbibliothek und dem Universitätsarchiv Gießen, Bd. 57), Gießen 2007, S. 26 – 31, https:// nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-opus-46918 [11. November 2022]. – Dazu, dass es zuvor noch keinen alphabetischen Katalog gab, vgl. Heuser 1891 (wie Anm. 11), S. 19.

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er seit 1713 auch eine intensive Korrespondenz von 669 Briefen besonders zu Büchern und Handschriften führte.27 Für Uffenbach erschloss er vor allem die zahlreichen orientalischen, griechischen und hebräischen Handschriften aus dessen Bibliothek für einen geplanten Handschriftenkatalog. Die Stücke wurden dazu von Frankfurt nach Gießen gebracht. Auch tauschte May mit Uffenbach Handschriften und erhielt offensichtlich einige geschenkt.28 27 Vgl. Konrad Franke: Zacharias Conrad von Uffenbach als Handschriftensammler. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe 51 (1965), S. 1235 – 1338. Ferner in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 7 (1967), Sp. 1 – 207, hier S. 1246 f. bzw. Sp. 24 f. – Uffenbach suchte May wohl bewusst für sich zu interessieren, weil er ihn für im Hebräischen erfahren hielt und Gießen nahe an Frankfurt liegt. – Vgl. Helmut Zedelmaier: Zacharias Konrad von Uffenbach. Fünf Schlaglichter auf einen gelehrten Sammler, in: Zacharias Konrad von Uffenbach. Büchersammler und Polyhistor in der Gelehrtenkultur um 1700, hg. v. Markus ­Friedrich und Monika E. Müller (Wissenskulturen und ihre Praktiken / Cultures and Practices of Knowledge in History, Bd. 4), Berlin 2020, S. 11 – 68, hier S. 28, zur Briefzahl. 28 Zu May vgl. Anm. 26 u. 27. – Bader 2007 (wie Anm. 26), S. 19 f. u. 26 – 31. Begraben wurde der jüngere May auf dem Alten Friedhof in Gießen, wo sein Grabstein noch erhalten ist. – Zur Korrespondenz ­zwischen May und Uffenbach vgl. UB Gießen, Hs 153: Zachariae Conradi ab Uffenbach epistolae ad Io. H. Maium. A. 1713 – 1732. 138 Briefe von Zacharias Conrad von Uffenbach an Johann Heinrich May d. J., I, 310 Blätter, Papier, 23,5 × 19 cm, [Deutschland] 1713 – 1732, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:he​ bis:26-digisam-110850 [11. November 2022]. – UB Gießen, Hs 154: Zachariae Conradi ab Uffenbach epistolae autographae ad Jo. Henr. Maium. A. 1714 – 1723. 94 Briefe von Zacharias Conrad von Uffenbach an Johann Heinrich May d. J., I, 209 Blätter, Papier, 23,5 × 16,5 cm, [Deutschland] 1714 – 1723, https:// nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-110863 [11. November 2022]. – Vgl. dazu Bader 2007 (wie Anm. 26), S. 19, laut dem es sich um 233 Briefe von Uffenbach an May handelt. – Ausführlich verzeichnet sind die Briefe bei Hermann Schüling: Verzeichnis der Briefsammlungen Cod. 117 – 121, 123, 126, 139, 139c, 152o, 153, 154 in der Universitätsbibliothek Gießen. Nach Vorarbeiten von Heinz Kumpf, Hubert Zintl und Peter Schulz (Handschriftenkataloge der Universitätsbibliothek Gießen, Bd. 6), Gießen 1984, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-opus-30843 [11. November 2022]. – Ein zusätzlicher Teil der Überlieferung mit den Briefen von May an Uffenbach befindet sich in Frankfurt am Main, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Nachlass Zacharias Konrad von Uffenbach, Korrespondenz, 18 Bde., u. a. zunächst: Ms. Ff. Z. K. v. Uffenbach Bd. 1A u. 1B. Hier setzen die Briefe im Jahr 1713 ein. – Weitere Briefe Mays befinden sich in der Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) Hamburg. Die Briefe in Hamburg sind nicht an Uffenbach gerichtet, sondern an Johann Jakob Schudt und Johann Christoph Wolf. Vgl. dazu Nilüfer Krüger: Supellex epistolica Uffenbachii et Wolfiorum. Katalog der UffenbachWolfschen Briefsammlung (Katalog der Handschriften der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Bd. 8), 2 Bde., Hamburg 1978, hier Bd. 1, S. 632 – 633. – Zu bereits früh publizierten Briefen z­ wischen May und Uffenbach vgl. Zacharias Konrad von Uffenbach: Commercii Epistolaris Vffenbachiani Selecta, Bd. 1 – 5, hg. v. Johann Georg Schelhorn, Ulm / Memmingen 1753/56, http://mateo.uni-mannheim.de/ cera/autoren/uffenbach_cera.html [11. November 2022], Bd. 1, S. 137 – 186 u. 208 – 238 (von 1713 und 1714); Bd. 2, S. 328 – 408 (von 1714); Bd. 3, S. 41 – 58, 74 – 134 u. 146 – 150 (von 1714); Bd. 4, S. 221 – 269, 277 – 284 u. 290 – 299 (von 1714 – 1715); Bd. 5, S. 1 – 65, 83 – 111 u. 124 – 157 (von 1715). – Zu Uffenbach und May vgl. Bader 2007 (wie Anm. 26), S. 16 – 24. – Zum Handschriftentausch und den geschenkten Handschriften ­zwischen May und Uffenbach vgl. Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1275 u. 1322 bzw. Sp. 81 – 82 u. 176. – Bader 2007 (wie Anm. 26), S. 22. – Bei den drei getauschten Handschriften handelt es sich um: UB Gießen, Hs 63: Publius Vergilius Maro: Sammelhandschrift, 197 Blätter, Papier, 26,5 × 19 cm, Italien,

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Im Jahr 1720 erschien der erste und letztlich einzige Band des Handschriftenkataloges von Uffenbachs Bibliothek. May schenkte der Gießener Bibliothek ein Exemplar desselben am 6. Oktober 1720, das wohl am 11. Dezember 1944 beim Brand der Bibliothek zerstört wurde.29 Uffenbach wird deshalb gleich noch ausführlicher zu behandeln sein.30 Gemäß dem alphabetischen Katalog von Böhm und Schmid stammte die Gießener Handschrift 660 aus dieser Mayschen Bibliothek, wie die Signatur „fol. min. B. M. [Biblio­ thek May] (II) 2.** “ zeigt. Zur Mayschen Bibliothek gibt es einen weiteren, älteren Katalog aus der Zeit nach 1733 bis 1735 zur Gegenprobe. Angelegt wurde er vom eben erwähnten Gießener Professor für Philosophie und Geschichte Christoph Friedrich ­Ayrmann. ­Ayrmann wurde noch auf Mays persönlichen Wunsch hin 1732 Bibliothekar von dessen Sammlung und seit 1735 auch Universitätsbibliothekar.31 In Ayrmanns Katalog der philologischen 15. Jahrhundert, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-45213. – UB Gießen, Hs 668: Commentarius in psalmos, 669 Blätter, Papier, 27,5 × 15 cm, Madrid, Kloster El Escorial 1574, https://nbnresolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-148567 (ein altgriechischer Psalmenkommentar). – UB Gießen, Hs 669: Johannes Geometra – Apollinaris Laodicensis: Metaphrasis psalmorum – Iustinus Martyr, 213 Blätter, Papier, 19,5 × 14,5 cm, [Europa] 16. Jahrhundert, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26digisam-148579 (eine altgriechische Sammelhandschrift). – Hinzu kommen noch die Handschriften UB Gießen, Hs 58: Johann Heinrich Mayus d. J.: Constantini Porphyrogeniti Libri II. De Caerimoniis Aulae Byzantinae. Fragmenta, 119 Blätter, Papier, 22,5 × 18 cm, Gießen 18. Jahrhundert, https://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:hebis:26-digisam-104315 (die Abschrift einer Uffenbach-Handschrift). – UB Gießen, Hs 72: Epigrammata latina, I Blatt, 214 Seiten, Papier, 21,5 × 16 cm, Italien 16. Jahrhundert, https://nbn-resol​ ving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-148509 (lateinische Gedichte). – UB Gießen, Hs 892: Hebräisches Gebetbuch, die Gebete für das ganze Jahr enthaltend und weitere religiöse Texte, I, 233 Blätter, Pergament, 22 × 16 cm, [Europa] 14./15. Jahrhundert, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-111680 [alle 11. November 2022]. – Zu den griechischen Handschriften und Mays Rolle bei der Erschließung von Uffenbachs griechischen Handschriften vgl. auch Friederike Berger: Die griechischen Handschriften des Zacharias Konrad von Uffenbach, in: Friedrich / Müller 2020 (wie Anm. 27), S. 185 – 206, bes. S. 189 f. u. 196 f. – Zur Arbeit Mays an Uffenbachs Handschriftenkatalog vgl. ausführlich Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1282 – 1303 bzw. Sp. 95 – 138. 29 Vgl. Zacharias Konrad von Uffenbach / Johann Heinrich May d. J.: Bibliotheca Vffenbachiana Mssta, Sev Catalogvs Et Recensio Msstorvm Codicvm Qvi In Bibliotheca Zachariae Conradi Ab Vffenbach Traiecti Ad Moenum Adservantvr Et In Varias Classes Distingvvntvr, Qvarum Priores Io. Henricvs Maivs Fil. Prof. Ordinar. Giess. Recensvit Reliqvas Possessor Ipse Digessit Qvi Omnem Etiam Hanc Svpellectilem Literariam Svam Ad Vsvs Pvblicos Offert, Halle 1720 (VD18 10509895), http://nbn-resolving. de/urn:nbn:de:bsz:14-db-id3374836631. – Zur Schenkung vgl. UB Gießen, Hs 28d: Johann Reinhard Hedinger: Album universitatis Ludovicianae, cui principum, comitum, aliorumque vel civium vel hospitum nomina, quotquot vel pretio vel libris vel cimeliis bibliothecam ejus exornarunt auxeruntque … inscribuntur, 189 Blätter, Papier, 39,5 × 25 cm, Gießen 18. Jahrhundert, https://nbn-resolving. de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-101226. Der Eintrag fol. 71r: https://digisam.ub.uni-giessen.de/ubgihd-hn/content/pageview/1180453 [alle 11. November 2022]. – Zum Brand 1944 vgl. Anm. 8. 30 Zu Zacharias Konrad von Uffenbach vgl. bei Anm. 55 – 60, 68 u. 70 – 86. 31 Zu Ayrmann vgl. Strieder 1781 (wie Anm. 23), Bd. 1, S. 199 – 214. – Heuser 1891 (wie Anm. 11), S. 19 – 25. – Haupt / Lehnert 1907 (wie Anm. 15), S. 416. – Schmidt 1959 (wie Anm. 15), S. 32 f. – Bader 2007 (wie Anm. 26), S. 29 – 31.

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Bibliotheken Joh. Henr. Mai’s des Jüngeren aus dem Jahr 1733 befindet sich auf Seite 527 der Beginn von: „Scrin. (II .) MANVSCRIPTA CLASSIS PRIMAE “, also den Handschriften der ersten Klasse im Gestell II . im Großformat (folio).32 Dort sind nach der Nummer 4 zwei handschriftliche Nachträge in farblich abweichender Tinte eingefügt (Abb. 4): „2.* Epistolarum D. Pauli omnium, item Epistolae ad Hebraeos ex versione Lat. vulgata, Codex membranaceus elegantissimus, sec. [Lücke]. exaratus cum scholiis interlinearibus et marginalibus. Fol. min. // 2.** Evangeliorum Sanctorum IV . ex Versione Lat. vulg. Codex membranaceus elegantissime scriptus et pictus sec. [Lücke]. Fol. min. // Uterque Codex ex Bibl. acad. vet. huc translatus est.“ 33 Diese beiden nachgetragenen Handschriften wurden also – so heißt es zum Abschluss der Notiz – aus der alten akademischen Bibliothek vermutlich von Ayrmann selbst hierher umgestellt, was nichts anderes als die alte Universitätsbibliothek meint. Das dürfte im Rahmen von nachgewiesenen Umordnungen durch Ayrmann als Universitätsbibliothekar geschehen sein.34 Beim zweiten Band (2.**) handelt es sich – wie unschwer zu erkennen ist – um das Kölner Evangeliar. Da das Evangeliar keine Hinweise zur eigenen Provenienz enthält, scheint es sinnvoll, die Herkunft des zuerst nachgetragenen Bandes 2.* zu überprüfen: Er befindet sich noch heute in der Gießener Universitätsbibliothek und erhielt von Adrian 1840 die neue Signatur Hs 662. Bei ihm handelt es sich um eine Pergamenthandschrift aus dem 13. Jahrhundert mit einer Sammlung von Paulusbriefen.35 Zur Provenienz trägt die Handschrift folgenden Vermerk: „Est Academiae Marpurgensis“.36 Sie dürfte damit aus einem der Marburger Klöster stammen, die im Zuge der Reformation aufgelöst wurden und deren Bestände der 1526/27 neu gegründeten Marburger Universität und ihrer Bibliothek teilweise zufielen.37 Als die 1607 gegründete lutherische Universität Gießen 1624/25 in der Folge des Marburger 32 Vgl. UB Gießen, Hs 28ae: Christoph Friedrich Ayrmann: Catalogus Bibliothecae philologicae quondam Joannis Henrici Maii iunioris, Antiquitatum, Litteraturae Graecae et Orientalis Professoris publ. ord., d. XIII. Iunii, a. 1732 defuncti, hinc ex ultima eius voluntate Academiae Giessensi dedicatae, et a. 1733 Loco ex ordine convenienti dispositae, opera studioque Christoph. Frider. Ayrmanni, XIII Blätter, 750 Seiten, Papier, 34 × 20,5 cm, Gießen nach 1733, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26digisam-25240 [11. November 2022]. 33 UB Gießen, Hs 28ae (wie Anm. 32), S. 527: https://digisam.ub.uni-giessen.de/ubg-ihd-hn/content/ pageview/601836 [11. November 2022]. 34 Vgl. ausführlich Heuser 1891 (wie Anm. 11), S. 20 – 23. Vielleicht gehörte sie der dort genannten Bibliotheca obscura an, die auch Handschriften enthielt? 35 Vgl. Adrian 1840 (wie Anm. 16), S. 200 f. – UB Gießen, Hs 662: Versio latina vulgata Epistolarum omnium Pauli et Epistolae ad Hebraeos, 159 Blätter, Pergament, 27,5 × 17,5 cm, [Europa] 13. Jahrhundert, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-64421 [11. November 2022]. 36 Vgl. Adrian 1840 (wie Anm. 16), S. 201. Der Eintrag befindet sich ganz oben auf dem vorderen Spiegel. 37 Zu den Marburger Kugelherren als Beispiel vgl. Monasticon Fratrum Vitae Communis, Bd. 2: Deutschland, hg. v. Wybe Jappe Alberts, Brüssel 1979, S. 147 – 165.

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Abb. 4: Christoph Friedrich Ayrmann: Katalog der philologischen Bibliothek Johann Heinrich Mays d. J. (1733), mit dem Nachtrag (von 1735 oder ­später) des Evangeliars (Hs 28ae, S. 527).

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Erbstreits mit ihrer Bibliothek nach Marburg verlegt wurde, musste die inzwischen calvinistische Marburger Universität nach Kassel ausweichen. 1627 beschloss man die Aufteilung der alten Marburger Universitätsgüter. 325 Bände der Bibliothek gingen in den Gießener (also dann Marburger) Bestand über, die anderen 326 nach Kassel. Als die ursprüngliche Gießener Universität 1650 wieder an ihren Gründungsort zurückkehrte, gelangten auch die zugewiesenen älteren Marburger Bücher und damit Hs 662 dorthin.38 Dies trifft allerdings nicht für das Kölner Evangeliar zu. Denn in Marburg findet sich kein Hinweis zu ihm, auch nicht im Rahmen der Teilung der Universitätsgüter. Die beiden Handschriften 2.* und 2.** wurden von Ayrmann also nicht aufgrund einer gemeinsamen Provenienz umgestellt, sondern vermutlich wegen der von ihm erkannten Bedeutung der Stücke. Dass Evangeliar und Paulusbriefe ursprünglich tatsächlich nicht Bestandteil der Mayschen Bibliothek waren, belegt endgültig ein weiterer handschriftlicher Bibliothekskatalog, den Ayrmann bereits 1732[/3] erstellt hatte, unmittelbar nach Mays Tod. Im Katalog der Bibliothek des Johann Heinrich Mai d. J. (1688 – 1732) erscheinen die beiden umgestellten Handschriften nämlich überhaupt nicht, schon gar nicht in der separat am Ende aufgeführten Handschriftengruppe.39 Wann gelangte das Kölner Evangeliar dann aber in die Universitätsbibliothek? Einen Gesamtkatalog des späteren 17. und früheren 18. Jahrhunderts gibt es nicht. Er wurde nie angelegt, blieb vielmehr ein Desiderat. Erhalten hat sich hingegen der früheste Bibliothekskatalog aus dem Jahr 1624, der auch die ersten Schenkungen nachweist, sowie ein Inventar vor dem Umzug der Bibliothek nach Marburg aus dem Jahr 1628.40 In beiden findet sich keine Spur des Evangeliars. Auch das Schenkungsverzeichnis der Universitätsbibliothek aus den Jahren von 1650 bis 1700 führt es nicht auf.41 38 Vgl. Anm. 37 und ausführlicher zu diesen Jahren der Bibliotheks- und Universitätsgeschichte Heuser 1891 (wie Anm. 11), S. 1 – 11. – Peter Moraw: Kleine Geschichte der Universität Gießen von den Anfängen bis zur Gegenwart, Gießen 1990 (OA 1982), S. 22 – 30. – Felschow 1991 (wie Anm. 11), S. 5 – 9. – Eva-Maria Felschow / Carsten Lind: Ein hochnutz, nötig und christlich Werk. Die Anfänge der Universität Gießen vor 400 Jahren, Ausst. Kat. Justus-Liebig-Universität, hg. v. Präsidenten der JustusLiebig-Universität Gießen, Gießen 2007. 39 UB Gießen, Hs NF 47: Christoph Friedrich Ayrmann: Catalogus Librorum Dn. Prof. Maji [Katalog der Bibliothek des Johann Heinrich Mai d. J. (1688 – 1732), die durch Testament nach dessen Tod 1732 Eigentum der Universitätsbibliothek Gießen wurde, jedoch laut Testament von der Universitätsbibliothek Gießen getrennt aufgestellt werden musste], 61 Blätter, 2 ungezählte Blätter, Papier, 36 × 22,5 cm, Gießen 1733, fol. 59r–61v, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-100426 [11. November 2022]. 40 Vgl. UB Gießen, Hs 28a: Conrad Bachmann: Gießener Bibliothekskataloge 1624 und 1628 mit Schenkungsverzeichnis 1605 – 1629, 55 Blätter, Papier, 20,5 × 16,5 cm, Gießen 1624 – 1629, https://nbn-resolving. de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-1645 [11. November 2022]. – Zum Umzug nach Marburg vgl. Anm. 38. 41 Vgl. UB Gießen, Hs 28da: Geschenkbuch der Universitätsbibliothek 1650 ff., 186 Blätter, Papier, 30 × 20,5 cm, Gießen 17. Jahrhundert, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-149021 [11. November 2022]. – Vgl. Heuser 1891 (wie Anm. 11), S. 15. – Vgl. [Johann Valentin Adrian]: Katalog

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Abb. 5: Geschenkbuch der UB Gießen (18. Jahrhundert) mit dem Geschenkeintrag des Evangeliars (Nr. 1) von Immanuel Weber am 10. 12. 1717 (Hs 28d, fol. 68r).

Im prachtvoll ausgestatten Geschenkbuch des 18. Jahrhunderts, das mit rotem Samt und Silberbeschlägen versehenen ist, befindet sich endlich ein Eintrag, der bislang völlig übersehen wurde, vielleicht, weil er etwas versteckt ist.42 Auf fol. 68r ist folgender Buchzugang vermerkt (Abb. 5): der Nachträge zum Gießener Handschriftenkatalog von Adrian (1840) 1840 – 1952 und der Anmerkungen zu den Handschriften 1840 – 1975, Gießen 1976, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digi​ sam-42201 [11. November 2022], zum Eintrag: https://digisam.ub.uni-giessen.de/ubg-ihd-hb/content/ pageview/374408 [11. November 2022]. – Vgl. auch Friedmann 2007 (wie Anm. 14), S. 260 – 265. 42 Vgl. UB Gießen, Hs 28d (wie Anm. 29). – Dieses Geschenkbuch legte Johann Reinhard H ­ edinger (1664 – 1704) an, ein Theologe und Professor für Recht (seit 1694 – 1699), Redekunst und Metaphysik (1696), der das Bibliothekarsamt von 1696 bis 1699 ausübte. – Zu Hedinger vgl. Strieder 1785 (wie Anm. 23), Bd. 5, S. 362 – 369. – Heuser 1891 (wie Anm. 11), S. 12 – 15, u. S. 14 f. zum

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„1. Quatuor Evangelistas in Pergameno elegantissime exaratas, 2. Spinosae Opera posthuma. 3. Ricardi Simonii Historiam Criticam Veteris Testam. Amstelodam 1685. Cum Spinosae Tractatu Theologico-Politico. 4. Cornel. Jansenii Augustinum, Lovanii 1640 in Fol. Bibliothecae, cujus olim curam egit, Publicae donat Gissae, d. X. Decembr. A. R. S. MDCCXVII Immanuel Weberus, Consiliar. Hassiacus, Juris atque Historiarum Prof. Publ. Ordinar.“  43 Der hier am 10. Dezember 1717 unterzeichnende Immanuel Weber (1659 – 1726) war in Gießen Professor für Geschichte und Recht sowie in den Jahren 1699 bis 1715 Bibliothekar der Universitätsbibliothek (Abb. 6). Im Jahr 1715 wurde er zum hessen-darmstädtischen Rat ernannt und legte das Bibliothekarsamt nieder. 1722 wurde er Universitätssyndikus und 1725 Vizekanzler. Als Verfasser unzähliger Publikationen verstarb er 1726 plötzlich an einem Blutsturz.44 In seine Zeit als Rat fällt seine Schenkung an die Bibliothek, wohl weil er – wie er hier vermerkt – sich einst um sie kümmerte. Die Schenkung selbst erfolgte zur Zeit des Gießener Bibliothekars und Professors der Beredsamkeit Matthias Nikolaus ­Kortholt (1674 – 1725), der die Bibliothek von 1715 bis 1725 betreute.45 Emil Heuser, der 1891 eine ausführliche Geschichte der Gießener Universitätsbibliothek vorlegte, merkt zu Webers Tätigkeit als Bibliothekar allerdings nur kurz an: „aus dessen Amtsführung Nichts zu berichten ist, als dass er am 4. Juni 1707 den Vorschlag machte, verschiedene Dubletten und Defecte gegen mathematische Werke aus der vom Buchhändler Bötticher übernommenen Bibliothek des Canzler Nitsch umzutauschen.“   46 Wie und woher erhielt Weber diese in seinem Geschenkeintrag aufgeführten und an die Bibliothek übergebenen Bände? Was sonst ist über Weber bekannt, das vielleicht bei der Klärung dieser Frage weiterhilft? Er stammte aus Sachsen, besuchte das Gymnasium in Grimma und studierte seit 1677 Theologie in Leipzig, wo er 1681 mit dem Magister abschloss. Im Jahr 1682 begann er ein Studium der Rechtwissenschaften in Leipzig und

43 44 45 46

Geschenkbuch. – Haupt / Lehnert 1907 (wie Anm. 15), S. 430. – Schmidt 1959 (wie Anm. 15), S. 30 f. – Friedmann 2007 (wie Anm. 14), S. 262 – 265. UB Gießen, Hs 28d (wie Anm. 29), fol. 68r: https://digisam.ub.uni-giessen.de/ubg-ihd-hn/content/ pageview/1180447 [24. Januar 2023]. Zu Weber vgl. Strieder 1812 (wie Anm. 23), Bd. 16, S. 487 – 507. – Haupt / Lehnert 1907 (wie Anm. 15), S. 465. – Schmidt 1959 (wie Anm. 15), S. 31. Zu Kortholt vgl. Heuser 1891 (wie Anm. 11), S. 15 f. – Strieder 1787 (wie Anm. 23), Bd. 7, S. 302 – 307. – Schmidt 1959 (wie Anm. 15), S. 31. Heuser 1891 (wie Anm. 11), S. 15, belegt seine Quelle nicht. – Zu ­diesem Buchhändler Bötticher vgl. bei Anm. 74. – Gemeint ist Friedrich Nitzsch (1641 – 1704) Professor der Mathematik in Gießen, 1702 Vizekanzler. Vgl. zu ihm Haupt / Lehnert 1907 (wie Anm. 15), S. 447.

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Abb. 6: Immanuel Weber (1659 – 1726), Gemälde aus der Gießener Professorengalerie (Bildarchiv von Universitätsbibliothek und Universitätsarchiv Gießen, HR A79a).

Jena. Bald trat er in den Dienst der Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen in Thüringen ein, deren Archiv er seit 1687 leitete, bis er 1698 nach Gießen ging.47 Anzeichen dafür, dass er an diese Bücher in Thüringen oder Sachsen gelangte, gibt es nicht. Da das in der Schenkung als Nr. 1 aufgeführte Kölner Evangeliar selbst keine unmittel­ baren Angaben zur Provenienz trägt, liegt es nahe, die gemeinsam mit der Handschrift von Weber geschenkten Drucke auf Hinweise zu prüfen. Sucht man im aktuellen OnlineKatalog des Gießener Bibliothekssystems nach diesen Titeln, wird man nicht fündig. Die Bände dürften im Zweiten Weltkrieg nicht ausgelagert worden sein und verbrannten wohl 1944 im Magazin der Alten Universitätsbibliothek.48 Im historischen und noch erhaltenen Gießener Kapselkatalog sind die Bände allerdings recherchierbar.49 Die alten Katalogeinträge auf dünnen handschriftlich beschriebenen Papierzetteln sind alle noch vorhanden. 47 Zu Weber vgl. bei Anm. 44. 48 Vgl. dazu Anm. 8. 49 UB Gießen: Johann Valentin Adrian u. a.: Historischer alphabetischer und systematischer Katalog als Kapselkatalog, Gießen 1837 – 1944/5. – Hierbei handelt es sich um den früheren Hauptkatalog der Universitätsbibliothek, der den Bestand bis zum Brand 1944 abbildet und nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise durch einen neuen Katalog ersetzt wurde. Der systematische Teil des Kapselkataloges (Aufstellung nach Signaturen) war während des Krieges ausgelagert, der alphabetische konnte noch aus

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Deshalb lassen sich die genauen Titel und früheren Signaturen der heute verlorenen Bände ermitteln. Vermutlich handelt es sich bei Webers Bänden um die folgenden Werke, die der Nummerierung seines Geschenkeintrages folgen: 2. Benedictus de Spinoza: Benedicti de Spinozae Opera Omnia Priora & Posthuma. Quorum seriem versa pagina indicat. 5 Teile. [Amsterdam]: [s. n.], 1677. 4°. Frühere Signatur: U 3184. Unter dieser Signatur sind insgesamt fünf Titel aufgeführt. Der Titel selbst ist äußerst selten.50 3. Zu dieser Nummer ist der Nachweis unsicher: Folgt man der lateinischen Angabe im Eintrag, handelt es sich um Richard Simon: Historia Critica Veteris Testamenti. Nova Editio, ad Exemplar Parisiense adornata, & aucta varis Observationibus Criticis. Amsterdam: Blaeu, 1685. Es ist ebenfalls selten,51 jedoch nicht im Kapselkatalog nachgewiesen. Im Katalog ist vielmehr die französische Version aus demselben Jahr zu finden: Richard Simon: Histoire critique du Vieux Testament. Nouvelle edition, & qui est la premiere imprimée sur la copie de Paris, augmentée d’une apologie generale & plusieurs remarque critiques … Amsterdam: pour la Compagnie des Libraires, 1685. 4°.52 Frühere Signatur: V 7212. Auch unter dieser Signatur werden insgesamt fünf Titel aufgeführt. Ferner enthalten oder beigebunden ist: Benedictus de Spinoza: Tractatus theologicus-politicus, continens Dissertationes aliquot, … Hamburg: apud Henricum Künrath, 1670. 4°.53 Das Werk scheint umgestellt worden zu sein, denn es findet sich im Kapselkatalog unter der Signatur U 3184, auf demselben Katalogzettel wie die eben erwähnte Nr. 2. 4. Cornelius Jansen: Cornelii Jansenii Augustinus seu doctrina Augustini. Tribus tomis comprehensa. Lovanii: typ. Jacob Zegers, 1640. fol. 1 Band.54 Frühere Signatur: W 17860. Auch ­dieses Werk ist selten. der brennenden Bibliothek geborgen werden. – Zum Gießener Kapselkatalog und den Umständen vgl. Wefers 1991 (wie Anm. 14), S. 36 – 39. – Friedmann / Dette 1991 (wie Anm. 8), S. 78 – 86. 50 Ein Nachweis des Werkes in der Universitätsbibliothek Marburg unter: http://cbsopac.rz.uni-frankfurt. de/DB=2.1/PPNSET?PPN=364108630 [11. November 2022]. Ein Digitalisat scheint noch nicht verfügbar zu sein. 51 Das Digitalisat eines Exemplars der Bayerischen Staatsbibliothek München unter: https://mdz-nbnresolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11395515-4 [11. November 2022]. 52 Das Digitalisat eines Exemplars der Bayerischen Staatsbibliothek München unter: https://mdz-nbnresolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10354642-0 [11. November 2022]. 53 Im Verzeichnis der Deutschen Drucke des 17. Jahrhunderts sind vier verschiedene Druckvarianten nachgewiesen. Die genaue Fassung des früheren Gießener Exemplars lässt sich nicht mehr bestimmen. – VD17 32:693687A, https://kxp.k10plus.de/DB=1.28/CMD?ACT=SRCHA&IKT=8079&TRM=%2732:693687​ A%27. – VD17 1:078452K, https://kxp.k10plus.de/DB=1.28/CMD?ACT=SRCHA&IKT=8079&TRM=​ %271:078452K%27. – VD17 1:088272Q, https://kxp.k10plus.de/DB=1.28/CMD?ACT=SRCHA&IKT=​ 8079&TRM=%271:088272Q%27. – VD17 12:123501P, https://kxp.k10plus.de/DB=1.28/CMD?ACT=SR​ CHA&IKT=8079&TRM=%2712:123501P%27 [alle 11. November 2022]. – Die Digitalisate sind dabei jeweils verlinkt. 54 Vgl. https://gateway-bayern.de/BV009768241 [11. November 2022]. Ein Digitalisat aller drei Teile eines Exemplars der Bayerischen Staatsbibliothek München unter: https://opacplus.bsb-muenchen.de/title/

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Prüft man die relevanten Katalogzettel genau, zeigt sich, dass sie alle keinerlei Hinweise auf die Provenienz der Bände bieten. Auffällig ist dennoch, dass fast alle Druckwerke mit den Druckorten Amsterdam und Löwen aus dem niederländischen und belgischen Raum stammen und meist im späteren 18. Jahrhundert erschienen sind. Ist das ein Zufall? Es könnte für einen gemeinsamen Erwerb der Bände womöglich zusammen mit dem Evangeliar sprechen. Geht man Webers Wirken in Gießen weiter nach, fällt auf, dass dieser ebenso wie der erwähnte Johann Heinrich May d. J. in Kontakt mit dem Frankfurter Büchersammler Zacharias Konrad von Uffenbach stand. In den drei letzten Jahren von Webers Tätigkeit als Bibliothekar (1712 – 14) korrespondierten beide intensiv miteinander. Davor gibt es dafür keine Belege. Die Korrespondenz Uffenbachs mit May hingegen setzte erst im Jahr 1713 ein. Die Korrespondenz mit Weber hat sich im Uffenbachschen Nachlassteil in der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg in Frankfurt am Main erhalten. Insgesamt handelt es sich um 14 Briefe, sieben von Uffenbach an Weber und sieben von Weber an Uffenbach, wobei der erste Brief von Uffenbach stammt und dieser die Korrespondenz begonnen haben dürfte.55 Einige dieser Briefe wurden bereits im 18. Jahrhundert in Auswahl als Druck veröffentlicht. Diese stammen überwiegend aus dem Jahr 1714.56 Nach 1714 bricht die Korrespondenz bereits ab. Es folgt lediglich noch ein letzter Brief Uffenbachs an Weber vom 7. September 1720.57 Zu dieser Zeit erhielt Weber über May BV 035403702 [11. November 2022]. Vgl. auch den Nachweis der drei Bände im Universal Short Title Catalogue (USTC ): Bd. 1 (USTC 1511495): https://www.ustc.ac.uk/editions/1511495, Bd. 2 (USTC 1511496): https://www.ustc.ac.uk/editions/1511496, Bd. 3 (USTC 1511494): https://www.ustc.ac.uk/edi​

tions/1511494 [alle 11. November 2022]. 55 UB JCS Frankfurt, Ms. Ff. Z. K. v. Uffenbach, Bd. 1B (wie Anm. 28). Hierunter finden sich sieben Briefe ­Uffenbachs, der die Korrespondenz begann, an Weber: fol. 471v–472v (Nr. 40, 22. Dezember 1712), fol. 472v–475v (Nr. 41, 14. Februar 1713), fol. 492r–494r (Nr. 50, 13. Jdus Juni 1713), fol. 567v–570r (Nr. 83, 31. März 1714), fol. 583r–584v (Nr. 89, 5. Mai 1714), fol. 592v–594r (Nr. 95, 30. Juni 1714), fol. 638r (Nr. 112, 22. Dezember 1714). – Vgl. UB JCS Frankfurt, Ms. Ff. Z. K. v. Uffenbach, Bd. 1A (wie Anm. 28). Hierbei handelt es sich um sieben Briefe von Weber an Uffenbach: fol. 63r–64v (Nr. 35, 7. Januar 1713), fol. 83r–84v (Nr. 54, 12. Juni 1713), fol. 147r–148r (Nr. 74, 24. März 1714), fol. 158r–159r (Nr. 80, 16. April 1714), fol. 174r–174v (Nr. 90, 4. Mai 1714), fol. 192r–192v (Nr. 97, 25. Juni 1714), fol. 220r–221v (Nr. 110, 14. Oktober 1714). – Die Korres­pondenz zu Johann Heinrich May d. J. läuft parallel dazu. Vgl. dazu bei Anm. 28. 56 Vgl. Uffenbach / Schelhorn 1753/56 (wie Anm. 28), Bd.1, S. 95 – 99 (Nr. 14, Brief von Uffenbach an Weber vom 14. Februar 1713). – Uffenbach / Schelhorn 1753/56 (wie Anm. 28), Bd. 3, S. 28 – 31 (Nr. 102, Brief von Uffenbach an Weber vom 31. März 1714. Hierin wird auch auf Handschriften und Drucke hingewiesen, die er aus Belgien erhalten hat.), S. 31 – 33 (Nr. 103, Brief von Weber an ­Uffenbach vom 16. April 1714), S. 34 – 36 (Nr. 104, Brief von Uffenbach an Weber vom 5. Mai 1714), S. 36 – 38 (Nr. 105, Brief von Weber an Uffenbach vom 14. Oktober 1714) u. S. 38 – 40 (Nr. 106, Brief von U ­ ffenbach an Weber vom 30. Oktober 1714). S. 41 – 58, folgt die Korrespondenz z­ wischen Uffenbach und Johann Heinrich May d. J. aus dem Jahr 1714. Aus der sehr umfangreichen Korrespondenz können hier nur ausgewählte Briefe herangezogen werden. 57 Zu d ­ iesem Brief Uffenbachs, der schon aus der Zeit nach der Schenkung des Evangeliars an die Gießener Bibliothek stammt, vgl. UB JCS Frankfurt, Ms. Ff. Z. K. v. Uffenbach, Bd. 6B (wie Anm. 28),

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auch ein Exemplar des gerade erschienenen Uffenbachschen Handschriftenkataloges, an dem May mitgearbeitet hatte.58 Webers und Uffenbachs Briefe behandeln historische Werke, Handschriften, Kataloge, mögliche Abschriften von Handschriften oder den Erwerb von historischen Bänden – etwa aus Belgien.59 Das Kölner Evangeliar scheint nicht zur Sprache zu kommen. Aufgrund des großen Umfangs der Uffenbachschen Korrespondenz ist allerdings nicht auszuschließen, dass an ganz anderer, unerwarteter Stelle darin doch Hinweise zu finden sein könnten. Offenbar tauschten oder verliehen Weber und Uffenbach auch Handschriften untereinander oder sie beabsichtigten es – ähnlich dem intensiven Austausch ­zwischen Uffenbach und Johann Heinrich May d. J. Schon nach Abbruch der Korrespondenz mit Weber 1714 bittet Uffenbach May in einem Brief vom 15. Juni 1715, Weber wegen der Rückgabe ausgeliehener Bände zu kontaktieren: „Rogarem te, ut Dn. Webero aurem vellicares, qui libros quosdam jam diu detinet, sed nolo tibi jam molestus esse.“ 60 Die Uffenbachsche Korrespondenz zeigt, wie intensiv und eng Uffenbach, May und Weber in der hier genannten Zeit miteinander in Kontakt standen. Was aus den Handschriften wurde, die Friedrich Wilhelm Strieder am Ende seines Artikels zu Weber aus dem Jahr 1812 in der Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte. Seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten als diejenigen in Webers Besitz nennt, ist nicht ganz klar. Es handelt sich ausschließlich um neuzeitliche Objekte.61 Vielleicht wurden diese verkauft. In der Universitätsbibliothek Gießen scheinen sie sich nicht zu befinden. Immerhin werden dort heute unter den Handschriften acht Stücke mit fol. 367r–368v (Nr. 84, 7. September 1720). 58 Vgl. Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1296 bzw. Sp. 123 u. Anm. 546, der dazu einen Brief Mays an Uffenbach vom 7. Oktober 1720 nennt. Vgl. zum Handschriftenkatalog vgl. bei Anm. 28 f. 59 In seinem ersten Brief vom 22. Dezember 1712 (und dem zweiten vom 14. Februar 1713) fragt Uffenbach bei Weber in Gießen nach wichtigen Handschriften, die in einem entsprechenden Katalog verzeichnet ­seien und ob davon Abschriften möglich wären. Weber will sich darum kümmern, scheint es aber auf sich beruhen zu lassen. Vgl. Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1263 bzw. Sp. 58 und Anm. 249. – Am 31. März 1714 berichtet Uffenbach an Weber vom Kauf einer Sigibert-von-Gembloux-Handschrift (heute Universitätsbibliothek Leipzig, Rep. II. 69) und weiterer Stücke in Belgien über die Brüder Wetstein in Amsterdam, vgl. S. 1273 bzw. Sp. 78. – Am 5. Mai 1714 berichtet er an Weber von einem Handschriftenkauf aus Straßburg (heute in der SUB Hamburg, Cod. hist. 304), vgl. S. 1261 f. bzw. Sp. 54 f. u. Anm. 210. – Im selben Brief vom 5. Mai 1714 berichtet er ebenfalls davon, dass er Leibniz in Hannover die Ausleihe einer Handschrift verweigert habe, vgl. S. 1307 bzw. Sp. 145 u. Anm. 647 f. – Uffenbach spricht auch in einem in Gießen aufbewahrten Brief vom 11. Dezember 1717 an May von Büchern, die er aus Belgien bekommen habe, vgl. UB Gießen, Hs 154, fol. 79v. 60 Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1309 bzw. Sp. 150 u. Anm. 664. – Auch mit Mays Kollegen Lang in Gießen tauscht Uffenbach 1715 Handschriften. Vom Gießener Professor Liebknecht erhält er ebenfalls 1715 eine Handschriftenabschrift, vgl. S. 1262 bzw. Sp. 55 u. Anm. 211 – 217. – Auch über Mays Gießener Kollegen Zieler bezieht Uffenbach Handschriften, vgl. S. 1262 bzw. Sp. 56 u. Anm. 228 f. 61 Vgl. Strieder 1812 (wie Anm. 23), Bd. 16, S. 506 f.

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engerem Bezug zu Weber aufbewahrt. Bei Hs 168 handelt es sich um eine Handschrift aus dem Besitz Johann Heinrich Mays d. J., in der einige handschriftliche Seiten Webers enthalten sind.62 Von Webers Werk Examen Artis Heraldicae, das zuerst 1696 als Druck erschienen ist,63 haben sich zwei durchschossene Exemplare mit handschriftlichen Anmerkungen anderer Personen erhalten (Hs 17164 und Hs 171a 65). Bei einer Historia Germanica a Carolo M. usque ad Carolum V., scr. 1723 aus der Senckenbergischen Schenkung (Hs 287)66 handelt es sich aber – schon aufgrund der Schreibezeit – eher nicht um das bei Strieder zu Weber genannte Compendium historiae germ. A Carolo M. ad nostra usque tempora, das sich einmal in der Uffenbachschen Bibliothek befunden habe.67 Hs 626 aus dem 18. Jahrhundert enthält Johannis Bodini Colloquium Heptaplomeres De Abditis Rerum Sublimium Arcanis. Sie stammt aus dem Besitz Mays und beinhaltet eine Abschrift des Textes nach der Vorlage einer Handschrift Immanuel Webers, die bei Strieder aber nicht aufgeführt wird, mit Ergänzungen einer anderen Handschrift des Zacharias Konrad von Uffenbach.68 62 UB Gießen, Hs 168: Sammelhandschrift mit chronologischen Texten, 110 Blätter, Papier, 34,75 × 20,5 cm, [Deutschland, Gießen] 17. Jahrhundert, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-187495 [11. November 2022]; fol. 94r–109v: Variae deductiones chronologicae manu Immanuel. Weberi. – Vgl. dazu Adrian 1840 (wie Anm. 16), S. 59. 63 Immanuel Weber: Artis Examen Heraldicae. Maximam partem ex insigni Opere Speneriano collectum, Theoriam Insignium Facili ac perspicua methodo per interrogationes ac responsiones exhibens …, Frankfurt am Main 1696 (VD17 3:004921U), https://kxp.k10plus.de/DB=1.28/CMD?ACT=SRCHA&IKT=​ 8079&TRM=%273:004921U%27) [11. November 2022]. 64 UB Gießen, Hs 171: Immanuelis Weberi Examen Artis Heraldicae, Frankfurt am Main 1696, durchschossenes Exemplar des Johann Heinrich Mollenbeck, 142 Blätter, Papier, 21,5 × 18,5, [Deutschland, Gießen] 18. Jahrhundert, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-184072 [11. November 2022]. – Vgl. Adrian 1840 (wie Anm. 16), S. 59. Hierbei handelt es sich um den Frankfurter Druck von 1696 (vgl. Anm. 63). – Zum Gießener Professor Johann Heinrich Mollenbeck vgl. Haupt / Lehnert 1907 (wie Anm. 15), S. 445. 65 UB Gießen, Hs 171a: Immanuelis Weberi examen artis heraldicae …, Editio 3, Jenae 1713, durchschossenes Exemplar des Christoph Ludwig Rüdiger, 199 Blätter, Papier, 16,5 × 10,5 cm. [Deutschland, Gießen] 18. Jahrhundert, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-184084 [11. November 2022]. – Vgl. Adrian 1976 (wie Anm. 41). – Die Anmerkungen stammen vom Gießener Professor Christoph Ludwig Rüdiger. Die Handschrift wurde 1743 auf einer Auktion für die UB Gießen erworben. – Als Druck wurde die in Jena erschienene dritte Auflage verwendet: Immanuel Weber: Artis Examen ­Heraldicae. Maximam Partem Ex Insigni Opere Speneriano Collectum, Theoriam Insignium Facili Ac Perspicua Methodo Exhibens. Editio Tertia Emendatior Et Auctior. Jena 1713 (VD18 10328688), https:// kxp.k10plus.de/DB=1.65/PPNSET?PPN=005251761 [11. November 2022]. 66 UB Gießen, Hs 287: Historia Germanica a Carolo M. usque ad Carolum V., scr. 1723. [Kopie nach Vorlage], 450 Blätter, Papier, 22 × 18 cm, [Deutschland] 1723, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:he​ bis:26-digisam-187768 [11. November 2022]. – Vgl. Adrian 1840 (wie Anm. 16), S. 91. 67 Vgl. Strieder 1812 (wie Anm. 23), Bd. 16, S. 507. 68 UB Gießen, Hs 626: Jean Bodin: Colloquium Heptaplomeres De Abditis Rerum Sublimium Arcanis, I Blatt, 890 Seiten, I Blatt, Papier, 22,5 × 18,5 cm, [Deutschland] 17. Jahrhundert, https://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:hebis:26-digisam-147647 [11. November 2022]. – Vgl. Adrian 1840 (wie Anm. 16), S. 189.

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Immerhin unterstreicht dies noch einmal die Verbindungen ­zwischen Weber, May und Uffenbach. Drei weitere Gießener Handschriften enthalten noch Vorlesungsankündigungen und Briefe Webers mit überwiegend Gießener Bezug.69 Die genaueren Kontakte Webers und seine Korrespondenz bedürfen noch einer intensiveren Untersuchung, die in ­diesem Rahmen nicht erfolgen kann.

II. Wie gelangte das Kölner Evangeliar nach Gießen? Nicht ganz unwahrscheinlich ist es, dass Weber es über Vermittlung Uffenbachs oder durch Hinweise desselben erhalten hat. Aus Uffenbachs Besitz selbst kann die Handschrift nicht stammen. Hinweise könnten über Johann Heinrich May d. J. als Vermittler gekommen sein. Oder verfügte Weber über andere Kontakte? Obwohl Uffenbach in seinem Palais in Frankfurt auf der Zeil eine der bedeutendsten und größten Bibliotheken des frühen 18. Jahrhundert besaß – nach denen in Wien und Wolfenbüttel –, gibt es nur wenige neuere Forschungsarbeiten zu ihm. Neben der ausführlichen Studie von Konrad Franke aus dem Jahr 1965 liegt seit 2020 ein Sammelband als Ergebnis einer Hamburger Tagung vor.70 Uffenbachs Familie kam im 16. Jahrhundert als 69 UB Gießen, Hs 19a-II: Autographen von Giessener Professoren aus den nachgelassenen Papieren des Geh. R. Prof. Dr. Nebel, zusammengestellt u. geordnet von Pfarrer W. Nebel, 4 Bde., Bd. II: Juristen, Papier, 25 × 19,5 cm, [Deutschland] 17. – 19. Jahrhundert, fol. 48 – 51, mit Gießener Vorlesungsanzeigen von 1700 und Dokumenten aus den Jahren 1720 und 1723. – Vgl. Adrian 1976 (wie Anm. 41). – UB Gießen, Hs 131: Epistolae Doctorum virorum. 87 Originalbriefe bzw. Schreiben (bes. an Christian Thomasius und an Heinrich Christian von Senckenberg), 154 Blätter, Papier, 36 × 23 cm, [Europa] 17./18. Jahrhundert, fol. 120 – 121. Dabei handelt es sich um zwei Briefe aus Sondershausen im Jahr 1694 an eine ungenannte Person. – Vgl. Hermann Schüling: Verzeichnis der Briefsammlungen Cod. 128, 131, 155 in der Universitätsbibliothek Gießen. Nach Vorarbeiten von Heinz Kumpf u. Hubert Zintl (Handschriftenkataloge der Universitätsbibliothek Gießen, Bd. 7), Gießen 1984, bes. S. 27, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-opus-30852 [11. November 2022]. – UB Gießen, Hs 135: 122 Briefe u. a. Schreiben größtenteils an C. F. Ayrmann, aus den Jahren 1734 – 1738, I, 237 Blätter, Papier, 24 × 19 cm, [Europa] 1734 – 1738, fol. 7 – 9, 12 – 20, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-digisam-167979 [11. November 2022]. Dabei handelt es sich um sechs Briefe von verschiedenen – hier nicht relevanten Personen – aus den Jahren 1697, 1706, 1710, 1707 und zweimal 1708. – Vgl. Hermann Schüling: Verzeichnis der Briefsammlungen Cod. 132 – 135 in der Universitätsbibliothek Gießen (Handschriftenkataloge der Universitätsbibliothek Gießen, Bd. 5), Gießen 1984, S. 38, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26-opus-30838 [11. November 2022]. – Briefe Webers aus den Jahren 1706 und 1707 an die Erben des Frankfurter Verlegers Johann David Z ­ unner befinden sich auch in der SUB Hamburg. Vgl. Krüger 1978 (wie Anm. 28), Bd. 1, S. 1079. 70 Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1304 bzw. Sp. 140 u. Anm. 624, mit einer Selbsteinschätzung Uffenbachs zur Größe seiner Bibliothek. – Friedrich / Müller 2020 (wie Anm. 27), S. 1 – 8 mit einer guten Zusammenfassung zum Thema. – Vgl. auch Klemens Löffler: Kölnische Bibliotheksgeschichte im Umriß. Mit einer Nachweisung kölnischer Handschriften und einem Beitrage von Goswin Frenken über den Katalog

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Steindecker von Wetzlar in die bedeutende Reichsstadt Frankfurt und stieg dort schnell bis in den Rat der Stadt auf. Zacharias Konrad wurde am 22. Februar 1683 geboren. Nach dem Gymnasium in Frankfurt und in Rudolstadt in Thüringen ging er 1698 zum Jurastudium nach Straßburg und bald nach Halle, wo er mit dem Sammeln von Büchern und Handschriften begann. Nach ersten Reisen kehrte er 1704 nach Frankfurt zurück, bis er 1705 die Niederlande besuchte. 1709 bis 1711 reiste er gemeinsam mit seinem Bruder Johann Friedrich (1687 – 1769) durch Mittel- und Norddeutschland, die Niederlande und England. Die Reisebeschreibung der beiden Brüder gab 1753/54 posthum Johann Georg Schelhorn heraus. Die Brüder besuchten dabei Bibliotheken, Auktionen sowie Buchhandlungen und erwarben knapp 4.000 Bände. Doch genaue Details zu den Buchkäufen selbst gibt es kaum. Auch in Uffenbachs Briefwechsel werden die Handschriften nur selten erwähnt. 1718 reiste er noch einmal in die Niederlande. 1721 wurde er dann Mitglied des Frankfurter Rates, was seine Zeit mehr in Anspruch nahm, 1727 erstmals zweiter Bürgermeister und 1730 Schöffe bis zu seinem Tod am 6. Januar 1734.71 Der schon erwähnte erste Handschriftenkatalog Uffenbachs, an dem Johann Heinrich May d. J. intensiv beteiligt war, erschien im Jahr 1720 in Halle. Dessen ausführliche Beschreibungen der Stücke sollten als Basis für den Tausch mit anderen Interessenten dienen. Ein zweiter Katalogteil kam nicht mehr heraus. Kinderlos und wegen seiner umfangreichen Frankfurter Amtspflichten entschied sich Uffenbach zum Verkauf seiner Bibliothek. Dazu erschienen 1729 bis 1731 vier Katalogbände mit Preisangaben. Da allerdings 1733 noch immer zwei Drittel der Bände vorhanden waren, kam es schließlich zur Auktion. Für diese wurde 1735 ein vierbändiger Auktionskatalog durch den Frankfurter Verlag Franz Varrentrapp veröffentlicht. Auch nach der Auktion, die am 7. März 1735 stattfand, blieb ein größerer Teil unverkauft. Die meisten Handschriften gelangten immerhin nach Hamburg, denn der dortige Hauptpastor Johann Christoph Wolf (1683 – 1739) erwarb schon im Jahr 1731 die alttestamentlichen und hebräischen Handschriften sowie 20.000 Briefe im Jahr 1735. Die Sammlung hinterließ er der Stadtbibliothek Hamburg, wo sein Bruder Johann Christian (1689 – 1770) seit 1746 als Bibliothekar wirkte. Im Jahr 1749 kamen durch diesen weitere 1.200 Uffenbachsche Handschriften in 14 Kisten an die heutige Staats- und Universitätsbibliothek.72 der Dombibliothek von 833, Köln 1923, S. 27 – 29, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:kn28-1-10406 [11. November 2022]. 71 Vgl. Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1236 – 1239 bzw. Sp. 3 – 10, zur Reise S. 1256 bzw. Sp. 43 f., zur seltenen Erwähnung von Handschriften in der Korrespondenz S. 1259 bzw. Sp. 49 f. – Bader 2007 (wie Anm. 26), S. 16 – 24. – Zu den Reisen vgl. auch Zacharias Konrad von Uffenbach: Merkwürdige Reisen durch Niedersachsen, Holland und England, Bd. 1 – 3 mit Kupferstichen, hg. v. Johann Georg Schelhorn, Ulm / Memmingen 1753/54, https://doi.org/10.3931/e-rara-55535 [11. November 2022], sowie bei Anm. 76. – Zu einer Einführung vgl. auch Zedelmaier 2020 (wie Anm. 27). 72 Zur Verzeichnung, den Katalogen und zum Verkauf der Bände vgl. Bader 2007 (wie Anm. 26), S. 19 – 23. – Mona Garloff: Zacharias Konrad von Uffenbach und der Buchhandel, in: Friedrich / Müller 2020

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Betrachtet man Uffenbachs Erwerbungen insbesondere der Handschriften, so könnten diese Wege Immanuel Weber in Gießen als Vorbild gedient haben. Zentral sind dabei – schon wegen der Nähe zu Gießen – die Frankfurter Oster- und Herbstmessen, bei denen beispielsweise zahlreiche aufgetrennte Pergamenthandschriften als Einbandmakulatur angeboten wurden. Auch verschiedene Buchhändler und Gebrauchtbuchhändler vertrieben dort ihre Waren.73 Bekannt ist besonders der ‚Jenenser Wanderbuchhändler Böttcher‘, Andreas Friedrich Bötticher, dessen Wirken seit 1698 nachweisbar ist, mit dem Uffenbach 1715 bis 1720 Geschäfte machte und den auch Weber kannte und wenigstens um 1707 kontaktierte (s. o.). Bötticher bot neben Drucken auch Handschriften an und war als Verleger tätig. Vielleicht vermittelte Weber sogar den Kontakt zu Uffenbach und kannte Bötticher womöglich schon aus seiner Thüringer Zeit?74 Viel mehr ist unbekannt. Mona Garloff weist deshalb auch darauf hin, dass es ein dringendes Forschungsdesiderat sei, den Handschriften- und Gebrauchtbuchhandel im 17. und 18. Jahrhundert aufzuarbeiten.75 Ganz eindrücklich haben der eben erwähnte und mit Uffenbach eng befreundete Memminger Theologe, Bibliothekar und Schriftsteller Johann Georg Schelhorn (1694 – 1773) und (wie Anm. 27), S. 335 – 360, hier S. 349 – 357. – Vgl. Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1282 – 1303, 1315 – 1327 bzw. Sp. 95 – 138, 161 – 186. – Zum Katalog von 1720 vgl. bei Anm. 28 – 29. – Zu den Katalogen von 1729 bis 1731 vgl. Zacharias Konrad von Uffenbach: Bibliotheca Uffenbachiana universalis sive catalogus librorum: tam typis quam manu exaratorum, quos summo studio hactenus collegit Zach. Conradus ab Uffenbach, nunc vero ob rationes in proloquio deductas, venales prostant, Bd. 1 – 4, Frankfurt am Main 1729 – 1731. – Zum Auktionskatalog von 1735 vgl. Uffenbach-Erben: Bibliotheca Uffenbachiana seu catalogus librorum, quos summa industria, magna cura maximisque sumptibus ex variis regionibus collegit scabinus reipublicae Francofurtensis Zachar. Conradus ab Uffenbach, quorum publica habebitur auctio in aedibus defuncti die VII. martii 1735 per Franciscum Varrentrapp, Frankfurt am Main 1735. 73 Vgl. Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1259 – 1278 bzw. Sp. 49 – 88; zur Frankfurter Messe S. 1270 – 1272 bzw. Sp. 71 – 76. – Garloff 2020 (wie Anm. 72). 74 Vgl. Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1269 f. bzw. Sp. 70 f. – Garloff 2020 (wie Anm. 72), S. 339 f. – Zu Webers Kontakt zu Bötticher vgl. bei Anm. 46. – Zu Andreas Friedrich Bötticher vgl. David L. Paisey: Deutsche Buchdrucker, Buchhändler und Verleger 1701 – 1750 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, Bd. 26), Wiesbaden 1988, S. 23. – Demnach stammte Bötticher aus Jena. Dort scheint er von 1709 bis 1724 als Buchhändler tätig gewesen zu sein. Er erscheint „1714 vorübergehend in Halle (Neujahrsmarkt).“ Von etwa 1721 bis „nach 1730?“ taucht er in Frankfurt am Main auf. Vielleicht „Kaufte [er] Georg Andreas Hermsdorfs Unternehmen?“ – Zu Bötticher vgl. auch Marie-Kristin Hauke: ‚In allen guten Buchhandlungen ist zu haben…‘ Bucherwerbungen in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert, Diss. Erlangen-Nürnberg 1999, S. 83, Anm. 401, S. 90, Anm. 434, S. 236, 270, 273 u. 350, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:29-opus-1301 [11. November 2022]. Von Bötticher sind einige gedruckte Angebotszettel erhalten mit feilgebotenen Drucken, die Haucke wiedergibt. – Vermutlich gibt es noch weitere bislang unbekannte Materialien zu Bötticher, die zukünftig einmal zusammengeführt werden können. 75 Vgl. Garloff 2020 (wie Anm. 72), S. 336, 339 u. 341. – Friedrich / Müller 2020 (wie Anm. 27), S. 6. – Zum Buchhandel in dieser Zeit vgl. Hauke 1999 (wie Anm. 74), S. 66 ff., die vor allem Angebotskataloge und Anzeigen untersucht, allerdings nicht auf den Handschriftenbuchhandel eingeht.

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dessen Schwiegersohn Johann Georg Hermann um 1753 – und damit einige Jahre nach Uffenbachs Tod – eine seiner frühesten Erwerbungen auf der Frankfurter Herbstmesse 1704 beschrieben. Da war Uffenbach gerade wieder in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Schelhorn konnte dazu auf Materialien zurückgreifen, die Uffenbach ihm überlassen hatte.76 Die sehr lebendige Darstellung, die sicher auch einiges phantasievoll ausschmückt, soll hier folgen: In der Herbst-Messe A. 1704. hatte er einen besonders glücklichen Zufall, verschiedene alte Codices membranaceos vom Untergange zu retten. Einige am Rhein gelegene Clöster, sonderlich in Cölln, hatten einen ungemeinen Hauffen Pergamen, so alles aus einander gelegt war, nach Frankfurt abgesendet. Diese Waaren sollten nach ihrer Absicht nicht den Kennern und Liebhabern gelehrter Seltenheiten zu Theil werden: sondern sie sollten an Buchbinder, Goldschlager, Siebmacher und andere dergleichen Professionisten verkauft werden. Allein das Vorhaben so viele alte Pergamene zu verderben, wurde ihnen ohne ihr Wissen durch unsern Herrn Schöff erwünscht vereitelt. […] Denn diese Mönche, die ehemaligen Besitzer dieser Pergamene, wußten nicht, was in den Pergamenen stunde. Sie furchten sich vor den gelehrten, damit nicht ihre Codices in derselben Hände gerathen, und also vielleicht die Geheimnisse ihrer Clöster und Orden unbedachtsam entdecket werden möchten. Daher hatten sie den Anschlag gefasset, alle Bände von einander zu trennen, alle Blätter, jedes einzeln, von dem andern abzusondern; Diese wiederum unter einander zu werfen und zu vermischen; ja einige Stücke hatten sie sogar zurück behalten, und selbt zu Grunde gerichtet, damit nichts ganzes heraus käme. Auf diese Weise waren sie eher an Ungelehrte zu verhandeln. Allein zu gutem Glücke erfuhr d­ ieses unser Herr von Uffenbach. Sogleich gieng er mit brennender Begierde eilfertig dahin, wo sie zum Verkauffe lagen. Da er den wüsten und rohen Hauffen sahe, bedauerte er zwar anfänglich d­ ieses harte Schicksal; jedoch er schickte sich alsobald an, sie aufs sorgfältigste durchzusuchen, ob er vielleicht in d­ iesem so grossen Hauffen verworrener Pergamene etwas taugliches vor seine Bibliotheck finden könnte. Die Arbeit, aus etlich hundert von einander getrennten Blättern etwas ganzes zusammen zu bringen, war ungemein. Doch die Bücher-Liebe machte auch diese Beschwerlichkeit erträglich. Er machte zwar darüber ein ganzes Kleid fast gar unnütze, weil alles mit Staub angefüllet war; dennoch sammelte er zusammen, was er konnte, und suchte die in d­ iesem Wuste verborgene Edelgesteine auf. Nachdem dies vorbey war, gieng er mit dieser Beute als ein Triumphirender über die Barbarey erfreut nach Hause; brachte durch eine vieltägige Arbeit alles, was zertrennt war, an seinen alten Ort, und ließ die Blätter wieder zusammen heften. Er hat dadurch seinen Bücher-Schatz mit verschiedenen wichtigen Codicibus bereichert und ausgezieret. Ausser einigen alten Schriftstellern und biblischen Codicibus war darunter ein ungeheuer grosses Martyrologium im dreyzehenden oder vierzehenden Jahrhundert, auf Pergament geschrieben allerhand lebender Heiligen, Lectionaria, Homilien der Väter und einige K ­ irchen-Scribenten. Vornehmlich fanden sich dabey vortreffliche Codices von den Epistolis Hieronymi, Augustinus de civitate Dei, Gregorii Moralia in Jobum und andere, die er höher als Gold achtete. Er bekam sie in zimlich billigem Preise. Das Pergamen wurde nach dem Pfund geschätzet, doch so, daß der Werth in Ansehung der

76 Zu Schelhorn vgl. Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1323 – 1325 u. 1327 bzw. Sp. 178 – 181 u. 185. – Uffenbach / Schelhorn 1753/54 (wie Anm. 71). Das Werk wurde von Schelhorn herausgegeben. Die Lebensbeschreibung Uffenbachs findet sich in Bd. 1, S. I–CLXXXVI: Johann Georg Hermann: Leben Herrn Zacharias Conrad von Uffenbach; zugleich erschienen als: Johann Georg Hermann: Leben Herrn Zacharias Conrad von Uffenbach weyland hochverdienten Schöffens und Rathsherrn der Reichs-Stadt Frankfurt am Mayn ans Licht gestellt, Ulm 1753 (VD 18 15303217), https://nbn-resolving. de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10067619-2 [11. November 2022].

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Grösse ungleich war; das Pfund derer von der ersten Grösse kostete zween Gulden, von mittlerer Gattung einen Reichsthaler, vom kleinsten Format einen Gulden. Die alberne Grausamkeit der ehemaligen Besitzer war Ursache, daß einige von diesen Codicibus mangelhaft und verstümmelt waren.77

Die aus der Makulatur zusammengefügten Handschriften stammten aus St. Pantaleon in Köln. Schelhorn verwendete einen Brief Uffenbachs an ihn aus dem Jahr 1727. In d ­ iesem spricht Uffenbach unter anderem davon, er „habe aber auch auf unseren Messen nicht wenig Volumina ehemals aufgekauffet.“ 78 Uffenbach erwarb neben den Handschriften auch andere Bände auf den Frankfurter Messen. Nachweise gibt es ferner für die Jahre 1713, 1714, 1716, 1718 bis 1723, zuletzt 1726. Immer wieder sind Makulaturkäufe darunter. 1714 kaufte er auf der Herbstmesse eine Koranhandschrift. Ab 1720 scheinen die Zugänge der rheinischen Klöster zu versiegen.79 Auf den Messen wurden aber nicht nur Klosterhandschriften feilgeboten. Vielmehr dienten sie ebenfalls als Übergabeorte und Transportwege für die von Uffenbach andernorts in seinem Auftrag erworbenen Stücke, besonders bei Auktionen oder aus Nachlässen.80 Dies war über die Messen schneller, sicherer und günstiger möglich als auf dem Postweg.81 Ausgesprochen gern erwarb Uffenbach Bände über die Brüder Wetstein, die in Amsterdam als Buchhändler tätig waren und für ihn bei Auktionen in den Niederlanden und Belgien einkauften.82 Unter den heute noch in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg aufbewahrten Uffenbachschen Handschriften befinden sich 55 illuminierte Stücke, deren Provenienzen ebenfalls – soweit feststellbar – auf die Zugangswege Messe, Makulatur, Buchhandel, Auktionen, Privatpersonen und Klöster – davon viele aus Köln und dem rheinischen Raum – zurückgehen.83

77 Uffenbach / Schelhorn 1753/54 (wie Anm. 71), Bd. 1, S. LXXIX–LXXXII (verfasst von Johann Georg Hermann). – Zur lateinischen Fassung d ­ ieses Textes vgl. Uffenbach / Schelhorn 1753/56 (wie Anm. 28), Bd. 3, S. XI–XXIV. – Löffler 1923 (wie Anm. 70), S. 27 f. 78 Zum Brief Uffenbachs an Schelhorn vom März 1727 vgl. Uffenbach / Schelhorn 1753/54 (wie Anm. 71), Bd. 1, S. CLVII–CLXI, bes. das Zitat auf S. CLX. – Die 1704 erworbenen Handschriften befinden sich heute in der SUB Hamburg. Vgl. Löffler 1923 (wie Anm. 70), S. 28: SUB Hamburg, Cod. Theol. 1061 Fol., Cod. Theol. 5, Cod. Theol. 6, Cod. Scrin. 1c, Cod. Theol. 1047 Fol. – Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1270 bzw. Sp. 72, nennt SUB Hamburg, Cod. in scrinio 1c; in scrinio 5; in ­scrinio 6; theol. 1047, 2°. – Zu den Handschriften aus St. Pantaleon vgl. bei Anm. 90 – 93. 79 Vgl. Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1270 – 1272 bzw. Sp. 71 – 76. 80 Zum Erwerb aus Auktionen und Nachlässen vgl. Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1272 – 1274 bzw. Sp. 76 – 80. 81 Zur einfacheren Vermittlung über die Messen vgl. Garloff 2020 (wie Anm. 72), S. 342 – 345. 82 Zu den Brüdern Wetstein vgl. Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1265 u. 1271 bzw. Sp. 61 u. 73. – Garloff 2020 (wie Anm. 72), S. 350. 83 Zu diesen und ihren Provenienzen vgl. Monika E. Müller: ‚Vortrefflich nützliche Bilderbücher […]‘? Die Codices picturati des Zacharias Konrad von Uffenbach, in: Friedrich / Müller 2020 (wie Anm. 27), S. 231 – 264.

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Die in Amsterdam und Löwen gedruckten Bände, die Immanuel Weber mit dem Evangeliar an die Gießener Universitätsbibliothek schenkte, könnten für einen ähnlichen Zugangsweg sprechen.84 Dass Weber – wie Uffenbach – direkt aus Bibliotheken erwarb, ist weniger wahrscheinlich. Möglich ist hingegen, dass er die Bände wie dieser über größere Netzwerke bezog oder durch Vermittlungspersonen wie den schon erwähnten Jenenser Wanderbuchhändler Bötticher.85 In Gießen haben sich 32 bekannte Handschriften aus Uffenbachs Bibliothek erhalten. Das Kölner Evangeliar gehört nicht dazu. Ein Teil der Uffenbachschen Handschriften gelangte über Johann Heinrich May d. J. in die Bibliothek, ein weiterer Teil über Heinrich Christian von Senckenberg, der die Handschriften erst nach Uffenbachs Tod kaufte.86

III. Wie und warum aber gelangten Kölner Handschriften überhaupt in den Verkauf, so dass Uffenbach und Weber sie erwerben konnten? Wolfgang Schmitz hat 1985 eine gute und kurze Zusammenstellung verfasst, die den zeitgenössischen Zustand der Bibliotheken im Dom und den Klöstern knapp aufarbeitet, „deren Bestände freilich vielfach seit einigen Jahrhunderten zerstreut sind “.87 Allerdings gibt es kaum einschlägige Literatur, die die Geschichte der Kölner Stifter sowie Klöster ausführlicher und auch über das Mittelalter hinaus behandelt. Was im Einzelnen mit den jeweiligen Bibliotheken und was genau um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert in Köln und seinen Klöstern geschah, wird dabei häufig nicht oder nur sehr kurz thematisiert. Es scheint bis heute ein Forschungsdesiderat zu sein. Exemplarisch sei hier die Bonner Dissertation von Wilhelm Schmidt-Bleibtreu zum Stift St. Severin genannt, die 1982 erschien. Lediglich zwei Seiten – wohl der schlechten Quellenlage geschuldet – widmet er der Bibliothek des Stifts, die sehr bedeutend war. Herausragend

84 Vgl. zu diesen Bänden bei Anm. 43 u. 48 – 54. 85 Zu solchen Erwerbungswegen bei Uffenbach vgl. Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1260 – 1270 u. 1274 – 1277 bzw. Sp. 52 – 71 u. 80 – 86. – Zu Bötticher vgl. bei Anm. 74. 86 Laut Franke 1965 (wie Anm. 27), S. 1330 bzw. Sp. 191, stammen die folgenden Gießener Handschriften aus Uffenbachs Bibliothek: Hs 50, Hs 63, Hs 67, Hs 72, Hs 153, Hs 154, Hs 232, Hs 282, Hs 299, Hs 303, Hs 304, Hs 352, Hs 362, Hs 382, Hs 453, Hs 458, Hs 499/500, Hs 501, Hs 540, Hs 561, Hs 563, Hs 574, Hs 626, Hs 650, Hs 668, Hs 669, Hs 892, Hs 1000, Hs 1001, Hs 1017, Hs 1044, Hs 1053 u. Hs 1126. – Laut Bader 2007 (wie Anm. 26), S. 24 u. Anm. 1, ist diese Liste folgendermaßen zu korrigieren: „[Es] sind 50, 232 und 626 zu streichen, ferner 153 und 154 (= Briefe von Uffenbach an May); hinzuzufügen sind 16, 179 und 632 Teil II; daraus ergibt sich eine Gesamtzahl von 32.“ 87 Wolfgang Schmitz: Die mittelalterliche Bibliotheksgeschichte Kölns, in: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik in Köln, Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln, 3 Bde., hg. v. Anton Legner, Köln 1985, Bd. 2, S. 136 – 148, das Zitat auf S. 137.

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war etwa ein angelsächsisches Evangeliar, das um 1000 entstanden sein soll.88 Um 1800 befand es sich in Privatbesitz. Schmidt-Bleibtreus abschließende Bemerkung hilft etwas weiter: „Leider hat der Bestand der Bibliothek um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert eine schwere Einbuße erlitten, weil St. Severin wie die übrigen Kölner Stifter mit Ausnahme des Domes spätestens Anfang des 18. Jahrhunderts die Bibliothek zum größten Teil verkaufte.“ 89 Bislang hat einzig die Dissertation von Regina Pütz aus dem Jahr 1998 versucht, die Bibliothek eines Stiftes aufzuarbeiten – nämlich die von St. Pantaleon. Dabei war es ihr Ziel, deren Bücherbestand im Hochmittelalter zu ermitteln. Die Studie fasst knapp zusammen, dass das Stift 1803 säkularisiert und die Bibliothek danach aufgelassen wurde: „Ein großer Teil der mittelalterlichen Handschriften war jedoch schon Anfang des 18. Jahrhunderts seitens des Klosters veräußert worden, einige Bände noch weit früher, nämlich schon im 16. Jahrhundert.“ 90 Pütz verweist dabei auf die immer noch grundlegende Kölnische Bibliotheksgeschichte von Klemens Löffler (1881 – 1933), der seit 1918/19 Direktor der Universitäts- und Stadtbibliothek war. Er hat die ihm damals bekannten handschriftlichen und gedruckten Materialen 88 Vgl. Wilhelm Schmidt-Bleibtreu: Das Stift St. Severin in Köln (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 16), Siegburg 1982, S. 33 f. – Zur Geschichte des Stifts St. Gereon vgl. Johannes Christian Naterrmann: Die goldenen Heiligen. Geschichte des Stiftes St. Gereon zu Köln (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd. 22), Köln 1960; zur Bibliothek nur wenige Hinweise (S. 96, 224, 287, 343, 520 – 521 u. 553), die hier nicht weiterhelfen. – Zu St. Mariengraden in Regestenform Anna-Dorothee von den Brincken: Das Stift St. Mariengraden zu Köln (Urkunden und Akten 1959 – 1817) (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, Bd. 57 u. 58), 2 Bde., Köln 1969. Ausführungen zur Bibliothek und deren Geschichte finden sich nicht; S. 403 – 423, sind „Bestände in auswärtigen Archiven und Bibliotheken“ außer in Köln aufgeführt, darunter (S. 414) eine Hamburger Handschrift (SUB Hamburg, Cod. 3. in scrin.), die ebenfalls von Uffenbach vor 1720 erworben wurde. – Zu St. Kunibert vgl. Peter Kürten: Das Stift St. Kunibert in Köln (Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur, Bd. 10 u. 17), 2 Bde., Köln 1985 u. 1990, der keine Angaben zur Bibliothek macht. – Zur Bibliothek des Klosters Maria zum Weiher vor Köln vgl. Irene Gückel: Das Kloster Maria zum Weiher vor Köln und sein Fortleben in St. Cäcilien bis zur Sekularisation, Diss. Köln 1992 (Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur, Bd. 19), Köln 1993, S. 333 – 335. Zu dieser und zu ihren Bänden ist gar nichts bekannt und kein Katalog vorhanden. Einige Bände sind in die ­Landes- und Hochschulbibliothek nach Darmstadt gelangt. „Ein Ordinarium von 1488 befindet sich heute in der SUB Hamburg. Es gelangte vermutlich über den Frankfurter Sammler Zacharias Konrad von Uffenbach, der Anfang des 18. Jhs. Handschriften aus ehemals kirchlichem Besitz rheinischer Klöster erworben hatte, als Schenkung an diese Bibliothek.“ (S. 334 und Anm. 8: „Vgl. Hamburg, UB , Cod. 94 in Scrin.“). – Zu St. Aposteln vgl. Wolfgang Rosen: Die Ökonomie des Kölner Stifts St. Aposteln. Strukturen und Entwicklungen vom Mittelalter bis 1802 (Rheinisches Archiv. Veröffentlichungen des Instituts für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn, Bd. 158), Köln 2016, der die Entwicklung bis 1802 in Form einer ausführlichen Güterliste behandelt, jedoch nicht auf die Bibliothek eingeht. 89 Schmidt-Bleibtreu 1982 (wie Anm. 88), S. 34. 90 Regina Pütz: Die Bibliothek des Klosters St. Pantaleon in Köln bis zum 13. Jahrhundert. Studien zum geistigen Leben, Diss. Bonn 1998, S. 1 f., zu Uffenbach auch S. 52 – 54.

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ausgewertet.91 Bei ihm finden sich noch genauere Ausführungen zu St. Pantaleon: „Der damalige Abt von St. Pantaleon, Konrad Kochen (1687 – 1717), hatte nach der Klosterchronik und dem Rechnungsbuche [im Historischen Archiv der Stadt Köln] große Umbauten vorgenommen und kostbare und teure Paramente beschafft. Er wird dadurch in finanzielle Schwierig­keiten geraten sein, und, da er und seine Mönche die alten Handschriften nicht zu schätzen wußten, aus ihrer Verschleuderung einigen Gewinn zu ziehen gesucht haben.“ 92 Löffler bietet weitere Details: „Am wenigstens wissen wir von den Bibliotheken der Stifter (St. Gereon, St. Severin, St. Kunibert, Mariengraden, St. Andreas, St. Aposteln usw.). Von mehreren Stiftern, nämlich Mariengraden, St. Severin, St. Aposteln erfahren wir, daß sie gegen Ende des 17. und zu Anfang des 18. Jahrhunderts ihre Bibliotheken verschleudert haben; vielleicht sind noch andere d­ iesem Beispiel gefolgt. Unter den Klöstern haben wohl die beiden alten Benediktinerklöster Groß-St. Martin und St. Pantaleon im Mittelalter die bedeutendsten Bibliotheken besessen.“ 93 „Die Zeit des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts ist überhaupt die Periode, in der die Kölner Bibliotheken ihrer größten Schätze teils durch Kriege und Nöte, teils durch Verkäufe, teils durch friedliche Besucher und Benutzer verlustig gingen. Nach den noch zu erwähnenden Vorlesungen von Hillesheim [der Kölner Rechtsprofessor und Domkapitular Franz Karl Joseph von Hillesheim (1731 – 1803)] ‚vergoldeten‘ damals die Stifter ihre Bibliotheken, und von den Klöstern folgten einige ihrem Beispiel. Mariengraden soll die seinigen an Portugiesen verhandelt, St. Severin seine ‚schöne und kostbare‘ Sammlung von Handschriften für den Spottpreis von ungefähr 70 Pistolen verschleudert haben. Von St. Aposteln läßt sich quellenmäßig nachweisen, daß das Stift 1692 seine Bibliothek für 195 Reichstaler verkaufte.“ 94 Der erwähnte Franz Karl Joseph Hillesheim berichtet über die Zeit der 1790er Jahre in Köln in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Stadt und behandelt dabei auch ausführlich die Bibliotheken und deren noch erhaltene Bestände. Mitschriften davon liegen überwiegend als handschriftliche Aufzeichnungen vor. Löffler bietet eine ausführliche Zusammenfassung der relevanten Passagen mit Quellennachweisen, die sicher für die heutige Provenienzforschung immer noch sehr hilfreich sind.95 91 Vgl. Pütz 1998 (wie Anm. 90), S. 7 – 9. – Löffler 1923 (wie Anm. 70). – Klemens Löffler: Das Erbe der Stifts- und Klosterbibliotheken in den öffentlichen Bibliotheken Deutschlands, in: Sankt Wiborada. Bibliophiles Jahrbuch für katholisches Geistesleben 1 (1933), S. 55 – 92, zu Köln hier S. 72 f., zum Gießener Evangeliar Hs 660 S. 77, es kann jedoch keiner Herkunftsbibliothek zugordnet werden. – Zu Löffler vgl. Severin Corsten: Die ersten Jahre. Die Universitäts- und Stadtbibliothek Köln unter Klemens Löffler, in: Bücher für die Wissenschaft. Bibliotheken ­zwischen Tradition und Fortschritt. Festschrift für Günter Gattermann zum 65. Geburtstag, München 1994, S. 159 – 177. 92 Löffler 1923 (wie Anm. 70), S. 6, 28 f., mit weiteren Belegen, das Zitat auf S. 28. 93 Löffler 1923 (wie Anm. 70), S. 5. 94 Löffler 1923 (wie Anm. 70), S. 26 f., mit Beleg. Zu den Pistolen S. 36. 95 Zu Hillesheims Darstellungen, die auf handschriftlichen Aufzeichnungen im Historischen Archiv der Stadt Köln beruhen, vgl. Löffler 1923 (wie Anm. 70), S. 34 – 39, insb. S. 34 Anm. 8, zu Hillesheim S. 27 u. 30 f. – Zu Hillesheim vgl. Herbert Frost: Kirchenrechtslehre und Kirchenpolitik in Köln z­ wischen

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Auch die 2010 und 2017 erschienenen Bände zur Geschichte der Stadt Köln machen wenigstens skizzenhaft deutlich, dass die kirchlichen Einrichtungen in Köln im späten 17. Jahrhundert verschuldet waren.96 Geld fehlte in der Stadt auch aufgrund der Kriege der Zeit. Diese Eindrücke sollen an dieser Stelle genügen. Sie zeigen, wie komplex die Kölner Lage war und wie schwierig es sein wird, hier für weitere Bestände eindeutige Ergebnisse zu gewinnen. Es ist also gut möglich, dass sich das Evangeliar Hs 660 noch bis um 1700 in einer Kölner Bibliothek befunden haben dürfte und dann verkauft wurde. Zusammenfassend gelangte das in Köln geschriebene Gießener Evangeliar im Jahr 1717 als Schenkung des Gießener Professors Immanuel Weber in die Gießener Universitäts­ bibliothek, der dort bis zum Jahr 1715 als Bibliothekar gewirkt hatte. Der spätere Bibliothekar und Professor Christoph Friedrich Ayrmann stellte es dann nach dem Jahr 1735 (seinem eigenen Amtsantritt als Universitätsbibliothekar) aus der Universitätsbibliothek zu den Handschriften der zunächst noch separat aufgestellten Bibliothek des Johann Heinrich May d. J. um, deren Bibliothekar er schon seit 1732 war. Erst unter Johann Valentin Adrian wurden dann im Jahr 1840 alle Gießener Handschriften und damit auch das Evangeliar in einem gemeinsamen Gießener Handschriftenkatalog mit einheitlichen Signaturen verzeichnet, die bis heute ihre Gültigkeit behalten haben. Immanuel Weber hatte das Evangeliar vermutlich einige Jahre vor 1717 auf einer Frankfurter Messe oder bei einer Auktion in Belgien oder den Niederlanden erworben, vielleicht mit weiteren dort erschienenen Drucken des 17. Jahrhunderts. Ebenso kann dies über andere Netzwerke oder etwa den Jenenser Wanderbuchhändler Andreas Friedrich Bötticher geschehen sein, den er kannte. Weber dürfte sich also ganz ähnlicher Erwerbungswege bedient haben wie der bekannte Frankfurter Büchersammler Zacharias Konrad von Uffenbach, mit dem er in Kontakt stand. Denn genau in ­diesem Zeitraum verkauften die manches Mal verschuldeten Kölner Klöster und Stifte sowie auch die des Rheinlandes rundum ganz bewusst Bücher aus ihren Bibliotheken, um so an Geld zu gelangen. Währenddessen dürfte das Evangeliar auch seinen ursprünglichen Einband verloren haben. Was jedoch im Detail um 1700 mit der Handschrift geschah, bevor sie nach Gießen gelangte, und wo sie in den Jahrhunderten ­zwischen ihrer Entstehung im späten 10. Jahrhundert und dem 18. Jahrhundert aufbewahrt wurde, wird sich vermutlich nie mehr ganz sicher klären lassen.

Aufklärung und Traditionalismus. Franz Carl Joseph von Hillesheim (1731 – 1803), in: Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, Köln 1988, S. 31 – 52. 96 Hans-Wolfgang Bergerhausen: Köln in einem eisernen Zeitalter 1610 – 1686 (Geschichte der Stadt Köln, Bd. 6), Köln 2010, S. 199 – 202, ohne dabei auf die Konsequenzen für die Klosterbibliotheken einzugehen. – Gerd Schwerhoff: Köln im Ancien Régime 1686 – 1794 (Geschichte der Stadt Köln, Bd. 7), Köln 2017, S. 68 – 88, wo „Köln im Pfälzischen Krieg“ und der „Spanischen Erbfolgekrieg“ behandelt werden.

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Exkurs: Hs 693 – eine weitere Kölner Handschrift in Gießen Abschließend sei hier noch eine weitere Handschrift erwähnt, deren Weg in dieser Zeit von Köln nach Gießen über mehrere Stationen führte. Es handelt sich um Hs 693, eine Sammelhandschrift vom Niederrhein aus der Mitte des 14. Jahrhunderts mit mehreren kürzeren lateinischen und deutschsprachigen Texten, wie etwa von Meister Eckhart.97 Sie stammt aus der Kölner Kartause St. Barbara. Von dort kam sie gemäß zweier Einträge im Band wahrscheinlich an Erik Benzel den Älteren (1632 – 1709), Professor für Theologie an der Universität Uppsala, seit 1687 Bischof von Strängnäs und seit 1700 Erzbischof von Uppsala. Noch vor dessen Tod muss die Handschrift in die Bibliothek des Juristen Johann Schilter (1632 – 1705) gelangt sein, der aus dem Leipziger Raum stammte und seit 1686 in Straßburg wirkte. Beim späteren Verkauf dieser Bibliothek aus dem Nachlass eines seiner Schüler erwarb sie Heinrich Christian von Senckenberg (1705 – 1768). Über dessen Sohn Renatus Karl (1751 – 1800) kam sie testamentarisch an die Universität Gießen und damit in die Universitätsbibliothek.98

97 UB Gießen, Hs 693: De meditatione passionis Christi – Jacobus Mediolanensis – Meister Eckhart, I, 82, I Blätter, Pergament, 13 × 10 cm, Niederrhein Mitte 14. Jahrhundert, https://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:hebis:26-digisam-125558 [11. November 2022]. – Vgl. Ulrich Seelbach: Hs 693, Gießen, Preprint 2005/2007, in: Ulrich Seelbach: Katalog der deutschsprachigen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Gießen, Gießen, Stand 2007, https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:26opus-49284 [11. November 2022], sowie den Eintrag in der Datenbank des Handschriftencensus: Handschriftenbeschreibung 18736, https://handschriftencensus.de/18736 [11. November 2022]. 98 Zur Kölner Provenienz aus St. Barbara vgl. Löffler 1923 (wie Anm. 70), S. 71. – Zu den Provenienzen vgl. ferner Seelbach 2005/2007 (wie Anm. 97). – In Gießen befindet sich eine große Zahl von Handschriften aus Schilters Bibliothek. – Zu Schilter, seiner Bibliothek, der Versteigerung seiner Handschriften aus dem Nachlass seines Schülers, des 1755 verstorbenen Johann Christian Simon, beim Lindauer Buchhändler Jacob Otto sowie deren Kauf durch Heinrich Christian von Senckenberg vgl. Kai H. Schwahn: Geschichte, Recht und Philologie. Johann Schilter (1632 – 1705) als Editor volkssprachiger Texte des Mittelalters, Diss. Hamburg 2022.

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Klaus Gereon Beuckers

Das Gießener Evangeliar und die ‚Malerische Gruppe‘ der Kölner Buchmalerei

Als Arthur Haseloff für die von Paul Clemen kuratierte Kunsthistorische Ausstellung 1904 in Düsseldorf bei der Zusammenstellung mittelalterlicher Handschriften erstmals die Codices einer „Ottonischen Periode. Kölner Schule“ im Bild versammelte, da zeigte er von dem Gießener Evangeliar (Universitätsbibliothek Gießen, Hs. 660) nur ein Foto.1 Der Düsseldorfer Zusammenstellung lag die 1882 von Karl Lamprecht publizierte Liste von insgesamt 241 mittel- und niederrheinischen Handschriften bis in das 14. Jahrhundert zugrunde, in der das Gießener Evangeliar noch gefehlt hatte.2 Der Codex trat dann mit der von Paul Clemen betreuten, durch Haseloff beratenen, 1922 veröffentlichten Dissertation von Heinrich Ehl in die Diskussion, wo ihm ein Kurzkapitel gewidmet ist.3 Ehls Fazit war: „Das Gießener Evangeliar erhält eine erhöhte Bedeutung dadurch, daß es die Entwicklung vom Gereonsevangeliar [Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7010, Nr. 312] zum Hitdacodex vermittelt und dadurch die Möglichkeit bildet, diesen endgültig mit der Kölner Schule zu verbinden.“ 4 Ehl unterschied fünf mehr oder weniger aufeinander folgende Kölner Stile,5 wobei er den Gießener Codex dem ‚Malerischen Hauptstil‘ zuordnete. Dies übernahmen Peter Bloch und Hermann Schnitzler, als sie in den 1960er Jahren 1 Arthur Haseloff: Photographien rheinländischer Buchmalereien des IX. bis XIV. Jh., in: Kunsthistorische Ausstellung Düsseldorf 1904. Katalog, 2. Auflage ausgegeben im August 1904, Düsseldorf 1904, S. 201 – 206, Nr. 641. – Vgl. dazu auch Klaus Gereon Beuckers: Geschichte, Forschungsstand und Forschungsproblematik des Gerresheimer Evangeliars, in: Das Gerresheimer Evangeliar. Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Beate Johlen-Budnik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 1), Köln 2016, S. 13 – 64, hier S. 17 f. Dort auch ein umfangreicher Forschungsüberblick zur Kölner Buchmalerei des 10./11. Jahrhunderts. – Zu Haseloff vgl. auch Arthur Haseloff als Erforscher mittelalterlicher Buchmalerei, hg. v. Ulrich Kuder und Hans-Walter Stork (Zeit + Geschichte, Bd. 15), Kiel 2014, S. 17 – 22. 2 Karl Lamprecht: Kunstgeschichtlich wichtige Handschriften des Mittel- und Niederrheins, in: Bonner Jahrbücher des Vereins von Altertumsfreunden im Rheinland 74 (1882), S. 130 – 146. – Ebenso fehlt der Codex in Karl Lamprecht: Initial-Ornamentik des VII. bis XIII. Jahrhundert, Leipzig 1882. 3 Heinrich Ehl: Die ottonische Kölner Buchmalerei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der frühmittelalterlichen Kunst in Westdeutschland (Forschungen zur Kunstgeschichte Westeuropas, Bd. 4), Bonn 1922, S. 105 – 108. 4 Ehl 1922 (wie Anm. 3), S. 108. 5 ‚Schulgründung‘, ‚Malerischer Hauptstil‘, ‚Malerischer Mischstil‘, ‚Dekorativer Stil‘ und ‚Frühromanischer Stil‘.

Das Gießener Evangeliar und die ‚Malerische Gruppe‘ der Kölner Buchmalerei | 47

am Schnütgen-Museum ihr zweibändiges Corpuswerk für die Kölner Handschriften des 10./11. Jahrhunderts erarbeiteten, wo die Handschrift als Nr.  VI in der in ‚Malerische Gruppe‘ umbenannten Zusammenstellung den Abschluss nach dem Hitda-Codex bildete.6 Bis heute ist diese Untersuchung zum Gießener Evangeliar die ausführlichste Würdigung, auch wenn seitdem die Handschrift auf der Kölner Ausstellung Vor dem Jahr 1000 gezeigt und dort durch Anton von Euw beschrieben wurde, Christoph Winterer die Stellung des Gießener Evangeliars als Übergang zum Hitda-Codex kurz angesprochen und Ursula Prinz seine Rahmenornamentik untersucht haben.7

Die Handschrift und ihr Aufbau Das Evangeliar in Gießen umfasst 250 einspaltig beschriebene Pergamentblätter von etwa 16,6 × 21,2 cm Größe. Die gesamte Handschrift ist überwiegend in gleichmäßigen Quaternionen angelegt (Abb. 7), wobei sie ohne Schutzblätter sofort mit einer Doppelseite fol. 1v/2r aus Maiestas Domini und zugehöriger Titelseite beginnt, sich daran ohne Leerseiten auf der Doppelseite fol. 2v/3r ein Hieronymusbild mit zugehöriger Titelseite anschließt, hinter der wiederum sofort die Kanontafeln ab fol. 3v beginnen. Das folgende Doppelblatt, welches das innere Blatt der ersten Quaternione bildete, mit den Kanontafeln II bis V ist verloren; fol. 4r zeigt deshalb die sechste Kanontafel des zwölfteiligen Zyklus, der bis fol. 7r durchläuft. Mit fol. 7 beginnt die zweite Lage, so dass eine gleichmäßige Anlage d ­ ieses Beginns des Evangeliars erkennbar ist. Sofort schließen sich das Argumentum zum Matthäus-Evangelium auf fol. 7v und das Breviarium als Kapitelverzeichnis ab fol. 8r (mitten auf der Seite) an. Das Explicit zum Breviarium wird als Textzierseite auf fol. 10v dem Evangelistenbild auf fol. 11r erneut als Doppelseite gegenübergestellt, bevor die nächste Doppelseite wiederum in Zierrahmen das Incipit zum Evangelium und den Evangelienbeginn Liber Generationis zeigt (fol. 11v/12r). Zierleisten umgeben dann den Evangelientext auf der folgenden Doppel­ seite (fol. 12v/13r), ehe der Text unverziert weiterläuft. 6 Peter Bloch / Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, 2 Bde., Düsseldorf 1967/70, insb. Bd. 1, S. 54 – 59 mit Abb. 172 – 199 und Farbtafeln XI (Hieronymus) u. XII (Kreuzigung). 7 Vor dem Jahr 1000. Abendländische Buchkunst zur Zeit der Kaiserin Theophanu, Ausst. Kat. Schnütgen-­ Museum Köln, hg. v. Anton von Euw, Köln 1991, Kat. Nr. 3, S. 34 (Anton von Euw). – Christoph Winterer: Das Evangeliar der Äbtissin Hitda. Eine ottonische Prachthandschrift aus Köln. M ­ iniaturen, Bilder und Zierseiten aus der Handschrift 1640 der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Darmstadt 2010, S. 27 f. – Ursula Prinz: Die Ornamentik der ottonischen Kölner Buchmalerei. Studien zur Rahmenornamentik (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen ­Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 71), Köln 2018, insb. S. 65 – 67. – Vgl. auch Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike zum Mittelalter, Ausst. Kat. Kulturhistorisches Museum Magdeburg, hg. v. Matthias Puhle u. Gabriele Köster, Regensburg 2012, Kat. Nr. V.60, S. 662 – 664 (Thomas Labusiak).

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Abb. 7: Lagenschema

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Im Prinzip wiederholt sich dieser Aufbau vor jedem Evangelium: Das Matthäusevangelium endet auf fol. 73v und geht mitten auf der Seite ohne Unterbrechung in die Praefatio zum Markus-Evangelium über, an das sich in gleicher Weise auf fol. 74v das Breviarium anschließt, das auf fol. 76v endet. Auf der gegenüberliegende recto-Seite fol. 77r schließt eine Leerseite an, bevor das Explicit wieder als Doppelseite mit dem Evangelistenbild aufgebaut ist (fol. 77v/78r), die beiden Zierseiten mit Explicit und Evangelienanfang folgen (fol. 78v/79r) und danach der einfache Text beginnt. Die Leerseite dürfte sich vor allem aus dem stringent durchgehaltenen Konzept der Doppelseiten bei den Evangelisten ergeben, andererseits endet mit fol. 76 die vorhergehende Lage und beginnt mit fol. 77 neu. Das Evangelium schließt unten auf fol. 115r, das Explicit folgt dann auf der nächsten Seite fol. 115v mitten in der Lage und ebenso folgt auf fol. 116v bis 122r das Capitulum. Auf der verso-Seite ist dann als Zierseite das Explicit angeordnet. Auch wenn mit dem Evangelisten Lukas auf fol. 123r eine neue Lage beginnt, so belegt das stringente Konzept der Doppelseiten hier eine fortlaufende Anlage ohne Unterbrechung. Auch hier gibt es die folgende Doppelseite mit Incipit und Evangelienanfang Qvoniam qvidem (fol. 123r/124v). Auf fol. 185r endet das Evangelium mit einem in Gold und in Capitalis geschriebenen Explicit, dem sich in gleicher Weise das Incipit für das Johannes-Argumentum anschließt. Ebenso besonders ausgezeichnet folgt auf fol. 186v das Explicit zum Argumentum und dann der Beginn des Breviariums, das unten auf fol. 187v endet. Hatte man beim Markus-Evangelium an dieser Stelle die rechte Seite frei gelassen, um geregelt mit der Doppelseite des Evangelisten beginnen zu können, so wird hier eine ganzseitige Kreuzigung eingeschoben, und danach sind die beiden Doppelseiten im bisherigen Schema angehängt. Bemerkenswert ist diese Hinzufügung, weil das Blatt fol. 188 mit Kreuzigung und Explicit ein Einzelblatt ist. Es wurde anstelle des an fol. 186 anschließenden Blattes eingesetzt, das man abgeschnitten hatte. Insgesamt bleibt so das Quaternion erhalten und auch das Schema gewahrt, aber die Gesamtlage ist durch die zwei eingebundenen Einzelblätter vervollständigt. Da jedoch sowohl der Schreiber auf fol. 186 als auch auf fol. 188v die ­gleiche Hand wie die anschließenden Seiten ist, dürfte es sich kaum um eine spätere Veränderung handeln. Ehl vermutete den Ersatz für eine misslungene Kreuzigungsdarstellung, deren Anordnung er als frankosächsisches Erbe las.8 Auf der Rückseite der Kreuzigung findet sich erneut ein Explicit für das Breviarium, die dem System der anderen Zierseiten zu den Evangelienanfängen entspricht, aber hier nur vier Zeilen und zudem eine relativ einfache Gestaltung aufweist (fol. 188v). Die anspruchsvollere Anlage der Explicit-Zierseiten auf fol. 77v und 122v, besonders der Zierstreifen von fol. 10v, belegt die nachträgliche Einfügung des Blattes durch eine andere, schwächere Hand. Ein starker Bruch ist auch gegenüber den folgenden Zierseiten zu erkennen, die eher reich an Gestaltung sind und mit der Zierseite zum Evangelienbeginn durch das dort dargestellte Lamm 8

Ehl 1922 (wie Anm. 3), S. 107 u. 108.

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(fol. 190r) einen besonderen Höhepunkt der Handschrift darstellen. Das Johannes-Evangelium endet ohne Explicit, obwohl dafür auf fol. 236v durchaus noch sieben Zeilen Platz gewesen wäre. Die Lage ist mit dem Evangelium vollständig ausgefüllt; das Capitulare beginnt mit fol. 237r auf einer neuen Lage. Insgesamt ist der Aufbau des Evangeliars sehr systematisch und zeugt von einer einheitlichen Planung, auch wenn die durchgängige Aufwertung des Explicit als Textzierseite und Gegenüber der Evangelisten sehr ungewöhnlich ist.9 Die durchgängige Verwendung von Quaternionen, die nur bei der Kreuzigung marginal gestört ist, belegt einen routinierten Produktionsprozess. Auffällig ist das Fehlen der Vorreden, obwohl mit Hieronymus das Autorenbild dafür vorhanden ist. Es ist gut denkbar, dass vor dem heutigen Beginn mit der Maiestas-Doppelseite ursprünglich eine Lage vorgeschaltet war, die spätestens bei der Bindung im heutigen Einband aus dem 18. Jahrhundert verloren gegangen sein mag. Hierfür spricht auch der Beginn der Handschrift direkt mit Bildseiten ohne Schutzblätter. Allerdings gibt es immer wieder Evangeliare, die auf die Vorreden verzichten, wie beispielsweise das allerdings in seinen ersten Lagen gestörte Kölner Evangeliar aus St. Aposteln in New York (Morgan Library M Ms. 651). Der im Format mit Gießen etwa gleichgroße Mailänder Codex (Biblioteca Ambrosiana, C. 53 Sup.) hat zwei Vorreden, die dort ­zwischen fol. 4r und 9r, also auf sechs Blättern angeordnet sind. Im Hitda-Codex (Landes- und Hochschul­ bibliothek Darmstadt, Cod. 1640) finden sich sogar drei Vorreden auf fol. 1r bis 4v bevor die Handschrift durch Doppelseiten mit dem Widmungsbild (fol. 5v/6r), der Maiestas Domini (fol. 6v/7r) und Hieronymus (fol. 7v/8r) beginnt. Die drei Vorreden des Kölner Evangeliars 312 (Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7010, Nr. 312) schließen nach drei Leerblättern von fol. 4r bis 9r an, wobei hier noch auf der gleichen Seite das Argumentum für Matthäus beginnt und die Maiestas mit ihrem Titulus erst auf der Doppelseite fol. 12v/13r folgt. Aufgrund der sehr systematischen Verwendung von Quaternionen dürfte auch die Gießener Handschrift ursprünglich drei Vorreden besessen oder vorgesehen haben, die vermutlich wie in Mailand auf sechs Blättern sowie zwei Schmutzblättern angeordnet gewesen sind. So einheitlich die Gesamtanlage auch ist, so gibt es dennoch deutliche Unterschiede in den beteiligten Händen. Auffällig ist die breitere Anlage der ersten Zierseiten, die ausgehend von der Maiestas mit zughöriger Zierseite (fol. 1v/2r), dem Hieronymusbild mit zugehöriger Zierseite (fol. 2v/3r), die Kanontafeln (fol. 3v–7r), die Explicit-Zierseite zum Breviarium mit gegenüberliegender Evangelistendarstellung von Matthäus (fol. 10v/11r), der Incipit-Zierseite zum Evangelium und der Evangelienzierseite (fol. 11v/12r) bis zur ersten, noch umrahmten Zierseite (fol. 12v) ein breiteres Format von etwa 13,5 cm aufweist. Ab der zweiten Evangelienseite fol. 13r, die ebenfalls noch umrahmt wurde (wenn auch in einem für die restliche Handschrift eher ungewöhnlichen Dekor), wechselt die Seitenanlage auf ein schmaleres Format von etwa 11,5 cm, das dann für die gesamte Handschrift beibehalten wird. Da die 9 Vgl. Kat. Köln 1991 (wie Anm. 7), S. 36.

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zweite Lage nur ein Ternion ist, befindet sich dieser Wechsel vor einer neuen Lage. Der Schreiber füllte die untere Zeile von fol. 12v nicht ganz und fol. 13r setzt mit Mt 1,7 sowie einer etwas dunkleren Tinte neu an. Da es sich jedoch offenbar um den gleichen Schreiber handelt, dürfte es sich um keine längere Unterbrechung ­zwischen den beiden Lagen handeln. Die bildlichen Darstellungen weisen verschiedene Hände auf. Schließen sich die Maiestas, Hieronymus und Matthäus zu einer Gruppe zusammen, so unterscheiden sich Markus und Lukas hiervon nicht nur in der Hintergrundgestaltung, während Johannes der MatthäusGruppe nahesteht. Diese Gruppenbildung lässt sich auch anhand der Explicit-Zierseiten nachvollziehen, die bei Markus und Lukas (fol. 77v und 122v) besonders ähnlich sind. Trotz Varianten und auch unterschiedlichen Gestaltungsideen schließen sich sowohl die Zier- als auch die Bildseiten aller vier Evangelien stilistisch zusammen. Es sollte deshalb nicht von einer mehrphasigen Entstehung, sondern von einer arbeitsteiligen Produktion mit mehreren verschiedenen Händen ausgegangen werden.

Die Evangelistenbilder Der Evangelist Matthäus (fol. 11r) thront leicht aus der Mittelachse des Bildfeldes nach rechts verschoben in frontaler Anordnung. Ein von seiner Linken gehaltenes Schriftband, das den Beginn des Matthäus-Evangeliums enthält, schlängelt sich vom rechten Bildrand (wo das Schreibpult angeordnet ist) zunehmend dünner werdend bis auf seine rechte Köperseite, wo es entlang des Schienbeins auf den Boden heruntergleitet und unbestimmt ausläuft. ­Matthäus hat die Schreibfeder vor seiner Brust erhoben und blickt mit leicht geneigtem Haupt nach links in Richtung der Buchbindung. Er trägt ein blaugraues, mit Clavi ausgezeichnetes Untergewand mit einem roten Mantel; farblich dominant ist jedoch der goldgelbe Thron mit dem ebenso gestalteten Spruchband, weitere Akzente setzen die grüne Oberfläche des Suppedaneums und der große, goldene Nimbus. Die Falten werden aus parallel angeordneten Linien gebildet. Besonders markant ist die trichterförmige Disposition am unteren Ende des Spruchbandes. Der Streifengrund ist fast auf der Mittelhöhe zweigeteilt, wobei der untere Teil aus in zwei unterschiedlich dunklen rotvioletten Farbtönen marmorartig geädert mit weißen Schichtungen besteht, der obere Bereich jedoch fast schwarz in tiefem Blaugrün mit etwas ruhigerer, aber dennoch erkennbarer Äderung angelegt ist. Der Rahmen wird ebenfalls von zwei Rottönen, die hier aber braunrot ausgemischt sind, mit weißen Akzenten gebildet, die in fast gestisch anmutender Weise nebeneinander gesetzt sind. Goldene Doppelbänder bilden in regelmäßigen Abständen zeichnerische Quermotive aus. Diese zweiteilige Hintergrundgestaltung ist bei den Evangelisten Markus und Lukas zugunsten einer farbigeren Anlage aus drei Farbzonen aufgegeben. Hinter Markus zieht sich die grauschwarze Zone bis zur Mitte hinauf, während die obere Hälfte in eine breitere rote Zone und dann den gelben oberen Abschluss ausgefüllt ist (fol. 78r). Diese deutlich stärkere

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Lichthaltigkeit und Farbigkeit gibt der Seite ein freundlicheres Erscheinungsbild, was bei Lukas noch gesteigert wird, da hier die drei in denselben Farben wie bei Markus gebildeten Zonen gleich breit sind und damit die dunklen Bereiche noch weniger Fläche füllen (fol. 123r). Zudem wird die Reihenfolge umgedreht und mit Gelb unten, Rot in der Mitte und Schwarz oben die Idee eines dunkleren Fundamentes mit lichterem Überbau zu einer freien Farbgestaltung umgewandelt. Der große goldene Nimbus des Evangelisten tritt vor dem dunklen Hintergrund deutlich stärker hervor. Dies nimmt das Johannesbild auf, das eine Klammer mit Matthäus sucht, indem die dortigen violetten Töne erneut gewählt wurden (fol. 189r). Sie sind in zwei Steifen in der Mitte eingesetzt, so dass sich hier vier Zonen ergeben. Die Durchgestaltung der Hintergründe zeigt ein verbindendes Konzept, wobei man geneigt ist, eine Entwicklung von Matthäus über Markus und Lukas zu Johannes erkennen zu wollen. In der Figurenzeichnung gibt es durchaus Unterschiede, die auf verschiedene Hände hinweisen. So sind bei Matthäus im Gesicht die tendenziell unmodulierten Flächen durch einen roten Parallelstrich gerahmt, der wie die Anlage eher linear gestaltet ist, was im Vergleich bei den schmalen Brauen auffällt. Bei Markus und Johannes werden die Flächen deutlich stärker moduliert, die rote Flächenrahmung ist nur partiell ausgebildet, die Brauen sind deutlich breiter, bei Johannes sogar durch einen schwarzen und einen roten Strich gebildet. Dies scheint eine andere Hand zu sein, die sich jedoch des gleichen Vokabulars bedient. Anders ist hingegen Lukas, dessen (bartloses) Gesicht ohne rote Konturierung auskommt, die nur bei den Stirnfalten angedeutet wird. Stattdessen ist seine Wange zur Kieferlinie hin durch einen lasierenden Farbauftrag in der Fläche schattiert, was bei den anderen Evangelisten nicht zu finden ist. Markus und Johannes, die beide Bücher halten während die anderen beiden mit Schriftbändern ausgestattet sind, schließen sich auch in dem Motiv von enggeführten Schlaufen in den Gewändern zusammen; die Schlaufe ist bei Lukas größer angelegt, bei Matthäus fehlen s­ olche Formen ganz. Dennoch gilt auch hier: Bei allen motivischen Unterschieden und einer gewissen stilistischen Breite in der unterschiedlichen Linienführung zur Akzentuierung der Gewandanlage, die auf verschiedene beteiligte Hände schließen lassen, ist das Gesamtbild einheitlich und eine gemeinsame Entstehung sicher. Die verschiedenen beteiligten Kräfte weisen auf einen arbeitsteiligen Prozess hin, der durch eine gemeinsame Werkstattbindung allen individuellen Vorlieben zum Trotz eine gemeinsame Formensprache hervorgebracht hat. Die Evangelistentypen, die in Gießen (wie überhaupt in den Kölner Handschriften des 10./11. Jahrhunderts) durchgängig auf Evangelistensymbole verzichten, entsprechen weitgehend denen der anderen Evangeliare der ‚Malerischen Gruppe‘.10 Insbesondere bestehen zum Kölner Evangeliar 312 im Historischen Archiv der Stadt Köln 11 und dem Mailänder 10 Zu den zughörigen Handschriften und ihren Datierungen vgl. die Ausführungen weiter unten. 11 Zum Evangeliar 312 vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 25 – 31 mit den Abb. 9 – 41. – Kat. Magdeburg 2012 (wie Anm. 7), Kat. Nr. V.58, S. 660 f. (Thomas Labusiak). – Prinz 2018 (wie

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Abb. 8: Evangelisten: Mailänder Evangeliar, Biblioteca Ambrosiana Mailand, C 53 sup., fol. 19r, 78r, 118r u. 186r. – Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 11r, 78r, 123r u. 189r. – Hitda-Codex, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640, fol. 24r, 78r, 118r u. 172r. – Kölner Evangeliar, Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7010, Nr. 312, fol. 21r, 73r, 110r u. 160r.

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Evangeliar 12 Gemeinsamkeiten (Abb. 8). War in Mailand der Evangelist Johannes noch eine Variante des nach rechts gewandten Typus, der dort auch für Markus gewählt worden ist, so verbindet der Typus des die erhobene Feder prüfenden, zurückgewandten Schreibers bei Johannes Gießen mit dem Kölner Evangeliar 312 und auch dem Evangeliar in Namur (Priesterseminar, M. 43 (13)).13 Im Hitda-Codex aus Meschede 14 fehlt dieser Typus und Matthäus sowie Johanes werden analog mit dem nach rechts gewandten Evangelisten, der vom Schreiben aufblickt und dabei die Feder vor der Brust hält, ersetzt. Dieser Typus war in Mailand für Markus gewählt worden, gehörte also ebenfalls zum Kölner Repertoire. Insgesamt mutet der Matthäus in Köln 312 wie eine durch Spruchband erweiterte Darstellung des Mailänder Matthäus an, der jetzt monumentalisiert und statischer geworden erscheint. Der Gießener Markus vollzieht diese Monumentalisierung des deutlich schmaleren Mailänder Markus bereits selbst und prägt damit den Markus des Hitda-Codex vor, der nur seitenverkehrt gebildet wird. Im Kölner Evangeliar 312 ist Markus in analogem Typus, aber eher in vergrößerter Form Mailand verwandt. Der Gießener Lukas ist in der Gesamtanlage eine Verknüpfung des Mailänder Lukas mit dem Mailänder Matthäus, wobei er ein Spruchband erhält, das die ganze Komposition dominiert. Im Kopftypus folgt er der bartlosen Gestaltung aller Lukas-Evangelisten der ‚Malerischen Gruppe‘. Verräterisch ist die Schlaufe über seinem linken Knie, die wenig mit der Lukas-Darstellung im Hitda-Codex zu tun hat, aber aus dem Überwurf beim Mailänder Lukas entwickelt sein kann. Da Lukas in Gießen aber nach links blickt, merkt man hier die Vorbilder des Matthäus-Typus aus Mailand und Gießen selbst nachwirkend. Der Hitda-Codex variiert die Handhaltung, die ein Eintunken in das Tintenfass links einführt, das auch bei Köln 312 gewählt wurde. Bereits Bloch / Schnitzler, aber dem folgend dann vor allem Matthias Exner, haben auf die Herkunft der Evangelistentypen aus Handschriften wie dem Wiener Krönungsevangeliar (Anfang 9. Jahrhundert, Kunsthistorisches Museum in der Weltlichen Schatzkammer Wien, Inv. Nr. XIII 18) und dessen Nachfolge beispielsweise im Ebo-Evangeliar (Reims, um 830, Anm. 7), S. 56 – 59 sowie den Beitrag von Elisabeth Luger-Hesse in ­diesem Band. – demnächst: Klaus Gereon Beuckers / Ursula Prinz: Das Kölner Kaiserinnen-Evangeliar. Ein ottonisches Prachtevangeliar im Historischen Archiv der Stadt Köln (Best, 7010, Nr. 312), Darmstadt 2024. 12 Zum Mailänder Evangeliar vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 31 – 37 mit den Abb. 81 – 111. – Joshua O’Driscoll: Image and Inscription in Painterly Manuscripts from Ottonian Cologne, Diss. Harvard University Cambridge Mass. 2015, S. 52 – 128. – Prinz 2018 (wie Anm. 7), S. 59 – 61 sowie den Beitrag von Fabrizio Crivello in ­diesem Band. 13 Zum Evangeliar in Namur vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 59 f. mit den Abb. 201 – 212. – Prinz 2018 (wie Anm. 7), S. 67 f. 14 Zum Hitda-Codex vgl. Bloch  /  Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 44 – 53 mit den Abb. 113 – 170. – Winterer 2010 (wie Anm. 7). – Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex (Universitätsund Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640). Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013. – O’Driscoll 2015 (wie Anm. 12), S. 209 – 288. – Prinz 2018 (wie Anm. 7), S. 63 – 65.

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Bibliothèque municipale Epernay, Ms. 1) hingewiesen.15 Die Vermittlung könnte teilweise auch über Handschriften der Hofschule Lothars um 850 erfolgt sein, wie sie beispielsweise das Prümer Evangeliar in der Berliner Staatsbibliothek Ms. theol. lat. fol. 260 (Aachen, vor 852) zeigt,16 oder über Reimser Werke wie das Loisel-Evangeliar (Reims, 1. Hälfte 9. Jahrhundert, Bibliothèque nationale de France Paris, Lat. 17968) und das Hincmar-Evangeliar (Reims, nach 845, Bibliothèque municipale Reims, Ms. 7).17 Die Kölner Werkstattvorlage vergrößerte jedoch die Gewandbahnen, brachte markantere Differenzierungen der auch oft anders geführten Gewänder durch Binnenkonturen und schaffte durch die Vergrößerung der Köpfe eine stärkere Personalisierung. Zudem wurde die Farbigkeit nicht nur durch die Streifengründe gesteigert. Die Kölner Evangelisten sind also selbständige Weiterentwicklungen der karolingischen Typen. Dass die Evangelisten der ‚Malerischen Gruppe‘ einem gemeinsamen Vorlagenset entstammen, das partiell modifiziert und gelegentlich auch durch neue Anregungen von außen bereichert wurde, ist in ihrer Gegenüberstellung sehr deutlich und erneut ein Hinweis sowohl auf eine enge zeitliche Gruppenbildung als auch auf einen gemeinsamen Werkstattbetrieb, dessen Vorlagen bis weit in das 11. Jahrhundert hinein rezipierbar blieben. Im Kreis der Kölner Evangelisten fällt die andere Farbwahl im Gießener Evangeliar für die Hintergründe der Evangelisten auf, bei denen sehr viel dunkle, teilweise sogar schwarze Hintergründe auftreten.

Maiestas Domini und Hieronymus Auch die anderen beiden figürlichen Zierseiten des Gießener Evangeliars haben Parallelen innerhalb der ‚Malerischen Gruppe‘. Die Maiestas Domini auf fol. 1v zeigt in einem gerahmten und mit einem Giebel überkrönten Bildfeld Christus auf dem Mundus thronend und von einer Aureole, beide grünlich, hinterfangen. Er hat die Rechte zum Segensgruß erhoben und stützt seine Linke auf dem Buch des Lebens ab. Die Darstellung ist von einer 15 Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 2, S. 125 – 144 mit den Abb. 473 – 560. – Matthias Exner: Typus, Kopie und Nachleben. Zur Wirkungsgeschichte des Krönungsevangeliars, in: Das Krönungsevangeliar des Heiligen Römischen Reiches, Ausst. Kat. Kunsthistorisches Museum Wien, hg. v. Sabine Haag und Franz Kirchweger, Wien 2014, S. 95 – 130. 16 Vgl. Andreas Fingernagel: Die illuminierten lateinischen Handschriften deutscher Provenienz der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin. 8. – 12. Jahrhundert (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Kataloge der Handschriftenabteilung, Dritte Reihe: Illuminierte Handschriften, Bd. 1), 2 Bde., Wiesbaden 1991, Kat. Nr. 75, S. 73 – 76. 17 Vgl. Wilhelm Koehler / Florentine Mütherich: Die Schule von Reims (Die karolingischen Miniaturen, Bd. 6), Berlin 1994/99, Teil 1, S. 150 – 158 (Loisel-Ev.) u. Teil 2, S. 93 – 99 (Hincmar-Ev.). – Thomas Labusiak: Zum Stil des Hitda-Codex, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 14), S. 75 – 87, insb. S. 83 – 85.

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Mandorla umrahmt, die der große Nimbus, in dem das Wort LVX einbeschrieben ist, teilweise überdeckt und das Suppedaneum Christi mit einer Ecke hineinragt. Die Fläche der Mandorla ist in einem leuchtenden Blau gehalten, das mit einer zackenförmigen weißen Linie zum mehrfach gestuften Mandorlenrand vermittelt und sich stark lichthaltig von dem beinahe schwarzen Hintergrund des Bildfeldes absetzt. In diesen ragen in den Ecken die vier Evangelistensymbole von den Seiten herkommend hinein. Im Vergleich zum Sakramentar aus St. Gereon (Bibliothèque nationale de France Paris, Lat. 817), wo die Maiestas am Anfang des Canon Missae angeordnet wird,18 ist die Darstellung monumentalisierend reduziert (Abb. 9 u. 10). War dort die Mandorla zu den Seiten verbreitert worden, um seitlich von Christus Platz für zwei Engel zu bieten, und waren dort die Evangelistensymbole in den Zwickeln mit ihren Flügeln zur Flächenfüllung eingesetzt worden, so ist in Gießen mit dem dunklen Hintergrund und der davon abgesetzten Lichtfülle der Mandorla ein ganz anderes Konzept gewählt worden. Der Beschriftung von Christus als Licht / Lux in Gießen, aus der heraus die gesamte Farbkomposition entworfen wurde und die sich von den anderen Maiestas-Darstellungen der ‚Malerischen Gruppe‘ absetzt, entspricht in Paris die namentliche Bezeichnung in üblicher Weise IHC XPC . Hier wird die ­Lichtthematik überhaupt nicht aufgeworfen. Vielmehr ist in Paris die Rotgrundigkeit der gesamten Darstellung trotz aller Farbabstufungen ungebrochen bestimmend. ­Christus thront auf dem blau gehaltenen und goldumrahmten Mundus, dessen Zentrum das Suppedaneum bildet, während die Aureole hinter ihm eine goldene Fläche mit ornamentalem Rand ist. In Gießen werden beide farblich und in Grün angeglichen, das Sitzmotiv wird durch das Herunter­ziehen des Suppedaneums verstärkt und so einer ornamentalen Gestaltung in Paris mehr entgegengetreten. Beide Darstellungen sind in der Gestaltung Christi jedoch ganz offensichtlich der gleichen Vorlage verpflichtet, die auch im Hitda-Codex noch bestimmend blieb, wo der Maler die Mandorla dem Inneren entsprechend als Acht anlegte, aber sowohl in der Farbkonzeption als auch Details wie dem Sternengrund nahe an Paris blieb. Da in Mailand die Maiestas Domini verloren ist (auf die sich der erhaltene Titulus fol. 2r bezieht),19 kann nicht entschieden werden, inwiefern Gießen hier erstmals diese inhaltliche Neubewertung vorgenommen hat. Im Kölner Evangeliar 312 erscheint bereits der Streifentypus, der dann in der ‚Reichen Gruppe‘ der Kölner Malerei in den Evangeliaren aus Mariengraden (Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln, Hs. 1001a)20 und in Bamberg ­(Staatsbibliothek, Msc. 18 Zum Pariser Sakramentar vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 37 – 44 mit den Abb. 81 – 111. – O’Driscoll 2015 (wie Anm. 12), S. 129 – 208. – Prinz 2018 (wie Anm. 7), S. 61 – 63 sowie den Beitrag von Cécile Voyer in ­diesem Band. 19 Zur Rekonstruktion der ersten Lage und den dort verloren gegangenen Seiten vgl. den Beitrag von Joshua O’Driscoll in ­diesem Band. 20 Zum Evangeliar aus Mariengraden vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 69 – 75 mit den Abb. 261 – 287. – Klaus Gereon Beuckers: Das Prachtevangeliar aus Mariengraden. Ein Meisterwerk

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Abb. 9: Maiestas domini: Pariser Sakramentar, Bibliothèque nationale de France, Lat. 817, fol. 15v. – Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 1v. – Hitda-Codex, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640, fol. 7r. – Kölner Evangeliar, Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7010, Nr. 312, fol. 12v.

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Abb. 10: Maiestas domini: Gundold-Evangeliar, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. bibl. qt. 2a, fol. 10r. – Evangeliar aus Mariengraden, Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 1001a, fol. 1v.

Bibl. 94)21 bestimmend wurde.22 Hier entfällt die umfassende Mandorla und die beiden Kreise aus Mundus und hinterfangender Aureole sind autonomisiert. Im Evangeliar 312 ist die Aureole noch als Mandorla angelegt und offensichtlich in ihrer Farbigkeit von Gießen beeinflusst. Die Evangelisten rutschen in die Register seitlich von Christus, während im oberen Register zwei Engel wie als Reflex auf Paris angeordnet sind und im unteren Register die vier inschriftlich bezeichneten Propheten Jesaja, Daniel, Ezechiel und Jeremia angeordnet wurden. Das Gundold-Evangeliar systematisiert dies, indem zwei Propheten oben und unten angeordnet werden und die Engel (wie auch der Giebel oben) entfallen.23 der salischen Buchmalerei aus Köln. Die Handschrift Cod. 1001a der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek Köln, Luzern 2018. – Prinz 2018 (wie Anm. 7), S. 74 – 76. 21 Zum Bamberger Evangeliar vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 80 – 86 mit den Abb. 307 – 336. – Gude Suckale-Redlefsen: Die Handschriften des 8. bis 11. Jahrhunderts der Staatsbibliothek Bamberg (Katalog der illuminierten Handschriften der Staatsbibliothek Bamberg, Bd. 1), 2 Bde., Wiesbaden 2004, Kat. Nr. 82, S. 137 – 142. – Prinz 2018 (wie Anm. 7), S. 78 – 80. 22 Zu den Maiestas-Darstellungen der ‚Reichen Gruppe‘ vgl. Beuckers 2018 (wie Anm. 20), S. 69 – 73. 23 Zum Gundold-Evangeliar vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 61 – 64 mit den Abb. 214 – 234.– Klaus Gereon Beuckers: Das Gundold-Evangeliar in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Bemerkungen zu einem Kölner Prachtcodex des 10./11. Jahrhunderts, in:

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Damit war die Grundlage für die Werke der ‚Reichen Gruppe‘ gelegt. Das Kölner Evangeliar 312 ist damit das vermittelnde Glied ­zwischen den frühen Handschriften der ‚Malerischen Gruppe‘ und den jüngeren Codices Kölner Produktion. Bei den in Köln ungewöhnlich zahlreich auftretenden Hieronymus-Darstellungen, die bereits Hermann Schnitzler zusammenfassend besprochen und von Gregor-Darstellungen abgeleitet hat,24 ist die Entwicklung nicht so eindeutig (Abb. 11). In Gießen tritt der Kirchenvater mit zugehörigem Titulus auf fol. 2v/3r auf, gehört somit noch zum ersten Teil mit der breiteren Seitenanlage. Er thront in der rechten Bildhälfte zur Mitte gewandt und diktiert dem in der linken Bildhälfte verkleinert gezeigten, inschriftlich bezeichneten notarius. Um den Bezug herzustellen ist Hieronymus nach unten links geneigt, seine Rechte wird so zum verbindenden und bilddominanten Element. Dies wird durch den Streifengrund noch betont, der in der unteren Hälfte aus Gelbtönen gebildet wird, über den sich dann mehrfach unterteilte und mit vegetabilen Zierborten bereicherte, rote Streifen befinden, die den großen Nimbus des Heiligen besonders herausheben. Das Mailänder Evangeliar hatte eine ganz andere Ikonografie gewählt (fol. 3v), indem es den Kirchenvater mittig thronend gezeigt hatte und den nur geringfügig verkleinerten Schreiber ihm stehend an die Seite stellte sowie narrativ durch die Übergabe einer Schriftrolle anband. Als Pendent auf der linken Seite fungierte ein Schreibpult. Peter Bloch hat die Darstellung als Empfang des päpstlichen Schreibens mit der Bitte um Übersetzung der Evangelien an den Kirchenvater gedeutet, auf den dieser rechts auf fol. 4r mit der brieflichen Vorrede Novum opus antwortete.25 Diese Ikonografie, die letztlich aus Dedikationsbildern abgeleitet ist,26 wurde in Köln sonst für Hieronymus nicht wieder benutzt. Vielmehr isolierte der HitdaCodex die Darstellung aus Gießen vor einem eindrücklichen blauen Grund unter Weglassung des Schreibers und Rücknahme der zu ihm gerichteten Hand und schuf damit eine sehr eigenartige Darstellung, deren Neigung völlig unverständlich bleibt, wenn man sie nicht aus dem Gießener Formular ableiten möchte. In der ‚Reichen Gruppe‘ lebte dieser Gießener Typus sowohl in Mariengraden als auch Bamberg fort, wobei dort (neben der

Philologia sanat. Studien für Hans-Albrecht Koch zum 70. Geburtstag, hg. v. Gabriella Rovagnati und Peter ­Sprengel, Frankfurt am Main 2016, S. 41 – 65. – Prinz 2018 (wie Anm. 7), S. 68 – 71. 24 Hermann Schnitzler: Hieronymus und Gregor in der ottonischen Kölner Buchmalerei, in: Kunstgeschichtliche Studien für Hans Kauffmann, hg. v. Wolfgang Braunfels, Berlin 1956, S. 11 – 18. 25 Peter Bloch: Novum opus facere me cogis. Zum Hieronymusbild im Kölner Evangeliar der Ambrosiana, in: Studien zur Buchmalerei und Goldschmiedekunst des Mittelalters. Festschrift für Karl ­Hermann Usener zum 60. Geburtstag am 19. August 1965, hg. v. Frieda Dettweiler, Herbert Köllner und Peter Anselm Riedl, Marburg an der Lahn 1967, S. 119 – 128. 26 Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Das ottonische Stifterbild. Bildtypen, Handlungsmotive und Stifterstatus in ottonischen und frühsalischen Stifterdarstellungen, in: Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Johannes Cramer und Michael Imhof, Petersberg 2002, S. 62 – 102.

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Abb. 11: Hieronymus: Mailänder Evangeliar, Ambrosiana Mailand, C 53 sup., fol. 3v. – Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 2v. – Hitda-Codex, Universitätsund Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640, fol. 8r. – Evangeliar aus Mariengraden, Diözesanund Dombibliothek Köln, Cod. 1001a, fol. 8r.

Das Gießener Evangeliar und die ‚Malerische Gruppe‘ der Kölner Buchmalerei | 61

architektonischen Hinterfangung) die Angleichung der Größen der beiden auffällt.27 Die sonst vermittelnden Handschriften des Kölner Evangeliars 312 und des Gundold-Evangeliars enthalten keine Hieronymus-Bilder. Sollten die Formulare der ‚Reichen Gruppe‘ also zusammen mit Gießen und dem Hitda-Codex auf eine gemeinsame Werkstattvorlage zurückgehen, dann wäre diese am ehesten in der Form der ‚Reichen Gruppe‘ zu erwarten und demgegenüber der Schreiber in Gießen verkleinert worden, um den Kirchenvater besonders markant zu machen. Bloch / Schnitzler haben auf die Darstellung von Hieronymus im Mitte des 9. Jahrhunderts entstandenen Psalter Karls des Kahlen (Bibliothèque nationale de France, Lat. 1152, fol 4r) verwiesen, der ebenfalls in nach links geneigter Haltung, beim Eintunken der Feder in das Tintenfass, gezeigt wird.28 Diese Körperneigung ist durch die Anordnung auf einer Doppelseite motiviert, die auf fol. 3r den nach rechts zu Hieronymus gewandten ­Kaiser zeigt und so eine Analogie ­zwischen dem Herrscher und dem Kirchenvater aufbaut. Eine ­solche Bildformulierung könnte durchaus hinter den Kölner Hieronymus-Bildern stehen, die allerdings umdisponiert wurde, da der Kirchenvater dort durchgängig mit der Rechten einen Redegestus zeigt und somit auf den notarius bezogen wird. Im Hitda-Codex, wo der notarius wegfällt, musste der Maler eine alternative Handlung erfinden und ließ Hieronymus im Buch blättern. Vermutlich bezieht sich das Kölner Vorlagenblatt auf eine andere Hieronymus-Darstellung der karolingischen Hofschule, die bereits im Psalter Karls des Kahlen umgedeutet wurde. Die Gießener Darstellung dürfte deshalb einer Kölner Werkstattvorlage am nächsten kommen. Die späten Kölner Handschriften der ‚Strengen Gruppe‘ setzten Hieronymus frontal und adaptierten damit den Echternacher Typus des Evangelisten Markus.

Kanontafeln, Zierseiten und Initialen Die Kanontafeln des Gießener Evangeliars fügen sich ganz in die ‚Malerische Gruppe‘ ein, deren Typus modifiziert für die gesamte Kölner Buchmalerei des 10./11. Jahrhunderts verbindlich blieb. Er zeichnete sich durch die Verbindung des seit der Spätantike eingeführten Bogentypus mit einem überhöhenden Giebel aus, was zwar Vorläufer insbesondere innerhalb karolingischer Handschriften wie der Reimser Produktion hat, aber als eine Neufindung in Köln gelten muss. Die Herleitung und Charakterisierung wurde bereits an anderer

27 Vgl. Beuckers 2018 (wie Anm. 201), S. 84 – 87. 28 Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 2, S. 146. – Zum Psalter vgl. Wilhelm Koehler / ­Florentine Mütherich: Die Hofschule Karls des Kahlen (Die Karolingischen Miniaturen, Bd. 5), Berlin 1982, S. 132 – 143. – Trésors carolingiens. Livres manuscrits de Charlemagne à Charles le Chauve, Ausst. Kat. Bibliothèque nationale de France, hg. v. Marie-Pierre Laffitte und Charlotte Denoël, Paris 2007, Kat. Nr. 15, S. 108 – 112 (Marie-Pierre Laffitte).

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Stelle ausführlich ausgeführt und muss hier deshalb nicht wiederholt werden.29 Innerhalb der Gießener Kanontafeln findet sich jedoch die Besonderheit, dass die Tafeln IX bis XII (fol. 5v–7r) auf die Giebel verzichten und den oberen Abschluss über den Arkaden nur mit einem breiten Gebälk formieren, in ­welche die jeweilige Zählung eingetragen ist. Dieses Gebälk besitzen auch alle anderen Kölner Tafeln, setzen mit dem flachen Giebel darüber aber ein antikisierendes Element auf. In Gießen sind stattdessen auf fol. 5v/6r mittig ein zweifarbiges Rankengebilde aus Gold und Silber wie ein Akroter hinzugefügt, der auf fol. 6v/7r durch zwei Pfauenvögel flankiert wird. Da sich für diese Form innerhalb der karolingischen Kanontafeln keine nahen Parallelen finden, dürften die Gießener Tafeln nicht ein Spiegel von Vorlagen sein, sondern eine Variante des Kölner Typus, die keine Nachfolge gefunden hat. Wie sehr man in Köln daran weiterhin experimentierte, zeigt das Evangeliar in Namur, das mit einem hohen Giebel und dem Verzicht auf Arkaden den karolingischen Reimser Typus in der Art von Lat. 265 in der Bibliothèque nationale in Paris adaptierte oder sich am karolingischen Evangeliar Cod. 56 in der Kölner Dombibliothek orientierte, sowie in der ‚Reichen Gruppe‘, wo eine Umrahmung des Gesamtgebildes eine Bildhaftigkeit der Kanontafeln stärkte.30 Bei den Textzierseiten zu den Evangelienanfängen werden die mehrfach gerahmten Initialkörper bei allen Handschriften der ‚Malerischen Gruppe‘ vergleichbar nach offensichtlich einheitlicher Vorlage gebildet, wie die Zusammenstellung bei Bloch / Schnitzler deutlich zeigt.31 Aufschlussreich ist die Gießener Initialseite für das Markus-Evangelium (fol. 79r): Im Zentrum steht die N-Initiale, deren Zwischenräume mit Rankenwerk oben von einem leuchtend blauen und unten von einem dunkelblauen Hintergrund hinterfangen sind. Mitten auf der schrägen Haste der Spaltleisteninitiale, die durch mennige­ gerahmte Goldleisten um einen weißlichen Kern gebildet sind, liegt eine Blüte. Im oberen Feld erscheint die obere Hälfte einer I-Initiale in voller Ausgestaltung, auf die man unten dann verzichtet hat; ­später wurde das mit einem Goldstrich zu korrigieren versucht. Eine ­solche IN-Ligatur wäre zu erwarten, denn der Evangelienbeginn lautet ja Initium evangelii, wovon die links auf der Seite formatfüllend angeordnete I-Initiale das I- vertritt, von 29 Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Zum Typus der Kölner Kanontafeln im 10./11. Jahrhundert und ihren Vorbildern. Am Beispiel des Evangeliars aus St. Maria ad Gradus (Diözesanblibliothek Köln Hs. 1001a), in: Mittelalterliche Handschriften der Kölner Dombibliothek. Siebtes Symposion November 2016, hg. v. Harald Horst (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen ­Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 70), Köln 2018, S. 15 – 62. 30 Vgl. Beuckers 2018 (wie Anm. 29), S. 15 – 17 u. 34 f. – Vgl. dazu auch Klaus Gereon Beuckers: Rahmen als bildliche Strategie. Bemerkungen zu karolingischen Handschriften im Umkreis ­Kaiser Ludwigs des Frommen, in: Page, Margin, Frame. Liminal Phenomena in Medieval Books, hg. v. Andrea Worm (Manuscripta Publications in Manuscript Research), Turnhout 2023 (im Druck). 31 Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 2, Abb. 97 – 145.

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dem -nitium aber das -i- fehlt. Im Mailänder Evangeliar war dies noch richtig ausgeführt, wenn auch die Hierarchie z­ wischen der linken I-Initiale und der NI-Initialligatur anders aufgebaut war (fol. 80r) (Abb. 12). In Gießen wurde die I-Initiale an den Rand gedrückt und die N-Initiale zentral gesetzt, was zu Platzproblemen für den weiteren Text führte. Bei der Anlage scheint man das -i- für sekundär gehalten zu haben, was vor allem angesichts der Lösung im Hitda-Codex interessant ist (fol. 79r), wo die linke I-Initiale mittig durch die N-Initiale geführt wurde und so eine für die weitere Kölner Malerei charakteristische IN-Ligatur geschaffen wurde, die mit dem Gerresheimer Evangeliar (fol. 88v und 212v)32 und dann dem Evangeliar aus Mariengraden (fol. 85v) zum Motiv der gesamten ‚Reichen‘ und der ‚Strengen Gruppe‘ wurde. Im Evangeliar Köln 312 versuchte man dies etwas ungeschickt durch die Anbindung der großen I-Initiale an die linke Haste der N-Intiale zu lösen (fol. 74r) und in Namur wurden alle drei Initialen einzeln gesetzt (fol. 56r), aber die Leistung des Hitda-Malers für die kommenden Kölner Handschriften ist unverkennbar. Dabei bediente er sich für diese Lösung des Typus, der bereits im Mailänder Evangeliar für die Initialzierseite von Johannes mit seinem Evangelienanfang In principio genutzt worden war (fol. 188r), wo im Schneidepunkt der beiden Initialen I und N ein Medaillon mit dem Lamm eingesetzt wurde, das fast alle Kölner Prachthandschriften des 10./11. Jahrhunderts beibehielten. Nur im Evangeliar Köln 312 wurde es durch eine Christusbüste ersetzt (fol. 161r), was dann die mit den beiden eng verwandten Kölner Evangeliaren der ‚Strengen Gruppe‘ in London (Harley 2820, fol. 192r) und Berlin (Kupferstichkabinett, Cod. 78 A 3, fol. 207r) Nachfolge fand.33 Insgesamt folgt die Initialseite zum Markus-Evangelium in Gießen noch dem frühen Typus der ‚Malerische Gruppe‘ mit separierter I-Initiale. Das Lamm der Johannes-Initialseite ist in Gießen (fol. 190r, Abb. 13) besonders ausgestaltet, da es um den Hals einen Siegeskranz und geschultert eine Lanze trägt,34 wofür es im gesamten erhaltenen Denkmälerbestand keine ältere Parallele zu geben scheint.35 Der 32 Zum Gerresheimer Evangeliar vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 64 – 68 mit den Abb. 236 – 259.– Beuckers / Johlen-Budnik 2016 (wie Anm. 1). – Prinz 2018 (wie Anm. 7), S. 71 – 74. 33 Zu den Evangeliaren vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 106 – 110 mit den Abb. 411 – 434 (London); S. 110 – 113 mit den Abb. 436 – 461 (Berlin). – Beate Braun-Niehr: Das Abdinghofer Evangeliar im Berliner Kupferstichkabinett. Beobachtungen und Fragen zu seiner Geschichte, in: Das Sakramentar aus Tyniec. Eine Prachthandschrift des 11. Jahrhunderts und die Beziehungen ­zwischen Köln und Polen in der Zeit Kasimir des Erneuerers, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Andreas Bihrer (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 3), Köln 2018, S. 114 – 140. – Prinz 2018 (wie Anm. 7), S. 87 – 90. 34 Hierauf hat Beate Fricke in ihrem Einstiegsvortrag der Tagung in Gießen verwiesen und dies als Klammer zur Kreuzigungsdarstellung verstanden, in denen sie einen Raum im Codex aufgespannt sah. 35 Zu Darstellungen des Agnus Dei vgl. Art. ‚Lamm Gottes‘, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. XXII (2008), Sp. 853 – 882 (Marco Frenschkowski). – Saskia Lerdon: Ecce Agnus Die. Rezeptionsästhetische Untersuchung zum neutestamentlichen Gotteslamm in der bildenden Kunst (Novum

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Abb. 12: IN-Initialzierseiten zum Markus-Evangelium: Mailänder Evangeliar, Ambrosiana Mailand, C 53 sup., fol. 80r. – Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 79r. – Hitda-Codex, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640, fol. 79r. – Kölner Evangeliar, Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7010, Nr. 312, fol. 74r.

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Abb. 13: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 190r: Initialzierseite zum JohannesEvangelium, Detail des Lammes.

Text der Umschrift „Agnus D(e)i qui tollis peccata“ (Joh 1,29), der auch im Wandlungsgebet gesprochen wird, stellt einen unmittelbaren eucharistischen Bezug her, der ebenso bei der Kreuzigungsdarstellung (fol. 188r), in der aus der Seitenwunde Christi in singulärer Weise Wasser und Blut herausströmen, anklingt.36 Diese beiden Veränderungen der ikonografischen Kölner Vorlagen belegen die hohe konzeptionelle Reflektion der Bildmodifikationen im Gießener Evangeliar. Der eucharistische Kontext mag bei dem Lamm auch durch die hostienähnliche Scheibe seiner Hinterfangung unterstrichen sein. Ein eucharistischer Bezug der Textstelle und damit des Lammes ist im Prinzip bei allen Evangeliaren gleich gegeben, womit sich die Fragen stellen, warum im Gießener Evangeliar das Lamm so ungewöhnlich anders gestaltet wurde und warum die ikonografisch übliche Kreuzstandarte durch die Lanze ersetzt und durch den Siegeskranz ergänzt wurde. Die Darstellung des Lammes in als Sieges- oder Fruchtkränze ausgebildeten Medaillon­ rahmen ist seit der Spätantike bezeugt, egal ob es sich beispielsweise um Darstellungen im Deckenmosaik des Presbyteriums von San Vitale in Ravenna aus dem 6. oder um den mit Elfenbein beschlagenen Einband im Mailänder Domschatz aus dem 5. Jahrhundert Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, Bd. 123), Göttingen 2020. 36 Vgl. dazu den Beitrag von Vivien Bienert in ­diesem Band.

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handelt.37 Das Tragen des Kranzes um den Hals findet sich aber nirgends. Gertrud Schiller, die für diese Darstellung auch kein Vergleichswerk nennen kann, hat das Lamm als von der Lanze durchbohrt verstanden und dies auf den Opfertod bezogen, der durch den Siegeskranz überwunden sei.38 Allerdings ist die Durchbohrung des Lammes keineswegs eindeutig, sondern vielmehr scheint die Lanze wie ein Kreuzstab auf der hinteren Seite des Lammes geschultert zu sein, weil man vorne den Kranz anordnen wollte. Dies bestätigt die offenbar einzige Wiederaufnahme dieser Ikonografie mit Siegeskranz und Lanze im oberen Medaillon der Liber Generationis-Seite im Kölner Evangeliar 312 (fol. 22v, Abb. 81), wo der Stabverlauf der Lanze eindeutig erkennbar ist. Eindeutig wird die in der Ikonografie verbreitete Kreuzstandarte des Lammes somit in beiden Fällen durch eine Lanze ersetzt, wofür es in dem überlieferten Denkmalbestand allerdings keine Parallelen zu geben scheint. Der Kölner Konzeptor des Gießener Evangeliars scheint hier also eine Sonderikonografie geschaffen zu haben, die damit erklärungsbedürftig wird. Nimmt man die Lanze weniger als Waffe, mit der die Seitenwunde Christi geöffnet wurde, aus der dann Wasser und Blut als die beiden verbundenen Komponenten der Eucharistie flossen, sondern als ein Herrschaftszeichen, wie sie bei zahlreichen Herrscherdarstellungen des frühen und hohen Mittelalters auftritt, so könnte auch der Siegeskranz auf Herrschaft verweisen und das Lamm / Christus als den wahren Herrscher zeigen. So eine Aussage macht vor allem im Kontext einer Gegenüberstellung mit weltlicher Herrschaft, vielleicht sogar zu unwürdiger Herrschaft Sinn, wie sie zwei Generationen s­ päter in Köln zum Programm der Türen von St. Maria im Kapitol wurde.39 Ungewöhnlich ist auch der begleitende Text, der nicht nur bei der Wandlung in der Messe, sondern ebenso als Lösungsversprechen von Schuld im Rahmen des Bußaktes Verwendung fand. Überraschend ist er unvollständig und verzichtet auf das Wort „mundi“, obwohl bei einer gleichmäßigeren Verteilung der Worte hier genügend Platz für den gesamten Text wäre. Durch den Verzicht auf „mundus“ wird die Schuld, die das Lamm auf sich nimmt, bezüglich ihres Urhebers verallgemeinert und kann so auch auf eine konkrete Schuld einer Person bezogen werden. Die sündentilgende Kraft des Lammes wird auf jeden Fall zum 37 Vgl. Jutta Dresken-Weiland: Die frühchristlichen Mosaiken von Ravenna. Bild und Bedeutung, Regensburg 2016, S. 235 (Mosaik). – Frauke Steenbock: Der kirchliche Prachteinband im frühen Mittelalter von den Anfängen bis zum Beginn der Gotik, München 1965, Kat. Nr. 5, S. 69 – 71. 38 Gertrud Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst, Band 2: Die Passion Jesu Christi, Gütersloh 1968, S. 131. 39 Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Rex iubet, Christus imperat. Studien zu den Holztüren von St. Maria im Kapitol und zu Herodesdarstellungen vor dem Investiturstreit (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd. 42), Köln 1999. – Klaus Gereon Beuckers: Bemerkungen zum Programm der Türen von St. Maria im Kapitol, in: Neue Erkenntnisse zur romanischen Bildertür von St. Maria im Kapitol. Beiträge des internationalen und interdisziplinären Forschungskolloquiums des Cologne Insti­ tute of Conservation Sciences, hg. v. Theresa Neuhoff, Doris Otrogge und Regina Urbanek, Oppenheim am Rhein 2023 (im Druck).

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Thema bei der Rezeption des Gießener Agnus Dei im Medaillon des Kölner Evangeliars 312, wo es das Gegenüber der verstorbenen Kaiserin Theophanu im unteren Medaillon bildet, die es mit verhüllten Händen verehrt. Das Lamm vertritt hier Christus als Zielpunkt des Blickes der Kaiserin und wird als Erlösung lesbar. Diese Seite im Evangeliar 312, die durch eine besonders aufwendig gerahmte Textzierseite gegenüber zur Hauptdoppelseite des Codex aufgewertet wurde, hat ihre Parallele in fol. 12r im Gießener Evangeliar, wo anstelle des Lammes in Köln 312 der jugendliche Herrscher angeordnet ist, dem drei Erzbischöfe als Kollegium in den anderen Medaillons zugeordnet sind. Hier findet sich die Gegenüberstellung des Lammes mit einem weltlichen Herrscher und damit die dezidierte Einbindung in einen herrscherlichen Bildzusammenhang. Man darf ihn als Manifestation sehen, dass Christus / das Lamm der wahre Herrscher ist und der weltliche Herrscher darauf sein Handeln auszurichten habe. Die Liber Generationis-Seite in Gießen ist aller Wahrscheinlichkeit nach als eine huldigende Anerkennung der bis vor kurzem noch stark umstrittenen Herrschaft des jugendlichen Königs Otto III. durch die rheinischen Erzbischöfe Everger von Köln, Willigis von Mainz und Egbert von Trier 985/986 zu lesen.40 Das Lamm im Gießener Evangeliar dürfte in d ­ iesem Kontext der zeitnahen anderen Kölner Darstellungen ebenfalls programmatisch stark aufgeladen gedacht gewesen sein.

Die ‚Malerische Gruppe‘ Nachdem Heinrich Ehl seine Gruppierung der Kölner Prachthandschriften des 10./11. Jahrhunderts vorgelegt und die Handschriften um den Hitda-Codex als „Malerischen Hauptstil“ bezeichnet hatte, nachdem Peter Bloch und Hermann Schnitzler die Gruppe geringfügig modifiziert und als „Malerische Gruppe“ benannt hatten, gliederte Carl Nordenfalk in der Rezension zu Bloch / Schnitzler das Everger-Epistolar und dessen Umkreis als eigene Gruppe eines anderen Skriptoriums möglicherweise am Kölner Dom aus,41 worin ihm die Forschung weitgehend folgt. Damit bilden – je nach Zählung – noch fünf oder sieben Handschriften die ‚Malerische Gruppe‘ der Kölner Buchmalerei. Nach der chronologischen Reihung bei Bloch / Schnitzler sind dies das Kölner Evangeliar im Historischen Archiv der Stadt Köln (Best. 7010, Nr. 312), dessen Provenienz aus St. Gereon erst seit dem frühen 20. Jahrhundert ohne erkennbare Grundlage behauptet wird und deshalb

40 Vgl. Wolfgang Christian Schneider: Die Generatio Imperatoris in der Generatio Christi. Ein Motiv der Herrschaftstheologie Ottos III. in Trierer, Kölner und Echternacher Handschriften, in: Frühmittel­ alterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster 25 (1991), S. 226 – 258, hier S. 246 – 248 sowie den Beitrag von Matthias Schrör in ­diesem Band. 41 Carl Nordenfalk: Rezension zu Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), in: Kunstchronik. Monatsschrift für Kunstwissenschaft, Museumswesen und Denkmalpflege 24 (1971), S. 292 – 309.

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infrage zu stellen ist,42 das Mailänder Evangeliar (Biblioteca Ambrosiana C. 53 Sup.), das Pariser Sakramentar (Bibliothèque nationale de France Paris, Lat. 817), der Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640) und das Gießener Evangeliar (Universitätsbibliothek Gießen, Hs. 660). Hinzu kommen die ersten Seiten des ­ersten Bandes des Gundold-Evangeliars (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. Bibl. qt. 2a), das mit dem Evangeliar in Namur (Priesterseminar, M. 43 (13)) von Bloch / Schnitzler einer ‚Malerische Sondergruppe‘ zugeordnet wurde, aber dennoch eng an der Kölner Vorlage der ‚Malerischen Gruppe‘ hängt. Für Bloch / Schnitzler waren sie alle von dem z­ wischen 996 und 1002 entstandenen Manchester Evangeliar (John Ryland Library, Cod. 98) abhängig, weshalb sie alle in das ausgehende 10. und meist das 11. Jahrhundert datiert wurden. Die Vorbildhaftigkeit des Manchester Evangeliares ist vielfach diskutiert und mehrfach mit guten Argumenten zurückgewiesen worden, was hier jetzt nicht alles wiederholt werden kann. 1989 hat Ulrich Kuder in seiner Habilitationsschrift zur ottonischen Buchmalerei auch die Kölner Handschriften diskutiert und die Reihenfolge von Bloch / Schnitzler infrage gestellt.43 Da die Arbeit über fast drei Jahrzehnte unpubliziert blieb, fand sie kaum Resonanz in der Forschung. 2013 hat er seine Überlegungen zu den Kölner Handschrift erneut in den Blick genommen und die Werke der ‚Malerischen Gruppe‘ noch einmal anders chronologisiert. Nach seinen Überlegungen entstand zuerst der Hitda-Codex (vor 969), dann das Pariser Sakramentar (984/985), dann das Mailänder Evangeliar (um 985) vor Gießen (um 985 – 995), das Guldold-Evangeliar (um 990), das Kölner Evangeliar 312 (991 – 994) und danach Namur (Ende 10. Jh. / um 1000).44 Für die Ansetzung des Kölner Evangeliars 312 an das Ende statt an den Anfang der Gruppe (wie es Ehl und Bloch / Schnitzler vertreten hatten) berief er sich unter anderem auf Arthur Haseloff, der die Kölner Handschriften zuerst gereiht hatte,45 vor allem aber auf die Datierungen, die aus den Handschriften selbst zu gewinnen sind. Seine Ansetzung der gesamten ‚Malerischen Gruppe‘ vor der Entstehung des Manchester Codex (996/1002) begründete Kuder aus dem im Pariser Sakramentar enthaltenen Gebet für Otto III. im Anschluss an das Exultet (fol. 56r/56v, Abb. 14): „[…] Precamur 42 Vgl. dazu den Beitrag von Elisabeth Luger-Hesse in ­diesem Band. 43 Ulrich Kuder: Studien zur ottonischen Buchmalerei [Habilitationsschrift Ludwig-Maximilian-Universität München 1989], hg. v. Klaus Gereon Beuckers (Kieler Kunsthistorische Schriften, N. F. Bd. 17), 2 Bde., Kiel 2018, S. 229 – 261. 44 Ulrich Kuder: Der Hitda-Codex im Zusammenhang der Kölner Buchmalerei, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 14), S. 89 – 111, hier S. 110 f. 45 Vgl. Arthur Haseloff: Chapitre VII. Peintures, Miniatures et Vitraux de l’Epoque Romane I. Dans les Pays du Nord, in: André Michel: Histoire de l’Art depuis le Premiers Temps Chrètiens jusqu’à nos Jours, tome I. Des Débuts de l’Art Chrétien à la Fin de la Période Romane, deuxième part, Paris 1905, S. 711 – 755, hier S. 728 – 730.

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Abb. 14: Pariser Sakramentar, Bibliothèque nationale de France, Lat. 817, fol. 56r/56v: Gebet Gebet im Anschluss an das Exultet.

ergo te d(omi)ne ut nos famulos tuos & omnem clerum & devotissimum / populum una cum papa no(st)ro ILL(ustrissimo) & antistite nostro N atq(ue) rege n(ost)ro OTTONE […].“ Bei der Anlage des Textes ließ der Schreiber für den Papstnamen Platz, da dieser in Gold eingetragen werden sollte. Gleiches tat er mit dem Namen des Königs nach „atque regi nostro“, allerdings trug er nach „et antistite nostro“ den Namen eines Bischofs mit Tinte ein, der der Bestimmung für St. Gereon nach nur der amtierende Kölner Erzbischof sein konnte. Als dann in einem zweiten Schritt die Goldschrift nachgetragen wurde, schrieb der Schreiber statt eines konkreten Papstnamens in Gold ‚ILL‘ (illustissimo) und fügte ebenfalls in Goldschrift für den König ‚OTTONE ‘ hinzu. Der in Tinte geschriebene Bischofsname wurde jedoch rasiert und durch ein ‚N ‘ ersetzt. Bloch / Schnitzler haben das Gebet als Übernahme aus einer älteren Vorlage abgetan, weil es mit der von ihnen postulierten Abhängigkeit vom Manchester Evangeliar unvereinbar war.46 Dabei wäre bei einer Übernahme zu erwarten gewesen, dass man bei der Ausführung in Gold auch den erst jetzt eingetragenen Königsnamen verallgemeinert hätte – zumal man dies bei Papst und Erzbischof ja getan hat. Da 46 Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 43.

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dies nicht erfolgt ist, dürfte man den Namen Ottos sehr bewusst und keineswegs irrtümlich eingetragen haben. Hier setzten die Überlegungen von Ulrich Kuder 2013 an, der die Rasur beim Erzbischofsnamen auf den Wechsel von Erzbischof Warin zu Everger im Jahre 985 bezog.47 Während des Herstellungsprozesses sei Warin verstorben und durch die Rasur der Text aktualisiert worden. Da die Eintragung Ottos III. und seine Nennung als König nur eine Entstehung z­ wischen 983 (Krönung) und 996 (Kaiserkrönung) zulasse, käme kein anderer Wechsel auf der Kölner Kathedra als 985 infrage, womit das Sakramentar relativ genau zu datieren sei. Das Mailänder Evangeliar, für das Bloch / Schnitzler sogar die gleichen Maler angenommen hatten,48 datierte Kuder deshalb auch um 985. In der Einschätzung des Kölner Evangeliars 312 bezog er sich unter anderem auf die Ausführungen von Rainer Kahsnitz zur Liber Generationis-Seite (fol. 22r), auf der er in den Medaillons oben das Agnus Dei, in der Mitte Kaiserin Adelheid und den jugendlichen Otto III. sowie unten mit verhüllten Händen die 991 verstorbene Kaiserin Theophanu in Anbetung des Lammes identifizierte (Abb. 81) und somit den Codex in die Zeit vor der Mündigkeit Ottos III. 994 datiert hatte.49 Das Gießener Evangeliar musste Kuders Meinung 2013 nach aus stilistischen Gründen ­zwischen Mailand und Köln 312 datiert werden, was er etwas unbestimmt mit „um 985 – 995“ tat. So überzeugend diese Überlegungen waren, so schwierig wurde der Beitrag, weil Kuder den Hitda-Codex als bisher einziger Autor vor das Pariser Sakramentar ansetzte und ihn deshalb sehr früh datieren musste, wofür er in Hitda die ­Mutter Erzbischof Geros erkennen wollte und die Handschrift so vor 969 ansetzte. Im gleichen Band und dann ebenfalls in seiner Dissertation hat dem Joshua O’Driscoll widersprochen und nicht nur aus den Widmungsgedichten heraus die auch sonst von allen Autoren so gesehene Chronologie bestätigt, nach der der Hitda-Codex jünger als das Sakramentar ist.50 Christoph Winterer, der die jüngste Monografie zum Hitda-Codex verfasst hat, hat das Gießener Evangeliar als „möglicherweise von derselben, zumindest einer ähnlich arbeitenden Hand wie der Hitda-Codex“ bezeichnet, aber die stilistisch größere Nähe von Gießen zu Mailand und Paris betont.51 Er sieht deshalb alle Handschriften in einem engen Fenster der späten 980er und frühen 990er 47 Kuder 2013 (wie Anm. 44), S. 93 – 95. 48 Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 37. 49 Rainer Kahsnitz: Ein Bildnis der Theophanu? Zur Tradition der Münz- und Medaillon-Bildnisse in der karolingischen und ottonischen Buchmalerei, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin, hg. v. Anton von Euw und Peter Schreiner, 2 Bde., Köln 1991, Bd. 2, S. 101 – 134 – Kuder 2013 (wie Anm. 44), S. 90 f. – Vgl. auch Schneider 1991 (wie Anm. 40). 50 Joshua O’Driscoll: Anmerkungen zum Verhältnis von Bild und Titulus im Sakramentar aus Sankt Gereon und im Hitda-Codex, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 14), S. 113 – 127. – O’Driscoll 2015 (wie Anm. 12). 51 Winterer 2010 (wie Anm. 7), S. 27.

Das Gießener Evangeliar und die ‚Malerische Gruppe‘ der Kölner Buchmalerei | 71

Jahren entstanden, was sich insgesamt mit der Einschätzung Kuders deckt, wenn man seine Frühdatierung des Hitda-Codex ignoriert (von der er inzwischen auch abgerückt ist).52 Blickt man auf die relative Chronologie, wie sie sich durch die motivischen Entwicklungen der Evangelistenbilder, der Maiestas Domini, der Zierseiten und der HieronymusDarstellung ergibt, so stehen im erhaltenen Denkmälerbestand das Pariser Sakramentar und das Mailänder Evangeliar eng verbunden miteinander am Anfang, gefolgt von dem Gießener Evangeliar und dem Hitda-Codex, bevor das Evangeliar Köln 312 den Abschluss bildet und sowohl zur ‚Malerischen Sondergruppe‘ als auch vor allem zur ‚Reichen Gruppe‘ die Brücke schlägt. Dies bestätigt sich auch stilistisch, da die eng verwandten Pariser und Mailänder Handschriften mit ihrer starken Rotlastigkeit und ihrer noch eher feinen Linienführung sowie der größeren Volumen vor dem Gießener Codex anzusetzen sind, in dessen Gestaltung eine Monumentalisierung zu erkennen ist, ­welche die Grundlage für den nahe verwandten Hitda-Codex in Darmstadt bildet und die auch in den Darstellungen von Köln 312 auftritt, wo bei einer stark blautonigen Anlage dennoch immer noch partiell enge Bezüge zu Mailand zu erkennen sind. Auch Namur setzt die Mailänder Linie fort, zeigt aber stilistisch bereits Elemente, die eher am Ende der Gruppe zu erwarten sind; dies gilt auch besonders für die erste Lage des Gundold-Evangeliars beispielsweise im Bild der Maiestas Domini. Selbst wenn gerade die stilistische Entwicklung etwa in der Gewandführung und der Setzung von Lichtern für das unvollendete Kölner Evangeliar 312 noch genauer zu diskutieren ist, so dürfte die Hinzuziehung von mehreren erfahrenen Schreibern und Malern wie auch der Einschub der Bildseiten in das Lagensystem über eine recht eilige Herstellung mit starker Arbeitsteilung erklärbar sein, wie sie vermutlich mit dem Tod Theophanus 991 und ihrer Bestattung in St. Pantaleon zusammenhängt.53 Insgesamt versammeln sich rund um die ‚Malerische Gruppe‘ recht unterschiedliche Hinweise zur absoluten Datierung. „Ein gewisser Anhaltspunkt [für die Entstehung des Pariser Sakramentars] ergibt sich immerhin aus dem auf fol. 56v im Anschluss an das Exultet in goldener Schrift verzeichnete Gebet für einen König Otto: ‚…atue rego nostro OTTONE…‘ Aus stilgeschichtlichen Gründen kann nur Otto III. gemeint sein, und, da der Herrscher als König bezeichnet wird, nur der Zeitraum z­ wischen dem Tode Ottos II. im Jahre 983 und der eigenen Kaiserkrönung 996.“ 54 (Abb. 14) Diese Formulierung von Peter Bloch in seiner kleinen Monografie zum Pariser Sakramentar hat wieder Gültigkeit, nachdem die irrige These der Abhängigkeit der Kölner Malerei vom Manchester-Codex dem nicht mehr im Wege steht. Grenzt man diesen Zeitraum durch die Überlegungen von Kuder zur Rasur des 52 Ulrich Kuder sei für mehrere Gespräche zu dem Thema herzlich gedankt. 53 Vgl. dazu demnächst Beuckers / Prinz 2024 (wie Anm. 11). 54 Peter Bloch: Das Sakramentar von St.  Gereon, München 1963, S.  49.  – Fast wortgleich bei Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 43, wo dann offenbar nachträglich wegen der vermeintlichen Abhängigkeit vom Manchester Codex halbherzig auf nach 996 korrigiert wird.

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Bischofsnamens ein, nach welcher der hier eingetragene Warin durch ein unbestimmtes „N“ noch während der Herstellung ersetzt wurde,55 dann ist der Pariser Codex um den Zeitpunkt von Warins Tod im September 985 entstanden. Für das entweder von gleichen oder sehr nahestehenden Händen geschaffene Evangeliar in Mailand muss demnach eine ähnliche Datierung erschlossen werden. Hier kommt das ungewöhnliche Widmungsbild auf fol. 2v zu Hilfe, das eine monastische Gemeinschaft von sechs Männern zeigt, die einem deutlich vergrößerten, aber nicht nimbierten Abt in der rechten Bildhälfte einen Codex überreicht (Abb. 64). Die zugehörige Titulusseite auf fol. 3r formuliert den Segenswunsch: „En operis habitus quod poscit, hic tibi promptus: Vivere cum Christo caelebs merceris in isto!“ 56 Eine Identifizierung ist in der Literatur bisher immer als unmöglich abgetan worden, zumal die Dedikationsszene außerhalb der üblichen Ikonografien liegt. Im monastischen Umfeld von Köln gibt es jedoch ein Geschehen, das diese Darstellung sehr gut erklären kann:57 Der Gründungsabt von Kloster (Mönchen-)Gladbach, Sandrad, war ab 964/965 Teil des aus St. Maximin gekommenen Gründungskonventes von St. Pantaleon unter dem dortigen Abt Christian (amt. 964/965 – 1001) und dürfte als vormaliger Cellerar in St. Maximin dabei eine wichtige Rolle für die Kölner Neugründung gespielt haben, bevor er an den Hof K ­ aiser Ottos I. (amt. 936 – 973) kam und dort zum Beichtvater von Kaiserin Adelheid und dann 973 von dem Kölner Erzbischof Gero (amt. 969 – 976) zum Gründungsabt von Kloster Gladbach wurde.58 Von dort wurde er während des Episkopates von Warin (amt. 976 – 985), vermutlich 978/979, abgezogen, behielt aber seine Abtswürde. Greifbar wird er als Verwalter von Kloster Weißenburg anstelle des zum ersten Magdeburger Erzbischof erhobenen, ebenfalls aus St. Maximin stammenden Abt Adalbert (Abt 966 – 981, Erzbischof 968 – 981), dem er 981 im Abbatiat nachfolgte. Auf Betreiben von Kaiserin Adelheid kehrte er der Forschung nach im Anschluss an den Hoftag von Speyer im Oktober 984 noch unter Warin nach Gladbach zurück, wo er am 24. August 985 oder 986 verstarb, bevor der neue Erzbischof Everger von Köln den Konvent vorübergehend nach Groß St. Martin in Köln zog. Die Geschehnisse sind 55 Kuder 2013 (wie Anm. 44), S. 93 – 95. 56 Zit. n. Peter Christian Jacobsen: Lateinische Dichtung in Köln im 10. und 11. Jahrhundert, in: von Euw / Schreiner 1991 (wie Anm. 49), Bd. 1, S. 173 – 189, hier S. 187. – O’Driscoll 2015 (wie Anm. 12), S. 96 übersetzt: „See what the habit of the work, brought here to you, demands: In this, celibate, may you obtain life with Christ.“ 57 Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Willkommen zurück! Das Widmungsbild des Mailänder Evangeliars (Biblioteca Ambrosiana, C. 53 Sup.) und Gründungsabt Sandrad von Mönchengladbach, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 226 (2023) (im Druck). 58 Zu Sandrad vgl. Reiner Rosen: Leben und Persönlichkeit des Abtes Sandrad von Mönchengladbach, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 42 (1968), S. 81 – 102. – Natalie Alexandra Holtschoppen: Zur Gründungsgeschichte des Klosters St. Vitus in Mönchengladbach. Die Necrologeinträge für die Gründer Baldricus, Gero und Sandrad, in: Mittelalter an Rhein und Maas. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins. Dieter Geuenich zum 60. Geburtstag, hg. v. Uwe Ludwig und Thomas Schilp (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas, Bd. 8), Münster 2004 S. 69 – 85.

Das Gießener Evangeliar und die ‚Malerische Gruppe‘ der Kölner Buchmalerei | 73

in der Gründungchronik von Gladbach überliefert.59 Identifiziert man das Widmungsbild mit Sandrad – in keinem anderen Kloster der Umgebung ist in dieser Zeit ein Wechsel des Abbatiates oder eine andere Erklärung für das Bild greifbar –, dann dürfte es die Rückkehr nach Gladbach zeigen, bei welcher der Konvent dem alten und neuen Abt die Regel überreicht; Sandrad hält in seiner Linken ein Evangeliar. Für die Datierung bedeutet dies, dass der Mailänder Codex z­ wischen Herbst 984 und August 985/986 entstanden sein muss. Dies deckt sich mit der Nähe zum Pariser Sakramentar, das demnach wenig jünger sein muss. Die Beziehungen von Gladbach nach St. Pantaleon, wo die Buchmalereiwerkstatt mit großer Wahrscheinlichkeit gesessen hat, waren und blieben eng, wie nicht zuletzt die Berufung des Gladbacher Abtes Fulbert zum Abt von St. Pantaleon (amt. 1019 – 1021) belegt. Schwieriger ist die Datierung der ebenfalls nahe zusammenhängenden Handschriften in Gießen und Darmstadt, wobei der Hitda-Codex etwas jünger als das Gießener Evangeliar sein dürfte (s. u.). Ist aus dem Hitda-Codex und seiner Stifterin Äbtissin Hitda trotz großer Mühen der Forschung bisher keine eindeutige Datierung abzuleiten gewesen, so enthält der Gießener Codex auf fol. 12r in der Rahmung der Liber generationis-Seite die bereits mehrfach angesprochenen Medaillons mit den drei Erzbischöfen sowie dem jugendlichen Herrscher oben.60 Prinzipiell könnte es sich um eine Darstellung eines nicht näher personalisierten erzbischöflichen Kollegiums in Zuordnung zu seinem Herrscher handeln, allerdings fällt die sehr spezifische und singuläre, individuelle Differenzierung der drei in ihren Büstenbildern auf, die sich so bei Gruppendarstellungen überhaupt nicht findet. Ist der untere Erzbischof en face gezeigt, sind die beiden mittleren nach innen gewandt und in sehr unterschiedlicher Größe wiedergegeben. Dies erklärt sich nur, wenn man hier konkrete Personen voneinander unterscheiden wollte (selbstverständlich ohne Porträthaftigkeit annehmen zu wollen). Dies wird durch die Liber Generationis-Seite im Kölner Evangeliar 312 gestützt, die ebenfalls konkrete Personen meint und ebenfalls auf Beschriftung verzichtet (Abb. 81). Wenn es sich aber um konkrete Erzbischöfe handelt, dann stellt sich die Frage, wer gemeint gewesen sein kann und wann drei Erzbischöfe an der Seite des jugendlichen Herrschers gemeinsam aufgetreten gedacht werden können sowie für eine Kölner Leserschaft keiner spezifischen Benennung bedurften. Dies dürften kaum irgendwelche entfernteren Metropoliten sein, die einer Beschriftung bedurft hätten, sondern am ehesten die drei rheinischen Erzbischöfe in Köln, Mainz und Trier. In der fraglichen Zeit waren dies Willigis von Mainz (amt. 975 – 1011), Egbert von Trier (amt. 977 – 993) und Warin (amt. 976 – 985) oder Everger von Köln (amt. 985 – 999). Die drei Sitze standen in einem 59 Die Gründungsgeschichte der Abtei St. Vitus zu Mönchengladbach, hg. u. übers. v. Manfred Petry (Beiträge zur Geschichte von Stadt und Abtei Mönchengladbach, Bd. 5), Mönchengladbach 1974. – Vgl. zuletzt auch Natalie Alexandra Holtschoppen: St. Vitus zu Gladbach. Studien zum Kapiteloffiziumsbuch der ehemaligen Benediktinerabtei St. Vitus zu (Mönchen-)Gladbach (Beiträge zur Geschichte der Stadt Mönchengladbach, Bd. 48), 2 Bde., Mönchengladbach 2008. 60 Vgl. Schneider 1991 (wie Anm. 40), S. 246 – 248 sowie den Beitrag von Matthias Schrör in d­ iesem Band.

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Konkurrenzverhältnis zueinander und traten politisch nur sehr kurzzeitig als Einheit auf, als sie in den Wirren um die Königsherrschaft des jungen Otto III. ­zwischen 983 und 985 ­diesem gegen Heinrich den Zänker zur Durchsetzung verhalfen. Anfangs standen Köln und Trier nicht eindeutig auf der Seite des Ottonen, wurden dann aber spätestens unter Everger klare Stützen insbesondere Kaiserin Theophanus. Aus Kölner Sicht dürfte die ­Allianz der drei Metropoliten nicht zuletzt in Lothringen die Durchsetzung Ottos III. bewirkt haben, weshalb ein solches Bilddokument durchaus als selbstbewusstes Herausstellen der eigenen Personen (und auch eines geistlichen Selbstverständnisses) gemeint gewesen sein könnte. Eine passende Gelegenheit zur Präsentation eines solchen Programms war der Hoftag Ostern 986 in Quedlin­burg, auf dem die Großen des Reiches dem jetzt unbestrittenen König huldigten und die Erzbischöfe dabei vermutlich ihre Rolle demonstrieren wollten.61 Nimmt man diese Medaillons ernst, so können sie eine Datierung der Gießener Handschrift in die Zeit um 985/986 stützen, was dann ähnlich auch für den Hitda-Codex gelten darf. Dies entspricht ihrer stilistischen und motivischen Stellung nach den Pariser und Mailänder Codices, aber vor Köln 312. Dessen Datierung über die Medaillons auf fol. 22v ist von der Forschung bereits breit erörtert worden und wurde auch oben bereits angesprochen. Mit Rainer Kahsnitz und Ulrich Kuder muss die Datierung z­ wischen 991 und 994 angesetzt werden.62 Während der umstrittenen ersten Herrscherjahre Ottos III. ab 983 hatten die beiden Kaiserinnen die Regentschaft für ihn geführt und seine Durchsetzung betrieben. Im Sommer 985 trat die schon früher bestehende Rivalität ­zwischen den Frauen wieder auf und Adelheid zog sich bis zum Tod Theophanus 991 nach Italien zurück. Nach ihrer Rückkehr führte sie die Reichsgeschäfte bis zur Schwertleite und Volljährigkeit Ottos III. im Jahre 994, trat danach wieder politisch zurück. Wären die Medaillons ­zwischen 983 und 991 entstanden, dann wäre eine gleichberechtigte Anordnung der beiden Frauen zu erwarten gewesen; die bildliche Absetzung Theophanus zudem in der sehr ungewöhnlichen Darstellung mit den verhüllten, zum Gebet erhobenen Händen und in ihrer Bezugnahme auf das Agnus Dei kann mit Kahsnitz nur durch ihren Tod erklärt werden. Damit datiert dieser Codex z­ wischen 991 und 994. Vermutlich weist die Unmittelbarkeit der Gebetshaltung Theophanus auf eine Entstehung sehr bald nach ihrem Tod am 15. Juni 991 in Nijmegen hin, was auch die hastige und heterogene Herstellung des Codex erklären könnte, wenn die im Übrigen größte Handschrift der ‚Malerischen Gruppe‘ (32,8 × 24,2 cm) zu ihrer Bestattung in St. Pantaleon fertig werden musste. Ihr Verbleib in St. Pantaleon wäre dann auch eine gute Erklärung für ihren Einfluss auf die jüngeren Kölner Gruppen im 11. Jahrhundert. 61 Vgl. dazu auch Klaus Gereon Beuckers: Pro regi nostro Ottone. Der Quedlinburger Hoftag von 986 und die ottonische Kunst, in: Im Herzen des Imperiums. Archäologie der Ottonenzeit im mitteldeutschen Raum, hg. v. Felix Biermann und Leonhard Helten (Veröffentlichungen des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt), Halle 2024 (im Druck). 62 Kahsnitz 1991 (wie Anm. 49). – Kuder 2013 (wie Anm. 44), S. 90 f.

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Damit datieren alle Kölner Handschriften der ‚Malerischen Gruppe‘ ­zwischen 984/85 und 991, also in einem sehr engen zeitlichen Rahmen. Inwiefern sich die Gruppe mit nicht mehr erhaltenen Handschriften unmittelbar fortsetzte, ist heute nicht mehr zu klären. Im erhaltenen Denkmälerbestand scheint erst in den 1020er Jahren eine Wiederbelebung der Werkstatt erfolgt zu sein. Insgesamt entstanden die Codices der ‚Malerischen Gruppe‘ somit parallel zum Bau des Westbaus von St. Pantaleon, der seit kurzem durch C14-Befunde an Bauhölzern in die 980/990er Jahre gesetzt wird und damit noch mehr als bisher als Grabbau Theophanus anzusehen ist.63 Köln 312 erfüllt mit seinen Medaillons, die zusammen mit der Textzierseite gegenüber durch sehr exponierte Rahmen die reichste Doppelseite des Codex bilden, die g­ leiche Memorialfunktion für die Kaiserin wie das Bauwerk in monumentaler Form. Mit seiner Parteinahme gegen den dann erfolgreichen Zänkersohn Heinrich II. (amt. 1002 – 1024) geriet Köln ins Abseits, aus dem es erst in den 1020er Jahren wieder erwachte – und auch die Buchmalerei wieder aktivierte.

Gießen und Darmstadt: Das Verhältnis zum Hitda-Codex Abschließend ist noch kurz das zeitliche Verhältnis ­zwischen den Evangeliaren in Gießen und Darmstadt anzusprechen, das bei Bloch / Schnitzler, die Gießen an den Schluss ihrer Reihe der ‚Malerischen Gruppe‘ setzten,64 anders als bei Winterer gesehen wird, der den Hitda-Codex (wie auch die Ausführungen oben zeigen) als wenig jünger ansieht.65 Die motivische Weiterentwicklung Gießener Lösungen wie bei Hieronymus legen Winterers Sicht nahe. Dennoch dürften hier teilweise die gleichen Hände beteiligt gewesen sein, auch wenn das Erscheinungsbild der beiden Evangeliare so unterschiedlich ist, da der deutlich größere Hitda-Codex (29 × 21,8 cmgegenüber 21,2 × 16,6 cm) mit seinen vielen szenischen Darstellungen eine erheblich gesteigerte Anspruchshaltung offenbart, die vermutlich mit seiner Stifterin Hitda für den Konvent in Meschede zusammenhängt. Dieser Anspruch zeigt sich auch in der umfassenden Konzeption der Tituli, die in einer direkten Bezugnahme auf die Tituli des Pariser Sakramentars zu lesen sind, wie Joshua O’Driscoll gezeigt hat;66 gemeinsam bilden beide Handschriften den künstlerischen Höhepunkt der ‚Malerischen Gruppe‘.

63 Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Bemerkungen zur kunsthistorischen Spätdatierung des Westbaus von St. Pantaleon in Köln, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 84 (2021), S. 7 – 42. – Ulrike Heckner: Der Westbau von St. Pantaleon in Köln. Ergebnisse der Bauforschung, in: Jahrbuch der Rheinische Denkmalpflege 48 (2022), S. 145 – 191. 64 Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 6), zusammenfassend Bd. 2, S. 27. 65 Winterer 2010 (wie Anm. 7), S. 27 f. 66 O’Driscoll 2013 (wie Anm. 50). – O’Driscoll 2015 (wie Anm. 12).

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Abb. 15: Hitda-Codex, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640, fol. 23r: Darbringung im Tempel; fol. 73r: Heilung des Besessenen; fol. 114r: Heilung der verdorrten Hand; fol. 20r: Verkündigung an Maria.

Das Gießener Evangeliar und die ‚Malerische Gruppe‘ der Kölner Buchmalerei | 77

Im Hitda-Codex sind verschiedene Personen sowohl an der Anlage der Figuren als auch deren Ausgestaltung und den Hintergründen beteiligt gewesen. So meint man in den gelängten Proportionen der Darbringung im Tempel (fol. 23r, Abb. 15) die Gestaltungen des Mailänder Evangeliars wiederzuerkennen. In der Heilung des Besessenen (fol. 73r, Abb. 15) kommt ein gedrungenerer Typ vor, bei dem deutlich mehr Wert auf den durch helle Streifen akzentuierten Streifengrund gelegt ist, der in einer verhärteten Form stark an die Hintergrundidee des Gießener Johannes erinnert. Die im Gießener Evangeliar bei den Evangelisten und insbesondere Matthäus so charakteristischen Hintergründe mit starker Marmorierung finden sich im Hitda-Codex bei den Evangelisten, die ebenfalls verhärtete, wenn auch durch starke Setzung von Lichtern großartig monumentalisierte Formen zeigen, gar nicht. Sie treten nur an untergeordneter Stelle, wie bei der Szene des Bettlägerigen (fol. 170r), auf. Die reichen Streifengründe des Hitda-Codex, die teilweise wie Collagen wirken, scheinen wie bei der Heilung der verdorrten Hand (fol. 114r, Abb. 15) hingegen eine Weiterentwicklung des Hintergrundes der Gießener Kreuzigung (fol. 188r) zu sein und auch aus Mailand Impulse erfahren zu haben – es dürften an allen vier Handschriften teilweise die gleichen Hände beteiligt gewesen sein, wie ja auch die Entstehung zeitlich nahezu parallel am gleichen Ort erfolgte. Dennoch gibt es eine Entwicklung und hierbei wird sehr deutlich, wie im Hitda-Codex Zierformen verdichtet und additiv zusammensetzt werden, dadurch eine Steigerung des ornamentalen und flächenstrukturierenden Zierrates erzielt wird. Ein aussagekräftiges Beispiel hierfür ist auch die Verkündigung (fol. 20r, Abb. 15), bei der noch Architektur als Hintergrundgestaltung hinzukommt, die in Gießen ganz fehlt. Bei den Architekturdarstellungen findet der Hitda-Codex bei einigen Szenen eine innerhalb der gesamten ottonischen Buchmalerei einzigartige Expressivität, wenn beispielsweise bei der Auferweckung des Jünglings von Naim (fol. 115r, Abb. 16) die Bauten jede Statuarik aufgeben und zu tanzen scheinen. Thomas Labusiak hat dafür auf ein um 900 entstandenes Metzer Elfenbein im Victoria & Albert Museum verwiesen (Inv. Nr. 150 – 1866),67 das ebenfalls mit Perspektiven spielt. Die Kölner Dynamisierung von Architekturkulissen durch Stapelung, wechselnde Ansichten und Schweifungen geht darüber jedoch weit hinaus. Für eine s­ olche künstlerische Gestaltung, die sich nahtlos an die Hintergrundformen anschließt, gibt es weder in der Trierer noch der Reichenauer Buchmalerei der Zeit Parallelen, was den Hitda-Codex zu seiner besonderen Bedeutung weit über die Kölner Gruppen hinaus führt – und was weder in Köln noch in anderen Gruppen eine wirkliche Nachfolge gefunden hat. Der Gießener Codex hingegen ist in seinem Anlagenkonzept ohne Szenen zurückhaltender, in seinen marmorisierenden Hintergründen und seiner eigenwilligen, aber sehr gekonnten Farbgebung, die nicht vor Schwarz und dessen Kontrastierung mit Gelb zurückschreckt (was in der karolingischen und ottonischen Buchmalerei ohne 67 Labusiak 2013 (wie Anm. 17), S. 87. – Vgl. Paul Williamson: Medieval ivory carvings. Early Christian to Romanesque, London 2010, Kat. Nr. 50, S. 202 f.

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Abb. 16: Hitda-Codex, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640, fol. 115r: Auferweckung des Jünglings von Naim.

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Parallele ist), ein Meisterwerk von kaum weniger künstlerischer Raffinesse. Beide Handschriften sind in ihrem künstlerischen Anspruch expressiv, zeigen dies jedoch nicht nur in ausladenden Gesten (die Hans Jantzen einmal mit Blick auf die Reichenauer Malerei als „ottonische Gebärdefigur“ bezeichnet hat 68), sondern ebenso in den Gewandanlagen und eben vermeintlich nebensächlichen Bereichen wie den Hintergründen. Dabei sind sie in der Figurenanlage wie im Szenenaufbau dezidiert unantikisch – besonders wenn man sie mit der gleichzeitigen volumenhaften Antikenrezeption beim Gregormeister in Trier vergleicht. Sie sind aber auch nicht einfach byzantinisierend, zumal es der Forschung bis heute kaum gelungen ist, hierfür wirklich überzeugende byzantinische Vorbilder zu benennen, die über die Ähnlichkeiten mit karolingischen Formulierungen beispielsweise der Reimser oder Touroner Gruppen hinausgehen, sondern sie sind Ausdruck einer eigenen, souveränen künstlerischen Abstraktion, die nicht in Körpern, sondern über den Malgestus und in Vibration zu denken scheint.

68 Hans Jantzen: Ottonische Kunst, komm. v. Wolfgang Schenkluhn, Berlin 1990 (ND 2002, OA München 1947).

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Ursula Prinz

Auf ganzer Linie ORNAMENTAL Zur expressiven Formensprache des Gießener Evangeliars aus Köln

„Ornament ist vergeudete arbeitskraft und dadurch vergeudete gesundheit. So war es immer.“ 1 In seinem breit rezipierten, polemischen Vortrag Ornament und Verbrechen von 1908 verkündete Adolf Loos weiter: „Ornamentlosigkeit ist ein zeichen geistiger kraft.“ 2 Es sind Urteile wie diese, die im frühen 20. Jahrhundert ihren Beitrag dazu leisteten, dass das Ornament aus der Avantgarde und Kunstgeschichte verdrängt wurde. Überblickswerke wie The Sense of Order von Ernst H. Gombrich aus dem Jahr 1979, das ursprünglich den Titel „The Unregarded Art“ tragen sollte, räumten der Ornamentik wieder einen Platz in der Forschung ein.3 Gombrichs Untersuchung einer ‚Psychologie dekorativer Kunst‘ schien eine Ergänzung zur ‚Psychologie bildlicher Repräsentation‘ seines Vorgänger­buches Art and Illusion gewesen zu sein.4 Henri Zerner sah in dieser Trennung der Inhalte eine klare Scheidung ­zwischen hoher Kunst und dekorativer Ornamentik.5 Einen wahren Aufschwung zu einem gleichberechtigten und ernstzunehmenden Part der Kunstgeschichte erfuhr die Ornamentforschung im vergangenen Vierteljahrhundert.6 Auch in der jüngsten Buchmalereiforschung wurden die vermeintlich marginalen Schmuckelemente in den Blick genommen.7 Die letzten Studien sind dabei tendenziell kunsttheoretischen 1 Adolf Loos: Ornament und Verbrechen (1908), in: Adolf Loos. Sämtliche Schriften, 2 Bde., hg. v. Franz Glück, Wien 1962, Bd. 1, S. 282 f. 2 Loos 1908 (wie Anm. 1), S. 288. 3 Ernst H. Gombrich: The Sense of Order. A Study in the Psychology of Decorative Art (The ­Wrightsman Lectures, Bd. 9), Oxford 1979, Zitat S. 116. – Vgl. Rez. zu Gombrich 1979, in: Studies in Visual Communication 6 (1980), S. 77 – 81 (David N. Perkins). 4 Ernst H. Gombrich: Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation (The A. W. Mellon Lectures in the Fine Arts, Bd. 5), New York 1960. 5 Rez. zu Gombrich 1979 (wie Anm. 3), in: The New York Review (28. Juni 1979) (Henri Zerner). – Zur Definition von Ornamentik vgl. Richard Neer: Ornament, Incipience and Narrative: Geometric to Classical, in: Ornament and Figure in Graeco-Roman Art. Rethinking Visual Ontologies in Classical Antiquity, hg. v. Nikolaus Dietrich und Michael Squire, Berlin 2018, S. 209 – 239, insb. S. 203 – 209. 6 Vgl. mit Literaturhinweisen Michael Squire: To Haunt, to Startle, and Way-lay. Approaching Ornament and Figure in Graeco-Roman Art, in: Dietrich / Squire 2018 (wie Anm. 5), S. 1 – 35, insb. S. 16, Anm. 36. 7 Zur Rahmenornamentik vgl. Götz Denzinger: Die Handschriften der Hofschule Karls des Kahlen. Studien zu ihrer Ornamentik, Langwaden 2001. – Ursula Prinz: Die Ornamentik der ottonischen

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­ berlegungen verhaftet, die das Ornament als semantische Ebene lesen, seltener finden Ü sich detaillierte Formanalysen im Sinne einer vergleichenden Stilkritik. Doch konnte anhand der Kölner Buchmalerei um das Jahr 1000 aufgezeigt werden, dass die Rahmenornamente andere Vorlagen heranziehen als die figürliche Ausstattung und ihre eigene Stilgeschichte durchlaufen.8 Gerade aus ornamentaler Sicht fällt das sogenannte Gießener Evangeliar (Universitäts­bibliothek Gießen, Hs 660), das seit Peter Bloch und Hermann Schnitzler der ‚Malerischen Gruppe‘ zugeordnet wird,9 aus der sonstigen Kölner Buchmalerei des 10. Jahrhunderts h ­ eraus. Um dieser Besonderheit nachzugehen, muss der Rand ins Zentrum rücken.

* Das Gießener Evangeliar beginnt mit zwei Titeldoppelseiten, die recto Tituli auf Purpurgrund und verso eine Maiestas Domini sowie ein Hieronymusbild enthalten. Die vier Evangelien werden ebenfalls von zwei Zierdoppelseiten eingeleitet. Ausnahmen bilden das Matthäusevangelium, wo noch die anschließenden zwei Textseiten durch Rahmen ausgezeichnet sind, sowie das Johannesevangelium mit einem vorangestellten Kruzifix. Die bewusste Anlage in Doppelseitenform betont den zusammengehörigen Charakter der gegenüberliegenden Blattseiten in der Art von Diptychen. Dabei umschließt der Rahmen jeweils die Malereien, Farbfelder oder -streifen vollständig und betont damit die Bildhaftigkeit der Buchmalerei. Die in Deckfarben gehaltenen Seitenrahmen weisen beim ersten Blättern einen recht einheitlichen Duktus auf. In der Einzelgestaltung herrscht dabei eine Varianz mit abgestuften Formentfaltungen. Die Rahmenvariationen ­seien nachfolgend, anachronistisch, ausgehend von den einfachen Ausprägungen bis zur graduell ­gesteigerten Komplexität vorgestellt. Die schlichtesten Rahmenformen der gesamten Handschrift begegnen auf der Doppelseite vor dem Beginn des Johannesevangeliums mit dem Schluss des Breviariums auf der verso- und dem Evangelistenbild auf der recto-Seite (fol. 188v/189r). Es handelt sich jeweils um einfache Leisten. Der Rahmen um das Johannesbild entspricht der Grundform, die Kölner Buchmalerei. Studien zum Rahmenfüllwerk (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen ­Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 71), Köln 2018. – Kristin Böse: Von den Rändern gedacht. Visuelle Rahmungsstrategien in Handschriften der Iberischen Halbinsel (Sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst, Bd. 8), Wien 2019. – Zum handschriftengebundenen Textilornament vgl. Anna Bücheler: Ornament as Argument. Textile Pages and Textile Metaphors in Early Medieval Manuscripts (Zurich Studies in the History of Art, Bd. 22), Berlin 2019. – Zur ornamentalen Steinimitation vgl. Ilka Mestemacher: Marmor, Gold und Edelsteine. Materialimitation in der karolingischen Buchmalerei (Naturbilder, Bd. 11), Berlin 2021. 8 Prinz 2018 (wie Anm. 7), insb. S. 104 – 108. 9 Peter Bloch / Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, 2 Bde., Düsseldorf 1967/70. – Vgl. hierzu auch den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in ­diesem Band.

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Abb. 17: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Hs. 660, fol. 123r: Evangelist Lukas (Detail).

hier Typ A genannt sei und aus der die meisten Modifikationen hervorgehen: Es ist ein schmaler, monochromer Farbrahmen, der sich aus zwei hell-dunkel nuancierten – in ­diesem Fall roten – Streifen zusammensetzt. Die Anmutung einer Licht- und Schattenseite weckt Assoziationen an plastisch modellierte Rahmenleisten. Nach innen hebt sich die Rahmung durch eine weiße Linie von der gerahmten Fläche ab. Diese läuft in den Winkeln aus und betont damit die Gehrungen. Die äußeren Ecken sind mit orange umrandeten Goldkreisen bestückt. Auf der gegenüberliegenden verso-Seite ist das Textfeld von einem schmalen Silberrahmen mit feiner Ornamentzeichnung eingefasst. Zur Abgrenzung soll diese Form eines einfachen Edelmetallrahmens mit eingezeichneten Mustern im Folgenden Typ B genannt werden. In dem orangefarbenen Minium, mit dem die Konturen des Rahmens gezogen wurden, sind in den oberen und unteren Leisten stufenförmig verlaufende Zacken eingezeichnet, ein sogenanntes Stufenband. In den Gehrungsecken sind Herzformen eingepasst. Die zarten Verzierungen sind der einzige ornamentale Schmuck in den Rahmen dieser Doppelseite. Mehr Spiel findet sich auf der Doppelseite vor dem Beginn des Lukasevangeliums (fol. 122v/123r). Der oben dargelegte Aufbau nach Typ A lässt sich auf der recto-Seite gut nachvollziehen. Das Evangelistenbild ist von einem schmalen, hell- und dunkelviolett schattierten Rahmen umgeben. Anders als bei Johannes treffen die Farbstreifen hier allerdings nicht überall plan aufeinander, sondern sind in den vertikalen Rahmenleisten durch kleine Ausbuchtungen variiert (Abb. 17). Zunächst fallen die Wölbungen auf, die aus der weißen Rahmenlinie hervorgehen. Bei näherer Betrachtung ist zu erkennen, dass

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auch die beiden Violetttöne stellenweise ineinander verhakt sind, statt parallel aneinander zu liegen. Die einstigen Streifen scheinen in Bewegung versetzt zu sein. Der Farbrahmen wird überdies von Filigrandekor in Gold überlagert. Dieses Besatzornament erscheint an den vertikalen Rahmenteilen als intervallweise auseinandergezogene Wellenlinie, die die Stellen der Ausbuchtungen umspielt, ohne dabei einem starren System zu folgen. Am unteren Stück der rechten Rahmenleiste tritt eine singuläre Abweichung in Form von ausfedernden Strichen auf. Sie treten an der dicksten Stelle des dunklen Rahmenstreifens auf und scheinen den breiten Raum bewusst zu füllen. Oben und unten setzt sich das Filigrandekor als paarweise angeordnete, geschwungene Linien fort, die leicht über den Rahmen hinausgehen. Sie erscheinen wie umschlingende Banderolen und erzielen bei aller Flächigkeit doch eine vollplastische Illusion. Als Eckausläufer fungieren wieder goldene Kreise – andernorts auch wahlweise Pfeilspitzen. Zusätzlich sind den Rahmenleisten allseitig Appliken aufgesetzt, die aus zwei Kreisen und einer zugespitzten Mittelform bestehen und die Kreuzachsen hervorheben. Gleiche Appliken finden sich auf der gegenüberliegenden verso-Seite. Hier ist die Textseite von einem blaugrünen Rahmen, mit gelber statt weißer Feinzeichnung, umgeben. Nach innen gibt es einen zweiten, breiteren Rahmen mit mehrfacher Farbabstufung, die einen graduellen Verlauf von Hell- bis Dunkelrot erzeugt. Als Eckmotiv erstrecken sich über die Breite des roten Rahmens in Deckfarben ausgeführte Herzformen mit lilienartiger Binnenzeichnung, die hier farblich mit dem Rahmen der recto-Seite korrespondieren. Eine Steigerung bildet der Rahmenschmuck auf der Doppelseite vor dem Markusevangelium (fol. 77v/78r). Die Bordüren sind sehr ähnlich zu jenen von fol. 122v/123r aufgebaut, mit dem Unterschied, dass hier auch der mehrteilige Rahmen der Textseite mit goldenem Filigrandekor besetzt ist. Der innere violette Rahmen der verso-Seite verfügt über frei gezeichnete Wellenlinien. Der äußere Rahmen korrespondiert mit der Gegenseite: Beide zeigen oben und unten eine Punktreihe und an den Seiten das bekannte Banderolenmotiv. Die Doppelseite, mit der das Johannesevangelium beginnt, weist eine sehr hohe Dichte des Filigrandekors auf besonders breiten Rahmungen auf (fol 189v/190r). Das Bordürensystem ist im Grunde recht schlicht aufgebaut, sein Prunk ergibt sich aus der Wiederholung und Staffelung. Hinzu kommt die starke Betonung der Achsen und Ecken durch Zierquadrate verso und große Eckpalmetten recto. Einen expressiven Höhepunkt bildet die Ornamentausprägung zu Beginn des Matthäus­ evangeliums, also gleich zu Beginn des Hauptteils des Evangeliars (fol. 10v/11r). Auf der recto-Seite ist die Grundform des Rahmentyps A noch klar zu erkennen, doch sein aus zwei linearen Farbstreifen bestehender Aufbau ist aufgelöst und in Schwingung versetzt worden. Die weiße Linie, ­welche den Rahmen zum inneren Bildraum hin abgrenzt, nimmt mehr Platz ein und verschränkt sich mit den Schwüngen und Brechungen der hell- und dunkelroten Partien. Die Gesamtwirkung mutet marmoriert an, wobei die einzelnen ursprüng­ lichen Rahmenbestandteile noch erkennbar sind. Das goldene Filigranornament bindet

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die Bordüren zu einer geschlossenen Einheit zusammen. Auf der verso-Seite ergibt sich ein ähnliches Bild, wenn zunächst nur der innere violette Rahmen betrachtet wird. Dieser ist von Goldfiligran überlagert, das hier, nicht wie recto den Rahmen zusammenbindet, sondern vielmehr als weitere Schicht aufgesetzt erscheint. Die Dynamik, die der belebte Pinselstrich vorgibt, bleibt erhalten und wird vom Filigran verstärkt. Von außen ist der violette Farbrahmen von einem schmalen silbernen Rand umgeben. An den Seiten bildet dieser nach innen Ausbuchtungen aus, w ­ elche durch die Miniumkontur weiter betont werden. Der Buchmaler hat sich entschieden, rechts und links jeweils noch Streifen in dem Farbton des dunkelblaugrauen Bildgrundes hinzuzufügen. Damit konnte die Breite der linken Zierseite an den rechten Rahmen der rechten angepasst werden. Derartige Koordination unterstreicht den Diptychoncharakter dieser Doppelseiten. Die darauffolgende Doppelseite ist in ihrer Ornamentik eine absolute Besonderheit in der gesamten Handschrift, denn sie verfügt über Rahmenfüllwerk, wie es in karolingischen und ottonisch-salischen Handschriften üblicherweise tradiert ist (fol. 11v/12r). Rahmenfüllwerk bedeutet, es gibt eine innen und außen begrenzte Rahmenfläche, die von einem Ornamentfries gefüllt ist, sei es vegetabilisch oder geometrisch. Auf der versoSeite ist hier Blattwerk in kontrastierend gelber Zeichnung auf dunklem Grund zu erkennen – oben und unten sind es Palmettenreihen mit stilisierten Zwischenstücken, rechts und links zeigen jeweils drei Lanzettblätter mit wellenartigen Ausläufern nach innen. Die recto-Seite verfügt über einen mehrteiligen Rahmen mit zwei ornamentierten Bordüren. Diese sind mit Ranken geschmückt sowie einem übereinander gereihten Motiv, das an ein stilisiertes Trichterblatt erinnert. Einzig im Matthäusevangelium werden neben den einleitenden zwei Doppelzierseiten noch die ersten beiden folgenden Textseiten ausgezeichnet (fol. 12v/13r). Ihre Auszeichnungsweise beruht auf dem Hinzufügen von Rahmen. Es handelt sich dabei um zurückgenommene, schlichtere Rahmen nach dem anfangs vorgestellten Typ B. Der Evangelientext ist jeweils von schmalen Silberbordüren mit schwarzer beziehungsweise miniumfarbener Kontur eingefasst. Verso erscheint rundum eine Reihe stilisierter Pfeilblätter oder Herzformen, recto oben und unten ein Stufenbandornament und an den Seiten knospenbesetzte Ranken. Letzteres Ornament wirkt im Kontext der grafischen Zeichnung recht belebt. Es tritt leicht über den Rahmen – ähnlich wie die bereits besprochenen Goldbanderolen – und scheint an den Rahmenseiten emporzuklettern. Dem Rahmentyp B lässt sich auch die Einfassung des Kruzifixus vor dem Beginn des Johannesevangeliums zuordnen (fol. 188r). Es handelt sich hierbei um einen ausnahmsweise nicht silbernen, sondern goldenen Rahmen mit schwarz eingezeichnetem Perlstabornament an den Längsseiten.

* Das Rahmensystem der Kölner Handschriften des 10./11. Jahrhunderts folgt in der Regel einer klaren Struktur, die sich beispielhaft anhand des Gerresheimer Evangeliars der ‚Malerischen

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Abb. 18: Gerresheimer Evangeliar, St. Margareta Düsseldorf-Gerresheim, fol. 20v: Evangelist Matthäus.

Sondergruppe‘ und des Sakramentars aus Tyniec der ‚Strengen Gruppe‘ demonstrieren lässt (Abb. 18 u. 19).10 In beiden Handschriften ist der Rahmenschmuck auf das Wesentliche reduziert, wodurch sich der vorherrschende Grundtyp veranschaulichen lässt: Das Bildoder Textfeld ist von zwei goldenen Leisten umgeben, deren Zwischenfläche von einem Ornamentfries in Deckfarben gefüllt ist, also dem Rahmenfüllwerk. Meistens treten an den äußeren Ecken Ausläufer heraus, die mit Kugeln oder Pfeilspitzen enden. Diese eingefasste Ornamentbordüre wird häufig noch mit farbigen Rahmenstreifen kombiniert, wie es in Tyniec mit dem schmalen orangefarbenen Rande der Fall ist. Was das Füllwerk 10 Zum Gerresheimer Evangeliar (St. Margareta Düsseldorf-Gerresheim) vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 64 – 68. – Das Gerresheimer Evangeliar. Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Beate Johlen-Budnik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 1), Köln 2016. – Zum Sakramentar aus Tyniec (Biblioteka Narodowa Warschau, BOZ 8) vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 100 – 103. – Das Sakramentar aus Tyniec. Eine Prachthandschrift des 11. Jahrhunderts und die Beziehungen ­zwischen Köln und Krakau zur Zeit Kasimirs des Erneuerers, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Andreas Bihrer unter Mitarbeit von Ursula Prinz (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 3), Köln 2018.

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Abb. 19: Sakramentar aus Tyniec, Biblioteka Narodowa Warschau, BOZ 8, pag. 7: Erste Seite des Kalendariums.

betrifft, wird das Kölner Ornamentrepertoire von Blattwerk dominiert. Am häufigsten ist die Alternation von Palmetten und Stauden sowie Variationen mit flankierenden Halbblättern und unterschiedlichen Repetitionen.11 Blattreihen treten oft als geneigte Halb- oder Lanzettblätter auf, aber auch in liegender Form. Durch wechselständige Anordnungen von Fächerblättern, Blüten und anderen vegetabilischen Motiven entstehen häufig ­wellenförmig verlaufende Muster. In den Handschriften der ‚Malerischen Gruppe‘, zu der das Gießener Evangeliar gehört, besteht ein divergentes Rahmensystem, das sich von den übrigen Stilgruppen unterscheidet. Neben den massiv wirkenden, in Gold gefassten Ornamentbordüren, gibt es auch die Variante des schmalen Farbrahmens aus nuancierten Streifen nach Typ A. Im Mailänder Evangeliar tritt auf fol. 77v/78r jeweils ein schmaler roter Rahmen mit Hell-Dunkel-­Verlauf auf.12 Auf der verso liegenden Incipitseite erscheint innen zusätzlich die goldgefasste Ornamentbordüre, ­welche – analog zur Miniatur und ergänzend zum Text – selbst zum Bildinhalt 11 Zu den verschiedenen Formen des Blattwerks vgl. Prinz 2018 (wie Anm. 7), S. 28 – 45. 12 Zum Mailänder Evangeliar (Ambrosiana Mailand, C 53 sup.) vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 31 – 37 sowie den Beitrag von Fabrizio Crivello in ­diesem Band.

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zu werden scheint. Insgesamt wirken die Rahmungen im Mailänder Evangeliar sehr klar und statisch. Im Hitda-Codex stehen ebenfalls breite, ornamentgefüllte Rahmen (wie auf fol. 74v) sowie schmale Farbeinfassungen nach Typ A (wie auf fol. 78r) nebeneinander.13 Bei Letzteren wird ihre Feinheit, im Vergleich zu den massiveren Ornamentbordüren, durch besonders zarte Goldbanderolen betont. Im Hitda-Codex erscheint auch der Rahmen des Gießener Typs B in Form einer schmalen Goldleiste mit Stufenbanddekor, das – wie auch im Gießener Evangeliar – so fein eingezeichnet wurde, dass es wie in das Metall geritzt wirkt (fol. 208r). Im Pariser Sakramentar herrscht große Varianz in den Rahmenformen.14 Wie bei den beiden zuvor genannten Handschriften bestehen hier die in Köln tradierten breiten Ornamentbordüren neben den schmalen Farbleisten, ­welche eine Eigenart der ‚Malerischen Gruppe‘ sind. Diese sind meistens mit feinsten Filigranbanderolen besetzt. An ausgewählten Stellen wird in den Farbstreifen mit Ausbuchtungen gespielt, ­welche in Paris allerdings symmetrisch geordnet erscheinen. Auf fol. 61r wird d ­ iesem Formspiel des hier grünen Farbstreifens sogar ein Platz z­ wischen zwei goldenen Leisten eingeräumt, welcher üblicherweise von Ornamentfriesen gefüllt ist. Im Gießener Evangeliar gibt es die massive Rahmenform aus zwei Goldleisten und Füllwerk nicht.15 Lediglich eine Andeutung findet sich in den Ornamentrahmen zu Beginn des Matthäusevangeliums (fol 11v/12r). Das Hauptmotiv der Kölner Ornamentik, eine alternierende Reihe aus runden Palmettenblättern und verjüngten Stauden, wurde im Rahmen der Incipitseite in markanter Stilisierung eingesetzt. Die Binnenzeichnung, w ­ elche den Formen eine gewisse Plastizität gäbe, erscheint dunkel auf dunklem Grund. Dafür ist die Kontur in leuchtendem Gelb nachgezogen. Dieser Linienumriss beherrscht den Gesamteindruck. Das Motiv ­zwischen den Palmetten bilden grafische Zwickel anstelle vegetabiler Stauden und verstärken die betont lineare Wirkung. Die Längsseiten ziert eine Modulation der Lanzettenreihe, die sich hier aus jeweils drei Blättern – nach innen statt, wie in Köln sonst üblich, nach außen gewendet – mit einer dazwischenliegenden, formfrei gewellten Verbindungslinie zusammensetzt. Bei diesen nebeneinander gestellten Ornamenttypen handelt es sich um 13 Zum Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640) vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 44 – 53. – Christoph Winterer: Das Evangeliar der Äbtissin Hitda. Eine ottonische Prachthandschrift aus Köln. Miniaturen, Bilder und Zierseiten aus der Handschrift 1640 der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Darmstadt 2010. – Äbtissin Hitda und der HitdaCodex. Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013. 14 Zum Pariser Sakramentar (Bibliothèque nationale de France, Lat. 817) vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 37 – 44 und den Beitrag von Cécile Voyer in ­diesem Band. 15 Auch nicht in den Giebeln der Kanontafeln, wo derlei Ornamentbordüren in den Kölner Handschriften üblicherweise auch zum Einsatz kommen. Hierin zeigt sich wiederum der bewusste Verzicht zugunsten einer weiteren Betonung des Grafischen und der Farbe.

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Abb. 20: Mailänder Evangeliar, Ambrosiana Mailand, C 53 sup., fol. 77v; Hitda-Codex, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640, fol. 119r u. fol. 74v; Pariser Sakramentar, Bibliothèque nationale de France, Lat. 817, fol. 17v.

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die geläufigste Kombination in der ‚Malerischen Gruppe‘ (Abb. 20). Auch im Mailänder Evangeliar erscheint das Staudenmotiv der Palmetten-Stauden-Reihe als reduzierte Zwickelform. Seitlich steigen anstelle von spitzen Lanzettenblättern geschwungene Halbblätter empor. Im Hitda-Codex finden sich unterschiedliche Varianten: Zum einen die klassische Version von dreiteiligen Palmblättern und schmalen Stauden, zum anderen eine grafische Interpretation, in der die Palmette durch Pfeilspitzen und die Stauden durch die bekannte stilisierte Zwickelform ersetzt wurden. Für diese Variation finden sich Entsprechungen im Pariser Sakramentar. Keine der Handschriften weist eine derart starke Linienbetonung wie das Gießener Evangeliar auf. Auch für die losgelöste Form einer Aneinanderreihung der Lanzettenblätter gibt es keine Parallelen. Bei allen stilistischen Unterschieden ist das Mailänder Beispiel auf fol. 77v eng mit der Gießener Rahmenform auf fol. 11v verwandt. Es handelt sich jeweils um Incipit-Zierseiten mit Purpurfeldern. Sie sind beide von einer Ornamentbordüre mit dunklem Grund umschlossen und außen von einem roten Farbrahmen eingefasst. An den Ecken erscheinen Kreisformen und an den Kreuzachsen spitz auslaufende Appliken. Besonders prägnant ist das zarte Punktmotiv, das in weiß die mittleren Rahmenstücke des Mailänder Blatts schmückt und an den horizontalen Rahmenleisten auch in Gießen auftritt. Der in Köln als Grundtyp vertretene Ornamentrahmen aus zwei Goldleisten verleiht der Mailänder Zierseite eine geordnete, feierliche Form. Im Gießener Evangeliar mangelt es nicht an Goldund Silberfarbe, doch löste man sich von jener hieratischen Doppelleiste. Als Abgrenzung erscheinen stattdessen klare weiße und leuchtend gelbe Linien. Der Duktus, der im Rahmen vorherrscht, überträgt sich hier auch auf die gerahmte Fläche. So dynamisch ‚befreit‘, wie das korrespondierende Rahmenornament, erscheinen auch die Fülllinien ­zwischen den Schriftzeilen der Incipitseite. Seine expressive Linienführung unterscheidet das Gießener Evangeliar grundlegend von der Mailänder Handschrift. Auf dem in Gießen gegenüberliegenden Blatt (fol. 12r) nimmt das Ornament, fast im Sinne des horror vacui, die ganze Seite ein. Der Purpurgrund ist gefüllt von abstrakten organischen Formen sowie einem belebten Rankengebilde, das eine Brücke herstellt z­ wischen der Initialornamentik und dem rahmenden Rankenfries. Die Ranken der äußeren Bordüren sind weitgehend akkurat gezeichnet, dagegen erscheint die nahezu ‚wilde‘ Federführung auf dem Purpurfeld als bewusst eingesetzte Alternative zu dem beruhigten Stil. Die Liber generationis-Seite ist Träger vierer Figurenmedaillons, deren oberes hier von besonderem Interesse ist.16 Es hat einen breiten goldenen Rand, welcher orange mit Minium eingefasst ist. Es ist die g­ leiche Konturfarbe, die auch die Rahmenelemente umfasst. Die übrigen drei Medaillons enthalten Darstellungen von drei Erzbischöfen, das obere zeigt einen welt­ lichen Herrscher. Seine Büste unterscheidet sich dadurch, dass sie keine Tonsur trägt und anstelle von Kasel mit Pallium in eine Chlamys gekleidet ist. Als Herrscher zeichnet sie 16 Zur Liber generationis-Seite mit den Medaillons vgl. den Beitrag von Matthias Schrör in d ­ iesem Band.

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kein dezidiertes Attribut aus – wäre da nicht die Konturfarbe des Medaillonrahmens. Am Kopfende der Figur scheint diese über das Rund hinauszugehen und bildet drei Stäbe mit runden Endstücken aus, die zusammen eine ornamental-zeichnerische Krone darstellen.17 Das leuchtend orangefarbene Minium, das ansonsten zur Konturierung dient, geht hier weit über seine gedachte Funktion hinaus und wird als linear-ornamentales Element nicht nur zu einem figürlichen Teil des Bildes, sondern zu einem zentralen Inhaltsträger, nämlich der Insignie, die den Herrscher als solchen auszeichnet. Eine ähnliche Verschränkung von ornamentalem Beiwerk und figürlichem Bedeutungsträger gibt es auch in der Kreuzigungsseite (fol. 188r). Die Miniatur ist von einem schmalen Goldrahmen mit Konturzeichnung in Schwarz und Orange eingefasst. An den ­Längsseiten erscheinen Perlstabornamente, die den Rahmen als bildlichen Schmuck kennzeichnen. Christus, das Suppedaneum und die zurückgenommene Hintergrundgestaltung sind in Deckfarben gehalten, Kreuz und Nimbus in Gold. Dabei erscheinen Kreuz und Rahmenbordüre als bildliche Einheit. Nur die Konturlinien setzen die Kreuzbalken vom Rahmen ab. Der Buchmaler hat die gerade Miniumlinie an den betreffenden Stellen des Querbalkens in Zacken ausgeführt, um diese besonders zu kennzeichnen. Im Hitda-Codex und im Pariser Sakramentar (Abb. 38) gibt es jeweils eine klare gestalterische Trennung ­zwischen Kreuz und Rahmen. Im Hitda-Codex wird das durch einen Materialunterschied bewerkstelligt, in dem die Rahmenleisten, auf die der goldene Querbalken des Kreuzes trifft, nicht golden wie die oberen und unteren, sondern purpurfarben sind. Die Assistenzfiguren, die in den anderen Handschriften von auratischen Farbflächen umgeben sind, fehlen im Gießener Evangeliar. Eine malerisch gestaltete Farbigkeit findet stattdessen Einsatz zur Kennzeichnung eines landschaftlichen Horizonts. Während im Hitda-Codex und im Pariser Sakramentar die Landschaftskonnotation durch Erdschollen und Sträucher ausgestaltet wird, ist im Gießener Evangeliar der Boden unter dem Kreuz ornamental abstrahiert. Die Landschaft überträgt sich auf den Rahmen, welcher organisch aufgewölbt erscheint. Hier zeigt sich ein weiteres Beispiel für das Ineinandergreifen von Ornamentrahmen und Bild im Gießener Codex. Es scheint, als würde für die Bluttropfen das g­ leiche Orange verwendet, mit dem auch die Konturlinien des Kreuzes gezogen sind. Die Beschränkung auf wenige Farben vor pergamentsichtigem Grund trägt eine erhabene Ruhe in das Bild. Diese scheint sich zunächst fortzusetzen, wenn auf den folgenden Seiten das Explicit und Johannesbild mit den schlichtesten Rahmenformen der gesamten Handschrift ausgestattet werden, bevor es zum In Principio wieder prunkvoll wird. Die höchste ornamentale Auszeichnung erfährt die Doppelseite zum Liber Generationis, das die politisch relevanten Figurenmedaillons präsentiert. Die besonders repräsentative 17 Tatsächlich wird das Medaillonrund hinter der Figur fortgeführt und die Kronenzeichnung ersetzt an dieser Stelle nicht den Rahmen, sondern wurde ­diesem aufgesetzt. Freundliche Mitteilung von Doris Oltrogge.

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Ausstattung erstreckt sich auch auf die zugehörigen vorausgehenden Doppelblätter zum Beginn des Matthäusevangeliums (fol. 10v/11r). Hier entfalten die kennzeichnenden Merkmale der Gießener Ornamentsprache ihre Wirkung in Vollkommenheit. Das bereits auf anderen Seiten angeklungene Zusammenspiel von Rahmenornamentik und Binnengestaltung nimmt in der Doppelanlage mit Explicit-Textzierseite und Matthäusbild die handschriftimmanent höchste Form an. Die Auszeichnungsschrift des Explicit ist in Silber hinterlegt. Es handelt sich dabei nicht um streng rechteckige Felder, sondern um leicht geschwungene Streifen mit schmalerer Mitte und breiteren Enden. Diese Schriftbänder bilden in den ­Kreuzachsen Wölbungen aus, ­welche an die Ausbuchtungen des äußeren Silberrahmens anbinden. Zwischen den Textfeldern ist die Fläche mit gezackten Linien gefüllt, ganz im Duktus des goldenen Filigrandekors am Rand. In die frei gezeichneten Interlinearzackenlinien sind in unregelmäßiger Form diagonale Haken geschlagen, die an Nägel erinnern und aufzeigen, dass der Buchmaler keine Asymmetrien scheute. Das gegenüberliegende Evangelistenbild ist von einem roten Rahmen nach Typ A umgeben, der den ursprüng­ lichen Gedanken plastisch anmutender, hell-dunkel schattierter Bordüren abstrahiert. Die aneinander liegenden Farbstreifen erscheinen belebt und miteinander verhakt. Diese Art des Formenspiels findet sich auch in der Hintergrundgestaltung der Miniatur wieder. Der bekannte ottonische Streifengrund wurde gebrochen und fantasievoll deformiert. Die Wahl eines hellen und dunklen Tons der gleichen Farbe in Verbindung mit Weiß entspricht der Gestaltung der rahmenden Bordüren. Es scheint, als würde der in der Handschrift in seiner Abstraktion gesteigerte Rahmenaufbau nun als marmoriertes Muster auf die Fläche übertragen. Die obere Hälfte des Grundes ist gänzlich in einem dunklen Farbton mit leicht abgetönten Streifen gehalten, der das Bild insgesamt beruhigt. Diese zurückgenommene Oberpartie bietet nicht nur einen klaren Hintergrund für den großen Nimbus des Evangelisten, sondern unterstreicht auch die sie umgebende, kontrastierende Dynamik der Malerei. Die ornamentale Formensprache erstreckt sich nicht nur auf die unfigür­lichen, sondern auch auf die figürlichen Bildelemente. Sie äußert sich insbesondere in der grafischen Gewandgestaltung, wie man bei der Johannesminiatur am besten nachvollziehen kann (fol. 189r), oder – wie bei Matthäus zu sehen – in der äußeren Form der Schriftrolle, die den zugrunde­ liegenden Gegenstand völlig abstrahiert. Die Zierseiten verfügen über keinen hermetisch abgeschlossenen Bildraum, welcher sich klar vom Rahmen absetzt. Es besteht ein fließendes Ineinandergreifen durch jene Brücke, die die Ornamentik schlägt. Das Ornament beschränkt sich demnach nicht auf zugewiesene Partien, wie Rahmenbordüren oder Zierbuchstabenfelder, sondern überschreitet und verwischt die Grenzen zu den inhaltlich zentralen Trägern von Wort und Bild.

* Eine Idee der Handschriften der ‚Malerischen Gruppe‘ sind die schmalen Rahmungen mit graduellem Farbverlauf, der nach innen heller werdend in einem weißgehöhten Streifen

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mündet und hier Typ A genannt wurde. In den übrigen ‚malerischen‘ Handschriften existiert parallel zu den Farbstreifenbordüren in verschiedenen Variationen noch der breite Ornamentrahmen mit zwei Goldleisten, welcher sich durch die gesamte Kölner Buchmalerei dieser Zeit zieht. Das Gießener Evangeliar bildet mit seinem bewussten Verzicht auf diese Rahmenform eine Ausnahme. Die Formensprache der gesamten Handschrift ist von der frei gezeichneten Linie ohne strenge Begrenzungen geprägt. In diese hätte die Statik des massiveren Ornamentbordürentyps kaum gepasst, weshalb wohl auf diesen verzichtet wurde, obwohl die Schwesterhandschriften diesen uneingeschränkt einbinden. Die „Zufälligkeit der Pinselführung“, ­welche dem prominenteren Hitda-Codex zugeschrieben wird,18 klingt in der Darmstädter Handschrift gewiss in Einzelformen an, zeigt sich in vollem Maße jedoch im Gießener Evangeliar, das den Höhepunkt expressiver Abstrak­tion darstellt. Die Rahmungen und Binnenornamente erscheinen nahezu ‚expressionistisch‘ mit einer zwanglosen, aber sicheren Linienführung. Die Auflösung des nuancierten Rahmens mit seinen verformten und gebuchteten Farbstreifen wird durch golden aufgelegte Wellenund Zickzacklinien unterstrichen. Die expressive Formensprache, die sich in den Bordüren in kurvierten Windungen und abknickenden Brechungen zeigt, überträgt sich auch auf die Gestaltung der Miniaturen und ihrer Streifengründe. Der spielerische Umgang mit der Ornamentik äußert sich beispielhaft in der orangefarbenen Höhung auf der Initialzierseite zum Liber Generationis, wo die Herrscherkrone nicht Teil der eigentlichen Figurendarstellung ist, sondern erst über die Rahmenkontur hinzugefügt wird. Im Pariser Sakramentar findet eine expressive Pinselführung zur Flächenfüllung der sphärisch anmutenden Formationen Einsatz (wie in der Verkündigungsszene auf fol. 12r oder um Maria und Johannes in der Kreuzigungsszene auf fol. 59r). Dieser besondere malerische Ausdruck scheint mit einer aufgewerteten Inhaltlichkeit belegt zu sein. Im Mailänder Evangeliar wirken die Streifengründe hinter den Evangelisten überwiegend beruhigt linear. Nur im Matthäusbild kommt Bewegung in Form von rhythmischen, wellenartigen Ornamenten hinein (fol. 19r). Die regelmäßige Ordnung macht die Ornamentik zu einem Repetitionsmuster, das an Teppichgründe erinnert. Die besondere Expressivität im Gießener Evangeliar zeugt von einer singulären Experimentierfreude. Sie findet in der Folge keinen Nachklang, denn im Hitda-Codex ist man um eine Balance ­zwischen Ordnung und Expression bemüht. Wie im Pariser Sakramentar taucht auch hier der stark belebte Pinselstrich zur Kennzeichnung auratischer Sphären auf (auch hier insbesondere bei der Verkündigung auf fol. 20r und der Kreuzigung auf fol. 207v). Der Streifengrund des Lukasbildes auf fol. 118r ist auf ähnliche Weise ornamentiert wie im Mailänder Evangeliar. Der expressive Ausdruck, der das Gießener Evangeliar auszeichnet, klingt im Hitda-Codex jedoch bereits ab. Die ornamentalen Besonderheiten der ‚Malerischen Gruppe‘ werden in 18 Elisabeth Schipperges: Der Darmstädter Hitdacodex. Eine Kölner Handschrift. Versuch einer Deutung, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 19 (1937), S. 235 – 301, hier S. 284.

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bemerkenswerter Konsequenz im Gießener Evangeliar zu einem Höhepunkt gebracht. Die beteiligten Buchmaler der ‚malerischen‘ Handschriften verwendeten Ornamentik nicht, sie machten sich diese zu Eigen. Tradierte Formen erfahren eine ganz eigene Überarbeitung, wie das exemplarische grafische Staudenbündel als Zwischenstück des Palmettenornaments zeigt. Markus Brüderlin, der zur Bedeutung des Ornaments für die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts promoviert hat und zu ­diesem Thema 2001 eine Ausstellung in Basel kuratierte, präsentierte eine ­Theorie, für die das Gießener Evangeliar als für das frühe Hochmittelalter exemplarisches Beispiel hätte dienen können.19 Er ging für die Entwicklungsgeschichte der modernen Abstraktion vom Ornament und einer eigenständig werdenden Linie aus: Die moderne lineare Abstraktion zeige sich in einer expressiven, organisch verlaufenden Linie, die pikturale Funktionen anzunehmen vermag. Die aus Strichen und Kringeln bestehende Krone des Gießener Herrschermedaillons, die mit dem Minium gezeichnet wurde, das in dem buchmalerischen Kontext der Konturierung insbesondere ornamentaler Bestandteile vorbehalten ist, wird zu einem gegenständlichen Inhaltsträger. Das Ornamentale steht nach Brüderlin in der modernen Kunst für „eine Art Vermittlerprinzip ­zwischen ‚gegenständlich‘ und ‚ungegenständlich‘“.20 Als ­solche grenzenverwischende Vermittlerin tritt die linienbetonte Ornamentik auch im Gießener Evangeliar auf. Hier zeigt sich die spielerische Imagination der federführenden Hand. Die Kölner Handschrift aus dem späten 10. Jahrhundert und die ein Jahrtausend späteren, abstrahierenden Tendenzen haben gemeinsam, dass sie Ausdruck und Form über die Figur stellen. Vertreter wie Adolf Loos und seine Polemik, Ornamentlosigkeit sei ein Z ­ eichen geistiger Kraft, könnten nicht stärker im Widerspruch zu dem stehen, was das Gießener Evangeliar bietet. Gerade in dem Ornamentalen zeigt sich hier der Ausdruck reiner Schöpfungskraft. Es ergießt sich über die gesamte Buchmalerei – diese ist auf ganzer Linie ORNAMENTAL, auf ganzer Linie FORM.

19 Markus Brüderlin: Die Einheit der Differenz. Die Bedeutung des Ornaments für die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts. Von Philipp Otto Runge bis Frank Stella, Diss. Wuppertal 1995 [Microfiche]. – Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog, Ausst. Kat. Fondation Beyeler Basel, hg. v. Markus Brüderlin, Köln 2001. – Vgl. zuletzt Markus Brüderlin: Die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts oder die Fortsetzung des Ornaments mit anderen Mitteln. Die Arabeske bei Runge, van de Velde, Kandinsky, Matisse, Kupka, Mondrian, Pollock und Taaffe, in: Ornament. Motiv, Modus, Bild, hg. v. Vera Beyer und Christian Spies (eikones), München 2012, S. 349 – 374. 20 Kat. Basel 2001 (wie Anm. 19), S. 25.

94 | Ursula Prinz

Doris Oltrogge und Robert Fuchs

Bemerkungen zu Farbmitteln, Metallen und Maltechnik des Gießener Evangeliars

In Vorbereitung der Tagung zum Gießener Evangeliar (Universitätsbibliothek Gießen, Hs. 660) erfolgte im August 2022 eine kunsttechnologische Untersuchung der Handschrift mit ­portablen Analysemethoden.1 Ziel war es, im Vergleich mit zeitgenössischen Kölner Manuskripten weitere Aufschlüsse über Verfügbarkeit und Nutzung von Farbmitteln und Metallen sowie zu Maltechnik und Werkprozessen der ottonischen und salischen Kölner Skriptorien zu gewinnen.2 Solange eine systematische Untersuchung aller erhaltener Kölner Manuskripte des 10./11. Jahrhunderts noch aussteht, müssen diese Aussagen allerdings vorläufig bleiben.

Kodikologischer Befund Ein schlichter barocker Ledereinband umschließt den Buchblock des Evangeliars, der aus Kalbspergament von recht guter Qualität besteht.3 Erhalten sind 250 Blätter in 32 Lagen, 1

2

3

Wir danken Peter Reuter, Olaf Schneider und Frau Karin Dönges für die Möglichkeit zu diesen Untersuchungen. Die Materialanalysen erfolgten zerstörungsfrei in-situ mittels Handheld-Röntgenfluoreszenz (p-RFA, Thermo-Niton) und Vis-Spektroskopie (Tidas), die Maltechnik wurde mithilfe der Stereolupe (Zeiss) sowie des Video-Mikroskops (Keyence) beschrieben und dokumentiert. – Zu den Methoden vgl. Robert Fuchs: Untersuchungsmethoden, in: Die Weltchronik des Rudolf von Ems und ihre Miniaturen. Illustrierte Weltgeschichten aus dem mittelalterlichen Zürich, hg. v. Rudolf Gamper u. a., Oppenheim 2022, S. 99 – 103. Folgende Kölner Handschriften des 10. und 11. Jahrhunderts wurden bereits kunsttechnologisch untersucht: Evangeliar aus St. Gereon, Historisches Archiv Köln, Best. 7010 Nr. 312 (Untersuchung der Verf., unpubli­ ziert); Evangeliar aus Mariengraden, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 1001a, vgl. Doris Oltrogge: Zur Herstellung der Handschrift – Ergebnisse der kodikologischen und maltechnischen Untersuchung, in: Klaus Gereon Beuckers: Das Prachtevangeliar aus Mariengraden. Ein Meister­ werk der salischen Buchmalerei aus Köln. Die Handschrift Cod. 1001a der Erzbischöflichen Diözesanund Dombibliothek Köln, Luzern 2018, S. 139 – 154; Gerresheimer Evangeliar, Pfarrkirche St. Margareta Düsseldorf-­Gerresheim, vgl. Doris Oltrogge: Maltechnische und kodikologische Befunde zu Herstellung und Gebrauch des Gerresheimer Evangeliars, in: Das Gerresheimer Evangeliar. Eine spätotto­nische Prachthandschrift als Geschichtsquelle, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Beate Johlen-Budnik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 1), Köln 2016, S. 65 – 96. Zur Struktur verschiedener Pergamentarten vgl. Robert Fuchs: Des Widerspenstigen Zähmung. Pergament in Geschichte und Struktur, in: Pergament. Geschichte, Struktur, Restaurierung, Herstellung

Bemerkungen zu Farbmitteln, Metallen und Maltechnik des Gießener Evangeliars | 95

überwiegend Quaternionen.4 Abweichend sind die Lagen 2, 16 und 32 Ternionen,5 18 ein Quinternio. Die ersten beiden Lagen umfassen die Kanontafeln, das Argumentum und Breviar des Matthäus sowie die Zier- und Bildseiten zum Matthäus-Evangelium. Der anschließende Beginn des Textkorpus auf einer neuen Lage ist nicht ungewöhnlich. Das Ternio 16 enthält die Lukas-Vorreden und die erste Zierseite, das folgende Quaternio die übrigen Bild- und Zierseiten sowie den Anfang des Lukas-Evangeliums, das Quinternio 18 dessen Fortsetzung. Möglicherweise wollte man die Einleitungssequenz in einer eigenen Lage bündeln, wenngleich diese in der Pergamentqualität den übrigen Lagen entspricht und wie die Lagen 16 und 18 zunächst für die Beschriftung punktiert wurde. Die Lagen wären dann zunächst als Quaternionen angelegt und beim Fortschreiten der Arbeit anders aufgeteilt worden. Schwieriger ist die Unregelmäßigkeit von Lage 24 (fol. 181 – 188) zu erklären. Hier wurde die rechte Hälfte des äußeren Doppelblattes abgeschnitten (fol. 187a) und stattdessen ein Einzelblatt mit der Kreuzigung auf dem Recto und dem Explicit des Johannes-Breviars auf dem Verso eingefügt (fol. 188). Im Gegensatz zu den folgenden Bild- und Zierseiten weist d ­ ieses Einzelblatt keine Punktierungen auf, es wurde also nicht mit den übrigen Blättern vorbereitet. Bild- und Zierseiten sind in der Regel in die Textlagen integriert und nicht wie in einigen anderen Kölner Handschriften als gesonderte Lagen oder Doppelblätter eingefügt.6 Entsprechend sind die Blätter mit Ausnahme der beiden Anfangslagen für die Beschriftung vorbereitet. Ausgeführt wurden nur die Punktierungen für die Zeilen, nicht die Linien gezogen, da dieser Arbeitsschritt wohl immer unmittelbar vor der Beschriftung erfolgte. Auf den Bild- und Zierseiten der ersten beiden Lagen fehlen die Punktierungen, auch weichen die Proportionen der Bildfelder und Zierspiegel von den Eingangssequenzen der folgenden Evangelien ab. Dort weisen sie ähnlich wie der Textspiegel ab fol. 13r ein Verhältnis von 3:2 auf, während sie auf den ersten beiden Lagen mit einem Verhältnis von etwa 3:2,4 deutlich breiter gelagert sind. Der Vergleich der Layout-Proportionen anderer ottonischer und salischer Handschriften zeigt allerdings, dass in den Kölner Skriptorien keine standardisierten Formate entwickelt wurden.7

4

5 6 7

heute, hg. v. Peter Rück (Historische Hilfswissenschaften, Bd. 2), Sigmaringen 1991, S. 263 – 277, hier S. 268. Zum Lagenschema vgl. auch Peter Bloch / Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, Bd. 1: Katalog und Tafeln, Düsseldorf 1967, S. 54, teilweise fehlerhaft. Ein neues Lagenschema im Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in ­diesem Band, dort auch weitere Ausführungen zum Aufbau der Handschrift. Durch Verlust des mittleren Doppelblattes ist auch Lage 1 heute ein Ternio. So beispielsweise im Evangeliar aus St. Gereon im Historischen Archiv Köln oder im Gerresheimer Evangeliar. Zu dem Kölner Evangeliar aus St. Gereon vgl. den Beitrag von Elisabeth Luger-Hesse in ­diesem Band, zu Gerresheim Oltrogge 2016 (wie Anm. 2), S. 68 – 71. Tendenziell scheinen die Bilder etwas breiter gelagert zu sein als die Textspiegel; im Gerresheimer Evangeliar wurden sie im Rahmen einer Planänderung verbreitert. Vgl. Oltrogge 2016 (wie Anm. 2), S. 73 f.

96 | Doris Oltrogge und Robert Fuchs

Schreibmittel, Farbmittel, Metalle Der Text ist mit dunkelbrauner Tinte geschrieben,8 Seitentituli und Kapitelanfänge mit Goldschrift auf einer Mennigeunterlegung (Abb. 21).9 Kapitelverweise am Rand sind mit brauner Tinte und Mennige eingetragen. Die Argumente, bei Lukas auch das Breviar, werden durch goldene Initialen eingeleitet, die auf fol. 7v, 73v und 185v teils mit Lapislazuli, teils mit Indigo farbig gefüllt sind. Für Kanontafeln, Bild- und Zierseiten wurden Gold- und Silbertuschen sowie verschiedene Farbmittel rein und in unterschiedlichen Ausmischungen verwendet: Farbmittel / Metalle 10 Farbwert

Material

Nachweismethode

Klassifizierung

Rotpurpur

Flechtenfarbstoff

Vis

Pflanzenextrakt Rocella spec. oder Ochrolechia spec.

Braunrot

? (rotbrauner Farblack, Krapplack?)

Vis ohne Referenz / RFA kein Eisen

organisches Farbmittel

Pinkrot

Schildlausfarblack

Vis

tierisches Produkt, Extrakt aus Kermes vermilio PLANCH. oder Margarodes polonicus COCKRELL oder Kerria lacca KERR (Lac dye)

Hellrot

Mennige

Vis / RFA

künstliches Pigment Pb3O4 (Bleioxid)

Violett

Flechtenfarbstoff

Vis

Pflanzenextrakt Rocella spec. / Ochrolechia spec.

Leuchtendes Blau

Lapislazuli

Vis (RFA)

Mineral aus Badaksthan

Hellblau

Azurit

Vis / RFA

Mineral wohl aus Deutschland

Dunkelblau

Indigo

Vis

Pflanzenextrakt aus heimischem Waid (Isatis tinctoria L.)?

8 Der RFA-Nachweis auf Eisen und etwas Zink verweist auf eine imperfekte Eisengallustinte, die mit einem zinkhaltigen Eisenvitriol hergestellt wurde. Vgl. Robert Fuchs: Der Tintenfraß historischer Tinten und Tuschen – in komplexes nie enden wollendes Problem, in: Tintenfraßschäden und ihre Behandlung, hg. v. Gerhard Banik und Hartmut Weber (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A, Heft 10), Stuttgart 1999, S. 37 – 76. 9 Auf fol. 80v ist nur die Mennigeschrift ausgeführt, die anschließende Überschreibung mit Goldtusche wurde vergessen. 10 Hauptfarbmittel sind durch Fettschreibung markiert. Angegeben sind jeweils das Farbmittel, die botanische oder chemische Klassifizierung sowie die Nachweismethode. Ausmischungen sind mit Ausnahme der Indigo-Auripigment-Mischung nicht aufgeführt.

Bemerkungen zu Farbmitteln, Metallen und Maltechnik des Gießener Evangeliars | 97

Farbwert

Material

Nachweismethode

Klassifizierung

Dunkles Grünblau

Indigo + Auripigment

Vis (Indigo) / RFA (Auripigment)

Grün

Kupfergrünpigment (Kupferchlorid?)

RFA

wohl künstliches Pigment

Ockergelb

Gelbocker

Vis / RFA

Mineral, farbgebend FeOOH (Eisenoxid)

Gelb

Auripigment

RFA

Mineral As3S 4 (Arsensulfid)

Weiß

Bleiweiß

RFA

künstliches Pigment 2PbCO3 · Pb(OH)2 (Bleicarbonat)

Weiß (Substrat für Farblacke)

Gips

RFA

Sekundärprodukt CaSO4 (Calciumsulfat)

Schwarz

Schwarzpigment

Mikroskop

?

Dunkelbraun

Tinte / Eisengallustinte

Mikroskop / RFA (Fe, Zn)

imperfekte Eisengallustinte

Gold

Goldtusche Gold-Silbermischtusche

RFA Mikroskop

Metall (mit Salz verrieben)

Silber

kupferhaltige Silbertusche

RFA

Metall / Legierung (mit Salz verrieben)

Aus Flechten (Rocella spec. oder Ochrolechia spec.) lässt sich abhängig von der Zubereitung ein rotpurpurner oder ein violetter Farbstoff gewinnen.11 Die violette Variante findet sich beispielsweise in den Bildgründen auf fol. 11r und 189r sowie im Mantel von Markus (fol. 78r). Mit der roten Variante sind die Hintergründe der Text- und Initialzierseiten gemalt 12, ebenso, in Ausmischung mit Bleiweiß, der Bildgrund bei Hieronymus (fol. 2r). Das Rot in den Hintergründen bei Markus (fol. 78r) und Lukas (fol. 123r) weist einen bräunlicheren Farbton auf; das Vis-Spektrum weicht von jenem der Flechtenfarbstoffe deutlich ab. Bisher kann der verwendete rote Farblack nicht eindeutig identifiziert werden, eventuell handelt es sich um einen bräunlichen Krapplack. In den Kanontafeln sowie bei der Kreuzigung konnte ein pinkfarbener Schildlausfarblack nachgewiesen werden.13 Die leuchtend rote Mennige spielt eine nur untergeordnete Rolle im Kolorit der Bilder, sie dient fast ausschließlich der Konturierung von Gold und Silber.14 Für Blautöne verwendeten die Maler drei verschiedene Farbmittel, leuchtend blauen Lapislazuli, hellblauen Azurit sowie sehr dunklen, fast schwärzlichen Indigo. Letzterem 11 Vgl. Robert Fuchs / Doris Oltrogge: Mit Gold und vielerlei Farben. Zur Maltechnik im Reichenauer Perikopenbuch, in: Das Reichenauer Perikopenbuch. Faksimile und Kommentarband, hg. v. Thomas Labusiak, Graz 2010, S. 67 – 78, hier S. 74 f. 12 Der blaupurpurne Grund auf fol. 78v und 123v ist komplexer im Malschichtaufbau (s. u.). 13 Zu den verschiedenen Schildlausfarblacken vgl. Fuchs / Oltrogge 2010 (wie Anm. 11), S. 75. 14 Nur beim Herrscher auf fol. 12r, beim Gekreuzigten und bei Johannes ist sie für die Gestaltung der Inkarnate eingesetzt, bei Johannes zudem für einen kräftigen Farbakzent im Sessel.

98 | Doris Oltrogge und Robert Fuchs

Abb. 21: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 76v: Goldschrift auf Mennigeunterlegung.

ist fast grundsätzlich etwas Auripigment beigemischt, wodurch der Farbton einen mehr oder weniger starken Stich ins Grüne erhält. Reine Grüntöne dagegen wurden mit einem Kupfergrünpigment erzielt. Der Nachweis von geringen Chloranteilen könnte ein Hinweis darauf sein, dass hier ein künstliches Farbmittel vorliegt, das als Mischprodukt auch Kupfer­chlorid enthält.15 Die gelben Ornamente auf den dumpf grünblauen Hintergründen und Blättern sind mit Auripigment gezeichnet. Dieses mineralische Farbmittel findet sich auch in den helleren Bereichen der gelben Bildgründe, hier teils in Ausmischungen mit dem etwas dunkleren und wärmeren Gelbocker, mit dem die hellen Bereiche auch abgesetzt sind. Durch Mischung mit Bleiweiß ließen sich alle Farbmittel aufhellen. Gips entstand dagegen wohl nur als weißes Substrat (Reaktionsnebenprodukt) beim Ausfällen roter Farblacke mit Alaun und Kreide. Die Goldtuschen weisen einen unterschiedlichen Reinheitsgrad auf:16 In den Nimben auf fol. 1v liegt ein sehr reines Gold mit geringen Silber- und Kupferanteilen vor. Vereinzelt sind in den Goldtuschen Bereiche mit grüner Korrosion zu beobachten, die einen Hinweis auf kupferhaltige Mischtuschen geben.17 Die Goldschrift im Textkorpus scheint dagegen bisweilen mit Silberpulver gestreckt worden zu sein.18 Auffällig bei den Goldtuschen ist der 15 Zu Herstellungsmethoden und Produkten von Kupfergrünpigmenten vgl. Juliana Buse / Vanessa Otero / Maria J. Melo: New Insights into Synthetic Copper Greens. The Search for Specific S­ ignatures by Raman and Infrared Spectroscopy for Their Characterization in Medieval Artworks, in: Heritage 2 (2019), S. 1614 – 1629; doi:10.3390/heritage2020099. 16 Aus Zeitgründen konnten nur stichprobenartige RFA-Messungen durchgeführt werden. Die Beobachtungen unter dem Mikroskop deuten darauf hin, dass teilweise heterogene Gemische vorliegen. 17 So auf fol. 123v; eine RFA-Messung des korrodierten Bereiches wurde nicht durchgeführt. 18 So in den Seitentituli und der Auszeichnungsschrift auf fol. 41r, 65r und 76v. RFA-Messungen wurden hier nicht durchgeführt.

Bemerkungen zu Farbmitteln, Metallen und Maltechnik des Gießener Evangeliars | 99

hohe Phosphorgehalt, der ein Indiz für die Verwendung eines Proteinleims als Bindemittel ist. Bei den Silbertuschen ist der Phosphorgehalt geringer, bei den Farbmitteln wurde kein Phosphor nachgewiesen. Die Silbertuschen weisen einen ungewöhnlich hohen Anteil von 30 bis 48 % Kupfer auf. In ­diesem Fall handelt es sich sicher um Legierungen, nicht um Mischungen. Als Verunreinigung wurde bei den Silbertuschen immer, bei den Goldtuschen bisweilen Chlor analysiert; die Metalle wurden demnach mithilfe von Salzkörnern zerrieben.19 Die Farbmittelauswahl entspricht weitgehend den Befunden in anderen Kölner Handschriften des 10. und 11. Jahrhunderts, das gilt auch für die Beimischung von Auripigment zu Indigo. Für Azurit liegen bisher allerdings nur noch Nachweise im Kölner Evangeliar aus St. Gereon vor, in den Evangeliaren aus Gerresheim und Mariengraden wurden nur Lapislazuli und Indigo als Blaupigmente verwendet. Ohne Parallelen in zeitgenössischen Handschriften aus Köln wie auch aus anderen Zentren sind bislang der nicht identifizierte rote Farblack 20 sowie die stark kupferhaltige Silbertusche. Eine mit Silberpulver gestreckte Goldtusche wurde dagegen im Gerresheimer Evangeliar nachgewiesen,21 eine Mischung aus Gold- und Messingpulver im Textkorpus des Jüngeren Evangeliars aus St. Georg (Lyskirchen-Evangeliar), der noch ins 11. Jahrhundert gehört.22 Auch in diesen Handschriften lassen sich bei den Metalltuschen höhere Phosphorwerte feststellen, gleiches gilt für das Evangeliar aus Mariengraden, aber auch für Manuskripte aus Hildesheim und von der Reichenau.23 Die Wahl von Proteinleimen als Bindemittel erfolgte vermutlich aus praktischen Gründen, da sie die Vermal- und Polierbarkeit von Metalltuschen erleichtern. Eine geläufige Praxis der ottonischen und salischen Skriptorien in Köln und anderen Zentren war auch die Mennige-Unterlegung für die Goldschrift.24

19 Zur Methode vgl. Robert Fuchs: Goldener Schein, imaginierte und analytische Materialität, in: Codex und Material, hg. v. Patricia Carmassi und Gia Toussaint (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, Bd. 34), Wiesbaden 2018, S. 138 – 157, hier S. 143 – 147. 20 Im Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640) scheint teilweise ein ähnlicher Farbton vorzuliegen; eine maltechnische Untersuchung der Handschrift steht jedoch noch aus. 21 Vgl. Oltrogge 2016 (wie Anm. 2), S. 82 f. 22 Vgl. Doris Oltrogge / Robert Fuchs: Gold, Silber, Messing. Beobachtungen zu Herstellung und Materialverwendung des Jüngeren Evangeliars aus St. Georg, in: Das Jüngere Evangeliar aus St. Georg in Köln. Untersuchungen zum Lyskirchen-Evangeliar, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Anna Pawlik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 5), Köln 2019, S. 19 – 45, hier S. 25. – Bei dem singulären Befund von Gold mit Messing auf fol. 179r des Evangeliars aus Mariengraden handelt es sich vielleicht eher um eine Verunreinigung durch Einschmelzen von Altgold. Vgl. Oltrogge 2018 (wie Anm. 2), S. 154, Anm. 29. 23 Vgl. Robert Fuchs / Doris Oltrogge: Das Werk der Maler. Zu Maltechnik und Materialität der Miniaturen, in: Die Bamberger Apokalypse. Visionen vom Ende der Zeit, hg. v. Bernd Schneidmüller u. a., Darmstadt 2022, S. 365 – 380, hier S. 366. 24 Vgl. Oltrogge 2016 (wie Anm. 2), S. 83.

100 | Doris Oltrogge und Robert Fuchs

Abb. 22: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 73v: Unterzeichnung mit braunrotem Stift (Pfeile).

Maltechnik In der Regel bereiteten die Buchmaler Bild- und Zierseiten durch eine Unterzeichnung vor. Im Gießener Evangeliar sind jedoch nur die mit einem Blindgriffel gezogenen Hilfslinien für die Anlage der Kanontafeln und die Zirkellöcher für Arkaden und Nimben auf verschiedenen Seiten sichtbar. Vielleicht wurde für die Unterzeichnung also ein Blindgriffel oder ein auch im Durchlicht nicht sichtbarer Farbstoff benutzt. Zumindest bei der als farbige Zeichnung ausgeführten Kreuzigung scheint es, als sei die Darstellung zunächst mit dem violetten Flechtenfarbstoff angelegt worden, der auch für die abschließende Konturierung diente. Dagegen ist bei den Rankeninitialen eine Unterzeichnung mit einem braunroten Stift erkennbar (Abb. 22).25 Entsprechend dem in der mittelalterlichen Buchmalerei weit verbreiteten Vorgehen legten die Illuminatoren zunächst die goldenen Nimben sowie den streifenförmigen Hintergrund aussparend an.26 Anschließend gestalteten sie die einzelnen Bildgegenstände, wobei sie jeweils zunächst die Grundfarbe flächig auftrugen und diese dann mit dunkleren und helleren Farben absetzten. Die abschließende Höhung mit Bleiweiß erfolgte in einem Arbeitsschritt mit der weißen Zeichnung der Hintergründe. Zuletzt wurden die goldenen Clavi, Borten und Ornamente auf die Gewänder aufgemalt und teilweise mit Mennige konturiert; zugleich erfolgte auch die Beschriftung mit Gold- oder Silbertusche.27 25 So auf fol. 73v und 116v. Vermutlich handelt es sich um einen Rötelstift. 26 Erkennbar beispielsweise auf fol. 123r am linken Oberarm des Lukas. Dort ließ der Streifengrund zu wenig Platz, sodass der Maler die grüne Grundschicht des Mantels darüber malte; das Rot des Hintergrunds schimmert hier etwas durch. 27 Auf fol. 11r sind Schriftband und Evangelist mit Silbertusche beschriftet, bei den übrigen Evangelistenbildern und bei Hieronymus erfolgte die Beschriftung mit Goldtusche. Bei Lukas fehlt der Name.

Bemerkungen zu Farbmitteln, Metallen und Maltechnik des Gießener Evangeliars | 101

Abb. 23: Gießener Evangeliar, Universitäts­bibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 1v: Detail der Maiestas Domini, changierend violetter Mantel: unterschiedliche Ausmischungen aus violettem Flechtenfarbstoff mit Bleiweiß sowie aus Rotfrablack und Bleiweiß.

Die Modellierung verrät das Interesse der Maler, den Figuren eine dreidimensionale, räumliche Präsenz zu verleihen. Dabei sind durchaus gewisse Unterschiede z­ wischen den Bildern feststellbar. So sind die Abstufungen von Schatten und Höhungen in den Darstellungen der Majestas und von Hieronymus differenzierter als in den folgenden Miniaturen, auch wirken Körperlichkeit und Bewegungen überzeugender. Dies ist besonders gut bei dem changierend violetten Mantel Christi und der changierend rosa Kasel von Hieronymus zu beobachten (Abb. 23). Die hellviolette Grundschicht beider Gewänder besteht aus violettem Flechtenfarbstoff und Bleiweiß. Eine dunklere Ausmischung der Grundschicht bildet bei Christus die erste, reiner violetter Flechtenfarbstoff die zweite lasierend aufgetragene Schattenstufe; ein deckender Auftrag des Flechtenfarbstoffs bildet den dunkelsten Farbwert. Bei Hieronymus wirkt die Kasel rötlicher, da hier die – nun nur zwei – Schattenstufen eine Mischung aus röt­ licherem Flechtenpurpur und Weiß sowie reinem roten Flechtenpurpur umfassen. Beide Gewänder wurden zudem mit rotrosa Farbnuancen modelliert, für die der mit Weiß gemischte unbekannte rote Farblack eingesetzt wurde. Für die Höhungen wurde Bleiweiß mit Flechtenfarbstoff gemischt, bei Christus mit dem violetten, bei Hieronymus mit dem roten. Mit reinem Bleiweiß wurden nur im Mantel Christi einzelne pastose Lichter aufgesetzt.

102 | Doris Oltrogge und Robert Fuchs

Abb. 24: Gießener Evangeliar, Universitäts­bibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 78r: Detail vom Mantel des Evangelisten Markus. Einfacherer Malschichtenaufbau als in Abb. 23; Mischung aus Flechtenfarbstoff und Bleiweißhöhungen.

Die reinen Farbstoffe sind lasierend, die Ausmischungen relativ dünn appliziert, die Lichter deutlich pastoser. Der Auftrag der einzelnen Farbwerte erfolgte nicht schematisch, sondern mit dichten, einander oft überlagernden Pinselstrichen als Mittel einer ‚illusionistischen‘ Modellierung. Eine eher breite, weich geschwungene Linienführung verleiht der Kasel die Wirkung eines lose herabfallenden Stoffes. Unruhigere, teils gegeneinanderstoßende, spitz endende Pinselstriche charakterisieren dagegen die straff gezurrten Falten des fest um die Unterschenkel Christi gewickelten Mantels. Maltechnisch deutlich einfacher als in diesen beiden Bildern ist der rosapurpurne Mantel von Markus gestaltet. Die Grundschicht besteht aus einer Mischung aus violettem Flechten­ farbstoff und Bleiweiß, darauf wurden die Schatten in zwei Stufen mit einem eher rötlichen Flechtenfarbstoff gemalt, zunächst in dünnem lasierendem Auftrag, dann in einer dickeren, weniger transparenten Schicht (Abb. 24). Für die pastosen Höhungen wurde Bleiweiß verwendet. Die Linienführung ist breiter, flächiger als bei Hieronymus und der Majestas, die Plastizität der Figur dadurch deutlich geringer. Das mag ein Hinweis darauf sein, dass mehrere Maler an der Ausstattung der Handschrift beteiligt waren. Kleinere Unterschiede lassen sich auch an der Gestaltung der Inkarnate beobachten. Diese sind grundsätzlich mit einer bräunlich-roten Mischung aus dem unbekannten Rotfarblack und Bleiweiß angelegt. Für Schatten und Zeichnung der Gesichtszüge wurde fast

Bemerkungen zu Farbmitteln, Metallen und Maltechnik des Gießener Evangeliars | 103

Abb. 25: Gießener Evangeliar, Universitäts­bibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 2v: Detail des Hieronymus. Inkarnat: Grundschicht Rotfarblack mit Bleiweiß. Höhungen schwach gefärbtes und reines Bleiweiß. Haare: Graue Grundschicht aus Lapislazuli, Indigo, Flechtenfarbstoff und Bleiweiß.

Abb. 26: Gießener Evangeliar, Universitäts­ bibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 11r: Detail des Evangelisten Matthäus. Inkarnat: Grundschicht Rotfarblack mit Bleiweiß. Höhungen mit Blau schwach gefärbtes und reines Bleiweiß. Haare: Graue Grundschicht aus Indigo, Lapislazuli, Flechtenfarbstoff und Bleiweiß.

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Abb. 27: Gießener Evangeliar, Universitäts­bibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 1v: Detail der Maiestas Domini. Inkarnat: Grundschicht Rotfarblack mit Bleiweiß; kräftige grüne und blaue Schattenunterlegungen von Auge und Nase.

immer der Rotfarblack verwendet, für die Höhungen ein schwach getöntes Weiß sowie reines Bleiweiß. Differenzen bestehen vor allem bei der Schattenunterlegung von Augen, Nase sowie teilweise der Wangen. Bei Hieronymus und seinem Schreiber wurde hierfür ebenso wie bei Matthäus eine dunklere Ausmischung der Grundschicht mit dem Rotfarblack verwendet. Der ersten Weißhöhung wurde bei Hieronymus Flechtenpurpur, bei ­Matthäus wenig Blaupigment zugefügt (Abb. 25 u. 26). Abweichend davon verleihen kräftig grüne und blaue Schattenunterlegungen von Augen und Nase der Majestas eine, heute durch die Beschädigung der Seite etwas beeinträchtigte, plastische Wirkung (Abb. 27). Die Köpfe von Lukas und dem jugendlichen Herrscher auf der Liber generationis-Seite sind mit einer olivgrünen Mischung aus Kupfergrünpigment und Gelbocker rundplastisch herausgearbeitet (Abb. 28 u. 29), die Köpfe der Bischöfe teils mit Olivgrün, teils mit violettem Purpurfarbstoff und Indigo. Mennigrote Lippen und Akzente auf Stirn und Wangen beleben das Gesicht des Königs. Auch die Lippen und beleuchtete Wange von Johannes wurden mit Mennige gestaltet. Ansonsten ist das Kolorit seines Inkarnats ebenso wie das von Markus durch Blauwerte bestimmt, für die Ausmischungen aus Grundschicht und Azurit sowie Azurit und Bleiweiß eingesetzt wurden. Die abschließende Zeichnung wurde in der Regel mit einem Schwarzpigment ausgeführt. Einzig bei Lukas und Johannes findet sich eine dunkelbraune Mischung

Bemerkungen zu Farbmitteln, Metallen und Maltechnik des Gießener Evangeliars | 105

Abb. 28: Gießener Evangeliar, Universitäts­bibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 123r: Detail des Evangelisten Lukas. Inkarnat: Grundschicht Rotfarblack mit Bleiweiß; plastisch herausgearbeitet mit einer olivgrünen Mischung aus Kupfergrünpigment und Gelbocker. Abb. 29: Gießener Evangeliar, Universitäts­bibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 12r: Detail des Königs aus der Zierseite zum Liber generationis; Inkarnat: Grundschicht Rotfarblack mit Bleiweiß; plastisch herausgearbeitet mit Olivgrün, teils mit violettem Purpurfarbstoff und Idigo; mennigrote Lippen und Akzente auf Stirn und Wangen.

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aus brauner Tinte und Mennige. Das ­gleiche Malmittel diente auch der Konturierung der Gewänder auf beiden Seiten sowie der Zeichnung des Lammes auf fol. 190r. Trotz dieser kleinen Divergenzen ist eine schlüssige Händescheidung schwierig. Die Unterschiede sind häufig graduell; bei den Inkarnaten dienen sie zumindest teilweise der Charakterisierung unterschiedlicher Alterstypen. Zudem spielt sicher auch das Bestreben nach variatio eine Rolle. Dieses zeigt sich auch in den alternierenden Farbabfolgen der Bildgründe, im Gegensatz etwa zum Gerresheimer Evangeliar, in dem die Anordnung der Farbstreifen jeweils identisch ist. Entsprechend könnte es sich bei der dunkelbraunen Konturierungsmischung um einen Versuch der koloristischen Bereicherung handeln. Für die Kreuzigung auf fol. 188r wurde abweichend vom übrigen Ausstattungsprogramm die Technik der farbigen Zeichnung gewählt. Das Inkarnat ist mit violettem Flechtenfarbstoff, Lapislazuli und Mennige aus dem Pergamentgrund modelliert, Konturierung und Zeichnung mit Violett sowie brauner Tinte ausgeführt (Abb. 30). Ikonographisch bedeutsam und ungewöhnlich ist die Differenzierung von mennigrotem Blut und lapislazuliblauem Wasser, die aus der Seitenwunde Christi strömen. Der Lendenschurz ist mit einer deckenden Grundschicht angelegt, die aus Flechtenpurpur, Bleiweiß und Lapislazuli gemischt ist (Abb. 31). Dunklere und hellere Ausmischungen sowie reiner Flechtenfarbstoff dienen der Modellierung. Das Pergament fol. 188 ist anstelle eines entfernten Blattes eingefügt worden. Auf dem Verso ist mit Goldtusche das Explicit des Breviars auf dunkelblaue Indigostreifen geschrieben. Der Ersatz wurde wohl noch während der Herstellung der Handschrift vorgenommen. Dafür sprechen die Übereinstimmungen bei den verwendeten Farbmitteln, dem Kolorit oder der Anlage der Bäumchen zu Füßen des Kreuzes. Warum ein Blatt ausgetauscht wurde, lässt sich aus dem erhaltenen Befund nicht sicher erschließen. Fraglich ist, ob hier ein Zusammenhang mit der Maltechnik besteht. Die Technik der farbigen Zeichnung ist innerhalb der Kölner Prachthandschriften des 10. und 11. Jahrhunderts ungewöhnlich und auch sonst in dieser Zeit wenig verbreitet.28 Zwar ist auch die Kreuzigung im Hitda-Codex (fol. 207v) pergamentgrundig,29 doch ist die Farbreduktion im Gießener Evangeliar noch weitgehender, denn hier wird die Landschaft auf einen schmalen Bodenstreifen beschränkt, auf Maria und Johannes ganz verzichtet. Dies verleiht dem Gekreuzigten vor dem goldenen Kreuz und dem weißen Grund eine noch monumentalere Wirkung.30 Es wird hier 28 Ein Beispiel der englischen Buchmalerei des frühen 11. Jahrhunderts ist das Arenberg-Evangeliar, Pierpont Morgan Library New York, MS M.869; https://www.themorgan.org/manuscript/159161 [15. Januar 2023]. 29 Zum Codex vgl. Christoph Winterer: Das Evangelienbuch der Äbtissin Hitda. Eine ottonische Prachthandschrift aus Köln. Miniaturen, Bilder und Zierseiten aus der Handschrift 1640 der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Darmstadt 2010. 30 Vgl. Vor dem Jahr 1000. Abendländische Buchkunst zur Zeit der Kaiserin Theophanu, Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln, hg. v. Anton von Euw, Köln 1991, Kat. Nr. 4, S. 34 – 36, hier S. 36 (Anton von Euw).

Bemerkungen zu Farbmitteln, Metallen und Maltechnik des Gießener Evangeliars | 107

Abb. 30: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 188r: Detail der Kreuzigung. Inkarnat: Modellierung mit violettem Flechtenfarbstoff, Lapislazuli und Mennige; Konturierung und Zeichnung mit Violett sowie brauner Tinte. Abb. 31: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 188r: Detail der Kreuzigung; Differenzierung von Blut (Mennige) und Wasser (Lapislazuli).

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also nicht durch Steigerung, sondern durch den gezielten Verzicht auf Materialluxus und Farbenpracht das Bild des gekreuzigten Christus in besonderer Weise hervorgehoben. Die übrige Ausstattung der Handschrift zeichnet sich im Kontrast dazu durch koloristischen Reichtum aus. Möglicherweise ist diese Abweichung vom üblichen Bildmodus der Deckfarbenmalerei Ergebnis einer Planänderung, die den Austausch einer bereits begonnenen Malerei bedingte.

Blauer und roter Purpur – Besonderheiten des Kolorits Das Kolorit der Bild- und Zierseiten wird dominiert durch rot- und violettpurpurne Farbtöne sowie diverse Schattierungen von Blau. Hinzu kommen auf den Bildseiten vielfach unterschiedliche Gelbtöne. Leuchtendes Grün findet sich dagegen nur auf wenigen Blättern, grelles Rot spielt kaum eine Rolle. Die Präferenz von Purpur- und Blautönen verbindet das Gießener Evangeliar mit den übrigen Handschriften der Malerischen Gruppe, in denen Gelb jedoch zumeist zurückhaltender eingesetzt wurde.31 Wie erwähnt, zeigt sich in den alternierenden Farbabfolgen der Streifengründe das Bestreben der Maler nach variatio. Ähnliches gilt auch für die Zierseiten. Die Incipits der Evangelien von Matthäus und Johannes sind mit Goldtusche auf einem rotpurpurnen Textfeld geschrieben. Hierfür wurde roter Flechtenpurpur in zwei Malschichten aufgetragen. Dagegen steht die Goldschrift der Incipits zu Markus (fol. 78v) und Lukas (fol. 123v) auf einem blaupurpurnen Feld. Auch d ­ ieses wurde zunächst mit rotem Flechtenfarbstoff angelegt, darüber eine Mischung aus Flechtenpurpur, Azurit und wenig Bleiweiß gemalt (Abb. 32). In zeitgenössischen Handschriften aus Köln oder anderen Zentren beschränkte man sich meistens auf einen rotpurpurnen Textspiegel. Einzig im Kölner Evangeliar aus St. Gereon alternieren in den Zierseiten vor dem Markus-Evangelium roter, blauer und dunkler Purpur (fol. 72v, 73v, 74r). Maltechnisch weicht dort die Gestaltung von Blau- und Dunkelpurpur vom Gießener Evangeliar ab. Auf fol. 72v wurde zunächst eine hellblaue Grundschicht angelegt, die aus Lapislazuli und Bleiweiß gemischt wurde. Darüber wurde mit flüchtigen, breiten Pinselstrichen der rote Flechtenfarbstoff aufgemalt. Dagegen besteht die Untermalung auf fol. 74r aus einer Mischung aus Flechtenfarbstoff und Blaupigment, wohl ebenfalls Lapislazuli. Darauf wurden reiner Flechtenpurpur sowie eine Mischung aus Flechtenfarbstoff und Weißpigment pastos aufgestupft; ganz offensichtlich ist hier die Wirkung von Porphyr intendiert.

31 Im Kölner Evangeliar aus St. Gereon ist im Hintergrund nur auf fol. 73r ein schmaler gelber Streifen zu finden, ähnlich im Hitda-Codex nur auf fol. 118r und 169r.

Bemerkungen zu Farbmitteln, Metallen und Maltechnik des Gießener Evangeliars | 109

Abb. 32: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 78v: Blaupurpurnes Textfeld; angelegt mit rotem Flechtenfarbstoff, darüber Lasur mit Mischung aus Flechtenpurpur, Azurit und wenig Bleiweiß.

Metalleffekte, Pentimenti, Korrosion – Besonderheiten der Metallverwendung Der hohe Kupfergehalt der Silbertuschen ist, wie erwähnt, ungewöhnlich. Legierungen mit Kupfer erhöhen die Härte und Formstabilität von Silber, dies kann bei Silberobjekten von Vorteil sein. Denkbar wäre also, dass es sich bei den Tuschen um eingeschmolzenes Altsilber handelt. Da ein hoher Kupferanteil dem Silber zudem einen rötlich-goldenen Schimmer verleiht, wählte man möglicherweise gezielt eine entsprechende Legierung aus, wenn sie nicht sogar eigens für das Gießener Evangeliar hergestellt wurde (Abb. 33). Dahinter stand vermutlich der Wunsch, spezielle Materialeffekte zu erzeugen. Dies lässt sich besonders gut auf den Explicitseiten beobachten: Die Explicits zu Matthäus (fol. 10v), Markus (fol. 77v) und Lukas (fol. 122v) sind jeweils auf Silberbalken geschrieben, die bei Matthäus vor einem Purpurgrund, bei den beiden anderen Evangelien alternierend mit ornamentierten Purpurstreifen vor dem Pergamentgrund. Der Auftrag der Silbertusche auf fol. 10v ist sehr pastos, teilweise sind zwei S­ chichten erkennbar, was wohl auf Korrekturen während des Malvorgangs zurückzuführen ist. Dabei wurde eine erste Version offenbar gelöscht, wie Radierspuren ober- und unterhalb der Silberstreifen belegen (Abb. 34). Wie die Erstfassung aussah, ist nicht erkennbar. Die

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Abb. 33: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 77v. Durch einen höheren Kupfergehalt golden schimmerndes Silber, darüber transparenter Überzug (Pinselspuren).

Überarbeitung eines ersten Konzeptes ist auch bei der anschließenden Beschriftung festzustellen. Diese wurde zunächst mit Goldtusche ausgeführt, anschließend aber mit brauner Eisengallustinte überschrieben (Abb. 35). Darüber liegt bisweilen ein Grauschleier, der vielleicht auf die Silberkorrosion zurückzuführen ist. Ein transparenter Überzug ist auf fol. 10v nicht sicher feststellbar. Dagegen belegen die Pinselspuren auf fol. 77v, dass hier die Zeilen abschließend mit einem transparenten Firnis überstrichen wurden (Abb. 33). Da die Silberkorrosion das Erscheinungsbild verunklärt, kann nicht entschieden werden, ob dieser Überzug gelblich war und somit eine Art Goldlack darstellt, oder ob er als reiner Schutzfirnis farblos war. Ebenso erschwert die Korrosion die Beurteilung der heute heterogenen Farbigkeit der Silber­streifen, die teils einen deutlich goldenen Schimmer aufweisen, teils eher silbern wirken (Abb. 33 u. 34). Möglicherweise war ihr Farbton aufgrund des hohen Kupferanteils ursprünglich homogener goldstichig. Die Beschriftung wurde hier sogleich mit brauner Tinte ausgeführt. Ähnlich heterogen ist heute das Erscheinungsbild der Silberstreifen auf fol. 122v; auch sie mögen ursprünglich homogener gewirkt haben.32 Sie sind mit brauner Tinte beschriftet; ein transparenter Überzug ist nicht sicher erkennbar. Zusammenfassend lässt sich der Befund folgendermaßen interpretieren: Offensichtlich sollten die Explicitseiten mit Rotpurpur und Metallen effektvoll und neuartig gestaltet werden. Eine Vorlage nutzte man vermutlich nicht, sodass auf fol. 10v verschiedene Möglichkeiten erprobt wurden. Vor einem ganzflächigen Purpurgrund sollte der Text zunächst als Variation verschieden schimmernder Goldfarben hervorgehoben werden. Daher wählte man 32 Die Radierspuren am oberen Rand sind vermutlich auf die mechanische Entfernung eines Wachsflecks zurückzuführen.

Bemerkungen zu Farbmitteln, Metallen und Maltechnik des Gießener Evangeliars | 111

Abb. 34: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 10v. Zweischichtig aufgetragene Silbertusche; Radierspuren ober- und unterhalb der Silberstreifen.

Abb. 35: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 10v. Silberband, darauf Überschreibungen der zunächst mit Goldtusche ausgeführten Schrift mit Eisengallustinte.

für die Schriftstreifen eine goldstichige stark kupferhaltige Silbertusche, für die Beschriftung Goldtusche. Vermutlich hob sich diese nicht deutlich genug vom Untergrund ab, sodass sie mit Tinte überschrieben wurde; die Metalleffekte wurden also zugunsten einer besseren Lesbarkeit aufgegeben. Auf den beiden folgenden Explicitseiten konnte man dann das auf fol. 10v entwickelte endgültige Konzept ohne weitere Änderungen übertragen. Die Explicit­ seite für das Breviar des Johannes-Evangeliums (fol. 188v) weicht davon wieder ab, der Text ist mit Goldtusche auf dunkelblauen Streifen geschrieben. Das Blatt wurde allerdings wohl erst im Zusammenhang mit einer Planänderung in die Handschrift eingefügt; auf dem Recto findet sich die oben besprochene Kreuzigung. Möglicherweise war die Entscheidung

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Abb. 36: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 12r. Heterogen verteilte schwärzliche Korrosion der goldenen Medaillonrahmen (Pfeile), durchschlagende Korrosion einer silbernen Erstfassung der Rahmen.

Abb. 37: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Cod. 660, fol. 12r, Initial­ füllung. Malschichtenaufbau: Mit Weiß aufgehelltes Kupfer­grünpigment, partielle Abdeckung mit Blauweiß als Reflektorgrund für die darüber liegende Lapislazulischicht.

für eine pergamentgrundige farbige Zeichnung der Grund dafür, das Explicit nicht mit Silber­streifen auszuführen, da die Gefahr bestand, dass diese auf die Rückseite durchschlagen und so die Darstellung stören könnten.33 Experimente und Pentimenti bei der Metallverwendung sind auch beim Liber generationis zu beobachten (fol. 12r). Der Rahmen ist mit vier Medaillons besetzt, die oben das Brustbild eines Königs, unten und seitlich jeweils das Bildnis eines Erzbischofs umfassen. 33 Ein Grund für den Austausch des Blattes könnte auch sein, dass zunächst eine Zierseite mit Silberstreifen ausgeführt wurde und sich dann sehr schnell auf der pergamentgrundigen Bildseite Störungen zeigten.

Bemerkungen zu Farbmitteln, Metallen und Maltechnik des Gießener Evangeliars | 113

Die Medaillonrahmen sind golden, weisen aber eine heterogen verteilte schwärzliche Korrosion auf, die auch auf dem Verso durchschlägt. Unter dem Mikroskop sind deutlich zwei Metallschichten erkennbar, zunächst waren die Rahmen vollständig mit Silbertusche gemalt, wurden dann aber komplett mit Goldtusche übergangen, wohl um die Personen stärker hervorzuheben (Abb. 36). Dagegen handelt es sich bei der Malschichtfolge der Initialfüllung wohl nicht um ein echtes Pentimento. Die L-Initiale wurde zunächst ganzflächig mit dem mit Weiß aufgehellten Kupfergrünpigment gefüllt. Anschließend deckte der Maler kleinere Bereiche mit Bleiweiß ab, das partiell auch als Reflektorgrund für Lapislazuli dient und dem Blau so eine noch höhere Leuchtkraft verleiht (Abb. 37).

Fazit und Ausblick Die im Gießener Evangeliar verwendeten Farbmittel und Metalle entsprechen weitgehend den Befunden in anderen bisher untersuchten ottonischen und salischen Kölner Handschriften. Weitere Forschungen wären notwendig, um Entwicklungen in der Materialverwendung zu klären, etwa bei Azurit oder dem noch nicht identifizierten roten Farblack. Hier wäre vor allem eine Untersuchung des Hitda-Codex von Bedeutung, in dem – zumindest den Abbildungen zufolge – vielleicht ebenfalls d ­ ieses Farbmittel verwendet wurde. Auch für die Frage der vermutlich gezielt eingesetzten Silber-Kupferlegierung wäre die Einbeziehung weiterer Handschriften wünschenswert. Im Kolorit ist ein deutliches Bestreben nach variatio festzustellen, vor allem bei dem differenzierten Spektrum an Purpur-, Violett- und Blautönen. Wenngleich diese Farbtöne auch in anderen Kölner Handschriften sehr beliebt sind, erscheint das Raffinement der Ausmischungen im Gießener Evangeliar besonders bemerkenswert. Dies gilt auch gegenüber dem Evangeliar aus St. Gereon im Historischen Archiv, in dem auf fol. 74r das Material Porphyr evoziert wird. Im Allgemeinen ist die Maltechnik in d ­ iesem Manuskript jedoch flüchtiger, die Pigmente teilweise gröber. In der Sorgfalt der Ausführung und im wirkungsästhetischen Anspruch gehört das Gießener Evangeliar sicher zu den herausragenden Werken der Kölner Buchmalerei.

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Vivien Bienert

„et continuo exivit sanguis et aqua“ Bemerkungen zur Kreuzigungsdarstellung auf fol. 188r des Gießener Evangeliars

„Ausgehend von der Kreuzigungsszene im Gereonssakramentar der Pariser Nationalbibliothek aus dem Ende des 10. Jahrhunderts können wir den gleichen Typus des Kruzifixus in seiner Weiterbildung während der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts in vier Evangeliaren belegen. Gemeinsam ist diesen vier Kruzifixdarstellungen im Ikonographischen eine starke Abhängigkeit von ihrem Vorbild, dabei läßt sich aber deutlich ein Übergang von der kühlen Linienschönheit des byzantinisch beeinflußten Gereonssakramentars zu einer stärker ausdrucksgeladenen abendländischen und in dieser besonderen Form kölnischen Auffassung feststellen. Sie findet ihren Höhepunkt in der wahrhaft expressiven Darstellung der Kreuzigung in dem von der Äbtissin Hitda gestifteten Evangeliar in der Pfarrkirche von Gerresheim bei Düsseldorf.“ 1 Zwei der hier von Franz Rademacher 1941 als Nachfolgewerke des Sakramentars aus St. Gereon angesprochenen Handschriften, namentlich der Hitda-Codex aus Meschede und das Gießener Evangeliar,2 bilden in dem von Peter Bloch und Hermann Schnitzler 1967/70 vorgelegten Korpuswerk zur Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts das Ende der ‚Malerischen Gruppe‘.3 Das Gundold-Evangeliar und das Gerresheimer 1 Franz Rademacher: Der Werdener Bronzekruzifixus, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 8 (1941), S. 141 – 158, das Zitat S. 154. 2 Rademacher 1941 (wie Anm. 1), S. 154, Anm. 35. – Zum Hitda-Codex vgl. Christoph Winterer: Das Evangeliar der Äbtissin Hitda. Eine ottonische Prachthandschrift aus Köln. Miniaturen, Bilder und Zierseiten aus der Handschrift 1640 der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Darmstadt ²2011. – Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640). Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013. – Zum Sakramentar aus St. Gereon vgl. Joshua O’Driscoll: Anmerkungen zum Verhältnis von Bild und Titulus im Sakramentar aus Sankt Gereon und im Hitda-Codex, in: Beuckers 2013 (wie oben), S. 113 – 127. – Joshua O’Driscoll: Image and Inscription in Painterly Manuscripts from Ottonian Cologne, masch.-schr. Diss. Cambridge MA 2015, S. 129 – 208. URL: http:// nrs.harvard.edu/urn-3:HUL.InstRepos:17467286 [15. März 2023]. 3 Peter Bloch / Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, 2 Bde., Düsseldorf 1967/70, Bd. 1, S. 11, Nr.  IV–VI u. S. 53. – Die chronologische Abfolge der drei Handschriften innerhalb der ‚Malerischen Gruppe‘ geht zurück auf Elisabeth Schipperges: Der Darmstädter Hitda-Codex. Eine Kölner Handschrift. Versuch einer Deutung, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 19 (1937), S. 235 – 301, hier S. 289 – 291. – Für eine zeitlich umgekehrte Reihenfolge plädierte zuvor Heinrich Ehl: Die ottonische Kölner Buchmalerei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der frühmittelalterlichen

„et continuo exivit sanguis et aqua“ | 115

­ vangeliar, die b E ­ eiden anderen von Rademacher genannten Vergleichswerke,4 ordneten sie einer ‚Malerischen Sondergruppe‘ zu, die etwas ­später entstanden sei.5 Diese stilistisch festgelegte Ordnung der Kölner Handschriften hat bis heute Gültigkeit, auch wenn die genaue Chronologie und ihre absolute Datierung zu hinterfragen sind.

Die Kreuzigungsdarstellung fol. 188r Mit geschlossenen Augenlidern, braunem Bart und langen braunen Haaren sowie auf die rechte Schulter gesunkenem Haupt, das von einem schwarz umrissenen, großen goldenen Kreuznimbus hinterfangen wird, steht Christus vor pergamentsichtigem Hintergrund auf dem Suppedaneum eines goldenen Einsteckkreuzes (Abb. 38b). Die Verjüngung und Zuspitzung des unteren Kreuzstammendes (Dorn) geht dabei direkt in die untere Rahmenleiste der hochrechteckigen Miniatur mit den Maßen 17,2 × 11,7 cm über, die durch eine leicht konkave Schwellung in der Mitte den Golgatha-Felsen andeutet und – wie der übrige Rahmen – goldgedeckt ist.6 Beide, Kreuz und Rahmen, werden von einer orangerotschwarzen Konturierung begleitet, die ihnen eine dreidimensionale Wirkung verleiht und

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Kunst in Westdeutschland (Forschungen zur Kunstgeschichte Westeuropas, Bd. 4), Bonn 1922, S. 108 u. 129. – Vgl. grundlegend Arthur Haseloff: Peintures, Miniatures et Vitraux de l’Époque Romane: I. Dans les Pays du Nord, in: Histoire de l’Art depuis les Premiers Temps Chrétiens jusqu’à nos Jours, Bd. 1.2: Des Débuts de l’Art Chrétien à la Fin de la Période Romane, hg. v. André Michel, Paris 1905, S. 711 – 755, zur Kölner Malerei S. 728 – 730, der die drei Handschriften hier zu seiner ersten Gruppe der malerischen Frühstufe zählte. Rademacher 1941 (wie Anm. 1), S. 154, Anm. 35. – Zum Gundold-Evangeliar vgl. grundlegend Klaus Gereon Beuckers: Das Gundold-Evangeliar in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Bemerkungen zu einem Kölner Prachtcodex des 10./11. Jahrhunderts, in: Philologia sanat. Studien für Hans-Albrecht Koch zum 70. Geburtstag, hg. v. Gabriella Rovagnati und Peter Sprengel, Frankfurt am Main 2016, S. 41 – 65. – Zum Gerresheimer Evangeliar vgl. Das Gerresheimer Evangeliar. Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Beate Johlen-Budnik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 1), Köln 2016. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 11, Nr.  VIII–IX u. S. 63. – Für das GundoldEvangeliar erwog Carl Nordenfalk: Rezension zu Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), in: Kunstchronik. Monatsschrift für Kunstwissenschaft, Museumswesen und Denkmalpflege 24 (1971), S. 292 u. 298 – 309, hier S. 303 (das zweite Zitat S. 305) aus stilistischen Gründen eine abweichende Platzierung vor dem Sakramentar aus St. Gereon innerhalb einer „Frühgruppe“ und kam zu dem Schluss, dass „[v] on der Sondergruppe […] nur das Gerresheimer Evangeliar übrig [bliebe]. Bei ­diesem wird man sicher, wie Schnitzler und Bloch es tun, mit einer Entstehung außerhalb der Hauptschule rechnen müssen.“ Dem folgt Ulrich Kuder: Der Hitda-Codex im Zusammenhang der Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 2), S. 89 – 111, hier S. 108 – 111, indem er das Gerresheimer Evangeliar an den Anfang stellt und das Gundold-Evangeliar nach dem Gießener Evangeliar der ‚Malerischen Gruppe‘ zuordnet. Zu den Maßen der Kreuzigungsminiatur vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 58.

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im Bereich der unteren Rahmenleiste zudem skizzenhaften Charakter hat. Entsprechend wurde die Binnenornamentik an den beiden Schmalseiten des Rahmens ausgespart und auf die zwei Langseiten beschränkt.7 Mit einem Perlstab sowie herzförmig gerahmten Blättern als Eckmotive in Schwarz ist die Zierleistenornamentik der Langseiten im Vergleich zu den anderen ganzseitig gerahmten Miniaturen des Gießener Evangeliars jedoch eher einfach gestaltet. Da das obere Kreuzende inklusive der in einzeilig gräzisierender Schreibung auf der Inschriftentafel wiedergegebenen Nomina sacra IH̅ C XP̅ C und der Querbalken ebenfalls bis an den Rahmen reichen, verfügt der Hintergrund der Kreuzigungsdarstellung über eine kulissenhafte Wirkung. Aus der Bodenbehandlung mit den friesartig aufgereihten Pflanzen als oberer Abschluss des blaugrau-ockerfarbenen Wellengrundes geht hervor, dass Assistenzen in der Gießener Darstellung nicht vorgesehen waren, sondern offenbar zugunsten einer Freistellung des Kruzi­fixus vor dem pergamentsichtigen Hintergrund bewusst auf diese verzichtet wurde.8 Eine direkte Verbindung der unteren Rahmenleiste mit dem Dorn, der das Kreuz als bildhaft ausweist, wäre bei einer Darstellung der Assistenzfiguren auch nicht möglich gewesen, da diese sonst optisch hinter dem Kreuz stehen würden. Die beiden farblich in Rot und Blau differenzierten, medaillonartigen Scheiben in der freien Fläche oberhalb des Kreuzbalkens sind wohl mit den Gestirnen sol (links) und luna (rechts) zu identifizieren; sie veranschaulichen die überzeitliche und kosmische Bedeutung des Kreuzesopfers Christi. Bekleidet ist der Gekreuzigte mit einem grauvioletten knielangen Lendenschurz, von dessen eingetiefter Mitte aus sich ein unbewegtes Faltenbündel diagonal über seinen rechten Oberschenkel zieht. Durch die tiefe Gewandmulde ­zwischen den Beinen bleibt die Form seines Körpers trotz des Stoffreichtums und der ausschwingenden, mit länglichen Fransenzipfeln versehenen Saumweite erkennbar; die dünne, lichtdurchlässige Struktur des Stoffes steigert diese Körperhaftigkeit noch zusätzlich. Der locker über den Bauchnabel hochgezogene, mit einem Cingulum fixierte Sitz des Lendenschurzes betont die schmale Gestalt des Oberkörpers und ermöglicht einen Blick auf sein linkes Knie. Von der Hüfte aus aufwärts verbreitert sich der Oberkörper des Kruzifixus sukzessive – optisch verstärkt durch die schräg hochgestreckten Arme mit den ‚welken‘ Händen. Ein Hängemotiv ist aber nur sehr zurückhaltend in der leichten Ponderation der Beine und 7

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Zur Ornamentik im Gießener Evangeliar vgl. den Beitrag von Ursula Prinz in d ­ iesem Band. – Vgl. auch Ursula Prinz: Die Ornamentik der ottonischen Kölner Buchmalerei. Studien zum Rahmenfüllwerk (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen ­Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 71), Köln 2018, hier insb. S. 65 – 67. Im Hieronymusbild (fol. 2v) fand dieser Fries in Gold und umgekehrter Ausrichtung der Pflanzen als doppelte Schmuckborte im purpurfarbenen Streifengrund, der eine ähnliche Wellenstruktur wie der Boden in der Kreuzigungsminiatur aufweist, Verwendung.

„et continuo exivit sanguis et aqua“ | 117

Abb. 38: Kreuzigungen: Sakramentar aus St. Gereon, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 817, fol. 59r. – Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Gießen, Hs 660, fol. 188r. – Hitda-Codex, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs 1640, fol. 207v. – GundoldEvangeliar, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. bibl. qt. 2a, fol. 9r.

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Abb. 39: Kreuzigungen: Gerresheimer Evangeliar, Schatzkammer St. Margareta DüsseldorfGerresheim, fol. 211v. – Sta. Maria Antiqua in Rom, Theodotus-Kapelle, Stirnwand.

v-förmig platzierten, ungenagelten Füße mit ausgebogter rechter Hüfte sowie dem insbesondere gegenüber der Beinpartie nach links verschobenen Brustkorb angedeutet, wobei der Brustbogen und das Brustbein hervorgehoben, die Rippen indessen kaum zu erahnen sind. Das kleine u-förmig eingetragene Oberkörperdetail ­zwischen der Brustmuskulatur nebst der beiden knopfartig stilisierten Brustwarzen links und rechts markiert den Abschluss des Brustbeins. Die bläuliche Modellierung dieser anatomischen Details hebt sich deutlich von dem hellen Inkarnat in reinem Weiß ab. Durch die in wechselnder Strichstärke angebrachte Konturierung und Modellierung in Schwarz, am linken (Schien-)Bein abgestimmt etwa auf die rötliche Modellierung der Wagenknochen, Armbeugen sowie des Abdomens einmal in Orangerot, wird dem gemalten Leib Christi zusätzlich Plastizität verliehen. Die Farbkombination von Rot und Blau bestimmt ferner das aus der Seitenwunde Christi heraus­fließende Blut und Wasser, das nicht nur farblich differenziert, sondern quasi wortwörtlich als ‚Blutspritzer‘ und ‚Wassertropfen‘ gestaltet ist; auf die g­ leiche Art spritzt auch das Blut aus den beiden Handwunden auf den unbemalten, pergamentsichtigen Hintergrund der Gießener Kreuzigungsdarstellung.

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Zu den Kreuzigungsdarstellungen in der Kölner Buchmalerei Wie die gesamte Anlage des Kruzifixus findet auch die Pergamentsichtigkeit des Hintergrunds in der Kreuzigungsdarstellung des Hitda-Codex eine Parallele (Abb. 38c), wobei die Fläche hier durch die vorhandenen Assistenzfiguren und die blaugraue Bergkulisse, die in ihrer Farbigkeit samt Struktur den Bodenwellen der Gießener Kreuzigung weitgehend entspricht, wesentlich geringer ausgefallen ist und durch die Beschriftungen in Gold eine zusätzliche Kaschierung erfahren hat.9 Bei der Binnengestaltung des Rahmens wurde ebenfalls ­zwischen den Schmal- und Langseiten differenziert, z­ wischen der unteren Schmalseite und dem Kreuzdorn selbst besteht hier aber – anders als in Gießen – keine direkte Verbindung. Der das Kreuz als Abbild ausweisende Dorn steckt stattdessen achsial in den flächig mit Pflanzen bewachsenen Erdschollen, die den Assistenzen Maria und Johannes unter dem Kreuz eine Standfläche bieten.10 Diese landschaftliche Kulisse ­Golgathas in Form eines rissigen, pflanzenbesetzten Felsbodens mit den beiden Bergen Gareb und Agra erinnert an die Kreuzigungsminiatur der ‚Malerischen Gruppe‘ in dem Sakramentar aus St. Gereon (Abb. 38a), die ebenfalls über keine direkte Verbindung ­zwischen dem Steckkreuz und der unteren Rahmenleiste verfügt, nachdem der Dorn in dem als Golgotha Locvs bezeichneten Boden fixiert ist. Während der Querbalken dort allerdings nicht ganz bis zum Rahmen der Miniatur reicht, überschneidet er diesen im Hitda-Codex, so dass die beiden Kreuzarme aus der durch den Rahmen begrenzten Bildfläche nach vorne heraustreten.11 Das widerspricht der Darstellungsperspektive der Kreuzigung, zumal der (hier unbeschriftete) Titulus am oberen Kreuzstamm – wie bei der Miniatur des Gießener Evangeliars (beschriftet mit den Nomina sacra IH̅ C XP̅ C), aber im Unterschied zu der Miniatur des Sakramentars (dort wieder unbeschriftet) – nicht den Rahmen sprengt, sondern bündig mit seiner oberen Schmalseite abschließt. Die Inschriftentafel ist dabei perspektivisch ebenfalls verzerrt. 9

Die beiden Berge Gareb und Agra haben schon bei den Kreuzigungsdarstellungen im Rabbula-Evangeliar von 586 (Biblioteca Medicea Laurenziana Florenz, Cod. Plut. I, 56, fol. 13v) und der Malerei an der Stirnwand der Theodotus-Kapelle von Sta. Maria Antiqua in Rom (Abb. 39b) etwa um die Mitte des 8. Jahrhunderts (741 – 752) im Hintergrund Verwendung gefunden. Zum Rabbula-Evangeliar vgl. The Rabbula Gospels. Facsimile edition of the miniatures of the Syriac manuscript Plut. I,56 in the Medicaean-Laurentian Library, hg. v. Carlo Cecchelli, Giuseppe Furlani und Mario Salmi (Monumenta occidentis, Bd. 1), Olten 1959. – Zu Sta. Maria Antiqua in Rom vgl. Santa Maria Antiqua. The Sistine Chapel of the Early Middle Ages, hg. v. Eileen Rubery, Guilia Bordi und John Osborne, Turnhout 2021. 10 Bei einer direkten Verbindung der unteren Rahmenleiste mit dem Kreuzdorn würden Maria und ­Johannes nicht unter, sondern hinter dem Kreuz stehen. Da es in der Kreuzigungsdarstellung des Gießener Evangeliars keine Assistenzfiguren gibt, war dort eine s­ olche Verbindung möglich und bestätigt den bewussten Verzicht auf ihre Darstellung, der bereits in den friesartig aufgereihten Pflanzen anstelle des Flächenbewuchses eine Begründung fand. 11 Das Überschneiden des Rahmens findet in dem Nimbus von Johannes eine Wiederholung und unterstützt so den Eindruck, dass Johannes unter und nicht hinter dem Kreuz steht.

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Noch deutlicher wird dies aber am Suppedaneum, das sich – der Gießener Darstellung vergleichbar – nach hinten verbreitert und auf dem die bereits aus Gießen bekannten, v-förmig arrangierten Füße des Gekreuzigten einzeln angenagelt sind.12 Letzteres trifft auch auf die Sakramentardarstellung zu, wobei dort kein Blut aus den Nagelwunden austritt und der Winkel ­zwischen den beiden Füßen – wie in Gießen – spitzer ist. Trotz kleiner Unterschiede verfügen die drei, insgesamt sehr ähnlichen Kruzifixusdarstellungen der ‚Malerischen Gruppe‘ über auffallend feingliedrige Füße wie Fußknöchel und weisen auch bei der Gestaltung der Zehen, deren Gelenke mehr (Sakramentar aus St. Gereon, Hitda-Codex) oder weniger (Gießener Evangeliar) markant ausgeprägt sind, große Übereinstimmung auf. Außerdem zeigen alle drei Miniaturen perspektivisch wieder­ gegebene, goldene Einsteckkreuze, wobei die Farbigkeit der Konturierung an den Seitenkanten ­zwischen orangerot-schwarz (Gießener Evangeliar, Hitda-Codex) und orangerotschwarz-weiß (Sakramentar aus St. Gereon) wechselt; in der Kreuzigungsminiatur des Hitda-Codex schließt die Konturierung nicht nur den leeren, goldenen Titulus, sondern ebenso das goldene Suppedaneum mit ein. Die Fußbretter der beiden anderen Miniaturen sind oben blau, die Tituli einheitlich in Gold gehalten. Auffällig an der Inschriftentafel der Gießener Kreuzigungsdarstellung im Vergleich zu den zwei anderen Darstellungen ist, dass die perspektivische Anlage der Tafel hier weder berücksichtigt noch ausgestaltet wurde. Gegenüber den schwarz-ockerfarben-weiß geteilten Seitenkanten des Suppedaneums lässt die gerade durchgezogene Golddeckung auf eine gewisse Schnelligkeit schließen, mit der im Bereich des Titulus offenbar gearbeitet wurde. Das mag auch für die unbeschrifteten, gesichtslosen Gestirne sol und luna sowie die eher einfach gestaltete Zierleistenornamentik der beiden Langseiten des Miniaturrahmens gelten. Vermutlich erklärt sich dies damit, dass fol. 188 nachträglich, aber sicher noch während des Herstellungsprozesses, anstelle eines herausgeschnittenen Blattes eingefügt wurde.13 Was sich auf dem ursprünglichen Pergamentblatt befand, ist unbekannt. Die Lage der Kreuzigung zum Beginn des Johannes-Evangeliums ist in Köln keineswegs singulär: Im Hitda-Codex wurde sie – losgelöst vom christologischen Zyklus – am Ende des Johannes-Evangeliums angeordnet,14 im Gerresheimer Evangeliar als direktes Gegenüber zum Evangelistenbild des Johannes, mit dem sie so eine Doppelseite bildet.15 Der Körper 12 Hermann Otto Vaubel: Die Miniaturenhandschriften der Giessener Universitäts-Bibliothek und der Gräfl. Solmsischen Bibliothek zu Laubach (Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins, Bd. 27), Diss. Giessen 1926, S. 12 spricht davon, dass das Suppedaneum der Gießener Kreuzigung „in ­umgekehrter Perspektive […] gezeichnet ist“. 13 Vgl. Ehl 1922 (wie Anm. 3), S. 108 und den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in ­diesem Band. 14 Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs 1640, fol. 207v. – Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 46 – 52, hier S. 52. 15 Schatzkammer St. Margareta Düsseldorf-Gerresheim, fol. 211v/212r. – Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 64 – 68, hier S. 68 mit Farbtaf. XIII u. XIV [S. 66/67]. – Im Gundold-Evangeliar

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des Evangelisten ist dabei nach links auf die Kreuzigungsminiatur ausgerichtet, was zwar unter den Evangelistenbildern keineswegs ungewöhnlich ist, hier aber die Verkettung der beiden Seiten unterstreicht. Im Gießener Evangeliar ist dies durch das Auseinanderziehen von Kreuzigung und Evangelistenbild auf den recto-Seiten anders, da der gesamte Codex den Evangelisten konsequent eine Textzierseite mit dem Explicit des Capitulums gegenüberstellt.16 Das ist bei Johannes deshalb besonders bemerkenswert, da die Lagenzäsur hier ausnahmsweise ­zwischen der Explicitzierseite und dem Evangelistenbild liegt (Abb. 7). Ihre Gegenüberstellung auf einer Doppelseite ist also lagenübergreifend und spricht damit für eine einheitliche wie ursprüngliche Anlagekonzeption. In der Konsequenz hieße dies, dass wahrscheinlich sowohl auf der recto- als auch auf der verso-Seite des ersetzten Pergamentblatts die ursprünglichen Bildthemen beibehalten wurden. Die fehlenden Assistenzfiguren und die Pergamentsichtigkeit des Hintergrunds stellen innerhalb der Kölner Buchmalerei eine bewusste und besondere Setzung der Kreuzigung des Gießener Evangeliars dar.17 Das zeigt sich auch darin, dass es keine Parallele für die – vor dem unbemalten Hintergrund besonders in Szene gesetzte – Darstellung von sowohl Blut als auch Wasser gibt, die aus der Seitenwunde strömen: Während die Seitenwunde des (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. bibl. qt. 2a, fol. 9r) ist die Kreuzigungsminiatur Teil der Eingangssequenz und somit nicht dem Johannes-Evangeliums zugeordnet. Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 61 – 63, hier S. 61. – Mit dem Sakramentar aus St. Gereon (Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 817, fol. 59r) liegt ein anderer liturgischer Handschriftentypus vor. Vgl. dazu zusammenfassend Rudolf Suntrup: Te igitur-Initialen und Kanonbilder in mittelalterlichen Sakramentarhandschriften, in: Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Christel Meier und Uwe Ruberg, Wiesbaden 1980, S. 278 – 382. – Zum Sakramentar aus St. Gereon vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 38 – 43, hier S. 39/42. 16 Universitätsbibliothek Gießen, Hs 660, fol. 188r u. 189r. – Zu den Explicitzierseiten vgl. etwa Vor dem Jahr 1000. Abendländische Buchkunst zur Zeit der Kaiserin Theophanu, Ausst. Kat. Schnütgen-­ Museum Köln, hg. v. Anton von Euw, Köln 1991, S. 34 – 36, Kat. Nr. 3, das Zitat S. 36 (Anton von Euw): „Jedoch ist am Gießener Codex etwas Merkwürdiges zu beobachten, nämlich daß jeweils vor den Evangelistenbildern der Schluß des Kapitelverzeichnisses als Zierseite ausgebildet wird.“ – Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike zum Mittelalter, Ausst. Kat. Kulturhistorisches Museum Magdeburg, hg. v. Matthias Puhle und Gabriele Köster, Regensburg 2012, S. 662/664, Kat. Nr. V.60, das Zitat S. 662 (Thomas Labusiak): „Die Kapitelverzeichnisse, deren Schluss jeweils von Textzierseiten hervorgehoben wird, sind den Evangelien vorgeschaltet. Sie stehen den Miniaturen der ­Evangelisten gegenüber. Dass das Ende der Kapitelverzeichnisse in dieser Weise hervorgehoben wird, ist ungewöhnlich und wohl der strukturellen Vereinheitlichung der Handschrift geschuldet, die die Zierseiten durchwegs paarweise anordnet.“ 17 Vgl. von Euw 1991 (wie Anm. 16), S. 36: „Die Kreuzigung mit Maria und Johannes, die im Hitda-Codex noch als Typicum für das Evangelium des Johannes, der beim Tod Jesu am Kreuz als Zeuge anwesend war, betrachtet werden darf, ist hier zu einem monumentalen Bild des Gekreuzigten geworden, dessen Gestalt an Werke wie das Gerokreuz im Kölner Dom erinnert.“ – Labusiak 2012 (wie Anm. 16), S. 664: „Auch die Komposition der Kreuzigung beschränkt sich mit der Darstellung des toten Christus am Kreuz auf das Wesentliche, steigert damit aber zugleich dessen monumentale Wirkung.“

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Gekreuzigten im Sakramentar aus St. Gereon lediglich als trockene, dunkle Schnittwunde angegeben ist, spritzt bei den anderen Kruzifixusdarstellungen ausschließlich Blut aus der Seitenwunde heraus (Abb. 38 u. 39a). Im Sakramentar dürfte der purpurfarbene Grund den Ausschlag für die (auch bei den Hand- und Fußmalen) unblutige Darstellung gegeben und zu der graublauen Färbung des Kreuzes in der Kreuzigungsminiatur des Gerresheimer Evangeliars geführt haben. In dem dreifarbigen Streifengrund des Gundold-Evangeliars ist der tangierte Bereich ebenfalls graublau gefärbt, vor dem das aus der Seitenwunde Christi herausfließende Blut deutlich wahrnehmbar ist. Im Gegensatz zum Sakramentar hat die Hintergrundfläche, die den Unterkörper des Kruzifixus dort umgibt, zudem auch keine purpurfarbene, sondern eine braunrote Färbung erhalten, um sich von der roten Farbe des Blutes klar abzusetzen. Da das Rot des Blutes auch für die Konturierung verwendet wurde, ist der farbliche Unterschied augenfällig. Wie eng die Kölner Darstellungen zusammenhängen zeigt sich an einem Detail: Die bei Kruzifixen nicht besonders häufig anzutreffende Markierung des Brustbeinendes findet sich innerhalb der ‚Malerischen Gruppe / Sondergruppe‘ im Sakramentar aus St. Gereon, dem Gießener Evangeliar, dem Hitda-Codex und dem Gundold-Evangeliar (Abb. 38). Auffallend eng stimmen erneut die Darstellungen im Gießener Evangeliar und Hitda-Codex überein, bei denen zur Modellierung blau verwendet wurde, wobei der Hitda-Codex in seinem hellmalerischen Stil insgesamt über eine vergleichsweise stärkere Betonung der anato­mischen Details verfügt, wie sich auch an den schräg hochgestreckten, weißgehöhten sehnendurchzogenen Armen mit den ‚welken‘ Händen und dem Gesicht des Gekreuzigten zeigt. Durch die Neigung des Hauptes gibt es am Hals zudem Hautfalten, die im Kruzifixus des Sakramentars aus St. Gereon ihr Vorbild haben und den Realitätscharakter dieser Kopfhaltung steigern. Das spricht für eine Datierung des Hitda-Codex nach dem Gießener Evangeliar und widerspricht damit der von Elisabeth Schipperges begründeten Handschriftenchronologie innerhalb der ‚Malerischen Gruppe‘: „Nach stilistischen Erwägungen ist der Hitdacodex ­zwischen das Pariser Sacramentar und das Gießener Evangeliar zu setzen.“ 18

Die Kölner Miniaturen und andere ottonische Kruzifixe Das Einsteckkreuz weist die Kreuzigungsdarstellung des Gießener Evangeliars als bildhaft aus.19 Die Kreuzigung bildet historisches Geschehen also nicht real ab, sondern es handelt sich um ein Bild. Durch die betonte Körperhaftigkeit in der Darstellung des toten ­Christus 18 Schipperges 1937 (wie Anm. 3), S. 291. – Zur umgekehrten Reihenfolge vgl. bereits Ehl 1922 (wie Anm. 3), S. 108 u. 129. 19 Zur karolingischen Tradition des Einsteckkreuzes sei auf den Ludwig-Psalter (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. theol. lat. fol. 58, fol. 120r) verwiesen. Vgl. zusammenfassend Geschichte der

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am Kreuz wird aber dennoch auf das reale Opfer und damit die menschliche Natur Jesu verwiesen, die Gestirne sol und luna veranschaulichen die überzeitliche und kosmische Bedeutung des Kreuzesopfers. Seit wann genau der im Frühmittelalter zunächst ausgeklammerte Passionskontext in Kreuzigungsbildern dargestellt wurde, ist umstritten.20 Reiner Haussherr hat sich in seiner Dissertation zum Kölner Gerokreuz ausführlich mit dieser Problematik beschäftigt.21 Dass die Charakterisierung der Darstellung des Gekreuzigten als ‚lebend‘ oder ‚tot‘ durch das Ineinandergreifen von realistischen und symbolischen Aspekten teilweise nicht weit genug geht, hatte zuvor bereits Aloys Grillmeier thematisiert.22 Das Kölner Bildverständnis äußert sich im Hitda-Codex durch den der Kreuzigung gegenüberstehenden Text: „Ille cvivs / imagine(m) hic / cernis penden / te(m) in crvce est / c(on)ditor ac rector / vniv(er)se ­creatv / r(a)e“ (Der dessen Bild du hier am Kreuz hängend siehst, ist der Schöpfer und Lenker der gesamten Schöpfung).23 Demnach ist im ‚Bild‘ des toten Christus am Kreuz der Allmächtige zu sehen, wobei ­zwischen Existenzform und Bild unterschieden wird.24 Der Text zeugt von einer reflektierten Auseinandersetzung mit dem Kreuz, wie sich auch die Theologie bis zum 11. Jahrhundert intensiv mit den Problemen der sogenannten Zwei-Naturen Lehre, die auf dem Konzil von Chalkedon 451 beschlossen wurde, befasst hat.25

bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 1: Karolingische und ottonische Kunst, hg. v. Bruno R ­ eudenbach, München 2009, S. 272 f., Kat. Nr. 57 mit Abb. 57 (S. 272; Andrea Hauff / Irmgard Siede). 20 Die Ikonografie der frühesten erhaltenen Kreuzigungsdarstellungen wie beispielsweise in der Miniatur des Rabbula-Evangeliars von 586 zeigen nicht den sterbenden, sondern den lebend triumphierenden Christus. Das Fortleben dieser Bildtradition belegt die Malerei an der Stirnwand der Theodotus-Kapelle von Sta. Maria Antiqua in Rom (Abb. 39) (741 – 752). Zu den beiden Darstellungen vgl. Anm. 9. – Vgl. auch Hans Georg Thümmel: Ikonologie der christlichen Kunst, Bd. 2: Bildkunst des Mittelalters, Paderborn 2020, S. 191 – 195, hier insb. S. 193. 21 Reiner Haussherr: Der tote Christus am Kreuz. Zur Ikonographie des Gerokreuzes, Diss. Bonn 1963. – Vgl. auch Gerhard Lutz: Das Bild des Gekreuzigten im Wandel. Die sächsischen und westfälischen Kruzifixe der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, Bd. 28), Petersberg 2004. – Manuela Beer: Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert. Mit einem Katalog der erhaltenen Denkmäler, Regensburg 2005. 22 Aloys Grillmeier: Der Logos am Kreuz. Zur christologischen Symbolik der älteren Kreuzigungsdarstellung, München 1956, hier insb. S. 81 – 96. – Vgl. dazu kritisch Haussherr 1963 (wie Anm. 21), S. 204 – 207. 23 Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640, fol. 207v/208r. – Eine Abbildung der Doppel­ seite bei Winterer 2011 (wie Anm. 2), S. 120/121. 24 Zur Doppeldeutigkeit des ‚Bildes‘ vgl. Bruno Reudenbach: Religiöse Bilder. Theologisches Urteil und künstlerische Praxis, in: Reudenbach 2009 (wie Anm. 19), S. 497 – 511, hier insb. S. 503 – 506, S. 504 der Verweis auf Kol 1,15: „qui est imago Dei invisibilis“ (Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes)“. 25 Vgl. Ulrich Köpf: Schriftauslegung als Ort der Kreuzestheologie Bernhards von Clairvaux, in: Bernhard von Clairvaux und der Beginn der Moderne, hg. v. Dieter R. Bauer und Gotthard Fuchs, Innsbruck 1996, S. 194 – 213, hier S. 200. – Celia Chazelle: The Crucified God in the Carolingian Era. Theology and Art

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Als ältestes hölzernes Monumentalkruzifix im erhaltenen Bestand gilt seit langem das Gerokruzifix im Kölner Dom.26 Es ist von der Forschung fast einheitlich als Stiftung des Erzbischofs Gero (amt. 969 – 976) erkannt und mit dem von Thietmar von Merseburg (verst. 1018) in seiner Chronik zur Reichsgeschichte (lib. III, c. 2) erwähnten Bildwerk identifiziert worden.27 Die inkarnatsichtige, farbig gefasste Holzskulptur unterscheidet sich in ihrer außergewöhnlich realistischen Wirkung von den früheren metallenen oder mit Metall beschlagenen Bildwerken.28 Die Wundererzählung Thietmars betont diese Leiblichkeit noch besonders durch den heilenden Effekt einer Hostie.29 Dazu passt, dass der Gekreuzigte angesichts des heruntergesackten Körpers und des weit vorgewölbten Bauches im Todesmoment dargestellt ist. Hierin ist ihm der gemalte Kruzifixus des Sakramentars aus St. Gereon vergleichbar, der außerdem etwa auch den voluminös über dem Cingulum durchgesteckten Stoffteil und die markante Falte des Lendenschurzes am rechten Oberschenkel zeigt. Durch die Sichtbarkeit der beiden Knie wird insgesamt mehr von der Form des Körpers preisgegeben als bei der Kreuzigungsdarstellung des Gießener Evangeliars. Die Anwinkelung der Beine ist beim Gerokruzifixus wesentlich stärker ausgeprägt als im Sakramentar oder im GundoldEvangeliar, bei dem das Standmotiv so dominierend ist, dass die Arme des Gekreuzigten

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of Christ’s Passion, Cambridge 2001. – Rachel Fulton: From Judgement to Passion. Devotion to Christ and the Virgin Mary, 800 – 1200, New York 2002. – Vgl. dazu auch Lutz 2004 (wie Anm. 21), S. 30. Vgl. zuletzt Rolf Lauer: Das Gerokreuz im Kölner Dom, in: Kölner Domblatt 83 (2018), S. 62 – 89. – Rolf Lauer: The Gero Cross in Cologne Cathedral, in: Christ on the Cross. The Boston Cruzifix and the rise of monumental wood sculpture, 970 – 1200, hg. v. Shirin Fozi und Gerhard Lutz (Studies in the visual cultures of the Middle Ages, Bd. 14), Turnhout 2020, S. 184 – 205. – Vgl. dazu auch Martin Büchsel: Neue Überlegungen zur Entstehung der mittelalterlichen lebensgroßen Schnitzfigur, in: Kunstchronik. Monatsschrift für Kunstwissenschaft, Museumswesen und Denkmalpflege 76 (2023), S. 54 – 62. – Zusammenfassend mit älterer Literatur Reudenbach 2009 (wie Anm. 19), S. 515, Kat. Nr. 282 (Bruno Reudenbach). Thietmar von Merseburg: Chronik, übers. u. komm. v. Werner Trillmich (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd. 9), Darmstadt 1957, S. 87: „Inzwischen starb Gero, der treffliche Walter des Kölner (Bischofs)Stuhls; da ich von ihm bisher nur kurz berichtet habe, will ich jetzt einiges erzählen, was ich mir früher aufgespart habe. Den Cruzifixus, der jetzt mitten in der K ­ irche über seinem Grab steht, ließ er aus Holz kunstfertig herstellen.“ – Zur Identifizierung vgl. Richard Hamann: Grundlegung zu einer Geschichte der mittelalterlichen Plastik Deutschlands, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 1 (1924), S. 1 – 48, hier S. 15 – 18. – Richard Hamann: Studien zur ottonischen Plastik, in: Städel-Jahrbuch 6 (1930), S. 5 – 19, hier S. 18, Anm. 1. Vgl. Bruno Klein: Das Gerokreuz. Revolution und Grenzen figürlicher Mimesis im 10. Jahrhundert, in: Nobilis arte manus. Festschrift zum 70. Geburtstag von Antje Middeldorf Kosegarten, hg. v. Bruno Klein und Harald Wolter-von dem Knesebeck, Dresden 2002, S. 43 – 60, hier S. 45 f. Chronicon (wie Anm. 27), lib. III, c. 2, S. 87: „Als er [Gero] jedoch einen Riss in seinem [des Cruzifixus] Haupte bemerkte, heilte er ihn ohne eigenen Eingriff durch des höchsten Künstlers so viel mehr heilbringender Hilfe. Einen Teil vom Leibe des Herrn, unseres Trostes in allen Nöten, vereinigte er mit einem Teile des heilbringenden Kreuzes, legte ihn in den Spalt, warf sich nieder und rief den Namen des Herrn flehentlich an; als er sich wieder erhob, hatte er durch sein demütiges Lobpreisen die Heilung erwirkt.“

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Abb. 40: Lotharkreuz, Domschatzkammer Aachen: Rückseite.

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fast waagerecht vor dem Querbalken ausgestreckt sind und sein Oberkörper nicht einmal mehr zur Seite wegsackt, wie es im Sakramentar der Fall ist. Die Gravur auf der Rückseite des Aachener Lotharkreuzes (Abb. 40) zeigt eine Übertragung des Gerokruzifixus in das Zweidimensionale. Vergleichbar ist das nach vorne auf die Brust gesunkene, bei der Gravur zur Seite gekippte Haupt des Gekreuzigten, die Hand- und Armhaltung sowie die Körperzeichnung. Der Stoffteil des Lendenschurzes ist bei beiden über dem Cingulum durchgesteckt, die Schurzgestaltung stimmt aber ansonsten nicht überein. Das gilt auch für den Gesichtsausdruck des Gekreuzigten, der durch die Seitenansicht der Gravur differenzierter erscheint. Die Oberkörpersilhouette mit dem leichten, nicht durch die Anatomie vorgegebenen Bogen auf der linken Körperseite, der beim Lotharkreuz nachträglich korrigiert wurde, und die gewellte Oberkörperkontur rechts finden sich in der Kreuzigung des Gießener Evangeliars wieder, mit der das Lotharkreuz außerdem über das perspektivisch verzerrte Suppedaneum verbunden ist. Nach dem aktuellen Forschungsstand ist seine Datierung um 980 anzusetzen.30 Die von Günther Binding vertretene These, dass die Buchmalerei-Kruzifixe in das 11. Jahrhundert datieren und deshalb das Gerokreuz auch erst um 1000 anzusetzen sei, ist angesichts der Kruzifixusseite des Lotharkreuzes kaum haltbar.31 Dieser Eindruck wird auch durch die naturalistische Körper­zeichnung in der Treibarbeit des Gekreuzigten am Otto-Mathilden-Kreuz im E ­ ssener Domschatz (Abb. 41) gestützt, dessen Datierung über die Lebensdaten der auf dem Stifteremail am unteren Kreuzstamm der Kruzifixusseite dargestellten Äbtissin Mathilde von Essen (amt. 973 – 1011) und Herzog Otto von Schwaben (verst. 982) zeitlich eingegrenzt ist. Während die ältere Forschung von einer Stiftung durch Herzog Otto vor 982 ausging, spricht sich die jüngere Forschung für eine Memorialstiftung durch Mathilde um 985 aus.32 30 Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Das Lotharkreuz im Aachener Domschatz. Zur Datierung mit ikonologischen, stilistischen und historischen Methoden, in: Kanon Kunstgeschichte. Einführung in Werke, Methoden und Epochen, Bd. 1: Mittelalter, hg. v. Kirstin Marek und Martin Schulz, Paderborn 2015, S. 78 – 107. – Vgl. auch Reudenbach 2009 (wie Anm. 19), S. 229 f., Kat. Nr. 23 (Rebecca Müller) mit der Datierung um 980 oder um 1000. 31 Günther Binding: Die Datierung der Kölner spätottonischen Skulpturen. Ein kritischer Forschungsbericht, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch. Jahrbuch für Kunstgeschichte 72 (2011), S. 89 – 122. – Vgl. auch Günther Binding: Noch einmal zur Datierung des sogenannten Gero-Kreuzes im Kölner Dom, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch. Jahrbuch für Kunstgeschichte 64 (2003), S. 321 – 328. 32 Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Das Otto-Mathilden-Kreuz im Essener Münsterschatz. Überlegungen zu Charakter und Funktion des Stifterbildes, in: Herrschaft, Liturgie und Raum. Studien zur mittelalterlichen Geschichte des Frauenstifts Essen, hg. v. Katrinette Bodarwé und Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 1), Essen 2002, S. 51 – 80. – Klaus Gereon Beuckers: Das ottonische Stifterbild. Bildtypen, Handlungsmotive und Stifterstatus in ottonischen und frühsalischen Stifterdarstellungen, in: Die Ottonen. Kunst, Architektur, Geschichte, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Johannes Cramer und Michael Imhof, Petersberg 2002, S. 62 – 102, hier S. 64. – Klaus Gereon Beuckers: Farbiges Gold. Die ottonischen Kreuze in der Domschatzkammer Essen und ihre Emails, Essen 2006, S. 8 f.

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Abb. 41: Otto-Mathilden-Kreuz, Domschatz Essen, Inv. Nr. 3: Vorderseite.

Hinzu kommt, dass sich seit dem letzten Viertel des 10. Jahrhunderts plötzlich eine ganze Gruppe dieser körperhaften Großkruzifixe aus Holz wie beispielsweise die Kruzifixe in Gerresheim, Ringelheim (heute Hildesheim) oder Aschaffenburg greifen lässt.33 Ein Bezug 33 Vgl. Rudolf Wesenberg: Frühe mittelalterliche Bildwerke. Die Schule rheinischer Skulptur und ihre Ausstrahlung, Düsseldorf 1972, insb. S. 11 – 26. – Manuela Beer: Ottonische und frühsalische

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der Kölner Miniaturen des 10./11. Jahrhunderts zu den ottonischen Monumentalkruzifixen ist also alleine schon aufgrund ihrer Körperhaftigkeit in der Darstellung gegeben; die Nähe ihrer motivischen Anlage zum Gerokreuz weist sie als eine Nachfolge des Bildwerks aus. Ob der Transfer über eine Gravur in der Art des Lotharkreuzes erfolgte, ist nicht auszuschließen, jedoch werden gerade einige sehr signifikante Elemente speziell ­dieses Stücks wie die seitliche Wendung des Hauptes nicht aufgegriffen, so dass eine direkte Abhängigkeit vom Lotharkreuz nicht gegeben erscheint.

Blut und Wasser: Die Seitenwunde Gerade das Lotharkreuz steht aber in dem Detail der Differenzierung der beiden aus der Seitenwunde Christi ausströmenden Flüssigkeiten, die sonst im erhaltenen Denkmälerbestand des frühen und hohen Mittelalters an anderem Ort nicht auftritt, der Gießener Darstellung nahe. Während die Flüssigkeiten in der Miniatur nicht zuletzt durch die Zweifarbigkeit eindeutig als Blut und Wasser zu identifizieren sind, so deutet dies die Gravur durch die dezidierte Differenzierung der Strahlen in zwei Linien an.34 Der Bericht von Blut und Wasser (αιμα και υδωρ) ist dabei biblisches Eigengut der Johannestexte und findet sich nicht nur im Evangelium,35 sondern auch im ersten Johannesbrief (1 Joh 5,6 – 8): „hic est qui venit per aquam et sanguinem Iesus Christus non in aqua solum sed in aqua et sanguine et Spiritus est qui testificatur quoniam Christus est veritas quia tres sunt qui testimonium dant Spiritus et aqua et sanguis et tres unum sunt“ (Dieser ist es, der durch Wasser und Blut gekommen ist: Jesus Christus. Er ist nicht nur im Wasser gekommen, sondern im Wasser und im Blut. Und der Geist ist es, der Zeugnis ablegt; denn der Geist ist die Wahrheit. Denn drei sind es, die Zeugnis ablegen: der Geist, das Wasser und das Blut; und diese drei sind eins.).36 Die in den Kreuzigungsminiaturen anschaulich vorgeführte Leiblichkeit des toten Christus am Kreuz ist dabei nicht nur von Belang für die Natur Christi als geborener Mensch und göttlicher Erlöser, die auch in den Johannestexten anklingt. Seit früher Zeit findet die Seitenwunde im Anschluss an Joh 19,34 auch als Ursprungsort der ­Kirche und Monumentalskulptur. Entwicklung, Gestalt und Funktion von Holzbildwerken des 10. und frühen 11. Jahrhunderts, in: Beuckers / Cramer / Imhof 2002 (wie Anm. 32), S. 129 – 152. – Beer 2005 (wie Anm. 21), S. 177 – 188. – Vgl. auch Thümmel 2020 (wie Anm. 20), S. 191 f. u. 194 f. 34 Clemens M. M. Bayer sei für diesen Hinweis aus seiner in Vorbereitung befindlichen Publikation zum Lotharkreuz herzlich gedankt. 35 Joh 19,34: „sed unus militum lancea latus eius aperuit et continuo exivit sanguis et aqua“ (sondern einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite und sogleich floss Blut und Wasser heraus). Zit. n. Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, hg. v. Robert Gryson, Stuttgart 52007, S. 1694. 36 Zit. n. Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem (wie Anm. 35), S. 1878.

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der Sakramente besondere Bedeutung.37 Davon ausgehend gehört sie insbesondere in den Zusammenhang einer Theologie der Messe und des Sakramentes der Eucharistie, die im Abendmahlsstreit seit der Mitte des 9. Jahrhunderts einen Höhepunkt hatte.38 Im Kern ging es um die Frage, ob der in der Messe aus Brot und Wein zu Fleisch und Blut Christi gewandelte sakramentale Leib mit dem historischen Leib Christi identisch sei – eine Ansicht, die letztlich bejaht wurde. Die von Amalar von Metz (um 775/780–um 850) propagierte rememorative Funktion der Messe als Nachvollzug von Lebensstationen Christi erfuhr dadurch eine Stärkung.39 Diese im 9. Jahrhundert formierte Kreuzestheologie mit ihrem deutlich liturgischen Bezug fand in der Kreuzigungsminiatur des Gießener Evangeliars Niederschlag und führte zu der so ungewöhnlichen Darstellung von Blut und Wasser. Das historische Geschehen am Kreuz wurde am Altar sakramental erneuert und simultan dazu durch die Miniatur mit ihrem unbemalten, hostienfarbenen Hintergrund ins Bild gesetzt.40

37 Vgl. Wilhem Geerlings: Die ­Kirche aus der Seitenwunde Christi bei Augustinus, in: Väter der ­Kirche. Ekklesiales Denken von den Anfängen bis in die Neuzeit. Festgabe für Hermann Josef Sieben zum 70. Geburtstag, hg. v. Johannes Arnold u. a., Paderborn 2004, S. 465 – 481. – Eine klare Trennung, nach der das Blut die Eucharistie und das Wasser die Taufe bezeichnet (s. u.), findet sich bei Augustinus allerdings nicht. Das Thema der Seitenwunde war – mit unterschiedlichem Fokus – aber auch bei anderen frühen christlichen Autoren neben Augustinus, wie Gregor von Nazianz, Origines, ­später beispielsweise auch bei Rupert von Deutz und Thomas von Aquin angesagt. 38 Das Blut und Wasser aus der Seitenwunde bezieht sich auf die Lebens- und Heilsbedeutung des strebenden Jesus, die in der Taufe und der Eucharistie sakramental vermittelt wird. Vgl. Lexikon für Theologie und ­Kirche, Art. ‚Wundmale Christi‘, Bd. 10, Freiburg im Breisgau ³2006, Sp. 1320 – 1324, hier Sp. 1320 (Klaus Scholtissek). – Vgl. auch Haussherr 1963 (wie Anm. 21). 39 Vgl. Rudolf Suntrup: Die Bedeutung der liturgischen Gebärden und Bewegungen in lateinischen und deutschen Auslegungen des 9. bis 13. Jahrhunderts, München 1978, zur Methode der Liturgieauslegung am Beispiel Amalars von Metz hier S. 46 – 69, insb. S. 54 – 57. – Suntrup 1980 (wie Anm. 15). – Vgl. auch Reinhard Mönchemeier: Amalar von Metz. Sein Leben und seine Schriften. Ein Beitrag zur theologischen Literaturgeschichte und zur Geschichte der lateinischen Liturgie im Mittelalter, Münster 1893. – Adolf Kolping: Amalar von Metz und Florus von Lyon. Zeugen eines Wandels im liturgischen Mysterienverständnis in der Karolingerzeit, in: Zeitschrift für katholische Theologie 73 (1951), S. 424 – 464. – Franz Haffner: Symphosius Amalarius von Metz, Erzbischof von Trier (um 810). Unveröffentlichte Texte zur Geschichte der Sakramentenspendung, in: Festschrift für Alois Thomas. Archäologische, kirchen- und kunsthistorische Beiträge, Trier 1967, S. 135 – 140. – Johannes Beumer: Amalar von Metz und sein Zeugnis für die Gestalt der Meßliturgie seiner Zeit, in: Theologie und Philo­ sophie. Vierteljahresschrift 50 (1975), Sp. 416 – 426. 40 Die Diskussion um die Lage der Seitenwunde auf der rechten Körperseite wurde hier ausgeklammert. Vgl. dazu etwa Andreas Schmid: Die Seitenwunde Christi, in: Zeitschrift für christliche Kunst 21 (1908), Sp. 217 f.

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Schluss Das Kreuzigungsbild auf fol. 188r des Gießener Evangeliars ist eine während des Herstellungsprozesses des Codex nachträgliche Hinzufügung, nachdem das an seiner Stelle befindliche Blatt herausgeschnitten wurde. Ob dies durch eine inhaltliche Veränderung begründet ist und die Kreuzigung neu hinzugefügt werden sollte, lässt sich heute nicht mehr klären, jedoch treten Kreuzigungen innerhalb der Kölner Buchmalerei des 10./11. Jahrhunderts im Kontext des Johannes-Evangeliums auch sonst auf. Die Darstellung ist in ihrer Pergamentsichtigkeit und der ikonografischen Besonderheit von Blut und Wasser, die aus der Seitenwunde strömen, eine offenbar sehr bewusste Konzeption, die sich von der Kreuzigung in dem nur wenige Jahre älteren Sakramentar aus St. Gereon, in der das Bild mit seinen beiden Assistenzen unter dem Kreuz in der klassischen Tradition von christologischen Zyklen steht, unterscheidet, obwohl die Darstellungsart sowohl in den Proportionen, dem Hängemotiv als auch den stilistischen Ausformungen identisch blieb. Hier scheint eine gemeinsame Vorlage durch, die für das Gießener Evangeliar aber inhaltlich modifiziert wurde, indem auf die Assistenzen verzichtet und damit der narrative Charakter reduziert wurde. Wie dezidiert gesetzt das Gießener Konzept ist, zeigen die stilistischen Übereinstimmungen zur Kreuzigung in dem aus der gleichen Zeit und wohl teilweise auch von den gleichen Händen stammenden Hitda-Codex, bei der die Spezifikation von Blut und Wasser nicht vorkommt. Diese Besonderheit wurde im bekannten Denkmälerbestand trotz ihrer prominenten Textgrundlage in den beiden Johannestexten überraschend selten bildlich aufgegriffen. Aus dem ottonischen Umfeld bildet nur die Gravur auf dem Aachener Lotharkreuz eine Paral­ lele, die zudem fast zeitgleich ist. Mit ihrer deutlich leiblichen Zeichnung insbesondere des meist asymmetrisch angelegten Oberkörpers zeigen die Kölner Miniaturen eine Adaption der Gestaltung des Kölner Gerokreuzes, das auch für die Gravur die Formfindung geprägt hat. Sie alle entstammen einem engen zeitlichen Umfeld nach der Entstehung des Gerokreuzes um 975, wobei das Lotharkreuz vermutlich um 980 entstand und der Malereigruppe, in der das Sakramentar sowie die beiden Kreuzigungen in Gießen und im HitdaCodex Mitte der 980er Jahre zu datieren sind, wenige Jahre vorangeht. Die vermutlich etwas jüngere Darstellung im Gundold-Evangeliar variiert den Typus besonders stark und reichert ihn als Stifterbild auch ikonografisch anders an, während in der Kreuzigungsdarstellung des in den 1020/30er Jahren entstandenen Gerresheimer Evangeliars die alte Kölner Vorlage erscheint, aber stilistisch erheblich modifiziert wurde. Ein direkter Einfluss des Lotharkreuzes auf die Kölner Miniaturen ist insgesamt jedoch nicht zu erkennen und die motivische Übereinstimmung mit Blut und Wasser in der Buchmalerei auch so singulär, dass hier von einem individuellen Konzept für den Gießener Codex auszugehen ist. Das Gießener Evangeliar erweist sich damit als theologisch hoch reflektiertes und innerhalb der Überlieferung singuläres Werk.

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Matthias Schrör

Ein König und drei Bischöfe Die Medaillons der Liber generationis-Seite des Gießener Evangeliars (fol. 12r) und ihr historischer Hintergrund

„Jedes Herrscherbild ist ein geschichtliches Dokument, das als ein mehr oder minder i­ ndividuelles Zeugnis über eine Persönlichkeit der Vergangenheit einen eigenartigen Wert hat und so die aus den schriftlichen Quellen sich ergebende Vorstellung ergänzt“ 1. Der Gießener Codex 660 ist ein frühes Erzeugnis der ‚Malerischen Gruppe‘ der Kölner Buchproduktion des 10./11. Jahrhunderts 2 und die „zweifellos […] wertvollste Handschrift der [Gießener] Universitätsbibliothek“.3 Er beinhaltet die vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, Vorreden (Argumente) und Kapitelübersichten sowie ein kalenderartiges Verzeichnis der während des Kirchenjahres zu lesenden Abschnitte (Capitulare evangeliorum).4 Der auf 250 Pergamentblättern in karolingischer Minuskel abgefasste Evangelientext wird in freier Pinselführung durch begleitende Illustrationen und farbige Schmuckelemente optisch bereichert. Aufgrund der opulenten Goldverzierung, der Deckfarbenmalerei in Purpur, Blau, Ocker oder Minium und ganzseitiger Miniaturen gilt das Gießener Evangeliar als „Höhepunkt expressiver Abstraktion“ ottonischer Buchmalerei.5

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Percy Ernst Schramm: Das Herrscherbild in der Kunst des frühen Mittelalters, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 2.1 (1922/1923) [ND Wiesbaden 2013], S. 145 – 224, hier S. 145. 2 Die Unterteilung der aus Kölner Produktion stammenden Handschriften des 10./11. Jahrhunderts geht zurück auf Peter Bloch / Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, Bd. 1: K ­ atalog und Tafeln, Düsseldorf 1967, Bd. 2: Text, Düsseldorf 1970. – Vgl. Ursula Prinz: Das Sakramentar aus Tyniec. Eine Forschungschronologie, in: Das Sakramentar von Tyniec. Eine Prachthandschrift des 11. Jahrhunderts und die Beziehungen z­ wischen Köln und Polen in der Zeit Kasimirs des Erneuerers, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Andreas Bihrer (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 3), Köln 2018, S. 27 – 50, hier S. 39 sowie den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in ­diesem Band. 3 Olaf Schneider: Das Kölner Evangeliar, in: uniforum 23 (2010), Nr. 5, S. 14, http://geb.uni-giessen. de/geb/volltexte/2010/7939/pdf / SchneiderKoelner.pdf [27. Dezember 2022]. 4 Vgl. Vor dem Jahr 1000. Abendländische Buchkunst zur Zeit der Kaiserin Theophanu, Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln, hg. v. Anton von Euw, Köln 1991, Kat. Nr. 3, S. 34 – 36 (Anton von Euw). 5 Ursula Prinz: Die Ornamentik der ottonischen Kölner Buchmalerei. Studien zum Rahmenfüllwerk (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen K ­ irchenund Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 71), Köln 2018, S. 66.

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Datierung und Entstehungsort Die von Peter Bloch und Hermann Schnitzler 1967/1970 vorgenommene Datierung der Gießener Handschrift in die ersten zwanzig Jahre des 11. Jahrhunderts wird von der jüngeren Forschung zurückgewiesen.6 Derzeit wird die ‚Malerische Gruppe‘ in die Zeit der 980/990er Jahre datiert, für den Gießener Codex am ehesten 985 bis spätestens 995 erwogen.7 Entstanden ist der Codex wahrscheinlich im Kölner Kloster St. Pantaleon, wo die Werkstatt der Kölner Buchmalerei in ottonischer Zeit lokalisiert wird.8 Der Konvent verdankte seine Gründung und seine erste Klosterkirche dem Kölner Erzbischof Brun (amt. 953 – 965), Bruder ­Kaiser Ottos I. (verst. 973).9 Im Juni 991 wurde Kaiserin Theophanu hier beigesetzt.10 6 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967 (wie Anm. 2), S. 58. – Zu den Datierungsfragen vgl. den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in ­diesem Band. 7 Vgl. Ulrich Kuder: Der Hitda-Codex im Zusammenhang der Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex. Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013, S. 89 – 112, mit einer Liste S. 110 f. – Klaus Gereon Beuckers: Das Gundold-Evangeliar in der Württembergischen Landes­bibliothek Stuttgart. Bemerkungen zu einem Kölner Prachtcodex des 10./11. Jahrhunderts, in: Philologia sanat. Studien für Hans-Albrecht Koch zum 70. Geburtstag, hg. von Gabriella Rovagnati u. Peter Sprengel, Frankfurt am Main 2016, S. 41 – 65, hier S. 54 f. mit Anm. 152. – Prinz 2018 (wie Anm. 5), S. 66. 8 Vgl. Blicke in verborgene Schatzkammern. Mittelalterliche Handschriften und Miniaturen aus Hamburger Sammlungen, Ausst. Kat. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, bearb. v. Ines Dickmann und Hans-Walter Stork (Schriften aus dem Antiquariat Dr. Jörn Günther, Bd. 1), Hamburg 1998, S. 24. – Christoph Winterer: Das Evangeliar der Äbtissin Hitda. Eine ottonische Prachthandschrift aus Köln. Miniaturen, Bilder und Zierseiten aus der Handschrift 1640 der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Darmstadt 2010, S. 16. – Zu St. Pantaleon und seiner Buchwerkstatt unter vorrangig paläographischen Gesichtspunkten vgl. Raymund Kottje: Schreibstätten und Bibliotheken in Köln Ende des 10. Jahrhunderts, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin, 2 Bde., hg. von Anton von Euw u. Peter Schreiner, Köln 1991, Bd. 1, S. 153 – 163: „Die erhaltene Überlieferung lehrt, daß in ottonischer Zeit die beiden einzigen Stätten, von denen ein solches Bemühen [Bücher von auswärts zu erwerben oder zu schreiben bzw. schreiben zu lassen] nachweisbar ist, der Dom und St. Pantaleon waren – am Dom zur Ergänzung des relativ großen Altbestandes aus karolingischer Zeit, in St. Pantaleon zum Aufbau einer ,Grundausstattung‘ “ (S. 163). 9 Zur Geschichte des Klosters vgl. Helmut Fussbroich: St. Pantaleon, in: Köln. Die romanischen ­Kirchen. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. von Hiltrud Kier und Ulrich Krings (Stadtspuren. Denkmäler in Köln, Bd. 1), Köln 1984, S. 447 – 473. – Vgl. auch Sebastian Ristow: Die Ausgrabungen von St. Pantaleon in Köln. Archäologie und Geschichte von römischer bis in karolingisch-ottonische Zeit (Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters, Beiheft 21), Bonn 2009, insb. S. 70 – 110. – Klaus Gereon Beuckers: Bemerkungen zur Spätdatierung des Westbaus von St. Pantaleon in Köln, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 84 (2021), S. 7 – 42. 10 Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung, hg. von Robert Holtzmann (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum Nova Series, Bd. 9), Berlin 1935, hier IV , c. 15, S. 148: „Et sequenti anno [991] consummato in bonis vitae suimet cursu in

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Über die Provenienz der Gießener Handschrift ist lediglich bekannt, dass sie 1717 in die Gießener Universitätsbibliothek gelangt ist.11

Die Medaillons der Liber generationis-Seite Die Liber generationis-Seite des Gießener Evangeliars (fol. 12r) hat seit jeher das Interesse der Forschung geweckt. Vier Medaillons mit einem orange eingefassten Goldrahmen 12 zeigen die Büsten eines bartlosen weltlichen Herrschers und dreier Erzbischöfe, die sämtlich ohne Namen auskommen müssen.13 Zur historischen Einordnung ist der Vergleich mit ottonischen Herrscherdarstellungen aufschlussreich, denn mit der Kaiserkrönung Ottos I. 962 kam ein neuer Siegeltypus auf. Das umgestaltete Siegelbild orientierte sich fortan stärker an zeitgenössischen byzantinischen Mustern, die ihrerseits auf Traditionen fußten, die mindestens bis ins 6. Jahrhundert zurückreichen. Das neue ottonische Siegel zeigte den Herrscher, der den Betrachter mit den Augen zu fixieren scheint, frontal als Halbfigur.14 Charakteristisch sind neben der en face-Darstellung die hohe Krone, das Szepter und der Reichsapfel, während beispielsweise Konrad I. (verst. 918) noch ganz dem fränkischen Typus des kernigen Heerführers entsprach, dargestellt im Seitenprofil und ohne Krone,

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Niumagun infirmatur imperatrix atque ab hac vita XVII. Kal. Julii discedens sepulta est ab Ewergero sanctae Coloniensis aecclesiae archiepiscopo in monasterio sancti Pantaleonis, quod datis inpensis Brun archipresul ibi requiescens construi precepit, presente filio ac multa pro remedio matris his confratribus largiente.“ – Vgl. zur Bestattung zuletzt Beuckers 2021 (wie Anm. 9), S. 20 – 22. Vgl. dazu den Beitrag von Olaf Schneider in d ­ iesem Band. Vgl. speziell zur Rahmung Prinz 2018 (wie Anm. 5), S. 67. Vgl. Wolfgang Christian Schneider: Die Generatio Imperatoris in der Generatio Christi. Ein Motiv der Herrschaftstheologie Ottos III. in Trierer, Kölner und Echternacher Handschriften, in: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 226 – 258, hier S. 246 – 248. – Rainer Kahsnitz: Ein Bildnis der Theophanu? Zur Tradition der Münz- und Medaillon-Bildnisse in der karolingischen und ottonischen Buchmalerei, in: von Euw / Schreiner 1991 (wie Anm. 8), Bd. 2, S. 101 – 134, hier S. 105. – Prinz 2018 (wie Anm. 5), S. 65 – 67. – Die Krone ist nicht nachträglich aufgemalt worden, sondern war in den Malprozess integriert (freundliche Auskunft von Doris Oltrogge). Oberhalb des Porträts und unmittelbar an der Rahmung findet sich eine weitere „ornamental-zeichnerische Krone“, so Prinz 2018 (wie Anm. 5), S. 67. Vgl. dazu und zum unmittelbar Folgenden Hagen Keller: Ottonische Herrschersiegel. Beobachtungen und Fragen zu Gestalt und Aussage und zur Funktion im historischen Kontext, in: Bild und Geschichte. Studien zur politischen Ikonographie. Festschrift für Hansmartin Schwarzmaier zum 65. Geburtstag, hg. von Konrad Krimm und Herwig John, Sigmaringen 1997, S. 3 – 51, hier S. 5, Abbildung der Siegel Ottos I. und Ottos III. S. 11, speziell zum Kaisersiegel Ottos III. S. 16 – 21. Zur Übernahme byzantinischer Siegelmodelle S. 12 mit Anm. 40. – Die vom König im Gießener Codex über die linke Schulter geworfene und auf der rechten Seite von einem Knoten zusammengehaltene Chlamys hingegen ist ikonographisch nichts Neues, sondern in Anknüpfung an antike Vorbilder ein Grundelement frühmittelalterlicher Herrscherpräsentation.

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dafür mit Lanze und Schild. In den seit 962 gebräuchlichen Siegeln der Ottonen könnte der fol. 12r tätige Buchmaler eine brauchbare Vorlage gefunden haben – mit Ausnahme der nach 996 verwendeten Kaisersiegel Ottos III., da diese erstmalig die zunächst stehende, ­später thronende Ganzkörperfigur zeigen.15 Der Buchmaler wird sicherlich auch Zugang zu einer ottonischen Herrscherurkunde zugunsten eines Kölner Empfängers bekommen haben, um das eingedrückte Wachssiegel abzuzeichnen.16 Entstehungszeitraum, Kontext und Darstellungsweise legen nahe, im Herrschermedaillon des Gießener Evangeliars König Otto III. (amt. 980 – 1002) zu erkennen 17. Die heraldisch vornehmste Position betont die übergeordnete Stellung Ottos gegenüber den drei tonsurierten Männern, die sich unterhalb zur Rechten und zur Linken des Königs sowie ganz unten mittig befinden. Aufgrund der blauen Kaseln und des Palliums 18 können die auf der Liber generationis-Seite dargestellten Geistlichen nur Erzbischöfe sein, denn für das nordalpine Reich Ottos II. und Ottos III. ist kein Fall einer – zu allen Zeiten seltenen – Palliumvergabe an einen Suffraganbischof überliefert.19

15 Der thronende Herrscher sollte bald darauf europaweit stilbildend werden. Vgl. Keller 1997 (wie Anm. 14), S. 16, Anm. 52 mit Literatur. 16 Für eine im Original erhaltene Urkunde Ottos III. mit eingedrücktem Siegel (dat. 2. Juli 985) vgl. Hessisches Staatsarchiv Marburg, Bestand Urk. 75, Nr. 81, arcinsys.hessen.de/arcinsys/digitalisatViewer. action?detailid=v1065135 [27. Dezember 2022]. 17 Nach wie vor grundlegend Gerd Althoff: Otto III. (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 1996. 18 Dieses aus Lammwolle gefertigte Insigne war ursprünglich dem Papst vorbehalten. Bis in die Zeit ­Gregors des Großen (590 – 604) reicht die päpstliche Praxis zurück, das Pallium weiteren Bischöfen und Erzbischöfen zu konzedieren. Zur Geschichte des Insigne vgl. Steven A. Schoenig: Bonds of Wool. The Pallium and Papal Power in the Middle Ages (Studies in Medieval and Early Modern Canon Law, Bd. 15), Washington D. C. 2016. – Zur Vergabe an rheinische Metropoliten vom 9. bis 11. Jahrhundert und zum Rechtscharakter des Palliums, der sich im 10. Jahrhundert zu entwickeln begann, vgl. ­Matthias Schrör: Leo IX. und die rheinischen Metropoliten, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 84 (2020), S. 25 – 62, hier S. 27 u. 52 – 56. 19 Der Papst ist der einzige Geistliche, der das Pallium jederzeit anlegen darf. Die nur ad personam erfolgende Verleihung des Palliums begründete eine partielle Teilhabe an der auf Petrus zurückgehenden und aus Mt 16,18 – 19 abgeleiteten universalen Amtsgewalt der Päpste. Als ­Zeichen der Hirtensorge durften auswärtige Palliumträger die Insignie nur an festgelegten Festtagen und anlässlich bedeutender Ponti­ fikalämter anlegen. Anders als von der Forschung lange Zeit angenommen, bedurfte der Erhalt des Palliums bis in die Zeit des Reformpapsttums um 1100 nicht unbedingt einer urkundlichen Verfügung durch den Papst. Es wird demnach mehr Palliumträger gegeben haben, als die erhaltenen Quellen mitteilen. Zu ersehen ist dies an der Tatsache, dass Verstorbenen ein Pallium ins Grab gelegt wurde, das in den Quellen nirgends bezeugt ist. Solche Fälle sind jedoch bisher nur bei Ausgrabungen erzbischöf­ licher Ruhestätten belegt. Des Palliums bedurfte es zur Ausübung metropolitaner Amtsbefugnisse nicht. Es bedeutete vielmehr einen Prestigegewinn, der – frei nach päpstlichem Ermessen – zuweilen auch Suffragan­bischöfen zuteilwerden konnte.

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Drei rheinische Erzbischöfe? Bereits vor drei Jahrzehnten äußerte Wolfgang Christian Schneider die Vermutung, dass die Miniatur die rheinischen Erzbischöfe aus Köln, Mainz und Trier abbilde.20 Diese Metropoliten standen an der Spitze der ottonischen Reichskirche, sie waren mächtige kirchliche und weltliche Herrschaftsträger und spielten eine hervorgehobene Rolle bei der Königsweihe. Im ostfränkisch-deutschen Reich des 10. Jahrhunderts war eine effiziente Ausübung von Königsherrschaft nur unter aktiver politischer Einbindung der Bischöfe möglich, die für ihre Dienste zahlreiche Gunsterweise erhielten. So forderte der König die Aufnahme und Verköstigung des umherziehenden Hofes oder die Heerfolge ein, um den Bischöfen im Gegenzug Herrschaftsrechte und Besitzungen zu übertragen.21 Inwieweit man die hier nur skizzierten Vorgänge einer älteren Terminologie nach als ‚Reichskirchensystem‘22 bezeichnen kann, soll an dieser Stelle offenbleiben. Am synergetischen Beziehungsgefüge von König und Episkopat kann jedoch kein Zweifel sein – auch nicht während der k­ urzen Herrschaft Ottos III. Die Verflechtung von geistlicher und weltlicher Sphäre war im 10. Jahrhundert allgegenwärtig und wurde nie ernsthaft in Abrede gestellt. Schneiders ansprechende Interpretation der Medaillons bedarf jedoch weiterhin der Hinzuziehung literarischer Quellen, um einen etwaigen historischen Hintergrund des ‚Rheinbundes‘ aufzudecken. Wann traten die drei rheinischen Metropoliten gemeinsam für die Sache Ottos III. ein? Wann erschien es opportun, die Unterstützung des jungen Königs durch die Liber generationis-Seite zu propagieren? Gegen eine tagespolitische Konstellation spricht der sicherlich monatelange Anfertigungszeitraum einer solch aufwändigen Handschrift. Vielmehr muss nach einer stabileren politischen Lage gesucht werden. Dafür wird im Folgenden der mit großen Schwierigkeiten behaftete Herrschaftsantritt Ottos III. ebenso in den Blick genommen wie die zeitgleiche Entwicklung in den rheinischen Erzbistümern. Während der Regierungszeit Ottos III. amtierte in Mainz Erzbischof Willigis (amt. 975 – 1011), in Trier zunächst Egbert (amt. 977 – 993), dann Ludolf (amt. 994 – 1008), in Köln erst Warin (amt. 976 – 985), sodann Everger (amt. 985 – 999) und schließlich Heribert (amt. 999 – 1021). 20 Vgl. Schneider 1991 (wie Anm. 13), S. 247, der jedoch hinzufügt: „Eine nähere Bestimmung der Erzbischöfe kann fraglos nur mit Vorbehalten vorgenommen werden, doch bieten sich Möglichkeiten für einen Vorschlag.“ 21 Vgl. Rudolf Schieffer: Der geschichtliche Ort der ottonisch-salischen Reichskirchenpolitik (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften Düsseldorf, Vorträge Geisteswissenschaften, Bd. 352), Opladen 1998 mit Literatur und bis heute gültigem Forschungsbericht. 22 Dieser Begriff wurde geprägt durch Leo Santifaller: Zur Geschichte des ottonisch-salischen Reichskirchensystems (Sitzungsberichte, Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse, Bd. 229, 1), Wien 1954, Wien 21964 und in seinen Grundfesten erschüttert durch die Kritik von Timothy Reuter: The ‚Imperial Church System‘ of the Ottonian and Salian Rulers. A Reconsideration, in: Journal of Ecclastiastical History 33 (1982), S. 347 – 374.

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Köln Während Heribert bereits kurz nach seinem Tod als Heiliger verehrt wurde, stehen seine beiden direkten Amtsvorgänger in schlechterem Licht.23 Dies hängt möglicherweise mit der insgesamt schlechten Quellenlage zusammen. Negative Urteile in den Quellen können deshalb nur selten mit anderen Zeugnissen abgeglichen werden, sollten also nicht unkritisch übernommen werden. Warin, zuvor Propst der Kölner ­Kirche, wurde 976 zum Erzbischof erhoben.24 Der Hof scheint bei der Besetzung keine Rolle gespielt zu haben. Am 24. Oktober 980 weihte Warin St. Pantaleon.25 Dass Köln in jener Zeit eine für den Herrscher herausragende Bedeutung besaß, zeigt der Indiculus loricatorum von wahrscheinlich 981, in dem Otto II. die Truppenkontingente aufführen ließ, die die Reichsfürsten nach Italien zu entsenden hatten.26 Von insgesamt 2.090 gepanzerten Reitern hatten Köln und Mainz je 100 abzustellen 27. Nur in einer einzigen Urkunde Ottos II. wird Warin als Intervenient genannt, als der König 977 dem Nonnenkloster Gerresheim eine Zollbestätigung ausstellte.28 Warin gehörte demnach „nie zu den engeren Vertrauten des Kaisers“,29 jedoch befand sich seit 983 der 23 Heribert Müller: Studien zu Erzbischof Everger von Köln (985 – 999), in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 49 (1978), S. 1 – 18. 24 Vgl. Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, Bd. 1 (313 – 1099), bearb. v. Friedrich ­Wilhelm Oediger (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 21.1), Bonn 1961 [ND Düsseldorf 1978], Nr. 523 f. (im Folgenden: REK ). – Rolf Grosse: Das Bistum Utrecht und seine Bischöfe im 10. und frühen 11. Jahrhundert, Köln 1987, S. 224. – Heribert Müller: Die Kölner Erz­ bischöfe von Bruno I. bis Hermann II . (953 – 1056), in: von Euw / Schreiner 1991 (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 15 – 32, hier S. 23. 25 Vgl. jüngst den Überblick bei Dominik Wassenhoven, Herrscherwechsel und ihre Auswirkungen auf Diözesen. Worms und Köln um die Jahrtausendwende, in: Jenseits des Königshofs. Bischöfe und ihre Diözesen im nachkarolingischen ostfränkisch-deutschen Reich (850 – 1100), hg. von Stephan Bruhn und Andreas Bihrer (Studien zur Germania Sacra, N. F. Bd. 10), Berlin 2019, S. 57 – 92, zu Warins Haltung S. 68 – 71. 26 Zuweilen wird die Authentizität der Anforderung in der Forschung in Frage gestellt, so bei Wolfgang Huschner: Erzbischof Johannes von Ravenna (983 – 998), Otto II. und Theophanu, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 83 (2003), S. 1 – 40, hier S. 20. 27 Constitutiones et acta publica imperatorum et regum inde ab a. DCCCCXI usque ad a. MCXCVII (911 – 1197), hg. v. Ludwig Weiland (Monumenta Germaniae Historica, Constitutiones, Bd. 1), Nr. 436, S. 633, Z. 6 f. – Vgl. dazu Karl und Mathilde Uhlirz: Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Otto II. und Otto III., Bd. 1: Otto II., Leipzig 1902/54, ND Berlin 1967, S. 247. – Hartmut Hoffmann: Bamberger Handschriften des 10. und 11. Jahrhunderts (Schriften der Monumenta Germaniae Historica, Bd. 39), Hannover 1995, S. 161 f. 28 Die Urkunden Otto des II. (Ottonis II. Diplomata), hg. von Theodor Sickel (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata, DD O II), Hannover 1888, hier D O II 153, S. 173, Z. 32 f. 29 Thilo Offergeld: Reges pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter (Monumenta Germaniae Historica, Schriften, Bd. 50), Hannover 2001, S. 657. – Vgl. Wassenhoven 2019 (wie Anm. 25), S. 68 f.

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dreijährige Thronfolger in seiner Obhut.30 Im Frühjahr 984 lieferte der Kölner Erzbischof den jungen Otto III. allerdings an Herzog Heinrich II. von Bayern (verst. 955), genannt der Zänker, aus.31 Heinrich hatte sich seit 974 mehrfach, auch mit Waffen­gewalt, gegen König Otto II. gestellt 32 und dies mit zeitweiliger Inhaftierung bezahlt.33 Sowohl Otto II. als auch Heinrich der Zänker waren direkte Enkel Heinrichs I. (verst. 936), des ersten Ottonen­königs. Die Auflehnung gegen seinen Vetter trug dem Zänker 976 den Verlust des Herzogtums Bayern und nach 978 die Haft beim Bischof von Utrecht ein.34 Mit dem Tod Ottos II. war der Zänker plötzlich ein freier Mann. Kaum aus der Gefangenschaft in Utrecht entlassen, versuchte er im Frühjahr 984, die Herrschaft an sich zu reißen.35 Die seit dem Tod des Erzbischofs Bruno gewachsene Distanz der Kölner K ­ irche gegenüber dem ottonischen Hof fand in der Übergabe Ottos III . an den Zänker ihren Höhepunkt.36 Diese Auslieferung könnte eine unmittelbare Reaktion auf die Weihnachten 983 durch den Mainzer Metropoliten Willigis in Aachen vollzogene Krönung Ottos gewesen sein,37 denn unmittelbar nach dem Ende der Krönungsfeierlichkeiten platzte die Nachricht vom überraschenden Tod Ottos II . in Italien herein.38 In den Quellen findet sich jedoch kein Hinweis, warum gerade Warin die Sorge um den dreijährigen Kaisersohn aufgetragen wurde (und nicht etwa Willigis). Vielleicht war Warin diese Aufgabe zugekommen, um das belastete Verhältnis der Kölner ­Kirche zum Hof zu bessern? Hatte Otto II . selbst verfügt, dass der mit Willigis vom Italienzug 983 frühzeitig zurückkehrende Sohn an Warin übergeben werden sollte?39 Forderten die Fürsten, zumal nach der 30 Wohl Ende Juli bis Anfang August 983 trafen der junge Otto und Erzbischof Willigis in Mainz ein, wo Otto III. dem Kölner Metropoliten Warin übergeben wurde. Vgl. J. F. Böhmer: Regesta Imperii, hg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 2: Sächsisches Haus: 919 – 1024, Dritte Abteilung: Die Regesten des Kaiserreichs unter Otto III. 980 (983)–1002, nach Johann Friedrich Böhmer neubearb. v. Mathilde Uhlirz, Graz 1956 (im Folgenden: RI 2,3), p. Ob hiermit einer Anordnung K ­ aiser Ottos II. Folge geleistet wurde, ist nicht ersichtlich. Vgl. auch Offergeld 2001 (wie Anm. 29), S. 657 mit Anm. 27. 31 Thietmar, Chronik (wie Anm. 10), III, c. 26, S. 130, Z. 18 – 21. 32 Vgl. J. F. Böhmer: Regesta Imperii, hg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 2: Sächsisches Haus: 919 – 1024, Zweite Abteilung: Die Regesten des Kaiserreichs unter Otto II. 955 (973)–983, nach Johann Friedrich Böhmer neubearbeitet von Hanns Leo Mikoletzky, Graz 1950 (im Folgenden: RI 2,2), Nr. 667b. 33 Vgl. RI 2,2 (wie Anm. 32), Nr. 711a. 34 Vgl. RI 2,2 (wie Anm. 32), Nr. 769b. 35 Vgl. REK (wie Anm. 24), Nr. 535 mit den wenigen Quellen, darunter Thietmar, Chronik (wie Anm. 10), III , c. 26, S. 130–IV , c. 1, S. 132. – Vgl. dazu Wassenhoven 2019 (wie Anm. 25), S. 68. 36 Vgl. Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 39 f. 37 Thietmar, Chronik (wie Anm. 10), III, c. 26, S. 130. Weitere Quellenbelege: RI 2,3 (wie Anm. 30), t und Uhlirz 1954 (wie Anm. 27), S. 9. – Vgl. dazu Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 37. 38 Vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), u. – Uhlirz 1954 (wie Anm. 27), S. 9. – Zum Hintergrund vgl. Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 37 – 40. 39 Vgl. die Vermutungen RI 2,3 (wie Anm. 32), Nr. 956p und von Uhlirz 1954 (wie Anm. 27), S. 6.

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katastrophalen Niederlage des deutschen Heeres gegen die Sarazenen bei Crotone (982), eine Gegenleistung für die Erhebung Ottos III . zum Mitkönig? Oder hatte sich Warin des Kindes tatsächlich erst im Anschluss an die Weihnachtskrönung bemächtigt? Dass Warin in seinem Vorgehen durchaus begründete Rechtsansprüche des Zänkers berücksichtigte, dürfte außer Frage stehen.40 Nach der Überstellung Ottos III . reiste Heinrich den Zänker im Februar 984 über den Hellweg nach Osten, zunächst wohl bis Corvey. Er wurde begleitet durch Erzbischof Warin von Köln, der die Krönungsinsignien bereits in Aachen an sich genommen hatte und dadurch seine Unterstützung der Thronanwärterschaft Heinrichs bekundete.41 Nachdem Heinrich zu den Osterfeierlichkeiten nach Magdeburg und Quedlinburg weiter­reiste, erscheint Warin in den Quellen nicht mehr eindeutig als Parteigänger des baye­rischen Liudolfingers. Für Palmsonntag 984 (16. März) hatte Heinrich die Großen Sachsens nach Magdeburg geladen. Er folgte damit einer von den Ottonen lange geübten Praxis.42 Die anlässlich der Magdeburger Versammlung erhoffte Anerkennung durch den sächsischen Adel kam nicht zu Stande,43 da der Großteil der Anwesenden argumentierte, ohne Zustimmung des jetzigen Königs nicht entscheiden zu können.44 Damit wurde auf die Otto II. und Otto III. geleisteten Eide verwiesen. Davon unbeirrt, ließ sich der Zänker zu Ostern, so der Chronist Thietmar von Merseburg, in Quedlinburg von seinen Anhängern öffentlich als König ausrufen und huldigen.45 Nur wenige Tage nach dem Ostersonntag (23. März) schlossen sich 40 Die Quedlinburger Annalen schreiben vom ius propinquitatis, verstanden als Recht des nächsten männlichen Verwandten: Die Annales Quedlinburgenses, hg. von Martina Giese (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi, Bd. 72), Hannover 2004, hier ad 984, S. 470, Z. 17 f. – Vgl. dazu Johannes Laudage: Das Problem der Vormundschaft über Otto III., in: von Euw / Schreiner 1991 (wie Anm. 8), Bd. 2, S. 261 – 276, hier S. 263 – 268. – Müller 1991 (wie Anm. 24), S. 23. – Franz-Reiner Erkens: …more Grecorum conregnantem instituere vultis? Zur Legitimation der Regentschaft Heinrichs des Zänkers im Thronstreit von 984, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 273 – 289, hier insb. S. 279 – 281 und Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 40, jeweils mit weiterer Literatur. 41 Vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 956g1. 42 Vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 956s1. 43 Vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 956s1. 44 Thietmar, Chronik (wie Anm. 10), IV, c. 2, S. 132, Z. 10 – 18: „Qui cum palmarum sollemnia in Magadaburg celebrare voluisset, omnes regionis illius principes huc convenire rogavit atque precepit, tractans, quomodo se suae potestati subderent regnique eum fastigio sublevarent. Huic consilio maxima pars procerum hoc dolo consensit, quod licenciam a domino suimet rege, cui iuraverat, prius peteret postque secura novo regi serviret. Quidam autem ob eius indignationem digressi, occultis meditantur astutiis, qualiter hoc numquam fieret.“ 45 Thietmar, Chronik (wie Anm. 10), IV, c. 2, S. 132, Z. 19 – 24: „Inde egressus Heinricus proximum pascha Quidilingeburg festivis peregit gaudiis. Quo magnus regni primatus colligitur, a quibusdam autem venire illo nolentibus ad omnia diligenter inquirenda nuntius mittitur. Hac in festivitate idem a suis publice rex appellatur laudibusque divinis attollitur.“ Vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 956t1 und Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 44.

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die sächsischen Gegner Heinrichs in Asselburg zu einer coniuratio zusammen,46 darunter Herzog Bernhard von Sachsen, Markgraf Dietrich von der Nordmark, Ekkehard, späterer Markgraf von Meißen und Bernward, nachmaliger Bischof von Hildesheim. Auf der Asselburg hatten sich auch milites der Mainzer ­Kirche eingefunden – spätestens jetzt trat Willigis eindeutig für die Ansprüche Ottos III. ein.47 Heinrich der Zänker hatte unterdessen Sachsen verlassen, um in sein Herzogtum Bayern weiterzureisen.48 In den Folgemonaten nahm die Zahl seiner Unterstützer konti­ nuierlich ab. Unter ­diesem Druck musste er schließlich einlenken und sich der Vormundschaftsregierung um die Kaiserinnen Adelheid (verst. 999) und Theophanu (verst. 991) unterwerfen. Auf dem Frankfurter Hoftag Ende Juni 985 verzichtete Heinrich auf seinen Thronanspruch, um im Gegenzug das Herzogtum Bayern zurückzuerhalten.49 Warin, der bei der Aushandlung ­dieses Kompromisses offenbar keine Rolle spielte,50 starb im September 985.51 986 beging Otto III. das Osterfest in Quedlinburg, jenem für die Ottonen so bedeutsamen Ort, an dem Heinrich im Vorjahr seine Akklamation zum König hatte inszenieren lassen.52 Hier nun versah Heinrich als ­Zeichen seiner Unterordnung und seiner Wiederaufnahme 46 Im heutigen Landkreis Wolfenbüttel. 47 Thietmar, Chronik (wie Anm. 10), S. 132, Z. 26–S. 134, Z. 5: „Multi ex his fidem violare ob timorem Dei non presumentes, paululum evaserunt et ad civitatem Hesleburg, quo consocii eorum adversus ducem iam palam conspirantes conveniebant, festinavere. Quorum hec sunt nomina. Ex oriente Mi comites cum Bernhardo duce et Thiedrico marchione, Ekkihardus, Biio, Esic, Bernwardus comes et clericus, Sifrith eiusque filius, Frithericus et Ciazo confratres. Conprovincialium autem Thiedricus et Sibert confratres, Hoico, Ekkihardus et Bezeco germani, Brunig et sui, militesque sancti Martini iussu archipresulis Willigisi, quibus adherebat occidentalium maxima multitudo.“ Vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 956u und Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 34 f. 48 Vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 956z1 u. 956a2. 49 Annales Quedlinburgenses a. 985 (wie Anm. 40), S. 474, Z. 7–S. 475, Z. 14: „Veniente in Frankanafurd rege infante tertio Othone ibidem et ipse adveniens [Heinrich der Zänker] humiliavit se iuste, quo poenam evaderet elationis iniuste, regique puerulo, quem orbatum captivaverat, cuius regnum tyrannice invaserat, praesentibus dominis imperialibus, quas regni cura penes erat, avia, matre et amita regis eiusdem infantis, humilis habitu, humilis et actu, totius in aspectu populi, ambabus in unum complicatis manibus militem se et vera ulterius fide militaturum tradere non erubuit, nil paciscendo nisi vitam, nil orando nisi gratiam. At dominae, quarum, ut diximus, cura regnum regisque regebatur infantia, tanti viri summissa deditione admodum gratulabundae – quia piorum moris est, non solum mala pro bonis non reddere, sed etiam pro malis bona rependere – digno eum honore susceptum, gratia fideli donatum, ductoria itidem dignitate sublimatum, deinde non tantum inter amicos, sed etiam inter amicissimos, uti ius propinquitatis exigebat, debito dilectionis venerantur affectu.“ – Zur Datierung der Versammlung vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 969l; zur Frankfurter Versammlung und ihren Hintergründen vgl. Uhlirz 1954 (wie Anm. 27), S. 54 – 56. – Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 50 – 53. – Wassenhoven 2019 (wie Anm. 25), S. 70 f. 50 Vgl. Grosse 1987 (wie Anm. 24), S. 227. – Wassenhoven 2019 (wie Anm. 25), S. 70 f. 51 Vgl. REK (wie Anm. 24), Nr. 541. 52 Vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 980b.

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in die königliche Huld das zeremonielle Hofamt des Truchsess.53 Wenige Tage ­später intervenierte Heinrich zugunsten des Grafen Udalrich in einer Urkunde Ottos III., die ihn mit besonders dezidierter Ehrerbietung „dulcissimus frater noster Heinricus Bauuariorum dux“ nennt.54 Damit hatte die öffentliche Inszenierung ihren Abschluss gefunden. Noch im Frühjahr 984 hatte Warin den – rechtlich ja nicht unbegründeten – Thronanspruch Heinrichs des Zänkers unterstützt, und für die folgenden anderthalb Jahre findet sich in den Quellen kein Indiz dafür, dass er auf die Seite Ottos III. gewechselt sein könnte. Der in einem der Medaillons zu findende Kölner Erzbischof kann also nur ein Nachfolger Warins sein. Damit ist indirekt der Terminus post quem für die Anfertigung der Liber generationis-Seite benannt: Sie kann frühestens in den Herbst 985 fallen. Unter dem neuen Oberhirten Everger traten die Stadt und das Erzbistum Köln in weitaus engeren Kontakt zur ottonischen Herrscherfamilie. Everger, zuvor Diakon, Schatzmeister und Vicedominus der Kölner K ­ irche,55 begegnet in den ersten beiden Pontifikatsjahren in keiner einzigen Quelle. Spätestens ab 987 wurde er jedoch zu einem einflussreichen Rat­ geber am ottonischen Hof, der sich nun häufiger in Köln aufhielt.56 Zwei Briefe des Reimser Gelehrten Gerbert von Aurillac lassen den Kölner Erzbischof als Vertrauten insbesondere Theophanus erscheinen.57 Im Juni 991 veranlasste und leitete er in Anwesenheit Ottos III. die Beisetzung der in Nimwegen verstorbenen Kaiserin in St. Pantaleon.58 Im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger übte Everger demnach beträchtlichen Einfluss am Hof aus. Dieser ging erst in seinen letzten Lebensjahren verloren, als Otto III. selbständig zu regieren begann und sein personelles Umfeld neu ordnete.59 Während seines Pontifikats hat Everger die Buchmalerei in Köln offenbar massiv gefördert. Hier sei auf das Everger-Lektionar (Dombibliothek Köln, Hs. 143) eingegangen. Die 53 Thietmar, Chronik (wie Anm. 10), IV, c. 9, S. 140, Z. 19 – 22: „Celebrata est proxima paschalis sollemnitas in Quidelingeburg a rege, ubi quattuor ministrabant duces, Heinricus ad mensam, Conrad ad cameram, Hecil ad cellarium, Bernhardus equis prefuit.“ 54 D O III 25, S. 425, Z. 11. – Vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 981. Dort wird erläutert: „Udalrich war höchstwahrscheinlich der Graf von Ebersberg und einer der treuesten Anhänger des ottonischen Hauses in Bayern; er hatte noch 984 gegen den Versuch Heinrichs des Zänkers, Bayern zu gewinnen, erbitterten Widerstand geleistet […]; daß nun Herzog Heinrich zu seinen Gunsten interveniert, ist ein ­Zeichen der inneren Befriedung Bayerns.“ 55 Vgl. REK (wie Anm. 24), Nr. 542 und umfassend Müller 1978 (wie Anm. 23), S. 1 – 18. 56 Vgl. Müller 1978 (wie Anm. 23), S. 9. – Johannes Helmrath: Die Stadt Köln im Itinerar der Könige des Mittelalters, in: Geschichte in Köln 4 (1979), S. 51 – 94, hier S. 59 u. 76. 57 Vgl. REK (wie Anm. 24), Nr. 543 f. – Uhlirz 1954 (wie Anm. 27), S. 83 u. 87. – Müller 1978 (wie Anm. 23), S. 8. – Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 61 f. 58 Vgl. Thietmar, Chronik (wie Anm. 10), IV, c. 15, S. 148/150. – Vgl. dazu REK (wie Anm. 24), Nr. 551 mit weiteren Quellenbelegen sowie Uhlirz 1954 (wie Anm. 27), S. 138 f. – Müller 1978 (wie Anm. 23), S. 9 – Müller 1991 (wie Anm. 24), S. 25. – Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 70. 59 Müller 1978 (wie Anm. 23), S. 10: „Als Otto III. […] selbständig aus seinem Freundeskreis eine neue Beratergeneration erwählte […], scheint Everger am Hofe überhaupt keine Rolle mehr besessen zu haben.“

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Handschrift beinhaltet Auszüge aus dem Alten Testament, den Apostelbriefen, der Apostel­ geschichte und der Offenbarung des Johannes.60 In der künstlerischen Ausgestaltung unterscheidet sich dieser Codex jedoch von den übrigen Werken der Kölner Malergruppe.61 Da sich der Stifter fol. 4r namentlich zu erkennen gibt, ist diese Handschrift eindeutig der Amtszeit Evergers von 985 bis 999 zuzuordnen. Sie sollte dem Kölner Dom zukommen.62 Als mögliche Entstehungsorte wurden von der Forschung die Kölner Domschule, das Kloster St. Pantaleon und das Kollegiatstift St. Gereon erwogen.63 Fol. 3v zeigt den tonsu­ rierten Erzbischof Everger in mehr schwebender als liegender Haltung (Proskynese) mit Pallium und goldenem Manipel.64 Auf der gegenüberliegenden Seite (fol. 4r) thronen die Apostel Petrus und Paulus, beide wohl mit purpurnem Pallium geschmückt.65 Petrus deutet mit seiner Rechten auf den unterhalb befindlichen Everger, den Paulus zu segnen scheint. 60 Vgl. Kat. Köln 1991 (wie Anm. 4), Kat. Nr. 1, S. 28 f. (Anton von Euw). – Prinz 2018 (wie Anm. 5), S. 54 – 56. – Ursula Prinz: Die älteste ottonische Kölner Prachthandschrift. Überlegungen zur malerischen Ausstattung des Everger-Epistolars (Cod. 143) unter besonderer Berücksichtigung der Ornamentik, in: Mittelalterliche Handschriften der Kölner Dombibliothek. Achtes Symposion der Diözesan- und Dombibliothek Köln zu den Dom-Manuskripten, hg. v. Harald Horst (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen K ­ irchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 73), Köln 2019, S. 153 – 205. – Harald Horst: Das EvergerEpistolar in der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 143. Struktur, Inhalt, Funktion, in: Illustrierte Epistolare des frühen und hohen Mittelalters, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Vivien Bienert und Ursula Prinz, Regensburg 2021, S. 79 – 102. – Beschreibung zum Digitalisat unter digital. dombibliothek-koeln.de/hs/urn/urn:nbn:de:hbz:kn28-3-14908 [27. Dezember 2022]. 61 Vgl. Kat. Köln 1991 (wie Anm. 4), S. 28 (Anton von Euw). 62 Beschreibung auf digital.dombibliothek-koeln.de/hs/urn/urn:nbn:de:hbz:kn28-3-14917 [27. Dezember 2022]: „Der das Bild einschließende Purpurrahmen ­zwischen Goldleisten trägt in Goldbuchstaben die Inschrift: Presul Evergerus cuius sum nomine scriptus. + Hos vocat esse suos devotamente patronos“. 63 Vgl. die Übersicht der Forschungspositionen bei Prinz 2018 (wie Anm. 5), S. 55 Anm. 101. – Vgl. auch Kat. Köln 1991 (wie Anm. 4), S. 28 (Anton von Euw) und Kuder 2013 (wie Anm. 7), S. 110, die eine Entstehung im Domskriptorium für denkbar halten. 64 Beschreibung auf digital.dombibliothek-koeln.de/hs/urn/urn:nbn:de:hbz:kn28-3-14917 [27. Dezember 2022]: „Fol. 3v in der unteren Bildhälfte Darstellung des Erzbischofs Everger in Proskynese, über Schultern und Rücken das silberne, jetzt schwarze Pallium, in den gefalteten Händen das goldene Manipel, den Blick gerichtet auf die auf der gegenüberliegenden Bildseite abgebildeten Apostel Petrus und Paulus; in der oberen Bildhälfte in Goldbuchstaben auf Purpurgrund das Gebet des Erzbischofs. Dieses Bild ist gerahmt von einer silbernen Blattranke z­ wischen zwei goldenen Streifen“. – Ohne den Vergleich überstrapazieren zu wollen, ­seien die Darstellungen Evergers im Widmungsbild des Everger-Epistolars fol. 4r und des anonymen Erzbischofs ‚heraldisch rechts‘ der Liber generationis-Seite des Gießener Evangeliars verglichen. Zumindest die längliche Nase und vor allem die schmale Stirn fallen ins Auge, vielleicht auch das runde Kinn. Haben hier zwei verschiedene, aber ungefähr zeitgleich in Köln tätige Buchmaler den Erzbischof im wahren Sinne des Wortes vor Augen gehabt? 65 Beschreibung auf digital.dombibliothek-koeln.de/hs/urn/urn:nbn:de:hbz:kn28 – 3 – 14917 [27. Dezember 2022]: „Fol. 4r die Apostel Petrus und Paulus, bekleidet mit hellblauen Tuniken und blaßpurpurnen Pallien, nebeneinander sitzend auf grün-goldenen und silbernen Thronen; beide halten in der linken Hand

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Zu Evergers Nachfolger bestimmte Otto im Juli 999 Heribert,66 den Kanzler Reichs­ italiens und des nordalpinen Reichsteils,67 einen der wichtigsten kaiserlichen Berater.68 Die Wahl erfolgte bezeichnenderweise während des zweiten Italienzugs Ottos III.69 Wohl noch Ende desselben Jahres erhielt der Elekt in Rom durch Papst Silvester II. (amt. 999 – 1003) das Pallium.70 An Weihnachten 999 zog Heribert barfüßig in Köln ein und empfing die Bischofsweihe im Dom.71 Bereits nach kaum zweijähriger Zusammenarbeit verstarb der ­Kaiser im Beisein des Erzbischofs in Paterno.72 Bald nach Heriberts Beisetzung in der Abtei Deutz 1021 setzte die Heiligenverehrung ein.73 Seine Gebeine ruhen seit dem Ende des 12. Jahrhunderts im Heribertsschrein in Neu-St. Heribert.74 Trotz der persönlichen Nähe zu Otto III. kommt Heribert für die Liber generationisSeite nicht in Frage, denn „999 waren die ikonologischen Ansprüche für eine Darstellung ­Kaiser Ottos III. schon wesentlich weiter entwickelt“.75 Zudem ist eine auf Heribert zurückgehende Anfertigung zu Lebzeiten des Kaisers, dazu noch in Köln, aufgrund des engen zeitlichen Rahmens nahezu ausgeschlossen. Die Liber generationis-Seite des Gießener Evangeliars kann demnach nur während der Amtszeit Erzbischof Evergers gemalt worden sein.

ein goldenes Buch. Neben den goldenen Nimben stehen in griechischen Großbuchstaben ihre Namen. Petrus weist mit der Hand auf Everger, Paulus segnet den Erzbischof.“ 66 Vgl. REK (wie Anm. 24), Nr. 580. – Müller 1991 (wie Anm. 24), S. 26. 67 Er war in dieser Funktion der erste Nicht-Italiener. Vgl. Heribert Müller: Heribert, Kanzler Ottos III. und Erzbischof von Köln (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd. 33), Köln 1977, S. 88 – 90. – Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 78 f. 68 Vgl. dazu und zu allen weiteren Ausführungen über Erzbischof Heribert Müller 1977 (wie Anm. 67). – Heribert Müller: Heribert von Köln (um 970 – 1021), in: Rheinische Lebensbilder 8 (1980), S. 7 – 20. – Heribert Müller: Heribert, Kanzler Ottos III. und Erzbischof von Köln, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 60 (1996), S. 16 – 64. – Heinz Finger: St. Heribert (Erzbischof 999 – 1021), in: Heilige Kölner Bischöfe. Eine Ausstellung der Diözesan- und Dombibliothek Köln im Jubiläumsjahr 2013. 1700 Jahre Erzbistum Köln, hg. von Heinz Finger und Werner Wessel (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen K ­ irchen- und Landesgeschichte sowie zur Buchund Bibliotheksgeschichte, Bd. 44), Köln 2013, S. 115 – 130. – Klaus Gereon Beuckers: Heinrich II. und Köln. Die Gründung von Kloster Deutz im (kunst)historischen Kontext, in: Herrschaftslandschaft im Umbruch. 1000 Jahre Merseburger Dom, hg. v. Andreas Ranft und Wolfgang Schenkluhn (More Romano. Schriften des Europäischen Romanik-Zentrums, Bd. 6), Regensburg 2016, S. 79 – 112. – Vgl. zuletzt auch Karl Ubl: Das andere Leben Erzbischofs Heriberts von Köln, in: Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadt- und Regionalgeschichte 69 (2022), S. 13 – 32. 69 Vgl. REK (wie Anm. 24), Nr. 580. 70 Vgl. REK (wie Anm. 24), Nr. 582. 71 Vgl. REK (wie Anm. 24), Nr. 583. 72 Vgl. REK (wie Anm. 24), Nr. 593 und Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 182 – 188. 73 Vgl. REK (wie Anm. 24), Nr. 682,2. 74 Vgl. REK (wie Anm. 24), Nr. 682,3. 75 Schneider 1991 (wie Anm. 13), S. 247.

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Mainz Mehr als 35 Jahre, von 975 bis 1011, amtierte Willigis als Mainzer Erzbischof. Er hinterließ in der Geschichte der Mainzer ­Kirche tiefe Spuren.76 Auf ihn ging der Bau des WilligisDoms zurück, der als Reichsdom dem bisherigen Ort der Königskrönung, dem Aachener Marienstift, Konkurrenz machen sollte.77 Tatsächlich konnte Willigis diesen Anspruch mit der Salbung und Krönung Heinrichs II. am 7. Juni 1002 in die Tat umsetzen.78 Zu ­diesem Zeitpunkt war der Neubau des Doms noch nicht abgeschlossen, dies sollte erst 1009 der Fall sein. Zudem war Willigis – nicht ohne eigenes Zutun – in den letzten Jahren Ottos III. ins politische Abseits geraten, so dass ein Krönungsakt in Aachen und unter seiner Leitung nicht möglich war, obwohl ihm bereits 975 seitens des Papsttums das Recht konzediert wurde, den König zu weihen.79 In derselben Urkunde Benedikts VII. (amt. 974 – 983) wurden Willigis das Pallium und besondere Primatsrechte im nordalpinen Raum verliehen.80 Während der Regentschaft der Kaiserinnen Theophanu und Adelheid übte Willigis, seit 971 Kanzler Ottos des Großen und Erzkanzler seit der Zeit Ottos II., einen bestimmenden Einfluss am Hof aus, wie die Interventionen in den Königsurkunden belegen.81 Auch bei der Königswahl Ottos III. auf dem Hoftag von Verona an Pfingsten 98382 und der an Weihnachten desselben Jahres in Aachen vollzogenen Königsweihe spielte Willigis eine 76 Zu seinem Wirken und insbesondere zum hierarchischen Gefüge innerhalb des Episkopats seiner Zeit vgl. zuletzt Stefan Weinfurter: Kollegen des Königs. Die Bischöfe im Reich in der Zeit des Erzbischofs Willigis von Mainz, in: Basilica nova Moguntina. 1000 Jahre Willigis-Dom St. Martin in Mainz. Beiträge zum Domjubiläum 2009, hg. v. Felicitas Janson und Barbara Nichtweiß (Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz 2009/2010), Mainz 2010, S. 23 – 44. 77 Vgl. Josef Heinzelmann: Mainz ­zwischen Rom und Aachen. Erzbischof Willigis und der Bau des Mainzer Doms, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 30 (2004), S. 7 – 32. – Ernst-Dieter Hehl: Ein Dom für König, Reich und K ­ irche: Der Dombau des Willigis und die Mainzer Bautätigkeit im 10. Jahrhundert, in: Janson / Nichtweiss 2010 (wie Anm. 76), S. 45 – 78. 78 Vgl. J. F. Böhmer: Regesta Imperii, II. Sächsisches Haus: 919 – 1024, Vierte Abteilung, Die Regesten des Kaiserreiches unter Heinrich II. 1002 – 1024, nach Johann Friedrich Böhmer neubearb. v. Theodor Graff, Wien 1971, Nr. 1483yy. 79 Vgl. Mainzer Urkundenbuch 1. Die Urkunden bis zum Tode Erzbischof Adalberts I. (1137), bearb. v. Manfred Stimming, Darmstadt 1932, Nr. 217, S. 133 f. – Papsturkunden 896 – 1046, Bd. 1 – 2, bearb. von Harald Zimmermann (Denkschriften. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosoph.-­Histor. Klasse 174 und 177 / Veröffentlichungen der Historischen Kommission / Österreichische Akademie der Wissenschaften), Wien 1984/85 und 21988/89, Register 1989, hier 1, 21988, Nr. 237, S. 472. – J. F. Böhmer: Regesta Imperii, II . Sächsische Zeit, Fünfte Abteilung, Papstregesten 911 – 1024, bearb. v. Harald ­Zimmermann, Wien 21998, Nr. 542. 80 Zimmermann 1988 (wie Anm. 79), Nr. 237, S. 472: „in tota Germania et Gallia post summi culmen pontificis in omnibus ecclesiasticis negotiis, id est in rege consecrando et synodo habenda ceteris omnibus tam archiepiscopis quam et episcopis apostolica auctoritate, sicut iustum et rectum esse videtur, premineas.“ 81 Vgl. Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 56. 82 Vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), n.

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zentrale Rolle.83 Während der Thronanwärterschaft Heinrichs des Zänkers stand Willigis spätestens ab Ostern 984 für das Königtum Ottos III. ein.84 Gleichfalls dürfte Willigis in den Jahren nach Theophanus Tod bis zum Beginn der eigenständigen Herrschaft Ottos eine Schlüssel­funktion bei Hof ausgeübt haben, an dessen Spitze Ottos Großmutter Adelheid stand, unterstützt von der Quedlinburger Äbtissin Mathilde und vom Magdeburger Erzbischof Giselher (amt. 981 – 1004).85 Während der Mainzer Metropolit in den ersten Jahren der Alleinherrschaft Ottos seine Stellung wahren konnte, verschlechterte sich das Verhältnis von Metropolit und K ­ aiser jedoch seit 996 zusehends. Im Zuge des Gandersheimer Streits kam es 1000/01 zum Bruch.86 Dieser entfaltete nur deshalb keine größere Nachwirkung, weil Otto III. bereits im Januar 1002 starb.

Trier Ähnlich prägend wie die Ära des Willigis für die Entwicklung der Mainzer ­Kirche war der Pontifikat Egberts (amt. 977 – 993) in Trier. 977 bestimmte Otto II . den Sohn des Grafen von Holland zum Vorsteher der Trierer ­Kirche.87 Bereits im Vorjahr hatte der König den im nordholländischen Kloster Egmond erzogenen Benediktiner zum Kanzler ernannt.88 Während seines 17jährigen Pontifikats pflegte der machtbewusste Egbert die Tradition des ältesten Reichsbistums und förderte die literarische und liturgische Romverbundenheit, was in dem Ende des 10. Jahrhunderts erstmals belegten Titel Roma secunda zum Tragen kam.89 Egbert war überdies ein kunstsinniger und den Wissenschaften zugewandter Mann. Er förderte mit dem Gregormeister einen der herausragenden 83 Vgl. Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 38. 84 Vgl. Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 37 – 54. 85 Vgl. Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 70 – 72. 86 Vgl. Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 160 – 169. 87 Dazu und zum Folgenden vgl. Mathilde Uhlirz: Egbert (Ekbert), in: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 320 f. – Franz-Reiner Erkens: In tota cunctis gratissimus aula? Egbert von Trier als Reichs­ bischof, in: Egbert. Erzbischof von Trier 977 – 993. Gedenkschrift der Diözese Trier zum 1000. Todestag, hg. v. Franz Ronig (Trierer Zeitschrift für Geschichte und Kunst des Trierer Landes und seiner Nachbargebiete, Beiheft 18), 2 Bde., Trier 1993, Bd. 2, S. 37 – 52. – Olaf Schneider: Erzbischof ­Hinkmar und die Folgen: Der vierhundertjährige Weg historischer Erinnerungsbilder von Reims nach Trier (Millennium-Studien, Bd. 22), Berlin 2010, S. 281 – 291. 88 Vgl. RI 2,2 (wie Anm. 32), Nr. 714a. 89 Zu lesen in der z­ wischen 973 und 1000 verfassten Lebensbeschreibung des Abts Deicolus von Lure: Vita S. Deicoli, ed. Georg Waitz (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, Bd. 15, 2), Hannover 1888, S. 674 – 682, hier S. 676, Z. 24. – Vgl. dazu Egon Boshof: Köln, Mainz, Trier. Die Auseinander­ setzungen um die Spitzenstellung im deutschen Episkopat in ottonisch-salischer Zeit, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 48 (1977), S. 19 – 48, hier S. 32. – Heinz Finger: Das heilige Köln – Tochter Roms. Beiträge zu den Grundthemen der Kölner Geschichte (Libelli Rhenani. Schriften der

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ottonischen Buchmaler 90 und begründete eine bedeutende Goldschmiedewerkstatt.91 Auch der Klosterreform fühlte sich der Trierer Erzbischof verbunden.92 Im weltlichen Bereich mag er, zumindest bis 986, stärker König Lothar von Frankreich als den Ottonen zugeneigt gewesen sein.93 Wie sein Mainzer Amtskollege nahm Egbert am Italienzug Ottos II . und an der Veroneser Königswahl im Juni 983 teil. Egbert und Willigis, in dessen Gefolge sich Otto III . befand, reisten kurz darauf nach Deutschland zurück.94 Nach Ottos II . Tod am 7. Dezember 983 vertrat Egbert zunächst offenbar den Standpunkt, dass Heinrich der Zänker bis zur vollen Amtsübernahme Ottos III . als Vormund des jungen Königs fungieren könnte.95 Ähnlich war es vor nicht allzu langer Zeit in Byzanz praktiziert worden und durch Schilderungen Liutprands von Cremona (verst. 972?) und sicherlich auch Theophanus am ottonischen Hof bekannt.96 Im Frühjahr 984 schrieb Gerbert von Aurillac im Namen von Erzbischof Adalbero von Reims (amt. 969 – 989) einen eindringlichen Brief an Egbert, in dem er ihn ermahnte, sich den Anhängern Ottos III . anzuschließen und von einer Königserhebung Heinrichs Abstand zu nehmen: „Paucine creati sunt reges, quia novum rex filio domini vestri praeponere vultis? Forte quia Grecus est, ut dicitis, more Graecorum conregnantem instituere vultis? Quo recessit sanctissima Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen K ­ irchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 74), Köln 2020, S. 89 u. 102. 90 Wahrscheinlich wurde zumindest ein Teil der Trierer Buchmalerei der Ottonenzeit im Kloster St. Maximin angefertigt und nicht im Skriptorium der Domschule, für dessen Existenz es zum Ende des 10. Jahrhunderts keine Quellenbelege gibt. Vgl. Hartmut Hoffmann: Buchkunst und Königtum im ottonischen und frühsalischen Reich (Monumenta Germaniae Historica, Schriften, Bd. 30), 2 Bde., Stuttgart 1986, Bd. 1, S. 444 f., 484 u. 511. – Bertram Resmini: Das Erzbistum Trier 13: Die Benediktinerabtei St. Maximin vor Trier (Germania Sacra, Dritte Folge, Bd. 11), Berlin 2016, S. 160 f. u. 250 – 252. 91 Vgl. Hiltrud Westermann-Angerhausen: Die Goldschmiedearbeiten der Trierer Egbertwerkstatt (Trierer Zeitschrift für Geschichte und Kunst des Trierer Landes und seiner Nachbargebiete, Beiheft 4), Trier 1973. – Klaus Gereon Beuckers: Kunst als politisches Argument: Erzbischof Egbert und seine Goldschmiedewerkstatt, in: Der Andreas-Tragaltar. Restaurierungsgeschichte, offene Forschungsfragen und Neupräsentation eines Hauptwerks der ottonischen Goldschmiedekunst, hg. v. Markus Groß-­ Morgen und Kirstin Jakob, Regensburg 2023, (im Druck). 92 Vgl. Franz-Josef Heyen: Stift und Kloster im Erzstift Trier zur Zeit Egberts, in: Ronig 1993 (wie Anm. 87), S. 81 – 86. 93 Vgl. dazu Finger 2020 (wie Anm. 89), S. 102 f. mit Anm. 65. 94 Vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 956o. – Uhlirz 1959 (wie Anm. 27), S. 320. 95 Vgl. Schneider 1991 (wie Anm. 13), S. 230 f. mit weiterer Literatur. 96 So Romanos I. (verst. 948) gemeinsam mit und anstelle von Konstantin VII. Porphyrogennetos (verst. 959), dem ‚eigentlichen‘ ­Kaiser, ebenso von 963 an die Generale und (Mit-)Kaiser Nikophoros II. ­Phokas (verst. 969) und Johannes I. Tzimiskes (verst. 976) mit und an Stelle von Basileios II. (verst. 886). Theophanu, Nichte des Johannes I. Tzimiskes, heiratete 872 Otto II., den Vater Ottos III. Liutprand lernte den Hof Konstantins VII. und denjenigen Nikephoros‘ II. Phokas während seiner Gesandtschaften nach Konstantinopel kennen. Vgl. Liudprandi Cremonensis opera omnia, hg. v. Paolo Chiesa (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis, Bd. 156), Turnhout 1998, S. 185 – 218.

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fides? Excideruntne animo beneficia Ottonum vobis collata?“ 97 Ein Schreiben Gerberts desselben Jahres warnte Bischof Notger von Lüttich (amt. 972 – 1008) davor, den ‚Staatsfeind‘98 Heinrich zum consors regni zu machen, da man ihn nach seiner Anerkennung nicht mehr abstoßen könne.99 Tatsächlich entwickelte sich Heinrichs Verlangen nach einem alleinigen Königtum zur existenziellen Bedrohung der Regentschaft der Kaiserinnen und der Thronfolge Ottos III .100 Dies war insbesondere der Fall, als Heinrich der Zänker König Lothar von Frankreich (amt. 954 – 986) auf seine Seite zu ziehen und mit ­diesem ein Freundschaftsbündnis (amicitia) einzugehen plante.101 Dafür bot er die Abtretung Lothringens an, dessen Angliederung Lothar bereits länger anstrebte. Als Heinrich der Zänker der eidlich zugesicherten Zusammenkunft mit den französischen Königen Lothar und Ludwig in Breisach fernblieb, unternahmen diese einen erfolglosen Versuch der gewaltsamen Einverleibung Lothringens, der sich Herzog Konrad von Schwaben energisch entgegenstellte.102 Spätestens mit der – zumindest angedachten – Abtretung Lothringens trat Heinrich der Zänker den Interessen des Trierer Metropoliten entgegen, dessen Kirchen­provinz auch große lothringische Gebiete umfasste. Dies könnte Egbert, 97 Die Briefsammlung Gerberts von Reims, hg. v. Fritz Weigle (Monumenta Germaniae Historica, Briefe der deutschen Kaiserzeit, Bd. 2), ND Weimar 1966, Nr. 26, S. 48, Z. 18–S. 49, Z. 3. – Vgl. dazu Erkens 1993 (wie Anm. 40), S. 273 – 289. 98 Briefsammlung Gerberts (wie Anm. 98), Nr. 39, S. 66, Z. 6: „Henricus rei publicae hostis“. 99 Briefsammlung Gerberts (wie Anm. 98), Nr. 39, S. 68, Z. 3 – 5: „Novimus Henrici alta consilia, ­Francorum impetum, sed quem finem habeant, non ignoramus. Ne consortem regni facias, quem semel admissum repellere nequeas.“ 100 Vgl. Margot Weiner: ‚Ne consortem regni facias, quem semel admissum repellere nequeas’. Zur Haltung lotharingischer Bischöfe im Thronstreit des Ostfränkischen Reiches 984, in: Vergangenheit lebendig machen. Festgabe für Ingrid Heidrich zum 60. Geburtstag von ihren Schülerinnen und Schülern, hg. v. Sabine Happ und Christoph Waldecker, Bonn 1999, S. 36 – 49. 101 Vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 956a1 u. 956 d1. 102 Der ausführlichste Bericht stammt von Richer von Saint-Remi, Historiae, hg. v. Hartmut Hoffmann (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, Bd. 38), Hannover 2000, hier III , c. 98, S. 223, Z. 16–S. 224, Z. 15: „Lotharius tempore statuto cum exercitu per Belgicam transiens, ne teneretur smenti obn, ad locum Rheni condictum devenit. […] Lotharius se illusum advertens rediit, non tamen sine difficilis laboris incommodo. Nam Belgę, per quorum medium cum equitatu transierat, indignati transisse, vias transpositis arboribus impediunt, aut fossis inmersis revertentes prohibent. Non ut aperto campo comminus dimicent, sed ut his impedimentis cunctantes a tergo urgeant, aut montium iugis securi, per inferiora transeuntes missilibus figant. Et quia aperta fronte stare animo non fuit, sagittarii cum arcubus et balistis per montana dispositi sunt. Dum ergo exercitus subiret, illi a superioribus alios sagittis figebant, alios diversis missilibus sauciabant. At tirones sicubi ascensui pervium locum videbant, in huiusmodi hostes vertebantur; armisque efferati, quosdam vulnerabant, quosdam vero morte afficiebant. Tantum in eis ter debacchati, ut cęsorum cadaveribus aggerata moles, collibus assimilaretur. Alii vero aut vibratis gladiis frondium oppositarum densitatem metebant, aut trudibus adactis transpositam arborum molem amovebant, sibique iter aperiebant. Tandem multo conatu, de medio hostium educti sunt.“ Vgl. dazu RI 2,(wie Anm. 30) 3, Nr. 956f1.

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der früher sicherlich zu Unrecht zum bedingungslosen Anhänger Heinrichs des Zänkers verklärt wurde,103 zum Umdenken veranlasst haben. Jedenfalls begegnet Egbert erstmals in einer am 25. August 985 in Nimwegen ausgestellten Urkunde Ottos III ., die „nach Fürsprache unserer Getreuen Egbert, des ehrwürdigen Erzbischofs der Trierer K ­ irche, und unseres Neffen, Herzog Heinrichs von Bayern“ („ob […] interventu fidelium nostrorum Ekberti Treuerensis ecclesie venerabilis archiepiscopi ac nepotis nostri Heinrici Bavariorum ducis“ ) eine Güterübertragung zugunsten von Egberts Vaters, des Grafen Theoderich von Holland, festhielt.104 Während der Frankfurter Versammlung Ende Juni 985 hatte auch Heinrich das Königtum Ottos III . in „einer für diesen Fall speziell zusammengestellte[n] Mischform von Huldigungs- und Unterwerfungsakt“ öffentlich anerkannt.105 Egberts Parteiwechsel muss demnach vor Ende August 985 erfolgt sein. Das fortan einvernehmliche Verhältnis des Trier Metropoliten und des Königs fand Niederschlag in den Urkunden Ottos III . Gleich viermal erscheint Egbert 992/993 als Intervenient,106 zudem erwirkte er 988 eine Immunitätsbestätigung der Trierer ­Kirche.107 Nach dem Pontifikat Egberts geriet die Trierer ­Kirche in eine tiefe, sich über Jahre ziehende Krise. Der 994 erhobene Erzbischof Ludolf (auch: Liudolf, verst. 1008)108 sah sich früh dem Widerstand der Stadt Trier ausgesetzt und verhängte zeitweise das Interdikt über die Erzdiözese. In der Reichspolitik oder am ottonischen Hof hat Ludolf, im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger, keine Spuren hinterlassen. Kein einziges Diplom Ottos III. enthält eine Intervention Ludolfs. Die historische Überlieferung spricht also eindeutig dafür, 103 Vgl. Erkens 1993 (wie Anm. 40), S. 44 gegen ältere Forschungsmeinungen. 104 Die Urkunden Otto des III. (Ottonis III. Diplomata), hg. v. Theodor Sickel (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata, DD O III), Hannover 1893, hier D O III 19, S. 418, Z. 7 f. – Vgl. dazu RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 975. 105 Annales Quedlinburgenses a. 985 (wie Anm. 40), S. 474, Z. 7–S. 475, Z. 14: „Veniente in Frankanafurd rege infante tertio Othone ibidem et ipse adveniens [Heinrich der Zänker] humiliavit se iuste, quo poenam evaderet elationis iniuste, regique puerulo, quem orbatum captivaverat, cuius regnum tyrannice invaserat, praesentibus dominis imperialibus, quas regni cura penes erat, avia, matre et amita regis eiusdem infantis, humilis habitu, humilis et actu, totius in aspectu populi, ambabus in unum complicatis manibus militem se et vera ulterius fide militaturum tradere non erubuit, nil paciscendo nisi vitam, nil orando nisi gratiam. At dominae, quarum, ut diximus, cura regnum regisque regebatur infantia, tanti viri summissa deditione admodum gratulabundae – quia piorum moris est, non solum mala pro bonis non reddere, sed etiam pro malis bona rependere – digno eum honore susceptum, gratia fideli donatum, ductoria itidem dignitate sublimatum, deinde non tantum inter amicos, sed etiam inter amicissimos, uti ius propinquitatis exigebat, debito dilectionis venerantur affectu.“ – Zur Frankfurter Versammlung und ihren Hintergründen vgl. Uhlirz 1954 (wie Anm. 27), S. 54 – 56 und Althoff 1996 (wie Anm. 17), S. 52, dort das Zitat. – Zur Datierung vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 969l. 106 D O III 96, S. 507, Z. 22. – D O III 118, S. 530, Z. 13 f. – D O III 119, S. 531, Z. 13 f. – D O III 122, S. 534, Z. 29 f. 107 D O III 51, S. 453 f. 108 Thietmar, Chronik (wie Anm. 10), IV, c. 19, S. 154, Z. 5 f. – Vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 1108d u. 1110e für weitere Quellenbelege.

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dass auf fol. 12r Egbert zu sehen ist. Schneiders Argument, dass „die Handschrift kaum zu Lebzeiten Egberts“ entstanden sein könne, weil „dessen Bildnis gut bekannt“ gewesen sei,109 besagt nicht viel; denn es ist unklar, ob der in Köln tätige Maler überhaupt eine porträtähnliche Zeichnung beabsichtigte – zumal Portraitähnlichkeit eine Kategorie ist, die in ihrer modernen Bedeutung nicht einfach auf das Mittelalter übertragen werden kann. Mit Egberts Tod am 8. Dezember 993 kann folglich ein plausibler Terminus ante quem der Herstellung der Liber generationis-Seite gesetzt werden.

Resümee Welche Erzbischöfe sind in den drei Medaillons verewigt? In einer Rekonstruktion der drei rheinischen Erzbischöfe hat man es aufgrund seiner langen Sedenzzeit mit Willigis von Mainz zu tun. Für die Kölner Seite kommen Warin und Heribert aus oben genannten Gründen nicht in Frage, so dass es sich um Erzbischof Everger handeln muss. Das dritte Medaillon dürfte Egbert von Trier darstellen, da sich für seinen Nachfolger Ludolf keinerlei Indizien für einen Kontakt zum Hof oder zur zeitgenössischen Buchmalerei finden. Grundsätzlich berücksichtigen die Liber generationis-Blätter ottonischer Evangeliare die Hierarchie der abgebildeten Protagonisten.110 Demzufolge begegnet oben der Ranghöchste oder (Dienst)Älteste, hier der König; der zweitbeste Platz findet sich unterhalb, der drittbeste zu seiner Rechten, der viertbeste zu seiner Linken. Wie wichtig die Zurschaustellung von Rangfolgen (nicht nur) im 10. und 11. Jahrhundert erschien, wird auch in anderen Zusammenhängen deutlich. So wurde auf Synoden die korrekte Sitzordnung meist genau eingehalten. Sie reihte den Episkopat, ausgehend vom Sitzungsleiter, nach den jeweiligen ordines sortiert und gemäß dem Weihealter auf.111 109 Schneider 1991 (wie Anm. 13), S. 247. 110 Vgl. Schneider 1991 (wie Anm. 13), S. 247. 111 Vgl. dazu und für weitere Belegstellen Johannes Laudage: Ritual und Recht auf päpstlichen Reformkonzilien, in: Archivum Historiae Pontificiae 29 (1997), S. 287 – 334, hier S. 314 mit Anm. 57. – Fälle, in denen diese Regel keine Anwendung fand, sind wohl gerade deshalb überliefert, weil sie von der Norm abwichen und regelmäßig zu Empörung und Streit führten. Im sog. Gandersheimer Streit wurde dem päpstlichen Legaten Friedrich bei der Versammlung in Pöhlde im Juni 1001 der ihm gebührende Platz auf Veranlassung des Mainzer Erzbischofs Willigis nicht eingeräumt. So jedenfalls die gegenüber Willigis kritische Überlieferung aus Hildesheim: Vita Bernwardi episcopi Hildesheimensis auctore Thangmaro, ed. Georg Waitz (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, Bd. 4), Hannover 1841, S. 754 – 782, hier c. 28, S. 771, Z. 40 – 42: „Nam nec locus sessionis vicario apostolici idoneus conceditur, horribilis strepitus ingeminatur, ius fasque contempnitur, canonica disciplina annullatur.“ Zum Hintergrund, der angeb­lichen Zugehörigkeit des Klosters Gandersheim zur Diözese Hildesheim, die von Mainzer Seite e­ nergisch bestritten wurde, vgl. zuletzt Caspar Ehlers: Gandersheim, Bad (B), in: Die deutschen Königspfalzen. Repertorium der Pfalzen, Königshöfe und übrigen Aufenthaltsorte der Könige

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Für die Liber generationis-Seite des Gießener Evangeliars ergäbe sich unter Berücksichtigung des Anciennitätsprinzips der Erzbischöfe und der Heraushebung des Kölner Erzbischofs als Auftraggeber nachstehende Anordnung: Willigis von Mainz 

Otto III. Everger von Köln

Egbert von Trier

Wann sind die Medaillons gemalt worden? Zwischen dem Tod Warins im September 985 und dem Ableben Egberts im Dezember 993 unterstützte die Allianz der rheinischen Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier das Königtum Ottos III. Weder davor noch danach ist ­diesem die Gefolgschaft aller drei Metropoliten zu Teil geworden. Die Anfertigung des Gießener Evangeliars und seiner Medaillons fol. 12r fügt sich somit in den historischen Kontext der Jahre von 985 bis 993 ein, wobei die Aktualität der Geschehnisse am ehesten für eine Entstehung um 985/986 zu sprechen scheint, als die Herrschaft Ottos III. gerade erst gesichert war. Zu welchem Anlass sind die Medaillons gefertigt worden? Die Miniatur fol. 12r diente als Versinnbildlichung der Eintracht der höchsten geistlichen Reichsfürsten unter der Ägide des jungen Königs. Die beabsichtigte Wirkung entfaltete die Darstellung am besten bei der Übergabe des Evangeliars an den Herrscher, vor den Augen der bei Hof anwesenden ­Großen. In ­diesem Rahmen konnten Everger von Köln, Willigis von Mainz und Egbert von Trier ihren Zusammenhalt und ihre Loyalität gegenüber dem rex puer zum Ausdruck bringen.112 Diese Verbundenheit hatte über den Zeitraum von höchstens acht Jahren Bestand. Für die Ottonenzeit ist das eine beinahe unglaubliche Kontinuität – und für den Kölner Buchmaler ausreichend Zeit für die Visualisierung in Form der vier Medaillons. Ob sie schon für den Hoftag 985 in Frankfurt oder für die Osterfeierlichkeiten 986 in Quedlinburg gefertigt wurden, ist heute kaum mehr zu entscheiden.113

im deutschen Reich des Mittelalters, Bd. 4: Niedersachsen. 3. Lieferung: Buxtehude – Giebolde­hausen, Göttingen 2001, S. 247 – 333, hier S. 253 – 257. – Martina Giese, Die Textfassungen der Lebensbeschreibung Bischof Bernwards von Hildesheim (Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte, Bd. 40), Hannover 2006, S. 29 – 35, hier S. 45 f. – Zur Reimser Papstsynode 1049 mit ihrer ungewöhnlichen Sitzordnung vgl. Matthias Schrör: Iussit eum papa Rome residere. Halinard von Lyon und die Papstwahl von 1048/49, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 100 (2005), S. 30 – 50, hier S. 47 f. 112 Denkbar wäre eine Aushändigung des in Köln gefertigten Evangeliars im Rahmen oder in Folge der Beisetzung Theophanus 991 in St. Pantaleon, die Everger von Köln vornahm und der zahlreiche Fürsten beigewohnt haben. Vgl. RI 2,3 (wie Anm. 30), Nr. 1035b mit den Quellenbelegen. 113 Für eine Datierung zum Hoftag 986 in Quedlinburg spricht sich Klaus Gereon Beuckers aus. Vgl. dazu seinen Beitrag in ­diesem Band.

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Die in ­diesem Beitrag präsentierte Deutung verbindet Bildinterpretation und Analyse der Schriftquellen. Die Verknüpfung zweier heuristischer Herangehensweisen kann viel zur Erklärung ikonographischer Darstellungen beitragen – letzte Gewissheiten jedoch nicht.114

114 Ludger Körntgen: Königsherrschaft und Gottes Gnade. Zu Kontext und Funktion sakraler Vorstellungen in Historiographie und Bildzeugnissen der ottonisch-frühsalischen Zeit (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters, Bd. 2), Berlin 2001, S. 278: „Bildinterpretation und Interpretation der literarischen Quellen stützen sich gegenseitig, bleiben aber jeweils als methodischer Einzelschritt ungesichert“.

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Jens Lieven

Lotharingien im späten 10. Jahrhundert Zur Integration des Raums ­zwischen Rhein, Maas und Mosel in das Reich der Ottonen.

Unmittelbar nach der Königserhebung Ottos III . traf am Weihnachtsfest des Jahres 983 ein Bote mit der Nachricht vom Tod des Kaisers in Aachen ein. Dem Bericht Thietmars von Merseburg zufolge erfüllte daraufhin „unsagbarer Schmerz die Herzen Vieler“. Sie klagten – wie der Merseburger Bischof an gleicher Stelle weiter ausführt – über die verlorene Stärke und dachten wehmütig an den verstorbenen Herrscher zurück, der sich ihnen als „tutor regni et imperii“ eingeprägt hatte.1 Die Botschaft vom Tod Ottos II . in Italien, über die Thietmar erst viele Jahrzehnte nach den Ereignissen und vor allem in Kenntnis dessen, was noch folgen sollte, berichtete, dürfte unter den Zeitgenossen tatsächlich ernsthafte Sorgen ausgelöst haben: Otto III . war 983 bekanntlich kaum älter als drei Jahre, weshalb die Herrschaft der Ottonen mit dem plötzlichen Tod des Kaisers Gefahr lief, unvermittelt in eine schwere Krise zu geraten. Nichts weniger als der Fortbestand der ottonischen Königsherrschaft, die seit den Tagen Heinrichs I.– anders als noch zur Zeit der Karolinger – nicht mehr allen Söhnen gleichermaßen offenstand, sondern nur noch einem Nachfolger übertragen worden war, stand auf dem Spiel. Die unerhört expansive Dynamik, die das ottonische Königtum bis dahin entfaltet hatte, drohte in ihr Gegenteil umzuschlagen. Wie unsicher und gefährlich die Lage nach dem Tod Ottos II . für seinen noch minder­ jährigen Sohn und Nachfolger war, wird vor allem an der westlichen Peripherie des Reiches deutlich. Noch dem Wunsch seines Vaters entsprechend wurde Otto III . zwar dem Kölner Erzbischof Warin zur Erziehung anvertraut und zusammen mit den Krönungsinsignien nach Köln gebracht, doch waren damit die Probleme längst nicht gelöst – im Gegenteil: Theophanu und Adelheid, die M ­ utter und Großmutter des Kindes, zögerten und blieben vorerst in Italien, während sich im Norden des Reiches die Ereignisse überschlugen. Bei Bekanntwerden der Nachricht vom Tod des Kaisers wurde auf Anweisung Bischof Folkmars von Utrecht Heinrich der Zänker, der ehemalige Herzog von Bayern, wieder auf freien Fuß gesetzt. Bekanntermaßen entließ man damit jenen Vetter Ottos II . aus 1

Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung, hg. v. Robert Holtzmann (MGH SS rer Germ, nova series 9), Berlin 1935, lib. III, cap. 26, S. 130 f.

Lotharingien im späten 10. Jahrhundert | 153

der Gefangenschaft, der vormals mehrfach gegen den ­Kaiser opponiert hatte und aus ­diesem Grund im Jahr 978 in Haft genommen worden war.2 Unmittelbar nach seiner Freilassung eilte der Zänker noch Ende Dezember 983 von Utrecht aus nach Köln, wo Erzbischof Warin sich ebenfalls auf seine Seite stellte und ihm – dem rechtmäßigen Vormund, dem „patronus legalis“, wie Thietmar schreibt – Otto III . übergab.3 Wie einem Brief Gerberts von Aurillac an Bischof Notger von Lüttich zu entnehmen ist, fand sich kurz darauf dann auch Erzbischof Egbert von Trier bereit, den Zänker zu unterstützen – wohl, weil auch er annahm, Heinrich werde als naher männlicher Verwandter dem gekrönten, aber noch minderjährigen König seinen Schutz gewähren und ihm als „consors regni“ zur Seite stehen.4 In Wirklichkeit gingen die Pläne Heinrichs aber von Anfang an sehr viel weiter. Schon früh nahm er Kontakt zu König Lothar von Westfranken auf, um sich – der Historia des Richer von Saint Remi zufolge – im Austausch bestimmter Gebiete Lotharingiens (Belgica) der Unterstützung und Freundschaft des Karolingers zu vergewissern. Ohne sich dann aber um die Angelegenheiten im regnum Lotharii eingehender zu kümmern – ein geplantes Treffen ­zwischen Lothar und Heinrich in der Nähe von Breisach kam nicht zustande 5 –, wandte sich der Zänker mit Otto III. in seiner ‚Obhut‘ nach Osten. Er überschritt den Rhein und zog dem Hellweg folgend über Dortmund, Paderborn und Corvey in Richtung 2

3 4

5

Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerd Althoff: Otto III., Darmstadt 1996, S. 37 – 54 sowie Franz-Reiner Erkens: Fürstliche Opposition in ottonisch-salischer Zeit. Überlegungen zum Problem der Krise des frühmittelalterlichen deutschen Reiches, in: Archiv für Kulturgeschichte 64 (1982), S. 307 – 370, hier: S. 338 – 346. Chronik des Bischofs Thietmar (wie Anm. 1), lib. IV, cap. 1v, S. 132. Die Briefsammlung Gerberts von Reims, hg. v. Fritz Weigle (MGH Briefe der deutschen Kaiserzeit, Bd. 2), Weimar 1966, Nr. 30, S. 53 f. – Vgl. dazu auch Franz Reiner Erkens: … more Graecorum conregnantem instituere vultis? Zur Legitimation der Regentschaft Heinrichs des Zänkers im Thronstreit von 984, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. S73 – 289, hier: S. 279 f. – Zur Position Egberts ­zwischen Otto III . und dem Zänker vgl. zuletzt auch Klaus Gereon Beuckers: Kunst als politisches Argument. Erzbischof Egbert und seine Goldschmiedewerkstatt, in: Der Andreas-Tragaltar. Restaurierungsgeschichte, offene Forschungsfragen und Neupräsentation eines Hauptwerks der ottonischen Goldschmiedekunst, hg. v. Markus Groß-Morgen und Kirstin Jakob, Regensburg 2023 (im Druck). – Anders als Erkens sieht Rolf Grosse: Das Bistum Utrecht und seine Bischöfe im 10. und frühen 11. Jahrhundert (Kölner Historische Abhandlungen, Bd. 33), Köln 1987, S. 110 – 113, die Motive Folkmars zur Freilassung Heinrichs des Zänkers nicht in den rechtlichen Gegebenheiten. Stattdessen stellt er vor allem (kirchen-)politische Motive des Bischofs in Rechnung und weist ihm eine grundsätzlich oppositionelle Haltung gegenüber den Ottonen zu. Dem bleibt jedoch entgegenzuhalten, dass Otto II. dem Bischof von Utrecht 978 offensichtlich vertraute, als er ihm den Zänker zur Inhaftierung übergab. Dem Auftrag des Kaisers, ihn in Haft zu nehmen, kam Folkmar sodann fünf Jahre lang – bis zum Tod Ottos II . – nach, was eher für ein gutes als ein schlechtes Verhältnis des Bischofs zum Herrscher sprechen dürfte. Richer von Saint-Remi. Historiae, hg. v. Hartmut Hoffmann (MGH SS 38), Hannover 2000. lib. III, cap. 97, S. 223.

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Elbe.6 In Sachsen griff er sodann erstmals offen selbst nach der Krone, konnte sich aber trotz anfänglicher Erfolge letzten Endes nicht durchsetzen.7 Widerstände gegen den Zänker lassen sich auf Seiten zahlreicher Magnaten ­ausmachen. Bereits im Februar 984 hatte etwa Notger von Lüttich in Lotharingien die Initiative ergriffen und zu einer Zusammenkunft der dortigen Großen geladen, um sich den Zielen H ­ einrichs entgegenzustellen. In der ersten Märzhälfte setzte sich schließlich der westfränkische Erzbischof Adalbero von Reims, der mit den Ottonen verwandt und in Lotharingien gut vernetzt war, zusammen mit seinem Bruder Gottfried, dem Grafen von Verdun, an die Spitze der Heinrich-Gegner und organisierte den Widerstand; sogar den westfränkischen König Lothar und seinen Sohn, Ludwig V., die anfänglich noch auf der Seite des Zänkers gestanden hatten, konnte er – wenngleich nur kurzfristig – dazu bewegen, sich für Otto III . auszusprechen. Auch nahm er Kontakt zu Erzbischof Willigis von Mainz auf,8 der seinerseits die Anhänger der Ottonen zum Schlag gegen Heinrich den Zänker hinter sich sammelte – darunter die Herzöge von Schwaben und Bayern, aber auch Bischöfe wie Notger von Lüttich, Gerhard von Toul, Rothard von Cambrai und Rethar von Paderborn (Abb. 42 u. 43).9 Nachdem es dann zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen ­zwischen den Helfershelfern Heinrichs des Zänkers und den Anhängern der Ottonen gekommen war, wurde Heinrich – auch mit Unterstützung aus Sachsen – militärisch mehr und mehr in die Defensive gedrängt.10 Daraufhin folgten Theophanu und Adelheid einem Aufruf des Mainzer Erzbischofs und kehrten in das Reich nördlich der Alpen zurück. Ende Juni 984 sind sie mit großem Gefolge in Begleitung König Konrads von Burgund, der Herzöge von B ­ ayern und Schwaben sowie im Beisein des Erzkanzlers Willigis von Mainz erstmals wieder im Norden nachzuweisen. Ihr Ziel war der Hoftag von Rohr bei Meiningen, auf dem der Zänker Otto III. seiner ­Mutter übergeben musste.11 Für Theophanu, die seither anstelle ihres minderjährigen Sohns die cura regni ausübte 12, schlug damit „die Stunde der Bewährung“.13 Besonders deutlich wird dies am Beispiel 6

Regesta Imperii. Sächsisches Haus 919 – 1024. Die Regesten des Kaiserreichs unter Otto III. 980 – 1002, bearb. v. Mathilde Uhlirz (Regesta Imperii, Bd. II, 3), Graz 1956, Nr. 956g/1. 7 Vgl. dazu im Einzelnen Karl und Mathilde Uhlirz: Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Otto II. und Otto III. Bd. 2: Otto III. (983 – 1002), Berlin 1954. S. 14 – 22. 8 Briefsammlung Gerberts (wie Anm. 4), Nr. 27. 9 Regesta Imperii, Bd. II/3 (wie Anm. 6), Nr. 956n1, Nr. 956p1, Nr. 956u1 und Nr. 956v1. 10 Vgl. Uhlirz 1954 (wie Anm. 7), S. 18 – 21. 11 Regesta Imperii, Bd. II/3 (wie Anm. 6), Nr. 956q2. 12 Die Annales Quedlinburgenses, hg. v. Martina Giese (MGH SS rer Germ, Bd. 72), Hannover 2004, S. 475 (ad a. 985). 13 Johannes Fried: Kaiserin Theophanu und das Reich, in: Köln. Stadt und Bistum in ­Kirche und Reich des Mittelalters. Festschrift für Odilo Engels zum 65. Geburtstag, hg. v. Hanna Vollrath und Stefan Weinfurther (Kölner historische Abhandlungen, Bd. 39), Köln 1993, S. 139 – 185, hier S. 163.

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Abb. 42: Regelbuch von Niedermünster, Staatsbibliothek Bamberg Msc. Lit. 142, Regensburg um 990, fol. 4v: Heinrich der Zänker.

Abb. 43: Gebetbuch Ottos III., Staatsbibliothek München Clm 30111, Mainz um 986, fol. 43v: Thronbild Ottos III. mit Erzbischof Willigis.

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Lotharingiens, um das es im Folgenden gehen soll. Wie die Entwicklung der ersten Monate nach dem Tod Ottos II. deutlich macht, standen an Rhein, Maas und Mosel bedeutende Große der Kaiserin distanziert bis ablehnend gegenüber, so dass man sich unwillkürlich an das Verdikt Widukinds von Corvey erinnert fühlt, wonach die gens Lotharii unzuverlässig, an Ränke gewöhnt, stets bereit zum Krieg und – aus Sicht des Autors gewiss ebenfalls kein Kompliment – interessiert an Neuem gewesen sein soll.14 Hinzu kommt, dass die westfränkischen Könige, denen Heinrich I. seinerzeit Lotharingien entwunden hatte, jetzt wieder alte Ansprüche auf das regnum Lotharii anmeldeten und damit im Westen die territoriale Integrität des Reiches einmal mehr bedroht war.15 Wie aber muss man sich, so ist vor ­diesem Hintergrund zu fragen, das Handeln ­Theophanus konkret vorstellen, wenn Thietmar durchaus anerkennend schreibt, sie habe die Herrschaft ihres Sohns mit nachgerade männlicher Wachsamkeit bewahrt?16 Auf welches Instrumentarium zur Gestaltung ihres Handelns griff sie zurück, auf wessen Kooperation setze sie und schließlich: Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur ottonischen Lotharingienpolitik vor 983/84 sind bei alldem auszumachen? Um diesen Fragen auf die Spur zu kommen, ist zunächst von der Prämisse auszugehen, dass die politische Ordnung auf einem personalen Gefüge basierte – auf einem Gefüge, das mithilfe von institutionell nicht exakt benennbaren Regulativen funktionierte und das im Wesentlichen von wechsel­seitigen Bindungen und Verpflichtungen der Herrschaftsträger geprägt war.17 Dementsprechend soll im Folgenden ein besonderes Augenmerk auf das Verhältnis der Ottonen zur adeligen Führungsschicht Lotharingiens gerichtet werden. Zugleich werden aber auch die Beziehungen Theophanus und Ottos III. zu Klöstern und geistlichen Gemeinschaften an Rhein, Maas und Mosel sowie zu den Bischöfen ­dieses Raums zu erörtern sein, wobei die genannten Themenkreise mitunter inhaltliche Schnittmengen aufweisen und sich insofern nicht immer scharf voneinander trennen lassen.

* Um zuerst die Beziehungen der Ottonen zum Adel näher in den Blick zu bekommen, ist auf das Jahr 923 zu schauen, als sich angesichts der westfränkischen Thronwirren ein Teil der lotharingischen Großen von Karl dem Einfältigen abwandte und zugleich dem 14 Die Sachsengeschichte des Widukind von Korvei, bearb. v. Paul Hirsch (MGH SS rer Germ, Bd. 60), Hannover 1935, lib. I, cap. 30, S. 42 f. 15 Vgl. dazu Gerd Althoff: Die Rheinlande im 10. Jahrhundert – eine königsferne Landschaft?, in: Die Rheinlande und das Reich, hg. v. Manfred Groten (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Vorträge, Bd. 34), Düsseldorf 2007, S. 27 – 43. 16 Chronik des Bischofs Thietmar (wie Anm.1), lib. IV, cap.10. 17 Vgl. Hagen Keller: Reichsorganisation, Herrschaftsformen und Gesellschaftsstrukturen im Regnum Teutonicum, in: Il secolo di ferro. Mito e reletà de secolo X/1 (Settimane di Studio del Centro Italiano di Studi sull’ alto Medioevo, Bd. 38). Spoleto 1991, S. 159 – 195, hier: S. 168.

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ostfränkischen König huldigte.18 Nachdem 911 der Adel Lotharingiens noch den umgekehrten Weg beschritten hatte und Konrad I. es auch nach drei Feldzügen nicht vermochte, ihn wieder an sich zu binden, gelang damit König Heinrich I., was seinem Vorgänger noch versagt geblieben war: Zwar waren die Großen Lotharingiens unter sich zerstritten, doch wandten sich immerhin Graf Giselbert, den schon im Jahr 920 „plurimi Lotharienses“ zur ihrem „princeps“ bestimmt hatten, und Erzbischof Ruotger von Trier, der Erzkanzler der lotharingischen Kanzlei, dem ostfränkischen König zu.19 Im Verlauf des Jahres 925 folgten sodann die übrigen Großen Lotharingiens und unterwarfen sich Heinrich I.20 Nach Richer von Saint Remi entstammte insbesondere Giselbert „(ex) clarissimo genere“ und stand deshalb in hohem Ansehen. „Im Krieg kannte seine Kühnheit keine Schranken, so dass er auch das Unmögliche zu unternehmen sich nicht scheute“.21 Sein Vater war Reginar I. (Langhals), den Richer als „vir clarus et nobilis“ bezeichnet.22 Schon Reginar hatte an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert versucht, sich durch wechselnde Parteinahme eine autonome Machtbasis in Lotharingien aufzubauen.23 So hatte er zusammen mit anderen Adligen im regnum Lotharii 895 Karl den Einfältigen verlassen und sich König Zwentinbold angeschlossen, dessen „fidissimus et unicus consiliarius“ er wurde.24 911 trat er sodann wieder auf die Seite des westfränkischen Herrschers und begegnet fortan als „comes ac missus dominicus“   25 und „marchio strenuus“.26 Nach dem Tod Reginars im Jahr 915 übernahm sein Sohn Giselbert aus der Hand des westfränkischen Königs die Würden des Vaters und stütze seine Macht fortan nicht zuletzt auch auf den Besitz zahlreicher Klöster, auf ein regelrechtes Kloster-Imperium, dem er als Laienabt vorstand.

18 Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlich Walter Mohr: Geschichte des Herzogtums Lothringen, Teil 1: Geschichte des Herzogtums Groß-Lothringen (900 – 1048), Saarbrücken 1974, S. 15 – 25 sowie Wolfgang Giese: Heinrich I. Begründer der ottonischen Herrschaft (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 2008, S. 85 – 88. 19 Zu seiner Tätigkeit als Erzkanzler für Lotharingien vgl. Theodor Schieffer: Die lothringische Kanzlei um 900, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 14 (1958), S. 16 – 148, hier: S. 142 f. 20 Flodoard von Reims. Annales (Ausgewählte Quellen zur Geschichte des Mittelalters, Freiherr-vom Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 52), hg. v. Günter Eichler und Thomas Wozniak. Darmstadt 2020. S. 62 (ad a. 920) u. 88 (ad a. 925). 21 Richer von Saint-Remi, Historiae (wie Anm. 5), lib. I, cap. 35, S. 70 f. 22 Richer von Saint-Remi, Historiae (wie Anm. 5), lib. I., cap. 34, S.70. 23 Hierzu und zum Folgenden vgl. Gerd Althoff: Amicitiae und Pacta. Bündnis, Einung, Politik und Gebetsgedenken im beginnenden 10. Jahrhundert (MGH Schriften, Bd. 37), Hannover 1992, S. 235. 24 Reginonis abbatis Prumiensis Chronicon cum continuatione Treverensi, hg. v. Friedrich Kurze (MGH SS rer Germ 50), Hannover 1890. S. 145 (ad a. 898). 25 Recueil des chartes de l’abbaye de Stavelot-Malmedy, Bd. 1, hg. v. Joseph Halkin und Chales Gustave Roland, Bruxelles 1909, Nr. 51. 26 Recueil des actes de Charles III le Simple, Roi de France (893 – 923), hg. v. Philippe Lauer, Paris 1949, Nr. 65 u. 81.

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Mit Giselbert vermählte Heinrich I. im Sommer 928 seine Tochter Gerberga. Von der Hochzeit berichtet Widukind von Corvey, der in d ­ iesem Zusammenhang auch auf den vornehmen Adelsrang des Reginarsohns zu sprechen kommt („ex nobili genere et familia antiqua“ ) und zugleich die politische Bedeutung hervorhebt, die auf Seiten des Königs der Vermählung seiner Tochter zugemessen wurde. Widukind zufolge meinte Heinrich I., durch Giselbert allein könne er ganz Lotharingien in Besitz nehmen. Aus ­diesem Grund habe er ihn durch Verschwägerung („affinitas“ ) ebenso an sich gebunden wie durch ein Freundschaftsbündnis („amicitia“ ) und ihm schließlich ganz Lotharingien anvertraut.27 Ob damit zugleich ein durch den König sanktionierter Anspruch auf den dux-Titel verbunden war, ist nicht genau auszumachen. Seit 928 verwendete Giselbert diesen zwar von sich aus,28 doch scheint Heinrich I. ihn erst einige Jahre ­später anerkannt zu haben, wenn Giselbert nicht vor 931 in einem Königsdiplom als dux apostrophiert wird.29 Obwohl Giselbert schon 939 zusammen mit anderen Magnaten Lotharingiens gegen Otto I. opponierte und noch im gleichen Jahr König Lothar IV. von Westfranken huldigte,30 gelang Heinrich I. damit vorerst die beabsichtigte Integration Lotharingiens in seinen Herrschaftsbereich. Wie alle Herzöge und Großen des ostfränkisch-deutschen Reiches nahm auch Giselbert 936 an Wahl und Krönung Ottos I. in der Aachener Königspfalz teil und leistete dem Sohn Heinrichs I. bei den anschließenden Krönungsfeierlichkeiten das servitium an der königlichen Tafel.31 939 ertrank Giselbert, nachdem er sich der Rebellion Heinrichs, des jüngeren Bruders Ottos I., angeschlossen hatte, auf der Flucht vor den Truppen des ostfränkischen Königs bei Andernach im Rhein. Das dadurch entstandene Machtvakuum in Lotharingien füllte ab 944/45 Konrad der Rote, der fortan als Lothariensis dux 32 begegnet und dem König als solcher besonders nahestand, wenn Adalbert in seiner Fortsetzung der Chronik des Regino von Prüm schreibt, er sei der Liebling des Königs gewesen.33 Einige Jahre ­später – wann genau lässt sich nicht ermitteln 34 – ehelichte Konrad mit Liudgard die Tochter Ottos des Großen, so dass sich hier ein ähnliches Muster wie schon zur Zeit Heinrichs I. abzeichnet. Das heißt, auch Otto I. versuchte anscheinend durch die Vermählung seiner Tochter mit dem Herzog von Lotharingien, diesen enger an die 27 Sachsengeschichte des Widukind (wie Anm. 14), lib. I, cap. 30, S. 43. 28 Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins, Bd. I: 779 – 1200, hg. v. Theodor Joseph L ­ acomblet, Düsseldorf 1840, Nr. 18 – 20. 29 MGH D HI, Nr. 30; zuvor in D HI, Nr. 23: „egregius comes“. 30 Vgl. dazu im Einzelnen Mohr 1974 (wie Anm. 18), S. 26 f. und Winfried Glocker: Die Verwandten der Ottonen und ihre Bedeutung in der Politik. Studien zur Familienpolitik und zur Genealogie des sächsischen Kaiserhauses, Köln 1989, S. 101 – 103. 31 Sachsengeschichte des Widukind (wie Anm. 14), lib. II, cap. 2, S. 66 f. 32 MGH D OI, Nr. 70 (945). 33 Continuatio Reginonis (wie Anm. 24), S. 163 (ad a. 947): „regni tunc temporis pene pre omnibus carus“. 34 Vgl. dazu im Einzelnen Rüdiger E. Barth: Der Herzog in Lotharingien im 10. Jahrhundert. ­Sigmaringen 1990, S. 106.

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Ottonen zu binden und mithilfe Konrads zugleich auch die Zugehörigkeit des regnum Lotharii zum ostfränkisch-deutschen Reich weiter zu festigen.35 Die Familie Konrads gehörte jedenfalls zu den einflussreichsten und mächtigsten im Westen des Reiches. Sein Vater Werner, dessen Vorfahren bereits kurz nach Mitte des 9. Jahrhunderts zu den Partei­gängern Lothars II . gehört haben dürften, übte zu Beginn des 10. Jahrhunderts Grafenrechte sowohl im Speyer- als auch Wormsgau aus, verfügte über Grundbesitz in der Gegend von Trier und begegnet zum Jahr 910 im engeren Umfeld König Ludwigs des Kindes. Überdies scheint er beste Beziehungen zu Hatto von Mainz und zu Konrad I. unterhalten zu haben.36

* Hält man vor d ­ iesem Hintergrund Ausschau danach, wie Theophanu nach 983/84 und dem eingangs skizzierten Thronstreit Heinrich des Zänkers mit den Mitteln der Heiratspolitik versucht haben könnte, die Lage in Lotharingien zu stabilisieren und den Verbleib des regnum Lotharii im ostfränkisch-deutschen Reich zu sichern, so ist vor allem an die Vermählung ihrer Tochter Mathilde mit dem lotharingischen Pfalzgrafen Ezzo zu erinnern.37 Hauptquelle für die Eheschließung, die um 990 stattgefunden haben muss, ist die im späten 11. Jahrhundert entstandene Fundatio Monasterii Brunwilarensis, die aus der Feder eines anonymen Mönchs stammt und an Abt Wolfhelm von Brauweiler (amt. 1065 – 1091) adressiert ist.38 Aber auch Thietmar von Merseburg berichtet noch im zweiten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts über die Eheschließung und lässt durchblicken, dass die Vermählung Mathildes und Ezzos als nicht standesgemäß empfunden wurde, wenn er schreibt, sie sei von vielen missbilligt worden. 35 Darauf, dass Beistand, Hilfeleistung und Förderung durch Verwandte, insbesondere auch der Schwieger­ familie, erwartet, diese Erwartung in der Praxis aber nicht immer erfüllt wurde, machte für die Zeit der Ottonen zuletzt Hans-Werner Goetz: ‚Verwandtschaft‘ um 1000. Ein solidarisches Netzwerk?, in: Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300 – 1000), hg. v. Steffen Patzold und Karl Ubl (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 90), Berlin 2014, S. 289 – 302 aufmerksam. 36 MGH D LdK, Nr. 76 und Flodoard von Reims. Die Geschichte der Reimser K ­ irche, hg. v. Martina Stratmann (MGH SS 36), Hannover 1996, lib. I, cap. 20, S. 111. – Vgl. dazu auch Wolfgang Metz: Miszellen zur Geschichte der Widonen und Salier, vornehmlich in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 85 (1965), S. 1 – 27, hier: S. 23 f. sowie Glocker 1989 (wie Anm. 30), S. 103. 37 Vgl. zuletzt Klaus Gereon Beuckers. Die Ezzonen und ihre Stiftungen. Manifestationen politischer und geistlicher Stellung unter den späten Ottonen und frühen Saliern in Lothringen, in: Verortete Herrschaft. Königspfalzen, Adelsburgen und Herrschaftsbildung in Niederlothringen während des frühen und hohen Mittelalters hg. v. Jens Lieven, Bert Thissen und Ronald Wientjes (Schriften der Heresbach Stiftung, Bd. 16). Bielefeld 2014, S. 255 – 285, hier S. 258 – 265. 38 Fundatio monasterii Brunwilarensis, hg. v. Hermann Pabst, in: Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 12 (1874). S. 147 – 200. – Vgl. dazu Hans Patze: Adel und Stifterchronik. Frühformen territorialer Geschichtsschreibung im Hochmittelalterlichen Reich, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 100 (1964), S. 9 – 81, hier: S. 51 f.

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Zudem habe Otto III. seinen Schwager reich beschenkt, um den hohen, von ihren Ahnen angeborenen Rang seiner Schwester vor Erniedrigung zu bewahren.39 Soweit zu sehen ist, war die Eheschließung Mathildes, die der Fundatio zufolge „fratre iubente, matre volente“ erfolgte,40 tatsächlich ungewöhnlich und insofern auch erklärungsbedürftig.41 Immerhin waren die meisten Töchter der Dynastie seit den Tagen Ottos des Großen unverheiratet geblieben. Statt sie zu vermählen, hatte man sie zur Ausbildung und Erziehung an geistliche Gemeinschaften übergeben, deren Leitung sie dann in der Regel irgendwann übernahmen. Es genügt in d ­ iesem Zusammenhang, an so bedeutende Frauenstifte wie Essen, Quedlinburg oder Gandersheim und ihre Äbtissinnen aus der kaiserlichen Familie zu erinnern. Auch für Mathilde, die Schwester Ottos III ., die in Essen erzogen wurde, scheint eine ­solche Karriere vorgesehen gewesen zu sein. Dass Ezzo, wie der anonyme Verfasser der Fundatio behauptet, bereits seit längerem gleichsam der zweite Mann im Reich gewesen sei („iam praeter regium nomen secundus in regno erat“ ),42 darf allerdings bezweifelt werden.43 Sein Vater Hermann (Pusillus) war erst nach 985 zum Pfalzgrafen erhoben worden und scheint davor in der Reichspolitik keine besondere Rolle gespielt zu haben. Hermann verfügte zwar über zahlreiche Grafenrechte im Bonn-, Auel-, Ruhr-, Eifel- und Keldachgau, doch handelt es sich bei diesen Nennungen als comes im Wesentlichen um urkundliche Einzelbelege aus der Zeit ­zwischen 970 und 996.44 Auch wenn er im Bonn- und Eifelgau mehrfach als Graf begegnet, bleibt deshalb letztlich unklar, ob er alle Grafenrechte kontinuierlich über einen längeren Zeitraum hinweg ausgeübt hat oder ob er im Laufe der Zeit in der Wahrnehmung der Komitate nicht auch durch andere Grafen abgelöst worden sein könnte.45

39 Chronik des Bischofs Thietmar (wie Anm. 1), lib. IV, cap. 60, S. 200. – Vgl. dazu Beuckers 2014 (wie Anm. 37), S. 258 – 265. 40 Fundatio monasterii Brunwilarensis (wie Anm. 38), cap. 6, S. 159. 41 So auch Gerhard Lubich: Verwandtsein. Lesarten einer politisch-sozialen Beziehung im Frühmittelalter (6. – 11. Jahrhundert) (Europäische Geschichtsdarstellungen, Bd. 16), Köln 2008, S. 212. 42 Fundatio monasterii Brunwilarensis (wie Anm. 38), cap. 10, S. 162. 43 So auch schon Ursula Lewald: Die Ezzonen. Das Schicksal eines rheinischen Fürstengeschlechts, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 43 (1979), S. 120 – 168, hier S. 126. 44 Vgl. Franz Steinbach: Die Ezzonen: Ein Versuch territorialpolitischen Zusammenschlusses der fränkischen Rheinlande, in: Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst an Rhein und Ruhr, Textband, hg. v. Victor H. Elbern, Düsseldorf 1964, S. 848– 866, hier S. 856. 45 Auf diese und die folgenden Aspekte ist die Forschung bislang nicht differenziert genug eingegangen: Vgl. etwa Lewald 1979 (wie Anm. 43), S. 122 und Helmut Kluger: propter claritatem generis… Genealogisches zur Familie der Ezzonen, in: Vollrath / Weinfurter 1993 (wie Anm. 13), S. 223 – 258. – Dagegen machte Ulrich Nonn: Pagus und Comitatus in Niederlothringen, Untersuchungen zur politischen Raumgliederung im früheren Mittelalter (Bonner Historische Forschungen, Bd. 49), Bonn 1983, S. 244, deutlich, dass auch noch im 10. Jahrhundert „der König die Verfügung über die Grafschaften innehat und selbst mächtigen Adelssippen das Amt wieder entziehen“ konnte.

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Nur wenig bekannt ist zudem über die Vorfahren Ezzos. Was die Genealogie der Pfalzgrafenfamilie über Hermann Pusillus hinaus betrifft, so verliert sich der Verfasser der Fundatio in Allgemeinplätzen und berichtet ebenso freimütig wie lapidar, dass er über die glorreichen Ahnen Ezzos nicht viel berichten könne, weil diese wegen der Länge der Zeit und der Nachlässigkeit der Alten in Vergessenheit geraten ­seien. Sollte also an dem Bericht Widukinds doch etwas dran sein und könnte im Zusammenhang mit der Eheschließung Ezzos und Mathildes die Adelsqualität der Ezzonen für Gesprächsstoff gesorgt haben? Nach dem Zerwürfnis Ottos I. mit Konrad dem Roten, der sich der Rebellion Liudolfs angeschlossen hatte, ließ der König 953 zunächst seinen Bruder zum Erzbischof von Köln erheben und entsandte ihn als seinen „provisor“ nach Lotharingien 46. Als dann Liudolf mit seinem Aufstand gegen den Vater im Jahr 954 gescheitert war, wurde der Herzog zwar ebenso wie der Sohn des Königs wieder in die Gnade Ottos I. aufgenommen, doch erhielt Konrad lediglich seine Eigengüter zurück 47 und starb ein Jahr ­später auf dem Lechfeld im Kampf gegen die Ungarn. Laut Flodoard ernannte Brun von Köln im Jahr 959 den Grafen Friedrich zu seinem Stellvertreter („vice sua“ ) über die Lotharingier.48 Als Brun 965 starb, verfolgte Otto I. diese Linie dann anscheinend weiter und beließ den Grafen lediglich in der Stellung eines Vize-Herzogs.49 Damit unterstand das regnum Lotharii der direkten Kontrolle des Herrschers, der bereits im ersten Jahr nach dem Tod seines Bruders „pro disponendis regni negotiis“ die Abtei St. Servatius in Maastricht wieder an sich zog 50 und auch sonst die Verfügungsgewalt des Königs über das in Lotharingien gelegene Reichsgut stärkte, während umgekehrt das Amt des Herzogs weiter an Autorität einbüßte.51 Insofern hatte Theophanu für die praktische Ausübung königlicher Herrschaftsrechte mit dem Pfalzgrafenamt, dem vor allem die Aufsicht über die Forst- und Wildbannbezirke sowie über das Reichsgut oblag, den Ezzonen eine Schlüsselposition in Lotharingien 46 Ruotgers Lebensbeschreibung des Erzbischofs Bruno von Köln, hg. v. Irene Ott (MGH SS rer Germ 10), Weimar 1951, cap. 20, S. 19. 47 Continuatio Reginonis (wie Anm. 24), S. 168 (ad a. 954). 48 Flodoard, Annales (wie Anm. 20), S. 196 (ad. a. 959). – Zur Diskussion, inwieweit Friedrich Herzog von Oberlothringen gewesen sein könnte, während der gleichzeitig als dux Lothariensis erwähnte ­Gottfried den niederlothringischen Dukat erhielt vgl. Nonn 1983 (wie Anm. 45), S. 194 – 198. 49 Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Mohr 1974 (wie Anm. 18), S. 41 – 45. 50 MGH D OI, Nr. 322. 51 Barth 1990 (wie Anm. 34), S. 144 mit Anm. 62. – Hinzuweisen ist in ­diesem Zusammenhang außerdem auf die umfangreichen in Lotharingien gelegenen Besitztitel Theopanus aus Reichsgut, die ihr 973 als Morgengabe durch Otto I. zugesprochen worden waren. Vgl. dazu auch Hans K. Schulze: Die Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu. Die griechische Kaiserin und das römisch deutsche Reich 972 – 991, Hannover 2007, S. 32. – Wolfgang Georgi: Ottonianum und Heiratsurkunde 962/962, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und des Westens um die Wende des ersten Jahrtausends, hg. von Anton von Euw und Peter Schreiner, 2 Bde., Köln 1991, Bd. 2, S. 135 – 160.

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übertragen. Die Exponenten der Familie hatten zwar schon zuvor dort Grafenrechte ausgeübt und dürften auch über durchaus beachtlichen Grundbesitz verfügt haben, in der Reichspolitik waren sie aber bis dahin nicht in Erscheinung getreten, im Gegenteil: Reichspolitisch scheinen die Ezzonen zur Zeit Theopahnus – anders als beispielsweise die Reginare unter Heinrich I. oder die (späteren) Salier unter Otto dem Großen – ein weitgehend unbeschriebenes Blatt gewesen zu sein. Gleiches gilt damit wohl auch für ihren Adelsrang, für ihr Prestige, dürften sie doch erst im Verlauf der 980er Jahre in die unmittelbare Nähe der Kaiserin und des Königs aufgerückt sein, während beispielsweise die Reginare bereits seit Mitte des 9. Jahrhunderts immer wieder im direkten Umfeld des Herrschers zu finden sind. Aus ­diesem Grund gewinnt man den Eindruck, als habe Theophanu sich zwar ähnlich wie seinerzeit Heinrich I. oder Otto der Große bewusst der Heiratspolitik bedient, um Lotharingien als Teil des ostfränkisch-deutschen Reichs zu erhalten. Anders als die beiden Ottonenherrscher scheint sie aber nach dem Thronstreit von 983/84 versucht zu haben, in Lotharingien auch auf neue Eliten zu setzen, das heißt auf Angehörige des Grafenadels, die bis dahin nicht der Reichsaristokratie angehört hatten und infolgedessen kein Prestige genossen, das an ein solches führender Adliger auf Reichsebene heranreichte. Zu spiegeln scheint sich dies in der fehlenden fama der Ezzonen, im fehlenden Wissen um prominente und weit zurückreichende Vorfahren, deren Linie sich auf direktem Weg bis in die Karolingerzeit hätte zurückverfolgen lassen. Insofern konnte der Autor der Fundatio nur auf den Befehl Ottos III. und den Wunsch der Kaiserin verweisen, als er um 1080 über die Vermählung Ezzos und Mathildes sowie über die damit verbundene Aufwertung der Ezzonen berichtete.

* Nimmt man nach dem weltlichen Adel in einem zweiten Schritt auch die Bischöfe in den Blick, so ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die ostfränkisch-deutschen Könige seit der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts verstärkt die Verfügung über die Bischofskirchen im Reich für sich in Anspruch nahmen. Dies taten sie, um „diese K ­ irchen nicht nur mit allerhand Besitzungen, sondern auch mit gesteigerter Immunität, mit Forst-, Zoll-, Münz- und Marktrechten und schließlich gar mit ganzen Grafschaften auszustatten“ und dafür im Gegenzug „von den solchermaßen Erkorenen mannigfache Abgaben und Leistungen – von der gastlichen Aufnahme bis zur militärischen Gefolgschaft –, ferner diplomatische Dienste, politische Beratung und nicht zuletzt religiös-moralische Unterstützung“ erwarten zu dürfen.52 Ein besonders markantes Beispiel ist die Besetzung des Kölner Erzstuhls im Jahr 953 mit Brun, dem jüngsten Bruder des Königs, der in Utrecht in der Obhut des Bischofs 52 Rudolf Schieffer: Der ottonische Reichsepiskopat z­ wischen Königtum und Adel, in: Frühmittelalterliche Studien 23 (1984), S. 291 – 301, hier S. 292.

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Balderich erzogen worden war und vor ­diesem Hintergrund mit den Verhältnissen in Lotha­ringien vertraut gewesen sein dürfte. Ruotger zufolge wurde Brun durch Klerus und Volk gewählt, ohne dass von einem Eingreifen Ottos I. die Rede wäre. Bruns Vorgänger im Amt, ­Wichfried, ein treuer Anhänger des Königs, war jedoch schon seit geraumer Zeit gebrechlich („inbellicosus“ )53, so dass am Hof mit seinem Ableben zu rechnen war und dementsprechend von einer gelenkten Wahl ausgegangen werden kann. Dafür spricht vor allem, dass wenige Wochen bevor Wichfried am 9. Juli 953 starb,54 Otto I. höchstselbst nach Köln kam, um dort in Anwesenheit zahlreicher lotharingischer Großer einen Hoftag abzuhalten.55 Offenbar nutzte der König den Anlass, um die Nachfolgefrage auf dem Kölner Erzstuhl noch zu Lebzeiten des siechen Metropoliten in seinem Sinne zu regeln, zumal sich zu dieser Zeit Konrad der Rote auf die Seite des opponierenden Königssohns Liudolf gestellt hatte und deshalb als Herzog von Lotharingien für den König nicht länger tragbar war. Wie Adalbert in seiner Fortsetzung der Chronik Reginos berichtet, erhielt Brun dann auch zusammen mit dem Kölner Erzbistum „ducatus et regimen totius Lothariensis regni“.56 Ähnlich äußert sich auch Ruotger in der Vita Brunonis, wenn er schreibt, Otto habe seinen Bruder als „tutor et provisor“ sowie als „archidux“ in den Westen des Reiches entsandt.57 Das vordringlichste Ziel Ottos I., Lotharingien nach dem Abfall Konrads weiter auf der Seite des Königs zu wissen und das Land für die Ottonen zu sichern, war damit erreicht, auch wenn Brun sich in den kommenden Jahren nicht immer gegen die Interessen des lotharingischen Adels durchzusetzen vermochte.58 Obwohl der Herrscher – schon mangels Gelegenheit – gewiss nicht in jedem Fall seinen Einfluss bei der Besetzung des jeweiligen Bischofsstuhls in gleicher Weise geltend machen konnte wie in Köln, wurden zur Zeit Ottos I. auch andere Bischöfe, nicht zuletzt aber auch Äbte, im Nordwesten des Reichs zur Unterstützung des Königs herangezogen und entsprechend privilegiert oder ausgestattet: Zu nennen sind in ­diesem Zusammenhang vor allem der Erzbischof von Trier, die Bischöfe von Utrecht, Cambrai und Straßburg sowie die Äbte von St. Pantaleon, Stablo-Malmedy, Gembloux und Hornbach.59 53 Ruotgers Lebensbeschreibung des Erzbischofs Bruno (wie Anm. 46), cap. 11 u. 12, S. 11 f. 54 Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, Bd. I: 313 – 1099, bearb. v. Friedrich Wilhelm Oediger (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Bd. 21), Düsseldorf 21978 (OA 1954/61), Nr. 346. 55 Regesta Imperii. Sächsisches Haus 919 – 1002. Die Regesten des Kaiserreichs unter Heinrich I. und Otto I., bearb. v. Emil von Ottenthal (Regesta Imperii, Bd. II/1), Innsbruck 1893, Nr. 231b. 56 Continuatio Reginonis (wie Anm. 24), S. 167 (ad a. 953). 57 Ruotgers Lebensbeschreibung des Erzbischofs Bruno (wie Anm. 46), cap. 20, S. 19. 58 Vgl. dazu im Einzelnen Egon Boshof: Ottonen- und frühe Salierzeit (919 – 1056), in: Rheinische Geschichte, Bd. I/3, hg. v. Franz Petri und Georg Droege, Düsseldorf 1983. S. 5 – 119, hier S. 17 f. 59 Vgl. hierzu die Zusammenstellung der Einzelbelege bei Leo Santifaller: Zur Geschichte des ottonischsalischen Reichskirchensystems (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Bd. 229), Wien 1954, S. 46 – 71.

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Ähnlich wie seinerzeit Otto I. setze auch Theophanu auf den Kölner Erzbischof – allerdings erst, nachdem Warin 985 gestorben war.60 Sein Nachfolger wurde Everger, der bereits 976 als Thesaurar („kimilarchus“ ) des Kölner Domstifts begegnet und 980 als „vicedomnus“ des Erzbischofs amtierte.61 Bei seiner Wahl war er also Mitglied des Kölner Domkapitels und seinen Wählern gewiss kein Unbekannter. Inwieweit die Kaiserin die Erhebung Evergers zum Kölner Metropoliten beeinflusst hat, lässt sich anhand der Quellen nicht rekonstruieren. Dennoch muss das Verhältnis Theophanus und Ottos III. zu Everger schon nach Ausweis ihres Itinerars ausgesprochen eng gewesen sein: Bereits im Sommer 985 begegnen sie beide in Metz, Köln und Nijmegen. Im Jahr darauf (986) sind sie während des Winters zunächst in Duisburg und Dortmund zu finden, während sie das Weihnachtsfest in Köln feierten und sich noch bis in den Sommer 987 hinein an verschiedenen Orten im Norden Lotharingiens aufhielten. Rund ein Jahr ­später (988) begab sich der Königshof vom Bodensee aus wieder an den Rhein und hat schließlich die Wintermonate erneut in Köln verbracht, um hier zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre das Weihnachtsfest zu feiern. Nochmals in Lotharingien zu finden sind Theophanu und Otto III. im Jahr 990 unmittelbar nach dem Italienzug der Kaiserin, bis diese schließlich im Mai 991 in der Pfalz Nijmegen starb und ihre sterblichen Überreste zur Beisetzung nach Köln überführt worden sind.62Schon die zahlreichen Aufenthalte des Königshofs in Köln lassen erkennen, dass Theophanu und Otto III. in Erzbischof Everger einen festen Verbündeten besaßen. Dies gilt übrigens nicht nur mit Blick auf die akute Krisenzeit unmittelbar nach 983/84, sondern ebenso für die Jahre nach Theophanus Tod, in denen Otto III. noch mehrfach zu Gast in Köln war und gemeinsam mit dem Oberhirten in seiner Bischofsstadt das Fest der Geburt Christi feierte.63 Umgekehrt ist außerdem 60 MGH D OIII, Nr. 2 apostrophiert Warin zwar schon 984 als „fidelis“ Ottos III., allerdings handelt es sich bei der Erwähnung des Erzbischofs um eine Sammelintervention. Wie stichhaltig es deshalb ist, daraus eine Annäherung ­zwischen Warin und dem ottonischen Hof abzuleiten, lässt sich nicht mehr ermitteln, weil der Kölner Metropolit kurz darauf starb. Vgl. dazu zuletzt auch Dominik Wassenhoven: Herrscherwechsel und ihre Auswirkungen auf Diözesen. Worms und Köln um die Jahrtausendwende, in: Jenseits des Königshofs. Bischöfe und ihre Diözesen im nachkarolingischen Ostfränkischen Reich (850 – 1100), hg. v. Andreas Bihrer und Stephan Bruhn, Berlin 2019, S. 57 – 92, hier S. 69 f. 61 Regesten der Erzbischöfe von Köln, Bd. 1 (wie Anm. 54), Nr. 476 u. 530. 62 Vgl. Gunther G. Wolf: Das Itinerar der Prinzessin Theophano / der Kaiserin Theophanu 972 – 991, in: Gunther G. Wolf. Kaiserin Theophanu. Schriften, Hannover 2012, S. 16 – 34, hier S. 28 – 33 – FranzJosef Verscharen: Köln im Zeitalter der Ottonen, in: von Euw / Schreiner 1991 (wie Anm. 51), Bd. 1, S. 71 – 87, hier S. 79. – Karl Ubl: Köln im Frühmittelalter. Die Entstehung einer heiligen Stadt 400 – 1100 (Geschichte der Stadt Köln, Bd. 2), Köln 2022, S. 357 – 361. 63 Nach dem Tod Theophanus sind drei weitere Aufenthalte Ottos III. in Köln belegt, und zwar 995 (­ Regesta Imperii, Bd.  II/3 (wie Anm. 6), Nr. 1162a), 996 (Regesta Imperii, Bd.  II/3 (wie Anm. 6), Nr. 1217b) und 997 (Uhlirz, Regesta Imperii, Bd. II/3 (wie Anm. 6), Nr. 1235). Die beiden Aufenthalte der Jahre 995 und 996 fallen zudem zusammen mit der Feier des Weihnachtsfestes. Vgl. hierzu auch Thomas Zotz: Die Gegenwart des Königs. Zur Herrschaftspraxis Ottos III. und Heinrichs II., in: Otto III. und

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f­estzustellen, dass Everger auch dann im Umfeld Theophanus und Ottos III. anzutreffen war, wenn der Königshof nicht in der Gegend z­ wischen Rhein, Maas und Mosel weilte. Insofern hat es den Anschein, als habe der Kölner Metropolit die Kaiserin und ihren Sohn – wenn nicht dauerhaft, dann zeitweise – auf ihrem Weg durch das Reich begleitet, wie etwa seine Intervention in einer Urkunde Ottos III. deutlich macht, die dieser 988 in Konstanz für Bischof Hildibald von Chur ausfertigen ließ.64 Die daraus abzuleitende – und durchaus als erheblich einzustufende – Beteiligung ­Evergers an der Erledigung von Reichsgeschäften 65 wird bestätigt durch zwei Briefe G ­ erberts von Aurillac aus dem Jahr 987, die sich inhaltlich auf die damals aktuelle Situation in Lotha­ringien beziehen und zugleich deutlich machen, dass die Zugehörigkeit des Gebiets ­zwischen Rhein, Maas und Mosel zum ostfränkisch-deutschen Reich nach wie vor auf der Kippe stand. In Übereinstimmung mit den historiographischen Quellen der Zeit geben die Briefe Gerberts zu erkennen, dass Ludwig V. – ebenso wie sein Vater, der 986 verstorbene König Lothar von Westfranken, – Lotharingien immer noch für das Westfränkische Reich beanspruchte. Weiter zeigen sie, dass der Kölner Erzbischof als Ratgeber und Vertrauter Theophanus agiert haben muss, als es darum ging, mit dem westfränkischen König über die Aufgabe seiner Ansprüche zu verhandeln und ihn vor allem dazu zu bewegen, die noch von seinem Vater eroberte Stadt Verdun zu räumen und prominente Gefangene (wie den Grafen Gottfried von Verdun) wieder freizulassen.66 Man sieht also, dass der Erzbischof von Köln zur Zeit Theophanus zwar nicht mehr – wie dies noch zur Zeit Ottos I. mit Blick auf Brun zu konstatieren ist – im Namen des Königs die Oberaufsicht über die Herzogsgewalt in Lotharingien ausübte, dass er aber dennoch eine wichtige Rolle in der Erledigung von Reichsgeschäften und bei der Sicherung Lotharingiens gegen westfränkische Ansprüche gespielt haben muss – eine Rolle übrigens, die ihm im Jahr 993 – nach dem Tod der Kaiserin also – bei Otto III. das Prädikat „totius honoris dignus archiepiscopus“ eingebracht hat.67 Auch Theophanu und Otto III . setzen also in ihrer Lotharingienpolitik auf den Kölner Erzbischof, mit dem sie ebenso eng wie freundschaftlich verbunden waren. Gleiches gilt zweifelsohne auch für Bischof Notger von Lüttich, der zwar – anders als Everger – noch zu Lebzeiten Ottos I. (972) zum Bischof erhoben wurde und sich offensichtlich

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Heinrich II. Eine Wende?, hg. v. Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter (Mittelalter-Forschungen, Bd. 1), Sigmaringen 1997, S. 349 – 386, hier S. 383. MGH D OIII, Nr. 48. Vgl. Krista Codea: Intervenienten und Petenten vornehmlich für lothringische Empfänger in den Diplomen der liudolfingischen Herrscher (919 – 1024), Bonn 2008, S. 306. Briefsammlung Gerberts (wie Anm. 4), Nr. 100 u. 101. Vgl. dazu auch Heribert Müller: Studien zu Erzbischof Everger von Köln (985 – 999), in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 49 (1978), S. 1 – 18, hier: S. 8 – 10. MGH D OIII, Nr. 120.

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auch der Gunst Ottos II. erfreute,68 dessen Pontifikat aber erst mit dem Thronstreit H ­ einrichs des Zänkers und den daraus resultierenden Unruhen in Lotharingien reichspolitische Wirkung entfaltete.69 Ab 983/84 positionierte sich Notger als Sachwalter ottonischer Interessen vor allem gegen die Ambitionen der westfränkischen Karolinger und verlieh damit seiner Amtsführung ein Profil, das dem des Kölner Erzbischofs in nichts nachgestanden haben dürfte. Im Gegenteil: Vor allem in Angelegenheiten, die Lotharingien betrafen, ist Notger in den Urkunden Ottos III. häufig als Intervenient und Ratgeber anzutreffen.70 Wie bereits gezeigt, begegnet er überdies ebenfalls als Adressat einiger Briefe Gerberts von Aurillac. Sie lassen erkennen, dass der Bischof von Lüttich – ebenso wie sein Kölner Amtsbruder – ein enger Vertrauter Theophanus gewesen sein muss. Deutlich machen sie weiterhin, dass er über gute Kontakte zu jenem Teil des westfränkischen Adels verfügte, der eine gewaltsame Auseinandersetzung um das regnum Lotharii im Sinne der Ottonen abzuwenden versuchte und auf einen Ausgleich ­zwischen Karolingern und Ottonen setzte,71 wobei der Bischof von Lüttich allem Anschein nach beinahe selbst zur Zielscheibe Lothars von Westfranken geworden wäre.72 Die Bedeutung, die Notger von Lüttich im Konflikt mit den westfränkischen Karolingern für Theophanu und ihren Sohn besaß, untermauert eine 985 ausgestellte Urkunde Ottos III., in welcher der König den Bischof als „venerabilis et fidelitatis nostrae in omnibus exequutor“ bezeichnet – als ehrenwerten und treuen Vollstrecker unseres Willens. Auf Bitten Theophanus übertrug der König ihm mit demselben Präzept außerdem die Verfügungsgewalt über die Grafschaft Huy, die aus dem pagus und comitatus Condroz hervorgegangen war, sich aber auch auf einen Teil des Haspengaus erstreckte. Bestimmt wurde mit der Urkunde, dass der Bischof von Lüttich das Recht haben sollte, dort einen Getreuen des Königs als Grafen einzusetzen, wobei dem Herrscher die ihm schuldige Ehrerbietung (reverentia) entgegenzubringen war, und zwar „vel propter debitum nobis ab omnibus honorem vel propter bannum legalius faciendum“.73 Kurz darauf, im Jahr 987, bekam Notger neben anderen Rechtstiteln schließlich „comitatum de Brunengeruuz“ verliehen, der offenbar unmittelbar vor den Toren 68 Darauf deuten insbesondere die beiden Privilegienbestätigungen Ottos II . MGH D OII , Nr. 85 (973) und Nr. 210 (980) hin sowie die Übertragung des Marktzolls zu Visé im Jahr 983 (MGH D OII , Nr. 308). 69 Vgl. hierzu und zum Folgenden Jean-Louis Kupper: Notger de Liège (972 – 1008), Bruxelles 2015. 70 Vgl. Codea 2008 (wie Anm. 65), S. 311 – 328. 71 Vgl. zusammenfassend Carlrichard Brühl: Deutschland – Frankreich. Die Geburt zweier Völker, Köln 2 1995 (OA 1990), S. 583 – 589. 72 Gesta episcoporum Cameracensium, hg. v. Ludwig Konrad Bethmann (MGH SS, Bd. 7), Hannover 1846, lib. I, cap. 105, S. 445. Darüber, dass die Pläne Lothars nach der Einnahme von Verdun weitere Gebiete Lotharingiens zu erobern, durch den plötzlichen Tod des Königs vereitelt worden s­ eien, berichtet Richer, Historiae (wie Anm. 21), lib. III, cap. 109, S. 230. 73 MGH D OIII, Nr. 16 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Hartmut Hoffmann: Grafschaften in Bischofshand, in: Deutsches Archiv für Geschichte des Mittelalters 46 (1990), S. 375 – 480, hier S. 413 – 415.

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Löwens zu lokalisieren ist 74 und dessen Übertragung an den Bischof von Lüttich – wohl ebenso wie zuvor die Übertragung der Grafschaft Huy – die ottonische Königsherrschaft in Lotharingien nicht nur sichern, sondern auch effektiv zur Geltung bringen sollte.

* Angesichts der Loyalität, die nach dem bisher Gesagten der lotharingische Pfalzgraf Hermann (Pusillus) und sein Sohn Ezzo, der Kölner Erzbischof Everger und Bischof Notger von Lüttich Theophanu und ihrem Sohn entgegenbrachten, wird man unterstellen dürfen, dass um 987/90 die durch den Tod Ottos II. ausgelöste Krise beendet war und sich die Königsherrschaft der Ottonen in Lotharingien wieder einigermaßen ungestört entfalten konnte.75 Vor d ­ iesem Hintergrund erscheint es lohnenswert, parallel zu den personalen Bindungen auch nach den materiellen Grundlagen und den Stützpunkten des Königtums im Raum ­zwischen Rhein, Maas und Mosel zu fragen, denn erst sie ermöglichten es dem Herrscher überhaupt, auf dem Weg durch sein Reich in einer bestimmten Region persönlich präsent zu sein, mit den dortigen Großen in Kontakt zu treten, Hoftage abzuhalten und Urkunden auszustellen.76 Sieht man von Aachen, das insbesondere mit Blick auf die Spätzeit Ottos III. als Sonder­ fall einzustufen ist,77 sowie auch von Köln ab, dessen Bedeutung für das Itinerar Theophanus und Ottos III. bereits herausgestellt wurde,78 dann sind zunächst die beiden Pfalzen Duisburg und Nijmegen zu nennen, die im regnum Lotharii durch häufigere Aufenthalte des Hofes hervorstechen. Soweit dies der archäologische Befund erkennen lässt, wurde die Pfalz in Duisburg nach ihrer Zerstörung durch die Normannen im Jahr 883/84 in spätkarolingisch und frühottonischer Zeit wieder aufgebaut.79 Für Heinrich I. ist – vielleicht aufgrund der zeittypisch ­dünnen Überlieferungslage – dort nur ein Aufenthalt im Jahr 935 sicher auszumachen. Etwas 74 MGH D OIII, Nr. 45. 75 Ab 990 dürfte dies sicher auch für den Bischof von Utrecht gelten. Auf Bischof Folkmar, der am 10. Dezember 990 starb und dessen Verhältnis zu den Ottonen angesichts der von ihm verfügten Freilassung des Zänkers Ende Dezember 983, kontrovers beurteilt wird (vgl. dazu Anm. 4), folgte Baldewin von Utrecht. Dieser stand offenbar von Anfang an in gutem Einvernehmen zu Otto III. und Theophanu. Vgl. Grosse 1987 (wie Anm. 4), S. 113 f. 76 Vgl. dazu Hagen Keller: Reichsstruktur und Herrschaftsauffassung in ottonisch-frühsalischer Zeit, in: Frühmittelalterliche Studien 16 (1982), S. 74 – 128, hier S. 90 u. 117. 77 Vgl. dazu Caspar Ehlers: Ein peripheres Zentrum? Zur Funktion Niederlothringens für das deutsche Königtum bis 1250, in: Lieven u. a. 2014 (wie Anm. 37), S. 29 – 52 sowie Zotz 1997 (wie Anm. 63), S. 358 – 362. 78 Vgl. dazu oben S. 165. 79 Vgl. Joseph Milz: Pfalz und Stadt Duisburg, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 120 (1984), S. 135 – 154 sowie Günter Krause. Die Duisburger Königspfalz, in: Lieven u. a. 2014 (wie Anm. 37), S. 107 – 131.

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häufiger ist der Königshof dann ab 945 in Duisburg anzutreffen, wobei für Otto I. zwei Aufenthalte belegt sind. Demgegenüber besuchte Otto II. dreimal die Pfalz in Duisburg, und zwar sehr regelmäßig über seine gesamte Herrschaftszeit verteilt, während Otto III. nach 983 innerhalb weniger Jahre insgesamt vier Mal die Duisburger Pfalz aufsuchte.80 Für die Durchsetzung der ottonischen Herrschaftsansprüche auf Lotharingien und die Bewältigung der durch Heinrich den Zänker ausgelösten Krise sind vor allem die beiden Aufenthalte der Jahre 985 und 986 bedeutsam. Zum Besuch des Duisburger Hoftags im Jahr 985, auf dem unter anderem ein Bündnis ­zwischen den Ottonen auf der einen und den Kapetingern auf der anderen Seite zustande gebracht werden sollte, waren zahlreiche Magnaten Lotharingiens geladen. Darüber hinaus wird man auch mit der Anwesenheit Gerberts von Aurillac zu rechnen haben, den Theophanu gebeten hatte, ihr über seine diplomatischen Aktivitäten im Westfränkischen Reich zu berichten. Anwesend waren außerdem Egbert von Trier und Notger von Lüttich. Nachgewiesen ist ferner die Teilnahme von Beatrix, der Schwester des späteren westfränkischen Königs Hugo Capet und Witwe Herzog Friedrichs, die für ihren Sohn Dietrich Ansprüche auf die lotharingische Herzogswürde aufrechterhielt und mit ihrem Bruder im Westfränkischen Reich in engem Kontakt stand.81 Wie die Anwesenheit Erzbischof Egberts von Trier nahelegt, der zu Beginn des Thronstreits Heinrich den Zänker unterstützte und ihn allem Anschein nach unter Wahrung der Interessen Ottos III . zum „consors regni “ machen wollte,82 hat man in Duisburg wohl auch den folgenden Hoftag in Frankfurt vorbereitet, der am 20. Juni stattfand und auf dem sich Heinrich der Zänker endgültig mit Theophanu aussöhnte.83 Glaubt man Thietmar von Merseburg, so war für die Vermittlung des Friedens ein nicht näher bezeichneter Graf namens Hermann („Herimanni comitis consilio“ ) verantwortlich,84 hinter dem man vielleicht den gleichnamigen lotharingischen Pfalzgrafen Hermann Pusillus vermuten darf, dessen Nachfahren noch bis um die Mitte des 11. Jahrhunderts über Duisburg verfügten.85 80 Vgl. hierzu die Zusammenstellung der Belege bei Günther Binding: Archäologisch-historische Untersuchung zur Frühgeschichte Duisburgs (Duisburger Forschungen, Beihefte Bd. 12), Duisburg 1969, S. 20 f. 81 Regesta Imperii, Bd. II/3, Nr. 967b u. 969b (Regesta Imperii online). 82 Vgl. hierzu Franz-Reiner Erkens: In tota cunctis gratissimus aula? Egbert von Trier als Reichsbischof, in: Egbert. Erzbischof von Trier 977 – 933. Gedenkschrift der Diözese Trier zum 1000. Todestag, hg. v. Franz J. Ronig (Trierer Zeitschrift, Beiheft 18), 2 Bde., Trier 1993, Bd. 2, S. 37 – 52, hier S. 42 – 47. 83 Regesta Imperii, Bd. II/3, Nr. 969l (Regesta Imperii online). – Zur Einordnung der Ereignisse, wie sie die Annales Quedlinburgenses (wie Anm. 12), S. 474 f. (ad a. 985) schildern, vgl. Gerd Althoff: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 109 – 111. 84 Chronik des Bischofs Thietmar (wie Anm. 1), lib. IV, cap. 8, S. 140. 85 Fundatio monasterii Brunwilarensis (wie Anm. 37), cap. 13, S. 167 f. – Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Heinrich II. und Köln. Die Gründung von Kloster Deutz im (kunst)historischen Kontext, in: Herrschaftslandschaft im Umbruch. 1000 Jahre Merseburger Dom, hg. v. Andreas Ranft und Wolfgang

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Nach dem Tod König Lothars von Westfranken, erforderte es die politische Lage an der Westgrenze des Reiches, nochmals mit den Großen Lotharingiens zusammenzukommen, um zu beraten. Aus ­diesem Grund wurde Ende November 986 erneut ein Hoftag nach Duisburg einberufen. Als Teilnehmer d ­ ieses Hoftags sind unter anderen Notger von Lüttich, Folkmar von Utrecht und Rothard von Cambrai urkundlich bezeugt. Aus dem Westfränkischen Reich erschien zudem eine Abordnung des Klosters Saint-Remi in Reims, für das Otto III. eine Urkunde ausfertigen ließ.86 Darüber hinaus scheinen Botschaften des Erzbischofs Adalbero von Reims und auch König Ludwigs V. von Westfranken am Hof der Ottonen eingetroffen zu sein, worauf Theophanu den Entschluss gefasst haben muss, mit dem westfränkischen König in Verhandlungen einzutreten.87 Auch die beiden zum Jahr 985 und 987 nachweisbaren Aufenthalte des ottonischen Hofes in Nijmegen,88 das von Duisburg aus per Schiff über den Rhein in kurzer Zeit gut zu erreichen war, sind fraglos als Reaktion auf die Ansprüche zu verstehen, die König Lothar und sein Sohn Ludwig V. auf Lotharingien geltend machten. Zweifelsohne sollten auch sie zur Sicherung der ottonischen Herrschaft im regnum Lotharii beitragen, in dem zur fraglichen Zeit die häufige Präsenz Theophanus und Ottos III . sicher kein Zufall war.89 Die Pfalz Nijmegen, die im Jahr 881 von den Normannen niedergerbrannt wurde, beschreibt Regino von Prüm zu Beginn des 10. Jahrhunderts als „palatium ingentis magni­tudinis mirique operis“, als außerordentlich großes und wunderbares Bauwerk.90 In ottonischer Zeit lassen sich hier für Otto I. drei Besuche belegen. Dagegen kam Otto II . nachweislich fünfmal nach Nijmegen – ebenso wie Otto III . auch. Theophanu besuchte die Pfalz sogar insgesamt achtmal.91 Einschließlich der Aufenthaltsbelege für Köln bestätigt sich vor ­diesem Hintergrund erneut, was schon vor längerer Zeit Hagen Keller deutlich gemacht hat: dass nämlich die drei Ottonen einen der Schwerpunkte ihrer Herrschaftsausübung am Niederrhein besaßen und sie mit ihrem Hof ­zwischen dem nördlichen Rheinland und anderen Schwerpunktregionen des Reiches – wie etwa Sachsen und Rheinfranken – regelmäßig hin und

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Schenkluhn (more romano. Schriften des Europäischen Romanik Zentrums, Bd. 6), Regensburg 2017, S. 79 – 112, hier S. 106 f., Anm. 31. MGH D OIII, Nr. 28. Reg. Imp. II/3, Nr. 984b, 985 u. 986b (Regesta Imperii online). Reg. Imp. II/3, Nr. 974 f. sowie Nr. 990 u. 990b (Regesta Imperii online). Vgl. dazu die Übersicht bei Wolf 2012 (wie Anm. 59), S. 28 – 33. Reginonis Chronicon (wie Anm. 24), S. 117 (ad a. 881). Vgl. hierzu die Zusammenstellung der Herrscheraufenthalte bei Bert Thissen: Die Königspfalz Nimwegen. Funktion, Topographie, Ausstattung, in: Lieven u. a. 2014 (wie Anm. 37), S. 53 – 106, hier S. 71 – 73 sowie Bert Thissen: The palace of Nijmegen in the tenth and early eleventh centuries, in: The empress Theophanu. Byzantium and the West at the turn of the first millennium, hg. v. Albert Davids, Cambridge 1995, S. 265 – 289, hier S. 268 u. 282.

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her zogen.92 Sieht man von den bloßen Zahlen ab, so ist über die Summe der einzelnen Herrscheraufenthalte hinaus noch auf einen weiteren Sachverhalt aufmerksam zu machen: Auf den Aspekt der Herrschaftsrepräsentation nämlich, der mit Blick auf Köln schon durch die wiederholte Feier des Weihnachtsfestes sofort ins Auge sticht. Die Besuche des Hofes in Duisburg und Nijmegen zeichnen sich hingegen nicht durch die Anwesenheit des Herrschers an hohen kirchlichen Festtagen aus, sondern durch öffentlich vollzogene Privilegierungsakte 93 und – damit verbunden – die Inszenierung der königlichen Huld in einer Zeit akuter Bedrohung von außen.94 Dies gilt insbesondere, wenn Otto III . 985 in Nijmegen der Abtei Kornelimünster bei Aachen unter anderem das „privilegium“ der freien Abtswahl „tam a piissimo genitore nostro quam a ceteris predecessoribus nostris regibus vel imperatoribus actenus concessum“ bestätigte und sich damit in die Tradition nicht nur seiner Vorfahren, sondern seiner gesamten Vorgänger im Herrscheramt setzte. 95 Seinen Anspruch auf Lotharingen demonstrierte Otto III . dann noch einmal Ende November 986 im Rahmen eines Privilegierungsaktes, als er in Duisburg dem westfränkischen Kloster Saint-Remi die Privilegien seines Vaters, insbesondere den Besitz der in Lotharingien gelegenen Abtei Meerssen bestätigte und damit auch gegenüber einem westfränkischen Urkundenempfänger die Wirksamkeit der königlich-ostfränkischen Autorität im Raum ­zwischen Rhein, Maas und Mosel bekräftigte.96 In die ­gleiche Richtung deuten Gunsterweise Ottos III. für lotharingische Große. So etwa ein Privileg für den friesischen Grafen Dietrich, den Vater Erzbischof Egberts von Trier,97 das der König nach der Aussöhnung mit Heinrich dem Zänker in Frankfurt anlässlich seines 92 Vgl. Keller 1982 (wie Anm. 76), S. 90 und Eckehard Müller-Mertens: Die Reichsstruktur im Spiegel der Herrschaftspraxis Ottos des Großen (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, Bd. 25), Berlin 1980, S. 148 – 158. 93 Vgl. Arnold Angenendt: Cartam offere super altare. Zur Liturgisierung von Rechtsvorgängen, in: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002), S. 133 – 158. 94 Vgl. zum Folgenden Hagen Keller: Hulderweis durch Privilegien. Symbolische Kommunikation innerhalb und jenseits des Textes, in: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 309 – 321 sowie auch Althoff 1997 (wie Anm. 83), S. 199 – 228. 95 MGH D OIII, Nr. 18. – Für das Kloster Stablo-Malmedy stellte Otto III. 987 in Nijmegen ein vergleichbares Präzept aus (MGH D OIII, Nr. 33). 96 MGH D OIII, Nr. 28. 97 Zur Herkunft Egberts vgl. Gesta Treverorum, hg. v. Georg Waitz (MGH SS 8), Hannover 1848, cap. 29, S. 169 (mit Anmerkungsapparat) und Liber sancti Adalberti, hg. v. Otto Oppermann (Fontes Egmundenses), Utrecht 1933, S. 69 (Grafenregister). – Vgl. insgesamt auch Karl Schmid: Neue Quellen zum Verständnis des Adels im 10. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 108 (1960), S. 185 – 232, hier S. 210 f. – Egon Boshof: Königtum und adlige Herrschaftsbildung am Niederrhein im 9. und 10. Jahrhundert, in: Königtum und Reichsgewalt am Niederrhein (Klever Archiv, Bd. 4), hg. v. Klaus Flink und Wilhelm Janssen, Kleve 1983, S. 9 – 40, hier: S. 27 – 29. – Richard Laufner: Die Vorfahren des Trier Erzbischofs Egbert und ihre Herkunft. Ein Beitrag zur Sozial- und Familiengeschichte des 9. und 10. Jahrhunderts, in: Ronig 1993 (wie Anm. 82), S. 103 – 109.

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Sommeraufenthalts in Nijmegen 985 ausfertigen ließ. Darin verfügte er über Besitz des Grafen, den dieser ursprünglich vom König zu Lehen hielt, den der Herrscher nun aber in Eigengut Dietrichs umwandelte.98 Damit verhielt sich Otto III. nicht nur demonstrativ großzügig und freigebig einem Vasallen gegenüber, sondern agierte zugleich auch als Lehnsherr und Herrscher, dessen Autorität von den Großen des regnum Lotharii nicht infrage gestellt wurde.

* Eine Urkunde, die Otto III. 987 in Andernach ausstellte, ist mit Blick auf die demonstrative Ausübung der Königsgewalt ähnlich zu bewerten, besitzt aber hinsichtlich der recht­lichen Verfügung, die in dem Diplom festgehalten wird, einen anderen Charakter. Die Rede ist von einer Königsurkunde für das Frauenstift Vilich,99 womit zugleich das Verhältnis Theophanus und Ottos III . zu den geistlichen Gemeinschaften im Raum ­zwischen Rhein, Maas und Mosel angesprochen ist. Das Herrscherprivileg gibt an, dass die Gründung der Gemeinschaft durch den „nobilis vir“ Megingoz und seine Frau Gerberga „patris nostri Ottonis imperatoris augusti auctoritas consensu“ erfolgt sei. Beide hätten das Stift nunmehr ­ utter, zahlreicher Otto III . tradiert und seinem Schutz anvertraut. Auf den Rat seiner M Bischöfe und anderer weltlicher Großer habe dieser dem Stift daraufhin die ­gleiche libertas verliehen wie den Stiften Quedlinburg, Gandersheim und Essen.100 Über den „nobilis vir“ Megingoz ist kaum etwas bekannt. In der Vita seiner Tochter Adelheid,101 der ersten Äbtissin des Stifts Vilich, wird er als „comes illustris“ bezeichnet.102 Außer in der Vita Adelheidis ist für ihn der Grafentitel nur noch einmal zum Jahr 996 in einer Urkunde Papst Gregors V. belegt,103 weshalb unklar ist, ob er tatsächlich jemals Grafenrechte ausgeübt hat. Ungeachtet dessen dürfte Megingoz zeitlebens aber nicht ohne politischen Einfluss gewesen sein. Immerhin war seine Gemahlin Gerberga die Tochter des lotharingischen Pfalzgrafen Gottfried und damit zugleich auch die Nichte Erzbischof Wichfrieds von Köln, so dass sie weiter als Cousine Ottos I. und Enkelin Karls III . (des Einfältigen) von Westfranken angesprochen werden kann.104 In der Auseinandersetzung 98 MGH DO III., Nr. 19. 99 Vgl. hierzu und zum Folgenden Helga Giersiepen: Das Kanonissenstift Vilich von seiner Gründung bis zum Ende des 15. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, Bd. 53), Bonn 1993, S. 44 f. 100 MGH D OIII, Nr. 32. 101 Vgl. zuletzt Dominik Wassenhoven: Sancta mater. Entstehungsumstände und Darstellungsabsichten der Vita Adelheidis von Villich, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 85 (2021), S. 37 – 61. 102 Vita Adelheidis. Das Leben der heiligen Adelheid von Vilich, lateinisch-deutsch, bearb. v. Heinz Piesik, Bonn 2003, cap. 3, S. 23. 103 Papsturkunden, Bd. 2: 996 – 1046, hg. v. Harald Zimmermann (Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Bd. 177, Veröffentlichungen der Historischen Kommission, Bd. IV), Wien 21989, Nr. 326. 104 Vgl. Letha Böhringer: Der ­Kaiser und die Stiftsdamen. Zur Gründung des Frauenstifts Vilich im Spannungsfeld von religiösem Leben und adliger Welt, in: Bonner Geschichtsblätter 53/54 (2004),

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Ottos I. mit seinem jüngeren Bruder Heinrich stand Megingoz auf der Seite des späteren Bayernherzogs. Nachdem die Empörung Heinrichs gescheitert war, verlor auch der „nobilis vir“ Megingoz seine Eigengüter, wurde aber 944 auf Intervention Heinrichs wieder in die Huld Ottos I. aufgenommen und erhielt seine Besitzungen zurück.105 Erste Schritte zur Gründung des Stifts Vilich müssen noch zu Lebzeiten Ottos II. erfolgt sein. Glaubt man der Vita Adelheidis, dann fiel nämlich Gottfried, der einzige Sohn des Gründerpaars, im Kampf während des Böhmenfeldzugs, zu dem der K ­ aiser im Jahr 976/77 aufgebrochen war. Unter dem Eindruck seines Todes, so wird in der Vita weiter berichtet, bestimmten die Eltern für jenen Besitz, der bei einer Erbteilung normalerweise ihrem Sohn zugefallen wäre, Gott als Erben, um dann in Vilich eine neue K ­ irche zu errichten und sie in angemessener Weise auszustatten. Von der Übergabe des Stifts an Otto III. erhofften sie sich immerwährenden königlichen Schutz für ihre Gründung,106 mit dem der König schon bald den lotharingischen Pfalzgrafen beauftragt haben könnte. Jedenfalls dürfte es kein Zufall sein, dass das Kloster Vilich spätestens Anfang des 11. Jahrhunderts in der Ver­ fügungsgewalt der Ezzonen begegnet. Ein in vielerlei Hinsicht ähnlich gelagerter Fall zeichnet sich weiter nördlich mit Blick auf das Frauenstift Elten in der Nähe von Emmerich ab. Wie der Actumort der Restitutionsurkunde für Megingoz zu erkennen gibt, besuchte Otto I. schon im Jahr 944 Eltnon,107 das zu ­diesem Zeitpunkt aber noch keine geistliche Frauengemeinschaft beherbergte, sondern dem Hamalandgrafen Wichmann und seiner Familie als Residenz diente.108 Nach Alpert von Metz war Wichmann ausgesprochen reich („ditissmimus“ ) und von höchstem Adel („longe nobilissimus“ ); seine Vorfahren sollen weite Teile des rechtrheinischen Reichsgebiets („Germania“ ) unter ihrer Kontrolle gehabt haben, insbesondere die Küstenregion.109 Die Gemahlin des Grafen mit Namen Liudgart lässt sich mit der Tochter Graf Arnulfs von Flandern identifizieren, die sich der Genealogia Arnulfi comitis zufolge karolingischer Herkunft rühmen konnte.110 Überdies begegnen Wichmanns Vorfahren gegen Ende des 9. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der S. 57 – 77, hier S. 64 f. sowie Severin Corsten: Megingoz und Gerberga, Gründer des Stifts Vilich, in: Bonner Geschichtsblätter 30 (1978), S. 7 – 25, hier S. 14 – 20. 105 MGH D OI, Nr. 59. 106 Vita Adelheidis (wie Anm. 102), cap. 3, S. 26 f. u. 29. 107 Vgl. oben Anm. 105. 108 Zu den archäologisch nachgewiesenen repräsentativen Palast- und Wohngebäuden vgl. Günther Binding / Walter Janssen / Friedrich K. Jungklaass: Burg und Stift Elten am Niederrhein. Archäologische Ausgrabungen der Jahre 1964/65 (Rheinische Ausgrabungen, Bd. 8), Düsseldorf 1970, S. 52 – 61. 109 Alpertus Mettenis. De diversitate temporum et Fragmentum de Deoderico primo episcopo Mettensi, hg. v. Hans van Rij und Anna Sapir Abulafia, Amsterdam 1980, lib. I, cap. 1, S. 8. 110 Vgl. zur Genealogia Eckhard Freise: Die Genealogia Arnulfi comitis des Priesters Witger, in: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989), S. 203 – 243.

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Normannenabwehr und lassen sich insofern der adligen Führungsschicht des Ostfränkischen Reiches zuordnen.111 Die Eltener Frauenkommunität begegnet 968 zum ersten Mal,112 und zwar in einem Diplom, mit welchem Otto der Große dem „monasterium“ das an den Grafen Wichmann zu Lehen gehende Königsgut im Saalland, Naardingerland und im Hamaland zur freien Verfügung der Äbtissin tradierte, damit es zum Nutzen des Stifts und der Schwestern verwendet würde.113 Auf Bitten Wichmanns bestätigte Otto I. die Schenkung zugunsten der Erlöser- und St. Vitus-Kirche auf dem Eltenberg nochmals im Jahr 970.114 973 ist es sodann Otto II., welcher dem Stift unter der Leitung der Äbtissin Liudgard, der Tochter Wichmanns, denselben königlichen Schutz gewährte wie auch den „monasteria“ in Quedlinburg, Essen und Gandersheim. Darüber hinaus verlieh er ihm – ähnlich wie im Fall Vilichs – Immunität und – darüber hinaus – das Recht, mit Zustimmung des Bischofs von Utrecht die Äbtissin frei wählen zu dürfen.115 Nach dem Tod des Hamalandgrafen kam es ­zwischen Liudgard und ihrer Schwester Adela – die beiden Söhne Wichmanns waren bereits im Kindesalter vor Gründung des Stifts gestorben 116 – zum Streit um das Erbe. Der Konflikt ließ sich zur Zeit Ottos II . nicht aus der Welt schaffen, sondern eskalierte. Er kulminierte in einer gewaltsamen Auseinandersetzung, die Liudgard am Ende mit ihrem Leben bezahlt haben könnte, während Adela – unterstützt durch ihren Gemahl Balderlich – den Eltenberg besetzte und sich des gesamten Stiftsbesitzes bemächtigte.117 Auf einem Hoftag zu Nijmegen kam es deshalb Ende 996 zu einem „colloquium“ der Großen, welches Otto III . zum Anlass nahm, dem Stift erneut dieselbe Freiheit wie Essen, Quedlinburg und Gandersheim zu gewähren.118 111 Vgl. dazu im Einzelnen Friedrich Wilhelm Oediger: Adelas Kampf um Elten, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 155/56 (1954), S. 67 – 85. – Anna Wirtz: Die Geschichte des Hamalandes, in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 173 (1971), S. 7 – 83. – Johanna Maria van Winter: Die Hamaländer Grafen als Angehörige der Reichsaristokratie, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 44 (1980), S. 16 – 46. 112 Vgl. hierzu und zum Folgenden Uwe Ludwig: Graf Wichmann von Hamaland und die Gründung des Frauenstifts Elten, in: Herrschaft, Liturgie und Raum. Studien zur mittelalterlichen Geschichte des Frauenstifts Essen (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 1), hg. v. Thomas Schilp und Katrinette Bodarwé, Essen 2002, S. 81 – 100. 113 MGH D OI, Nr. 358. 114 MGH D OI, Nr. 397. 115 MGH D OII, Nr. 67. 116 Vgl. Binding 1970 (wie Anm. 108), S. 83. 117 De diversitate temporum (wie Anm. 109), lib. I, cap. 3, S. 12 f. – Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Thorsten Fischer: Probleme um Adela und Balderich. Zur Geschichte eines niederrheinischen Grafenpaares um 1000, in: Mittelalter an Rhein und Maas. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins. Dieter Geuenich zum 60. Geburtstag, hg. v. Uwe Ludwig und Thomas Schilp (Studien zur Geschichte und Kultur Westeuropas, Bd. 8), Münster 2004, S. 87 – 106, hier: S. 92 – 95. 118 MGH D OIII, Nr. 235.

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Wie der Urkunde weiter zu entnehmen ist, musste Balderich bei dieser Gelegenheit die im Auftrag Adelas beschlagnahmten Güter an das Stift zurückgeben. Allerdings scheint dies keine vollständige Restitution der Eltener Frauengemeinschaft gewesen zu sein, sondern eher eine Güterteilung, bei der auch Adelas Ansprüche auf ein angemessenes Erbe Berücksichtigung fanden.119 Man sieht am Beispiel Eltens und Vilichs, dass Theophanu und Otto III. nahtlos an die bereits zuvor geübte Praxis anknüpften, die Gründung geistlicher Gemeinschaften in Lotharingien von Seiten des Königtums maßgeblich dann zu unterstützen, wenn die Voraussetzungen für die Ausbildung einer Adelsherrschaft durch die Gründer der betreffenden Kommunitäten nicht mehr gegeben waren. Das heißt, der König griff immer dann ein, wenn die Söhne der Gründer als präsumtive Nachfolger beispielsweise im Amt des Grafen ausfielen, weil sie vorzeitig der Tod ereilt hatte.120 Nach dem Muster sächsischer Reichsstifte übernahm in einem solchen Fall schon unter Otto I. der König den Kirchenschutz einer Gemeinschaft und wandelte sie damit einschließlich ihrer Rechts- und Besitztitel in Reichskirchengut um. Weil d ­ ieses der Oberaufsicht des Herrschers unterstand, wurde damit nicht nur die Verdichtung königlicher Rechte in einer bestimmten Region erreicht, sondern zugleich auch die Präsenz der Reichsgewalt erhöht.

* Eine andere Form der Präsenz stellt die Vergegenwärtigung des Herrschers und seiner Familie im Gebetsgedenken geistlicher Gemeinschaften dar, wie sie sich beispielsweise im Necrolog des St. Viktor-Stifts Xanten spiegelt. Die erste Eintragsschicht des Totenbuchs, das Mitte des 11. Jahrhunderts nach älterer Vorlage neu angelegt wurde,121 verzeichnet zahlreiche Angehörige der Ottonen: Heinrich I. (2. Juli), Edgith, die erste Gemahlin Ottos des G ­ roßen (26. Januar), seinen Sohn Liudolf (6. September) sowie seine beiden Töchter Liutgart (17. November) und Mathilde, die Äbtissin von Quedlinburg (8. Februar); darüber hinaus Otto I. selbst (6. Mai), seinen Bruder, den Kölner Erzbischof Brun (10. Oktober), Otto II. (7. Dezember), Otto III. (25. Januar) und Theophanu (15. Juni).122

119 Vgl. Oediger 1954 (wie Anm. 111), S. 227 f. sowie 231 – 235. 120 Ein weiteres prominentes Beispiel wäre die Gründung des Klosters Gladbach. – Vgl. dazu Ernst Brasse: Die Gründung der Abtei Gladbach, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 93 (1912), S. 140 – 176. 121 Vgl. dazu Dieter Geuenich / Heinz Tittel: Das mittelalterliche Totengedenken im Stift Xanten, in: Xantener Vorträge zu Geschichte des Niederrheins 1996 – 1998, Duisburg 1998, S. 129 – 162, hier: S. 140 – 145. sowie die Beschreibung der Handschrift bei Eef Overgauw: Die mittelalterlichen Handschriften der Universitäts- und Landesbibliothek Münster. Wiesbaden 1996. S. 66 – 69. 122 Das älteste Totenbuch des Stiftes Xanten (Die Stiftskirche des heiligen Viktor zu Xanten, Bd. II,3), hg. v. Friedrich Wilhelm Oediger, Kevelaer 1958.

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Ordnet man die Einträge chronologisch, so liegt der Schwerpunkt des Gedenkens, das sich signifikant von den zahlenmäßig überschaubaren Einträgen für die im Xantener Necrolog verzeichneten Herrscher der Karolingerzeit unterscheidet,123 in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Das heißt, man wird ungefähr seit 950 eine gewisse Verbundenheit des Viktor-Stifts mit den ottonischen Königen voraussetzen dürfen, zumal die Vergegenwärtigung der verstorbenen Herrscher zum Zweck des Gebetsgedenkens im Rahmen von Messe und Liturgie eine eminent soziale Komponente besaß.124 Worauf indes das lückenlose Herrschergedenken für die ottonischen Könige und einen Teil ihrer Familie in Xanten zurückzuführen ist, lässt sich nicht restlos klären. Ausschließen kann man immerhin, dass die Ottonen dort selbst mithilfe von Stiftungen für das Heil ihrer Seele Vorsorge treffen wollten. Anzunehmen ist deshalb, dass die Memoria für die ottonischen Herrscher und ihre Verwandten durch die Erzbischöfe von Köln im Rahmen des servitum regis und vor dem Hintergrund ihrer Verbundenheit mit der Hofkapelle vermit­ iesem Zusammenhang der Umstand, dass die Kölner telt wurde.125 Nicht unwichtig ist in d Oberhirten zugleich auch Kirchenherren des St. Viktor-Stifts waren und als s­ olche – wie schon die Quellen der Karolingerzeit erkennen lassen – den Lebensunterhalt der Kanoniker und den Schutz der K ­ irche zu verantworten hatten.126 Bereits 866 wird die Xantener Stiftskirche in einer Reihe mit St. Cassius und Florentius in Bonn sowie mit St. Gereon, St. Severin, St. Kunibert und St. Ursula in Köln genannt,127 so dass dem Viktor-Stift schon im 9. Jahrhundert eine über Xanten hinausweisende Bedeutung zugekommen sein dürfte. Allem Anschein nach hat sich der Stellenwert des Stifts für die Kölner Erzbischöfe dann aber noch einmal erhöht, nachdem Otto der Große seinen Bruder Brun zum Kölner Metropoliten hatte erheben lassen, um ihn sodann als provisor und archidux nach Lotharingien zu entsenden und ihm in ­diesem Zusammenhang die negotia regni apud Lotharios“ zu übertragen.128 123 Totenbuch des Stiftes Xanten (wie Anm. 122). Verzeichnet sind lediglich zwei karolingische Herrscher, und zwar zum 14. Januar Karl der Große und zum 13. August König Zwentinbold. 124 Vgl. dazu grundlegend Otto Gerhard Oexle: Die Gegenwart der Toten, in: Death in the Middle Ages, hg. v. Herman Braet und Werner Verbeke (Mediaevalia Lovaniensia, Bd. 1/9), Löwen 1983, S. 19 – 77 sowie Arnold Angenendt: Theologie und Liturgie der mittelalterlichen Toten-Memoria, in: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hg. v. Karl Schmid und Joachim Wollasch (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 48), München 1984, S. 79 – 199. 125 Vgl. Jens Lieven: Aspekte ottonischer Memoria im St. Victor-Stift Xanten. Goldene Altartafel und Xantener Necrolog (Cod. Monast. 101), in: Beiträge zur Geschichte des Rhein-Maasraumes. Dieter G ­ euenich zum 65. Geburtstag, hg. v. Thorsten Fischer und Jens Lieven, Köln 2010, S. 33 – 54, hier S. 47 – 53. 126 Vgl. dazu schon Friedrich Wilhelm Oediger: Monasterium beati Victoris martyris. Zur Frühgeschichte des Xantener Stiftskapitels (vor 1300), in: Rheinische Ausgrabungen 6 (1969), S. 207 – 267, hier S. 109 – 211. – Vgl. dazu auch Ingo Runde: Xanten im frühen und hohen Mittelalter. Sagentradition, Stiftsgeschichte, Stadtwerdung (Rheinisches Archiv, Bd. 147), Köln 2003, S. 257 f. u. 298 f., der insbesondere die ereignisgeschichtlichen Aspekte hervorhebt. 127 MGH D LII, Nr. 25. 128 Ruotgers Lebensbeschreibung des Erzbischofs Bruno (wie Anm. 46), cap. 22, S. 23.

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Im Westen des Xantener Stiftsbezirks verfügten die Kölner Erzbischöfe über eine eigene Pfalz, deren Reste vor und bald nach dem Zweiten Weltkrieg in mehreren Grabungskampagnen archäologisch untersucht worden sind.129 Anhand weitreichender Übereinstimmungen in der Bautechnik konnte Hugo Borger sowohl für den östlichen Teil der Xantener Stiftskirche, der wahrscheinlich im Jahr 967/68 geweiht wurde,130 als auch für den Wohnturm der bischöflichen Pfalz einschließlich seiner Umfassungsmauer die ­gleiche Bauhütte ausmachen.131 Aus ­diesem Grund kann die Errichtung der Bischofspfalz ähnlich wie die der ottonischen Stiftskirche ungefähr auf das dritte Viertel des 10. Jahrhunderts datiert und zeitlich vielleicht noch mit dem Pontifikat Bruns von Köln in Verbindung gebracht werden, der – wie Ruotger in der Vita Brunonis schreibt – die Wiederherstellung und Erweiterung von K ­ irchen, die Translation von Reliquien sowie nicht zuletzt auch den Bau einer Vielzahl privater und öffentlicher Gebäude veranlasst haben soll.132 Wenn auch vermutlich nicht die Pfalz als Ganzes, so könnte Brun vielleicht doch noch die ersten planerischen Schritte zur Errichtung der Xantener Anlage angestoßen und erste Baumaßnahmen eingeleitet haben. Immerhin stand er in engen Beziehungen zur dortigen Kanonikergemeinschaft, der er ein heute verlorenes goldenes Altarantependium, die Goldene Altartafel von Xanten, stiftete.133 Darüber hinaus bedachte er das Viktor-Stift in seiner letztwilligen Verfügung mit allerhand Pretiosen sowie mit Gold und Silber zur Ausstattung der Stiftskirche, die um 1000 in der Passio Gereonis als „elegantissima sancti Victoris basilica“ gerühmt wird.134 Wie mithilfe der Archäologie nachgewiesen werden konnte, bestand die Xantener Pfalzanlage des 10. Jahrhunderts aus einem ganzen Ensemble verschiedener Gebäude. Zum „atrium noster“, wie Erzbischof Heinrich II. von Köln noch zu Beginn des 14. Jahrhunderts 129 Vgl. hierzu und zum Folgenden Hugo Borger: Beiträge zur Frühgeschichte des Xantener Viktorstiftes. Ausgrabungen unter dem Dom und in der Stifts-Immunität in den Jahren 1961 – 1966 (Vorbericht III), Düsseldorf 1969, S. 175 – 185. sowie zusammenfassend Walter Bader: Bischofshof, Bischofsburg, Bischofspfalz, in: Studien zur Geschichte der Stadt Xanten 1228 – 1978. Festschrift zum 750jährigen Stadtjubiläum, Köln 21983 (OA 1978), S. 57 – 68, S. 66 f. – Zu den Ausgrabungen zuletzt Thomas Otten: Die Ausgrabungen unter St. Victor zu Xanten. Dom und Immunität (Rheinische Ausgrabungen, Bd. 53), 2 Bde, Mainz 2003. 130 Regesten der Erzbischöfe von Köln (wie Anm. 54), Nr. 489 f. – Vgl. dazu auch Friedrich Wilhelm Oediger: Die Weihe des ottonischen Kirchenbaus von St. Viktor in Xanten, in: Xantener Domblätter 3/2 u. 4 (1952), S. 70. 131 Borger 1969 (wie Anm. 129), S. 184. 132 Ruotgers Lebensbeschreibung des Erzbischofs Bruno (wie Anm. 46), cap. 21, S. 22. 133 Vgl. Anna Pawlik: Im Angesicht der Autoritäten. Die Goldene Altartafel des Xantener Viktorstifts im Kontext frühmittelalterlicher Altarstiftungen, in: Das St. Viktor-Stift Xanten. Geschichte und Kultur im Mittelalter, hg. v. Dieter Geuenich und Jens Lieven (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein, N. F., Bd. 1), Köln 2012, S. 59 – 80. 134 Passio sanctorum Gereonis, Victoris, Cassii et Florentii Thebaeorum martyrum, in: Helinandi frigidi montis monachum, necnon Guntheri Cisterciensis. Opera omnia (Patrologiae Latinae, Bd. 212), hg. v. Jacques Paul Migne, Paris 1855, Sp. 766.

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das Areal bezeichnete,135 das sich über den gesamten Westen der Xantener Stiftsimmunität erstreckte, gehörte ein Wohngebäude in Gestalt eines mächtigen (Wohn-)Turms zur standesgemäßen Unterbringung der Erzbischöfe und ihrer engsten Umgebung. Im Norden schloss sich daran eine langestreckte Aula an, in welcher die Kölner Oberhirten mutmaßlich Recht sprachen, Hoftage abhielten und auswärtige Würdenträger empfingen. In unmittelbarer Nachbarschaft zur „aula episcopi“ 136 befand sich sodann ein Gebäude mit rechteckigem Chor, das als eine Kapelle, als ein privates Oratorium der Kölner Metropoliten anzusprechen sein dürfte. Noch weiter im Norden vermutete Walter Bader sodann Wohnhäuser der bischöflichen Ministerialen und des Personals.137 Die solchermaßen zu rekonstruierende, großzügig bemessene Anlage macht deutlich, dass sie durchaus auch repräsentativen Ansprüchen genügt haben dürfte. Um 960 begonnen, scheint sie das Selbstverständnis der Kölner Erzbischöfe nicht nur als Kirchenherren, sondern auch als Vertraute und Helfer der ottonischen Könige mit engsten Beziehungen zur Hofkapelle 138 zum Ausdruck zu bringen. Dem entspricht die Aufnahme der ottonischen Herrscher in das Gebetsgedenken der Xantener Kanonikergemeinschaft, das durchaus auch politische Effekte gezeitigt und – nicht zuletzt in Zeiten der Krise – als stabilisierender Faktor für die Herrschaft der Ottonen über das regnum Lotharii gewirkt haben dürfte.139 Auf das 10. Jahrhundert gehen schließlich auch Gedenkbeziehungen der Xantener Kanoniker mit dem Kloster St. Pantaleon in Köln zurück,140 welches sich der besonderen Förderung Bruns erfreute. 866 im Rahmen der Güterumschreibung des Kölner Erzbischofs Gunthar erstmals als „ecclesia sancti Pantaleonis“ erwähnt,141 war die ­Kirche schon im 9. Jahrhundert dem griechischen Arzt und Märtyrer geweiht. Im südwestlichen Vorfeld der Römermauer gelegen, stand es Mitte des 10. Jahrhunderts um das Gotteshaus allerdings nicht zum Besten. Wie Ruotger in der Vita Brunonis berichtet, nahm sich der Kölner Oberhirte der K ­ irche an, weil sie zu dieser Zeit völlig verwahrlost und dem Untergang nahe war („inculta adhuc et ruine proxima“ ).142 135 Urkundenbuch des Stiftes Xanten, Bd. 1: (vor 590)–1359, bearb. v. Peter Weiler (Veröffentlichungen des Vereins zur Erhaltung des Xantener Domes, Bd. 2), Bonn 1935, Nr. 408. 136 Urkundenbuch des Stiftes Xanten (wie Anm. 135), Nr. 44. 137 Vgl. Bader 1983 (wie Anm. 129), S. 66. 138 Vgl. Josef Fleckenstein: Die Hofkapelle der deutschen Könige. 2.Teil (Schriften der MGH, Bd. 16/ II ), Stuttgart 1966, S. 53 f., 124 u. 101 – 115. 139 Vgl. Wolfgang Wagner: Das Gebetsgedenken der Liudolfinger im Spiegel der Königs- und Kaiserurkunden von Heinrich I. bis Otto III., in: Archiv für Diplomatik 40 (1994), S. 1 – 78, hier S. 72 f. 140 Vgl. Jens Lieven: Monastische Reformen im Zeitalter des Investiturstreits und ihre Resonzanz im Rhein-Maasraum. Der Liber officii Capituli des St. Viktor-Stifts Xanten (Cod. Monast 101) und sein historischer Zeugniswert, in: Reformations and their Impact on the Culture of Memoria, hg. v. Truus van Bueren u. a. (Memoria and Remembrance Practices, Bd. 1), Turnhout 2016, S. 3 – 24, hier S. 6 f. 141 MGH D LII, Nr. 25. 142 Ruotgers Lebensbeschreibung des Erzbischofs Bruno (wie Anm. 46), cap. 27, S. 27 f.

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955 überbrachte Abt Hadamar von Fulda bei seiner Rückkehr aus Rom dem Erzbischof zusammen mit dem Pallium weitere Reliquien des Märtyrers Pantaleon, die der Kölner Oberhirte sodann an die K ­ irche des Heiligen weitergab und dort zugleich die Gründung eines Klosters in die Wege leitete. 964 war die Gründung mithilfe der Reformabtei St. Maximin vor Trier so weit fortgeschritten, dass ein Abt eingesetzt werden konnte. Mit seiner Einsetzung bestätigte Brun nochmals förmlich den Bestand der Klostergründung 143 und hob hervor, dass er wegen der täglichen Vergehen, die er in den Reichsgeschäften und wegen der Zeitverhältnisse („pro necessitate ac negotio regni proque qualitate temporis“ ) begehen müsse, eines Himmels inmitten der Stürme bedürfe.144 Das Gebet der Mönche von St. Pantaleon sollte also dem Seelenheil des Erzbischofs bereits zu dessen Lebzeiten dienen, so dass der in seiner letztwilligen Verfügung geäußerte Wunsch,145 dort auch bestattet zu werden, durchaus folgerichtig erscheint. Dazu passt schließlich auch, dass die Mönchsgemeinschaft von St. Pantaleon in Bruns letztem Willen mit großzügigen Legaten bedacht wurde und sein Testament mit der Bitte schließt, die solchermaßen Beschenkten mögen den Wohltäter und Freund in ihr Gebet einschließen.146 Das Kloster ist mithin als Grab- und Memorialkirche des Erzbischofs anzusprechen. An diese Funktion knüpfte Kaiserin Theophanu an, wenn sie die Intensivierung von Kult und Liturgie förderte. Bereits 976 – in dem Jahr, in dem sie zum ersten Mal das Weihnachtsfest in Köln feierte – hatte sie sich für ein prestigeträchtiges Privileg des Papstes verwendet, das dem Abt von St. Pantaleon gestattete, bischöfliche Insignien (Dalmatik und Sandalen) zu tragen.147 Einige Jahre ­später – möglicherweise im Frühsommer 990 – ließ sie sodann den sterblichen Überresten des heiligen Pantaleon Albinusreliquien hinzufügen, die sie von ihrem Italienzug aus Rom mit über die Alpen mitgebracht hatte.148 Der anonyme Mönch, der mindestens sechzig Jahre nach den Ereignissen den Translationsbericht verfasste, schreibt zu ihren Motiven: Sie habe dies getan, weil sie in St. Pantaleon ihre letzte Ruhestätte zu finden gedachte und nach ihrem Tod inmitten heiliger Gebeine den Jüngsten Tag zu erwarten 143 Vgl. Hans Joachim Kracht: Geschichte der Benediktinerabtei St. Pantaleon in Köln 965 – 1250 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 11), Siegburg 1975, S. 25 f. – Rudolf Schieffer: Erzbischof Bruno, Theophanu und die K ­ irche des Heiligen Pantaleon in Köln, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische K ­ irchen Köln 21 (2006), S. 25 – 32, hier S. 28. – Ubl 2022 (wie Anm. 62), S. 341 – 346. 144 Rheinisches Urkundenbuch. Ältere Urkunden bis 1100, Bd. 2, bearb. v. Erich Wisplinghoff (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Bd. 57), Düsseldorf 1994. Nr. 297. 145 Ruotgers Lebensbeschreibung des Erzbischofs Bruno (wie Anm. 46), cap. 48, S. 51. 146 Ruotgers Lebensbeschreibung des Erzbischofs Bruno (wie Anm. 46), cap. 49, S. 52. Vgl. dazu jetzt auch Ubl 2022 (wie Anm. 62), S. 345. 147 Rheinisches Urkundenbuch, Bd. 2 (wie Anm. 144), Nr. 300 („ob amorem imperatoris et petitionem imperatricis“ ). 148 Regesta Imperii, Bd. II/3 (wie Anm. 6), Nr. 1020c.

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wünschte.149 Bestätigt wird der Bericht durch die Annalen des Frauenstifts Quedlinburg, wo wenig ­später Adelheid, die Tochter Theophanus, Äbtissin wurde.150 Als die Kaiserin am 15. Juni 991 in Nijmegen starb, wurde ihr Leichnam in einem feierlichen Trauerzug mit Otto III. an der Spitze rheinaufwärts nach Köln geleitet. Wie ­Thietmar von Merseburg weiter schildert, setzte Everger ihre sterblichen Überreste sodann in „monasterio sancti Pantaleonis“ bei. Otto III. stattete den Konvent schließlich mit reichen Stiftungen für das Seelenheil seiner ­Mutter aus,151 so dass die Erinnerung an Theophanu und ihre Taten in Messe und Liturgie lebendig blieb. Der Albinusaltar und das Grab der Kaiserin waren konzeptionell aufeinander bezogen, bildenten topographisch vermutlich eine Einheit und befanden sich an prominenter Stelle im Westen des Gotteshauses, dort wo der Konvent bei feierlichen Prozessionen in die Abteikirche einzog und wo er seinen Gebetsdienst für verstorbene Freunde und Wohltäter praktizierte.152 St. Pantaleon avancierte damit von einer bischöflichen Grab- und Memorialkirche zu einem dynastischen Erinnerungsort der Ottonen,153 einem Mausoleum sozusagen, das mit den beiden dort Bestatteten, dem „archidux“ und der „imperatrix“, sinnbildlich für die Herrschaft der Ottonen über Lotharingien stand, sie sichtbar machte und für die Zukunft bewahrte, indem ihre steinernen Gräber die Zugehörigkeit des Raums z­ wischen Rhein, Maas und Mosel zum ostfränkischen Reich unmittelbar erfahrbar machten und ihr damit zugleich historisch begründete Rechtmäßigkeit verliehen.154 Flankiert wurde die solchermaßen evozierte Gegenwart der Ottonen auf lotharingischem Boden durch das liturgische Totengedenken des Klosters. Auskunft über die Memoria der Mönche von St. Pantaleon gibt das Necrolog der Gemeinschaft, das seinen erzbischöf­ lichen Klostergründer Brun zusammen mit den Almosen, die am Jahrestag seines Todes an die Armen verteilt werden sollten, zum 11. Oktober verzeichnet. Im Totenbuch zu finden ist außerdem Theophanu, von der es im Gedenkeintrag zum 15. Juni heißt, sie habe nicht nur die Albinusreliquien aus Rom nach Köln gebracht, sondern auch die Abteikirche mit 149 Translatio sancti Albini, hg. v. Lothar von Heinemann (MGH SS 15/2), Hannover 1888, S. 686 – 688. 150 Annales Quedlinburgensis (wie Anm. 12), S. 479 (ad a. 991). 151 Die Chronik des Bischofs Thietmar (wie Anm. 1), lib. IV, cap. 15, S. 149 f. 152 Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Bemerkungen zur kunsthistorischen Spätdatierung des Westbaus von St. Pantaleon in Köln, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 84 (2021), S. 7 – 42, hier: S. 17 f. – Klaus Gereon Beuckers: Der Kölner Kirchenbau unter den Ottonen und die Datierung des Westbaus (II ) von St. Pantaleon, in: L’évêque Werner de Strasbourg et la cathédrale ottonienne. Actes du colloque international à l’occasion du millénaire de la cathédrale de Strasbourg 2015, hg. v. Marc Carel Schurr und Jean-Michel Spieser (Bulletin de la cathedrale de Strasbourg, Bd. 35), Straßburg 2022, S. 169 – 195. 153 So jüngst auch Ubl 2022 (wie Anm. 62) S. 341. 154 Vgl. dazu Olaf Rader: Legitimationsgenerator Grab. Zur politischen Instrumentalisierung von Begräbnisanlagen, in: Grab, Kult, Memoria. Studien zur Funktion von Erinnerung. Horst Bredekamp zum 60. Geburtstag, hg. v. Carolin Behrmann, Arne Karsten und Philipp Zitzlsperger, Köln 2007, S. 7 – 21.

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Geschenken großzügig geschmückt („et lagris donis ecclesiam nostram venustavit“ ).155 Wie das Necrolog darüber hinaus zu erkennen gibt, wurde in St. Pantaleon – ähnlich wie in Xanten – auch der übrigen Ottonen im Rahmen von Messe und Liturgie gedacht. So ist abgesehen von König Heinrich I. (2. Juli) und Königin Mathilde (14. März) auch ­Kaiser Otto I. (7. Mai) in das Totenbuch eingetragen worden, wobei der Eintrag Ottos des Großen zugleich die Übertragung eines Hofes auf der Insel Urk an das Kloster zur Sicherung des kaiserlichen Seelenheils festhält: „Otto I. imperator, frater domni Brunonis archiepiscopi, qui nobis curtem in Vurck pro remedio anime sue contulit“.156 Verzeichnet sind im Necrolog von St. Pantaleon ferner die K ­ aiser Otto II. (7. Dezember) und Otto III. (25. Januar), wobei ihre Einträge keinerlei zusätzliche Notizen zu Stiftungen oder Schenkungen nach dem Vorbild Bruns, Theophanus oder Ottos I. aufweisen. Dessen ungeachtet ist damit in St. Pantaleon eine bemerkenswerte Kontinuität ottonischen Totengedenkens auch über das Lebensende Bruns hinaus zu fassen – ein Toten­ gedenken, dem der Erzbischof in Form des liturgischen Gedächtnisses für seine Eltern wohl noch selbst die Richtung gewiesen hatte. Demgegenüber dürfte die Memoria Ottos I. erst nach dem Tod Bruns vermutlich im Jahr 966 durch die ottonisch-liudolfingischen Verwandten des Metropoliten vermittelt worden sein,157 während für das Seelenheil Theophanus augenscheinlich Otto III. stiftete. In der Rückschau war Theophanu mit der Etablierung einer ottonischen Grablege auf lotharingischem Boden etwas Neues gelungen – etwas, das zwar in der Klostergründung Bruns grundsätzlich schon angelegt war, das aber die Kaiserin – und nach ihrem Tod auch Otto III. – sozusagen bis ins Imperiale gesteigert hat: den Legitimationsgenerator Grab.

* In diese Überlegungen einzubeziehen wären auch die auf die Zeit nach 965 zu datierenden Veränderungen an der äußeren Gestalt der Abteikirche von St. Pantaleon – insbesondere mit Blick auf den Westbau und die damit verknüpfte Frage nach der Architektur als Bedeutungsträger.158 Auch die Rolle der Kölner Buchmalerei, deren Werkstatt vermutlich ihren Sitz in St. Pantaleon hatte, wäre nicht zuletzt angesichts der mehrfachen Bezugnahmen auf das Herrschergebet und Darstellungen der Ottonen von Interesse. Wie auf so Vieles kann darauf aber an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, sondern muss künftigen 155 Rheinische Urbare. Sammlung von Urbaren und anderen Quellen zur rheinischen Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1: Die Urbare von St. Pantaleon in Köln, hg. v. Benno Hilliger (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Bd. 20), Bonn 1902, S. 40 u. 68 f. 156 Rheinische Urbare (wie Anm. 156), S. 31. 157 Vgl. dazu den quellenkritischen Kommentar zu MGH D OI, Nr. 324. 158 Sven Schütte: Geschichte und Baugeschichte der K ­ irche St. Pantaleon, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische ­Kirchen Köln 21 (2006), S. 81 – 136 sowie zuletzt Beuckers 2021 (wie Anm. 152), S. 16 – 21.

Lotharingien im späten 10. Jahrhundert | 181

Arbeiten vorbehalten bleiben. Zu thematisieren wäre in d­ iesem Zusammenhang nicht zuletzt auch die hier ausgeklammerte Gründung des Klosters Deutz durch Heribert von Köln, den Kanzler Ottos III.,159 sowie die Grablege des Kaisers in Aachen. Um weiterhin noch etwas mehr Tiefenschärfe zu gewinnen, wären in stärkerem Maße die Bischöfe von Utrecht und ihr Verhältnis zu den Ottonen zu beleuchten – ebenso wie auf Seiten des weltlichen Adels neben Grafen wie den Matfridingern auch ­solche Familien, die in Lotharingien die Herzogsgewalt innehatten. Was vorerst in vergleichender Perspektive und im diachronen Längsschnitt bleibt, ist ein noch sehr vages, undeutliches Bild, das zudem mit einer Reihe von überlieferungsbedingten Unsicherheiten behaftet ist. Gleichwohl lässt sich sagen, dass Theophanu und Otto III. nach 983/84 auf die klassischen Mittel der Politik im Frühmittelalter gesetzt haben, um den gefährdeten Verbleib Lotharingiens im ostfränkischen Reichsverband zu sichern: Ebenso wie Heinrich I. und Otto der Große setzten auch sie auf das Instrument der Heirats­ politik. Allerdings scheinen sie sich anders als die ottonischen Herrscher vor 983/84 auch auf Personenkreise eingelassen zu haben, die zuvor nicht in Königsnähe zu finden waren. Diese scheinen sie dann durch gezielte Förderung in eine machtpolitisch relevante Position gebracht zu haben, was insbesondere an der Pfalzgrafenfamilie deutlich wird. Was den Episkopat betrifft, so stützten sich Theophanu und Otto III. – ebenso wie die ottonischen Herrscher vor ihnen – maßgeblich auf den Erzbischof von Köln, auch wenn Everger nicht mehr dieselben, ganz Lotharingien umfassenden weltlichen Befugnisse besaß, wie dies noch unter Brun von Köln der Fall war. Als zentrale Stütze der ottonischen Politik kam ab 983/84 dafür aber mit Notger der Bischof von Lüttich hinzu. Da des Weiteren Egbert von Trier durch seine anfängliche Unterstützung Heinrichs des Zänkers bei Th ­ eophanu und Otto III. nicht gänzlich in Ungnade gefallen, sondern allenfalls mit Blick auf seine Königsnähe etwas in den Hintergrund getreten zu sein scheint, gewinnt man unter dem Strich den Eindruck, als deute sich eine (auch generell zu beobachtende) Tendenz zur stärkeren Inanspruchnahme der Bischöfe durch den Herrscher an. Gleiches gilt im Übrigen auch mit Blick auf die Nutzung des Reichsguts im regnum Lotharii sowie im Hinblick auf die Präsenz Theophanus und Ottos III. im Raum ­zwischen Rhein, Maas und Mosel. Auch hier ist zu erkennen, dass ab Mitte des 10. Jahrhunderts die Ottonenherrscher versuchten, Reichsbesitz und Reichsrechte zu verdichten und auszuweiten. Darüber hinaus weilten sie – mit Spitzenwerten unter Theophanu und Otto III. – immer häufiger in Lotharingien und damit zugleich auch in der Kölner Metropole sowie in den Pfalzen von Duisburg und Nijmegen, um hier öffentlich ihre Königsgewalt sichtbar zu machen und deren Wirksamkeit zu demonstrieren. Im letzten Drittel des 10. Jahrhunderts wurde die Präsenz der Ottonen durch die in größeren geistlichen Gemeinschaften und Klöstern praktizierte Herrschermemoria zusätzlich 159 Vgl. Beuckers 2017 (wie Anm. 85).

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erhöht. Die Intensivierung des liturgischen Gebetsgedenkens beispielsweise in Xanten, das dort zeitlich mit dem Ausbau des Stifts zu einer repräsentativen Bischofspfalz korrelierte, lässt sich als Hebel deuten, mit dem es – ähnlich wie durch die Einrichtung einer ottonischen Grablege in St. Pantaleon – gelingen konnte, Lotharingien weiter an die ostfränkische Herrscherdynastie zu binden. Auch dabei griffen Theophanu und Otto III. die strukturellen Gegebenheiten und Rahmenbedingungen auf, die ihnen vor allem Brun hinterlassen hatte. Allerdings ist insbesondere mit der Bestattung der Kaiserin in Köln qualitativ etwas Neues zu fassen. Durch die Präsenz der Kaiserin in Lotharingien auch über den Tod hinaus, schuf sie mit ihrer Grablege einen Haltepunkt der Erinnerung und machte Lotharingien damit vorübergehend zu einer ausgesprochen königsnahen Landschaft mit einem Zentrum in der Kölner Metropole.

Lotharingien im späten 10. Jahrhundert | 183

Beate Braun-Niehr

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und zu den Capitularien der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts

Im Vorwort der 1972 erschienenen zweiten Auflage seiner Untersuchung über das römische Capitulare evangeliorum hält Theodor Klauser fest: „Wenn Kunsthistoriker wie zum Beispiel Wilhelm Köhler trotz mehrfacher Warnung sich zäh der Hoffnung hingaben, mithilfe der Capitulare-Forschung schließlich feste Anhaltspunkte für die Datierung und Lokalisierung illuminierter Evangeliare und Evangelistare gewinnen zu können, so waren sie Opfer einer Illusion.“ 1 Vielleicht war es ­dieses Diktum des Liturgiehistorikers, das – neben einer gewissen Sperrigkeit des Materials – eine intensivere Beschäftigung mit den Capitularia evangeliorum ottonischer Evangeliare bisher weitgehend verhindert hat. Lediglich Gerd Bauer hatte in seiner 1977 vorgelegten Dissertation zur ottonischen Buchmalerei in Norddeutschland die Perikopenverzeichnisse – soweit in den von ihm untersuchten Evangeliaren überhaupt vorhanden – systematisch einer eingehenden Analyse unterzogen, „um […] speziellen Zusammenhängen unter den hier behandelten Handschriften auf die Spur zu kommen.“ 2 Als Bezugspunkt diente dabei mehrfach das spätkarolingische, frankosächsische Evangeliar der Bibliothek des Prager Metropolitankapitels Cim. 2, das sich im 10. Jahrhundert in Kloster Corvey befand und zum Vorbild für die Handschriften der ‚Wesergruppe‘ geworden ist.3 Für die im zweiten und dritten Viertel des 11. Jahrhunderts 1 Theodor Klauser: Das römische Capitulare evangeliorum. Texte und Untersuchungen zu seiner ältesten Geschichte. I. Typen (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, Bd. 28), Münster 21972, S. VII. – Klaus Gereon Beuckers, der die Beschäftigung mit den Capitularien in den Evangeliaren der ottonischen Kölner Malerschule angeregt hat, danke ich herzlich für das stete Interesse am Fortgang der Untersuchungen und zahlreiche Gespräche. Ursula Prinz bin ich für ihre Unterstützung bei der Literatur- und Fotobeschaffung und die Möglichkeit zum Gedankenaustausch sehr dankbar. 2 Gerd Bauer: Corvey oder Hildesheim? Zur ottonischen Buchmalerei in Norddeutschland, 2 Bde., Diss. Hamburg 1977, Bd. 1, insb. S. 56 – 82, hier S. 58 sowie Bd. 2 in den Katalogeinträgen zu den betreffenden Handschriften. 3 Wilhelm Koehler / Florentine Mütherich: Die karolingischen Miniaturen, Bd. 7: Die frankosächsische Schule, Textband, Wiesbaden 2009, S. 355 – 368. – Der Begriff ‚Weser-Gruppe‘ wurde geprägt von Hanns Swarzenski: Deutsche Miniaturen des frühen Mittelalters in amerikanischem Besitz, in: Zeitschrift für bildende Kunst 63 (1929/30), S. 193 – 200, hier S. 194. – Zur Corveyer Buchmalerei des 10. Jahrhunderts vgl. Rainer Kahsnitz: Frühottonische Buchmalerei, in: Otto der Große. Magdeburg und Europa, Ausst. Kat. Kulturhistorisches Museum Magdeburg, hg. v. Matthias Puhle, 2 Bde., Mainz 2001, Bd. 1, S. 225 – 250, hier S. 230 – 240 mit Bd. 2, Kat. Nr.  IV .7–IV .15 (Rainer Kahsnitz)

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 185

in Echternach geschaffenen Evangeliare hat Carl Nordenfalk die Perikopenverzeichnisse untersucht und die Verwendung von zwei unterschiedlichen Capitularientypen festgestellt, für die er einerseits touronische, andererseits Metzer Vorlagen aus karolingischer Zeit wahrscheinlich machen konnte.4 Da mit Blick auf die hier interessierenden Kölner ottonischen Handschriften keine Lokalisierungsfragen zu lösen sind und Probleme der – relativen oder absoluten – Chronologie zunächst einmal in den Hintergrund treten dürfen, sollen die Capitularia evangeliorum als Bestandteil der Evangeliare ebenso ernstgenommen werden wie die übrigen wegen ihrer ornamentalen Ausstattung ins Blickfeld der kunsthistorischen Forschung geratenen Beigaben zu den Evangelien, also die Vorreden, Argumenta und Kapitelverzeichnisse sowie die Kanontafeln. Es verbindet sich damit die Hoffnung, dass die Perikopenverzeichnisse als Texte Aufschlüsse über das Verhältnis der Handschriften zueinander und möglicherweise auch über Werkstatt-Usancen verraten können.

Das Gießener Evangeliar im liturgischen Gebrauch: Evangelientext und Capitulare evangeliorum Blättert man das sorgfältig geschriebene und rubrizierte Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars durch (fol. 237r–250r), so entdeckt man neben vielen kleineren Textkorrekturen eine Reihe von Nachträgen auf den Rändern, die darauf schließen lassen, dass es für den liturgischen Gebrauch Verwendung gefunden hat. Am Beispiel der ersten Einträge (Abb. 44) sei der Aufbau des Verzeichnisses, der dem üblichen Schema der römischen Capitularia evangeliorum entspricht, kurz erläutert. Zunächst wird der Sonntag, Werktag oder Festtag benannt, zu dem ein bestimmter Abschnitt aus den Evangelien in der Messe vorgetragen wird: also hier „In vigilia domini“ – am Vorabend von Weihnachten, „In natale domini“ – an Weihnachten, „In natale sancti Stephani“ – am Gedenktag des hl. Stephanus, „In natale sancti Iohannis evangelistae“ – am Gedenktag des Evangelisten Johannes, „In natale Innocentum“ – am Gedenktag der Unschuldigen Kinder, „Dominica I post natale domini“ – am ersten Sonntag nach Weihnachten. Ergänzend kann die Stationskirche angeführt werden, in welcher der Papstgottesdienst in Rom am betreffenden Tag stattfand: bei der ersten Messe am Weihnachtstag „ad sanctam Mariam maiorem“ – in Santa Maria Maggiore, analog für die zweite und dritte Messe „ad sanctam Anastasiam“ bzw. „ad sanctum Petrum“. Da die heute geläufige Kapiteleinteilung sowie demnächst die Beiträge von Sayako Ando, Kateřina Kubínová u. Stephanie Westphal in: Die mittelalterliche Bibliothek der Reichsabtei Corvey (Workshop Corvey 2021), voraussichtlich 2023. 4 Carl Nordenfalk: Codex Caesareus Upsaliensis. An Echternach Gospel-Book of the Eleventh Century, Stockholm 1971, S. 56 – 60.

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Abb. 44: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Hs 660, fol. 237r: Beginn des Capitulare evangeliorum: Weihnachtsoktav

biblischer Bücher im hohen Mittelalter, die Verszählung sogar erst Mitte des 16. Jahrhunderts eingeführt wurde, müssen zur korrekten Bestimmung der Perikope außer ihrem Fundort „capitulum“ (abgekürzt: cap.) in den Evangelien nach Matthäus, M ­ arkus, Lukas oder Johannes, jeweils Anfang und – verbunden durch „usque“ – Ende der Lesestücke angegeben werden. Die „capitulum“-Angaben verwenden die Nummerierung der Sinnabschnitte der Evangelien, die Eusebius von Caesarea für das Konkordanzsystem der Kanontafeln verwendet hat. Beispielsweise sind die Lesungen für die erste und zweite Weihnachtsmesse, das Engelamt und das Hirtenamt, aus dem umfangreichen „capitulum III“ des Lukasevangeliums genommen. Bekanntlich sind die Erzählungen von der Verkündigung an Maria, ihrem Besuch bei Elisabeth und die Weihnachtsgeschichte Eigengut des Evangelisten Lukas, weshalb „capitulum III“ auf der vorletzten Kanontafel (fol. 6v) im 10. Kanon mit den Propria der Evangelisten eingetragen ist (Abb. 45). Die „capitulum“-Angabe bot dem Diakon, der die Evangelienlesung in der Messe vorzutragen hatte, eine erste Orientierung, wo er die Perikope suchen musste. Auf fol. 125r ist am Rand neben Lk 1,20 nach heutiger Zählung mitten in dem Bericht über die Verheißung der Geburt von Johannes dem Täufer der Beginn von „capitulum III “ vermerkt, ergänzt um die rote römische „X“ für die Kanontafel mit dem Eigengut. Der Diakon musste nun mehrere Seiten bis zu fol. 128r weiterblättern, bevor er den im Capitulare

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 187

Abb. 45: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Hs 660, fol. 6v (Detail) „Canon X“ mit dem Eigengut der Evangelisten

vermerkten Anfang der Lesung der ersten Weihnachtsmesse finden konnte: „Exiit edictum a Caesare Augusto“ (Lk 2,1; fol. 128r, 7. Zeile; Abb. 46a). Beim Vortragen der Perikope, die nicht einfach gelesen, sondern in einer Art Sprechgesang kantilliert wurde, halfen ihm Interpunktionszeichen, um die grammatikalischen Einschnitte durch die richtigen melodischen Wendungen hörbar zu machen: ein einfacher Punkt und ein Punkt mit darüber gesetztem Strich vor Einschüben oder Nebensätzen, ein Punkt mit darunter gesetztem siebenförmigem Häkchen für den Schlusspunkt, nach dem der nächste Satz mit großem Buchstaben beginnt, außerdem ein Fragezeichen. Wie das Initium der Lesung so ist auch deren Ende auf der folgenden Seite nicht durch irgendeine Markierung auf den Seitenrändern angezeigt. Lediglich eine Neume über der zweiten Silbe von „hominibus“ machte den Diakon darauf aufmerksam, dass er an dieser Stelle mit der melodischen Schlusswendung einsetzen musste (Lk 2,14; fol. 128v, 9. Zeile v. u.; Abb. 46b). In der nächsten Zeile beginnt dann mit „Pastores loquebantur“ die Perikope zur zweiten Weihnachtsmesse (Lk 2,15 – 20).

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Abb. 46: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Hs 660, fol. 128r/v: Perikope zur ­ersten ­Weihnachtsmesse Lk 2,1 – 14.

Außer den regelmäßig eingetragenen Interpunktionszeichen gibt es weitere Hinweise, die auf den Gebrauch des Evangeliars bei der Messfeier hindeuten. Im Verlauf des Lukasevangeliums finden sich nahe am Rand kleine Kreuzzeichen, die auf Perikopenanfänge meist innerhalb umfangreicher „capitula“ aufmerksam machen.5 Auch im Johannesevangelium wurden auf diese Weise Initien der Perikopen markiert.6 Wie die nur noch partiell erhaltenen ­Zeichen auf fol. 208v, 220r, 221v, 226r, 234v und 235r vermuten lassen, könnten weitere ­solche Kreuzchen beim Beschneiden der Seiten im Zuge der Neubindung verloren gegangen sein. Bei den am Palmsonntag sowie am Dienstag, Mittwoch und Freitag der Karwoche zu lesenden Passionsberichten aus den vier Evangelien (fol. 65r–72v [Mt], 107v–114r [Mk], 176r–182v [Lk] und 228v–233r [Joh]) stehen über dem Text einzelne, mit schwarzer, selten bräunlicher Tinte geschriebene Minuskeln. Die sogenannten Passionsbuchstaben ermöglichen dem Diakon eine differenzierende Vortragsweise.7 Dabei sollen die erzählenden 5 6 7

So auf fol. 164r (zu Lk 16,1 / Σ 183), fol. 168r (zu Lk 18,9 / Σ 189), fol. 170r (zu Lk 19,1 / Σ 284) und fol. 175r (zu Lk 21,9 / Σ 144). Vgl. die Tabelle im Anhang mit dem Hinweis zur Zählung der Perikopen, deren Nummern hier und in der folgenden Anmerkung zur Bibelstelle hinzugesetzt sind. Auf fol. 196r (zu Joh 4,6 / Σ 79), fol. 208v (zu Joh 8,21 / Σ 68), fol. 220r (zu Joh 13,1 / Σ 97 bzw. Σ 99), fol. 221v (zu Joh 13,33 / Δ 143 = P4 f  ), fol. 223r (zu Joh 14,23 / Σ 137), fol. 224r (zu Joh 15,12 / Σ 110 u. ö.; Σ 182; Δ 326), fol. 226r (zu Joh 16,16 / Σ 122), fol. 234v (zu Joh 20,19 / Σ 108) und 235r (zu Joh 21,1 / Σ 105). Art. Passion, Die einstimmige Passion, Überlieferung, in: MGG Online, hg. v. Laurenz Lütteken, New York, Kassel, Stuttgart 2016 ff., veröffentlicht September 2021 (Karlheinz Schlager), https://www1mgg-2online-1com-1008e208603c8.erf.sbb.spk-berlin.de/mgg/stable/465981 [1. Februar 2023]. – Vgl.

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 189

Abb. 47: Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Hs 660, fol. 230v (Ausschnitt) Passionsbuchstaben zu Joh 18,35b–38

Partien des Evangelisten schneller gesungen werden: ‚c‘ = cito / celeriter, die Worte Christi dagegen getragen: ‚t‘ = trahere / tenere 8. Zusätzlich erscheint – erstmals auf fol. 68v–69r zur Verleugnung Christi durch Petrus – der Buchstabe ‚e‘, teils über den Evangelisten-­ Passagen, teils über wörtlicher Rede anderer Personen. In wenigen Fällen sind ‚c‘ und ‚e‘ sogar gemeinsam über demselben Wort zu finden (fol. 182r, 6. Zeile; fol. 230v, 6. Zeile), so dass man fragen kann, ob – analog zu den weiter verbreiteten Buchstaben ‚s‘ = sursum oder ‚a‘ = altius für die wörtliche Rede des Volks wie einzelner Personen – mit dem ‚e‘ der Hinweis auf eine höhere Tonlage (elevate?) verbunden war (Abb. 47).

8

demnächst Tino Licht: Passionsbuchstaben. Zur Frage ihrer ältesten Handschriftenüberlieferung, in: Medialisierung des Ephemeren (Sonus mediaevalis, Bd. 1), hg. v. Christian Jaser, Leiden 2023. Mit einem ‚t‘ ist auch in allen Evangelien jene Stelle gegen Ende des Passionsberichtes markiert, ab welcher der Text im gewöhnlichen Evangelienton vorzutragen ist: fol. 72r, letzte Zeile, fol. 114r, 3. Zeile, fol. 182r, 3. Zeile v. u. und fol. 233r, 6. Zeile.

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Im karolingischen Evangeliar der Kölner Diözesan- und Dombibliothek Cod. 56, das für die Analyse des Capitulare heranzuziehen ist,9 wurden Passionsbuchstaben in allen Evangelien, wenn auch wenig systematisch, nachgetragen. Im Bericht nach Lukas (ab fol. 96rb) werden ‚c‘ für den Evangelisten, ‚l / L‘ (= lente) für die Christus-Rede und ‚a‘ für die Rede anderer Personen verwendet; in der Johannes-Passion (ab fol. 122vb) nur ‚c‘ und ‚l‘. Zusätzlich zu den drei Buchstaben erscheint in der Matthäus-Passion (ab fol. 38va) ein ‚e‘ bei Einleitungen wörtlicher Rede.10 In der Markus-Passion (ab fol. 60ra) fehlt das ‚a‘, stattdessen kommt ‚e‘ auch für die wörtliche Rede anderer Personen vor. Vereinzelt stehen wie in Gießen ‚c‘ und ‚e‘ nebeneinander zum selben Wort (fol. 39va, 5. Zeile; 62va, 1. Zeile). Das Bemühen um einen korrekten Text lassen im Gießener Evangeliar zahlreiche kleine Verbesserungen erkennen; gelegentlich sind fehlende Sätze nachgetragen (fol. 58v, 62r, 90r und öfter). Unklar bleibt, warum an einigen Stellen einzelne, manchmal auch mehrere Zeilen einer Seite radiert wurden (so auf fol. 15r, 35r, 36v und öfter). Soweit die erhaltenen Buchstabenreste Rückschlüsse zulassen, dürfte der getilgte Text nicht fehlerhaft gewesen sein. Mehrfach wurden wohl im ausgehenden 13. Jahrhundert neben solchen Rasuren die fehlenden Wörter auf den Rändern in winziger Textualis mit teils kursiven Zügen nachgetragen (fol. 47r, 57r, 114r, 129r/v, 141r und 148r). Dieselbe Schreiberhand hat zudem auf fol. 185v eine Überschrift zum Argumentum des Johannesevangeliums hinzugesetzt.

Die Typen des römischen Capitulare evangeliorum Nach früheren Versuchen, die Ordnungen der Evangelienlesung während der Messfeier zu ergründen,11 gelang es Mitte der 1930er Jahre dem anglikanischen Bischof von Truro, Walter H. Frere, und dem deutschen Liturgiewissenschaftler Theodor Klauser unabhängig 9 Siehe unten mit Anm. 43. 10 Im spätkarolingischen Evangeliar Ottob. lat. 79 der Vatikanischen Bibliothek steht ‚e‘ regelmäßig für den Evangelisten, ‚c‘ dagegen für die Rede der übrigen Personen. Lokalisierung und Datierung der Handschrift sind umstritten: „Nördl. Frankreich, Ende 9. Jh.“ oder „(Nieder-?)Deutschland (Corvey?), IX./X. Jh. oder X. Jh., 1. Hälfte“. Vgl. Liturgie und Andacht im Mittelalter. Biblioteca Apostolica Vaticana, Ausst. Kat. Erzbischöfliches Diözesanmuseum Köln, hg. v. Joachim M. Plotzek, Katharina Winnekes und Stefan Kraus, Stuttgart 1992, Kat. Nr. 7 (Katharina Bierbrauer) und Bernhard Bischoff: Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigotischen), Teil 3: Padua – Zwickau, aus dem Nachlass hg. v. Birgit Ebersperger, Wiesbaden 2014, S. 404, Nr. 6432. – Wohl zu spät – „Minuskel des 10./11. Jh.“ – ist das Evangeliar angesetzt von Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. 100. – Digitalisat: https://digi.vatlib.it/view / MSS_Ott.lat.79 [1. Februar 2023]. – Herzlich danke ich Tino Licht für den Hinweis auf die Passionsbuchstaben in dieser Handschrift und für den kollegialen Austausch. 11 Aus der älteren Literatur s­eien genannt: Stephan Beissel: Entstehung der Perikopen des römischen Meßbuches. Zur Geschichte der Evangelienbücher in der ersten Hälfte des Mittelalters (Stimmen aus Maria Laach. Ergänzungshefte, Bd. 96), Freiburg im Breisgau 1907. – Art. Évangiles, in: Dictionnaire

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 191

voneinander, vier Typen des römischen Capitulare evangeliorum aus dem 7. und 8. Jahrhundert zu unterscheiden, drei rein römische Typen und einen römisch-fränkischen Mischtyp.12 Für die Analyse des Capitulare im Gießener Evangeliar und der Capitularien in den anderen Evangeliaren der Kölner ottonisch-salischen Malerschule werden im Folgenden die kritischen Editionen von Klauser zugrunde gelegt und ergänzend die Beobachtungen von Frere herangezogen. Anders als Klauser bietet Frere reiches Material für die weitere Entwicklung der Capitularien bis ins 11. Jahrhundert. Der nach Klauser älteste, um 645 anzusetzende Typus Π umfasst einen Stamm von 68 unbeweglichen Festen, die alle in den späteren Typen wiederkehren.13 Klauser konnte diese Perikopenliste unter anderem aus karolingischen Evangeliaren aus Tours rekonstruieren. Frere gibt die „Earlier Gospel-Series“ nach einer in Reims verwahrten, sächsischen Handschrift des 10. Jahrhunderts, deren Capitulare wegen der späteren Zeitstellung bereits einige Veränderungen gegenüber dem von Klauser erschlossenen Archetypus aufweist.14 Über eine touronische Vorlage wird der Typus Π, wenn auch mit Abweichungen, in die Capitularien der frühen, großformatigen Echternacher Evangeliare der salischen Zeit übernommen.15 In dem um 740 zu datierenden Typus Λ ist die Zahl der unbeweglichen Feste auf 86 angewachsen.16 Als Besonderheit ist das Fest der hl. Martina – in manchen Quellen stattdessen ein Marienfest – am 1. Januar zu vermerken, weshalb Frere vom „Martina Type“ spricht.17 Nur im Λ-Typ werden alle Perikopeninitien konsequent mit den aus dem liturgischen Vortrag üblichen Worten „In illo tempore“ eingeleitet. Klausers Edition liegen unter anderem die

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d’archéologie chrétienne et de liturgie, Bd. 5.1, Paris 1922, Sp. 852 – 923 (G. Godu). – Vgl. mit weiterer Lit. Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. XXII–XXVI. Walter Howard Frere: Studies in Early Roman Liturgy. II. The Roman Gospel-Lectionary (Alcuin Club Collections, Bd. 30), London 1934. – Theodor Klauser: Das römische Capitulare evangeliorum. Texte und Untersuchungen zu seiner ältesten Geschichte. I. Typen (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, Bd. 28), Münster 1935, 2. Aufl. 1972. Im Folgenden wird nach der 2. Auflage zitiert. Die von Klauser angekündigten Bände 2 und 3 sind nicht erschienen. – In einer vergleichenden Besprechung beider Werke werden Unterschiede in der Konzeption (vgl. beispielsweise die umfangreiche Liste der handschriftlichen Zeugen von der Randnote bis zu den ausgeschriebenen Lektionaren bei Klauser 1972, S. XXIX–CXX) und der Datierung der einzelnen Typen benannt. Vgl. Theodor Klauser, in: Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 14 (1934, erschienen 1938), S. 446 – 449. Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. 1 – 46. Frere 1934 (wie Anm. 12), S. 1 – 28; die wichtigsten Unterschiede aufgezählt bei Nordenfalk 1971 (wie Anm. 4), S. 56. – Zu Reims, Bibliothèque Municipale, Ms. 10 und den zugehörigen Blättern in Baltimore, The Walters Art Gallery, W. 751 vgl. Bauer 1977 (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 32 – 37 u. 38 – 40. – Kat. Magdeburg 2001 (wie Anm. 3), Bd. 2, Kat. Nr. IV.10 (Rainer Kahsnitz). Nordenfalk 1971 (wie Anm. 4), S. 57 f. Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. 47 – 92. Klauser ordnet seine handschriftlichen Zeugen in zwei Gruppen: Λa und Λb, letztere stehe dem gemeinsamen Archetypus näher (vgl. S. 56). Frere 1934 (wie Anm. 12), S. 89 – 101 sowie S. 101 – 112 zu Veränderungen innerhalb des Martina-Typs, den er als Ableitung der „Standard Gospel-Series“ ansieht.

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Trierer Ada-Handschrift aus der Hofschule Karls des Großen (Stadtbibliothek Trier, Hs. 22) und das karolingische Evangeliar der Aachener Schatzkammer (Inv. Nr. 4) zugrunde.18 Nach Klauser um 755 entstanden ist der Typus Σ, von Frere als „Standard Gospel-Series“ bezeichnet.19 Wie im Π-Typ steht vor dem Sonntag Septuagesima eine eigene Überschrift: „Incipiunt lectiones a septuagesima usque in pascha“; eine weitere leitet die Perikopen für die Votivmessen ein: „Incipiunt lectiones evangeliorum de diversis causis“. Während Klauser sich vor allem auf nordfranzösische Handschriften des 9. Jahrhunderts stützt, druckt Frere das Capitulare des ganz in Gold geschriebenen Evangeliars der Hofschule Karls des Großen in London ab.20 In ottonischer Zeit folgt das Capitulare des Münchner Evangeliars Ottos III. recht genau dem Standard-Typ.21 Vom Σ-Typ lassen sich auch die Capitularien der jüngeren Echternacher Evangeliare herleiten.22 War die Zahl der unbeweglichen Feste im Σ-Typ gegenüber dem Martina-Typ nur unwesentlich auf 88 gestiegen, weist der römisch-fränkische, nach 750 anzusetzende Typus Δ trotz zusätzlich aufgenommener Apostelgedenktage nur 80 Feste auf.23 Geschuldet ist dies einer Lücke ­zwischen dem 7. Oktober und dem 23. November, die der Archetyp weitergegeben haben muss. Die Gesamtzahl der Perikopen ist jedoch von 297 auf 360 gestiegen. Frere spricht vom „Vitus-4 Type“, weil das in den älteren Capitularien noch nicht berücksichtigte Fest des kaiserzeitlichen Märtyrers auf den 4. Juni gelegt ist.24

Das Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars Die erste Perikope im Gießener Capitulare ist für die Vigil von Weihnachten vorgesehen, während die Typen Π, Λ und Σ mit der ersten Weihnachtsmesse beginnen.25 Dennoch wäre es falsch, allein aus ­diesem Merkmal, das nach Klauser als Besonderheit des Typus 18 Siehe Anm. 20. 19 Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. 93 – 130. – Frere 1934 (wie Anm. 12), S. 29 – 58. 20 British Library London, Harley MS 2788. Vgl. Wilhelm Koehler: Die karolingischen Miniaturen, Bd. 2: Die Hofschule Karls des Großen, Textband, Berlin 1958, S. 56 – 69. – Zu den Capitularia evangeliorum in den am Hof Karls des Großen entstandenen Handschriften vgl. Wilhelm Koehler: Die karolingischen Miniaturen, Bd. 3, Teil 1: Die Gruppe des Wiener Krönungsevangeliars; Teil 2: Metzer Handschriften, Textband, Berlin 1960, S. 36 – 37 u. 43 – 44. Bei den Handschriften der Hofschule findet ein Wechsel vom Σ-Typ zum Typ Λa statt; auf das Wiener Krönungsevangeliar mit einem Σ-Capitulare folgen die Evangeliare in Aachen und Brescia, deren Capitularien die Version Λb bieten. 21 Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 4453, fol. 254r–276r. Vgl. Das Evangeliar Ottos III. Clm 4453 der Bayerischen Staatsbibliothek München, hg. v. Florentine Mütherich und Karl Dachs, München 2001, S. 25 mit Anm. 5. 22 Nordenfalk 1971 (wie Anm. 4), S. 58. 23 Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. 131 – 172. 24 Frere 1934 (wie Anm. 12), S. 140 – 156. 25 Vgl. zum Folgenden die Tabelle im Anhang.

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Δ gilt,26 auf die Zugehörigkeit zum römisch-fränkischen Mischtyp zu schließen. So treffen etwa die beiden folgenden, gleichfalls nur für den Typus Δ charakteristischen Kennzeichen – die Zusätze zu den drei Weihnachtsmessen „in nocte, mane prima, in die“ sowie die Verwendung von „epiphania“ für das Fest am 6. Januar – auf Gießen gerade nicht zu.27 Andererseits belegen mehrere Spezifika des Gießener Capitulare seine enge Verwandtschaft mit dem Typus Σ. Zu nennen sind die Gesamtüberschrift „Incipit capitulare evangeliorum de circulo anni“ sowie die erwähnten Überschriften vor Septuagesima und vor den Votivmessen.28 Der Samstag wird als „Sabbato“ oder „Die sabbato“ bezeichnet.29 Für Vigil und Festtag von Epiphanias findet sich der Begriff „theophania“. Wie es im Σ-Typ für die Daten der Heiligenfeste in der ersten Jahreshälfte üblich ist, wird auf den jeweils vorangestellten Monatsnamen Bezug genommen: „mense supra scripto“.30 Diese Bezeichnung erscheint in Gießen auch für die Monate Juli bis Dezember. Nur die Datumsangabe für das Fest der Heiligen Processus und Martinianus „Die ii mense Iulio“ lässt die für die zweite Jahreshälfte Σ-typische erneute Nennung des Monatsnamens bei jedem Datum noch erahnen. Zudem sind die meisten der von Klauser als charakteristisch vermerkten Stationskirchen in Gießen angeführt.31 Allerdings weist das Gießener Capitulare evangeliorum gegenüber dem Typus Σ eine größere Zahl an Veränderungen auf. Sie sind darauf zurückzuführen, dass man sich schon seit dem 9. Jahrhundert um die Beseitigung von Unzulänglichkeiten der ursprünglichen Typen und um die Angleichung an die liturgische Entwicklung bemühte. Ohne die Σ-typische kalendarische Reihenfolge grundsätzlich in Frage zu stellen, sind in der Gießener Liste weitere Sonntage für die Nachpfingstzeit und zusätzliche Wochentage mit eigener Evangelienlesung – von Frere so genannte „Alternative Ferias“ – sowie neue Heiligenfeste in das Capitulare aufgenommen. Außer dem römisch-fränkischen Δ-Typ entlehnte Perikopen wählte man dafür Lesestücke ohne Parallelen in den Klauserschen Typen.32 Umstellungen und Ergänzungen finden sich auch bei den „lectiones evangeliorum de diversis causis“ (ab fol. 248v), an deren Spitze zwanzig Perikopen für das bisher nicht berücksichtigte Commune sanctorum stehen. 26 Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. 133, Punkt 4*. – Frere 1934 (wie Anm. 12), S. 62 f. vermutet gelasianischen Einfluss für die Voranstellung der Vigilmesse, die in den übrigen Typen am Ende der Jahreskreis-Perikopen steht. 27 Auf den Rand neben der Perikope zur dritten Messe am Weihnachtstag wurde „in die“ erst von jüngerer Hand (s. u.) hinzugesetzt (fol. 237r). – Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. 133, Punkt 5* u. 6*. – Zur Benennung der Weihnachtsmessen vgl. Frere 1934 (wie Anm. 12), S. 131 – 134. 28 Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. 95, Punkt 9 u. S. 97, Punkt 40. 29 Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. 95, Punkt 3*. Dagegen wird im Typus Δ „Feria VII“ für den Samstag verwendet; vgl. Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. 133, Punkt 3. 30 Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. 95, Punkt 2. 31 Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. 95 f., Punkte 4 – 5, 12 – 13, 15 – 18, 23 u. 25. 32 Frere 1934 (wie Anm. 12), S. 114 – 115 u. 119 – 123, hat die Perikopen der Nachpfingstsonntage und jene der „Alternative Ferias“ in Listen zusammengestellt und ein eigenes Siglensystem zu ihrer Benennung erdacht. Vgl. auch die Vorbemerkung zur Tabelle im Anhang.

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Karolingische Vorlagen für das Gießener Capitulare evangeliorum und der „Vitus-15 Type“ Bei flüchtiger Betrachtung könnte man den Beginn der Gießener Liste mit der Vigil von Weihnachten für eine individuelle Angleichung an den entsprechenden Usus in anderen frühmittelalterlichen liturgischen Codices – Sakramentaren oder Evangelistaren 33 – halten und geneigt sein, auch die übrigen Modifikationen des Typus Σ auf diese Weise zu erklären. Doch es kann kein Zweifel bestehen, dass die Wurzeln der in Gießen zu beobachtenden Veränderungen gegenüber dem reinen Σ-Typ bis ins 9. Jahrhundert zurückreichen. Vergleicht man für den Weihnachtsfestkreis das Gießener Capitulare mit dem Perikopenverzeichnis im spätkarolingischen Prager Evangeliar Cim. 2, so finden sich dort – analog zu Gießen – in ein Σ-Capitulare mehrfach Perikopen des Δ-Typs eingeschoben: für den ersten Sonntag nach Weihnachten Nr. Δ 10, für die Oktav von Epiphanias Nr. Δ 16 oder für die „Feria IV“ nach „Ebd. VI post theophaniam“ Nr. Δ 45.34 In zahlreichen anderen Punkten weicht das Gießener Capitulare jedoch von Cim. 2 ab, so dass es keine Verbindung mit dem Prager Evangeliar gegeben haben kann.35 Augenmerk verdienen im Gießener Capitulare die Perikopen für zusätzliche Wochentage in der Vorfasten- und Osterzeit, besonders aber für Feria IV und Feria VI nach allen Sonntagen der Nachpfingstzeit.36 Die Gießener Perikopenauswahl für diese nachpfingstlichen Stationsfasttage und die zugehörigen Sonntage findet Parallelen in frühmittelalterlichen Quellen.37 Zu nennen sind der Comes von Murbach, eine Liste von Epistel- und Evangelienperikopen aus dem Ende des 8. Jahrhunderts,38 und die von Jacobus Pamelius 33 Vgl. beispielsweise „Missale Gothicum“, Reg. lat. 317, und „Sacramentarium Gelasianum“, Reg. lat. 316, sowie „Evangelistar“, Reg. lat. 15, in: Kat. Köln 1992/93 (wie Anm. 10), Kat. Nr. 2 f. (Katharina ­Bierbrauer), Kat. Nr. 11 (Ulrike Surmann). 34 Bauer 1977 (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 60 – 63 u. S. LXXXIII–XCIV, Anhang V A (Perikopenverzeichnis von Cim. 2). 35 Vgl. etwa Bauer 1977 (wie Anm. 2), Bd. 1, S. CXVII–CXIX, Anhang V D zur Anordnung der Feste nach Epiphanias: Gießen ist eine Variante der I. Gruppe, Cim. 2 gehört dagegen zur III. Gruppe. 36 Gezählt werden die Sonntage nach der Oktav von Pfingsten wie folgt: 2. – 6. Sonntag nach Pfingsten / 1. – 6. Sonntag nach Peter und Paul / 1. – 7. Sonntag nach Laurentius / 1. – 6. Sonntag nach Erzengel Michael / 5. Sonntag vor Weihnachten. 37 Vgl. Alban Dold: Das Donaueschinger Comesfragment B II 7. Ein neuer Textzeuge für die altüberlieferte liturgische Feier der Stationsfasttage Mittwoch und Freitag. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Sonn- und Stationsfasttagsperikopen in der Zeit von Pfingsten bis zum Advent, in: Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 6 (1926), S. 16 – 53, hier die Tabelle S. 42 – 53. 38 Bibliothèque municipale de Besançon, Ms 184, fol. 57r–73r. Edition: André Wilmart: Le Comes des Murbach, in: Revue Bénédictine 30 (1913), S. 25 – 69. – Eine Liste allein der Evangelienperikopen bietet Godu 1922 (wie Anm. 11), Sp. 908 – 914. Digitalisat: https://memoirevive.besancon.fr/ark:/48565/ hn6gw95pxvr7 [1. Februar 2023].

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aus handschriftlichen Zeugen zusammengestellte Perikopenliste,39 die beide von Alban Dold ausgewertet wurden.40 Angesichts eines solchen Befunds lag es nahe, nach karolingischen Handschriften zu suchen, die möglicherweise als Vorlage für das Gießener Capitulare gedient haben könnten. Einer Beobachtung Stephan Beissels folgend, der Übereinstimmungen in der Zählung der Sonntage nach Pfingsten und in der Auswahl ihrer Perikopen für die Capitularien der Evangeliare Cod. 14 und 56 der Kölner Dombibliothek sowie des Evangeliars aus St. Pantaleon, Nr. 147 des Historischen Archivs der Stadt Köln, konstatiert hatte,41 bot es sich an, die drei Zeugen insgesamt mit der Gießener Perikopenliste zu vergleichen. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass die Capitularien der genannten karolingischen Handschriften aufs Engste mit dem Gießener Capitulare zusammenhängen. Auch Walter H. Frere hat das frankosächsische Evangeliar Cod. 14,42 das in seiner Lokalisierung umstrittene Evangeliar Cod. 5643 und das spätkarolingische – Bernhard Bischoff zufolge – in Köln entstandene Evangeliar aus St. Pantaleon 44 für seine Untersuchungen herangezogen. Die Analyse der Perikopenliste von W 147 (Frere: Sigle Kp) steht exemplarisch für einen eigenen Capitulare-Typ, in dem die Verwendung der „Alternative Ferias“ vollständig ausgereift ist und der wegen des wie üblich zum 15. Juni vermerkten Vitusfestes als „Vitus-15 Type“ bezeichnet wird. Als beste Vertreter ­dieses Typs gelten Frere die genannten, in Köln verwahrten Handschriften, die er alle dort entstanden sieht. Zusammen mit dem Hillinus-Codex (Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, 39 Jacobus Pamelius: Liturgica Latinorum, 2 Bde., Köln 1571, Bd. 2, S. 1 – 61. 40 Dold 1926 (wie Anm. 37), S. 17 und die Spalten „Pam“ und „Mur“ in der Tabelle. 41 Stephan Beissel: Das Evangelienbuch des Erzbischöflichen Priesterseminars zu Köln, in: Zeitschrift für christliche Kunst 11 (1898), Sp. 1 – 18, hier Sp. 16. – Vgl. auch Beissel 1907 (wie Anm. 11), S. 160 zu ‚Kolonne 7‘ u. S. 164 – 165, 7. Spalte der Tabelle mit Sigle ‚Cal‘ [!]. Beissel sieht Cod. 14 irrtümlich als Kopie von Cod. 56 an. 42 Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 14. Vgl. Koehler / Mütherich 2009 (wie Anm. 3), S. 204 – 214. Das Capitulare wird hier und in der älteren Literatur irrtümlich dem Δ-Typ zugerechnet. Vgl. auch Anton von Euw: Das Buch der vier Evangelien. Kölns karolingische Evangelienbücher. Begleitheft zur Ausstellung des Schnütgen-Museums Köln (Kölner Museums-Bulletin. Berichte und Forschungen aus den Museen der Stadt Köln, Sonderheft 1/1989), Köln 1989, Kat. Nr. 5, S. 47 – 49. – Glaube und Wissen im Mittelalter. Die Kölner Dombibliothek, Ausst. Kat. Erzbischöfliches Diözesanmuseum Köln, hg. v. Joachim M. Plotzek, Katharina Winnekes und Stefan Kraus, München 1998, Kat. Nr. 74 (Ulrike Surmann). – Bernhard Bischoff: Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigotischen), Teil 1: Aachen – Lambach, Wiesbaden 1998, S. 387, Nr. 1871. 43 Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 56. Vgl. von Euw 1989 (wie Anm. 42), Kat. Nr. 3, S. 44 – 46. – Kat. Köln 1998 (wie Anm. 42), Kat. Nr. 75 (Ulrike Surmann). – Bischoff 1998 (wie Anm. 42), S. 391, Nr. 1892. 44 Historisches Archiv Köln, Best. 7010 Handschriften (Wallraf ), Nr. 147. Vgl. von Euw 1989 (wie Anm. 42), Kat. Nr. 7, S. 51 – 52. – Bischoff 1998 (wie Anm. 42), S. 405, Nr. 1949.

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Abb. 48: Köln, Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 14, fol. 206r (Ausschnitt) und Gießen, UB, Hs 660, fol. 241r (Ausschnitt) Perikopen für 25. April, Feria IV und VI nach Osteroktav, 28. April

Cod. 12), dem Lyskirchen-Evangeliar und dem Brüsseler Evangeliar aus Xanten stellt er sie als „Group of MSS . from Köln“ neben eine Gruppe französischer Überlieferungs­zeugen des „Vitus-15 Type“.45 Dass auch das Gießener Capitulare evangeliorum dem „Vitus-15 Type“ zugerechnet werden muss, geht aus der Tabelle im Anhang klar hervor. Überdies zeichnen sich engere Verwandtschaftsverhältnisse z­ wischen den verglichenen Capitularien ab. Für den Weihnachtsfestkreis, die Adventszeit sowie für Commune sanctorum und Votivmessen gehen die Domhandschriften Cod. 14 und Cod. 56 sowie das Evangeliar W 147 mit Gießen 45 Vgl. Frere 1934 (wie Anm. 12), S. 118 – 137. – Das Capitulare im karolingischen Xantener Evangeliar (Koninklijke Bibliotheek van België [KBR], Brüssel, ms. 18723) ist ein Zusatz von jüngerer Hand. Vgl. Koehler 1960 (wie Anm. 20), S. 37.

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Abb. 49: Köln, Historisches Archiv, Best. 7010 Handschriften (Wallraf ), Nr. 147, fol. 134v (Ausschnitt) und Gießener Evangeliar, Universitätsbibliothek Hs 660, fol. 241v (Ausschnitt) Perikopen für Feria IV, VI und den 3. Sonntag nach Ostern

zusammen. Manche Eigenheiten mögen zudem durch einen vor diesen Überlieferungszeugen liegenden Archetyp vermittelt worden sein, so die „In illo tempore“-Einleitung einiger Perikopen und vom Σ-Typ abweichende Initien.46 In der Gegenüberstellung mit dem Gießener Codex und den anderen Vergleichshandschriften fehlen im Evangeliar Cod. 14 Feria IV und Feria VI nach Septuagesima und Sexagesima sowie der Samstag nach Quinquagesima, außerdem einige Wochentage der Oster- und Nachpfingstzeit. Mehrfach weichen die Perikopen für Mittwoch und Freitag ab (Abb. 48). Das Evangeliar Cod. 56 stimmt weitgehend mit Gießen überein. Allerdings gilt diese Aussage für eine Reihe der Einträge erst nach den über Rasur oder auf den Rändern vorgenommenen

46 Auch kleine Versehen gehen vermutlich auf eine gemeinsame Quelle zurück. Zu Feria VI nach dem zweiten Fastensonntag (Σ 72) lautet die Stationskirche: „in Vestine“ (nur in Gießen zu „inter Vestine“ korrigiert). Als Festdatum für den hl. Georg wird 22. statt 23. April angegeben.

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Korrekturen.47 Das Capitulare im Evangeliar aus St. Pantaleon und das Gießener Capitulare bieten bis hin zu gemeinsamen Fehlern gleichlautende Einträge, sodass die spätkarolingische Handschrift als Vorlage für Gießen angesehen werden darf. Besonders aufschlussreich ist der Eintrag zum 3. Sonntag nach Ostern (Abb. 49). In W 147, fol. 134v, steht irrtümlich ­zwischen Evangelium und „capitulum“-Angabe das Explicit der Perikope der vorangehenden Feria VI : „usque et ambo conseruantur“. In Gießen, fol. 241v, dürfte diese Stelle ursprünglich genauso abgeschrieben worden sein. Erst nachträglich wurde das Explicit ausradiert und stattdessen von der Nachtragshand, die mehrfach Korrekturen ausgeführt hat, in der Zeile über der Feria VI eingefügt. Es gibt nur zwei Stellen, an denen Gießen eine andere Perikope bringt als das Evangeliar aus St. Pantaleon. Die Abweichungen lassen sich durch einen direkten Rückgriff auf Cod. 56 erklären.48 Schon bei den Passionsbuchstaben konnten Berührungspunkte mit der Domhandschrift Cod. 56 aufgezeigt werden. Deshalb dürfte sie zusammen mit dem Evangeliar W 147 verfügbar gewesen sein, als die Texte des Gießener Evangeliars geschrieben wurden. Einen Fingerzeig, wo man den Entstehungsort zu suchen hat, gibt Bernhard Bischoff, der W 147 wegen der griechischen Randglosse „BIATETAI “ zu Mt 11,12 (fol. 18r) als „textlich abhängig“ von Cod. 56 ansieht.49 Da erscheint es naheliegend, aus der spätmittelalterlichen Provenienz des Evangeliars aus St. Pantaleon auf ­dieses Benediktinerkloster nicht nur als einen Ort „griechisch-lateinische[r] Kultur“ zu schließen,50 sondern im dortigen Skriptorium auch die Herstellung des Gießener Evangeliars zu vermuten. Für die Capitularien in den Evangelienbüchern der ottonisch-salischen Kölner Malerschule kam der „Vitus-15 Type“ noch mehrfach zum Einsatz. Zu erwähnen ist nicht nur das schon von Frere berücksichtigte Lyskirchen-Evangeliar, dessen Capitulare unvollendet geblieben ist (fol. 210v–215r).51 Zu nennen sind die Perikopenlisten des Gundold-­Evangeliars wie 47 Nach Bischoff 1998 (wie Anm. 42), S. 391, Nr. 1892, der den Codex ins 3. Viertel des 9. Jahrhunderts datiert, gehören auch die Korrekturen noch dem „IX. Jh.“ an. 48 Am Samstag vor Quadragesima steht in Cod. 56 am Rand der Hinweis auf die in Gießen gewählte Perikope vom 6. Sonntag nach Epiphanias (Σ 38). Die „Alternative Ferias“-Perikope für den vor dem 13. August eingeordneten Mittwoch entspricht jener in Cod. 56 auf Rasur angegebenen Lesung. 49 Bischoff 1998 (wie Anm. 42), S. 405, Nr. 1949. – In Cod. 56 (fol. 21ra) steht korrekt: „BIAZETAI“. 50 Christoph Winterer: Das Evangeliar der Äbtissin Hitda. Eine ottonische Prachthandschrift aus Köln. Miniaturen, Bilder und Zierseiten aus der Handschrift 1640 der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Darmstadt 2010, S. 15 – 30. 51 Kath. Pfarrei St. Maria in Lyskirchen, Köln. Frere 1934 (wie Anm. 12), S. 134 (Sigle Km). – Vgl. Doris Oltrogge / Robert Fuchs: Gold, Silber, Messing. Beobachtungen zu Herstellung und Materialverwendung des Jüngeren Evangeliars aus St. Georg, in: Das Jüngere Evangeliar aus St. Georg in Köln. Untersuchungen zum Lyskirchen-Evangeliar, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Anna Pawlik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 5), Köln 2019, S. 199 – 44, hier S. 25. Digitalisat: https://digital.dombibliothek-koeln.de/ddbkhd/content/titleinfo/93739 [1. Februar 2023].

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des Gerresheimer Evangeliars 52 und die Capitularien der Evangeliare der ‚Reichen Gruppe‘ in Köln,53 New York 54 und Bamberg 55.

Nachträge im Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und Überlegungen zu seiner Provenienzgeschichte Von einer Hand des 11. Jahrhunderts, die immer wieder kleinere sprachliche Korrekturen an den ursprünglichen Einträgen vorgenommen hat, wurden zwei Evangelienlesungen auf den Rändern vermerkt, die bei der ursprünglichen Anlage des Capitulare evangeliorum – wohl versehentlich – vergessen worden waren: auf fol. 237v „Feria IV“ (nach „Ebd. II post theophaniam“ ) und auf fol. 238v zum 25. März „Annuntiatio domini“. Außerdem hat diese Korrekturhand häufiger eingegriffen, um das Gießener Perikopenverzeichnis an Capitularien des reinen Typus Σ anzupassen, aber auch um Perikopen auszutauschen oder sogar gänzlich neue Einträge hinzuzufügen.56 Dazu wurden einerseits Fundstellen, Initien und Explicits über Rasur neu geschrieben: so auf fol. 237v für „Feria IV“ nach „Ebd. III post theophaniam“ oder auf fol. 239r–v für „Feria V“ der Quatembertage in der Quadragesima. In solchen Fällen lassen die Vergleichshandschriften Rückschlüsse auf die ursprünglich in Gießen vorhandenen Perikopen zu. Andererseits finden sich Randeinträge für Perikopen, die in dem Gießen zugrundeliegenden „Vitus-15 Type“ nicht enthalten waren: so auf fol. 238r „Die sabbati“ vor „Ebd. VI post theophaniam“ oder auf fol. 245r „nat. s. Eupli“. Folglich fehlen die in Gießen nachgetragenen Perikopen in den Vergleichshandschriften. 52 Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. bibl. qt. 2a–b (Bd. 2, fol. 110v–130r). Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Das Gundold-Evangeliar in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Bemerkungen zu einem Kölner Prachtcodex des 10./11. Jahrhunderts, in: Philologia sanat. Studien für Hans-Albrecht Koch zum 70. Geburtstag, hg. v. Gabriella Rovagnati und Peter Sprengel, Frankfurt am Main 2016, S. 41 – 65. Digitalisat: http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/bsz349838410. – Kath. Pfarrei St. Margareta, Düsseldorf-Gerresheim (fol. 264r–269v). Vgl. Das Gerresheimer Evangeliar. Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Beate Johlen-­Budnik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 1), Köln 2016. Digitalisat: https:// digital.dombibliothek-koeln.de/hs/content/titleinfo/248813 [1. Februar 2023]. 53 Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 1001a: Evangeliar aus St. Maria ad Gradus (fol. 211va–220ra), die Messen „De diversis causis“ wurden nicht mehr eingetragen. Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Das Prachtevangeliar aus Mariengraden. Ein Meisterwerk der salischen Buchmalerei. Die Handschrift Cod. 1001a der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek Köln, Luzern 2018. Digitalisat: https://digital.dombibliothek-koeln.de/hs/content/titleinfo/235725 [1. Februar 2023]. 54 The Morgan Library and Museum New York, MS M. 651 (fol. 162r–176v): Digitalisat: https://www. themorgan.org/collection/gospel-book/143812 [1. Februar 2023]. 55 Staatsbibliothek Bamberg, Msc. Bibl. 94 (fol. 193ra–206vb): Digitalisat: https://nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000029923 [1. Februar 2023]. 56 In der Tabelle im Anhang sind alle diese Fälle dokumentiert.

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Auffällig sind mehrere von der Korrekturhand hinzugesetzte Vigilfeiern: fol. 244r Vigil zum Fest des Apostels Jakobus d. Ä. (24. Juli), fol. 245r Vigil zu Assumptio Mariae (14. August), fol. 245v Vigil zu Nativitas Mariae (7. September), fol. 246v Vigil zum Fest des hl. Michael (28. September) und fol. 247r Vigil von Allerheiligen (31. Oktober). Letztere wurde auf der Mainzer Synode in Seligenstadt 1023 vorgeschrieben.57 Eventuell lässt sich daraus ein Terminus post quem für die Nachträge im Capitulare ableiten. Auf eine konkrete Nutzungssituation könnten die Vigil zum Jakobusfest und die am Festtag selbst (25. Juli) über Rasur nachgetragene Perikope hindeuten. In Kölner Kalendarien wird diese Vigil zwar erst in Quellen ab dem 12. Jahrhundert verzeichnet.58 Doch gab es in der Stadt seit 1070/71 einen Ort, an dem ein besonderes Interesse an der Jakobus-Verehrung existierte. Damals hatte Erzbischof Anno II. (amt. 1056– 75) die Pfarrkirche neben dem von ihm gestifteten Kanonikerstift St. Georg dem hl. Jakobus geweiht, „damit der Name des Apostels liturgisch würdig präsent sei“.59 Wenn man davon ausgehen möchte, dass das Gießener Evangeliar sich zu dieser Zeit im Stift St. Georg befand, wäre es plausibel, dass man durch Aktualisierung des Capitulare auf die neue Situation reagiert hat. Da das Gießener Evangeliar, wie oben dargelegt, sorgfältig für die Verwendung im Gottes­ dienst eingerichtet worden war, könnte es bei der Gründung des Georg-Stifts – zusammen mit dem kostbar eingebundenen Älteren Evangeliar von St. Georg und dem mutmaßlich noch in einem Buchkasten verwahrten, unfertigen Jüngeren Evangeliar – als drittes Evangelienbuch für die tägliche Messfeier dem Konvent übergeben worden sein. Vielleicht darf man in ihm jenes Evangeliar ohne kostbaren Einband – „tertium absque auro et argento“ – des Schatzverzeichnisses von St. Georg sehen, das im 12. Jahrhundert in das mit Miniaturen bereicherte Lyskirchen-Evangeliar (fol. 215v) eingetragen wurde. Im Schatzverzeichnis aus der Mitte des 15. Jahrhunderts im Älteren Evangeliar von St. Georg taucht es nicht mehr auf, weil es als liturgisch genutztes Buch in der Sakristei verwahrt wurde.60

57 Beissel 1907 (wie Anm. 11), S. 177 (MGH SS V, S. 424). 58 Georg Zilliken: Der Kölner Festkalender. Seine Entwicklung und seine Verwendung zu Urkundendatierungen. Ein Beitrag zur Heortologie und Chronologie des Mittelalters, in: Bonner Jahrbücher 119 (1910), S. 13 – 157, hier S. 86 – 87. 59 Klaus Gereon Beuckers: Auf dem Weg nach Santiago de Compostella? Der heilige Jakobus im mittel­ alterlichen Köln, in: Topografías culturales del Camino de Santiago / Kulturelle Topographien des Jakobsweges, hg. v. Javier Gómez-Montero, Frankfurt am Main 2016, S. 59 – 94, hier S. 61 (Zitat) und S. 65 f. 60 Vgl. Oltrogge / Fuchs 2019 (wie Anm. 51), S. 28 mit Anm. 17. – Anna Pawlik: Das ‚Schatzverzeichnis‘ des Stiftes St. Georg oder: Die Bestandsaufnahme einer hochmittelalterlichen Sakristei, in: Beuckers / Pawlik 2019 (wie Anm. 51), S. 241 – 264, hier S. 246 mit Farbtaf. von fol. 215v u. S. 253 mit Abb. 65.

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 201

Abb. 50: Köln, Historisches Archiv, Best. 7010 Handschriften, Nr. 312, fol. 197r Beginn des Capitulare evangeliorum

Das Capitulare evangeliorum im Kölner Evangeliar aus St. Gereon Nur kurz soll hier das Capitulare im Kölner Evangeliar W 312 aus St. Gereon im Historischen Archiv der Stadt Köln (fol. 197r–220v, Abb. 50) gestreift werden.61 Ein Blick auf die ersten Seiten des Perikopenverzeichnisses dieser Handschrift der ‚Malerischen Gruppe‘, deren genaue zeitliche Einordnung in der Diskussion steht, lässt aufmerken. Fast alle Perikopen – bis zum Ende – haben die für den Typus Λ charakteristische Einleitung „in illo 61 Historisches Archiv Köln, Best. 7010 Handschriften (Wallraf ), Nr. 312. Vgl. auch den Beitrag von Elisabeth Luger Hesse in ­diesem Band. Digitalisat: https://historischesarchivkoeln.de/viewer/?fileName=https%3A// historischesarchivkoeln.de/mets%3Fid=6B1BAA 39-991F-45E8-BC 77-3065D06E7702_000208859_ Orig_n_kons1_20171220105717.xml [1. Februar 2023]. – Eine ausführliche Analyse des Capitulare ist vorgesehen in: Klaus Gereon Beuckers / Ursula Prinz: Das Kölner Kaiserinnen-Evangeliar. Ein ottonisches Prachtevangeliar aus St. Gereon im Historischen Archiv der Stadt Köln (Best. 7010, Cod. 312), Darmstadt 2024. – Bis dahin vgl. Frere 1934 (wie Anm. 12), S. 180 (Sigle Kg) mit S. 177 – 179 (nicht ganz korrekte synoptische Analyse des Capitulare mit jenem des Evangeliars der John Rylands Library Manchester, Latin MS 10). Frere datiert W 312 zu früh („9th century“ ).

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tempore“.62 Wie in Gießen beginnt der Jahreskreis mit der Vigil von Weihnachten (Δ 1 = Λ 270). Wiederum mit Gießen vergleichbar, ist zusätzlich eine „Ebd. I post nat. domini“ (Δ 10) nach dem Fest der Unschuldigen Kinder eingeschoben.63 Eindeutig auf den Λ-Typ verweist das Marienfest am 1. Januar (Λ 9), jenem Tag, an dem andere Vertreter des Typus zusätzlich zur Oktav von Weihachten ein Fest der hl. Martina haben. Ab dem ersten Sonntag nach Theophanie folgt W 312 dann dem Σ-Typ, was aus der Wahl der berücksichtigten Tage und ihrer spezifischen Reihung zu schließen ist. Auch die typische Überschrift vor Septuagesima zu den Perikopen bis Ostern findet sich in W 312. In der Vorfasten-, Osterund Nachpfingstzeit wurden vielfach die von Frere so genannten „Alternative Ferias“ eingefügt, allerdings gehen die Veränderungen nicht immer mit Gießen zusammen. Nach der Pfingstoktav werden die Sonntage durchgezählt: „Ebdomada II“ bis „Ebdomada XXV“. Abweichungen gegenüber Gießen gibt es auch bei den ab Juni zu kleinen Gruppen zusammengefassten Heiligenfesten (mit der Λ-typischen „Translatio corporis beati Leonis pontificis“ zum 27. [!] Juni), beim Commune sanctorum und den Votivmessen.

Das Capitulare evangeliorum im Hitda-Codex und seine Verwandten Konsequenter als im Kölner Evangeliar aus St. Gereon ist die Trennung der Heiligenfeste von den Sonn- und Ferialtagen im zweispaltig angelegten Capitulare evangeliorum des Hitda-Codex durchgeführt (210ra–218vb, Abb. 51). Schon Leo Eizenhöfer und Hermann Knaus hatten in ihrem Katalog der liturgischen Handschriften der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek festgehalten, dass – bis auf die Weihnachtsoktav – die Proprien von Temporale und Sanctorale jeweils „gruppenweise“ angeordnet ­seien.64 Auf die „Dominica V“ nach Epiphanias, mit der der Weihnachtsfestkreis zu Ende geht,65 folgen die Heiligenfeste vom 14. Januar (Felix) bis zum 25. März (Annuntiatio). Das Temporale wird fortgesetzt mit der Zeit von Septuagesima bis zu den nach dem 4. Sonntag nach Osteroktav 62 Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. 48, Punkt 1*. 63 Klauser 1972 (wie Anm. 1), S. 59 (Apparat: „post 9“) weist die Perikope als Zusatz in zwei Textzeugen der Gruppe Λa vor der Vigil von Theophania nach. 64 Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs 1640. Vgl. Leo Eizenhöfer / Hermann Knaus: Die liturgischen Handschriften der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt (Die Handschriften der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Bd. 2), Wiesbaden 1968, S. 96 – 100. – Winterer 2010 (wie Anm. 50). – Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex (Universitätsund Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640). Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013. – Silvia Uhlemann, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, hat Neuaufnahmen des Capitulare evangeliorum veranlasst, wofür ich ihr herzlich danke. 65 Hier finden sich Δ-typische Merkmale: die erwähnten Zusätze zu den drei Weihnachtsmessen und der Name „Epyphania“ für das Fest am 6. Januar.

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 203

Abb. 51: Hitda-Codex, Universitätsund Landesbibliothek Darmstadt, Hs 1640, fol. 210r: Beginn des Capitulare evangeliorum

eingereihten Rogationstagen („In laetania maiore“ ).66 Daran schließen sich die Feste vom 14. April (Tiburtius und Valerianus) bis zum 25. Mai (Urbanus) an, sodann das Temporale von der Himmelfahrtsvigil bis zu Mittwoch und Freitag nach Pfingstoktav. Es folgt der umfangreichste Abschnitt der Heiligenfeste vom 2. Juni (Marcellinus und Petrus) bis zum 21. Dezember (Apostel Thomas). Mit einer eigenen Überschrift ist das Temporale vom 2. Sonntag nach Pfingsten bis zum Advent angeschlossen. Regelmäßig finden für Wochentage die „Alternative Ferias“ Verwendung.67 Eine Besonderheit sind „Concordia“-Perikopen, die zu Sonntag und Mittwoch der Sexagesima sowie zu drei Adventssonntagen aufgeführt sind. Dabei wird der gewöhnlich vorgesehene Lesungsabschnitt um Parallelstellen aus den anderen synoptischen Evangelien ergänzt (Abb. 52). Perikopen zum Commune sanctorum wie zu Votiv- und Totenmessen fehlen. In den Sanctorale-Abschnitten werden die Heiligengedenktage entsprechend der kalendarischen Reihenfolge, allerdings 66 In den vier Klauserschen Typen stehen die Bitttage gemäß römischem Usus zum 25. April. 67 Eizenhöfer / Knaus 1968 (wie Anm. 64), S. 100 verweisen dafür auf den Comes von Murbach und jenen des Pamelius.

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Abb. 52: Hitda-Codex, Universitätsund Landesbibliothek Darmstadt, Hs 1640, fol. 211r: Perikopen für 22. und 25. März, Vorfastenzeit (mit Concordia-Perikopen) und Beginn der Fastenzeit

ohne Benennung des Datums, bis auf wenige Ausnahmen mit der Einleitung „In natale“ hintereinander gereiht. Beim Blättern im Capitulare heben sich deshalb die TemporaleSektionen mit den in die Versalienspalte herausgerückten Initialen ‚E‘ (Ebdomada) oder ‚D‘ (Dominica) sowie ‚F‘ (Feria) und ‚S‘ (Sabbato) von den Sanctorale-Abschnitten mit den I-Initialen deutlich ab. Nach demselben Schema und ebenfalls zweispaltig ist auch das Capitulare evangeliorum im gleichfalls zur ‚Malerischen Gruppe‘ gehörenden Mailänder Evangeliar der Ambrosiana organisiert (fol. 229ra–237rb).68 Die rubrizierten Zusätze verraten, dass es bis ins späte Mittelalter hinein benutzt wurde. Die roten Unterstreichungen der Sonn- und Werktage sowie der Heiligennamen dürften ebenfalls von späterer Hand vorgenommen worden sein. Hitda-Codex und Mailänder Evangeliar sind nicht die einzigen Evangeliare der ottonischsalischen Kölner Malerschule mit der gruppenweisen Anordnung von Temporale und Sanctorale. Auch alle Evangeliare der ‚Strengen Gruppe‘ ordnen ihr Capitulare evangeliorum 68 Biblioteca Ambrosiana Mailand, C 53 sup. Vgl. hierzu den Beitrag von Fabrizio Crivello in d ­ iesem Band. – Digitalisat: http://213.21.172.25/0b02da8280051bdc [1. Februar 2023].

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 205

nach ­diesem Schema, einschließlich des Evangeliars aus St. Gereon in Stuttgart, das allerdings nach „In letania maiore“ abbricht (fol. 194r–198r).69 Die Auswahl der Heiligenfeste stimmt in den Sanctorale-Teilen von Hitda-Codex, Mailänder Evangeliar und dem Capitulare des Londoner Evangeliars Harley 2820 (fol. 237ra–248rb) jeweils überein.70 Gegenüber dem Σ-Typ fehlen einige Feste; stattdessen sind andere neu aufgenommen. Als bemerkenswert dürfen gelten: Cathedra s. Petri (22. Februar), Inventio s. crucis (3. Mai), Mauritius (22. September), Remigius (1. Oktober) und Gereon (10. Oktober).71 Von den übrigen Vertretern der Gruppe hebt sich das Capitulare des sogenannten Abdinghofer Evangeliars des Berliner Kupferstichkabinetts 78 A 3 durch sein Layout ab; denn als einziges wurde es in Langzeilen geschrieben (fol. 254r–269v). Außerdem sind in den umfangreichen Sanctorale-Abschnitt zwei zusätzliche Feste integriert: Mit dem „sanctissimus Severinus“ (23. Oktober) und dem hl. Kunibert (12. November) wurden spezifisch Kölner Heilige berücksichtigt, weshalb ich als ursprünglichen Bestimmungort des Evangeliars 78 A 3 die Kölner Stiftskirche St. Severin vorgeschlagen habe.72 Der die ‚Malerische‘ und die ‚Strenge Gruppe‘ verbindende Befund einer besonderen Organisation des Capitulare evangeliorum setzt eine über Jahrzehnte im Skriptorium verfügbare Vorlage voraus. Dass es sie gegeben hat, belegt ein gemeinsamer Fehler im Eintrag für den Mittwoch der Karwoche, an dem die Lukas-Passion gelesen wird. Irrtümlich ist im HitdaCodex (fol. 212va) und im Mailänder Evangeliar (fol. 231rb), ebenso im Stuttgarter Evangeliar Bibl. fol. 21 (fol. 197va) und dem Harleianus 2820 (fol. 240ra) die Fundstelle mit „cap. LX“ falsch angegeben.73 In Mailand und in Harley MS 2820 wurde die von der anlegenden Hand geschriebene Zahl „LX“ von einem kundigen Korrektor jeweils zu „CCLX“ richtiggestellt.74 69 Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. bibl. fol. 21: Digitalisat: https://digital.wlb-stuttgart.­ de/­index.php?id=6&tx_dlf%5Bid%5D=7590&tx_dlf%5Bpage%5D=1 [1. Februar 2023]. 70 British Library London, Harley MS 2820: Digitalisat: https://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay. aspx?index=338&ref=Harley_MS_2820 [1. Februar 2023]. 71 In der für Köln bestimmten Litanei des im 10. Jahrhundert entstandenen Sakramentars der Kölner Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 88, steht Mauritius unmittelbar vor Gereon, Victor, Cassius und ­Florentius in der Reihe der Märtyrer (fol. 9va). Vgl. Kat. Köln 1998 (wie Anm. 42), Kat. Nr. 82 ­(Andreas Odenthal / Ulrike Surmann). Andreas Odenthal: Zwei Formulare des Apologientyps der Messe vor dem Jahre 1000, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 37 (1995), S. 25 – 44, hier S. 30. 72 Beate Braun-Niehr: Das Abdinghofer Evangeliar im Berliner Kupferstichkabinett. Beobachtungen und Fragen zu seiner Geschichte, in: Das Sakramentar aus Tyniec. Eine Prachthandschrift des 11. Jahrhunderts und die Beziehungen ­zwischen Köln und Polen in der Zeit Kasimirs des Erneuerers, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Andreas Bihrer (Forschungen zur Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 3), Köln 2018, S. 114 – 140, hier S. 133/136 – 138 mit Abb. 17. – Vgl. auch Klaus Gereon Beuckers: Die ‚Strenge Gruppe‘ der Kölner Buchmalerei des 11. Jahrhunderts. Eine Revision, in: Beuckers / Pawlik 2019 (wie Anm. 51), S. 141 – 177, hier S. 145 f. 73 Diesen Fehler bringen auch das Abdinghofer Evangeliar (fol. 258r; eine Aufnahme der Seite hat dankens­ werterweise Michael Roth, Kupferstichkabinett, zur Verfügung gestellt) sowie das im Folgenden genannte Evangeliar in Manchester (vgl. Anm. 76). 74 Ein Versehen im Mailänder Evangeliar lässt auf einen Augensprung des Kopisten schließen (fol. 230rb).

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Für Walter H. Frere waren es das Vitusfest und die „Alternative Ferias“, die ihn veranlassten, drei Handschriften, darunter das Mailänder Evangeliar (Sigle Mil) und den Harleianus 2820 (Sigle Ld), in einem Appendix zum „Vitus-15 Type“ zu behandeln, die eigentlich „outside the strict limits“ seiner Studie lagen.75 Über ihre Zusammengehörigkeit aus kunsthistorischer Sicht war er nicht informiert. Das Evangeliar der Ambrosiana gilt ihm als „probably French in origin“ [!], für das Capitulare in London erwähnt er einige Randnachträge. Freres Analyse geht aus von dem „almost exactly“ mit Mailand übereinstimmenden Capitulare eines im 11. Jahrhundert geschriebenen Evangeliars in Manchester (Sigle Rc).76 Durch die im 15. Jahrhundert lateinisch und deutsch vermerkte Eidesformel für die „electa preposita“ in „Rolinchusen“ und weitere Nachträge ist der Codex mit dem 998 durch die Essener Äbtissin Mathilde gegründeten Kanonissenstift Rellinghausen verbunden.77 Leider fehlt der für ein Evangeliar zu erwartende Buchschmuck. Rückschlüsse auf die (geplante) Ausstattung mit Initialen und Miniaturen lassen jene Worte aus Mt 1,2, Mk 1,3, Lk 1,8 und Joh 1,6 zu, mit denen die vier Evangelien im Manchester-Codex jeweils auf der ersten Seite eines Quaternios einsetzen. Mit denselben Worten werden nämlich im Gerresheimer Evangeliar – im Anschluss an die Bild- und Zierseiten und gleichfalls auf der ersten Seite einer neuen Lage – die in normaler Minuskel geschriebenen Evangelientexte fortgesetzt.78 Das Evangeliar Latin MS 172 regt demnach nicht nur dazu an, den nach Temporale- und Sanctorale-Gruppen geordneten Capitulare-Typ auf breiterer Überlieferungsgrundlage eingehend zu analysieren. Zu fragen sein wird auch danach, ob die Essener Äbtissin Theophanu (amt. 1039 – 58) das Evangelienbuch für ihre Propstei Rellinghausen gestiftet und sich bei dessen Konzeption möglicherweise am Gerresheimer Evangeliar orientiert haben könnte, jenem Plenar, in das auf einer leeren Seite nachträglich eine Schenkung Theophanus an den dortigen Konvent eingetragen wurde.79 Dort endet in der Woche nach Quadragesima das Perikopenzitat der Feria II mit dem Explicit der Feria III. In den übrigen Handschriften finden sich jeweils Incipit und Explicit der Perikopen beider Tage. 75 Frere 1934 (wie Anm. 12), S. 137 – 139. 76 John Rylands Library Manchester, Latin MS 172; das zweispaltige Capitulare steht vor den Evangelien auf fol. 11r–20r; Kanontafeln fehlen. Vgl. Montague Rhodes James: A Descriptive Catalogue of the Latin Manuscripts in the John Rylands University Library, Part 1: MSS 1 – 183, Manchester 1921 [Nachdruck München 1980], Textband, Kat. Nr. 172, S. 296 – 297. 77 Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Die Ezzonen und ihre Stiftungen. Eine Untersuchung zur Stiftungs­ tätigkeit im 11. Jahrhundert (Kunstgeschichte, Bd. 42), Münster, Hamburg 1993, S. 118 – 121. 78 Vgl. Beuckers 1993 (wie Anm. 77), S. 164 – 168. – Beuckers / Johlen-Budnik 2016 (wie Anm. 52), Farbtaf. von fol. 22r, 89r, 139r, 214r. – Zur Lagenzusammensetzung vgl. Doris Oltrogge: Maltechnische und kodikologische Befunde zu Herstellung und Gebrauch des Gerresheimer Evangeliars, in: Beuckers / Johlen-Budnik 2016 (wie Anm. 52), S. 65 – 96, insb. S. 69 – 71 u. 96. 79 Jens Lieven: Vera mater nostra abbatissa Theophanu auxerit nostram vestituram. Zum Schenkungseintrag der Äbtissin Theophanu im Gerresheimer Evangeliar, in: Beuckers / Johlen-Budnik 2016 (wie Anm. 52), S. 119 – 134 mit Farbtaf. von fol. 129r.

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 207

Anhang: Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars (fol. 237r–250r) Die einzelnen Spalten bieten folgende Informationen: 1. Spalte: Bezeichnung des liturgischen Tages oder Festes entsprechend dem Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars. Für Aschermittwoch, Gründonnerstag und Karfreitag sind zur leichteren Orientierung die geläufigen lateinischen Namen in eckigen Klammern hinzugesetzt. Bis auf wenige Ausnahmen werden die Stationskirchen nicht aufgeführt. 2. Spalte: Umfang der Perikopen (Mt = Matthäus, Mk = Markus, Lk = Lukas, Joh = Johannes). 3. Spalte: Die Bezeichnung der Perikopen folgt der von Klauser 1972 (s. o., wie Anm. 1) für die einzelnen Typen eingeführten Zählung, auch dann, wenn eine Perikope an einem anderen liturgischen Termin verwendet wird, als dies im Σ- oder Δ-Typus der Fall ist. Ergänzend werden die von Frere 1934 (s. o., wie Anm. 12), S. 119 – 123 für die Perikopen der „Alternative Ferias“ erdachten, kursiv gesetzten Abkürzungen hinzugefügt: E = Epiphanie / Theophanie, LXX = Septuagesima, LX = Sexagesima, P = Pascha, T = Trinitatis, Adv = Advent; die hochgesetzte Ziffer verweist auf den jeweiligen Sonntag der betreffenden Festzeit; w, f, s geben die Wochentage an (Feria IV, Feria VI, Sabbato). Für das Commune sanctorum wird zusätzlich auf die beiden Listen der Perikopen zu Heiligenfesten in Beissel 1907 (s. o., wie Anm. 11), S. 178 – 180 hingewiesen (B mit Ziffer). 4. – 6. Spalte: Übereinstimmungen der Vergleichshandschriften mit Gießen werden mit einem Punkt (•) angegeben. Historisches Archiv Köln, Best. 7010 Handschriften (Wallraf), Nr. 147 (abgekürzt: HistArchiv W 147): Evangeliar aus St. Pantaleon, fol. 129r–145r (s. o., Anm. 44); Frere 1934, S. 126 – 129 ­Analyse des Capitulare evangeliorum, überwiegend in Form von Zahlenreihen nach den „Stand­ard Gospel-Series“ bzw. den „Alternative Ferias“ (Sigle Kp). Digitalisat: https://historisches​ archiv​koeln.de/viewer/?fileName=https%3A//historischesarchivkoeln.de/mets%3Fid=00901​ 44C-B582-4E51-A17D-71E5FD73597B_000209587_Orig_n_kons1_20180502150904.xml [1. Februar 2023]. Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 56 (abgekürzt: DomHs Cod. 56): Evangeliar, fol. 127r–138v (s. o., Anm. 43); Digitalisat: https://digital.dombibliothek-koeln. de/hs/content/titleinfo/216693 [1. Februar 2023].

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Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 14 (abgekürzt: DomHs Cod. 14): Frankosächsisches Evangeliar, fol. 202r–215r (s. o., Anm. 42); Digitalisat: https://digital. dombibliothek-koeln.de/hs/content/titleinfo/156139 [1. Februar 2023]. Wörtliche Übernahmen aus den Handschriften sind kursiv wiedergegeben. Recte und in Anführungszeichen stehen die übrigen lateinischen Zitate. Römische Ziffern werden normalisiert, Eigennamen großgeschrieben; ‚e‘ caudatae werden als ‚ae‘ wiedergegeben. Abkürzungen: Dom. = Dominica / Ebd. = Ebdomada / nat. = natale / s. = sancti, sanctae, sanctorum, sanctum, sanctam / ap. = apostoli, apostolorum / cf. = confessoris / ep. = episcopi / ev. = evangelistae / m. = martyris / pont. = pontificis / pp. = papae / sac. = sacerdotis / v. = virginis. Ergänzend werden in den Anmerkungen gelegentlich herangezogen: Evangelistar aus dem Kölner Dom, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 144 (abgekürzt: DomHs Cod. 144); Digitalisat: https://digital.dombibliothek-koeln.de/hs/content/title​ info/228916 [1. Februar 2023]. Echternacher Evangelistar, Koninklijke Bibliotheek van België (KBR), Brüssel, Ms. 9428 (abgekürzt: KBR, Ms. 9428); vgl. Anton von Euw: Kommentar zur Faksimile-Edition „Das Echternacher Evangelistar, Ms. 9428 Bibliothèque Royale de Belgique, Brüssel“, Luzern 2007, S. 247 – 279.

Weihnachtszeit: Tages-/Festbezeichnung

Perikope

Klauser /  Frere

Incipit capitulare evangeliorum de circulo anni

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

•80





In vigilia domini

Mt 1,18 – 21

Δ 1 = Σ 274







In nat. domini ad s. Mariam maiorem

Lk 2,1 – 14

Σ1







Item ad s. Anastasiam

Lk 2,15 – 20

Σ2







Item ad s. Petrum – Zusatz am Rand: in die

Joh 1,1 – 14

Σ3







Mt 23,34 – 39

Σ4







In nat. s. Stephani 81

80 In HistArchiv W 147, fol. 128v, geht – von derselben Hand geschrieben wie das Explicit zum Johannesevangelium – eine zusätzliche Überschrift voraus: Incipiunt capitulare [sic!] lectionum evangeliorum de circulo anni. 81 Das entsprechend Σ 4 knappe Initium wurde in Gießen von der Korrekturhand auf Teilrasur des ursprünglichen Eintrags etwas ausführlicher wiedergegeben.

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 209

Tages-/Festbezeichnung

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

In nat. s. Iohannis ev.

Joh 21,19 – 24

Σ5







In nat. Innocentum

Mt 2,13 – 23

Σ6







Dom. I post nat. domini

Lk 2,33 – 40

Δ 1082







In nat. s. Silvestri

Mt 24,42 – 47

Σ7







In octavas domini

Lk 2,21 – 32

Σ8







In vigilia theophaniae 83

Mt 2,19 – 23

Σ9







In theophania

Mt 2,1 – 12

Σ 10







E [bd. I]84 post theophaniam

Lk 2,42 – 52

Σ 11







14.1. nat. s. Felicis in pincis

Lk 10,16 – 20

Σ 12







Feria IV – Zusatz am Rand: post theophaniam 85

Joh 1,29 – 34

Σ 13



Σ 13 auf Rasur



Feria VI

Mt 4,12 – 17

Δ 17 / E 1 f





• •

In octavas theophaniae

Mt 3,13 – 17

Δ 16



Δ 16 auf Rasur

16.1. nat. s. Marcelli m.

Mt 25,14 – 23

Σ 14







Ebd. II post theophaniam die dominico

Joh 2,1 – 11

Σ 15







Item alia post theophaniam

Lk 4,14 – 22

Σ 16







Nachtrag am Rand:86 Feria IV

Mk 1,40 – 4 4

Σ 17







Feria VI

Mk 6,1 – 5

Σ 18







Sabbato

Lk 4,38 – 43

Σ 19







Ebd. III post theophaniam die dominico

Mt 8,1 – 13

Σ 20







Feria IV – nach Korrektur:

Mk 3,1 – 587

Σ 21

Jeweils Mt

4,23 – 25 =

Δ 27 / E 3 f

Feria VI

Lk 5,12 – 15

Σ 22







82 Entsprechend Δ 10 endet das Explicit in Gießen vor der Korrektur: […] cum illo; ebenso in HistArchiv W 147 und DomHs Cod. 56. Der Explicit-Schluss in Gießen nach der Korrektur: […] in illo findet sich auch in DomHs Cod. 14. 83 Wie in den Vergleichshandschriften lautete vor der Korrektur die Festbezeichnung in Gießen: In vigilia de theophania. 84 E[bdomada I] wurde in Gießen ausradiert; die Zählung entsprach jener in den Vergleichshandschriften. 85 Diesen Zusatz hat die Tagesbezeichnung üblicherweise im Typus Σ. Er fehlt jedoch auch in der Vergleichshandschriften. 86 In Gießen wurden Tagesbezeichnung und Perikope von der Korrekturhand nachgetragen. Möglicherweise war der Eintrag, den alle Vergleichshandschriften enthalten, von erster Hand vergessen worden. 87 Da in Gießen die Anfangsbuchstaben des Evangeliums ‚ma‘ von der Korrekturhand beibehalten wurden, wird hier analog zu den Vergleichshandschriften ursprünglich die Matthäus-Perikope gestanden haben.

210 | Beate Braun-Niehr

Tages-/Festbezeichnung Sabbato 18.1. nat. s. Priscae

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Mk 4,1 – 9

Σ 23







Mt 13,44 – 52

Σ 24







20.1. nat. s. Sebastiani

Lk 6,17 – 23

Σ 25







20.1. nat. s. Fabiani

Mt 24,42 – 47

Σ 26







Ebd. IV post theophaniam die dominico

Mt 8,23 – 27

Σ 27







21.1. nat. s. Agnae de passione

Mt 25,1 – 13

Σ 28





• • •

Mt 9,18 – 26

Σ 29



auf Rasur 8 8: Lk 9,57 – 62

22.1. nat. s. Vincentii

Joh 12,24 – 26

Σ 30





Feria VI

Mk 4,24 – 34

Σ 31







Sabbato

Lk 14,7 – 15

Σ 32







Mt 13,24 – 30

Σ 33







Feria IV

Mk 5,21 – 34

Σ 3489







28.1. nat. s. Agnae de natale [!]

Mt 13,44 – 52

Σ 35







Feria VI

Mk 5,1 – 19

Σ 36







Nachtrag am Rand: Die sabbati

Lk 7,11 – 16

Σ 37

fehlt

fehlt

fehlt

Ebd. VI post theophaniam

Mk 6,47 – 56

Σ 38







Feria IV

Mk 6,1 – 6

Δ 45 / E  f







Feria VI

Lk 7,36 – 47

Σ 39







Feria IV

Ebd. V post theophaniam die dominico

2

Sabbato

Mk 2,13 – 17

Σ 40







Ebd. VII post theophaniam

Mt 12,9 – 15

Σ 41







2.2. Ypapanti / über der Zeile: in purificatione s. Mariae 9 0

Lk 2,22 – 32

Σ 42

• Ypapanti

• Ypapanti

• Ypapanti

5.2. nat. s. Agathae

Mt 25,1 – 13

Σ 43







Feria IV

Mk 6,34 – 46

Σ 44







Feria VI

Mt 14,15 – 21

Σ 45







Lk 9,1 – 6

Σ 46







Ebd. VIII post theophaniam die dominico

88 Diese Perikope kommt in den vier Capitulare-Typen nach Klauser 1972 nicht vor, ist aber z. B. im Evangelistar aus dem Kölner Dom (DomHs Cod. 144, fol. 11v) zum selben Tag belegt. Vgl. auch Frere 1934, S. 119, der diese Perikope unter den „Alternative Ferias“ (Theoph 4w) anführt. 89 Während nach Klauser 1972, S.105, Σ 34 als „Item alia“ bezeichnet ist, nennen Gießen und die Vergleichshandschriften übereinstimmend Feria IV als Tag der liturgischen Verwendung. 90 Das Fest am 2. Februar bleibt im Σ-Typ namenlos, die Bezeichnung lautet im Typus Λ: „Ypapanti“ (Λ 45), im Typus Δ: „Purificatio sanctae Mariae“ (Δ 49).

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 211

Tages-/Festbezeichnung

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Feria IV

Mt 15,1 – 20

Σ 47







14.2. nat. s. Valentini

Lk 9,23 – 27

Σ 48







Feria VI

Lk 8,22 – 39

Σ 49







Sabbato

Mk 7,24 – 30

Σ 50







Ebd. IX post theophaniam die dominico

Mt 22,2 – 14

Σ 51







Ebd. X post theophaniam

Mt 15,21 – 28

Σ 52







12.3. nat. s. Gregorii cf.

Mt 24,42 – 47

Σ 53







Nachtrag am Rand:91 25.3. Annuntiatio domini

Lk 1,26 – 38

Σ 54







Perikope

Klauser / Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14







Vorfasten- und Fastenzeit: Tages-/Festbezeichnung Incipiunt lectiones a Septuagesima usque in Pascha Mt 20,1 – 16

Σ 55







Feria IV

Mk 9,29 – 36

vgl. Δ 6392 / LXXw





fehlt

Feria VI

Lk 9,51 – 56

Δ 64 / LXXf





fehlt

In Septuagesima die dominico

In Sexagesima die dominico Feria IV

Lk 8,4 – 15

Σ 56







Mt 12,30 – 37

Δ 66 / LXw





fehlt

Feria VI

Lk 17,20 – 37

Δ 67 / LXf





fehlt

In Quinquagesima die dominico

Lk 18,31 – 43

Σ 57







Feria IV [In capite ieiunii]

Mt 6,16 – 21

Σ 58







Feria V

Mt 8,5 – 13

Δ 7093







Feria VI

Mt 5,43 – 6,4

Σ 59







91 In Gießen wurden Festbezeichnung und Perikope von der Korrekturhand nachgetragen. Möglicherweise war der Eintrag, den alle Vergleichshandschriften enthalten, von erster Hand vergessen worden. 92 Klauser 1972, S. 145 benennt für Δ 63 nur die Bibelstellen von Incipit und Explicit (Mk 9,30; Mt 13,9). Die von Gießen, HistArchiv W 147 und DomHs Cod. 56 überlieferte Markus-Perikope (9,29 – 36) findet sich zum selben Tag im Evangelistar aus dem Kölner Dom (DomHs Cod. 144, fol. 14r/v), schließt dort allerdings mit Mt 13,9. In Gießen, fol. 97v, ist dieser Schluss-Satz am Rand neben Mk 9,36 nachgetragen. 93 Frere 1934, S. 35 zählt die Feria V nach Aschermittwoch als Nr. 59 der „Standard Gospel-Series“. Nach Klauser 1972, S. 95, Punkt 10 gehört dieser Tag nicht ursprünglich zum Σ-Typ; vgl. ebd., S. 107 ­Apparat: „post 58“.

212 | Beate Braun-Niehr

Tages-/Festbezeichnung Sabbato In Quadragesima die dominico

Perikope

Klauser / Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Mk 6,47 – 5694

Δ 72 (= Σ 38)

fehlt

Am Rand Verweis auf Σ 38

fehlt

Mt 4,1 – 11

Σ 60







Feria II

Mt 25,31 – 46

Σ 61







Feria III

Mt 21,10 – 17

Σ 62







Mensis primi feria IV

Mt 12,38 – 50

Σ 63

Feria V – nach Korrektur:

Joh 8,31 – 4795







Jeweils Mt

15,21 – 28

= Σ 64

Feria VI

Joh 5,1 – 15

Σ 65







Die sabbato XII lectionum

Mt 17,1 – 9

Σ 66







Ebd. [II] die dominico vacat (Eintrag expungiert; stattdessen:)

Mk 1,40 – 4 4

Σ 17



Σ 17 auf Rasur 9 6

Mt 15,21 – 28 = Σ 64

Am Rand: Ebd. II die dominico

Mt 15,21 – 28

Σ 64

Feria II

Joh 8,21 – 29

Σ 68







Feria III

Mt 23,1 – 12

Σ 69







Feria IV

Mt 20,17 – 28

Σ 70







Feria V

Lk 16,19 – 31

Σ 71







Feria VI

Mt 21,33 – 46

Σ 72







Die sabbato

Lk 15,11 – 3297

Σ 73







Ebd. III die dominico

Lk 11,14 – 28

Σ 74







Feria II

Lk 4,23 – 30

Σ 75







Feria III

Mt 18,15 – 22

Σ 76







Feria IV

Mt 15,1 – 20

Σ 77







94 Zum selben Tag findet sich diese Perikope im Evangelistar aus dem Kölner Dom (DomHs Cod. 144, fol. 18v). 95 Die Johannes-Perikope, die bei Klauser 1972, S. 20 (Apparat: „post 59“ des Typus Π) bzw. S. 107 (Apparat: „64 in marg.“ des Typus Σ) jeweils als Zusatz nachgewiesen ist, findet sich zum selben Tag z. B. im Echternacher Evangelistar (KBR, Ms. 9428, fol. 35r–36r). Vgl. auch Frere 1934, S. 65 (mittlere Spalte). Da in Gießen von der Korrekturhand, außer Incipit und Explicit, auch Evangelium und Kapitel der Perikope über Rasur notiert wurden, wird hier ursprünglich die in den Vergleichshandschriften belegte Matthäus-Perikope gestanden haben. 96 In DomHs Cod. 56 stand hier wahrscheinlich vor der Rasur die Matthäus-Perikope 15,21 – 28 = Σ 64. Vgl. Frere 1934, S. 66 zur Wahl des Evangeliums für diesen Sonntag, an dem ursprünglich wegen des langen Gottesdienstes am Quatembersamstag keine Stationsmesse stattfand. 97 In Gießen ist das Explicit am Rand nachgetragen: usque perierat et inventus est (= Lk 15,32; vgl. fol. 164r, 6. Zeile von unten mit der Neume für die Schlusswendung); in den Vergleichshandschriften ist es vorhanden. Frere 1934, S. 36, Nr. 74 der „Standard Gospel-Series“ gibt irrtümlich Lk 15,11 – 24 als Perikope für diesen Tag an.

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 213

Perikope

Klauser / Frere

Feria V

Lk 4,38 – 4 4

Σ 78







Feria VI

Joh 4,6 – 42

Σ 79







Die sabbato

Joh 8,1 – 11

Σ 80







Ebd. IV die dominico

Joh 6,1 – 14

Σ 81







Feria II

Joh 2,13 – 25

Σ 82







Feria III

Joh 7,14 – 31

Σ 83







Feria IV

Joh 9,1 – 38

Σ 84







Feria V

Lk 7,11 – 16

Σ 85







Feria VI

Joh 11,1 – 45

Σ 86







Die sabbato

Joh 8,12 – 20

Σ 87







Joh 8,46 – 5998

Σ 88







Joh 7,32 – 39

Σ 89







Tages-/Festbezeichnung

Ebd. V die dominico Feria II

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Feria III

Joh 7,1 – 13

Σ 90







Feria IV

Joh 10,22 – 38

Σ 91







Feria V

Rasur 9 9

Jeweils Lk

7,36 – 47 =

Σ 92

Feria VI

Joh 11,47 – 54

Σ 93







Die sabbato

Joh 17,1 – 26100

länger als Σ 94



• nach Korrektur

Joh 17,1 – 11 = Σ 94

Ebd. VI die dominico

Mt 26,2 – 27,66

Σ 95







Feria II

Joh 12,1 – 36

Σ 96







Feria III

Mk 14,1 – 15,46 101



Mk 14 – 15 auf Rasur

Joh 13,1 – 32 = Σ 97 / Nachtrag Mk 14,1

Feria IV

Lk 22,1 – 23,53

Σ 98







Feria V [in cena domini]

Joh 13,1 – 15102

Σ 99







Feria VI [in parasceve]

Joh 18,1 – 19,42

Σ 100







98 Das gegenüber Σ 88 knappe Initium Dicebat Iesus […] principibus findet sich ebenso in den Vergleichshandschriften; nur in Gießen wurde es von der Korrekturhand am Rand ergänzt. 99 Vermutlich stand in Gießen vor der Rasur wie in den Vergleichshandschriften die Lukas-Perikope (Σ 92). 100 Gegenüber Σ 94 (Joh 17,1 – 11) bringt Gießen wie in HistArchiv W 147 eine um mehrere Verse längere Perikope. In DomHs Cod. 56 stehen nur die beiden letzten Worte des Explicits in ipsis (Joh 17,26) auf Rasur; vor der Korrektur dürfte das Explicit ad te venio (Joh 17,11) geendet haben. 101 Die Markus-Passion kommt in den vier Capitulare-Typen nach Klauser 1972 nicht vor. Vgl. aber Frere 1934, S. 67, 127. 102 In Gießen und den Vergleichshandschriften lautet das Incipit Ante diem festum paschae, angelehnt an Σ 97.

214 | Beate Braun-Niehr

Osterzeit: Tages-/Festbezeichnung

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Die sabbato sancto

Mt 28,1 – 7

Σ 101







Dominica in die sancto paschae dominica sancta

Mk 16,1 – 7

Σ 102







Feria II

Lk 24,13 – 35103

Σ 103







Feria III

Lk 24,36 – 47

Σ 104







Feria IV

Joh 21,1 – 14

Σ 105







Feria V

Joh 20,11 – 18

Σ 106







Feria VI

Mt 28,16 – 20

Σ 107







Jeweils

Joh 20,19–

23 = Σ 108

Die sabbato – nach Korrektur:

Joh 20,1 – 9104

Die dominico octabas paschae – nach Korrektur:105

Joh 20,19 – 23

Σ 108

Jeweils

Joh 20,24–

31 = Σ 109

14.4. nat. s. Tyburtii, Valeriani et Maximiani

Joh 15,12 – 16

Σ 110

• […] et Maximiani

• […] et Maximi

• […] et Maximi

In pascha annotina

Joh 3,1 – 15

Σ 111







22.4. [recte: 23.4.] nat. s. Georgii

Lc 21,14 – 19

Σ 112

• 22.4.

• 22.4.

• 22.4

25.4. in letania maiore

Lk 11,5 – 13

Σ 113





• Joh 17,11 – 15 = Σ 114

Feria IV

Mk 16,9 – 13

P 1w



P 1w auf Rasur

Feria VI

Mt 28,8 – 15

P 1 f



P 1 f auf Rasur

Joh 4,46 – 53 = Σ 115

28.4. nat. s. Vitalis

Joh 15,1 – 7

Σ 116

•106





Joh 6,1 – 3

Σ 117







Ebd. II [post pascha]

Joh 10,11 – 16

Σ 118







1.5. nat. ap. Philippi et Iacobi

Joh 14,1 – 13

Σ 119







3.5. nat. s. Alexandri, Eventi [!]107 et Theodoli

Joh 15,17 – 25

Σ 120







Sabbato

103 In Gießen sowie in den Vergleichshandschriften gleichlautendes Initium entsprechend Δ 116. 104 Zum Samstag der Osterwoche steht diese Perikope z. B. im Echternacher Evangelistar (KBR, Ms. 9428, fol. 96v–97r) und im Evangelistar aus dem Kölner Dom (DomHs Cod. 144, fol. 68r), dort wird außerdem als Alternativlesung Σ 108 geboten (DomHs Cod. 144, fol. 68r/v). 105 Wahrscheinlich wies Gießen vor der Korrektur zum Samstag der Osterwoche und zum Oktavtag von Ostern dieselben Perikopen auf wie die Vergleichshandschriften. 106 In der Analyse von HistArchiv W 147 durch Frere 1934, S. 127 fehlt Nr. 117 (= nat. s. Vitalis) der „Standard Gospel-Series“. 107 Die Form „Eventi“ ist die in den Capitularien übliche; nur in Gießen wurde zu Eventii korrigiert.

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 215

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Feria IV

Lk 24,1 – 12

Δ 131 / P 2w



Nachtrag am Rand: Δ 131

fehlt

Feria VI

Mt 9,14 – 17

P 2 f



P 2 f auf Rasur

Joh 12,44 – 50 = Σ 121

Ebd. III [post pascha]

Joh 16,16 – 22

Σ 122







Feria IV

Joh 3,25 – 36

Δ 138 / P 3w



Nachtrag am Rand: Δ 138

fehlt

Feria VI

Joh 12,46 – 50

Δ 140 / P 3 f



Nachtrag am Rand: Δ 140

fehlt

10.5. nat. s. Gordiani

Mt 10,34 – 42

Σ 123







Mt 19,3 – 11

Σ 124

• 15.5.

• 12.5.

• 12.5.

15.5. [recte: 12.5.] nat. s. Pancratii

Joh 15,17 – 25

Σ 125

• 15.5.

• 12.5.

• 12.5.

Ebd. IV post pascha

Joh 16,5 – 14

Σ 126







Tages-/Festbezeichnung

15.5.108 [recte: 12.5.] nat. s. Nerei et Achilei

Feria IV

Joh 17,11 – 26

Δ 142 / P  w





fehlt

Feria VI

Joh 13,33 – 36

Δ 143 / P 4 f





fehlt

Ebd. V [post pascha]

Joh 16,23 – 30

Σ 127







Σ 128

• 14.5.

• 13.5.

• 13.5.

14.5. [recte: 13.5.] Dedicatio ecclesiae s. Mariae ad martyres

4

19.5. nat. s. Potentianae

Mt 13,44 – 52

Σ 129







Feria IV

Joh 3,22 – 29

Σ 130







25.5. nat. s. Urbani cf. pont.

Mt 24,42 – 47

Σ 131







Joh 17,1 – 11

Σ 132







In vigilia ascensionis 109 domini

Feria V in ascensa domini

Mk 16,14 – 20

Σ 133







Feria VI

Lk 24,49 – 53

Δ 152 / P 5 f





fehlt

Joh 15,26 – 16,4

Σ 134







Joh 15,7 – 11

Σ 135







Ebd. VI [post pascha] Feria IV

108 Das fehlerhafte Datum Die xv mense supra scripto [= mense Maio] in Gießen bringt auch HistArchiv W 147. Dessen Schreiber dürfte „Die xii […]“ der Vorlage verlesen haben. Durch die Tagesbezeichnung Die supra scripto des folgenden Eintrags ergibt sich für HistArchiv W 147 und Gießen beim Pankratius­ fest ein falsches Datum. 109 Die Rubrik lautete in Gießen vor der Korrektur analog zu HistArchiv W 147: In vigilia ascensa [!] domini. DomHss Cod. 14 und Cod. 56 haben übereinstimmend: In vigilia de ascensa domini.

216 | Beate Braun-Niehr

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Joh 12,44 – 50

Σ 121 / P 6 f





fehlt; s. o. vor Ebd. III

Die sabbato vigilia pentecosten

Joh 14,15 – 21

Σ 136







Die dominico pentecosten

Joh 14,23 – 31

Σ 137







Tages-/Festbezeichnung Feria VI

Feria II

Joh 3,16 – 21

Σ 138







Feria III

Joh 10,1 – 10

Σ 139







Feria IV

Joh 6,44 – 52

Σ 140







Feria V

Lk 9,1 – 6

Δ 160







Lk 5,17 – 26

Σ 141









• […] in xii lectiones

Feria VI 110 Die sabbato 111

Lk 4,38 – 43

Δ 164



Nachpfingstzeit: Tages-/Festbezeichnung

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Dominica I octabas pentecosten

Joh 3,1 – 15

Σ 143







2.6. nat. s. Marcellini et Petri

Lk 21,9 – 19

Σ 144







Feria IV

Lk 20,27 – 40

Δ 175 / Tw







9.6. nat. s. Primi et Feliciani

Joh 15,12 – 16

Σ 146







Feria VI

Lk 12,11 – 21

Δ 173 / Tf







Ebd. II post pentecosten

Lk 16,19 – 31

Σ 180 / T 1







Joh 3,1 – 15

Σ 149







Mt 10,34 – 42

Δ 167112







Feria IV

Mt 5,17 – 19

Δ 180 / T 1w







Feria VI

Lk 17,1 – 10

Δ 181 / T 1 f







Ebd. III post pentecosten

Lk 14,16 – 24

Δ 182 / T 







Lk 9,12 – 17

Σ 145 = Σ 151







12.6. nat. s. Basilidis 15.6. [!] nat. s. Viti

Feria IV

2

110 Gießen sowie DomHss Cod. 14 und Cod. 56 haben korrekt Feria VI, dagegen steht in HistArchiv W 147 versehentlich Feria V. 111 Gießen und die Vergleichshandschriften bringen für den Samstag der Pfingstwoche übereinstimmend die Lukas-Perikope (Δ 164 = Σ 19 bzw. Σ 200). Frere 1934, S. 127 gibt für HistArchiv W 147 irrtümlich Nr. 142 der „Standard Gospel-Series“ (= Σ 142) an. Lediglich in DomHs Cod. 14 ist bei der Tagesbezeichnung durch den Zusatz in xii lectiones die Erinnerung daran bewahrt, dass der Sommer-Quatember einst in die Pfingstwoche fiel. In DomHs Cod. 56 wurde ein entsprechender Zusatz durch Rasur getilgt, Gießen und HistArchiv W 147 verzichten darauf. Vgl. unten den Samstag vor dem vierten Sonntag nach Pfingsten. 112 Im Δ-Typ steht diese Perikope zum Vitusfest am 4. Juni.

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 217

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Feria VI

Lk 8,41 – 56113

Δ 176



• nach Korrektur

Lk 8,41 – 48 = Σ 148

Die sabbato XII lectionum

Mt 20,29 – 34

Σ 142114







Lk 15,1 – 10

Σ 147 = Σ 152











Tages-/Festbezeichnung

Ebd. IV post pentecosten 18.6. nat. s. Marci et Marcelliani 115

Joh 15,12 – 16

Σ 154

• […] et Marciali

19.6. nat. s. Gervasi et Protasi [!]116

Mk 13,1 – 13

Σ 155







Feria IV

Mt 5,25 – 30

Δ 183 / T 3w



















Mk 11,11 – 23

vgl. Δ 184117

Ebd. V post pentecosten

Lk 6,36 – 42

Δ 165 / T 4

Feria IV Feria V [recte: VI]

Feria VI

Mt 21,23 – 27

4

T  w





fehlt

Mt 17,10 – 17

Δ 60 / T 4 f

• Feria V

• Feria VI

fehlt

Lk 1,5 – 17

Σ 156







24.6. nat. s. Iohannis baptistae

Lk 1,57 – 68

Σ 157







26.6. nat. s. Iohannis et Pauli

Lk 12,1 – 8

Σ 158







Ebd. VI post pentecosten

Lk 5,1 – 11

Σ 159







Feria IV

Mt 11,25 – 30

T 5w





fehlt

Feria VI

Mk 10,13 – 16

Δ 41 / T 5 f





fehlt

28.6. vigilia ap. Petri et Pauli

Joh 21,15 – 19

Σ 160







29.6. nat. ap. Petri et Pauli

Mt 16,13 – 19

Σ 161







30.6. nat. ad s. Paulum

Mt 19,27 – 29

Σ 162







Ebd. I post nat. apostolorum

Mt 5,20 – 24

Σ 163







23.6. vigilia s. Iohannis baptistae

113 Frere 1934, S. 121 verweist für den Freitag der Quatemberwoche (T2 f) auf die Perikope Lk 8,41 – 48 („Standard Gospel-Series“ Nr. 148/153 = Σ 148 bzw. Σ 153). Im Perikopenumfang stimmt der Eintrag von HistArchiv W 147 jedoch mit der um einige Verse längeren Perikope von Gießen überein. In DomHs Cod. 56 steht das Δ 176 entsprechende Explicit auf Rasur. DomHs Cod. 14 bringt die kürzere Perikope. 114 In Gießen wie in den Vergleichshandschriften fällt der Sommer-Quatember in die Woche vor dem vierten Sonntag nach Pfingsten. Frere 1934, S. 127 führt die Samstagsperikope in der Übersicht für HistArchiv W 147 an dieser Stelle irrtümlich nicht an. 115 Gießen und HistArchiv W 147 schreiben das Datum Die viiix [recte: xviii] […], den zweiten Heiligen Marciali. In Gießen wurde zu Marcelliani korrigiert. In DomHs Cod. 56 ist die Festangabe nicht l­ esbar. In DomHs Cod. 14 sind Datum und Heiligennamen korrekt geschrieben. 116 Der für Capitularien übliche Genitiv „Gervasi et Protasi“ wurde in Gießen zu Gervasii et Protasii korrigiert; in DomHs Cod. 14 steht diese Form von erster Hand. 117 Gegenüber Δ 184 = Σ 217 (Mk 11,11 – 18) bringen Gießen und die Vergleichshandschriften eine um m ­ ehrere Verse längere Perikope. Frere 1934, S. 121, Nr. T3 f gibt den Perikopenumfang nicht korrekt an.

218 | Beate Braun-Niehr

Tages-/Festbezeichnung

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

2.7.118 nat. s. Processi et Martiniani

Mt 24,3 – 13

Σ 164







In octabas apostolorum

Mt 14,22 – 33

Σ 165







Feria IV

Mk 10,17 – 21

Σ 166







Feria VI

Mk 8,11 – 26

Σ 167119







Item Feria VI

Mk 5,1 – 20

T 6 f





fehlt

Ebd. II post nat. apostolorum

Mk 8,1 – 9

Σ 168







10.7. nat. VII fratrum

Mt 5,1 – 12

Prima missa ad aquilonem

Σ 169







Σ 170







Secunda ad s. Alexandrum

Lk 11,33 – 36

Σ 171







Item ad s. Felicitatem

Mt 12,46 – 50

Σ 172







Feria IV

Mt 16,1 – 12

Δ198 / T 7w







Feria VI

7

Mt 12,1 – 7

T   f







Nachtrag am Rand: Die sabbati

Mt 19,16 – 21

Σ 174

fehlt

fehlt

fehlt

Ebd. III post nat. apostolorum

Mt 7,15 – 21

Σ 175







21.7. nat. s. Praxedis

Mt 13,44 – 52

Σ 177







23.7. nat. s. Apollonaris 120

Lk 22,24 – 30

Σ 178







Nachtrag am Rand: [24.7.] Vigilia s. Iacobi ap.

Joh 15,1 – 11

Δ 128 / Δ 300

fehlt

fehlt

fehlt

Mk 10,35 – 45121

Beissel Nr. 121

Jeweils Lk

12,2 – 8 =

Δ 209

Feria IV

Mk 9,37 – 47

T 8w







Feria VI

Lk 8,27 – 39

Σ 179122







Item Feria VI

Mt 23,13 – 23

T 8 f





fehlt

25.7. nat. s. Iacobi ap. – nach Korrektur:

118 Übereinstimmend findet sich in Gießen, HistArchiv W 147 sowie DomHss Cod. 14 und Cod. 56 die Σ-typische Formulierung: Die ii mense Iulio, nur in Gießen wurde zu Iulii korrigiert. 119 In HistArchiv W 147, DomHss Cod. 14 und Cod. 56 lautet das Explicit korrekt: […] usque et si in vicum introieris nemini dixeris (Mk 8,26b). In Gießen liegt ein Schreiberversehen vor: […] usque et sinui cum [!] introieris nemini dixeris. 120 DomHss Cod. 14 und Cod. 56 schreiben Apollinaris. 121 Die Markus-Perikope steht zum selben Tag auch in dem Echternacher Evangeliar (British Library London, Harley MS 2821); vgl. Frere 1934, S. 189. Da in Gießen von der Korrekturhand, außer Incipit und Explicit, auch Evangelium und Kapitel der Perikope über Rasur notiert wurden, wird hier ursprünglich die in den Vergleichshandschriften belegte Lukas-Perikope gestanden haben. 122 Die Lukas-Perikope (8,27 – 39) steht im Σ-Typ (Nr. 179) bzw. in den „Standard Gospel-Series“ (Nr. 178) zur Feria IV.

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 219

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

29.7. nat. s. Felicis pp., Simplici [!],123 Faustini et Beatricis

Lk 12,35 – 40

Σ 181







30.7. nat. s. Abdon et Sennes

Joh 15,12 – 25

Σ 182



•124



Ebd. IV post nat. apostolorum

Lk 16,1 – 9

Σ 183







Tages-/Festbezeichnung

Feria IV

Mt 14,15 – 21

Σ 184







Item Feria IV

Lk 16,10 – 15

T 9w





fehlt

Feria VI

Lk 11,37 – 46

Δ 220 / T 9 f







Δ 212 / T 

Ebd. V post nat. apostolorum

Lk 19,41 – 47







1.8. ad vincula [s. Petri]

Mt 14,22 – 33

Σ 186







1.8. nat. s. Felicitatis

Mt 12,46 – 50

Σ 172 / Σ 254







2.8. nat. s. Stephani pp.

Lk 19,12 – 26

Σ 187







10a

Feria IV

Lk 21,20 – 26

Δ 216 / T  w







Feria VI

Lk 21,34 – 36

Δ 217 / T 10 f







Ebd. VI post nat. apostolorum

Lk 18,9 – 14

Σ 189125







6.8. nat. s. Syxti, Felicissimi et Agapiti

Mt 10,16 – 22

Σ 190







8.8. nat. s. Cyriaci

Mt 10,26 – 32

Σ 191







10

9.8.126 vigilia s. Laurentii

Mt 16,24 – 28

Σ 192







10.8. nat. s. Laurentii ad primam missam

Mt 10,37 – 42

Σ 193







10.8. ad missam publicam nat. s. Laurentii

Joh 12,24 – 26

Σ 194







11.8. nat. s. Tiburtii

Joh 15,12 – 16

Σ 195







Nachtrag am Rand: 12.8. nat. s. Eupli

Joh 16,20 – 23

Σ 197

fehlt

fehlt

fehlt

Feria IV

Mt 12,30 – 37

Δ 66 / T 11w

Lk 7,36 – 47 = Σ 198

Δ 66 auf Rasur 127

Lk 7,36 – 47 = Σ 198

Lk 12,1 – 8

Σ 199







13.8. nat. s. Ypoliti m.

123 Der für Capitularien übliche Genitiv „Simplici“ wurde in Gießen zu Simplicii korrigiert; in DomHss Cod. 14 und Cod. 56 steht diese Form von erster Hand. 124 In DomHs Cod. 56 fehlt nach Rasur das Explicit. 125 In Gießen und den Vergleichshandschriften lautet das Initium übereinstimmend: Dixit Iesus ad quosdam qui in se confidebant tamquam iusti usque […]. 126 In Gießen ist das rubrizierte Datum Die viii von der Korrekturhand zu viiii verbessert. 127 In DomHs Cod. 56 stand hier wahrscheinlich vor der Rasur die Lukas-Perikope 7,36 – 47 = Σ 198.

220 | Beate Braun-Niehr

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Feria VI

Lk 4,38 – 43

Σ 200



Lk 17,20 – 37 = Δ 67 auf Rasur 128



14.8. nat. s. Eusebii sac.

Mt 24,42 – 47

Σ 201







Mt 12,46 – 50129

Σ 172 / Σ 254

fehlt

fehlt

fehlt

Lk 10,38 – 42

Σ 202





• •

Tages-/Festbezeichnung

Nachtrag am Rand: [14.8.] Vigilia s. Mariae 15.8. Assumptio s. Mariae 18.8. nat. s. Agapiti m.

Lk 12,35 – 40

Σ 204



Σ 204 auf Rasur

Ebd. I post nat. s. Laurentii 130

Mk 7,31 – 37

Σ 205



Σ 205 auf Rasur



22.8. nat. s. Timothei

Lk 14,26 – 35

Σ 206



•131



24.8. nat. s. Bartholomei

Lk 22,24 – 30

Δ 243







25.8. nat. s. Genesi m.

Mk 13,5 – 13

Σ 207







Feria IV

Mt 9,27 – 35

T 12w







28.8. nat. s. Hermetis m.

Lk 6,17 – 23

Σ 209







29.8. nat. s. Sabinae m.

Mt 13,44 – 52

Σ 210







29.8. decollatio s. Iohannis baptistae

Mk 6,17 – 29

Σ 212







Feria VI

Mt 11,20 – 24

Δ 250 / T 12 f



•132



30.8. nat. s. Felicis et Audacti

Mt 10,26 – 32

vgl. Σ 211133







Ebd. II post nat. s. Laurentii

Lk 10,23 – 37

Σ 213







Feria IV

Mt 12,14 – 21

Σ 214







Feria VI

Lk 12,13 – 21

vgl. Σ 215134







Ebd. III post nat. s. Laurentii

Lk 17,11 – 19

Σ 216







Feria IV

Mk 11,11 – 18

Σ 217







Feria VI

Mk 1,40 – 45

T 14w







128 In DomHs Cod. 56 stand hier wahrscheinlich vor der Rasur die Lukas-Perikope 4,38 – 43 = Σ 200. 129 Das knappe Perikopenzitat Loquente Iesu ad turbas usque custodiunt illud legt nahe, dass an die MatthäusStelle als Schlussvers Lk 11,28 angehängt wurde; vgl. die Lesung am Vigiltag von Mariä Himmelfahrt im Echternacher Evangelistar: Lk 11,27 – 28 (KBR, Ms. 9428, fol. 163r). 130 In Gießen lautete die Tagesbezeichnung – den Vergleichshandschriften entsprechend – vor der ­Korrektur: Ebd. I post s. Laurentii (!), vgl. die Sonntagsbezeichnung von Δ 241. 131 In DomHs Cod. 56 stehen Tagesbezeichnung und Evangelium auf Rasur. 132 In DomHs Cod. 56 stehen Tagesbezeichnung, Evangelium und Initium der Perikope auf Rasur. 133 Σ 211 bzw. Δ 248 nennen den Heiligengedenktag, jedoch ohne eigene Perikope. 134 Gegenüber Σ 215 (Lk 12,13 – 24) bringen Gießen und die Vergleichshandschriften eine um mehrere Verse kürzere Perikope.

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 221

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Mt 12,46 – 50

Σ 172 / Σ 254

fehlt

fehlt

fehlt

8.9. nativitas s. Mariae

Lk 1,39 – 47

Σ 218

Alternativlesung

Mt 1,1 – 16

Tages-/Festbezeichnung Nachtrag am Rand: [7.9.] In vigilia nativitatis s. Mariae











fehlt

Joh 15,1 – 11

Σ 219135







11.9. nat. s. Proti et Iacincti

Mt 10,23 – 33

Σ 220







Ebd. IV post nat. s. Laurentii

Mt 6,24 – 33

Σ 221







Feria IV

Mt 5,33 – 42

15

T  w

•136





Feria VI

Lk 20,1 – 8137

Δ 261; vgl. Σ 223







14.9. nat. s. Corneli [!]138 et Cypriani

Lk 11,47 – 54

Σ 224139







Joh 3,1 – 15

Σ 225







Ebd. V post nat. s. Laurentii

Lk 7,11 – 16

Σ 226







15.9. nat. s. Nichomedis

Lk 9,23 – 27

Σ 227







8.9. nat. s. Adriani m.

14.9. exultatio [!] s. crucis

16.9. nat. s. Eufemiae

Mt 13,44 – 52

Σ 228







Feria IV

Mk 8,22 – 26

Δ 270 / T 16w











fehlt

Feria VI

Lk 11,47 – 54

vgl. Σ 224140 / T 16 f

Ebd. VI post nat. s. Laurentii

Lk 14,1 – 11

Σ 230







Feria IV mensis septimi

Mk 9,16 – 28

Σ 231







Feria VI

Lk 5,17 – 26

Σ 232141



Σ 232 auf Rasur

Lk 7,36 – 50; vgl. Σ 198

135 In Gießen und den Vergleichshandschriften lautet das Initium Dixit […] Ego sum vitis vera usque […] (= Joh 15,1); vgl. auch Gießen, fol. 223v, wo diese Worte als Abschnittsbeginn mit Goldtinte geschrieben sind. Klauser 1972, S. 122 gibt den Perikopenumfang für Σ 219 mit Joh 15,5 – 11 an, wohl in Analogie zu Π 193, Λ 217 und Δ 259, deren Initium den Beginn mit Joh 15,5 eindeutig belegen („Ego sum vitis vera et vos palmites usque […]“). 136 Frere 1934, S. 127 gibt hier für HistArchiv W 147 irrtümlich Nr. 220 der „Standard Gospel-Series“ an. 137 Das knappe Initium Factum est in una dierum usque […] in Gießen und den Vergleichshandschriften lehnt sich an Δ 261 an. 138 In Gießen und DomHs Cod. 56 steht Cornelii nach Korrektur, in DomHs Cod. 14 von erster Hand. 139 In Gießen, fol. 155r, ist die Einleitungsformel Dicebat Iesus turbis phariseorum et principibus iudeorum versehentlich am Rand neben Lk 11,43 nachgetragen. 140 Die Perikope schließt mit Lk 11,54a; Σ 224 bringt den vollständigen Vers 54. 141 In Gießen, HistArchiv W 147 und DomHs Cod. 56 lautet das Initium übereinstimmend: Factum est in una dierum et Iesus sedebat docens usque […]; vgl. Σ 141. DomHs Cod. 14 bringt die gegenüber Σ 198 etwas längere Perikope, die Frere 1934, S. 122 u. 243 unter den „Alternative Ferias“ als T 17 f anführt.

222 | Beate Braun-Niehr

Tages-/Festbezeichnung Die sabbato in XII lectiones Ebd. VII post nat. s. Laurentii 20.9. Vigilia s. Mathei ap.

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Lk 13,6 – 17

vgl. Σ 233142 / T 17s







Mt 22,23 – 33

Σ 234



•143



Lk 5,27 – 32

Σ 229144







Mt 9,9 – 13

Δ 278







Feria IV

Mt 13,24 – 30

Σ 236 / T 18w







Feria VI

Mt 13,31 – 35

Δ 286 / T 18 f







27.9. nat. s. Cosme et Damiani

Joh 15,17 – 25

Σ 238







Nachtrag am Rand: [28.9.] In vigilia s. Michahelis

Lk 15,1 – 10

Σ 147 = Σ 152

fehlt

fehlt

fehlt

29.9. Dedicatio aecclesie [!] archangeli Michahelis

Mt 18,1 – 10

Σ 239







Mt 9,1 – 8

Σ 240







Feria IV

Mt 13,36 – 43

Δ 290 / T 19w







Feria VI

Mk 13,14 – 23145

T 19 f







Ebd. II post s. angeli

Mt 22,1 – 14

Δ 291146 / T 20







7.10. nat. s. Marci ep.

Mt 25,14 – 23

Σ 241







Feria IV

Lk 14,12 – 15

Δ 292 / T  w







21.9. nat. s. Mathei ev.

Ebd. I post [supra linea: dedicationem] s. angeli

20

Feria VI

Lk 6,22 – 35

T 20 f





Mt 8,14 – 17 = Δ 293

Ebd. III post s. angeli

Joh 4,46 – 53

Σ 115 / T 21







14.10. nat. s. Calisti pont.

Mt 24,42 – 47

Σ 242







142 Gegenüber Σ 233 (Lk 13,10 – 17) bringen Gießen und die Vergleichshandschriften eine um mehrere Verse längere Perikope. 143 In DomHs Cod. 56 ist die ursprüngliche Perikope (Σ 234) durchgestrichen und durch Mt 22,34 – 46 ersetzt. Das Evangelistar aus dem Kölner Dom (DomHs Cod. 144, fol. 105v–106r) bringt für diesen Sonntag (Dom. XVIIII post pentecosten) die Perikope Mt 22,23 – 46. 144 Im Σ-Typ steht die Perikope zur Feria IV nach der Ebd. V post nat. s. Laurentii. 145 Das Initium lautet in Gießen und den Vergleichshandschriften: Interrogatus Iesus a discipulis de consummatione usque […]. 146 Das Initium lautet in Gießen und den Vergleichshandschriften: Loquebatur Iesus cum discipulis suis in parabolis dicens: Simile factum est usque […]. – Die Gießen und den Vergleichshandschriften gemeinsame Bezeichnung post s. angeli (!) für die Sonntage nach dem Michaelsfest entspricht der Benennung im Δ-Typ.

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 223

Tages-/Festbezeichnung

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

18.10. nat. s. Lucae – nach Korrektur:

Lk 10,1 – 7147

Δ 343

Jeweils Mt

24,42 – 47

= Σ 242

Feria IV

Lk 6,6 – 11

T 21w







Feria VI

Lk 5,12 – 15148

Σ 258







Ebd. IV post s. angeli

Mt 18,23 – 35

Σ 247

Feria IV

Mk 11,23 – 26







Δ 295 / T  w

•149





Mk 4,24 – 34150

vgl. Δ 296 / T 22 f







27.10. vigilia ap. Symonis et Iudae

Joh 15,1 – 11

Δ 300







28.10. nat. ap. Symonis et Iudae

Joh 15,17 – 25

Δ 301







Nachtrag am Rand: [31.10.] Vigilia omnium sanctorum

Mt 10,16 – 22

Σ 190

fehlt

fehlt

fehlt

1. 11. Celebratio omnium sanctorum et nat. s. Cesarii – nach Korrektur:

Mt 5,1 – 12151

Σ 169

Jeweils

Joh 12,24–

26 = Σ 244

Ebd. V post s. angeli

Mt 22,15 – 21

Σ 251







Feria IV

Mt 17,23 – 26

Δ 298 / T  w







Feria VI

Mk 7,1 – 8

Δ 299 / T 23 f







8.11. nat. s. Quattuor Coronatorum

Lk 6,17 – 23

Σ 245







9.11. nat. s. Theodori

Lk 21,14 – 19

Σ 246







Feria VI

22

23

147 Beissel 1907, S. 187 weist Lk 10,1 – 7 als einzige Perikope für das Fest des hl. Lukas nach. In Gießen wurde von der Korrekturhand, außer Incipit und Explicit, das Evangelium über Rasur notiert, zudem durch teilweise Rasur die Kapitelangabe korrigiert. Daher wird hier ursprünglich die in den Vergleichshandschriften belegte Matthäus-Perikope gestanden haben. 148 Gießen und die Vergleichshandschriften weisen denselben Fehler im Initium auf: Cum esset Iesus in una civitatum [!] […]. 149 Gießen und HistArchiv W 147 haben ein verkürztes Initium: Dixit Iesus discipulis suis Amen dico vobis usque […]; dagegen in DomHs Cod 56: Dixit […] Amen dico vobis quia siquis usque […], in DomHs Cod. 14: Dixit […] Amen dico vobis quia siquis dixerit usque […]. 150 Gegenüber Δ 296 / T 22 f (Mk 4,24 – 29) ist die Perikope um einige Verse länger. In Domhs Cod. 14 lautet das Explicit korrekt: […] usque discipulis suis disserebat omnia, in Domhs Cod. 56 verkürzt: […] usque disserebat omnia. Dagegen findet sich in HistArchiv W 147 bzw. in Gießen vor der Korrektur derselbe Fehler: […] usque dissere vobis omnia. 151 Da in Gießen von der Korrekturhand, außer Incipit und Explicit, auch Evangelium und Kapitel der Perikope über Rasur notiert wurden, wird hier ursprünglich die in den Vergleichshandschriften belegte Johannes-Perikope gestanden haben. – In Gießen und HistArchiv W 147 lautet die in Versalien hervorgehobene Monatsangabe für die November-Einträge irrtümlich De mense Octobr[io].

224 | Beate Braun-Niehr

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Ebd. VI post s. angeli (Explicit expungiert)

Mt 9,18 – 26152

Σ 29

•153





neues Explicit von der Korrekturhand

Mt 9,18 – 22

Σ 257

Tages-/Festbezeichnung

Lk 9,23 – 27

Σ 248







11.11. nat. s. Martini

Lk 12,35 – 40

Σ 249







Feria IV

Mk 12,28 – 34

Σ 235 / T  w







Feria VI

Mt 21,28 – 32154







11.11. nat. s. Menne [!]

24

22.11. nat. s. Caeciliae v.

Mt 25,1 – 13

Σ 252







23.11. nat. s. Clementis

Mt 25,14 – 23

Σ 253







23.11. nat. s. Felicitatis

Mt 12,46 – 50

Σ 254







24.11. nat. s. Chrisogoni

Joh 15,17 – 25

Σ 256







29.11. nat. s. Saturnini, Crisanti, Mauri et Dariae

Mk 13,5 – 13

Σ 259







29.11. vigilia s. Andreae

Joh 1,35 – 51

Σ 260







30.11. nat. s. Andreae

Mt 4,18 – 22

Σ 261







Ebd. V ante nat. domini

Joh 6,5 – 14

Σ 262







Feria IV

Lk 10,3 – 9

Δ 309 / T 25w







Feria VI

Mk 13,33 – 37

Δ 311 / T 25 f







Adventszeit: Tages-/Festbezeichnung

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Ebd. IV ante nat. domini

Mt 21,1 – 9

Σ 267







Mt 13,44 – 52

Σ 265







Feria IV

Mt 3,1 – 6

Δ 315 / Adv 1w







Feria VI

Lk 3,7 – 18

Δ 316 / Adv   f







Lk 21,25 – 33

Σ 268







13.12. nat. s. Luciae

Ebd. III ante nat. domini

1

152 Die in Gießen (vor der Korrektur) und den Vergleichshandschriften für diesen Sonntag vorgesehene Perikope findet sich zum selben Sonntag (Ebd. VI post s. Cypriani) im Typus Λ Nr. 253. Vgl. auch Frere 1934, S. 115 zum 24. Sonntag nach Trinitatis (T24). 153 HistArchiv W 147 nennt diesen Sonntag versehentlich: Ebd. V post s. angeli. – Frere 1934, S. 127 gibt in seiner Übersicht irrtümlich die kürzere Perikope Nr. 255 der „Standard Gospel-Series“ (= Σ 257) an. 154 Die bei Klauser 1972 nicht belegte Matthäus-Perikope findet sich für die Feria VI vor Dominica V ante natale domini im Evangelistar aus dem Kölner Dom (DomHs Cod. 144, fol. 114r/v).

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 225

Perikope

Klauser /  Frere

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Feria IV

Mt 11,11 – 15155

Δ 318 / Adv 2w







Feria VI

Mt 1,1 – 16156

Adv   f







Feria VI [recte: VII]

Joh 1,15 – 18

Adv 2s

• Feria VII

• Feria VII

• Feria VII

Ebd. II ante nat. domini

Mt 11,2 – 10

Σ 269







Feria IV

Mt 3,7 – 12157

vgl. Δ 321 / Adv 3w







Feria VI

Mk 1,2 – 8

Δ 319158 / Adv 3 f







Feria VII

Lk 7,18 – 28

Δ 322 / Adv 3s







Ebd. I ante nat. domini

Joh 1,19 – 28

Σ 270







Feria IV

Lk 1,26 – 38

Σ 271







Joh 15,12 – 16

Δ 326159







Lk 1,39 – 47

Σ 272







Lk 3,1 – 6

Σ 273







Perikope

Klauser /  Beissel

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14







Tages-/Festbezeichnung

23.12. nat. s. Thome [!] ap. Feria VI Die sabbato in XII lectiones

2

Commune sanctorum: Tages-/Festbezeichnung Item lectiones evangeliorum de diversis causis Joh 15,1 – 11

Σ 219160 / B6/7







Joh 15,12 – 16

Σ 110 / B1







Item unde supra

Joh 15,17 – 25

Σ 120 / B96







Item unde supra

Mt 19,27 – 29

Σ 162 / B16







In vigilia unius sacerdotis

Mt 24,42 – 47

Σ 7 / B12







In nat. unius apostoli In nat. plurimorum apostolorum

155 In Gießen und den Vergleichshandschriften lautet der Eintrag übereinstimmend: Dixit Iesus turbis et discipulis suis usque qui habet aures audiendi audiat. Den eigentlichen Beginn der Matthäus-Perikope Amen dico vobis auf fol. 32r konnte der Diakon nur über die Fundstelle cap. ciiii ermitteln. 156 In Gießen wurde der gesamte Eintrag expungiert. 157 Gegenüber Δ 321 (Mt 3,7 – 11) ist die Perikope um einen Vers länger. 158 Das Initium lautet in Gießen, HistArchiv W 147 und Domhs Cod. 56: Sicut scriptum est in libro Esaiae prophetae Ecce mitto angelum meum usque […]; in DomHs Cod. 14: Sicut scriptum est in Esaia propheta […]. 159 Gießen und die Vergleichshandschriften schließen: usque fructus vester maneat (Joh 15,16a). 160 Vgl. oben zum 8. September die Anmerkung zu Σ 219.

226 | Beate Braun-Niehr

Perikope

Klauser /  Beissel

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Mt 25,14 – 23

Σ 14 / B11







Item unde supra

Lk 11,33 – 36

Σ 171 / B91







In vigilia unius martyris

Mt 10,34 – 42

Σ 123 / B4







In nat. unius martyris

Mt 10,26 – 32

Σ 191 / B5







Item unde supra

Lk 14,26 – 35

Σ 206 / B2







In nat. plurimorum martyrum

Tages-/Festbezeichnung In nat. unius sacerdotis

Mt 10,16 – 22

Σ 190 / B76







Item unde supra

Lk 21,9 – 19

Σ 144 / B8







Item unde supra

Joh 16,20 – 22

Σ 197161 / B100







In nat. unius confessoris

Lk 12,35 – 40

Σ 181 / B14







Mt 5,1 – 12

Σ 169 / B90







In nat. plurimorum confessorum vel sanctorum 162 Item unde supra

Mt 10,23 – 33

Σ 220 / B79







In nat. virginum

Mt 13,44 – 52

Σ 24 / B18







Item unde supra







Mt 25,1 – 13

Σ 28 / B17

Item unde supra 163

Lk 19,12 – 26

Σ 279 / B93







In nat. papae

Lk 22,24 – 30

Σ 278 / B75







Perikope

Klauser

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Pro ordinantibus

Joh 8,30 – 39

Σ 290







In ordinatione diaconorum

Joh 12,24 – 26

Σ 282

•164





In ordinatione presbiterorum

Mt 24,42 – 47

Σ 280







Mk 6,6 – 13

Σ 291







Lk 9,1 – 6

Σ 292







Lk 6,43 – 48

Σ 285







Votiv- und Totenmessen: Tages-/Festbezeichnung

In ordinatione episcoporum Item unde supra In dedicatione ecclesiae sive oratorii

161 Σ 197 schließt mit Joh 16,23. 162 Nur in HistArchiv W 147 lautet die Rubrik: In nat. plurimorum confessorum. 163 Σ 279 schließt mit Lk 19,26a. Die Perikope ist als „Item alia ubi supra“ für den Gedenktag eines heiligen Papstes („In nat. papae“) vorgesehen. Die in Gießen und den Vergleichshandschriften übereinstimmende Zuordnung zu den Jungfrauen-Gedenktagen dürfte vermutlich aus der zu postulierenden gemeinsamen Vorlage übernommen worden sein. 164 HistArchiv W 147 gibt secundum Matheum als Fundstelle des Evangeliums an, so auch in Gießen vor der Korrektur zu Iohannem.

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 227

Perikope

Klauser

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Item unde supra

Lk 19,1 – 10

Σ 284

•165





In adventum iudicum

Lk 18,18 – 30

Δ 350













Lk 10,1 – 7

Δ 343







Joh 10,11 – 16

Σ 118







Lk 18,1 – 8

Δ 351

•167





Tages-/Festbezeichnung

Item unde supra In adventum episcoporum Item unde supra Contra iudices male agentes

Lk 12,13 – 21166

Contra episcopos male agentes

Mt 7,12 – 21

vgl. Δ 352168







In commotione gentium

Lk 12,22 – 31

Σ 277







In die belli

Mt 24,3 – 13

Σ 164







Pro ubertate pluviae

Lk 8,22 – 25

Σ 275







Pro sterilitate pluviae

Mt 15,32 – 39

Σ 276







Ad sponsas benedicendas

Mt 22,2 – 14

Σ 287







Ad viduas benedicendas

Lk 10,38 – 42

Σ 202







Pro velatione ancillarum dei

Mt 22,2 – 14

Σ 287







Ad velandas maritatas

Joh 3,27 – 29

Σ 288







Ad proficiscendum in itinere

Mt 10,7 – 15

Δ 353







Pro iter agentibus

Lk 10,3 – 12

Δ 354







Ad missam votivam

Joh 15,7 – 11

Σ 135







Item ad missam votivam

Mk 12,41 – 4 4

Δ 355







Pro salute vivorum

Mk 11,23 – 26

Δ 295

•169











Pro elemosina facienda

Mt 6,1 – 4170

165 Frere 1934, S. 128 gibt für HistArchiv W 147 irrtümlich Nr. 284 der „Standard Gospel-Series“ an (= Σ 286; Lk 19,1 – 9). 166 Die Lukas-Perikope ist bei Klauser 1972, S. 45 (Apparat: „post 258“ ) als Zusatz in mehreren Handschriften des Π-Typs ausgewiesen. 167 Frere 1934, S. 128 gibt für HistArchiv W 147 irrtümlich Nr. 188 der „Standard Gospel-Series“ an (= Σ 189; Lk 18,10 – 14). 168 Klauser 1972, S. 171, Nr. Δ 252 (recte: Δ 352) ist kürzer (Mt 7,12 – 14). In Gießen, fol. 24r, 7. Zeile v. u., steht die Neume für die melodische Schlusswendung dieser Perikope über intrabit (Mt 7,21), was dem Explicit in DomHs Cod. 14 entspricht: […] usque intrabit in regnum celorum. In Gießen, HistArchiv W 147 und DomHs Cod. 56 lautet das Explicit verkürzt: […] usque in regnum celorum. 169 Gießen und Hist Archiv W 147 verkürzen das Initium der Perikope: Dixit Iesus discipulis suis Quia si quis dixerunt [W 147: dixerit] usque […]; beide geben auch die Stelle im Markusevangelium falsch an: cap. xxiiii. In DomHss Cod. 14 und Cod. 56 sind die Angaben korrekt: Cap. cxxiiii. Dixit […] Amen dico vobis quia si quis dixerit usque […]. 170 Die Matthäus-Perikope begegnet ohne Titel unter den Votivmessen im Echternacher Evangelistar (KBR, Ms. 9428, fol. 178r/v).

228 | Beate Braun-Niehr

Perikope

Klauser

HistArchiv W 147

DomHs Cod. 56

DomHs Cod. 14

Mt 25,31 – 46

Σ 61







Pro infirmis

Lk 7,1 – 10

Δ 356







Item unde supra

Mt 8,5 – 13

Δ 70







Pro tribulantibus

Joh 16,20 – 22

Σ 197171 / B 100







Pro peccatis

Lk 11,9 – 13172

vgl. Σ 113





• •

Tages-/Festbezeichnung Item unde supra

In agenda mortuorum

Joh 11,21 – 27

Σ 294





Item unde supra

Joh 5,21 – 24

Σ 295







Item unde supra

Joh 6,37 – 40

Σ 296







Item unde supra

Joh 6,51 – 55

Σ 297







171 Σ 197 schließt mit Joh 16,23. 172 Im Echternacher Evangelistar (KBR, Ms. 9428, fol. 175v) ist diese gegenüber Σ 113 (Lk 11,5 – 13) um einige Verse verkürzte Lukas-Perikope für die Votivmesse „Pro tribulatione“ vorgesehen.

Zum Capitulare evangeliorum des Gießener Evangeliars und der Kölner Evangeliare des 10./11. Jahrhunderts | 229

Joshua O’Driscoll

The Tituli of Cologne’s Painterly Group of Illuminated Manuscripts Problems of their Use and Meaning

The tituli, or inscriptions, that accompany many of the miniatures in the illuminated manuscripts from Ottonian Cologne have long drawn the attention of scholars for their tendency to name and rename their accompanying images. Indeed, the inscriptions in three of the most elaborately illuminated of Cologne’s Ottonian manuscripts often address their viewers directly, compelling them to contemplate not a figure or an image, but rather an imaginativum, inspectivum, operativum, or signativum, as in the tituli from the Gereon Sacramentary in Paris.1 In a variation on this theme, the author tituli from the Hitda Codex in Darmstadt consistently refer to their corresponding miniatures in ways that highlight their status as images. For example, the species picta of John, the statua of Mark, or the hoc pictum of Jerome.2 And finally, in what is perhaps the most perplexing example of renaming, the dedicatory inscription from the Gospel book in Milan calls on its viewer to see neither book nor image but rather “what the habit of the work demands”.3 Clearly, these inscriptions were intended to influence the way that viewers understood their corresponding miniatures and, by extension, the books from which they come. Thus, the Cologne tituli reflect an unusually sophisticated engagement with the concept of images and, more broadly, the very concept of making of illuminated manuscripts around the turn of the first millennium. This thinking with and about images provides scholars with a rare opportunity to examine how deluxe illuminated manuscripts could participate in 1

2

3

For the Gereon Sacramentary (Bibliothèque nationale de France Paris, Lat. 817), see Joshua O’Driscoll: Image and Inscription in the Painterly Manuscripts from Ottonian Cologne, Diss. Harvard University 2015, p. 129 – 208. – See, also, the contribution by Cécile Voyer in this volume. A microfilm of the manuscript has been digitized and is available on the library’s website: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/ btv1b9066592s [December 27, 2022]. For the Hitda Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Cod. 1640), see Christoph Winterer: Das Evangeliar der Äbtissin Hitda. Eine ottonische Prachthandschrift aus Köln, Darmstadt 2010. – Äbtissin Hitda und der Hitda Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640). Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, ed. by Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013. – O’Driscoll 2015 (as note 1), p. 209 – 288. For the Milan Gospels (Biblioteca Ambrosiana Milan, C 53 Sup.), see O’Driscoll 2015 (as note 1), p. 52 – 128. – See, also, the contribution by Fabrizio Crivello in this volume. The manuscript is fully digitized on the library’s website: http://213.21.172.25/0b02da8280051bdc [December 27, 2022].

The Tituli of Cologne’s Painterly Group of Illuminated Manuscripts | 231

the broader intellectual discourses of their time. For this reason, as well as for their outstanding artistic qualities, the Ottonian manuscripts from Cologne deserve to be recognized as key monuments in the history of medieval art. The value and relevance of their study goes well beyond the narrower confines of histories of book painting in the tenth and eleventh centuries. For the most part, past research aimed at understanding this complex re-conceptualization of images and their functions has focused on the above-mentioned manuscripts in Milan, Paris, and Darmstadt. In contrast to these three core manuscripts of the so-called Malerische Gruppe (painterly group), the approaches to tituli in the remaining manuscripts of the group show exceptions, deviations, and inconsistencies that complicate our understanding of the Cologne tituli in ways that are not at all easy to resolve.4 In these other manuscripts, the inscriptions were often either left out entirely or only partially used for particular miniatures. This can be seen clearly in the case of the Gießen Gospels, which features appropriate tituli facing the miniatures of the Majestas Domini (fol. 2r) and the Jerome portrait (fol. 3r).5 These two texts do not occur in any of the other related manuscripts, which immediately raises the question of their sources and the various redactions of the Cologne tituli. The evangelist portraits from the Gießen Gospels, however, are accompanied by a much less interesting set of texts. Rather than unique tituli, the texts are merely the explicits for the preceding chapter listings. In other words, the illuminator used standard formulations intended to conclude the preceding section in order to provide the content for the impressively ornamented decorative pages directly facing each of the four evangelist portraits. The Crucifixion miniature, in contrast, altogether lacks a facing text page – contrary to the Crucifixion miniatures in the Gereon Sacramentary or Hitda Codex. Placed directly before John’s Gospel, the impressive Gießen Crucifixion miniature merely faces the end of the chapter listings. The sequence thus comprises an opening with an “explicit breviarium” and the Crucifixion miniature (fols. 187v/188r), followed by an opening with a repeated “explicit breviarium” and then the evangelist portrait (fols. 188v/189r). In the remaining manuscripts of the painterly group, tituli were likewise either forgotten entirely, never written out, or used only partially. How can we make sense of these startling inconsistencies? More importantly, should the problematic use of tituli in these manuscripts change or lower our estimation of the remarkable tituli in the three main manuscripts of the painterly group? 4 5

For an overview of the painterly group, see Peter Bloch / Hermann Schnitzler: Die Ottonische Kölner Malerschule, 2 vols., Düsseldorf 1967/70. – Most recently the contribution by Klaus Gereon Beuckers in this volume. Universitätsbibliothek Gießen, Hs. 660. The manuscript is fully digitized on the library’s website: https://digisam.ub.uni-giessen.de/ubg-ihd-hm/content/titleinfo/562123 [December 27, 2022].

232 | Joshua O’Driscoll

A focus on the Gießen Gospels offers an important opportunity to address these difficult questions and to reconsider the Cologne tituli from a particularly understudied perspective. This essay addresses the problems of the Cologne tituli, specifically the problems of their use and the problems of their relationships to each other. Although the Gießen tituli provide a point of departure they will not be the exclusive focus of the essay. Rather they will be discussed after some preliminary considerations on the important set of tituli from the Milan Gospels, followed by some general considerations of tituli from the other main manuscripts of the painterly group. But first, it is worth beginning with a short overview of what makes the approach to tituli in Cologne’s illuminated manuscripts so remarkable.

The Cologne Tituli Medieval art abounds in examples of inscribed images and objects, but the use of inscriptions in the illuminated manuscripts from Ottonian Cologne nevertheless counts as one of their distinguishing features, setting them apart from contemporary examples at other artistic centers. With few exceptions, manuscripts from Reichenau, for example, lack complex programs of inscriptions, as do the manuscripts from Corvey, Fulda, Mainz and Liège. In contrast, the painters and designers of manuscripts from Trier, Regensburg and Echternach employed inscriptions to varying degrees – from isolated donor and evangelist tituli to elaborate programs of inscriptions with sophisticated content.6 Yet the Cologne manuscripts distinguish themselves even in comparison to these three major artistic centers through their largely consistent approach to the disposition of full-page miniatures facing tituli pages. As a result of this particular disposition, text and image remain discrete entities while nevertheless being given equal weight and visual prominence as part of a double-page spread. This diptych-like arrangement of text and image is exceedingly rare in the context of Ottonian miniatures cycles, which tend to exhibit a more traditional text placement around or alongside the miniatures – an approach based ultimately on the practice of monumental wall painting. The diptych format of text and image likely derives from the context of iconic depictions of donor or author portraits. A particularly early example can be found in the Lothar Psalter now at the British Library, which based on internal evidence likely dates 6

For an overview of tituli as both a literary genre and an art-historical source, see Arwed Arnulf: Versus ad picturas. Studien zur Titulusdichtung als Quellengattung der Kunstgeschichte von der Antike bis zum Hochmittelalter (Kunstwissenschaftliche Studien, vol. 72), Munich 1997. – O’Driscoll 2015 (as note 1), p. 39 – 51.

The Tituli of Cologne’s Painterly Group of Illuminated Manuscripts | 233

Abb. 53: Lothar Psalter, British Library London, Add. MS 37768, fol. 5v/6r: Jerome with accompanying titulus.

to shortly after 842.7 The manuscript begins with an illuminated sequence that pairs fullpage images of Lothar, David, and Jerome with three corresponding poems (Abb. 53). As Ildar ­Garipzanov has argued, the poems and portraits of this opening sequence may be understood as working together to “propagate Lothar’s imperial legitimacy to a courtly audience.”8 One of the ways these texts and images ‘work together’, is through their shared use of the diptych format, which enabled connections to be made across the sequence, and thus played a crucial role in shaping and guiding the viewer’s understanding of a specific subject – in this case, the ruler. The use of the diptych format for images and their tituli was sporadic throughout the ninth and tenth centuries, and depended to a large extent on an interest in incorporating literary content into illuminated manuscripts. For example, certain Gospel books 7

8

For the Lothar Psalter (British Library London, Add MS 37768), see Wilhelm Koehler / Florentine Mütherich: Die Hofschule ­Kaiser Lothars, Einzelhandschriften aus Lotharingien (Die karolingischen Miniaturen, vol. 4), Berlin 1971, p. 35 – 46. For the tituli, see MGH Poetae 6, p. 163 – 164. The manuscript is fully digitized on the library’s website: https://www.bl.uk/manuscripts / FullDisplay.aspx?ref=Add_ MS_37768 [December 27, 2022]. Ildar H. Garipzanov: The Symbolic Language of Authority in the Carolingian World (c. 751 – 877) (Brill’s Series on the Early Middle Ages, vol. 16), Leiden 2008, p. 239 – 242.

234 | Joshua O’Driscoll

from Tours and the so-called Court School of Charles the Bald feature evangelist portraits facing highly-­developed poetic inscriptions that go well beyond the stock phrases of Sedulius’ Carmen paschale, which, as Robert Favreau has documented, supplied tituli for countless evangelist portraits for well over three centuries.9 At Tours, a particularly popular set of tituli – often attributed to no less a figure than the renowned scholar Alcuin of York – survives in six deluxe Gospel books like the Erstein Gospels, now in Wolfenbüttel.10 Another famous intellectual may have been responsible for the tituli of the Codex Aureus of St. Emmeram, if we follow Paul Dutton and Éduoard Jeaneau in attributing them to John Scott ­Eriugena, the foremost philosopher at the court of Charles the Bald.11 While the attributions of both these examples are still a matter of debate, it is nevertheless clear that these complex programs of tituli link the manuscripts to the highest scholarly circles of their day. In this respect, these Carolingian Gospel books – and others like them – provide an important historical precedent for understanding the phenomenon of full-page tituli as it would emerge in Cologne over a century later. In fact, at Cologne a particularly impressive model for this format was preserved at the Cathedral as early as 969. The deluxe Gospel lectionary known as the Gero Codex features an opening sequence of seven pairs of miniatures and poems devoted to the four evangelists, the Majestas Domini, St. Peter, and Gero himself, who is shown receiving his manuscript from the Reichenau scribe and painter, Anno (Abb. 54).12 The poems are unique compositions, and yet they have not been adequately studied in terms of their sources, their impact, or their potential authorship. Although the manuscript is unquestionably an early product 9 Robert Favreau: Épigraphie et miniatures, in: Journal des savants 1 (1993), p. 63 – 87. 10 For the Erstein Gospels (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 16 Aug. 2°), see ­Wilhelm Koehler: Die Schule von Tours (Die Karolingischen Miniaturen, vol. 1) Berlin 1930/33, part 1, p. 385 – 386. The manuscript is fully digitized on the library’s website: https://diglib.hab.de/?db=mss&list=ms&id=16-aug-2f [December 27, 2022]. For the set of tituli attributed to Alcuin, see Marie-Hélène Jullien / Françoise Perelman: Alcuin (Clavis des auteurs latins du moyen age. Territoire français, 735 – 987, vol. 2), Turnhout 2009, p. 90 f. (ALC.11.71.1). – MGH Poetae 5, p. 452, n. 23. 11 For the Codex Aureus of St. Emeramm (Bayerische Staatsbibliothek Munich, Clm 14000), see Wilhelm Koehler / Florentine Mütherich: Die Hofschule Karls des Kahlen (Die Karolingischen Miniaturen, vol. 5), Berlin 1982, p. 175 – 198. The manuscript is fully digitized on the library’s website: https://daten. digitale-sammlungen.de/~db/0009/bsb00096095/images/ [December 27, 2022]. For the tituli, see Paul Dutton / Édouard Jeauneau: The Verses of the Codex Aureus of Saint Emmeram, in: Studi medievali 24 (1983), p. 75 – 120. – Jullien / Perelman 2009 (as note 10), p. 88 – 90 (ALC.11.70). – MGH Poetae 3, p. 252 – 254. 12 On the Gero Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1948), see Anton von Euw: Der Darmstädter Gero-Codex und die künstlerisch verwandten Reichenauer Prachthandschriften, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends, eds. Anton von Euw and Peter Schreiner, 2 vols., Cologne 1991, vol. 1, p. 191 – 226. The manuscript is digitized on the library’s website: http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/Hs-1948 [December 27, 2022]. For the tituli, see MGH Poetae V, p. 425.

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Abb. 54: Gero Codex, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1948, fol. 4v/5r: John with accompanying titulus.

of the Reichenau scriptorium, such an extensive use of original literary texts designed to accompany images seems to have been an anomalous case in the workshop. Apart from the Hornbach Sacramentary at Solothurn, no other Reichenau manuscript would take up this tradition to a similar extent.13 On the other hand, a tradition of inscribing images was already well attested in Cologne by the time Gero commissioned his manuscript. His recent predecessor on the episcopal throne, Archbishop Bruno (r. 953 – 965), commissioned a nowlost golden altar for the Church of St. Victor in Xanten, which contained elaborate tituli including an unusual Majestas Domini titulus in Leonine hexameter.14 A century earlier, 13 For the Hornbach Sacramentary (Cathedral Treasury Solothurn, Cod. U 1), see Peter Bloch: Das Hornbacher Sakramentar und seine Stellung innerhalb der frühen Reichenauer Buchmalerei (Basler Studien zur Kunstgeschichte, vol. 15), Basel 1956. The manuscript is digitized at the e-codices website: https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/dss/U0001 [December 27, 2022]. For the tituli, see MGH Poetae V, p. 427 – 428. 14 See Anna Pawlik: Im Angesicht der Autoritäten. Die Goldene Tafel des Xantener Viktorstifts im Kontext frühmittelalterlicher Altarstiftungen, in: Das St. Viktor-Stift Xanten. Geschichte und Kultur im Mittelalter, ed. by Dieter Greuenich and Jens Lieven (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein, N. F. vol. 1), Cologne 2012, p. 59 – 80.

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Archbishop Gunthar (r. 850 – 863) commissioned sets of poems from Sedulius Scottus to adorn both a bible pandect as well as wall paintings in Cologne’s cathedral.15 Building on this local tradition, the makers of Cologne’s Ottonian manuscripts developed at least seven distinct sets of tituli – depending on how one counts – which occur across twelve of the eighteen surviving manuscripts.16 What is astonishing is not just the remarkably high number of distinct sets of inscriptions – which range in complexity and number; and occur both in verse and prose – but it is equally noteworthy that one particular set held a lasting appeal: that is, the set of inscriptions that first appear in the Milan Gospels, which were repeated to varying degrees in five subsequent manuscripts.17 Bloch and Schnitzler were the first to chart these relationships and to sketch an initial overview of this complex corpus of texts – focusing in particular on the verse inscriptions.18 15 For the Cologne tituli of Sedulius Scottus, see Reinhard Düchting: Sedulius Scottus. Seine Dichtungen, Munich 1968, p. 184 – 189 and p. 208 – 209. 16 Not counting the singular dedicatory inscription in the Gerresheim Gospels (Treasury of St. Margaret’s Gerresheim), distinct sets of tituli occur in: the Everger Lectionary (Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Cologne, Cod. 143); the Milan Gospels; the Hitda Codex; the Gereon Sacramentary in Paris; the Gießen Gospels; the Stuttgart St. Gereon Gospels (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Bibl. fol. 21); and the Lyskirchen Gospels (Treasury of St. Georg’s Cologne). – For the Everger Lectionary see recently Ursula Prinz: Die älteste ottonische Kölner Prachthandschrift. Überlegungen zur malerischen Ausstattung des Everger-Epistolars (Cod. 143) unter besonderer Berücksichtigung der Ornamentik, in: Mittelalterliche Handschriften der Kölner Dombibliothek. Achtes Symposion der Diözesan- und Dombibliothek Köln zu den Dom-Manuskripten, ed. by Harald Horst (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen K ­ irchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, vol. 73), Köln 2019, p. 153 – 205. – For the Gerresheim Gospels see recently Das Gerresheimer Evangeliar. Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle ed. by Klaus Gereon Beuckers and Beate Johlen-Budnik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, vol. 1), Cologne 2016. – For the Lyskirchen Gospels see recently Das Jüngere Evangeliar aus St. Georg in Köln. Untersuchungen zum Lyskirchen-Evangeliar (Forschungen zur Kunstgeschichte, Geschichte und Literatur des Mittelalters, vol. 5. / Studien zu Kunstdenkmälern im Erzbistum Köln, vol. 5), ed. by Klaus Gereon Beuckers and Anna Pawlik, Cologne 2019. 17 Reprisals of the tituli from the Milan Gospels occur most extensively in the Maria ad Gradus G ­ ospels (Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Cologne, Cod. 1001a), and to a lesser extent in the St. Vitus Sacramentary (Universitätsbibliothek Freiburg, Hs. 360a), the Gundold Gospels (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. bibl. qt. 2a/b), the Harley Gospels (British Library ­London, Harley MS 2820), and the Abdinghof Gospels (Staatliche Museen zu Berlin Preußischer Kultur­besitz – Kupferstichkabinett, Cod. 78 A 3). – For the Maria ad Gradus Gospels see recently Klaus Gereon Beuckers: Das Prachtevangeliar aus Mariengraden. Ein Meisterwerk der salischen Buchmalerei aus Köln. Die Handschrift Cod. 1001a der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek Köln, Lucerne 2018. – For the Gundold Gospels see Klaus Gereon Beuckers: Das Gundold-Evangeliar in der Württember­ gischen Landesbibliothek Stuttgart. Bemerkungen zu einem Kölner Prachtcodex des 10./11 Jahrhunderts, in: Philologia sanat. Studien für Hans-Albrecht Koch zum 70. Geburtstag, ed. by Gabriella Rovagnati and Peter Sprengel, Frankfurt am Main 2016, p. 41 – 65. 18 Bloch / Schnitzler 1967/70 (as note 4), vol. 2, p. 61 – 64.

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Building on this foundation, Peter Christian Jacobsen provided what is still today the most detailed overview of the entire corpus of inscriptions in his 1991 study of Latin poetry at Cologne in the tenth and eleventh centuries, which as its title implies similarly focused on the verse inscriptions to the complete exclusion of the important prose tituli of the Gereon Sacramentary and the Hitda Codex.19 While making fundamental contributions to the study of Cologne’s remarkable tituli, these two studies nevertheless leave much unaccounted. Moreover, because Jacobsen focused solely on the verse inscriptions, which he scrutinized primarily in terms of their literary qualities, his study resulted in a rather negative evaluation of the Cologne tituli – particularly those of the painterly group. Both studies highlight errors and inconsistencies in the manuscripts that have made it difficult for scholars to see the tituli in a more positive light.20

The Tituli of the Milan Gospels An example of this low estimation can be found in Jacobsen’s treatment of the tituli from the Milan Gospels. Looking at the first gathering of the manuscript, the philologist immediately recognized that the arrangement of its texts and images was inherently problematic (Abb. 55).21 The first opening presents two different inscriptions: the verso (fol. 1v) features a fragmentary poem relating the gospel book to the celestial Book of Life: “This is the book of life covering the entire globe; / Just as the four rivers spread through the wide earth, / whose source is the one well-watered fountain of paradise, / So too are these sacred rivers here ever the water of life, / for Christ the fountain of life […]”22 The facing recto (fol. 2r) features the titulus for a missing Majestas Domini miniature: “It is God in heaven whose image is here / Our salvation, our hope, and our redemption, Jesus Christ / Of whom all the teaching of the earlier prophets sings / thereby revealing this God who was willing to visit the world / and whom the sacred animals, through their figures, designate: / in being born, a man; in dying, an ox; and in rising, a lion; / and in seeking the stars, an eagle.” 23 19 Peter Christian Jacobsen: Lateinische Dichtung in Köln im 10. und 11. Jahrhundert, in: von Euw / Schreiner 1991 (as note 12), vol. 1, p. 173 – 189. 20 For further examples of a negative evaluation of Cologne’s tituli, see Arnulf 1997 (as note 6), p. 243. – Benedikt Vollmann: Frühe ottonische Bildtitel-Dichtung. Mit einem Anhang zu den Tituli der Reichenauer Wandgemälde, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 58 (2004), p. 78 – 92, at p. 87. – An early and important positive assessment is Walter Berschin: Greek Letters and the Latin Middle Ages. From Jerome to Nicholas of Cusa, trans. Jerold Frakes, Washington D. C. 1988 (German original: Bern 1980), p. 196 – 197. 21 Jacobsen 1991 (as note 19), p. 182. 22 Fol. 1v: “Hic liber est vitae toto diffusus in orbe, / Quatuor ut lato sparguntur flumina mundo, / Quae fons iriguus paradisi dirivat unus, / Sic et aquae semper sunt hic sacra flumina vivae, / Quae vitae fons XPC.” 23 Fol. 2r: “Est deus in caelo cuius hic habetur imago / nostra salus Christus spes atque redemptio iesus / De quo dogma prophetarum canit omne priorum / Hunc monstrando deum voluit qui visere mundum / Quemque

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Abb. 55: Milan Gospels, Biblioteca Ambrosiana Milan, MS C 53 Sup.: First Quire.

The following opening features the only unproblematic part of the gathering: a dedication miniature along with its accompanying titulus (fols. 2v/3r), just as one would expect; the third opening, however, features a miniature of Jerome without a corresponding titulus (fol. 3v), and then Jerome’s gospel prologue, the Novum opus (fol. 4r), which begins with­ out its expected (and textually necessary) epistolary address: the Beato Damaso, Jerome’s greeting to Pope Damasus, who commissioned the prologue. Jacobsen convincingly argued for the existence of a now-lost bifolio that would have corrected all of these anomalies. Basing his reconstruction, in part, on the example of the Maria ad Gradus Gospels, which repeats many of the Milan Gospels’ tituli, he argued that the first opening would have originally featured the fragmentary Liber vitae poem followed by a blank decorative page. The other sides of the missing bifolio would have featured the Majestas Domini miniature, the Jerome titulus, and a Beato Damaso page similar to the one in the Maria ad Gradus Gospels (fol. 8v). At its core, Jacobsen’s argument about the missing bifolio is correct and can be further supported by a number of additional observations involving differing patterns of wear on the opening folios as well as the late-medieval addition of the Beato Damaso text on the upper margin of fol. 4r. What needs to be reconsidered, however, is Jacobsen’s argument about the arrangement of the manuscript’s first opening (fols. 1v/2r). For unstated reasons, Jacobsen was reluctant to see the Liber vitae poem as anything but a fragment. He suggests that “since the last verse was left intentionally incomplete, one has the impression that this text was taken from a more complete poem – and thus not a new composition for the Milan Gospels.” This need to remove the creation of the poem from the immediate context of the Gospel book is fully in line with his broader assessment of the suis signant animalia sancta figuris / Nascendo quia factus homo vitulus moriendo / Et leo surgendo sicutque aquila astra petendo.”

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Milan tituli, according to which “the extensive text program of the Milan Gospels ought to be seen as a compilation from various sources; the question of whether this compilation occurred in Ottonian Cologne must remain open.”24 Rather than allowing for the possibility that the opening poem of the Milan Gospels was complete in its original state, we are asked instead to believe that the text was copied from another, longer poem that has left no other trace apart from being cited fragmentarily, in a grammatically incorrect way, in the very first page of the Milan manuscript. This line of reasoning simply cannot be upheld. The opening poem of the Milan Gospels did in fact continue on the facing page, just as all four evangelist poems are likewise arranged across a double-page spread (fols. 17v/18r, 78v/79r, 118v/119r and 186v/187r). Moreover, several points can be raised in support of the argument that the tituli of the Milan Gospels were created specifically for the manuscript itself – or at least certainly with Cologne manuscripts in mind. Since no scholar has ever suggested that the inscriptions for the Gereon Sacramentary or the Hitda Codex were written elsewhere, or were not made for those manuscripts specifically, it is worth spending more time on the tituli of the Milan Gospels to demonstrate that they, too, form part of this group.25 Acknowledging this connection will help clarify how and perhaps why new sets of tituli were written for manuscripts like the Gießen Gospels, the Stuttgart St. Gereon Gospels, or the Lyskirchen Gospels. Quite unusually for the context of a Gospel book, the Milan Majestas titulus specifically mentions the teachings of the Old Testament prophets – whose presence is also one of the distinguishing features of Cologne Majestas Domini iconography.26 Just like the iconography, the ultimate source for the structure of the Milan Majestas titulus can be found in Carolingian illuminated bibles.27 Further in line with typical Cologne iconography, the Milan evangelist tituli completely exclude any discussion of the evangelist symbols, which is extremely unusual – in fact, one of the most popular tropes of evangelist tituli overall is to link the authors to their symbols.28 Finally, the missing Milan Jerome titulus specifically refers to the saint as both a translator (interpres) and an author (scriptor).29 This latter quality 24 Jacobsen 1991 (as note 19), p. 179: “Da der letzte Vers absichtlich unvollständig blieb, entsteht der Eindruck, der Text dieser Zierseite sei einem vollständigeren Gedicht entnommen, sei also keine Neuschöpfung für den Mailänder Codex.” p. 182: “das umfangreiche Textprogramm des Mailänder Evangeliars als Kompilation aus verschiedenen Vorlagen anzusehen; die Frage, ob diese im ottonischen Köln entstanden sind, muß offen bleiben.” 25 For a more extensive version of this argument in favor of seeing the Milan tituli as being made specifically for that manuscript, see O’Driscoll 2015 (as note 1), p. 52 – 128. 26 See, for example, the Majestas Domini miniature from the Maria ad Gradus Gospels (fol. 1v). For Cologne Majestas Domini iconography, see Bloch / Schnitzler 1967/70 (as note 4), vol. 2, p. 85 – 93. – Beuckers 2018 (as note 17), p. 69 – 73. 27 O’Driscoll 2015 (as note 1), p. 74 – 75. 28 See Favreau 1993 (as note 9). 29 The missing text can be inferred from its copy in the Maria ad Gradus Gospels (fol. 8r): “Hic pater insignis meritis Hieronimus almus / Scriptor et interpres divine legis habetur” (“Here is the nurturing father

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Abb. 56: Milan Gospels, Biblioteca Ambrosiana Milan, MS C 53 Sup., fol. 187r: John titulus.

is rare in the context of surviving Jerome tituli; however, it is well explained by the Milan miniature’s placement directly preceding the Novum opus prologue – a placement that is unique to the Milan Gospels and the Maria ad Gradus Gospels within the corpus of Cologne manuscripts. In short, the Milan tituli stand out in precisely the same ways that the miniatures themselves are unusual, a coincidence that strongly implies a common point of origin. If we accept that the inscriptions in the Milan Gospels were indeed created specifically for that manuscript, then we must still address the matter of their textual accuracy. Several scholars, including Jacobsen as well as Bloch and Schnitzler, have pointed to the high number of scribal errors in the texts as one of the main reasons against assigning the Milan codex a more important role in the history of the Cologne tituli.30 It is certainly true that the scribe (or illuminator) who was responsible for adding the tituli encountered difficulties in completing this task. For example, he had to correct himself twice in the Mark titulus alone (fols. 78v/79r), inserting letters like the D in ordine or the X in alexandri that were mistakenly left out. It is also important to note that the scribe made other errors unrelated Jerome, notable in merits, writer and translator of sacred law”). 30 See Jacobsen 1991 (as note 19), p. 179. – Beuckers 2018 (as note 26), p. 53.

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Abb. 57: Stavelot Miscellany, Staatsbibliothek Bamberg, Msc.Hist.161, fol. 4v: copy of the tituli from the DuFay Gospels.

to the tituli: for the incipit page to John (fol. 185v), for example, the scribe clearly wrote “Incipit evangelium secundum Johanni” instead of the grammatically correct Johannem. Seen as a whole, however, the nature of the uncorrected errors strongly suggests that the difficulty was a result of trying to copy the tituli from a poorly written (or poorly spaced) exemplar. Thus veredicus in the model became veri dignus in the Milan Gospels (fol. 79r); caeli simnista became caelis hymnista (fol. 186v); and most tellingly, monstrat venturae qualis became monstra tuentur aequalis (fol. 187r) (Abb. 56). With this last example, all the letters were written in the correct sequence, the text is merely improperly and confusingly spaced (something that the late-medieval corrector tellingly tried to fix by adding a black line after the first T in tuentur). What did the model used by the Milan scribe look like? A rare survival offers a potential clue. A bifolio inserted into a tenth-century miscellany from Stavelot (now at Bamberg) preserves a copy of the entire titulus cycle of the DuFay Gospels, a deluxe ninth-century Gospel book from Tours (Abb. 57).31 This bifolio is unrelated to the other contents of 31 For the DuFay Gospels (Bibliothèque nationale de France Paris, Lat.  9385), see Marie-Pierre Laffitte / Charlotte Denoël: Trésors carolingiens. Livres manuscrits de Charlemagne à Charles le

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Abb. 58: DuFay Gospels, Bibliothèque nationale de France Paris, ms lat. 9385, fol. 179r: titulus accompanying a Majestas Domini miniature.

the manuscript, which contains material pertaining to the life of St. Remaclus as well as copies of charters for the cloister at Stavelot-Malmedy. The text of the bifolio, in contrast, preserves an excerpt of a dedicatory poem for a pandect bible by Theodulf of Orléans, as well as tituli for miniatures of a Majestas Domini and the four evangelists – precisely the grouping of texts that one finds in the DuFay Gospels.32 The arrangement of tituli in the Carolingian manuscript, however, follows a complex pattern of placing a larger inscription on the recto of a leaf, against a solid purple ground, followed by a smaller inscription paired with a miniature on the verso of the same leaf – this pattern holds for the four evangelists Chauve, Paris 2007, p. 155 – 166 (no. 33). The manuscript is fully digitized on the library’s website: https:// gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8426037h [December 27, 2022]. 32 For the Stavelot miscellany (Staatsbibliothek Bamberg, Msc.Hist.161), see Gude Suckale-Redlefsen: Die Handschriften des 8. bis 11. Jahrhunderts der Staatsbibliothek Bamberg (Katalog der illuminierten Handschriften der Staatsbibliothek Bamberg, vol. 1), Wiesbaden 2004, vol. 1, p. 142 – 144 (no. 83). The manuscript is fully digitized: https://www.bavarikon.de/object/bav:SBB -KHB -00000SBB 00000121?​ ­cq=&p=1&lang=en [December 27, 2022]. – For the tituli, see MGH Poetae 5, p. 452 – 453. – Vollmann 2004 (as note 20), p. 82 f., who unconvincingly relates the tituli to a Franco-Saxon Gospel book ­(Schnütgen Museum Cologne, G 531).

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as well as the Majestas Domini placed at the end of the manuscript (fols. 18r/v, 61r/v, 91r/v, 137r/v, 179r/v) (Abb. 58). Beginning with copies of the Theodulf excerpt and the Majestas Domini titulus, the Bamberg bifolio condenses the DuFay inscriptions into just three pages (fol. 4v–5v), with little regard for word spacing and no use of rubrics, titles, or other textual information that could help a scribe discern one titulus from another. A similar sense emerges when one looks at how other contemporary collections of tituli were transmitted – clarity in the spacing and layout of the inscriptions was often sacrificed in an effort to maximize the amount of text copied per page.33 For a scribe or illuminator charged with using such a working copy as a source for writing out complex poems in gold ink, the task could be challenging indeed. From these observations, it is clear that the errors of the Milan tituli count as little more than scribal mistakes based on the confused reading of a difficult model text. Jacobsen’s broad conclusion – based largely on these misreadings – that the entire textual program of the Milan Gospels must be seen as a compilation from various unknown sources is, therefore, untenable.

Problems of Use The next problem that ought to be considered is why tituli in Cologne were so inconsistently used. Take, for example, the case of the Majestas Domini miniatures – one of the favored image types in Cologne’s Ottonian manuscripts, with no fewer than ten surviving examples and an additional two miniatures that have likely been lost. Across this group, five examples can be linked with good reason to the titulus that first appears in the Milan Gospels; and of these five, in turn, only one manuscript – the Gundold Gospels in Stuttgart – preserves both the miniature and its titulus intact.34 In both the Milan Gospels and the Freiburg Sacramentary, the miniatures have gone missing; and in both the Cologne City Archive Gospels and the Maria ad Gradus Gospels, decorative pages for the tituli exist, but the titulus itself was never written. It is much easier to account for missing miniatures, which are so often cut out or lost to damage, than it is to understand why the expected inscriptions were never added to the prepared decorative pages. Indeed, such ‘blank’ decorative pages occur throughout the Cologne manuscripts, and even in closely related examples like the 33 See, for example, the only surviving copy of the inscriptions Sedulius Scottus composed for Archbishop Gunthar of Cologne (Bibliothèque royale de Belgique Brussels, ms. 10.615 – 729, fol. 214r–223v). The manuscript is digitized on the library’s website: https://opac.kbr.be / Library/doc / SYRACUSE/18349465/mis​ cellanea-latina-ms-10 – 615 – 729?_lg=en-GB [December 27, 2022]. For other examples, see Arnulf 1997 (as note 6), p. 147 – 163. – Till Hennings: Ostfränkische Sammlungen von Dichtung im 9. Jahrhundert (Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter, vol. 19), Göttingen 2021, p. 342 f. 34 The five manuscripts are the Cologne City Archives Gospels (Historisches Archiv Cologne, Cod. W 312), the Milan Gospels, the Gundold Gospels, the Maria ad Gradus Gospels and the Freiburg Sacramentary.

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St. Andreas Gospels in Darmstadt, whose origins remain a mystery despite having a Cologne provenance.35 The recurring presence of these so-called ‘blank’ decorative pages – in each case where one would clearly expect inscriptions or another type of text to occur – strongly suggests that the addition of tituli was a separate, later step in the process of producing the manuscripts. Of course, it is most often impossible to determine the reasons why an artist or scribe decided against adding these texts: were there problems with access to the source material? Was the use of valuable gold ink a limiting factor? Or were the texts – like the Milan tituli – perhaps judged to be too long or cumbersome to fit within the allotted space? Each manuscript may very well have had its own set of circumstances that led to the absence of inscriptions. What is clear, however, is that changes in plan were a common occurrence in Cologne’s Ottonian manuscripts. Doris Oltrogge and Klaus Gereon Beuckers demonstrated this in their study of the Maria ad Gradus Gospels, which features several noticeable plan changes particularly relating to the creation of the illuminated evangelist sequences.36 Likewise, changes in plan can be seen in both the Milan Gospels and the Hitda Codex. In the former, the Matthew sequence stands out as having a different order than the remaining gospels (Abb. 59). It begins with the double-page titulus (fols. 17v–18r), followed by an opening with an incipit page at left and the Matthew Portrait at right (fols. 18v/19r), and then an opening with a second incipit page facing the initial page (fols. 19v/20r). This arrangement proved unsatisfactory – perhaps because of the awkward doubling of the incipit pages (fols. 18v and 19v), or the fact that the two pages of the titulus had to be written on separate bifolios – an extra step that no doubt would have led to confusion. The three remaining evangelist sequences adopt a different order, moving the titulus to the center of the quire, thus allowing the two pages of the inscription to be written on the same sheet of parchment (Abb. 60). This new arrangement gives added prominence to the evangelist titulus, which in each case is preceded by the evangelist portrait and followed by the initial page. The Matthew quire of the Hitda Codex (fols. 19r–25v) also shows evidence of a change in plan. This quire was initially assembled in a way that did not allow for the inclusion of the Presentation at the Temple miniature or the planned titulus for Matthew (fol. 23r/v). As a result, the artist had to insert a single leaf into the otherwise regular quire. In the process, however, the titulus for Matthew was left out and replaced with a duplicate incipit 35 So-called ‘blank’ decorative pages occur in the Cologne City Archives Gospels (fols. 13r, 20v and 72v), the Gereon Sacramentary (fol. 13v), the Gundold Gospels (fol. 70v), the Maria ad Gradus Gospels (fol. 1r), the Bamberg Gospels (Staatsbibliothek Bamberg, Msc.Bibl. 94, fol. 1r), the Freiburg Sacramentary (fols. 20v, 21r and 21v), and the St. Andreas Gospels (Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Inv.  AE 679, fols. 21v, 83r, 126v and 190r). For the latter manuscript, see Peter Märker / Theo Jülich: Gold und Purpur. Der Bilderschmuck der früh- und hochmittelalterlichen Handschriften aus der Sammlung Hüpsch im Hessischen Landesmuseum Darmstadt, Darmstadt 2001, p. 27 – 37. 36 See the contribution by Doris Oltrogge in: Beuckers 2018 (as note 26), p. 139 – 154, esp. p. 140 f.

The Tituli of Cologne’s Painterly Group of Illuminated Manuscripts | 245

Abb. 59: Milan Gospels, Biblioteca Ambrosiana Milan, MS C 53 Sup.: Fourth Quire.

Abb. 60: Milan Gospels, Biblioteca Ambrosiana Milan, MS C 53 Sup.: Twelfth Quire.

text. This unexpected change in plan may explain why Matthew is the only evangelist in the Hitda Codex, who is not paired with a unique titulus.37 With this context in mind, we can look again at the codicology of the Gießen Gospels and see a similar change in plan that occurs between the prefatory cycle – which is confined to the first quire of the manuscript – and the four illuminated evangelist cycles that occur throughout the remainder of the book. This change in plan is reflected in the ornament of the pages as well. The two tituli pages at the beginning of the manuscript (fols. 2r and 3r) feature a much more restrained approach to presenting the text; whereas the four ‘false’ tituli pages accompanying the evangelist portraits adopt a more innovative and visually elaborate approach, in which the text is presented on four or five isolated registers, often against a silver ground, interspersed with decorative bands of gold and purple ornament (fols. 10v, 77v, 122v and 188v). The particular design of these decorative pages occurs in only one other instance in the entire corpus of Cologne manuscripts: that is, in the Hitda Codex, where it was used for the titulus accompanying the Miracle of the Widow’s Son (Abb. 61). Here, however, the unusual design was chosen in order to cover up a scribal mistake. Instead of the correct titulus text, the illuminator initially wrote out the incipit to Luke’s Gospel in four rows of golden letters, which are still clearly visible underneath the bands of gold: “incipit evangelium secundam lucam”. 37 See Winterer 2010 (as note 2), p. 46 f. – O’Driscoll 2015 (as note 1), p. 221 f.

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Abb. 61: Hitda Codex, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640, fol. 114v: titulus for the Miracle of the Widow’s Son.

The Tituli of Cologne’s Painterly Group of Illuminated Manuscripts | 247

Upon recognizing this error, the illuminator used the same design as in the Gießen decorative pages to add the correct titulus text as an overlay. Such mistakes or changes in plan were by no means infrequent occurrences in the production of Cologne’s Ottonian manuscripts. In the Gießen Gospels, the change in plan between the prefatory cycle and the subsequent four evangelist cycles is also reflected in the manuscript’s quire structure. In most manuscripts of the painterly group, cycles of illuminated pages were created separately, using independent quires, and thus did not mix with the regular text pages of the manuscript. This separation of tasks allowed artists and scribes to work parallel to each other with minimal interference. The strict separation of illuminated quires from the rest of the text block can be observed in the Milan Gospels, the Gereon Sacramentary, and the Hitda Codex, just to name a few examples. The first quire of the Gießen Gospels follows this approach, but the illuminated pages of the four evangelist cycles were not constructed in the same way. Instead, the miniatures, the tituli pages, and the initial pages were – in each case – painted on three separate bifolios, each of which also included passages of regular text. Coordinating the proper combination of these various parts within a single quire was no doubt a complicated process and may perhaps explain why the evangelist tituli pages feature much simpler texts rather than unique compositions.

Problems of Meaning The final problem to consider is the extent to which sets of Cologne tituli relate to each other, and how these relationships inform the meaning and interpretation of the texts. For example, a remarkable amount of overlap occurs between the tituli of the Gereon Sacramentary and the Hitda Codex.38 The most significant instance is the well-known formulation from the Majestas Domini titulus in the Hitda Codex, “hoc visibile imaginatum” (fol. 6v), which can easily be derived from the more complex phrase “hoc materiale inspectivum”, from the Nativity titulus of the Gereon Sacramentary (fol. 12v). Likewise, the phrase “speciali virginitatis prerogativa” from the titulus to the evangelist portrait of John in the Hitda Codex (fol. 171v) is a near word-for-word reformulation of the same passage from the Annunciation titulus in the Gereon Sacramentary (“specialis prerogativa virginitatis”; fol. 11v).39 The 38 On the relationship between the tituli in the Gereon Sacramentary and the Hitda Codex, see Joshua O’Driscoll: Anmerkungen zum Verhältnis von Bild und Titulus im Sakramentar aus Sankt Gereon und im Hitda Codex, in: Beuckers 2013 (see note 2), 113 – 127, esp. p. 127. – O’Driscoll 2015 (as note 1), p. 214 – 221. 39 Other examples of borrowings between the two manuscripts include the peculiar use of “statua” in the Gregory titulus from the Gereon Sacramentary (fol. 20v) and the Mark titulus from the Hitda Codex (fol. 77v); and the use of “corpus” to refer to a codex in both the Gregory titulus from the Gereon Sacramentary (fol. 20v) and the Jerome titulus from the Hitda Codex (fol. 7v).

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points of overlap go beyond textual resonances and include formal qualities such as the decision to leave out the purple ground for the tituli pages accompanying the Crucifixion miniatures in both manuscripts; or the way the illuminators varied the scripts of the tituli in both manuscripts to achieve different visual effects. Throughout these examples, the relationship between the two manuscripts can be described as one of dependence of the Hitda Codex on the more complex and fully contextualized precedents of the Gereon Sacramentary. The Hitda tituli are consistently more straightforward and accessible than those of the Gereon Sacramentary, which is fully in line with the manuscript’s intended function as part of a larger endowment for a specific monastic community. The Gereon Sacramentary, in contrast, was almost certainly intended as a gift for a specific recipient – or at least a close-knit group of individuals who would have been able to understand the obscure terminology of its tituli and the repeated allusions to specific philosophical contexts. Indeed, in looking carefully at the differences and similarities between the inscriptions in the Gereon Sacramentary and those of the Hitda Codex, a possibility emerges to think about the Cologne tituli in terms of their intended audience. This may be a fruitful way to reconsider the tituli of the Gießen Gospels. Its Majestas titulus, for example, may at first appear to be a rather straightforward description of the scene: “Four princes of the Lord spread the rites of Praise: / Matthew, Luke, Mark, and John.”40 Its structure, however, recalls a popular titulus used in deluxe Carolingian Gospel books, particularly from Tours: “Here shine, flowing from one source, / The books of Matthew, Mark, Luke and John.”41 Rather than a Christological emphasis on a single source, however, the Gießen t­ itulus emphasizes instead the “sollempnia laudum” (rites of praise), which lends the titulus a liturgical inflection. In a similar manner, the Carolingian model places an emphasis on the books of the evangelists, whereas the Gießen titulus emphasizes instead the evangelists themselves, and their role as “proceres” (princes) of the Lord. These subtle variations of the Carolingian model may have been motivated by an interest in adapting the tituli of the Gießen Gospels to better suit its intended recipient. Likewise, the Jerome titulus from the Gießen Gospels can be understood as a variation on the main themes that occur in several other examples of Jerome tituli: “The greatest speaker and conveyor of ancient scripture, / Jerome translated everything into Latin.”42 In terms of its structure and content, the Gießen titulus fits well within the context of other Jerome tituli from Cologne – particularly the titulus from the Milan Gospels.43 40 “Quattuor in dominum proceres sollempnia laudum. / Pandunt Matheus, Lucas, Marcusque Johannes.” 41 “Quattuor hic rutilant uno de fonte fluentes / Matthei, Marci, Lucae libri atque Johannis.” MGH Poetae 2, p. 671. – Arnulf 1994 (as note 6), p. 166. 42 “Maximus orator scripti veterisque relator / Transtulit in stilum Geronimus omne latinum.” 43 “Hic pater insignis meritis Hieronimus almus / Scriptor et interpres divine legis habetur.” For this titulus and other examples of Jerome tituli, see O’Driscoll 2015 (as note 1), p. 104 – 109.

The Tituli of Cologne’s Painterly Group of Illuminated Manuscripts | 249

Both tituli praise Jerome’s scholarly abilities, while also emphasizing the importance of his translations of holy scripture. However, the key attributes of Jerome emphasized by the Milan titulus – that is, his status as both a scriptor (writer) and interpres (translator) – have been transformed by the author of the Gießen titulus into orator (speaker) and relator (conveyor). The latter quality is understandable considering Jerome’s importance as a transmitter of ancient texts, but the choice of orator is more difficult to explain. Perhaps the word was chosen in an attempt to underscore the oral component of teaching and transmission, thus emphasizing an important aspect of Jerome’s early medieval reception as a model scholar and intellectual.44 Alternatively, the word may have simply been chosen by the author out of necessity to complete the verse’s internal rhyme with relator. Given that tituli were so carefully adapted in the three main manuscripts of the painterly group (that is, the Milan Gospels, the Gereon Sacramentary, and the Hitda Codex), it seems likely that the two tituli of the Gießen Gospels were likewise formulated with the manuscript’s intended recipient in mind – whoever that may have been. It remains unclear why the makers of the manuscript successfully created unique tituli for the Majestas Domini and Jerome miniatures, but failed to do so for the illuminated evangelist sequences. Despite this abrupt and unaccounted for change in plan, the Gießen Gospels still provides us with an important opportunity to consider how and to what ends tituli contributed to the function and meaning of illuminated manuscripts in Ottonian Cologne.

44 See Herbert L. Kessler: Jerome and Vergil in Carolingian Frontispieces and the Uses of Translation, in: Les manuscrits carolingiens, ed. by Jean-Pierre Caillet and Marie-Pierre Laffitte (Bibliologia, vol. 27), Turnhout 2009, p. 121 – 140. – Anne-Orange Poilpré: Dans et avec le livre. Jérôme, David et les souverains carolingiens, in: Imago Libri. Représentations carolingiens du livre, ed. by Charlotte Denoël, Anne-Orange Poilpré and Sumi Shimahara, Turnhout 2018, p. 85 – 97.

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Fabrizio Crivello

Das Mailänder Evangeliar (Biblioteca Ambrosiana, C 53 sup.) Überlegungen und offene Fragen

Das Mailänder Evangeliar wird bereits seit den frühesten Studien von Arthur Haseloff als eines der Hauptwerke der ottonischen Kölner Buchmalerei angesehen,1 für Peter Bloch war es „vielleicht die qualitätvollste Handschrift“ der ‚Schule‘,2 die ­zwischen dem 10. und 11. Jahrhundert mit der sogenannten ‚Malerischen Gruppe‘ eine ihrer charakteristischsten Ausdrucksformen erreichte: „In Köln“, so Carl Nordenfalk, „wird […] das malerische Element in eigentümlicher Weise gesteigert. Mit ungewöhnlich vollem Pinsel malend, gelingt es den Kölner Künstlern, die Formen sozusagen direkt aus der zähfließenden Farbmasse zu gewinnen […]. Boden- und Hintergrundformen werden […] zu weichen Farbwellen, die gerade im Begriff sind zu gerinnen“.3 Im Mailänder Evangeliar ist die charakteristische ‚malerische‘ Freiheit der Gruppe mit einer Klarheit der ornamentalen Sprache und Auszeichnungsschriften verbunden. Die frühe Forschung hat das Evangeliar einem Kreis von Handschriften zugeteilt, unter denen das Sakramentar aus St. Gereon (Bibliothèque nationale de France Paris, Lat. 817) eine wichtige Stellung einnimmt, da es Hinweise zu deren Einordnung bietet.4 Die Untersuchungen von Peter Boch und Hermann Schnitzler – nach wie vor das Referenzwerk 1 Arthur Haseloff: Photographien rheinländischer Buchmalereien des IX. bis XIV. Jh., in: Ausst. Kat. Kunsthistorische Ausstellung Düsseldorf 1904, eingel. v. Paul Clemen, Düsseldorf 1904, S. 201 – 206, hier S. 202. 2 Peter Bloch: Novum opus facere me cogis. Zum Hieronymusbild im Kölner Evangeliar der Ambrosiana, in: Studien zur Buchmalerei und Goldschmiedekunst des Mittelalters. Festschrift für Karl ­Hermann Usener zum 60. Geburtstag am 19. August 1965, hg. v. Frieda Dettweiler, Herbert Köllner und Peter Anselm Riedl, Marburg an der Lahn 1967, S. 119 – 128, hier S. 119. 3 Carl Nordenfalk: Rezension zu Peter Bloch / Hermann Schnitzler: Die Ottonische Kölner Malerschule, 2 Bde., Düsseldorf 1967/1970, in: Kunstchronik. Monatszeitschrift für Kunstwissenschaft, Museumswesen und Denkmalpflege 24 (1971), S. 292 – 309, hier S. 304. – Vgl. auch Carl Nordenfalk: Die Buchmalerei, in: André Grabar / Carl Nordenfalk: Das frühe Mittelalter vom vierten bis zum elften Jahrhundert (Die großen Jahrhunderte der Malerei), Genf 1957, S. 87 – 218, hier S. 208 f. 4 Vgl. Arthur Haseloff: Peintures, Miniatures et Vitraux de l’Époque Romane. I. Dans les Pays du Nord, in: Histoire de l’art depuis les Premiers Temps Chrétiens jusqu’à nos Jours, Bd. 1: Des Débuts de l’Art Chrétien à la Fin de la Période Romane, Teilbd. 2, hg. v. André Michel, Paris 1905, S. 711 – 755, hier S. 729. – Antonio Muñoz: Miniature della scuola di Colonia. Un evangelario dell’Ambrosiana. Un sacramentario della Nazionale di Parigi, in: L’Arte 11 (1908), S. 209 – 218, hier S. 209 – 212. – Heinrich Ehl: Die ottonische Kölner Buchmalerei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der frühmittelalterlichen Kunst in Westeuropa (Forschungen zur Kunstgeschichte Westeuropas, Bd. 4), Bonn 1922, S. 103 – 105. – Adolph

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zur ottonischen Buchmalerei in Köln – haben das Evangeliar in einen konkreten Kontext gestellt und verschiedene Aspekte der Ikonographie behandelt.5 Jüngere Einzelstudien zu den Kölner Handschriften haben alte Probleme erkannt und neue Überlegungen angeregt,6 so auch zum Mailänder Evangeliar, das in vielerlei Hinsicht sowohl zu seiner ornamentalen, stilistischen und ikonographischen Merkmale als auch zu seinen Beziehungen zu den anderen Handschriften der Gruppe Fragen aufwirft.

Die Handschrift, ihr Schmuck, ihre Stellung Die mehrfach katalogisierte und beschriebene Mailänder Handschrift enthält die vier Evangelien (fol. 20r–76r, 80r–116v, 120r–184v u. 188r–228r).7 Vorangestellt sind zwei der üblichen, allgemeinen Prologe – Novum opus (fol. 4r–6v) und Plures fuisse (fol. 7r–9r) –, Argumentum (fol. 9v–10r) und Capitula (fol. 10r–10v) zum Matthäus Evangelium sowie Kanontafeln auf zwölf Seiten (fol. 11r–16v); am Ende findet sich das Capitulare evangeliorum Goldschmidt: Die deutsche Buchmalerei, Bd. 2: Die ottonische Buchmalerei, München 1928, S. 69 f., Taf. 83 – 84a. – Nordenfalk 1957 (wie Anm. 3), S. 208. 5 Bloch / Schnitzler 1967/1970 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 31 – 37, Kat. Nr. III, Bd. 2, passim. – In ­diesem Zusammenhang erschienen auch die Veröffentlichungen von Hermann Schnitzler: Hieronymus und Gregor in der ottonischen Kölner Buchmalerei, in: Kunstgeschichtliche Studien für Hans Kauffmann, hg. v. Wolfgang Braunfels, Berlin 1956, S. 11 – 18, hier S. 11 und Bloch 1967 (wie Anm. 2). 6 Vgl. Ulrich Kuder: Studien zur ottonischen Buchmalerei [Habilitationsschrift 1989], 2 Bde., hg. u. ­eingel. v. Klaus Gereon Beuckers (Kieler Kunsthistorische Studien, N. F. Bd. 17), Kiel 2018, Bd. 1, S. 248 u. 252, Nr. 92, Bd. 2, S. 873 u. 947 f. – Joshua O’Driscoll: Image and Inscription in Painterly Manuscripts from Ottonian Cologne, Diss. Cambridge 2015, S. 52 – 128 u. passim. – Klaus Gereon Beuckers: Das Gundold-Evangeliar in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Bemerkungen zu einem Kölner Prachtcodex des 10./11. Jahrhunderts, in: Philologia sanat. Studien für Hans-Albrecht Koch zum 70. Geburtstag, hg. v. Gabriella Rovagnati u. Peter Sprengel, Frankfurt am Main 2016, S. 41 – 65, hier S. 44 f., 58 – 60, 62. – Klaus Gereon Beuckers: Das Evangeliar aus St. Maria ad Gradus. Höhepunkt der salischen Buchmalerei aus Köln. Die Handschrift Cod. 1001a der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek Köln, Luzern 2018, S. 37, 47, 52 f., 71, 76 f., 84 – 86, 99 f. u. 102. – Ursula Prinz: Die Ornamentik der ottonischen Kölner Buchmalerei. Studien zum Rahmenfüllwerk (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen ­Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 71), Köln 2018, S. 59 – 61, Kap. 4.3 u. passim. 7 Pergament, III + 237 + III Bl., 230 × 160 mm. Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/1970 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 31 – 37, Kat. Nr. III. – Renata Cipriani: Codici miniati dell’Ambrosiana. Contributo a un catalogo (Fontes Ambrosiani, Bd. 40), Mailand 1968, S. 16. – Maria Luisa Gengaro / Gemma Villa Guglielmetti: Inventario dei codici decorati e miniati (secc. VII-XIII) della Biblioteca Ambrosiana (Storia della miniatura, Bd. 3), Florenz 1968, S. 26 – 28. – Inventario Ceruti dei manoscritti della Biblioteca Ambrosiana, Bd. 3 (Fontes Ambrosiani, Bd. 57), Trezzano sul Naviglio (Mailand) 1977, S. 162 f. – Louis Jordan / Susan Wool: Inventory of Western Manuscripts in the Biblioteca Ambrosiana. From the Medieval Institute of the University of Notre Dame, The Frank M. Folson Microfilm Collection, Bd. 2: C–D superior (Publications in Medieval Studies, Bd. 22.2), Notre Dame (USA) 1986, S. 82 – 84.

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Abb. 62: Mailänder Evangeliar, Biblioteca Ambrosiana Mailand, C 53 sup., fol. 9v: unvollendete Initiale M zum Matthäus-Argumentum.

(fol. 229r–237r). Der Buchschmuck besteht aus Zierseiten auf Purpurgrund mit Tituli oder Incipit beziehungsweise Initium und ganzseitigen Bildern. Am Anfang stehen zwei Tituli zum Evangelienbuch als Fons Vitae (fol. 1v) und zur Majestas Domini (fol. 2r). Es folgt ein Dedikationsbild (fol. 2v) mit Titulus auf der gegenüberliegenden Zierseite (fol. 3r) sowie ein Hieronymusbild (fol. 3v) vor dem Beginn der E ­ rsten Vorrede Novum opus. Die nachfolgende Vorrede Plures fuisse ist nur durch eine Zierinitiale hervorgehoben (fol. 7r), ebenso das Matthäus-Argumentum, das mit einer unvollendeten Rankeninitiale – einer der wenigen unvollendeten Zierinitialen der ottonischen Buchmalerei – beginnt (fol. 9v) (Abb. 62). Es folgen die Zierseiten zu den Evangelien: je sechs Seiten mit Incipitseite und gegenüberstehendem Evangelistenbild (fol. 77v/78r, 117v/118r u. 185v/186r), Doppelseite mit Versen auf den Evangelisten (fol. 78v/79r, 118v/119r u. 186v/187r), Initium- und Initialzierseite (fol. 19v/20r, 79v/80r u. 187v/188r) (Abb. 63). Diesem Aufbau folgen die Evangelien von Marcus, Lukas und Johannes. Eine Ausnahme bildet das Matthäusevangelium, hier steht eine Doppelseite mit Versen (fol. 17v/18r) vor der Incipitseite mit Evangelistenbild (fol. 18v/19r). Diese Variation ist vielleicht auf das Vorhandensein des Argumentum zum Matthäusevangelium zurückzuführen, das den Kanontafeln vorausgeht, oder es kam möglicherweise nach dem Matthäusevangelium zu einer Projektänderung der Textanlage des Evangeliars.

Das Mailänder Evangeliar (Biblioteca Ambrosiana, C 53 sup.) | 253

Abb. 63: Mailänder Evangeliar, Biblioteca Ambrosiana Mailand, C 53 sup., fol. 187v/188r: Initiumund Initialzierseite zum Johannes-Evangelium.

Wann der Codex entstand, lässt sich mit paläographischen oder historischen Argumenten nicht sicher bestimmen. Zur Schrift ist wenig bekannt und „die Kölner Schriftentwicklung im 10. und 11. Jahrhundert ist weitgehend eine terra incognita“.8 Innerhalb der gesamten Handschriftengruppe ist nur der Erstling, das Everger-Epistolar (Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 143) durch die Regierungszeit des Erzbischofs näher auf die Jahre ­zwischen 984 und 999 zu datieren.9 Wie früh 8 Hartmut Hoffmann: Schreibschulen und Buchmalerei. Handschriften und Texte des 9. – 11. Jahrhunderts (Monumenta Germaniae Historica. Schriften, Bd. 65), Hannover 2012, S. 185. 9 Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 13 – 25, Kat. Nr. I. – Kuder [1989] 2018 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 260, Kat. Nr. 105. – Prinz 2018 (wie Anm. 6), S. 54 – 56, Kap. 4.1. – Ursula Prinz: Die älteste ottonische Kölner Prachthandschrift. Überlegungen zur malerischen Ausstattung des Everger-Epistolars (Cod. 143) unter besonderer Berücksichtigung der Ornamentik, in: Mittelalterliche Handschriften der Kölner Dombibliothek. Achtes Symposion der Diözesan- und Dombibliothek Köln zu den Dom-Manuskripten, hg. v. Harald Horst (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöf­lichen ­Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen ­Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 73), Köln 2019, S. 153 – 205. – Harald Horst: Das Everger-Epistolar in der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 143. Struktur, Inhalt, Funktion, in:

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erkannt,10 steht die Mailänder Handschrift dem Pariser Sakramentar aus St. Gereon am nächsten,11 wo sich, wie auch im Evangeliar, zwei Maler unterscheiden lassen, bei denen es sich möglicherweise um dieselben handelt.12 Auch durch die Ornamentik wird die Verwandtschaft der beiden Handschriften bestätigt,13 so dürfte ihre Entstehung zeitlich nahe beieinander liegen.14 Wenn sich das Gebet „cum […] rege nostro Ottone“ im Anschluss an das Exultet des Sakramentars aus St. Gereon (fol. 56v) auf das Königtum Ottos III . bezieht, ist die Handschrift ­zwischen 983 (Tod Ottos II .) und 996 (Kaiserkrönung Ottos III .) anzusetzen, auch wenn die Interpretation, ob es sich um einen König oder ­Kaiser oder doch um eine Übernahme aus einer älteren Vorlage handelt, sowie die Frage nach dem kurz vor dieser Stelle ausradierten und durch einen goldenen Buchstaben ‚N‘ ersetzten Erzbischofsnamen noch offen bleiben müssen.15 Wenn die Namensrasur – wie Ulrich Kuder argumentiert hat 16 – mit dem Amtsübergang von Erzbischof Warin zu Everger 985 zusammenhängt, bestätigt sich diese Einordnung. Eine Verbindung mit der Amtsübernahme Erzbischof Heriberts (amt. 999 – 1021) stünde dem terminus ante quem Illustrierte Epistolare des frühen und hohen Mittelalters, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Vivien Bienert und Ursula Prinz, Regensburg 2021, S. 79 – 102 (mit Forschungsbericht). 10 Vgl. Anm. 4. 11 Vgl. Peter Bloch: Das Sakramentar von St. Gereon, München 1963. – Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 37 – 44, Nr. IV. – Kuder [1989] 2018 (wie Anm. 6), Bd. 1, 260, Nr. 106. – ­François Avril / Claudia Rabel: Manuscrits enluminés d’origine germanique, Bd. 1: Xe–XIVe siècle, Paris 1995, S. 71 – 74, Kat. Nr. 59. – Joshua O’Driscoll: Anmerkungen zum Verhältnis von Bild und Titulus im Sakramentar aus Sankt Gereon und im Hitda-Codex, in: Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640). Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013, S. 113 – 127. – O’Driscoll 2015 (wie Anm. 6), S. 129 – 208. 12 Mailänder Evangeliar, Erster Maler: Dedikations-, Matthäus- und Markusbild (fol. 2v, 19r u. 78r); zweiter Maler: Hieronymus-, Lukas- und Johannesbild (fol. 3v, 118r u. 186r). Pariser Sakramentar, Erster Maler: Verkündigung, Geburt, Majestas Domini, Kreuzigung und Völkerschaften zu Pfingsten (fol. 12r, 13r, 15v, 59r u. 76v); zweiter Maler: Gregorbild, Pilatus, Frauen am Grabe, Himmelfahrt und Pfingsten (fol. 21r, 59v, 60r, 72r u. 77r). Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 31 u. 37, Bd. 2, S. 93. 13 Vgl. Prinz 2018 (wie Anm. 6), S. 60 u. 62. 14 Vgl. auch Jeremia Kraus: Worauf gründet unser Glaube? Jesus von Nazaret im Spiegel des Hitda-Evangeliars (Freiburger theologische Studien, Bd. 168), Freiburg im Breisgau 2005, S. 60 – 62. 15 Ein Forschungsüberblick hierzu bei Prinz 2018 (wie Anm. 6), S. 61 f. 16 Ulrich Kuder: Der Hitda-Codex im Zusammenhang der Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 11), S. 89 – 111, hier S. 93 – 95 u. 111. – Ulrich Kuder: Das 1870 verbrannte Straßburger Evangeliar im Zusammenhang der Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Das Jüngere Evangeliar aus St. Georg in Köln. Untersuchungen zum Lyskirchen-Evangeliar, hv. v. Klaus Gereon Beuckers und Anna Pawlik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 5 / Studien zu Kunstdenkmälern im Erzbistum Köln, Bd. 5), Köln 2019, S. 109 – 140, hier S. 126 mit Anm. 69. – Vgl. auch Hoffmann 2012 (wie Anm. 8), S. 184. – O’Driscoll 2013 (wie Anm. 11), S. 113 f. – O’Driscoll 2015 (wie Anm. 6), S. 133 f.

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von 996 entgegen. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Rasur und Einfügung des Buchstaben ‚N‘ eine spätere und von einer konkreten Amtsübergabe der Kölner Bischöfe unabhängige Verallgemeinerung des Eintrags sein könnte, wenn auch die Tinte und die Breite der Schreibfeder mit der des Eintrags zu Otto übereinzustimmen scheint. Jedenfalls ist es nicht einfach zu erklären, warum vor konkreten Namen des Herrschers der des Erzbischofs verallgemeinert worden ist. Aufgrund der Entwicklung der Ornament- und Bildsprache ist im Vergleich zum Everger-Epistolar eine Datierung des Sakramentars jedenfalls allgemein in das späte 10. Jahrhundert, möglicherweise vor oder um 990 anzunehmen. Folglich muss dies auch für das Mailänder Evangeliar gelten, das somit früher anzusetzen ist als bisher meist angenommen.17 Von fol. 228r, welches das Ende des Johannesevangeliums enthält, ist nur der obere Streifen erhalten. Auf der übrigen, verlorenen Seite könnte sich vielleicht eine abschließende Inschrift oder ein Kolophon befunden haben. Mit dem Verlust sind möglicherweise Hinweise auf die Datierung der ambrosianischen Handschrift verlorengegangen. Auch die Lokalisierung der Werkstatt des Evangeliars und der verwandten Handschriften ist umstritten. Überwiegend werden die Abtei St. Pantaleon oder das Stift St. Gereon angenommen, auf das verschiedene Hinweise hindeuten.18 Neben der unbestreitbaren Rolle dieser beiden geistlichen Institute wurde vorgeschlagen, einige Handschriften, insbesondere das Everger-Epistolar und einige damit verbundene Werke, einem an der Kathedrale tätigen Skriptorium zuzuschreiben 19 – eine Möglichkeit, die in Prinzip und in Ermange­ lung anderer endgültiger Argumente auch für die Kernhandschriften der ‚Malerischen Gruppe‘ einschließlich des Mailänder Evangeliars nicht ausgeschlossen werden kann. Es sollte aber auch darauf hingewiesen werden, dass es für den Charakter der Kölner Schule, wie bei anderen Bischofssitzen, die im Frühmittelalter durch die aktive Präsenz bedeutender 17 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in d ­ iesem Band. 18 Forschungsbericht in O’Driscoll 2015 (wie Anm. 6), S. 14 – 18. – Klaus Gereon Beuckers: Das Kölner Sakramentar in Polen. Zur Einleitung, in: Das Sakramentar aus Tyniec. Eine Prachthandschrift des 11. Jahrhunderts und die Beziehungen z­ wischen Köln und Krakau in der Zeit Kasimir des Erneuerers, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Andreas Bihrer (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 3), Köln 2018, S. 13 – 26, hier S. 23 f. – Zu Kölner Skriptorien vgl. Raymund Kottje: Schreibstätten und Bibliotheken in Köln Ende des 10. Jahrhunderts, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todestag der Kaiserin, hg. v. Anton von Euw und Peter Schreiner, 2 Bde., Köln 1991, Bd. 1, S. 153 – 163. – Ein weiteres gewichtiges Argument für die Zuweisung der ‚Malerischen Gruppe‘ nach St. Pantaleon legt Beate Braun-Niehr in ­diesem Band anhand der Capitulare vor. 19 Die Zuweisung der von Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3) der ‚Malerischen Gruppe‘ zugeordneten Handschriften um das Everger-Epistolar zum Domskriptorium erstmals bei Nordenfalk 1971 (wie Anm. 3), S. 303. – Vgl. mit weiteren Lokalisierungshypothesen Kuder 2013 (wie Anm. 16), S. 92 f. u. 110 f.

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Stadtklöster geprägt waren,20 nicht so entscheidend und vielleicht sogar unmöglich ist, genau zu bestimmen, in welchem der Skriptorien in der Nähe die im bischöflichen Auf­ trag entstandenen Handschriften realisiert worden sind. Die spätere Provenienz trägt nichts zur Herkunftsfrage bei.21 Zu Beginn des 15. Jahrhunderts war die Handschrift vermutlich noch in Köln oder Umgebung, was die Rand­ ergän­zung „Undecim milium virginum et martyrum“ im Capitulare evangeliorum (fol. 234v) für das Fest der 11.000 Jungfrauen vermuten lässt. Wahrscheinlich stammt aus der gleichen Zeit der möglicherweise im monastischen Bereich entstandene Ledereinband mit seinen charakteristischen Stempeln mit apokalyptischem Lamm und Greifen im Mittelfeld der Platten.22 Vielleicht gehören auch die zahlreichen spätgotischen Ergänzungen mit roter Tinte im Haupttext und im Capitulare evangeliorum zu dieser Überarbeitungsphase des Evangeliars. Eine ausradierte und kaum lesbare Inschrift am Anfang der Handschrift (fol. 1r) beweist, dass das Evangeliar im Laufe des 15. Jahrhunderts nach Delft in die südlichen Niederlande gelangt war, wie der Verweis auf einen Kanoniker der Nieuwe Kerk belegt.23 Die von Kardinal Federico Borromeo gepflegten kulturellen Beziehungen zu Flandern erklären vielleicht die Übertragung des Werkes in der Ambrosianischen Bibliothek, der es 1606 laut Vermerk auf einem Papiervorsatzblatt (fol. Ir) geschenkt wurde.24

20 Vgl. Florentine Mütherich: Die Buchmalerei in den Klosterschulen des frühen Mittelalters, in: Monastische Reformen im 9. und 10. Jahrhundert, hg. v. Raymund Kottje und Helmut Maurer (Vortrage und Forschungen, Bd. 38), Sigmaringen 1989, S. 15 – 28, hier S. 16. Dies gilt insbesondere für die karolingische Produktion in Reims. Vgl. Wilhelm Koehler / Florentine Mütherich: Die Karolingischen Miniaturen, Bd. 6: Die Schule von Reims. Erster Teil: Von den Anfängen bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts (Denkmäler Deutscher Kunst), Berlin 1994, S. 15. 21 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 37. – O’Driscoll 2015 (wie Anm. 6), S. 53 f. 22 In den Hauptverzeichnissen der Stempeldurchreibungen des 15. Jahrhunderts sind die einzelnen Muster bekannt, aber eine genaue Übereinstimmung ist nicht gefunden worden. Vgl. Ilse Schunke: Die Schwenke-Sammlung gotischer Stempel- und Einbanddurchreibungen nach Motiven geordnet und nach Werkstätten bestimmt und beschrieben, Bd. 1: Einzelstempel (Beiträge zur Inkunabelkunde, Bd. 3.7), Berlin 1979. 23 „Liber iste quatuor evangelistarum est magistri Arnoldi Lydrek /// pro s// magistro Gerardo Liagen de Delft canonico Nove Ecclesie de Delft sibi in Christo carissimo“. Vgl. Marco Petoletti: Littera de penna, littera de pennello. Storie di manoscritti ambrosiani miniati, in: Come nasce un manoscritto miniato. Scriptoria, tecniche, modelli e materiali, hg. v. Francesca Flores d’Arcais und Fabrizio Crivello, Modena 2010, S. 137 – 150, hier S. 139. 24 „Quatuor sacrosancta Dei evangelia, varijs iconibus, characteribus, et parergis auro, et minio elaboratis insignita, quae ad illustrissimum cardinalem Federicum Borrhomaeum, Bibliobthecae Ambrosianae fundatorem […] dono transmisit anno 1606. Antonio Olgiato eisudem bibliothecae, quam primus annum tractavit, praefecto“. Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 32. – Ähnliche Notizen bezeichnen die meisten der ersten handschriftlichen Erwerbungen der Mailänder Bibliothek. Vgl. Angelo

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Abb. 64: Mailänder Evangeliar, Biblioteca Ambrosiana, Mailand, C 53 sup., fol. 2v: Widmungsbild.

Das Widmungsbild im Mailänder Evangeliar (fol. 2v) ist eine rätselhafte Darstellung (Abb. 64),25 für die auch die anderen Dedikations- und Devotionsbilder der Gruppe 26 – etwa jene im Everger-Epistolar (fol. 3v–4r) oder im Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640, fol. 6r)27 – keine Analogien bieten. Die rechte B ­ ildhälfte Paredi / Massimo Rodella: Le raccolte manoscritte e i primi fondi librari, in: Storia dell’Ambrosiana, Bd. 1: Il Seicento, hg. v. Massimo Lanza, Mailand 1992, S. 45 – 88. 25 Vgl. Joachim Prochno: Das Schreiber- und Dedikationsbild in der deutschen Buchmalerei, Bd. 1: Bis zum Ende des 11. Jahrhunderts (600 – 1100) (Die Entwicklung des menschlichen Bildnisses, Bd. 2), Berlin 1929, S. 59, Taf. 59. – Bloch 1967 (wie Anm. 2), S. 119. – Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 32. – Nordenfalk 1971 (wie Anm. 3), S. 306. – Klaus Gereon Beuckers: Das ottonische Stifterbild. Bildtypen, Handlungsmotive und Stifterstatus in ottonischen und frühsalischen Stifterdarstellungen, in: Die Ottonen. Kunst, Architektur, Geschichte, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Johannes Cramer u. Michael Imhof, Petersberg 2002, S. 63 – 102, hier S. 82. 26 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 152 – 155. 27 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 44 – 53, Kat. Nr. V. – Kuder [1989] 2018 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 252 – 253, Kat. Nr. 93. – Christoph Winterer: Das Evangeliar der Äbtissin Hitda. Eine ottonische Prachthandschrift aus Köln. Miniaturen, Bilder und Zierseiten aus der Handschrift 1640 der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Darmstadt 2010. – Beuckers 2013

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Abb. 65: Mailänder Evangeliar, Biblioteca Ambrosiana, Mailand, C 53 sup., fol. 4r: Initialzierseite zum Prolog Novum opus.

der Mailänder Miniatur zeigt frontal einen Geistlichen in Albe und Kasel, links erscheinen sechs Mönche als eine religiöse Gemeinschaft, von denen der vorderste ein Buch überreicht. Der Empfänger – wahrscheinlich ein Abt, wenngleich ein Bischof nicht ausgeschlossen werden kann – ist überlebensgroß, unnimbiert, ohne Inschriften, und hält in der linken Hand einen Manipel sowie ein zweites Buch. Die Verse auf der zugehörigen Zierseite klären nicht die Identität der dargestellten Figuren, die somit keine historischen Argumente für die Entstehungskontext bieten können. Die bisher in der Literatur geäußerten Identifikationshypothesen überzeugen nicht.28 Das Hieronymusbild der folgenden verso-Seite fol. 3v (Abb. 11) ist hingegen e­ indeutig und wurde in seinen ikonographischen Besonderheiten insbesondere von Hermann Schnitzler (wie Anm. 11). – O’Driscoll 2015 (wie Anm. 6), S. 209 – 288. – Prinz 2018 (wie Anm. 6), S. 63 – 65, Kap. 4.5. 28 Nach Nordenfalk 1971 (wie Anm. 3), S. 306 könnte es sich „um Heribert bei seinem definitiven Antritt des Kölner Erzbischofamtes nach dem Tote Ottos III.“ handeln. – Vgl. demnächst Klaus Gereon Beuckers: Willkommen zurück! Das Widmungsbild des Mailänder Evangeliars (Biblioteca Ambrosiana, C. 53 Sup.) und Gründungsabt Sandrad von Mönchengladbach, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 226 (2023), (im Druck) mit einer Identifizierung als Abt Sandrad.

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und Peter Bloch analysiert.29 Es zeigt den Heiligen, als „Sanctus Iheronimus presbyter“ bezeichnet, der von einem Diakon einen Rotulus, den Brief von Papst Damasus, empfängt. Der nimbierte Kirchenvater sitzt auf einem Thron und trägt eine weiße, gelb schattierte Albe und violette Kasel. In der linken Hand hält er eine Schriftrolle, sein Körper wendet sich zur Linken, wo er mit der rechten Hand eine zweite, größere Schriftrolle erhält, die ihm ein stehender, kleiner Diakon mit Nimbus, Albe und graublauer Dalmatika mit beiden Händen darreicht. Die Szene bezieht sich auf die Bitte von Papst Damasus um die Übersetzung der Evangelien und erhält, wie schon Peter Bloch gesehen hat,30 die Antwort des Kirchenvaters direkt auf der gegenüberliegenden Zierseite (fol. 4r) in dem Brief, der den Evangelienprolog Novum opus bildet (Abb. 65). Ikonographisch unterscheidet sich das Bild von der Darstellung des diktierenden Hieronymus, die in den übrigen Evangeliaren der Gruppe zu finden ist,31 so im Hitda-Codex (fol. 8r) und im Gießener Evangeliar (fol. 2v).32

Das Fehlen eines Doppelblatts Von besonderem Interesse ist die Versreihe zu den Miniaturen des Mailänder Evangeliars, ­welche teilweise auch in anderen ottonischen Handschriften in Köln wiederholt wird.33 Zweimal veröffentlicht,34 entpuppten sich die Tituli als ottonische Verse, die keine älteren Tituli reproduzieren, sondern als Kompilation aus verschiedenen Quellen erscheinen. Die Fragen, ob diese Zusammenstellung ihren Ursprung in Köln hatte sowie wann und zu welchem Anlass dies geschehen war, bleiben offen. Für den Schmuck der Handschrift sind die Verse der ersten Lage besonders wichtig. Am Anfang, auf fol. 1v, bezieht sich ein vielleicht unvollständiger Titulus auf die Evangelien als Lebensquelle. Auf der gegenüberliegenden Seite verweist ein zweiter Titulus auf die Majestas Domini (Abb. 66). Deshalb wird angenommen, dass in der ersten Lage, die das Dedikations- und Hieronymusbild enthält, eine Miniatur verloren gegangen ist.35 Die erste 29 Schnitzler 1956 (wie Anm. 5), S. 11 – 18, hier S. 11 – 16. – Bloch 1967 (wie Anm. 2). – Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 32. – Kuder [1989] 2018 (wie Anm. 6), Bd. 2, S. 947 f. 30 Bloch 1967 (wie Anm. 2), S. 119 – 122 u. 126. 31 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 144 – 150. 32 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 54 – 59, Kat. Nr. VI. – Kuder [1989] 2018 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 253 f., Kat. Nr. 94. – Prinz 2018 (wie Anm. 6), S. 65 – 67, Kap. 4.6. 33 Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 32 – 36. – Peter Christian Jacobsen: Lateinische Dichtung in Köln im 10. und 11. Jahrhundert, in: von Euw / Schreiner 1991 (wie Anm. 18), S. 173 – 189, hier S. 179 – 182. – O’Driscoll 2015 (wie Anm. 6), S. 52 – 128. 34 Zum Teil auf der Basis der Wiederholungen im Evangeliar aus St. Maria ad Gradus (Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 1001a) in MGH Poetae V,1.2 [1937], S. 449 – 451, und in Jacobsen 1991 (wie Anm. 33), S. 187 – 189. 35 Vgl. Jacobsen 1991 (wie Anm. 33), S. 182. – O’Driscoll 2015 (wie Anm. 6), S. 105 f.

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Abb. 66: Mailänder Evangeliar, Biblioteca Ambrosiana, Mailand, C 53 sup., fol. 2r: Titulus zur Maiestas Domini.

Lage ist ein Binio und die verlorene Miniatur einer Majestas Domini müsste sich auf der ersten verso-Seite eines Doppelblatt vor der Zierseite mit dem Titulus (fol. 2r) befunden haben. Beispiele für eine s­ olche Anlage der Majestas Domini auf der verso-Seite vor einer Textseite 36 finden sich in der Kölner Buchmalerei im Kölner Evangeliar 312 (Historisches Archiv Köln, Best. 7010 Nr. 312, fol. 12v),37 im Sakramentar aus St. Gereon (fol. 15v) oder noch im Evangeliar aus St. Maria ad Gradus (Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 1001a, fol. 1v).38 Es sei allerdings daran erinnert, dass im späteren Sakramentar aus Mönchengladbach (Universitätsbibliothek Freiburg, Hs. 360a), in dem auf fol. 13v der 36 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 85 – 93. – Zum ikonografischen Thema in Köln vgl. auch Anton von Euw: Die Maiestas-Domini-Bilder der ottonischen Kölner Malerschule im Licht des platonischen Weltbildes. Codex 192 der Kölner Dombibliothek, in: von Euw / Schreiner 1991 (wie Anm. 18), S. 379 – 398. 37 Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 25 – 31, Kat. Nr. II. – Kuder [1989] 2018 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 251 f., Kat. Nr. 91. – Prinz 2018 (wie Anm. 6), S. 56 – 59, Kap. 4.2. 38 Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 69 – 75, Kat. Nr. XI. – Kuder [1989] 2018 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 255, Kat. Nr. 97. – Beuckers 2018 (wie Anm. 6). – Prinz 2018 (wie Anm. 6), S. 74 – 76, Kap. 4.10.

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Anfang desselben Titulus zu einer Majestas Domini zu lesen ist, der Verlust eines Blattes mit der entsprechenden, ebenfalls fehlenden Miniatur nicht nachweisbar ist.39 Es stellt sich überdies die Frage, was die übrigen drei Seiten des Doppelblattes enthalten haben könnten. Peter Christian Jacobsen hat angenommen, dass sich auf der Rückseite der Majestas Domini eine Zierseite mit einem leeren Rahmen befunden hat, wie auch im Evangeliar aus St. Maria ad Gradus (fol. 13r), wo sie als erste Zierseite, vielleicht als unvollendete Titelseite, dient.40 Nach dem Hieronymusbild könnte dann auf der gegenüberliegenden recto-Seite die Zierseite mit dem entsprechenden Titulus gewesen sein, wie es zum Beispiel im Gießener Evangeliar der Fall ist (fol. 3r). Schließlich dürfte vor der Initial­zierseite mit dem Beginn des Prologs Novum opus eine Zierseite mit Incipit gestanden haben, ähnlich wie im Gundold-Evangeliar (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. bibl. qt. 2a, fol. 11r)41 oder im Evangeliar von Sancta Maria ad Gradus (fol. 8v). Diese Rekonstruktion, die noch eine sorgfältigere kodikologische Überprüfung erfordert, mag prinzipiell möglich sein, auch wenn eine Zierseite mit leerem Rahmen nach der ersten Titulusseite wenig überzeugend bleibt. Vor allem erscheint das Vorhanden­sein einer gerahmten Incipitseite oder ‚B‘ (eatissimo papae Damaso Hieronimus)-Initialzierseite wenig plausibel, da zwei aufeinanderfolgende Zierseiten für denselben Prolog Novum opus unwahrscheinlich sind. Im Gundold-Evangeliar und im Evangeliar von St. Maria ad Gradus – wo es eine gerahmte Incipitzierseite gibt – besteht der Anfangsbuchstabe ‚N‘ des Prologs jeweils aus einem roten Kapitalbuchstaben (fol. 11v) und einer goldenen Textinitiale (fol. 9r). Auf jedem Fall würde wegen der Trennung z­ wischen dem Hieronymusbild und dem Beginn des Prologs Novum opus aufgrund eines fehlenden Blattes in der Mailänder Handschrift auch die direkte Beziehung z­ wischen dem in einer besonderen Ikonographie charakterisierten Hieronymusbild und dem Beginn seines Prologs fehlen.

39 Vgl. Christine Winkelmann-Giesen: Die Handschriften von St. Vitus (Der Bücherbesitz des Klosters St. Vitus in Gladbach. Von der Gründung bis zur Auflösung des Klosters [974 – 1802], Bd. 1.1), Köln 1998, S. 52 u. 54. – Vgl. hingegen Harald Horst: Das Sakramentar aus St. Vitus in Mönchengladbach (UB Freiburg, Hs. 360a). Die Parallelhandschrift des Tyniec-Sakramentars im Vergleich in: Das Sakramentar aus Tyniec. Eine Prachthandschrift des 11. Jahrhunderts und die Beziehungen ­zwischen Köln und Krakau in der Zeit Kasimir des Erneuerers, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Andreas Bihrer (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 3), Köln 2018, S. 91 – 113. 40 Jacobsen 1991 (wie Anm. 33), S. 182. 41 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 61 – 64, Kat. Nr. VIII. – Kuder [1989] 2018 (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 250 f., Kat. Nr. 90. – Beuckers 2016 (wie Anm. 6). – Prinz 2018 (wie Anm. 6), S. 68 – 71, Kap. 4.8.

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Die Evangelisten und das Johannesbild Abgesehen von der umstrittenen Frage der Kanonentafeln, die wohl bereits vor der Einflussnahme des berühmten Manchester-Evangeliars (John Rylands Library, Latin Ms. 98, entstanden ­zwischen 996 und 1002), von dem man bisher annahm, dass sie hiervon abstammen würden,42 entstanden sind,43 zeichnen sich die Evangelistenbilder durch Besonderheiten aus. Man kann in ihnen Spuren finden, die wie im Manchester-Evangeliar auf das Wiener Krönungsevangeliar (Kunsthistorisches Museum Wien, Weltliche Schatzkammer, Inv. Nr.  XIII 18) zurückgehen.44 Das Fehlen der Evangelistensymbole und die breiten Nimben sind hierfür ein erstes Indiz. Matthäus und Lukas sitzen frontal und lassen eine schwache Verbindung zum Wiener Johannes (fol. 178v) erkennen. Vor allem aber bewahrt die Profilfigur von Markus (Abb. 67) die Bildformel des entsprechenden Wiener Evangelisten (fol. 76v); man kann sie auch im Evangeliar aus St. Gereon im Historischen Archiv (fol. 73r) und im Gießener Evangeliar (fol. 78r) erkennen. Besondere Aufmerksamkeit verdient der Evangelist Johannes (Abb. 68), den Nordenfalk wie folgt beschrieb: er „erinnert an eine Eisfigur, die langsam anfängt zu schmelzen! “ 45 Johannes sitzt auf einem Erdhügel, er wendet sich nach rechts und schreibt in ein offenes Buch.46 Es gibt keine karolingischen Evangelisten in dieser Darstellungsform. Eine Kölner Parallele findet sich im Kölner Evangeliar 312: Hier wird Johannes (fol. 160r) nach karolingischem Typus mit erhobener Feder mit einer Neuerung verbunden, die den Evangelisten ohne Thron auf einem mit Kissen bedeckten Erdhügel sitzend zeigt.47 Es wird die 42 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 36 – 45. Es ist vermutet worden, dass in Trier für die Kanontafeln ein Kölner Vorbild aus der Nähe des Mailänder Evangeliar verwendet wurde. Vgl. Beuckers 2018 (wie Anm. 6), S. 76. Es könnte aber auch sein, dass in Köln wie in Trier eine gemeinsame karolingische Quelle zur Verfügung stand. Zu der hier nicht zu behandelnden komplizierte Frage der Datierung des Manchester-Evangeliars und seiner Beziehung zur ottonischen Kölner Buchmalerei, insbesondere zum Mailänder Evangeliar, vgl. zusammenfassend Prinz 2018 (wie Anm. 6), S. 97 – 103. 43 Zu den Kanontafeln vgl. zuletzt Klaus Gereon Beuckers: Zum Typus der Kölner Kanontafeln im 10./11. Jahrhundert und ihren Vorbildern am Beispiel des Evangeliars aus St. Maria ad Gradus (Diözesanblibliothek Köln Hs. 1001a), in: Mittelalterliche Handschriften der Kölner Dombibliothek. Siebtes Symposion November 2016, hg. v. Harald Horst (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen ­Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 70), Köln 2018, S. 15 – 62. 44 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 127 f. – Matthias Exner: Typus, Kopie und Nachleben. Zur Wirkungsgeschichte des Krönungsevangeliars, in: Das Krönungsevangeliar des Heiligen Römischen Reiches. Wien, Kunsthistorisches Museum, Weltliche Schatzkammer, Inv.-Nr. XIII 18, Kommentarband zur Faksimile-Ausgabe, hg. v. Franz Kirchweger, Gütersloh 2013, S. 87 – 120, hier S. 100 – 107. 45 Nordenfalk 1971 (wie Anm. 3), S. 304. 46 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 128. 47 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 127. – Exner 2013 (wie Anm. 44), S. 106, Anm. 51.

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Abb. 67: Mailänder Evangeliar, Biblioteca Ambrosiana, Mailand, C 53 sup., fol. 78r: Evangelist Markus.

Überlieferung des Johannes auf der Insel Patmos, wo der Evangelist in Verbannung die göttliche Inspiration für seine Schriften empfing, verbildlicht.48 Diese im Zusammenhang mit dem Anfang des Johannesevangeliums auftretende Darstellung ist in der spätgotischen Buchmalerei häufig vertreten – vor allem in Gebetbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts 49 –, aber im frühen Mittelalter sonst nicht bekannt. Das Bild des Mailänder Evangeliars wurde von Peter Bloch und Hermann Schnitzler als Ableitung und Bearbeitung eines griechischen Vorbildes interpretiert,50 wo Johannes dem Diakon Prochoros auf einem Erdhügel sitzend diktiert – eine Szene, die sich auf der Basis der Acta Johannis in der mittelbyzantinischen Buchmalerei behauptet.51 Die frühesten Zeugnisse 48 Vgl. Gertrud Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 5: Die Apokalypse des Johannes. Bildteil, Gütersloh 1991, S. 13 f. 49 Vgl. Victor Leroquais: Les livres d’heures manuscrits de la Bibliothèque nationale, Bd. 1, Paris 1927, S. LXIV. – Roger S. Wieck: Time Sanctified. The Book of Hours in Medieval Art and Life, New York 1988, S. 55. 50 Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 127. 51 Acta Iohannis, Bd. 2: Textus alii. Commentarius. Indices, hg. v. Eric Junod und Jean-Daniel Kaestli (Corpus Christianorum, Series Apocryphorum, Bd. 2), Turnhout 1983, S. 741 f. – Vgl. Hugo Buchthal:

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Abb. 68: Mailänder Evangeliar, Biblioteca Ambrosiana, Mailand, C 53 sup., fol. 186r: Evangelist Johannes.

Das Mailänder Evangeliar (Biblioteca Ambrosiana, C 53 sup.) | 265

Abb. 69: Trierer Apokalypse, Stadtbibliothek Trier, Hs. 31 4°, fol. 3v: Vision auf Patmos

dieser byzantinischen Ikonographie gehen erst auf das Ende des 10. Jahrhunderts zurück, so scheint es wenig plausibel, dass die Mailänder Miniatur von dem Johannes-­ProchorosBild abzuleiten sei. Überzeugender ist der Vergleich mit den Darstellungen der Vision auf ­Patmos (Apk I,7,9 – 11), die in der abendländischen apokalyptischen Illustration erscheinen. Karolingische Beispiele hierfür bieten die Trierer Apokalypse (Stadtbibliothek Trier, Hs. 31 4°, fol. 3v) (Abb. 69)52 und das spätere Fragment eines illustrierten Beda-­Kommentars zur A Byzantine Miniature of the Fourth Evangelist and Its Relatives, in: Dumbarton Oaks Papers 15 (1961), S. 129 – 139. – Art. Evangelisten, in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst, Bd. 2, Stuttgart 1971, Sp. 466 f. (Herbert Hunger). – Art. Evangelisten, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 6, Stuttgart 1973, Sp. 448 – 517, hier Sp. 459 f. (Peter Bloch / Ursula Nilgen / Else Förster). – Robert S. Nelson: The Iconography of Preface and Miniature in the Byzantine Gospel Book (Monographs on Archeology and Fine Arts, Bd. 36), New York 1980, S. 86 f. – Monika E. Müller: Das Autorenbild des Johannes in der griechischen und lateinischen Bildtradition der Apokalypse. Ikonographie, Funktion, Rezeption, in: Der Codex Reuchlins zur Apokalypse. Byzanz, Basler Konzil, Erasmus (Manuscripta Biblica, Bd. 5), hg. v. Martin Karrer, Berlin 2020, S. 155 – 186, hier S. 165 f. 52 Vgl. Peter K. Klein: Der Kodex und sein Bildschmuck, in: Trierer Apokalypse. Codex 31 der Stadtbiblio­ thek Trier, Bd. 2: Kommentar. (Codices Selecti, Bd. 48), Graz 1975, S. 49 – 163, hier S. 117. – Michael

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Abb. 70: Berliner Beatus, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Theol. lat. fol. 561, fol. 2r: Vision auf Patmos.

Apokalypse, das seinerseits auf der Trierer Apokalypse oder einer gemeinsamen Vorlage basiert (Wissenschaftliche Stadtbibliothek Mainz, Hs frag 18).53 Für die romanische Kunst Mittelitaliens findet sich in dem Berliner Beatus (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. Theol. lat. fol. 561, fol. 2r) ein hilfreicher Vergleich (Abb. 70).54 Auch im Embach: Die Trierer Apokalypse (StB Trier, Hs 31 4°). Der älteste Bilderzyklus zur Geheimen Offenbarung aus dem Mittelalter (Kostbarkeiten der Stadtbibliothek Trier, Bd. 7), Trier 2016, S. 41 u. 53 f. 53 Vgl. Peter K. Klein: Un fragment illustré d’époque carolingienne du commentaire de Bède sur l’Apocalypse, in: Bulletin Monumental 170 (2012), S. 43 – 45. – Peter K. Klein: Die Stellung des Mainzer Beda-Fragments in der Tradition der illustrierten Apokalypsen und Apokalypse-Kommentare, in: Das spätkarolingische Fragment eines illustrierten Apokalypse-Kommentars in der Mainzer Stadtbibliothek. Bilanz einer interdisziplinären Annäherung (Veröffentlichungen der Bibliotheken der Stadt Mainz, Bd. 60), hg. v. Annelen Ottermann, Mainz 2014, S. 51 – 77. 54 Vgl. Andreas Fingernagel: Die illuminierten lateinischen Handschriften süd-, west- und nordeuropäischer Provenienz der Staatsbibliothek zu Berlin. 4. – 12. Jahrhundert (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz. Kataloge der Handschriftenabteilung, 3. Reihe: Illuminierte Handschriften,

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karolingischen Köln existierte eine illustrierte Apokalypse, wie aus dem Katalog der Dombibliothek von 833 hervorgeht, in dem der Eintrag „Apocalypsin pinctum“ zu lesen ist, der ­später zu „pictam“ korrigiert wurde.55 Es wurde früher angenommen, dass der Autor Johannes der Apokalypse mit dem Apostel Johannes identisch sei, der auch das vierte Evangelium geschrieben hat. Fast unbekannt im lateinischen Westen sollte jedoch die legendäre Erzählung sein, dass, wie für die Apokalypse, auch die Inspiration für das an Prochoros diktierte Johannesevangelium auf der Insel Patmos stattgefunden haben soll. Die im Mailänder Evangeliar dargestellte, neugefundene Ikonographie setzte sich nicht durch, wurde in der ottonischen Buchmalerei insgesamt bald aufgegeben. Im Gießener Evangeliar entspricht der Evangelist Johannes (fol. 189r)56 dem Typus im Evangeliar aus St. Gereon im Historischen Archiv, doch sitzt die Figur hier auf einem Thron und nicht auf einem Erdhügel. Es bleibt zu erklären, w ­ elche möglicherweise textlichen Gründe dazu geführt haben könnten, die Johannesdarstellung als EvangelienAutor aus einer apokalyptischen Illustration zu übernehmen. Insgesamt ist das in der Ambrosiana in Mailand aufbewahrte Kölner Evangeliar nicht nur aufgrund der hohen Qualität seiner malerischen Ausführung und seiner ornamentalen Kohärenz, sondern auch wegen der zu problematisierenden Auffälligkeiten des Handschriftschmucks im Allgemeinen und der Ikonographie im Besonderen eines der bedeutendsten Werke der ottonischen Kölner Buchmalerei und birgt noch viele Fragen.

Bd. 2), Wiesbaden 1999, S. 29 – 35, Nr. 29. – Peter K. Klein: El Beato de Berlín. Berlín, Staatsbibliothek, Preussischer Kulturbesitz, Ms. Theol. lat. fol. 561, Madrid 2011, S. 31 f. 55 Vgl. Anton Decker: Die Hildebold’sche Manuskriptensammlung des Kölner Domes, in: Festschrift der dreiundvierzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner, Bonn 1895, S. 215 – 251, hier S. 225, Kat. Nr. 20. – Christoph Winterer: Ein Buch an der Grenze. Illustrierte Apokalypsen und Apokalypsen als selbstständige Texte in den früh- und hochmittelalterlichen Bibliothekskatalogen aus Deutschland und der Schweiz, in: Ottermann 2014 (wie Anm. 53), S. 136 – 147, hier S. 139. – O’Driscoll 2015 (wie Anm. 6), S. 10. 56 Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 130.

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Cécile Voyer

De pourpre et d’or Réflexions sur le sacramentaire à l’usage de Cologne (Paris, BnF, ms. lat. 817)

Le sacramentaire de Saint-Géréon de Cologne, conservé à Paris, à la Bibliothèque nationale de France, est un manuscrit peint que l’on pourrait qualifier d’iconique tant le luxe et la qualité de sa réalisation disputent à la singularité de son décor et de ses ornements (Paris, Bnf, ms. lat 817).1 Ce livre liturgique était à l’usage de la collégiale Saint-Géréon de Cologne comme l’indiquent les mentions des fêtes dans le calendrier dont les rubriques, les titres et les chiffres sont tracés en lettres d’or (fol. 4r–9v). À cela s’ajoutent la dédicace de la basilique le 28 juillet (Dedicatio GEREONIS aecclesie, fol. 7r), la fête de saint Géréon (10 octobre) avec son octave (le 17 octobre: Octova sancti GEREONIS, fol. 8v) et la référence explicite à la collégiale dans la prière in introitu basilicae (fol. 158v). Le manuscrit a probablement été réalisé entre 983 et 996, puisque dans la prière de l’Exultet est nommé un roi Otton, sans doute le troisième du nom, couronné en 983 (fol. 56r–56v).2 Comme ce dernier ne devient 1

2

Nous tenons à remercier pour ses précieux conseils et sa relecture Éric Palazzo. Mes échanges avec Vincent Debiais sur la signification des tituli ont également enrichi cet article. Je suis profondément reconnaissante à Cinzia Pignatelli d’avoir contribué activement à l’amélioration des traductions proposées ici. Nous n’employons pas ici les termes décor et ornements dans leur acception actuelle, affadie, mais selon leur acception latine. Decor en latin classique désigne non seulement ce qui est beau mais aussi l’adéquation parfaite de cette beauté („decet“ ) à l’essence de l’être ou de la chose évoquée afin de s’accorder avec la dignité de sa fonction ou de son statut; dignité qui est manifeste par le terme même de decus. Conformément au sens du latin classique, les mots ornare, ornatus et ornamentum désignent la parure, les attributs, l’équipement qui permettent d’exalter l’essence d’un être ou à une chose de remplir pleinement sa fonction. Ornare signifie également doter une chose d’une qualité d’ordre qui convient à sa nature. Isidore de Séville observe que le mot ornatus, traduction latine du grec cosmos, conjoint les idées d’ordre, de beauté et de monde; une conjonction de sens qui reste d’actualité jusqu’au XIe siècle. Sur ces questions, voir Jean-Claude Bonne: Les ornements de l’histoire (à propos de l’ivoire carolingien de saint Remi), dans: Annales. Histoire, Sciences Sociales 51 (1996), pp. 37 – 70. Nous devons à Joshua O’Driscoll la découverte de cette mention dans la prière suivante: „via sanctorum omnium Jesu Christe qui ad te venientibus claritatis gaudia contulisti introitum templi istius spiritus sancti luce perfunde, qui locum istum sanctorum martyrum tuorum Gereonis et sociorum eius sanguine consecrasti“ (fol. 158v). Voir Joshua O’Driscoll: Image and inscription in the Painterly Manuscripts from Ottonian Cologne, PhD (dactyl.), Harvard University 2015, pp. 229 et 249: „Precamur ergo te domine ut nos famulos tuos et omnem clerum et devotissimum populum una cum papa nostro ILLE et antistite nostro N atque rege nostro OTTONE quiete temporum concessa in his paschalibus sacramentis conservare digneris“ – „Nous te supplions donc, Seigneur, de nous accorder – à tes serviteurs, à tout le clergé, au peuple le plus dévoué, avec

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empereur qu’en 996 et meurt en 1002, le sacramentaire a pu être réalisé entre 983 et 996, possiblement sous l’épiscopat d’Everger (985 – 999). Malheureusement, le nom de l’archevêque a été gratté, puis recouvert d’un „N“ écrit à l’encre dorée (Abb. 13). Si la réalisation de cette œuvre a pu être attribuée à Saint-Géréon,3 le scriptorium de l’abbaye bénédictine de Saint-Pantaléon est très vraisemblablement à l’origine de sa création.4 La réalisation de ce somptueux manuscrit est très soignée. Son parchemin est relativement épais, de couleur crème, extrêmement souple et d’une très grande qualité.5 La palette utilisée par le peintre est très riche avec une déclinaison de la couleur pourpre, des bleus, des verts, de l’or et de l’argent. Les couleurs sont profondes, saturées et denses en pigments. La brillance de l’or est renforcée par l’utilisation d’une sous-couche de minium. Les teintes sont restées singulièrement fraîches et les déplaquages d’or sont très rares. Le contenu textuel du sacramentaire se déploie en belles onciales à l’encre noire sur une colonne, les majuscules timbrant la peau du parchemin d’or.6 Des pages pourpres écrites à l’encre or, véritables marqueurs dans le manuscrit, ponctuent l’ouvrage. Ces folii pourprés forment des doubles-pages associant une inscription à une enluminure à pleine page comme celles de l’Annonciation (fol. 12r), de la Nativité (fol. 13r), de la figure de G ­ régoire le Grand (fol. 21r), de la Crucifixion (fol. 59r) et de l’Ascension (fol. 72r). L’accord chromatique dominant dans le manuscrit – la couleur pourpre et l’or – a également été choisi pour qualifier la doxologie d’accueil (fol. 14r), de la préface commune (fol. 14v/15r), du canon de la messe notre unique pape ILLE et notre évêque N– grattage – ainsi que notre roi OTTO – la paix dans le temps donné à ces sacrements pascals.“ 3 Walter Berschin: Griechisch Lateinisches Mittelalter: Von Hieronymus zu Nikolaus von Kues, Berne 1980, p. 235. – Florentine Mütherich: Buchmalerei in den Klosterschulen des frühen Mittelalters, dans: Monastische Reformen im 9. und 10. Jahrhundert ed. Raymund Kottje et Helmut Maurer (Vorträge und Forschungen, vol. 38), Münster 1989, pp. 15 – 28, p. 20. – Jeremia Kraus: Worauf gründet unser Glaube? Jesus von Nazaret im Spiegel des Hitda-Evangeliars (Freiburger theologische Studien, vol. 168), Freiburg im Breisgau 2005, pp. 79 – 82 et plus récemment Ulrich Kuder: Der Hitda-Codex im Zusammenhang der Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, dans: Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex. Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, ed. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013, pp. 89 – 112, p. 92 f. 4 O’Driscoll 2015 (cf. note 2), pp. 25 – 30. 5 Le manuscrit est d’un format moyen (270 × 197 mm) et compte 190 folios avec une justification de 160 × 104 mmet 21 longues lignes. Le calendrier en compte 32. La texture du parchemin est d’aspect et de toucher ‘peau de pêche’. Nous n’avons, par ailleurs, relevé que trois coutelures, ce qui témoigne du soin dont le préparateur a fait preuve. L’alternance chair/poils est respectée. Restaurée en 2021, la reliure moderne de velours rouge usée par endroits, doublée de soie écrue à fils d’argent, sur ais de bois, est décorée au plat supérieur d’un ivoire byzantin ou d’un atelier rhénan ayant adopté un langage formel byzantin, qui figure la Vierge à l’Enfant de type Hodegetria. Sur l’ivoire de la reliure, voir MariePierre Lafitte / Valérie Goupil: Reliures précieuses, Paris 1991, p. 15 et François Avril / Claudia Rabel / Isabelle Delaunay: Manuscrits enluminés d’origine germanique, t. 1, Xe–XIVe siècle, Paris 1995, p. 71. 6 Cinq parmi les neuf enluminures historiées sont associées à des inscriptions.

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(fol. 16r–20r) et de la suite des formulaires des messes pour le jour de Pâques (fol. 61r) et de la Pentecôte (fol. 78r–79r). Onze enluminures à pleine page dont huit historiées ornent le sacramentaire. Des initiales peintes, de plus petit format, offrent aussi leur profusion végétale pour marquer le début de la messe de Noël (fol. 22r), de la fête du dimanche des Rameaux (fol. 50v), de l’Exultet (fol. 54v), du lundi de Pâques (fol. 62r) et de l’Ascension (fol. 72r). Le sacramentaire de Saint-Géréon de Cologne a fait couler beaucoup d’encre. S’il n’a fait l’objet que d’une seule étude monographique, il a en revanche suscité de très nombreux commentaires dans les études sur la production artistique ottonienne ou plus spécifiquement dans celles consacrées aux manuscrits peints à Cologne.7 Dans ces travaux, les chercheurs ont tenté de saisir la signification du décor, la nature du cycle pictural ou se sont encore focalisés sur l’interprétation de certaines enluminures à pleine page. Dans tous les cas, en essayant d’appréhender les épisodes évangéliques comme un cycle narratif ou en essayant d’observer la coloration liturgique des images, ils se sont heurtés à la singularité des images christologiques. L’approche du décor en observant l’emplacement des images selon les grandes fêtes du calendrier de l’Église n’a pas davantage fourni d’interprétations convaincantes. La place de ces peintures à pleine page dans le corps du sacramentaire est en effet peu commune pour ce type de manuscrits.8 Les trois premières doubles-pages sont regroupées avant le canon tandis que la représentation de la Crucifixion (fol. 59r), généralement associée dans les sacramentaires au début du Canon (Te igitur), compose, avec les épisodes de Pilate envoyant ses soldats garder le tombeau du Christ (fol. 59v) et des saintes femmes, témoins de la résurrection (fol. 60r), une séquence ‘narrative’, immédiatement après la liturgie de la Vigile pascale et avant l’initiale à pleine page de la messe du dimanche de Pâques (fol. 62v).9 7 Hans Jantzen: Ottonische Kunst, Munich 1947. – Peter Bloch: Das Sakramentar von St. Gereon, Munich 1963. – Peter Bloch / Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, Düsseldorf 1967/70, vol. 1, pp. 37 – 44 et 93 – 97. – Avril / Rabel / Delaunay 1995 (cf. note 5), pp. 71 – 74. – Kraus 2005 (cf. note 3), p. 90. 8 Sur le décor des sacramentaires, voir Éric Palazzo: Histoire des livres liturgiques. Le Moyen Âge: des origines au XIIIe siècle, Paris 1993. 9 Les doubles-pages et les enluminures dans le corps du sacramentaire suivent cet emplacement: diptyque Annonciation (fol. 11v/12r), diptyque Nativité (fol. 12v/13r), diptyque de la Secrète (fol. 13v/14r), diptyque de la Préface commune – Vere dignum – (fol. 14v/15r), diptyque Maiestas Domini et Canon – Te igitur – (fol. 15v/16r), diptyque de l’auteur du sacramentaire, Grégoire (fol. 20v/21r), initiale „D“ ornée de la messe de Noël (fol. 22r), initiale „O“ ornée de la fête des Rameaux (fol. 50v), initiale „E“ ornée de l’Exultet (fol. 54v), diptyque de la Crucifixion (fol. 58v/59r), diptyque de Pâques: Pilate ordonnant aux soldats de garder le tombeau du Christ et les saintes femmes au tombeau (fol. 59v/60r), lettres ornées „DS“ de la messe du lundi de Pâques (fol. 62v), diptyque de l’Ascension (fol. 71v/72r), initiale „C“ ornée de la messe de l’Ascension (fol. 72v), diptyque des Peuples rassemblés à la Pentecôte et de la Pentecôte (fol. 76v/77r).

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Pour toutes ces raisons, les approches développées jusqu’à présent se sont révélées peu fructueuses pour saisir ce singulier décor. Plus récemment, une nouvelle enquête a été menée et a offert d’intéressantes pistes de réflexions. Pour la première fois, les tituli qui accompagnent les enluminures à pleine page ont été analysés au regard des épisodes peints. Cette étude a permis d’affiner la signification non seulement de certaines images grâce à l’interprétation des détails singuliers qui les composent mais aussi d’une partie de la composition du cycle peint.10 Toutefois, à ce jour, ce décor, unique en raison de choix iconographiques rares 11 et par l’emplacement des images au sein de ce manuscrit, n’a pas été complètement éclairé. Or l’examen codicologique et paléographique du manuscrit permet d’expliquer en partie l’organisation singulière du décor dans le corps du sacramentaire. Les cahiers sont en effet irréguliers et les raccords de texte révèlent une écriture légèrement différente: les doubles-pages peintes ont été insérées sur des bifolios isolés, indépendants du corps du texte dont le compte des cahiers ne commence qu’au folio 29r.12 Autrement dit, dans le projet initial mis en œuvre, le manuscrit avait été conçu pour recevoir un décor assez simple constitué d’élégantes initiales ornées afin de rythmer le contenu du livre liturgique.13 Puis avant que ne soit achevé l’ouvrage, les somptueuses doubles-pages ont été ajoutées, livrant une clé d’interprétation pour expliquer le singulier emplacement des images dans le corps du sacramentaire. À l’exception des doubles-pages qui forment une séquence liturgique dans le manuscrit – celles de la Secrète (fol. 13v/14r), de la Préface commune – Vere dignum – (fol. 14v/15r) et de la Maiestas Domini et du Canon – Te igitur – (fol. 15v/16r) –, les autres doubles-pages semblent s’abstraire de la fonction rituelle du manuscrit qu’elles contribuent à enrichir. À l’appui de cette affirmation, le concepteur des images n’a livré ni interprétation liturgique ni même ecclésiologique des épisodes christologiques représentés sur la majorité des doubles-pages. Ces doubles-pages peuvent donc être considérées comme de véritables diptyques, unités sémantiques et visuelles nées de l’ouverture du manuscrit.14 Conçues comme les feuillets d’un diptyque, elles peuvent donc être pleinement appréhendées comme supports de méditation, offrant à celui qui les contemple un exercice particulièrement abouti d’exégèse visuelle. 10 O’Driscoll 2015 (cf. note 2). 11 La scène de Pilate et des soldats ou encore celle des peuples rassemblés à la Pentecôte sont peu fréquemment représentées. Sur ces questions, voir O’Driscoll 2015 (cf. note 2), pp. 324 et 345. 12 Avril / Rabel / Delaunay 1995 (cf. note 5), p. 73. 13 Véritables marqueurs, les lettres ornées comme les mots peints en or qui timbraient la couleur pourpre (fol.13v/20r) manifestaient à la fois la virtus de la parole divine et sacrée, ré-oralisée lors de la messe, et l’intensité dramatique du moment. Sur les lettres ornées, nous nous permettons de renvoyer à notre ouvrage. Voir Cécile Voyer: Orner la parole de Dieu. Le livre d’évangiles et son décor (800 – 1030), Paris, Arsenal, ms. 592, Paris 2018. 14 Sur la double–page, voir Jeffrey Hamburger: Openings, dans: Imagination, Books and Community in Medieval Europe, ed. Gregory Kratzmann, South Yarra 2009, pp. 50 – 133.

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Composant le diptyque, les tituli par leur contenu participent de l’image autant qu’ils font l’image. De surcroît, en raison de la composition choisie – bordure, aplat pourpre –, l’inscription par sa présentation graphique est traitée comme une image (Abb. 71). Les ornements qui délimitent le champ de la représentation étayent, nous semble-t-il, cette affirmation. Ces doubles-pages ne sont pas unies par leur bordure. Au premier abord, cette différence au sein du diptyque semble opérer une distinction entre paroles et épisodes peints, voire pourrait établir une hiérarchie. Les bordures des inscriptions sont en effet dotées d’un large bandeau orné de motifs classicisants et souligné par un ou des rubans dorés tandis que celles des images peintes, dénuées de motifs, sont constituées de rubans colorés comme autant de déclinaisons du pourpre.15 Seul le diptyque de l’Ascension – et ce n’est pas surprenant – rompt cette logique en introduisant une variation qui distingue la bordure de l’image historiée des autres épisodes peints: des cercles concentriques, offrant une déclinaison du blanc au pourpre, en ponctuent le ruban tandis que des palmettes en marquent les écoinçons (fol. 72r) (Abb. 72). Quoi qu’il en soit, délimiter l’espace des tituli par des bordures classicisantes était sans doute un moyen d’insister sur l’iconicité des inscriptions. Un jeu subtil entre les bordures des scènes peintes a été également pensé par le concepteur du décor. Les éléments architecturaux qui couronnent certaines représentations manifestent, par une sorte d’analogie, l’essence de la figure ou de la scène qu’ils surmontent. Ainsi grâce au fronton classique qui orne l’image, l’imposante stature de Grégoire devient ‘monument’ – une statue dans l’inscription – selon l’acception latine et autorité. Les grandes capitales romaines qui caractérisent le titulus en vis-à-vis participent de cette monumentalisation de la figure de l’auteur du sacramentaire (fol. 20v/21r) (Abb. 73).16 Les bordures de l’image du Christ en majesté (fol. 15v), de la Crucifixion (fol. 59r) (Abb. 38 u. 74), de l’Ascension (fol. 72r) (Abb. 72), de la Pentecôte (fol. 77r) (Abb. 75) sont également dotées de frontons classicisants qui magnifient la figure ou la scène qu’ils surplombent. Dans le diptyque constitué de deux scènes peintes – Pilate dans son palais et les saintes femmes au tombeau –, le couronnement architectural des deux épisodes juxtaposés induit de fait une hiérarchie, preuve s’il en est de la fonction de cet ornement (fol. 59v/60r) (Abb. 76). Si le puissant entablement qui supporte un dôme aux motifs exubérants et précieux vient souligner la dimension mondaine et matérielle du pouvoir de Pilate, la représentation de la scène du tombeau vide le matin de Pâques est glorifiée par un fronton classique à la pureté toute géométrique. Soucieux de signifier que les épisodes de ce diptyque se déroulent à l’intérieur de bâtiments, le peintre a, de surcroît, superposé ces motifs architecturaux au champ des deux représentations. 15 Des motifs végétaux peuvent s’enrouler autour des bandeaux, voire se déployer sur les marges du folio (comme au fol. 59r sur lequel a été peinte la Crucifixion). Nous opérons une distinction entre le bandeau doté d’ornements classicisants géométrisés et les végétaux, les fleurons d’angle qui n’appartiennent pas au bandeau. 16 „Gregorius dei servus – cuius statua – ex materia et forma – fulget in hoc signativo composita – gratia sancti spiritus doctive illuminatus – confecit huius libelli corpus-“.

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Abb. 71: Sacramentaire de Saint-Géréon, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 817, fol. 11v/12r.

Abb. 72: Sacramentaire de Saint-Géréon, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 817, fol. 71v/72r.

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Abb. 73: Sacramentaire de Saint-Géréon, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 817, fol. 20v/21r.

Abb. 74: Sacramentaire de Saint-Géréon, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 817, fol. 58v/59r.

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Abb. 75: Sacramentaire de Saint-Géréon, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 817, fol. 76v/77r.

Abb. 76: Sacramentaire de Saint-Géréon, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 817, fol. 59v/60r.

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Seule l’image figurant les peuples rassemblés – une scène rare dans le répertoire visuel du premier Moyen Âge – est dénuée d’une bordure architecturée (fol. 76v) tandis que celle de la naissance de l’Église est ornée d’un sobre fronton triangulaire (fol. 77r). Le concepteur des diptyques offre sans doute ici une réflexion sur le changement d’état des personnages, la vitalité qui les gagne, signifiée par les fins rinceaux or qui s’enroulent autour de la bordure, qu’il traduit fort habilement en usant de la dialectique „intus / foris“. Le monde sensible, l’extérieur, est pénétré par l’irruption violente d’une lumière or qui le dissout tandis qu’ensuite, le lieu où se trouvent les apôtres est baigné de la présence divine. Ce lieu – l’intérieur – est assimilé aux disciples du Christ et, par analogie, à l’Église qu’ils fondent et constituent. Par ailleurs, la représentation architecturée du bâtiment ecclésial abrite le collège apostolique dans le champ même de l’image. Le contenant, l’église-monument, est ici constitutif de l’accomplissement du contenu, l’Église-communauté. À ce titre, la dernière peinture du cycle fait écho aux deux premières (fol. 12r et fol. 13r) où figurent également des édifices basilicaux. L’incarnation du Verbe et sa venue au monde résonnent avec la naissance de l’Église. Quoi qu’il en soit, ces couronnements architecturaux enrichissent les images qu’ils ornent et accompagnent autant qu’ils contribuent à la méditation; une méditation sur l’amour divin éclairée par les épisodes choisis mais également sur l’image et l’imagination. Les diptyques du sacramentaire de Saint-Géréon sont en effet au service de l’énoncé des vérités ou de la vérité évangélique, tout en offrant une réflexion subtile sur l’image, son medium et la vue. Cette attention particulière accordée à l’image, à l’artefact et à la vue est particulièrement bien illustrée par le choix des mots qui désignent l’objet visuel. Aux mots ‘imago’, ‘figura’ ou encore ‘pictura’, le concepteur des images a préféré des termes originaux tels qu’ „imaginativus“, „inspectivus“, „signativus“, „operativus“. Deux d’entre eux „imaginativus“ et „signativus“ apparaissent, à ce jour, comme les premières occurrences médiolatines de mots issus du vocabulaire dialectique et philosophique grec. Chacun de ces termes provient d’ouvrages lus et copiés à Cologne au Xe siècle comme le De nuptiis Philologiae et Mercurii de Martianus Capella ou encore les commentaires de Boèce, In Isagogen Porphyrii commenta.17 Leur emploi invite néanmoins à s’interroger sur le contexte qui a présidé à la création des diptyques, sur la culture de leur concepteur et sur l’ambiance intellectuelle à Cologne, et plus particulièrement à Saint-Pantaléon, à la fin du Xe siècle. Les concepts philosophiques qui sous-tendent les termes „imaginativus“ et „signitivus“, parfaitement maîtrisés ici, témoignent d’une réflexion particulièrement stimulante sur l’image.18 L’emploi de ces termes dans les tituli, le traitement iconique des inscriptions comme la composition en diptyque jouaient sur le montrer et le voir 17 Pour l’analyse de ces termes, nous renvoyons à la thèse d’ O’Driscoll 2015 (cf. note 2), pp. 239 – 244. Nous devons à Walter Berschin d’avoir observé le premier qu’il s’agissait du premier emploi de ces mots grecs en latin. Walter Berschin: Greek Letters and the Latin Middle Ages. From Jerome to Nicholas of Cusa, Washington D. C. 1988, pp. 196 f. (cf. note 3), cité par O’ Driscoll 2015 (cf. note 2), p. 240. 18 O’Driscoll 2015 (cf. note 2), pp. 240 – 244.

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et plus précisément sur l’opération qui se situe entre le montrer et le voir. Ainsi la disposition de ces doubles-pages devait conduire à un „spiritual seeing“.19 Il est envisageable que les motifs architecturaux qui couronnent certaines images aient pu aussi fonctionner comme des sortes d’ouverture ou une invitation à dépasser la matérialité de l’image peinte. Si la plupart des diptyques sont une réflexion sur la vision et l’image, le diptyque de la crucifixion (fol. 58v/59r) vise à la conversion grâce à la vue. C’est pourquoi, outre le diptyque de la crucifixion qui questionne sur la puissance du signe, trois exemples relevant de la théologie de l’image seront analysés afin de souligner la subtilité et la finesse de la pensée qui a présidé à la conception de ces doubles-pages.

L’ incarnation, l’ image et la vision Le diptyque de l’Annonciation constitue la porte d’entrée de cet ouvrage ‘recomposé’ et décline d’une certaine manière le projet intellectuel et spirituel du concepteur des enluminures à pleine page (fol. 11v/12r). Le discours visuel s’ouvre en effet par une réflexion sur l’image, si centrale, dès lors qu’il s’agit d’évoquer l’incarnation (Abb. 71). L’inscription en vis-à-vis de l’image de l’Annonciation évoque à la fois l’image et son medium, la peinture et ce qu’elle représente, la peinture et les effets de sa contemplation, l’image matérielle et l’image spirituelle à laquelle celui qui regarde doit parvenir.20 Elle souligne aussi le mystère absolu de l’Incarnation et la théophanie par excellence qu’est ce moment précis dans l’histoire. „Huius picti imaginativo figuratur – quomodo specialis prerogativa virginitatis mariae – annuntiatione salutativa docebatur in terris – ab angelo caelorum imperatoris – spiritualis operis obumbratione mater futura ipsius quo mundi resipisceret lapsus.“ – „Dans ‚l’image‘ de cette peinture on voit comment la grâce de la virginité accordée à Marie à travers l’annonce et la salutation par l’ange de l’empereur du ciel était enseignée ici-bas. Couverte par l’ombre du Saint-Esprit, elle serait la mère de celui grâce à qui la faute des hommes serait rattrapée.“  21 19 Herbert L. Kessler: Spiritual seeing: picturing God’s invisibility in Medieval art, Philadelphie 2000. – Herbert L. Kessler: Neither God nor Man. Words Images and the Medieval Anxiety about Art, Freiburg im Breisgau 2007. – Sur la question de l’écriture et l’image, voir la notion d’épiconographie proposée par Stefano Riccioni: Il mosaico di S. Clemente a Roma. ‘Exemplum’ della Chiesa riformata, Spoleto 2006 et en dernier lieu, la notion de „mixtio“ proposée par Vincent Debiais: La croisée des signes, L’écriture et les images médiévales (800 – 1200), Paris 2017. 20 Nous sommes en désaccord avec Kuder 2013 (cf. note 3), p. 102, qui, au sujet des inscriptions du sacramentaire, affirme que leur auteur a réalisé une ‘théologie de l’image’ sans pensée théologique. Les diptyques sont à considérer comme des exercices assez profonds d’exégèse sur l’image. 21 La traduction des inscriptions est complexe. Selon nous, ce terme décrit un processus: celui de l’incarnation de l’image dans la matière peinte et celui qui évoque la manière dont l’image peinte permet la formation dans l’esprit de celui qui la regarde d’une image mentale qui, par la suite, devient spirituelle.

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La scène de l’Annonciation du sacramentaire de Saint-Géréon est sans aucun doute la plus célèbre du manuscrit. Sur un fond pourpre, le peintre a figuré la rencontre de l’archange Gabriel et de la Vierge à l’intérieur d’un lieu caractérisé par un déploiement architectural et coloré, au registre supérieur. Au registre inférieur, l’ange pénètre dans le lieu où se trouve la Vierge, l’aile et le pan de son manteau se superposant à la bordure de l’image. En s’avançant en direction de la Vierge, il esquisse le geste d’allocution tout en serrant un rouleau de la main gauche. Marie, vêtue d’une tunique bleue et voilée de blanc, accueille la parole angélique. Une masse verte d’une grande densité, troublée par des ondulations plus claires, presque transparentes et d’autres beaucoup plus foncées et profondes se répand dans le champ de la représentation.22 Cette forme enveloppante et vaporeuse est cernée d’un trait blanc qui se divise en se mêlant aux dégradés pourprés. Les contours de cette masse colorée sont soulignés d’un fin trait d’or qui en épouse les formes et se double pour donner naissance à trois petites feuilles ou trois petites excroissances. La matière / nuée verte envahit le lieu de la rencontre improbable entre le principe céleste et le principe charnel. Elle se dilate au point de recouvrir et de faire disparaître le déploiement architectural qui caractérise le registre supérieur de l’image. Cette forme mouvante et fluide recouvre le monde construit et ordonné de la Vierge, signifié par l’architecture du registre supérieur. Le sensible s’efface au moment de l’incarnation en même temps qu’il est progressivement recouvert par la nuée.23 Associée selon un axe vertical à la Vierge, la basilique au centre de la composition est également gagnée par ce nuage vaporeux qui, progressivement, envahit le monde sensible. Assimilé à la Vierge, l’édifice couronné d’une croix est désormais habité par la lumière divine comme l’indique l’or qui accentue la profondeur des baies ou orne les bâtiments qui l’entourent. O’Driscoll 2015 (cf. note 2), p. 150 traduit l’inscription ainsi: „Through the visualization of this picture it is shown how the special prerogative of the virginity of Mary was taught on earth through the salutational annunciation of an angel from the emperor of heaven. Through the overshadowing of a spiritual work, she became the mother of him, through whom the fallen world would be restored.“ – Kraus 2005 (cf. note 3), p. 145 propose cette traduction: „Durch d­ ieses Gemälde wird eindringlich vorgestellt, auf w ­ elche Weise der besondere Vorzug der Jungfräulichkeit Marias durch die begrüßende Verkündigung von dem Boten des Herrschers über die Himmel auf Erden gelehrt wurde. Auf übernatürliche Weise überschattet, wurde sie die zukünftige ­Mutter dessen, durch den der Fall der Welt wieder aufgehoben werden sollte.“ 22 Le peintre reprend en les adaptant les graphies qu’il utilise pour signifier le sol afin d’animer la nuée verte. 23 Sur la nuée dans les représentations de l’Annonciation au Xe siècle, voir les réflexions de Robert Deshman: The benedictional of Aethelwold (Studies in Manuscript Painting, vol. 9), Princeton 1995, pp. 10 – 25 et 214 – 216. – Robert Deshman: Another Look at the Disappearing Christ. Corporeal and Spiritual Vision in Early Medieval Images, dans: The Art Bulletin 79 (1997), pp. 508 – 546. – Voyer 2018 (cf. note 13), pp. 186 – 193 et les très belles interprétations de Vincent Debiais: Une théologie de l’informel. Le pli et son ombre dans le bénédictionnaire d’Aethelwold, dans: Codex Aqvilarensis 37 (2021), pp. 163 – 178, p. 168.

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Si la nuée verte a fait l’objet de nombreuses spéculations,24 elle évoque, comme l’a rappelé Joshua O’Driscoll, l’ombre qui, conformément au récit de Luc, recouvre la Vierge (Lc. 1, 35); une ombre mentionnée, de surcroît, dans l’inscription en vis-à-vis: „Et respondens angelus dixit ei: Spiritus Sanctus superveniet in te, et virtus Altissimi obumbrabit tibi. Ideoque et quod nascetur ex te sanctum, vocabitur Filius Dei.“ 25 Cette ombre est une manifestation du Verbe ou plus exactement de la présence de l’Esprit. Dans l’évangile de Luc, l’emploi du verbe „couvrir“ ou de l’expression „couvrir d’ombre“ est une référence aux textes de l’Exode et des Nombres lorsqu’il y est décrit la présence de la gloire divine dans le tabernacle (Ex. 40, 35; Nb. 9,15). Par ce biais, il est ainsi rappelé la présence réelle et mystérieuse de Dieu dans le sanctuaire, assimilé ici à la Vierge ainsi que l’inscription l’affirme par la formule „spiritualis operis obumbratione“.26 24 Albert Boeckler: Kölner ottonische Buchmalerei, dans: Beiträge zur Kunst des Mittelalters. Vorträge der ­Ersten Deutschen Kunsthistorikertagung auf Schloss Brühl 1948, Berlin 1950, pp. 144 – 149, p. 146. Cet auteur a suggéré qu’il puisse s’agir d’une colline. Cette interprétation a été suivie par d’autres chercheurs: Bloch / Schnitzler 1967/70 (cf. note 7), vol. 1, p. 38; Claudia Höhl: Ottonische Buchmalerei in Prüm (Europäische Hochschulschriften, serie 28, vol. 252), Frankfurt am Main 1996, p. 137, note 641; Deshman 1995 (cf. note 22), p. 11, note 7, reprennent l’idée de la colline avec la représentation de la cité de Nazareth, D’autres interprétations ont été données en considérant que la masse verte visait à exprimer une fantasmagorie colorée: Hubert Schrade: Vor- und frühromanische Malerei: Die karolingische, ottonische und frühsalische Zeit, Cologne 1958, pp. 225 f.; Ernst Friedrich Ohly: Problems of Medieval Significs and Hugh of Folieto’s ‘Dove Miniature‘, dans: Ernst Friedrich Ohly. Sensus Spiritualis. Studies in Medieval Significs and the Philology of Culture, ed. Samuel Jaffe, Chicago 2005, pp. 68 – 135, p. 74, voit en cette forme verte une manifestation de l’acceptation de la foi (Voir les développements récents sur ce motif d’Aden Kumler / Christopher R. Lakey: Res et Significatio. The Material Sense of Things in the Middle Ages, dans: Gesta 51 (2012), pp. 1 – 18 et Amy Knight Powell: Late Gothic Abstractions, dans: Gesta, 51 (2012), pp. 71 – 88. Pour un état détaillé de la question sur l’enluminure de l’Annonciation, voir O’Driscoll 2015 (cf. note 2), pp. 249 – 254. 25 O’Driscoll 2015 (cf. note 2), p. 252. – Debiais 2021 (cf. note 23), p. 171, en comparant l’Annonciation du sacramentaire de Géréon avec celle du bénédictionnaire d’Aethelwold, voit dans cette forme verte qui „prend dans l’image une importance considérable“, l’ombre mentionnée dans l’évangile de Luc et s’appuyant sur le titulus, il conclut: „L’ombre est spécifiquement désignée dans le titulus comme le signe de l’Esprit et c’est bien elle qui génère en la Vierge celui par qui sera remise la chute du monde.“ 26 À la suite de O’Driscoll 2015 (cf. note 2), p. 156, note 373, remarquons que les tituli associés aux représentations de l’Annonciation n’évoquent jamais l’ombre qui recouvre la Vierge. Ainsi dans les Tituli historiarum de Prudence, datés de la fin du IVe siècle: „Adventante deo descendit nuntius alto / Gabriel patris ex solio sedemque repente / Intrat virgineam: „Sanctus te spiritus“ inquit / Inplebit, Maria; Christum paries, sacra virgo“, dans: Prudentius: Carmina, ed. M. P. Cunningham (CCSL vol. 126), Turnhout, 1966, p. 395 ou cité par Arwed Arnulf: Versus ad picturas: Studien zur Titulusdichtung als Quellengattung der Kunstgeschichte von der Antike bis zum Hochmittelalter, Munich 1997, p. 211. Dans le poème rédigé par Ekkerhard, au début du XIe siècle, pour l’Annonciation peinte au sein du vaste décor de la future cathédrale de Mayence, il n’est pas non plus question de l’ombre: „Credula quero modum, rogo solvas hunc mihi nodum / Spiritus sanctus superveniet in te / Pneumatis impregnat te virtus et intus obumbrat“ (v. 598 f.). Voir Arnulf 1997, p. 211.

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Si la silhouette de la Vierge se détache sur la nuée verte, Marie est figurée hors du champ de la représentation. Ses pieds reposent en effet sur la bordure de l’image. Par ce procédé, la figure mariale est non seulement mise en valeur mais elle est aussi à la fois dans le récit par sa gestuelle et extérieure à la narration par son retranchement sur la bordure. Elle échappe d’une certaine manière au temps et à la dimension sensible propre à l’histoire. Le détail n’est pas anodin: s’agit-il d’un moyen pour le concepteur des diptyques de rappeler que la réalité sensible non seulement peut être trompeuse mais qu’elle n’est pas la Vérité? La disposition en ‘entonnoir’ du titulus qui rend d’ailleurs si complexe sa construction met en ombre le texte lui-même.27 C’est pourquoi seules les opérations de l’esprit permettent d’atteindre la Connaissance et cela est significatif lorsqu’il est question du mystère de l’incarnation. La Connaissance repose en effet sur la convocation d’images intérieures dont il s’agit de percer le sens par-delà les apparences. La formule „Huius picti imaginativo“ renvoie d’ailleurs explicitement aux opérations de l’esprit suscitées et favorisées par l’image peinte.

Le diptyque de la Nativité Marquant le début de l’histoire du Salut, les épisodes de l’Annonciation et de la Nativité sont couronnés par des édifices qui ont été conçus comme les deux faces d’une médaille: ils sont figurés en façade dans l’Annonciation et depuis l’arrière dans la Nativité (Abb. 77).28 Outre un angle différent pour représenter les édifices, un autre motif relie tout autant qu’il les distingue les deux premiers épisodes christologiques figurés. À la masse verte et vaporeuse qui se répand dans l’Annonciation répond une forme anguleuse d’un bleu et d’un blanc léger qui émane depuis l’arrière des bâtiments à la matérialité affirmée jusque dans les assises finement représentées. Cette forme se superpose tout en transparence sur le fond violet foncé. Ce halo contient les deux anges tournés vers la crèche où repose l’Enfant emmailloté. Une nouvelle fois, la Vierge semble retranchée, isolée, dans un lieu singulier formé par le redoublement de la couche sur laquelle elle repose. Toutefois la crèche trapézoïdale de l’Enfant mord sur la couche verte ornée de disques dorés de la Vierge. Le lien charnel entre la mère et son fils est ainsi signifié.

27 Nous remercions Vincent Debiais d’avoir partagé avec nous ce très beau commentaire. 28 Cette accumulation de bâtiments est propre à la scène de l’Annonciation et à celle de la Nativité puisque, dans les autres images, elle laisse place à une représentation délimitée par une simple bordure (fol. 76v), une bordure couronnée d’un fronton (fol. 59r, fol. 72r, fol. 77r) ou un lieu unifié matérialisé par une ou des colonnes, un entablement, un dôme ou un fronton (fol. 21r; fol. 59v/60r). Là encore, ces variations seraient à considérer dans l’économie du décor et la réflexion sur l’ornement.

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Abb. 71: Sacramentaire de Saint-Géréon, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 817, fol. 11v/12r.

Rayonnant depuis l’arrière des bâtiments, la blancheur transparente déjà évoquée se réfère très vraisemblablement à la clarté qui, selon les Évangiles apocryphes, illumine la grotte de la Nativité. Ainsi, selon le récit de Jacques, soudainement la caverne „fut remplie d’une clarté si vive que l’œil ne pouvait la contempler, et quand cette lumière se fut un peu dissipée, l’on vit l’enfant“.29 Dans L’histoire de la nativité de Marie et de l’enfance du sauveur, il est aussi rapporté que la Vierge est entrée dans une grotte „où la lumière n’avait jamais pénétré“, puis qu’à l’entrée de Marie, „toute la caverne resplendit d’une splendeur aussi brillante que si le soleil y était“, et que tant que la Vierge y demeura, la caverne fut „éclairée de cette lumière divine“ et lorsque l’enfant vit le jour, les anges l’entourèrent et l’adorèrent.30 Ainsi dans l’image, la clarté a déjà dévoilé l’Enfant dans sa crèche et continue à définir le lieu où les anges, par leur présence, célèbrent la naissance du Fils. La double nature du Christ est ainsi signifiée avec force.

29 Protoévangiles de Jacques-le-Mineur, dnas: Évangiles apocryphes, transl. Gustave Brumet, Paris 1848, p. 128. 30 Histoire de la nativité de Marie et de l’enfance du Sauveur, dans: Évangiles apocryphes (cf. note 29), p. 197.

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La clarté qui, comme l’ombre de l’Annonciation, évoque la présence de Dieu a pourtant été traitée de manière très différente. Le peintre a en effet appliqué un lavis bleu très dilué, rehaussé de traits blancs, qui laisse deviner l’aplat violet. Ce faisant, il a réussi à exprimer la qualité de la lumière ou plus exactement de ce qui pourrait être qualifié de ‘diaphane’; un concept particulièrement important dans la définition médiévale de l’image puisqu’il est ‘manifestation’, ‘instrument de l’optique’ et ‘métaphore de la contemplation’.31 Pour les auteurs antiques, puis médiévaux, le diaphane est la nature propre de l’intervalle de médiation nécessaire à la vue. Autrement dit, il est la distance à travers laquelle se transmet à l’œil la visibilité de l’objet ou de la chose regardée. Ce qui est vu est alors révélé en devenant image, une image sensible, qui permet le contact au monde par l’effet de la ressemblance, tout en étant ontologiquement dissemblable de l’être ou de l’objet regardé. Autrement dit, il est possible pour celui qui regarde d’atteindre la connaissance grâce aux yeux de l’esprit en dépassant la vision charnelle. Il nous semble que le concepteur de l’image ait pu vouloir mettre en signes le processus de la révélation, en omettant d’évoquer la vue corporelle. Comme le trait à la pointe sèche le révèle en effet sur le verso du folio, Joseph figurait initialement dans la position de l’homme en proie à la réflexion. Le peintre a finalement préféré le représenter avec les mains posées sur les genoux, laissant à la seule figure virginale le geste qui témoigne de sa douloureuse conscience du sacrifice à venir. Le père putatif du Christ, passif, n’a pas encore opéré la conversion qui, par la suite, lui permettra de voir. Notons aussi que ni le bœuf aux yeux écarquillés ni l’âne ne portent leur regard sur l’Enfant dans sa crèche. Si la Vierge connaît le destin funeste de l’Enfant et s’abîme dans une douleur pensive, seul un ange parmi les protagonistes observe le Christ. La ‘clarté’ figurée par le peintre du sacramentaire est le lieu où se forme l’image, ici celle du Verbe incarné, sous le regard de l’ange qui le contemple. C’est pourquoi la zone claire et transparente pourrait évoquer le diaphane, le lieu de la révélation où se manifeste au regardeur l’image du Dieu incarné; une image sensible qui, grâce à celle qui se forme dans l’âme, doit conduire à la Connaissance, à Dieu. Il nous semble que ce processus du dépassement du sensible est appelé de ses vœux par l’auteur du titulus lorsqu’il affirme: Hoc materiale inspectivum.32 Poscit humane mentis oculum diligenti attentione in se ipso exemplare. Quam humili partu suae incarnationis . ille mundi mortalia petiit mortalis . in quantitate temporis . qui absque tempore in caelis. vivit immortalis.“ – „Cette ‘matière à spéculation’ requiert que l’œil de l’être

31 Sur le diaphane, voir Anca Vasiliu: Le mot et le verre. Une définition médiévale du diaphane, dans: Journal des savants (1994), pp. 135 – 162, p. 137. – Anca Vasiliu: Du diaphane: image, milieu, lumière dans la pensée antique et médiévale, Paris 1997. 32 La philosophie ‘inspective’ est celle qui s’occupe des choses qui ne sont pas visibles, autrement dit, des choses divines ou célestes.

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humain porte, sur elle-même qui sert de modèle, avec une attention diligente, l’œil de l’esprit (humain).33 Par l’enfantement si humble qui a donné lieu à son incarnation, mortel il a gagné les choses mortelles du monde en un temps limité lui qui sans connaître la durée vit immortel aux cieux.

Ainsi Dieu tel qu’il s’est donné à voir, après l’incarnation, au cours de son existence terrestre est comme l’image peinte: une image sensible qui doit être dépassée, grâce à la contemplation et à l’œil de l’esprit, pour atteindre la Connaissance. Si le peintre n’a pas figuré la vue charnelle par l’orientation des yeux des protagonistes, relevant du monde sensible sur l’Enfant, la vision corporelle n’a pas été véritablement omise puisque celui qui regarde l’image peinte est impliqué dans le processus de révélation qu’elle doit susciter. La vue est bien sûr convoquée dans la scène de la visitatio sepulchri (fol. 60) que nous n’analyserons pas dans le cadre de cet article (Abb. 74). Le diptyque de l’Ascension offre aussi une très belle réflexion sur la vue et la vision (fol. 71v/72r). Comme nous l’avons déjà mentionné au début de cette intervention, les bordures des images du diptyque visent à marquer une rupture dans l’économie du décor. L’Ascension est évidemment un tournant dans l’histoire du salut mais constitue aussi une rupture dans le visuel: ce qui pouvait être vu – le Verbe incarné – est définitivement soustrait au regard sensible des hommes (Abb. 72). Istud operativum 34 – simulat ascensum domini – super astra caeli et quomodo discipulis tam mirabili visu oculos pascentibus – ipse portatur ab angelis – sedem petiit apud dexteram patris. – Cette réalisation représente l’ascension du Seigneur au-delà des astres du ciel et comment, alors que les disciples repaissaient leurs yeux d’une vision si admirable, il est porté par les anges et a gagné un siège à la droite du père.

Le terme „operativum“ qui ouvre la phrase en vis-à-vis de la scène peinte n’évoque pas, nous semble-t-il, pleinement le medium – ce qui caractérise en revanche les inscriptions des diptyques de l’Annonciation, de la Nativité ou encore de Grégoire –, mais pourrait traduire l’idée d’un changement d’état entre ce que les apôtres ont pu voir et celui qui, à présent, siège à la droite du Père.35 Comme l’expression d’un processus est induit par le choix de ce mot, il est possible qu’il puisse aussi faire écho au transitus qui s’opère depuis l’image matérielle vers l’image spirituelle. De surcroît, le concepteur de l’inscription joue avec brio sur les couples operativum / simulare et „oculos“ / „mirabili visu“ qui distinguent deux façons de voir, à l’instar des deux images du diptyque qui sont deux modalités de voir différentes. Ces deux types de regard conduisent à la connaissance depuis l’image qui se forme dans l’œil et s’imprime dans l’âme jusqu’à celle qui procède entièrement de l’esprit. 33 Cette formule est particulièrement difficile à traduire car, là encore, il y a un jeu entre materiale et l’incarnation, d’autant qu’à dessein, elle cultive l’ambiguïté sur ce qu’il faut regarder. 34 Le terme operativus est à comprendre ici comme un antonyme de theoreticus ou de speculativus. 35 O’Driscoll 2005 (cf. note 2), p. 141 et 201.

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L’image de l’Ascension s’inscrit dans une tradition visuelle, qui renvoie à l’ivoire du début du Ve siècle, conservé à Munich (Bayerisches Nationalmuseum), à laquelle se réfère également le peintre du sacramentaire de Drogon (Paris, Bnf, ms. lat. 9428, fol. 71v) et avec une variante importante, l’enlumineur du bénédictionnaire d’Aetelwold (Londres, BL, Add. MS. 494598, fol. 64v) ou encore celui des Évangiles de l’Arsenal (Paris, Arsenal, ms. 592, fol. 157v). Contrairement aux peintres des manuscrits du Xe siècle précédemment cités, celui du sacramentaire de Saint-Géréon a conservé le geste caractéristique de la dextrarum iunctio. Ce choix rare, en cette fin du Xe siècle, témoigne de la volonté d’insister sur la dimension tangible, physique, du corps ressuscité mais aussi sur la transition entre l’être de chair visible et l’absence visuelle du Christ, lui-même à l’image de Dieu.36 Le terme „operativum“ employé dans le titulus conforte sans doute cette interprétation. Quoi qu’il en soit, pour insister sur l’élévation du corps du Christ dans les cieux, l’inscription s’écarte de l’enluminure pour évoquer les anges portant le Verbe incarné lors de l’Ascension, selon une formule proche de l’image, dans une mandorle, du Christ emporté par les anges. Ce changement d’état mentionné dans le titulus, qui prive les apôtres de la vision du Christ, a été signifié par le concepteur de l’image. L’ample déploiement des ailes des deux anges traduit en effet l’impossibilité pour les disciples de voir avec les yeux du corps le Christ qui a gagné les cieux. Il reste alors la convocation des images intérieures pour tenter d’accéder à la connaissance. L’observateur des images se voit offrir une magnifique méditation sur l’image: l’artefact, l’image matérielle, l’image mentale, l’image spirituelle et la contemplation. Par ailleurs cette tension entre sensible et spirituel est parfaitement traduite par l’emploi d’antonymes: coeli / terrae, spiritualis /mundus, inspectivus/humanus …

Une réflexion sur l’ histoire, le signe et la vision: le diptyque de la crucifixion Le diptyque de la Crucifixion introduit une variation importante au sein du décor (fol. 58v/59r) (Abb. 38 u. 74). L’inscription qui accompagne l’image peinte sur un fond pourpré a été tracée à l’encre or sur la peau nue du parchemin.37 Elle proclame: 36 Le concepteur de l’image a campé le Logos serrant un rouleau contre lui, dans la position du marcheur comme dans l’ivoire de 400 mais n’a pas repris l’idée de la montagne. Contrairement à la lettre historiée du sacramentaire de Drogon ou des Évangiles de l’Arsenal, la Vierge n’est pas figurée. Le concepteur des images n’a pas cherché à évoquer l’Ecclesia. 37 Plusieurs interprétations ont été proposées pour expliquer ce choix. Selon Bloch 1963 (cf. note 7), p. 42, il pourrait s’agir d’un signe de deuil conformément à la tradition du dépouillement propre au Vendredi saint; dans son analyse de la Crucifixion de l’évangéliaire d’Hitda, Christoph Winterer: Das Evangeliar der Äbtissin Hitda. Eine ottonische Prachthandschrift aus Köln, Darmstadt 2010, p. 43, y voit une réflexion sur la lumière.

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Huius crucis sanctitas per se generalissima – tui cordis imum o homo – compellat gratulative trahere gemitum ex se ipso – omnium inmutabiliter potentem – te in sceptrum sui regni reponendum – sustulisse amare mortis passivum.“ – Que la sainteté de cette croix, qui par elle-même est supérieure à toutes les autres,38 force les profondeurs de ton cœur, ô homme, à en tirer un gémissement de reconnaissance. Toi qui domines toute chose immuablement tu as subi la souffrance d’une mort amère pour te remettre sur le trône de ton royaume.

En vis-à-vis, sur un fond pourpre, se détache une croix dorée sur laquelle est exposée la dépouille du Sauveur. Traité par de puissants modelés pour en souligner les volumes, le corps christique est mis en valeur afin d’insister sur la dimension sacrificielle du don consenti par Dieu. La tête du Christ repose sur son sternum, tandis que sur ses bras pèse le poids du corps. Les pieds qui reposent sur un suppedanum imposent à la silhouette un puissant contrapposto. Le Crucifié du sacramentaire de Géréon s’inscrit dans la tradition visuelle du type du crucifix de Gero tant par la position de la tête, des bras que par le ventre bombé, le nœud du perizonium sur le côté, l’imposant nimbe et le suppedanum.39 Bien que le Christ aux yeux clos soit représenté mort, les plaies aux pieds et au flanc ne saignent pas. Il ne s’agissait pas ici de conférer une dimension par trop eucharistique à l’image mais d’insister sur la temporalité, le moment précis de la mort avec la figuration des astres de la nuit et du jour au-dessus des bras de la croix. Outre la préoccupation temporelle, le lieu du sacrifice est aussi mentionné par les mots „Golgotha locus“ écrits en lettres d’or au niveau du sol, sous la croix qui y est fichée. La mort du Christ est par ce biais ancrée dans le temps et un lieu. Cette préoccupation ‘historique’ se poursuit d’ailleurs avec la mise en images d’un épisode anecdotique, celui de Pilate envoyant ses soldats garder le tombeau du Christ (fol. 59v). Ce choix s’explique vraisemblablement par la volonté d’insister sur la mort physique du Christ afin d’en exalter la résurrection.40 La dramatisation du moment est renforcée par la gestuelle de Marie, enveloppée dans un manteau vert parsemé d’un motif de trois points dorés, en parfait écho à la Vierge de la Nativité allongée sur sa couche verte.41 Là encore, la mère du Christ, tête baissée, en proie à la tristesse, ne contemple pas son Fils, contrairement à la figure de Jean qui lui fait pendant. 38 „Que la sainteté de cette croix, qui par elle–même est supérieure à toutes les autres ou qui est du genre le plus élevé.“ Le terme „generalissima“ choisi par le concepteur des tituli renvoie à dessein au „genus generalissimum“, la catégorie essentielle, le genre suprême et principe premier, l’être. 39 S’inscrivent dans cette tradition visuelle, la Croix de Lothaire (sur 980) ou encore la croix d’Otton et de Mathilda (sur 985). 40 Analysant le diptyque de Pilate et des saintes femmes au tombeau, O’Driscoll 2005 (cf. note 2), p. 329, a déjà formulé cette remarque. 41 Sur les traditions visuelles de la Crucifixion du sacramentaire de Géréon, voir O’Driscoll 2005 (cf. note 2), p. 312 f. L’enluminure du fol. 59r réunit plusieurs traditions visuelles. Ainsi l’attitude de la Vierge est proche de celle de la chapelle de Theodora à Sainte-Marie-Antique (Rome) ou encore du sacramentaire du musée de Chantilly, (Musée de Chantilly, ms. 40, fol. 4v), mais la figure du Christ comme nous l’avons vu relève d’une tradition visuelle propre au Xe siècle ottonien.

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Si la mort du Christ est inscrite dans l’épaisseur de l’histoire, la croix qui a été figurée n’est pas un instrument de supplice. Démesurée, elle relie le ciel à la terre tandis que la pancarte du titulus multilingue de Pilate se superpose à la bordure qui délimite le champ de la représentation. Objet d’orfèvrerie, elle est fichée dans le sol par une pointe qui termine la traverse horizontale de la croix.42 Nouvel arbre de vie, elle donne naissance à une végétation luxuriante et dorée. La vie, évoquée par les rinceaux foisonnants, jaillit depuis le signe rédempteur. À dessein, le concepteur de l’image joue sur l’événement historique – la mort du Christ– en mentionnant le temps et le lieu et sur le signe du salut, du sacrifice du Christ et de la Parousie qu’est la croix. Nœud temporel qui rappelle le passé, elle est active dans le présent tout en convoquant le futur.43 C’est sans doute pourquoi le concepteur du diptyque a utilisé le terme „generalissima“ dans le titulus; un terme qui renvoie au genre généralissime (ousia en grec ou essentia en latin).44 Dans le diagramme connu sous le titre „arbre de Porphyre“, le genre le plus élevé est une essence qui englobe toutes les natures. Or c’est par leur participation à cette essence que tous les existants subsistent. Détail troublant, la Vierge et Jean sont circonscrits dans un halo de couleur pourpre, plus clair – en réalité l’aplat du fond – que celui de la croix tandis que les astres sont à la jonction entre l’aplat clair et la couleur plus foncée qui entoure l’instrument de supplice. Joshua O’Driscoll interprète l’aplat pourpre foncé qui épargne encore les figures de Marie et de Jean comme l’évocation des ténèbres qui envahissent la terre au moment de la mort du Christ.45 Est–il possible que cette différence de tons soit plutôt un moyen d’insister sur la puissance et l’efficacité du signe, sur la croix comme objet de méditation? Ainsi retranchés du lieu où figure la croix, la Vierge et Jean apparaissent comme des spectateurs plutôt que des acteurs, 42 Le type Steckkreuz de la croix du sacramentaire provient du répertoire carolingien et plus particulièrement des ivoires. La croix est ainsi présentée comme l’arme qui vainc le péché et la mort, symbolisés par le serpent écrasé ou enroulé autour de la pointe. Sur ces questions, voir Marie-Christine Sepière: L’image d’un Dieu souffrant, Paris 1994. – Celia Chazelle: The Crucified God in the Carolingian Era. Theology and Art of Christ’s Passion, Cambridge 2001, pp. 254 – 266. En dernier lieu, voir Beatrice Kitzinger: La croix instrumentale et l’utilisation de l’évangéliaire de Troyes, Bibliothèque Municipale MS 960, dans: Different Visions. A Journal of New Perspectives on Medieval Art 4 (2014), pp. 2 – 33. Pour désigner ce type de croix, elle utilise la formule, „instrumental cross“, afin d’insister sur la croix comme objet actif. 43 Sur la croix, voir Beatrice Kitzinger: The Cross, the Gospels, and the Work of Art in the Carolingian Age, Cambridge 2019. 44 O’Driscoll 2005 (cf. note 2), p. 244, a montré qu’une définition de ce terme apparaissait dans la glose d’un manuscrit de Boèce du début du VIIe siècle, copié à Cologne (Cologne, Dombibliothek, Hs. 188, fol. 49r): „quia sicut generalissimum est cui non aliud genus superponitur“. Le terme apparaît également dans un diagramme connu sous le nom d’arbre de Porphyre dans une deuxième copie du même commentaire de Boèce, réalisé à Cologne (Cologne, Dombibliothek, Hs. 189, fol. 1r). 45 Le motif de l’ombre qui envahit le champ de la représentation étant sans ambiguïté dans l’épisode de l’Annonciation, nous pouvons douter que le peintre ait ainsi figuré les ténèbres descendant sur la terre au moment de la mort du Christ.

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ou plus exactement, ils constituent des sortes de commentaires marginaux sur le thème de la vision. Les personnages qui entourent le Christ incarnent une fois de plus deux états différents de connaissance: la Vierge n’a plus besoin de voir pour savoir tandis que Jean contemple la croix pour nourrir son esprit et accéder à la connaissance. Cette croix, „d’un opus admirable“ pour reprendre la formule de Gerbert d’Aurillac, nourrit donc „l’esprit et les yeux“.46 La croix figure ainsi pour elle-même comme signe absolu de la rédemption, extraite parce qu’elle est justement un signe du contexte qui l’entoure; un signe peint qui doit permettre au lecteur-observateur la connaissance profonde de ce que signifie la crucifixion. C’est ce à quoi l’exhorte la première partie du titulus: la simple vue de la croix doit faire naître la conscience du sacrifice consenti par Dieu pour la rédemption de l’humanité. Ici, il n’est pas fait mention d’une médiation par l’image: la croix peinte est là un signe actif dont la contemplation doit susciter reconnaissance et émotion. Cette affirmation repose sur les théories de la vision et la physiologie de l’œil. Comme le regard émane de l’œil et qu’il partage avec le feu sa nature, que le rayon visuel procède de l’action, qu’il „sent la couleur des choses et s’étend hors du corps, y subit des chocs matériels et des changements de qualité“,47 il était logique de considérer qu’il agissait sur les choses. Autrement dit, ce flux visuel, conçu comme une effluence, un souffle, provoque autant d’effets sensibles, matériels que d’effets sur l’âme. Par conséquent, le regard a la capacité d’affecter l’être ou la chose sur lesquels il se pose. Ainsi, l’âme du spectateur était affectée par la vision de la croix; vision qui entraînait sa conversion, ce mouvement de l’âme vers Dieu auquel doit tendre toute vie.48 D’ailleurs, le lecteur est transformé en locuteur dans la seconde partie du titulus et s’adresse au Christ en étant agrégé à ceux qui se tiennent déjà au pied de la croix. Il semble que les diptyques qui rythment ce manuscrit soient à considérer pleinement comme des supports de méditation, visant à favoriser une forme de pratique imaginative de la piété. Ils sont peut-être comparables en raison des pratiques qui les entouraient aux diptyques en ivoire qui ornaient les manuscrits. Toutefois en raison de leur insertion dans le corps du sacramentaire de Saint-Géréon, les diptyques peints ont pour objet de guider l’expérience de l’utilisateur du manuscrit. Ils lui offrent non seulement la possibilité d’une véritable réflexion sur le ou les moyens du voir, en exaltant les tituli, mais aussi un questionnement fondamental sur les signes. Pour le concepteur du sacramentaire, la vue l’emporte sur les autres sens ainsi que l’affirme l’épisode mis en images du scribe regardant, par un trou percé dans le rideau, Grégoire recevant l’inspiration du Saint-Esprit (fol. 21r) (Abb. 73). Ici, l’image rend complice l’utilisateur du manuscrit de ce que voit Pierre muni de son calame. 46 Dans une lettre, Gerbert d’Aurillac, alors au service de l’archevêque de Reims, Adalbéron, et de celui de Trèves, évoque son souhait pour la croix qu’il a commandée „d’un opus admirable“, capable de „nourrir l’esprit et les yeux“ („mentem et oculos pascere“ ). 47 Gérard Simon: Le regard, l’être, l’apparence dans l’optique de l’Antiquité, Paris 1988, pp. 90 f. 48 Sur la conversion, voir Michel Zink: Poésie et conversion au Moyen Âge, Paris 2014.

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Les potentialités du voir sont profondément liées aux théories antiques sur la vision et la physiologie de l’œil. Le diptyque de la crucifixion est à ce titre exemplaire. Restent des questions essentielles qui ne trouveront peut-être jamais de réponses: ce qui a dicté l’insertion de ces diptyques si singuliers dans un sacramentaire et à quel prestigieux et savant officiant était destiné ce somptueux livre liturgique…

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Elisabeth Luger-Hesse

Das ottonische Evangeliar Bestand 7010 Nr. 312 im Historischen Archiv der Stadt Köln Provenienz und Restaurierung

Innerhalb der erhaltenen ottonischen Handschriften des 10. und 11. Jahrhunderts gehört das sogenannte ‚Evangeliar aus St. Gereon‘, das sich heute im Historischen Archiv der Stadt Köln befindet (HAStK, Best. 7010, 312), zur ‚Malerischen Gruppe‘ der Kölner Buchmalerei. Die Gruppierung der Kölner Buchmalerei haben 1967 Peter Bloch und Hermann Schnitzler auf der Grundlage der Gruppierungen von Heinrich Ehl vorgenommen.1 Das Evangeliar gehört zu den Haupthandschriften der Gruppe. Die in einen Ledereinband mit den Maßen 326 × 268 × 87 mm mit Blindprägung sowie Eckbeschlägen und Buckeln mit zwei Hakenschließen gebundene Handschrift (Abb. 82) umfasst 223 Pergamentblätter. Einem heute lose beiliegenden kleinformatigen Zettel zufolge wurde der Ledereinband 1986 durch Jürgen Pfeil restauriert. Beim Aufbau der 28 Lagen, die Spuren eines Schnittmusters erkennen lassen, überwiegen Quaternionen: II -13, IV 11, V+122, 5*IV 62, IV +171, II +III +180, 3*IV 104, IV +I114, 5*IV 154, IV +I164, 7*IV 220, II -1223 (Abb. 78).2 Die Blätter im Format 328 × 245 mm sind üblicherweise einspaltig zu 24 Zeilen in einem Textspiegel von ca. 220 × 130 mm in karolingischer Minuskel beschrieben. Die inhaltliche Aufteilung haben bereits Bloch / Schnitzler 1967 zusammengestellt. Enthalten sind neben den Evangelienvorreden und -texten auch verschiedene Zierseiten. Dem Matthäusevangelium ist die Majestas Domini vorgestellt (fol. 12v), die Christus auf der Weltscheibe von 1 Heinrich Ehl: Die ottonische Kölner Buchmalerei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der frühmittel­ alterlichen Kunst in Westdeutschland (Forschungen zur Kunst Westeuropas, Bd. 4), Bonn 1922. – Peter Bloch / Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, 2 Bde. Düsseldorf 1967/70. – Zur Forschungsgeschichte vgl. Klaus Gereon Beuckers: Geschichte, Forschungsstand und Forschungsproblematik des Gerresheimer Evangeliars, in: Das Gerresheimer Evangeliar. Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle, hg. v. Klaus Gereon Beuckers und Beate Johlen-Budnik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur, Bd. 1), Köln 2016, S. 13 – 64. – Ursula Prinz: Die Ornamentik der ottonischen Kölner Buchmalerei. Studien zum Rahmenfüllwerk (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen K ­ irchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 71), Köln 2018, S. 12 – 22. 2 Es ist unklar mit welchem Blatt fol. 71 verklebt ist. Frau Doris Oltrogge vielen Dank für die Unterstützung bei der Aufnahme.

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Abb. 78: Lagenschema des Kölner Evangeliars, Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7010, Nr. 312.

einer Mandorla umschlossen zeigt (Abb. 79). Die einzelnen Elemente sind dem Kompositionstypus der Kölner Buchmalerei entsprechend übereinander in verschiedenen Streifengründen dargestellt. Unter Christus sind die Propheten Jesaja, Jeremia, Ezechiel und Daniel zu sehen. Im mittleren Bildbereich, Christus zur Seite, reihen sich die vier Evangelistensymbole in einer Abfolge von links oben nach rechts unten. Oberhalb von Christus, ihm huldigend zugewandt, befinden sich Seraphime. Auf fol. 14r–19v folgen die Kanontafeln ohne Evangelistensymbole; Beschriftungen, Bögen, Säulenbasen, Dekor an den Säulen, Giebelknäufe, Deckplatten und Einfassungen der Architrave sowie Giebelschrägen sind durchgängig in Gold gefasst. Die restlichen Elemente weisen eine farbige Gestaltung auf. Auf den letzten fünf Tafeln befinden sich in den Bögen Blattwerk in den Giebelschrägen. Erkennbar sind zum Teil ausradierte Vorzeichnungen (Abb. 80). Mit Ausnahme von ­Johannes beginnen die Evangelien mit einer leeren Zierseite ohne Text, der jeweils eine ganzseitige

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Abb. 79: Kölner Evangeliar, Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7010, Nr. 312, fol. 12v: Maiestas Domini.

Evangelistendarstellung gegenübergestellt ist. Es folgt eine Doppelseite mit Titelzierseite und Initialzierseite. Die Zierseite zum Liber Generationis (fol. 22r) weist neben der LI Initialligatur mit Ranke und großem purpurfarbenem Vogel im Rahmen Quadrate und Medaillons auf (Abb. 81). Das Agnus-Dei Medaillon oben wird durch zwei weibliche und ein männliches Brustbild ergänzt. Nach dem Johannesevangelium schließt auf fol. 197r bis 220v das Capitulare den Codex ab.

* Dem bisherigen Forschungsstand nach soll das Evangeliar aus dem Chorherrenstift St. Gereon stammen. Das 839 erstmals bezeugte Stift wurde vom ersten Kölner Erzbischof Hildebold (amt. 787 – 818, seit 795 Erzbischof ) an der im 4. Jahrhundert entstandenen ­Kirche gegründet.3 Der zumindest im Hochmittelalter hochadelige Konvent hatte 3

Vgl. Johannes Christian Nattermann: Die goldenen Heiligen. Geschichte des Stiftes St. Gereon zu Köln (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd. 22), Köln 1960. – Zur ­Kirche vgl. Otmar Schwab: St. Gereon zu Köln. Untersuchungen zum spätantiken Gründungsbau, in: Kölner

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Abb. 80: Kölner Evangeliar, Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7010, Nr. 312, fol. 18v: Kanontafel.

den zweitgrößten Grundbesitz nach dem alten Kölner Dom und galt als eine der ranghöchsten K ­ irchen der Kölner Diözese. Seine wesentliche Stellung erlangte es nicht zuletzt aufgrund der Gründungslegende, nach der Kaiserin Helena (verst. 330), ­Mutter K ­ aiser Konstantins I. (verst. 337), die ­Kirche am Ort eines Brunnens habe errichten lassen, in dem die Häupter von knapp 700 Märtyrern der Thebäischen Legion liegen sollen, die sich dem kaiserlichen Auftrag verweigerten, alle Kölner Christen umzubringen. Heerführer der Legion war Gereon. Mit der kaiserlichen Stiftung ging ein hohes Selbstbewusstsein und Selbstverständnis einher, das sich auch in der Architektur und der Ausstattung der K ­ irche niederschlug. Dies zeigen auch die mittelalterlichen Codices aus St. Gereon, von denen allein drei Prachthandschriften einer Kölner Produktion zugeschrieben sind: So neben dem Evangeliar im Jahrbuch 35 (2002), S. 7 – 206. – Ute Verstegen: Ausgrabungen und Bauforschungen in St. Gereon in Köln (Kölner Forschungen, Bd. 9), 2 Bde., Mainz 2006. – zuletzt Klaus Gereon Beuckers: Monumentum Annonis? Der salische Langchor von St. Gereon und seine Weihen, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins romanische ­Kirchen in Köln 34 (2020), S. 24 – 43.

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Abb. 81: Kölner Evangeliar, Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7010, Nr. 312, fol. 22r: Initialseite zum Liber Generationis.

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Historischen Archiv noch das sogenannte Stuttgarter Evangeliar aus St. Gereon in der Württembergischen Landesbibliothek (Cod. Bibl. 2° 21) und das Pariser Sakramentar aus dem 10. Jahrhundert, das sich heute in der Bibliothèque nationale befindet (Ms. lat. 817).4 Als Sitz des Skriptoriums wird mehrheitlich das Kölner Benediktinerkloster St. Pantaleon angenommen,5 jedoch wurde aufgrund der Überlieferungsdichte der Handschriften auch ein Sitz in St. Gereon erwägt.6 Stifter des Klosters St. Pantaleon war Erzbischof Bruno (amt. 953 – 965), Bruder ­Kaiser Ottos I. (amt. 962 – 973), der es mit Mönchen aus St. Maxim in Trier besetzte. St. Gereon und St. Pantaleon hatten eine enge liturgische Verbindung, die sich beispielsweise im Sakramentar aus St. Gereon auf fol. 7r aus der Auszeichnung des Festes des hl. Pantaleon am 28. Juli, der auch der Weihetag von St. Gereon war, in Großbuchstaben erkennen lässt.7 Die Auftraggeber des Evangeliars sind unbekannt. Einen Hinweis, mit wem die Stiftung zumindest in Zusammenhang steht, mag die Identifizierung der auf dem Initialblatt zum Liber Generationis dargestellten Personen geben. Dort befinden sich unterhalb des Lammes Gottes drei Brustbilder in Medaillons, die als Darstellungen von ­Kaiser Otto III . (amt. 980 – 1002), seiner Großmutter Kaiserin Adelheid von Burgund (verst. 999) und seiner ­Mutter Kaiserin Theophanu (verst. 991), die in St. Pantaleon bestattet wurde, gelesen werden.8 An der rechten Seite des Rahmens ist Adelheid als ältere, in einen Witwenschleier gehüllte Frau zu sehen. Ihr gegenüber befindet sich der jugendliche Otto III . Auf der vertikalen Mittelachse des Bildes ist in blauem Gewand dessen ­Mutter, Kaiserin Theophanu, dargestellt, deren Anbetung des Lammes oben mit verhüllten Händen darauf hinweist, dass Theophanu bereits verstorben ist. Motivisch verbindet dies die Handschrift mit zwei weiteren Kölner oder eng mit Köln verbundenen Evangeliaren, die 4 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 1), Nr. II, IV u. XIV. – Zum Sakramentar vgl. den ­Beitrag von Cecile Voyer in d ­ iesem Band. 5 Vgl. Henry Mayr-Harting: Ottonische Buchmalerei. Liturgische Kunst im Reich der ­Kaiser, Bischöfe und Äbte, Stuttgart 1991 (engl. OA Oxford 1991), S. 290 f. 6 Vgl. Ulrich Kuder: Der Hitda-Codex im Zusammenhang der Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640). Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013, S. 89 – 111, hier S. 93 mit einer Zusammenstellung der Positionen. – Vgl. auch HansWalter Stork: Zur Paläographie des Gerresheimer Evangeliars, in: Beuckers / Johlen-Budnik 2016, S. 103 – 118, insb. S. 117 f. 7 Vgl. Mayr-Harting 1991 (wie Anm. 5), S. 291. 8 Vgl. Wolfgang Christian Schneider: Die Generatio Imperatoris in der Generatio Christi. Ein Motiv der Herrschaftstheologie Ottos III. in Trierer, Kölner und Echternacher Handschriften, in: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 226 – 258, hier S. 226 – 228 u. 234 – 239. – Rainer Kahsnitz: Ein Bildnis der Theophanu? Zur Tradition der Münz- und Medaillon-Bildnisse in der karolingischen und ottonischen Buchmalerei, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin, 2 Bde., hg. von Anton von Euw und Peter Schreiner, Köln 1991, Bd. 2, S. 101 – 134.

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ebenfalls auf der Initialseite zum Matthäusevangelium im Kontext des Liber Generationis, wo die Ahnen Jesu zu Beginn des Matthäus Evangeliums aufgezählt werden, Bezug auf die ottonischen Herrscher nehmen: dem heute in Manchester liegenden Evangeliar des sogenannten Gregor-Meisters (Manchester, John Rylands Library Ms. 9, fol. 16r) und dem im Mittelpunkt ­dieses Bandes stehenden Gießener Evangeliar (Gießen, Universitätsbibliothek, Hs. 660, fol. 12r.).

* Doch wie gelangte das Evangeliar in das Historische Archiv der Stadt Köln? Vermutlich kam es nach der Aufhebung der meisten Kölner Stifte und Klöster 1802 im Zuge der Säkularisation mit zahlreichen anderen Codices zunächst in die umfangreiche Sammlung des letzten Rektors der 1798 geschlossenen Alten Universität von Köln, Ferdinand Franz Wallraf (1748 – 1824). Wann er die Handschrift angekauft hat, ist nicht überliefert. Wallraf sammelte unter anderem Kunstwerke wie insbesondere Tafelmalerei, die heute den Grundstock des Wallraf-Richartz-Museums bildet, sowie Bücher und Handschriften, von denen er über 500 erwarb. In seinen Besitz kamen so beispielsweise Zimelien wie zwei Autographen von Albertus Magnus und illuminierte Prachthandschriften des 9. bis 13. Jahrhunderts, von denen der Großteil aus Kölner Bibliotheken stammt. Geleitet vom Bestreben, eine Lehrsammlung aufzubauen, standen zunächst Gegenstände der Naturgeschichte in seinem Fokus, den er im Laufe der Zeit stark erweiterte, um schließlich weitere Wissensgebiete abzudecken.9 Nach Wallrafs Tod 1824 gelangte ein großer Teil seiner Sammlung, und damit neben einigen mittelalterlichen Urkunden auch seine Handschriften, als Nachlass testamentarisch an die Stadt Köln 10 und von dieser 1856 in das Kölner Stadtarchiv, das zum damaligen Zeitpunkt mit der Stadtbibliothek eine Einheit bildete. In der Bibliothek wurden Wallrafs Bücher und Handschriften als selbständiger Teil verwaltet und, nachdem die Stadtbibliothek 1880 vom Stadtarchiv getrennt wurde, mit Ausnahme von gedruckten Werken dem Archiv überlassen.11 Da seine Handschriften vermutlich aufgrund ihres Umfangs und den zum Teil fehlenden Titelblättern nie vollständig katalogisiert wurden, lässt sich schwer einschätzen, wie viele Stücke generell aus seinem Besitz in städtische Hand gelangt waren. Zwar sind im Historischen Archiv (Bestand 1105) diverse Listen und Inventare überliefert, jedoch enthalten sie zu den Handschriften oft nur sehr oberflächliche Informationen, wirken teilweise aus dem 9

Vgl. Ferdinand Franz Wallraf, Ausst. Kat. Historisches Archiv der Stadt Köln, hg. v. Joachim Deeters, Köln 1974, S. 73. – Stefanie Grohé: Wallrafs Geschmack, seine Sammlung und die Kölner Universität, in: Wallrafs Erbe. Ein Bürger rettet Köln, Ausst. Kat. Wallraf-Richartz-Museum Köln, hg. v. Thomas Ketelsen, Köln 2018, S. 38 – 47, hier S. 43. 10 Das Testament vom 9. Mai 1818 in Abschrift im HAStK, Best. 608 (Kulturdezernat), A 163. 11 Vgl. Joachim Vennebusch (Bearb.): Die theologischen Handschriften, Teil 1 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv Köln, Sonderreihe: Die Handschriften des Archivs, Bd. 1), Köln 1976, Tafel X.

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Zusammenhang gerissen und sind nicht immer als tatsächliche Inventare einzuordnen. Erste Bemühungen zu Inventarisierungen, die die Erfassung von Gemälden, Stichen und die naturhistorische Sammlung zum Gegenstand hatten, erfolgten 1810 noch zu Lebzeiten Wallrafs. Im selben Jahr wurde auch die Bibliothek, die zu dem Zeitpunkt etwa 4.500 Bücher umfasste, gelistet, wobei die fragmentarischen Verzeichnisse lediglich provisorisch angelegt wurden und eine Identifizierung der aufgenommenen Werke oft nicht zulassen. Nach 1815 erhielt Wallraf dabei Unterstützung von Everhard Groote; eine vollständige Katalogisierung gelang dennoch zu seinen Lebzeiten nicht.12 Das Fehlen von Angaben zu Verfassern im Mittelalter, von Provenienzen sowie Datierungen dürfte auch damals bereits Probleme bereitet haben. Den Testamentsexekutoren nach haben sich im Nachlass Wallrafs 544 Handschriften befunden, wobei nicht hervorgeht, ob physische Einheiten oder einzelne Texte gezählt wurden.13 Auch die bei dem Übergang an die Stadt erstellten Inventare, die den Nachlass in Sachgruppen teilen, geben oft keine Details zu einzelnen Stücken der Handschriftensammlung preis und dürften relativ rasch angefertigt worden sein.14 Nach der Übernahme der Handschriften ins Archiv wurden sie in die übrigen Bestände systematisch eingegliedert. Insgesamt besitzt das Historische Archiv der Stadt Köln über 2.000 vormoderne Handschriften, die in verschiedene Bestände aufgeteilt sind. Neben dem Bestand ‚Chroniken und Darstellungen‘ (Bestand 7030) sind das vor allem die Handschriften der Gymnasialbibliothek (nach Formaten geformte Bestände 7002, 7004 und 7008), die sich weitgehend aus den bis 1885 in den Räumen der Kölner Zentralschule aufbewahrten Handschriften der aufgelösten Klöster zusammensetzen, sowie der Bestand der Wallraf-Handschriften (Bestand 7010) und ‚W*‘ (Bestand 7020), in dem Handschriften verschiedener Provenienzen – davon 25 aus der Sammlung Wallrafs – aufgenommen wurden.15 Dem Bestand 7010 wurden, dem damals vorherrschenden Pertinenzprinzip folgend, aus inhaltlichen Über­ legungen Handschriften entnommen und in andere Bestände überführt (zum Beispiel 7030 ‚Chroniken und Darstellungen‘ und Bestand 295 ‚Geistliche Abteilung‘); im Laufe der Zeit aber auch andere hinzugefügt, weshalb sich die genaue Zusammensetzung der Handschriftensammlung Wallrafs nur schwer fassen lässt.16 Das Evangeliar aus St. Gereon ist im Bestand 7010 verblieben. Die archivische Verzeichnung der Wallrafschen Handschriften basierte auf dem ersten Inventar, das 1824 nach dessen Ableben von Johann Peter Jakob Fuchs (1782 – 1857) und Ludwig von Büllingen (1771 – 1848) angelegt wurde. Darin sind die Handschriften in 12 Vgl. Max Plassmann: Virtuelle Ordnung? Verzeichnisse, Inventare und Kataloge zu Wallrafs Sammlungen, in: Kat. Köln 2018 (wie Anm. 11), S. 102 – 108, hier S. 103 – 105. 13 Vgl. Max Plassmann, Wallraf – Der Sammler von Handschriften und Urkunden, in: Kat. Köln 2018 (wie Anm. 11), S. 138 – 142, hier S. 138 f. 14 Vgl. Plassmann 2018 (wie Anm. 13), S. 106. Die Inventare sind zu finden in HAStK, Best.1105, A180 – 186. 15 Vgl. hierzu die Sonderreihe Die Handschriften des Archivs der Mitteilungen aus dem Stadtarchiv Köln. 16 Vgl. Plassmann 2018 (wie Anm. 14), S. 138 f. – Vennebusch (wie Anm. 12), IX-XI.

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19 durch römische Ordnungszahlen gegliederte Sachgruppen geordnet.17 Das ottonische Evangeliar wurde zu V1 in d ­ iesem System eingegliedert. 1860 wurde die Sachgruppe XIX aufgelöst und die darin enthaltenen Handschriften anderen Beständen zugeordnet. Bis 1881 wurde das System der Sachgruppen gänzlich verworfen und es fand eine erstmalige durchlaufende Zählung der Handschriften statt, wobei diese Zahlen heute noch ihre Gültigkeit haben. Die Reihenfolge der Aufnahme ist unklar. Dieses Verzeichnis bildet die Grundlage für die Katalogisierung durch Heinrich K ­ elleter, der in den 1890er Jahren als Volontär einen neuen Handschriftenkatalog schrieb. Der Katalog wurde durch den Archivar Hermann Keussen (1862 – 1943) überarbeitet und in Sachgruppen eingeteilt; er umfasst so zwölf Bände. Zwar enthalten die Eintragungen keine neuen Recherchen zu Verfassern, Identifizierungen oder Provenienzen, nahmen jedoch Angaben aus den oft ­später verloren gegangenen Bucheinbänden auf.18 In der Liste der Handschriften vor 1400 ist zudem ein Provenienz-Register enthalten, in dem alle sicheren Provenienzangaben zusammengefasst wurden; zweifelhafte Angaben wurden mit Fragezeichen markiert und Handschriften mit unbekannter Provenienz nicht berücksichtigt.19 Die Nummer 312, die dem Evangeliar zugeteilt wurde, fehlt in der Auflistung. Kelleter dürften für den Eintrag des Evangeliars ohnehin nur wenig Informationen zur Verfügung gestanden haben, denn auf der entsprechenden Seite des Katalogs steht der Hinweis, dass die Verzeichnung noch genauer erfolgen sollte.20 Von der Anlagehand ist unter anderem zu lesen: „Evangeliar. Ornamentale Verzierungen geringeren Wertes sec. 10 Pergament. Ausstellungsschrank“. Eine Beschreibung oder Aussage zum Einband, der in den alten Inventaren – wenn von besserer Qualität oder höherem Wert – üblicherweise erwähnt wird, fehlt, so dass ein kostbarer Einband zu dieser Zeit ausgeschlossen werden kann. Von wann der heutige, in der Art des 15. Jahrhunderts gestaltete Ledereinband stammt (Abb. 82), lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Eventuell können Rechnungen und Quittungen aus dem Nachlass Walraffs darüber Aufschluss geben, ob eine Neubindung erfolgte, nachdem das Evangeliar bereits in seinem Besitz war.21 Es folgen zwei Literaturangaben zu Schriften von Karl Lamprecht aus dem Jahre 1882, die aber selbst keine über die Liste hinausgehenden Informationen enthalten und von einer Provenienz aus St. Gereon nichts wissen.22 Diese Angabe der Provenienz wurde als „St. Gereon“ 17 Vgl. Vennebusch 1976 (wie Anm. 12), XIV. 18 Vgl. Vennebusch 1976 (wie Anm. 12), XV und XX-XXII. 19 HAStK, Best. 8900, A 1730, Laufzeit 1895 – 1897. 20 HAStK, Best. 8900, A 1736. Zu lesen ist „Noch genauer zu verzeichnen!“ 21 HAStK, Best 1105, A 47–A 49. 22 Karl Lamprecht: Initial-Ornamentik des VIII. bis XIII. Jahrhunderts. Vierundvierzig Stedruck-Tafeln meist nach rheinischen Handschriften neben erläuterndem Text, Leipzig 1882, S. 20, Nr. 26 – Karl Lamprecht: Kunstgeschichtlich wichtige Handschriften des Mittel- und Niederrheins, in: Jahrbücher des Vereins von Altertumsfreunden im Rheinlande 74 (1882), S. 130 – 146. Zum betreffenden Evangeliar

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Abb. 82: Kölner Evangeliar, Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7010, Nr. 312: Einbandrückseite.

kommentarlos erst zu einem späteren Zeitpunkt mit Bleistift ergänzt. Woher die Information stammte, lässt sich nicht erschließen, sie ähnelt aber der Handschrift, ­welche die Angaben der Dissertation von Heinrich Ehl aus dem Jahr 1922 nachgetragen hat.23 Weitere Nachträge sind Literaturverweise und ein eingeklebter Ausschnitt von Albert Boecklers Beschreibung der Handschrift aus dem Jahr 1949.24 Sowohl der Literaturnachtrag zu Ehl als auch ein kleiner Vermerk auf dem eingeklebten Ausschnitt („Boeckler“ ) sind ebenfalls mit Bleistift geschrieben. Damit dürfte die Provenienzangabe wohl erst nach 1922 ergänzt und aus dem Buch von Ehl übernommen worden sein. Ehl bezog diese Information seinerseits aus dem Buch von ­Stephan Beissel zur Geschichte der Evangeliare, dessen Quelle hierfür vollkommen unklar ist.25 ­Womöglich S. 132: „Koeln Stadtarch. Msc. Theol. 312. Gr. Fol. 10. Jh. Evangeliar. Ornamente.“. Bis zur Katalogisierung der Handschriften durch Kelleter waren die Angaben von Signaturen uneinheitlich. 23 Heinrich Ehl: Die ottonische Kölner Buchmalerei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der frühmittelalterlichen Kunst in Westdeutschland (Forschungen zur Kunstgeschichte Westeuropas, Bd. 4), Bonn 1922. 24 Kunst des frühen Mittelalters, Ausst. Kat. Kunstmuseum Bern, bearb. v. Otto Homburger, Bern 1949, Kat. Nr. 138 (Albert Boeckler). 25 Innerhalb der Literatur, die Ehl listet, nennt nur Stephan Beissel: Geschichte der Evangelienbücher in der ersten Hälfte des Mittelalters (Ergänzungshefte zu den ‚Stimmen aus Maria-Laach, Bd. 92/93),

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kann eine Sichtung von Rechnungen, Korrespondenzen und Bücherlisten im Nachlass von Wallraf nähere Informationen zur Provenienz erbringen,26 jedoch spricht der Nachtrag erst zwei Generationen nach Wallrafs Tod eher für eine andere Herkunft dieser Angabe.

* Am 3. März 2009 stürzte das 1971 in einem Neubau von Fritz Haferkamp (1925 – 1994) eröffnete Historische Archiv der Stadt Köln in der Severinstraße beim Bau der Nord-SüdStadtbahn ein. Hiervon waren etwa 27 lfd. km Akten, 62.093 Pergamente und Urkunden, etwa 330.000 Karten, Pläne und Plakate, 11.372 Siegel und ungefähr 500.000 Fotos betroffen. Mit der Unterstützung von zahlreichen Bergungshelfern und -helferinnen konnten etwa 95 % des Archivguts geborgen werden. Seit dem Einsturz wird das geborgene Material laufend bearbeitet. Dazu zählen die Erfassung und Zuordnung der einzelnen Stücke zu ihren Beständen und Verzeichnungseinheiten sowie deren Reinigung und Restaurierung. Auch das Evangeliar aus St. Gereon war direkt vom Einsturz betroffen, wobei es keine großen Schäden davongetragen hat. Da eine schwache Feuchtigkeitsbelastung im Buchblock vorhanden war, ist die Handschrift nach dem Einsturz zum Trocknen und zur ersten Schadensanamnese in die Fachhochschule Köln gebracht worden. 2012 konnte sie durch eine Patenschaft des Kulturhistorischen Museums in Magdeburg anlässlich der Landesausstellung Sachsen-Anhalt, bei der das Evangeliar anschließend präsentiert wurde,27 restauriert werden.28 Ein wesentlicher Eingriff in die Struktur der Handschrift war durch die Restaurierungsmaßnahmen nicht notwendig. Ziel war es, das ursprüngliche Erscheinungsbild des Bandes unter bestmöglicher Erhaltung der Originalsubstanz so weit wie möglich wiederherzustellen, ohne dabei jedoch den ursprünglichen Charakter zu verfälschen. Vor allem der Bucheinband mit den Metallelementen, die von Korrosion und Deformierungen betroffen waren, wies den meisten Schaden auf (Abb. 83). Durch den festen Einband war nur wenig Wasser in den Buchblock eingedrungen; das Hauptproblem im Inneren verursachten Trümmerpartikel und Baustaub. Der wohl aus dem frühen 20. Jahrhundert stammende Einband (Abb. 82), der sich zu einem großen Teil gelöst hatte, wurde gereinigt, von Metallkorrosionsanhaftungen befreit und seine Bereibungen und Kratzer gefestigt. Die Spiegel, die aus der ersten Hälfte des Freiburg im Breisgau 1906, S. 278 f. die Handschrift „Evangeliar aus St. Gereon im Kölner Archiv“. Alle anderen Autoren haben von einer solchen Provenienz keine Kenntnis. Wie der Aachener Jesuit auf sie gekommen sein mag, ist nicht mehr nachvollziehbar. 26 In HAStK, Best. 1105, A1–A 23 und A 46–A 69. 27 Otto der Große und das römische Reich. Kaisertum von der Antike zum Mittelalter, hg. v. Matthias Puhle und Gabriele Köster, Regensburg 2012, Kat. Nr. V58, S. 660 f. (Thomas Labusiak). 28 Die Restaurierung erfolgte durch Dirk Ferlmann, Atelier für Papierrestaurierung. Angaben zur Restaurierung stammen aus dem Restaurierungsbericht.

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Abb. 83: Kölner Evangeliar, Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7010, Nr. 312: Schadensbild Einband nach dem Archiveinsturz 2009.

Abb. 84: Kölner Evangeliar, Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7010, Nr. 312: Dokumentation der Einbandrestaurierung 2012.

20. Jahrhunderts stammten, mussten aus konservatorischen Gründen abgelöst werden; eine Wiederverwendung war nicht möglich. Der Ledereinschlag wurde stabilisiert, der intakte Bund am Bundübergriff auf die Deckel sowie das Leder gelöst und mit farblich ­angepasstem Restaurierungsleder unterlegt (Abb. 84). Der Buchblock selbst war überwiegend intakt. Lediglich die äußeren Lagen waren stärker fleckig und wiesen kleinere Fehlstellen im Lagenfalz- und im Randbereich der Blätter auf. Die mittelalterliche Schnittverzierung ist heute nur noch schwach sichtbar und abgerieben. Innerhalb der Buchmalerei kam es neben Baustaubanhaftungen lediglich zu leichten Malschichtverlusten an Knicken und Pergamentverwellungen (Abb. 85). Die Malmittel, vor allem die in dieser Handschrift in verschiedenen Varianten vorhandenen Purpurtöne, sind zum Teil leicht ausgeblichen, Farbmittel sind partiell durchgeschlagen und bräunlichgrünlich verfärbt. Hier stellt sich die Frage, ob dieser Zustand alterungsbedingt bereits vor

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Abb. 85: Kölner Evangeliar, Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7010, Nr. 312: Schadensbild nach dem Archiveinsturz 2009, Bereibungen an Knickstellen.

dem Einsturz bestanden hat. Bei der Restaurierung erfolgte auch im Buchinneren eine Trockenreinigung mit Auskehrung der Lagenfälze, Rissschließungen und, hauptsächlich an den ersten und letzten Seiten, Ergänzungen von Fehlstellen. Nach der Restaurierung wurde das Evangeliar vollständig digitalisiert, um es über den digitalen Lesesaal einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stellen zu können. Zudem kann es wieder im Original eingesehen werden.

* Insgesamt sind der genaue Zeitpunkt und der Ort der Erwerbung des ‚Kölner Evangeliars aus St. Gereon‘ (HAStK Best. 7010, Nr. 312) durch Ferdinand Franz Wallraf unbekannt. Ohne Beleg ist auch seine Provenienz, da der Eintrag „St. Gereon“ erstmals als Nachtrag im Katalog von Heinrich Kelleter erscheint, also frühestens um 1900, wahrscheinlich nach 1922 und damit lange nach Wallrafs Tod. In der Literatur wird diese Herkunftsangabe 1906 erstmals bei Stephan Beissel und dann vor allem ab 1922 durch Heinrich Ehl aufgegriffen, der die Handschrift im Inhaltsverzeichnis als „Gereonsevangeliar“ tituliert und ihre „Provenienz

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aus dem Schatze von St-Gereon“ als gesichert ansieht.29 Belastbare Nachweise dafür fehlen, so dass die Namensgebung neu zu überdenken ist. Den Einsturz des Stadtarchivs 2009 hat der Codex selbst nahezu unbeschadet überstanden, so dass Untersuchungen am ohnehin relativ gut überlieferten Objekt weiterhin uneingeschränkt möglich sind. Die jüngste Restaurierung 2012 hat einem Fortschreiten von typischen Alterungsprozessen wie dem Abplatzen von Farbe entgegenwirken können und den Zustand der Handschrift stabilisiert. Damit kann das mehr als tausend Jahre alte Evangeliar heute noch interessierten Laien und der Fachwelt einen zuverlässigen Eindruck ottonischer Kunst vermitteln.

29 Ehl 1922 (wie Anm. 1), S. 86 u. 308.

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Claudia Höhl

Prüm und Köln oder: ‚Notizen aus der Provinz‘

Die Buchmalerei wird traditionell als Glanzpunkt ottonischer Kunst herausgestellt. Mit den Stichworten Trier, Reichenau, Regensburg oder Köln wurden und werden außerordentlich prachtvoll und originell gestaltete Handschriften verknüpft, deren Erforschung in der Kunstgeschichte breiten Raum einnimmt und die zu den Höhepunkten einschlägiger Ausstellungen gehören. Dagegen taucht die Abtei Prüm allenfalls am Rande auf.1 Für das Kloster in der Eifel interessiert sich die Mittelalterforschung aufgrund der einzigartigen Quellenlage zur Wirtschaftsgeschichte karolingischer Zeit, die maßgeblich mit dem Namen des berühmten Abtes Regino von Prüm verknüpft ist. Das erklärt auch, dass bis heute die Karolingerzeit in der Forschungsliteratur eindeutig überwiegt.2 Ansonsten findet das Kloster wenig Interesse. Selbst die heute noch in Prüm verehrten hochbedeutenden Christusreliquien, die Sandalen des Erlösers, haben nicht wirklich zu nachhaltiger Aufmerksamkeit geführt und die prachtvollen Handschriftenstiftungen ­Kaiser Lothars, die von der wichtigen Rolle Prüms als Hauskloster der Karolinger und Grablege des Kaisers Zeugnis geben, befinden sich heute in der Berliner Staatsbibliothek. Auf diese wird s­ päter noch einzugehen sein. Doch nach dem Ende dieser glorreichen Epoche versinkt das Kloster anscheinend in provinzieller Bedeutungslosigkeit. Ganze zwei mit Illustrationen versehene Handschriften haben sich aus dem 10. und 11. Jahrhundert erhalten. Bei der älteren handelt es sich um ein Tropar, das sich heute in der Pariser Bibliothèque nationale befindet (Ms. lat. 9448).3 Die Handschrift verknüpft 1

2 3

Beispielsweise durch Anton von Euw in: Vor dem Jahr 1000. Abendländische Buchkunst zur Zeit der Kaiserin Theophanu, Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln, hg. v. Anton von Euw, Köln 1991, S. 152 als Vergleichsbeispiel zur Stabloer Sammelhandschrift mit dem Leben und den Wundern des hl. Remaklus, Staatsbibliothek Bamberg, Msc, Hist. 161. – Zu den Prümer Handschriften vgl. Ulrich Kuder: Studien zur ottonischen Buchmalerei [Habilitationsschrift 1989], hg. u. eingel. v. Klaus Gereon Beuckers (Kieler Kunsthistorische Studien N. F. Bd. 17), Kiel 2018, Bd. 1, S. 299 f. – Claudia Höhl: Ottonische Buchmalerei in Prüm (Europäische Hochschulschriften Reihe XXVIII Kunstgeschichte, Bd. 252), Frankfurt am Main 1996. – Susanne Wittekind: Überlegungen zum Prümer Tropar-Sequentiar, in: Bild und Text im Mittelalter, hg. v. Karin Krause und Barbara Schellewald (Sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst, Bd. 2), Köln 2011, S. 99 – 124. Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 11 – 15. Das betrifft auch die einzige neue Publikation: Bernd Isphording: Prüm. Studien zur Geschichte der Abtei (721 – 855) (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 116), Mainz 2005. Zum Weg der Handschrift nach Paris vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 28 – 31.

Prüm und Köln oder: ‚Notizen aus der Provinz‘ | 305

Tropierungen und Sequenzen, also kunstvolle musikalische und textliche Erweiterungen, mit den Messgesängen des Graduale, eine ungewöhnliche Kombination, für die Parallelbeispiele fehlen. Überhaupt zeichnen sich Troparhandschriften durch sehr unterschiedliche Strukturen und Illustrationsfolgen aus,4 was auch damit zusammenhängt, dass die Handschriftenüberlieferung erst in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts, aber parallel an unterschiedlichen Orten einsetzt.5 Durch die Stifterinschrift auf fol. 48v kann die Handschrift mit den Äbten Hilderich (amt. 986 – 993) und Stefan (amt. 993 – 1001) verknüpft werden, ein Mönch namens Wicking wird als Auftraggeber genannt. Bei der zweiten Handschrift handelt es sich um ein Perikopenbuch in der John Rylands Library in Manchester, das von Abt Ruotpert (amt. 1026 – 1068) dem 1016 gegründeten Prümer Kollegiatsstift St. Marien geschenkt wurde.6 Trotz zahlreicher ikonographischer Bezüge z­ wischen diesen beiden Handschriften, die bei den Illustratoren der jüngeren die Kenntnis der älteren voraussetzen, wie beispielsweise die Miniaturen zum Pfingstfest zeigen, ist eine ‚Prümer Malerschule‘ nicht greifbar, genauso wenig lassen sich die Handschriften einfach an andere Manuskriptgruppen anschließen. Weder ein externer Herstellungsort noch irgendeine ‚Künstlerwanderung‘ können plausibel gemacht werden. Allenfalls die Stabloer Remaklusvita in Brüssel wurde mit dem Tropar stilistisch verknüpft.7 Der sehr spezifisch an Prümer Bedürfnisse angepasste Inhalt des Tropars inklusive Illustrationsfolge macht auch für diese Handschrift eine Entstehung am Ort sehr wahrscheinlich. Im Kontext der umfangreichen Literatur zur Kunst und vor allem Buchmalerei ottonischer Zeit tauchen die Prümer Manuskripte immer wieder meist am Rande auf, vom Kölner Ausstellungskatalog Rhein und Maas 1972 bis zu Band 1 der Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland 2009.8 Ausführlicher für ikonographische Vergleiche wurde das Tropar von Christoph Winterer bei seiner Untersuchung des Fuldaer Sakramentars in Göttingen herangezogen, denn der Zyklus ist außerordentlich bemerkenswert.9 Das betrifft bereits den Umfang mit immerhin 29 zum Teil mehrszenigen Miniaturen mit neutestamentlichen Szenen zu den Hochfesten sowie zu den Heiligenfesten, beispielsweise zu Stephanus 4 Einen Überblick gibt Wittekind 2011 (wie Anm. 1), S. 100 – 107. 5 Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 97 – 100. 6 Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 101 – 103. 7 Vgl. Rhein und Maas. Kunst und Kultur 800 – 1400, Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln, hg. v. Anton Legner, Köln 1972, Kat. Nr. C 13, S. 186 (Anton von Euw) und im zugehörigen Aufsatzband Köln 1973, S. 346 u. 360 sowie erneut in Kat. Köln 1991 (wie Anm. 1), S. 152. 8 Kat. Köln 1972 (wie Anm. 7). – Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd 1: Karolingische und ottonische Kunst, hg. v. Bruno Reudenbach, München 2009, Kat. Nr. 136, S. 360 – 361 (Andrea Schaller). 9 Christoph Winterer: Das Fuldaer Sakramentar in Göttingen. Benediktinische Observanz und römische Liturgie (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, Bd. 70), Petersberg 2009, S. 99, 319 – 322, 324 – 325, 327, 330 – 332, 334, 336 – 341, 344, 347, 349 – 350, 352 – 353, 355, 357 – 361, 364, 370 – 371 u. 474 – 476.

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Abb. 86: Tropar aus Prüm, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 9448, fol. 4v: Geburt Christi.

und Mauritius. Aus Prüm ist in nur zwei Manuskripten also sehr viel unterschiedlicheres Bildmaterial als in allen Kölner Handschriften erhalten. Dort liegt der Schwerpunkt bei den illustrierten Evangeliaren und der durchaus zukunftsträchtige Bereich der Heiligenfestillustrationen fehlt völlig, auch in den am Kirchenjahr orientierten Sakramentaren. Das geht auch anders, wenn man sich die Fuldaer Handschriften ansieht. Bemerkenswert ist aber auch die durchwachsene Qualität der Illustrationen, die sicher mit dazu beigetragen hat, dass das Tropar bis heute in der Forschung eher ein Schattendasein fristet. Dasselbe gilt für das Perikopenbuch mit seiner ungewöhnlichen Technik, die Federzeichnung und Deckfarbenmalerei verknüpft. Also eben doch nur Provinz? Nichtsdestoweniger gibt es Bezüge zu ganz unterschiedlichen karolingischen und ottonischen Objektgruppen, so zu Metzer Elfenbeinen oder zur Reichenau, wie der Vergleich des Pfingstbildes aus den Prümer Manuskripten mit der Illustration des Poussay-Evangelistars (Bibliothèque nationale

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Paris, Ms. lat. 10514) belegt.10 Und auch Handschriften der ottonischen Kölner Buchmalerei lassen sich mit den Prümer Manuskripten verknüpfen. Bereits Peter Bloch und Hermann Schnitzler hatten die Darstellung der Geburt Christi im Tropar (Abb. 86) unter dem Vergleichsmaterial zum Sakramentar von St. Gereon (Bibliothèque nationale Paris, Ms. lat. 817) (Abb. 77) abgebildet.11 Die Manuskripte hängen zusammen, aber wie, das ist die Frage, die im Zentrum der folgenden Ausführungen steht – und es gibt darauf keine einfachen Antworten. Zunächst stellt sich grundlegend die Frage, ­welche Bedeutung das Kloster Prüm im 10. und 11. Jahrhundert hatte und besonders, wie es mit ­anderen Konventen, aber auch den weltlichen Eliten vernetzt war, auch vor dem Hintergrund m ­ öglicher Beziehungen nach Köln.

* Kloster Prüm lag in einem nördlichen Zipfel Oberlothringens z­ wischen Trier und Köln. Die schwierige Phase der Normannenstürme am Ende des 9. Jahrhunderts überstand es trotz angeblicher Plünderung und Ermordung von Konventsmitgliedern offenbar ohne größere Besitzverluste. Noch 919 erreichte der Konvent eine Bestätigung seiner Güter und Privilegien durch den Karolinger Karl den Einfältigen.12 Mit dem Ende der karolingischen Herrschaft verlor dann aber die Prümer Mönchsgemeinschaft eine wichtige Grundlage ihrer Bedeutung und Selbsteinschätzung, die Funktion als Hauskloster der karolingischen stirps regia. Erhalten blieben aber der wirtschaftliche Wohlstand, die engen Verbindungen zum lothringischen Adel und die Vernetzung mit anderen bedeutenden Klöstern, zu denen bereits seit dem 9. Jahrhundert enge Beziehungen gepflegt wurden.13 Dazu gehörten beispielsweise die Reichenau, St. Gallen und Remiremont, bezeichnenderweise kommen in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts St. Maximin und Echternach sowie am Beginn des 11. Jahrhunderts Fulda hinzu.14 Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit spiegelt sich im Index Loricatorum, so problematisch die Quelle auch ist, der immerhin für Prüm 40 zu stellende Panzerreiter vorsieht, ebenso viele wie für Hersfeld und St. Gallen. Erfolgreich betrieben die Prümer Äbte eine Arrondierungspolitik der K ­ losterbesitzungen im Eifel-Mosel-Raum, wozu auch die Veräußerung von Streubesitz, beispielsweise am Niederrhein gehörte. An diesen Vorgängen war auch die Herrscherfamilie, und darunter 10 Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 193 – 199. – Zum Poussay-Evangelistar vgl. umfassend Thomas Labusiak: Die Ruotprechtgruppe der ottonischen Reichenauer Buchmalerei. Bildquellen, Ornamentik, stilgeschichtliche Voraussetzungen (Denkmäler Deutscher Kunst), Berlin 2009, Kat. Nr. 2, S. 329 – 335 u. passim. 11 Peter Bloch / Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, 2 Bde., Düsseldorf 1967/70, Bd. 2, S. 95 u. 100. 12 Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 15. 13 Zur Situation Prüms in ottonisch-salischer Zeit vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 16 – 22. 14 Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 18 – 20.

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Otto III., beteiligt. Auch ansonsten war man politisch keineswegs abgehängt und es lohnt sich, auch einmal den Blick auf die Zeit vor 950 zu lenken. 921 wurde der Prümer Abt Richar (amt. 899 – 921) Bischof von Lüttich (amt. 921 – 945).15 Bei der Gelegenheit nahm er die berühmte Metzer komputistisch-astronomische Aratea-Handschrift (heute Biblioteca nacional Madrid, Ms. 3307) aus Prüm mit sich, die dort für die Eintragung der Prümer Annalen genutzt worden war.16 Mit Personen wie Richar rücken die im Moselraum und am Rhein präsenten Adelsfamilien als wichtige Bindeglieder über die Grenzen von Diözesen und Herzogtümern hinweg in den Blick. Richar, Sohn des Grafen Adalhard von Metz aus der einflussreichen Sippe der Matfriedinger, war mit den führenden Kreisen des Reiches vernetzt. Sein Bruder war mit der Schwester König Heinrichs I. (amt. 919 – 936) verheiratet und Richar betrieb erfolgreich die Einsetzung seines Neffen Wikfried als Erzbischof von Köln (amt. 924 – 953),17 der seit 941 als Erzkanzler und seit 950 als Erzkaplan für ­Kaiser Otto I. (amt. 936 – 973) fungiert.18 935 weihte Wikfried die ­Kirche im bergischen Haan den Heiligen Chrysanth und Daria, die dafür erforderlichen Reliquien dürfte er aus Prüm bezogen habe.19 Chrysanth wurde dann in der Neugründung Erzbischof Bruns von Köln in (Mönchen-)Gladbach einer der besonders wichtigen Heiligen. Und in der Eifel waren durchaus auch Kölner Heilige von Interesse: Gereon findet sich in der gesonderten Heiligenlitanei des Tropars und s­ päter im Perikopenbuch neben Gereon auch Kunibert.20 Fünfzig Jahre s­ päter nahm dann K ­ aiser Heinrich II. (amt. 1002 – 1024) direkten Einfluss auf die Personalpolitik in Prüm mit seiner Berufung Immos von Gorze (amt. 1003 – 1006) als Abt des Eifelklosters und er veranlasste, dass der Prümer Mönch Berno Abt auf der Reichenau (amt. 1008 – 1048) wurde, derselbe, der seinen berühmten Tonarius dem Kölner Erzbischof Pilgrim (amt. 1021 – 1036) widmete, mit dem ihn möglicherweise eine persönliche Freundschaft verband. Die Identifizierung des in der Stifterinschrift des Tropars genannten Abtes Stephan als Abkömmling der Grafen von Saffenburg weist auf das Ahrtal als Herkunftsregion 15 Art. Richer. Bischof von Lüttich, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München 2002, Sp. 829 f. (Michel Bur). 16 Zu den Prümer Annalen vgl. Lothar Boschen: Die Annales Prumienses. Ihre nähere und weitere Verwandtschaft, Düsseldorf 1972. 17 Vgl. Winfried Glocker: Die Verwandten der Ottonen und ihre Bedeutung in der Politik. Studien zur Familienpolitik und zur Genealogie des sächsischen Kaiserhauses (Dissertationen zur mittelalterlichen Geschichte, Bd. 5), Köln 1989, Stammbaum IV, S. 423. 18 Zu der politisch folgenreichen Ämterzusammenführung vgl. Franz-Josef Verscharen: Köln im Zeitalter der Ottonen, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und des Westens an der Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin, hg. v. Anton von Euw und Peter Schreiner, 2 Bde., Köln 1991, Bd. 1, S. 71 – 87, insb. S. 76. 19 Vgl. Harro Vollmar: Bemerkungen zur mittelalterlichen Geschichte der Siedlung Haan, in: Zeitschrift des bergischen Geschichtsvereins 87 (1974/1976), http://www.zeitspurensuche.de/02/hakirce3. htm [28. November 2022] mit Abbildung des erhaltenen Grundsteins. 20 Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 105.

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und damit erneut auf die die Suffragangrenzen überschreitenden Vernetzungen der Adelsfamilien, aus denen sich Konvente wie Prüm zusammensetzten. In Heinrichs II. Auftrag erfolgt 1003 auch die Erstellung eines Schatzverzeichnisses in Prüm, das als älteste Quelle auch das Tropar erwähnt und den Schmuck des Einbands mit (heute verlorenen) Elfenbeintafeln hervorhebt. Diese prachtvolle Ausstattung der Handschrift und ihre Nennung in der Reihe der kostbaren liturgischen Bücher und besonders der Stiftungen K ­ aiser Lothars unterstreichen den Rang, den diese Handschrift im Konvent hatte. Sie ist keine Zusammenstellung liturgischer Gesänge für den Hausgebrauch, sondern stellt den Gesang als höchste Form der Gottesverehrung in der Liturgie neben die Handschriften mit dem Gotteswort, Bibel, Evangeliare und Lektionare.21 Also doch nicht nur Provinz. Prüm ist einer der Orte, die wie die Reichenau für eine weitgehend kontinuierliche Weiterentwicklung im 10. Jahrhundert stehen und die traditionelle Vorstellung vom rabiaten Bruch der Reichsteilung 919 und einen angeblich ­diesem vorausgehenden Niedergang relativieren. Prüm bewahrte ein reiches karolingisches Erbe, auch an Handschriften. Das Kloster war ein Zentrum der liturgisch-musikalischen Entwicklungen der Zeit und besonders in d ­ iesem Bereich von weit überregionaler Bedeutung. Und Prüm war erstklassig mit den lothringischen Schwerpunkten Trier (St. Maximin), Echternach, Stablo, Lüttich und Köln sowie traditionell dem Bodenseeraum vernetzt.22 Vielleicht erklärt bereits diese Situation, dass man in Prüm Zugriff auf ein großes Text- und Motivrepertoire hatte und sich in den Handschriften Parallelen zu ganz unterschiedlichen Gruppen aufzeigen lassen, eben auch zur Kölner Buchmalerei. Die sichere Datierung mit einem Beginn der Herstellung vor 993 macht das Tropar zudem zu einem sehr interessanten Orientierungspunkt bei den nach wie vor aktuellen Fragen der zeitlichen Einordnung der Kölner Handschriftengruppen. Vergleiche lassen sich naheliegend primär mit den Handschriften der ‚Malerischen Gruppe‘ anstellen, die umfangreiche neutestamentliche Szenenfolgen zu bieten haben, also dem Hitda-Codex und dem Sakramentar aus St. Gereon, wobei für beide Handschriften ausgehend von den komplexen theologischen Gedanken der Bildtituli von sehr individuell angepassten Bildformulierungen auszugehen ist. Dennoch lohnt sich der ikonographische Vergleich der Prümer und Kölner Szenenfolgen.

* Ganz am Anfang des Prümer Tropars steht vor den Messgesängen zum Weihnachtsfest die Darstellung der Verkündigung an Maria (Abb. 87).23 Der schlechte Zustand der gesamten 21 Vgl. Mittelalterliche Schatzverzeichnisse, Bd. 1: Von der Zeit Karls des Großen bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, bearb. v. Bernhard Bischoff (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München, Bd. IV/1), München 1967, S. 79 – 81. 22 Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 18 – 22. 23 Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 132 – 138.

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Abb. 87: Tropar aus Prüm, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 9448, fol. 1v: Verkündigung und Heimsuchung.

ersten Lage dürfte mit dem Verlust der Buchdeckel zusammenhängen. Bei Eintreffen in der Bibliothèque nationale 1803 wurde ­dieses Fehlen ausdrücklich notiert.24 Die Verkündigung ist in einer doppelzonigen Miniatur mit der Heimsuchung kombiniert, wie es bereits Werke der karolingischen Kunst zeigen, etwa das Diptychon von Genoels-Elderen in Brüssel.25 Allerdings ist die Bildformulierung eine andere: Maria wird thronend vor einer rahmenden Architektur gezeigt. Sie hält in der linken Hand eine Spindel, greift also das bereits im Protevangelium des Jakobus formulierte Motiv des Purpurspinnens auf. Die rechte Hand hat sie in Richtung auf den schwungvoll herantretenden Engel ausgestreckt, der von einer linear abgegrenzten Mandorla hinterfangen wird. Im Prümer Perikopenbuch (Abb. 88) fehlt die Verknüpfung mit der Heimsuchung, die Miniatur ist dem Fest Annuntiatio voran­ gestellt. Thronmotiv und Spindel werden wiederholt, ebenso das deutliche Schrittmotiv 24 Vgl. Anm. 3. 25 Vgl. Adolph Goldschmidt: Die Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karolingischen und sächsischen ­Kaiser. VIII. bis XI. Jahrhundert, 4 Bde., Berlin 1914/1926 [ND 1969], Bd. 1, Kat. Nr. 2.

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Abb. 88: Perikopenbuch aus Prüm, John Rylands University Library Manchester, Lat. Ms. 7, fol. 124v: Verkündigung.

des Engels, der sogar noch etwas stärker nach vorne geneigt ist. Die Mandorla fehlt, das Wolkengebilde oben, das eher an vergleichbare Motive wie im Evangelistar Barberini 711 (Bibliotheca Apostolica Vaticana, Barb. lat. 711) erinnert, könnte eine Variante des Motivs sein.26 Abweichend zum älteren Manuskript ist eine Mauerringrahmung für die ganze Szene eingefügt. Die Gesamtkomposition der Prümer Variante entspricht am ehesten dem Aethelwold-Benedictionale und seinen Metzer Quellen.27 Die etwas merkwürdige Architektur im Tropar wirkt fast wie eine wenig geglückte Kombination aus Stadtkulisse und Baldachinarchitektur. Das Buchpult fehlt und trotz sehr ähnlicher Flügelhaltung wirkt der Engel in der angelsächsischen Handschrift deutlich statischer. Der schwungvoll herantretende Engel geht letztendlich auf spätantike Formulierungen der Szene wie das Mosaik in

26 British Library London, Add MS 49598, fol. 3v. Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 137 mit Abb. 4. – Zum Aethelwold-Benediktionale vgl. Robert Deshman: The Benedictional of Aethelwold (Studies in Manuscript Painting, Bd. 9); Princeton 1995. 27 British Library London, Add MS 49598, fol. 3v. Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 137 mit Abb. 4. – Zum Aethelwold-Benediktionale vgl. Robert Deshman: The Benedictional of Aethelwold (Studies in Manuscript Painting, Bd. 9), Princeton 1995.

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Porec zurück,28 findet sich aber auch in den beiden Kölner Zyklen.29 Übereinstimmend mit dem Tropar überschneidet der rechte Fuß des Engels den Bildrahmen. Das Eindringen der himmlischen in die irdische Sphäre, im Tropar durch die Mandorla angedeutet, wird in den Kölner Handschriften ungleich dramatischer gesteigert (Abb. 15 u. 71). Die Figur der Gottesmutter wird in Köln völlig anders gestaltet, immer stehend, im Profil. Zumindest im Sakramentar aus St. Gereon ist der Thron, von dem sie sich gerade erhoben hat, noch im Bild zu sehen, im Hitda-Codex fehlt er. Auffallend ist aber, dass anders als beispielsweise im Aethelwold-Benedictionale in Prüm und in Köln Giebel- und Turmarchitekturen über Maria eingefügt sind. Auf diese Versatzmotive wird noch einzugehen sein. Übereinstimmungen ­zwischen dem Prümer Tropar und Kölner Miniaturen zeigen auch die Illustrationen zur Geburt Christi.30 Im Tropar (Abb. 86) ist diese Szene erneut in eine größere integriert, die sich über zwei Seiten erstreckt. Den höchst ungewöhnlichen Darstellungen des Kaisers Augustus und des Statthalters Quirinus als Initiatoren der Volkszählung auf fol. 4r schließt sich auf fol. 4v die Reise nach Bethlehem an, gefolgt von der Geburtsdarstellung und zwei thronenden Evangelisten oder Propheten im untersten Bildfeld. Die Bildformulierung für die Geburtsszene im Tropar folgt einem letztlich bereits frühchristlichen Bildschema. Die Gottesmutter wird liegend gezeigt auf einem nur angedeuteten matratzenartigen Lager, ihre seitlich ruhenden Hände sind kaum sichtbar, das Kind liegt parallel zur ­Mutter in einer gemauerten Krippe mit Bogengliederung. Hinter der Krippe befinden sich Ochs und Esel, letzterer blickt aus einer Bogenöffnung der Hintergrundarchitektur heraus. Von Joseph, der Maria gegenüber angeordnet ist und den Kopf in die Hand stützt, ist nur der Oberkörper zu sehen, da die ganze Szene durch einen Mauerring nach vorne geschlossen ist. Tore, Türme, Kuppeln und Giebel umrahmen das Bild und markieren sozusagen den Ort Bethlehem als Stadt Davids sehr prominent, ganz anders als es etwa das Evangelistar Barberini 711 oder die Fuldaer Sakramentare zeigen, auch wenn letztere dasselbe Grundpersonal zeigen, wie die Bamberger Handschrift (Staatsiblio­thek Bamberg, Ms. Lit. 1). Dieselben Versatzstücke gibt es bereits auf dem Lorscher ­Buchdeckel und auch im Poussay-Codex, dort allerdings wie in der Bamberger Handschrift ohne Architekturelemente.31

28 Abb. bei Gertrud Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 1, Gütersloh 1966, S. 272, Nr. 72. 29 Vgl. Christoph Winterer: Das Evangeliar der Äbtissin Hitda. Eine ottonische Prachthandschrift aus Köln, Miniaturen, Bilder und Zierseiten aus der Handschrift 1640 der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Darmstadt 2010. – Ulrich Kuder: Der Hitda-Codex im Zusammenhang der Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640). Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013, S. 89 – 111, zur Verkündigung S. 97 – 99. 30 Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 139 – 153 u. 229 – 232. 31 Vgl. Winterer 2009 (wie Anm. 9), S. 325 – 330.

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Im Prümer Tropar ist in der Szenenabfolge nach der betonten Einführung des Themas Volkszählung und der erst dadurch bedingten Reise nach Bethlehem diese Hervorhebung durchaus folgerichtig. Über der Architektur ist noch ein durch Punktrosetten angedeuteter Sternenhimmel sichtbar. Im Kölner Sakramentar von St. Gereon (Abb. 77) ist die Grundanordnung von Maria und Joseph durchaus vergleichbar, die Hände der Gottesmutter sind allerdings verhüllt, das Kind ist der M ­ utter gegenüber angeordnet, dahinter wieder Ochs und Esel, die hier beide aus Rundbogenöffnungen schauen, der architektonische Unterbau der Krippe fehlt und auch die zwei Engel am Kopfende des Lagers der Gottesmutter unterscheiden sich von der Formulierung des Tropars. Auch fehlt das Element der aufgestützten Hand bei Joseph. Die Architekturangabe mit Türmen und Giebeln ist nur oberhalb und hinter der Krippe eingefügt, während vorne malerische Erdschollen- oder Felsen angegeben sind.32 Im Hitda-Codex werden dieselben Versatzstücke ebenfalls variiert mit Maria auf dem Lager, wieder mit verhüllten Händen, aber im Vergleich zum Sakramentar seitenverkehrt und vom Kind abgewandt. Dafür ist das Kind wie in Prüm parallel angeordnet und Joseph diesmal rechts am Bildrand eingefügt, aber mit derselben Orientierung nach rechts und wie in Prüm mit aufgestützter Hand, aber ohne Nimbus. Dem angedeuteten Erdschollengrund unten entspricht eine über das obere Bilddrittel laufende Giebel- und Turmarchitektur mit Arkaden und Oculi. Für diese Motivkombination hat Christian Schuffels Vergleichsbeispiele aus anderen Werken ottonischer Kunst von der Regensburger Buchmalerei bis zur Christussäule in Hildesheim zusammengestellt,33 wobei allerdings die Ausgestaltung mit den kunstvoll übereinander gestaffelten und schräggestellten Dach- und Giebelarchitekturen im Tropar und den Kölner Handschriften sehr auffallend übereinstimmen. Noch schwieriger gestalten sich Vergleiche bei der Szene der Darstellung im Tempel.34 Bereits die beiden Prümer Miniaturen folgen unterschiedlichen Modellen (Abb. 89 u. 90). Im Tropar liegt der Fokus auf der Übergabe des Kindes an Simeon vor dem Tempel. Maria und Simeon, der mit verhüllten Händen heraneilt, halten das Kind gemeinsam. Der mit einem Nimbus ausgezeichnete Joseph folgt dahinter mit den beiden Tauben und oberhalb der Gottes­mutter ist von einer weiteren Frau, vielleicht Hanna, nur der Kopf zu sehen. Der Tempel erscheint als Gebäude mit Giebel im oberen Bildteil. Nicht nur das bekrönende Kreuz, sondern vor allem der im Inneren sichtbare Altar mit Standkreuz und Kreuzfahnen kennzeichnet das Gebäude als christlich. Im Perikopenbuch hält der von zwei Männern begleitete Simeon das Kind über einem zentral angeordneten Altar, ihm gegenüber steht die Gottesmutter mit zwei Begleiterinnen und präsentiert selbst die Tauben. Eine Mauerringarchitektur mit Mittelkuppel oder Baldachin sowie einem hängenden Radleuchter rahmt das Ganze. Am 32 Vgl. Bloch / Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 11), S. 95. 33 Christian Schuffels: Rundbogenfenster und Oculus. Beobachtungen zu einem Bildmotiv im Evangeliar der Äbtissin Hitda, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 28), S. 129 – 141. 34 Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 154 – 162.

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Abb. 89: Tropar aus Prüm, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 9448, fol. 28r: Darstellung im Tempel.

unteren Bildrand wird ein Landschaftsstreifen mit Ranken und Vögeln angedeutet, ein aus dem touronischen Repertoire entnommenes Motiv. Die Miniatur im Hitda-Codex zeigt wie das Tropar die Begegnung und Übergabe des Kindes vor dem Tempel.35 Der übergroß gezeigte Simeon tritt aus einem großen Bogen heraus, darüber erhebt sich der Tempel mit Giebel und Türmchen. Joseph, hier ohne Nimbus, übergibt das Kind mit verhüllten Händen, dahinter steht die Gottesmutter mit den beiden Tauben, ebenfalls auf verhüllten Händen. In voller Figur sind hinter ihr zwei Begleiterinnen zu sehen, darüber von zwei Männern nur die Köpfe. Auch hier betreffen die Parallelen Einzelelemente. Maria mit den Tauben und den beiden Frauen passt trotz der abweichenden Handhaltung zum Perikopenbuch, die Giebelarchitektur im oberen Bilddrittel erinnert eher an das Tropar, auch wenn es hier nur eine Abbreviatur ist. 35 Vgl. Winterer 2010 (wie Anm. 28), S. 52.

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Abb. 90: Perikopenbuch aus Prüm, John Rylands University Library Manchester, Lat. Ms. 7, fol. 139v: Darstellung im Tempel.

Ähnlich verzwickt gestaltet sich der Vergleich der Illustrationen zum Osterfest.36 In beiden Prümer Handschriften (Abb. 91)37 und in Köln (Abb. 76) sitzt der Engel mit Stab in frontaler Haltung rechts auf der querliegenden Verschlussplatte des Grabes. In Köln und im Prümer Perikopenbuch sind die Wächter zu Füßen des Engels angeordnet, in Köln werden sie aber wach gezeigt. Auf den theologischen Kontext zum Titulus des Sakramentars, mit dem diese ikonografische Variante zu erklären ist, kann hier jetzt nicht weiter eingegangen werden. Das eigentliche Grab mit dem schwebenden Leichentuch ist im Perikopenbuch hinter und im Tropar oberhalb des Engels positioniert. In Köln könnte die Rahmung der gesamten Szene mit Mittelgiebel als Andeutung des Grabes interpretiert werden. Das Tuch liegt verschlungen hinter dem Engel. In beiden Prümer Handschriften sind es drei nimbierte Marien mit dem Salbgefäß auf verhüllter Hand, im Tropar übereinander, im Perikopenbuch hintereinander gestaffelt, dort zusätzlich außerdem mit Rauchfässern ausgestattet. Im Sakramentar aus St. Gereon sind es nur zwei ohne Nimbus und Salbgefäße, dafür mit dramatischen Gesten als Reaktion auf das unfassbare Geschehen der Auferstehung. 36 Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 171 – 182. 37 Abb. der Miniatur des Prümer Perikopenbuches bei Höhl 1996 (wie Anm. 1), Kat. Nr. 15.

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Abb. 91: Tropar aus Prüm, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 9448, fol. 33r: Frauen am Grabe.

Noch viel mehr Unterschiede z­ wischen Prüm und Köln betreffen auch die Illustrationen zu den Festen Christi Himmelfahrt und Pfingsten.38 Bei den Himmelfahrtsdarstellungen in den Prümer Handschriften schreitet oder schwebt Christus frontal mit ausgebreiteten Armen nach oben, Maria ist an zentraler Stelle positioniert umgeben von den Aposteln (Abb. 92). Letztere werden im Tropar in bewegtem Dialog gezeigt, im Perikopenbuch dagegen statisch gereiht. Dort sind zwei den untenstehenden Zeugen zugewandte Engel eingefügt, ein Motiv, das in Köln ganz zentral die Bildgliederung dominiert, mit zwei großen nach außen gewandten Engeln in der Bildmitte unterhalb des schreitenden Christus, dessen rechte Hand bereits von der Hand Gottes ergriffen ist (Abb. 72).

38 Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 182 – 203.

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Abb. 92: Tropar aus Prüm, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 9448, fol. 45v: Himmelfahrt Christi.

Geprägt durch die Theologie der Tituli ist auch die aus zwei Miniaturen bestehende Illus­ tration des Pfingstfestes im Pariser Sakramentar (Abb. 75).39 Auf die eigenständige Darstellung der Völkerschaften unter dem Himmelssegment mit Flammen folgt die Darstellung der Apostel in einer Reihe, darüber die Geisttaube und die Einzelflammen sowie oben Giebel­ architekturen als Andeutung des geschlossenen Raumes. In den Prümer Handschriften (Abb. 93) sind die Apostel auf zwei Reihen übereinander verteilt und die in Köln fehlende Maria ist prominent in der Mitte der oberen Reihe platziert, Mittelgiebel und flankierende Türme markieren das Gebäude, im Perikopenbuch wieder durch den obligatorischen 39 Vgl. Joshua O’driscoll: Anmerkungen zum Verhältnis von Bild und Titulus im Sakramentar aus Sankt Gereon und im Hitda-Codex, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 28), S. 113 – 127, zum Pfingstfest. S. 124 – 126.

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Abb. 93: Tropar aus Prüm, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 9448, fol. 49r: Pfingsten.

Mauerkranz nach vorne geschlossen. Die Prümer Grundkomposition geht auf Reichenauer Quellen à la Poussay-Evangelistar zurück.40 Auch nicht ergiebiger ist ein abschließender Vergleich der nur im Tropar vorkommenden Darstellungen der Taufe Christi im Jordan und des Kanawunders mit dem Hitda-Codex.41 Zunächst verknüpft das Tropar (Abb. 94) beide Szenen und vorangestellt ist zudem die Anbetung der Könige, wie es bereits Elfenbeine karolingischer Zeit zeigen. Das Zusammenziehen der Szenen Epiphanie, Taufe und Hochzeit zu Kana spiegelt aber auch die traditionelle Lesefolge, wie sie beispielsweise im Evangelistar Barberini 711 mit genau diesen Szenen auf einer Seite zusammengestellt zu

40 Vgl. Anm. 10. 41 Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 260 – 276.

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Abb. 94: Tropar aus Prüm, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 9448, fol. 26v: Taufe Christi und Hochzeit zu Kana.

finden ist.42 Bei der Taufe selbst wird in Prüm Wert auf die traditionellen Engel mit bereitgehaltenen Tüchern gelegt. Der Wellenberg wird von flankierenden Hügeln gerahmt und der Jordan hat zwei Quellen, die durch zwei symmetrisch angeordnete Personifikationen illustriert sind, im Hitdacodex ist es ein am unteren Bildrand liegender Flussgott und Johannes der Täufer erscheint anders als im Tropar im härenen Büßerkleid. Die Darstellung des Kanawunders wird im Hitdacodex durch den links stehenden Christus dominiert, der die Anweisung zum Füllen der Krüge gibt, während im Tropar ein Diener bereits mit dem Ausgießen des Wassers beschäftigt ist und die Gottesmutter in der Bildmitte als Dialoggegenüber zu Christus eine im wörtlichen Sinne zentrale Position einnimmt. Im Prümer Perikopenbuch fehlen diese Szenen ohnehin. Vergleichbar ist allenfalls 42 Vgl. Kat. Köln 1991 (wie Anm. 1), Kat. Nr. 26, S. 107 – 109 mit Abb. 85 (Anton von Euw).

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Abb. 95: Tropar aus Prüm, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 9448, fol. 68r: Hl. Laurentius.

die Kreuzigung.43 Man kann aber am Original die Grundkomposition noch erkennen, die ähnlich wie in den Kölner Manuskripten die Reduktion auf den Gekreuzigten ­zwischen Maria und Johannes zeigt, und auch die Handhaltung der Gottesmutter mit den verhüllten Händen ist vergleichbar. Insgesamt bleibt der Befund bei der Betrachtung der gemeinsamen Szenen im Bildprogramm sehr durchwachsen. Die Prümer und die Kölner Handschriften verbinden weniger direkte Parallelen in Bezug auf die Gesamtkomposition als vielmehr Einzelelemente konservativer Prägung, die letztlich auf Frühchristliches und darauf basierende karolingische Variationen zurückgehen. Vor allem bei den Szenen der Verkündigung an Maria und der 43 Die Miniatur ist heute übermalt, die Komposition lässt sich am Originalblatt aber noch erkennen. Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 351 – 353.

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Abb. 96: Tropar aus Prüm, Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 9448, fol. 55r, Martyrium der Apostelfürsten Petrus und Paulus.

Geburt Christi sind ­solche Elemente zu beobachten. Auffallend sind aber andere Versatzstücke, die Streifengründe, die ‚malerische‘ Gestaltung von Landschaftselementen und besonders die Architekturen. Die oft linearen Streifengründe werden im Tropar beispielsweise bei der Darstellung des stehenden Laurentius (Abb. 95) verwendet, vergleichbar mit der Szene der und die Heilung des Mannes mit der verdorrten Hand im Hitda-Codex (Abb. 15).44 Bei der Gestaltung der Landschaft und Erdschollen sind das Martyrium von Petrus und Paulus (Abb. 96) mit derselben Miniatur der Kölner Handschrift vergleichbar. Ähnliches findet sich auch in Mainzer Manuskripten wie dem Sakramentar im Mainzer Domschatz (Cod. Kautzsch Nr. 4).45 Dass hier auf ähnliche, letztlich karolingische Quellen 44 Zur Ikonographie der Szene vgl. Winterer 2010 (wie Anm. 28), S. 57. 45 Vgl. Kat. Köln 1991 (wie Anm. 1), Kat. Nr. 22, S. 97 – 99 (Rolf Lauer).

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zurückgegriffen wurde, erstaunt nicht. Die Kölner Handschriften und das Prümer Tropar tendieren allerdings stärker zu einer Linearisierung und unterscheiden sich darin von den Mainzer Beispielen. Die Vorliebe für phantasievoll übereinander gestaffelte Giebel- und Kuppelarchitekturen mit und ohne Tore, Arkaden oder Oculi verbindet das Tropar mit den Kölner Illustrationen (Abb. 86 u. 87).46 Nicht zuletzt auch die Ausführung mit den Weißhöhungen zur Strukturierung der Kuppeln passt und erlaubt die Frage, ob die Ausführenden der Prümer Handschrift so etwas in Köln gesehen haben könnten oder vielleicht umgekehrt? Ähn­liches gilt für die Streifengründe, Erdschollen und Wolkengebilde. Es sind weniger konkrete ikonografische Zusammenhänge als eine doch vergleichbare Gestaltungsabsicht, die einen Bezug offensichtlich erscheinen lassen. Noch etwas zu erweitern ist das Thema eventueller Bezüge durch die Frage, was denn ansonsten in Prüm geboten wurde, was zu den karolingischen Evangeliaren führt, die sich heute in Berlin befinden. Mit den Stichworten Tours für theol. lat. fol. 733 und Reims und der Hofschule K ­ aiser Lothars für theol. lat. fol. 260 kommen zwei Manuskriptgruppen ins Spiel, die für Prüm und Köln aber auch für Trier, Stichwort ‚Gregormeister‘, relevant waren. Bereits Thomas Labusiak hatte auf s­olche Inspirationsbereiche als Quelle für die Bildgestaltung der Kölner Handschriften hingewiesen.47 Das betrifft die Evangelisten- und Majestasbilder, aber auch Einzelelemente wie die Pünktchendekore.48 Im Perikopenbuch lässt sich die selektive Weiterverwendung von Einzelmotiven sehr schön am Beispiel der Evangelistensymbole aufzeigen, die direkt aus dem touronischen Evangeliar kopiert sind. Rainer Kahsnitz hatte auch auf die Rundbilder zu den Incipitseiten der Evangelien in theol lat. fol. 733 hingewiesen, als eine der möglichen Inspirationsquellen für die Medaillonbilder beim ‚Gregormeister‘ und in Köln.49 Das aus heutiger Sicht in der tiefsten Provinz liegende Kloster Prüm profitiert von seiner Lage und historisch gewachsenen Vernetzungen. Man hat Zugriff auf ein umfangreiches und sehr diverses Vorlagenmaterial. Dessen Qualität lassen die Berliner Handschriften nur erahnen. Inwiefern man in den sogenannten Zentren Trier oder Köln von diesen in Prüm vorhandenen älteren Handschriften profitierte, ist nicht sicher zu klären. Die Bezüge zu Metzer Elfenbeinen sowie zur Buchmalerei des Bodenseeraums, wie dem Codex Barberini 711 und zur Ruodprechtgruppe, passen gut zur Datierung der Handschrift und zu den traditionellen Verbindungen des Konvents.

46 Vgl. Höhl 1996 (wie Anm. 1), S. 395. 47 Thomas Labusiak: Zum Stil des Hitda-Codex, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 28), S. 75 – 87. 48 Zu den Majestasbildern Winterer 2010 (wie Anm. 28), S. 38 mit Abb. 20. 49 Rainer Kahsnitz: Ein Bildnis der Thephanu? Zur Tradition der Münz- und Medaillonbildnisse in der karolingischen und ottonischen Buchmalerei, in: von Euw / Schreiner 1991 (wie Anm. 18), Bd. 2, S. 101 – 134, zum touronischen Evangeliar aus Prüm S. 120 mit Abb. 16.

Prüm und Köln oder: ‚Notizen aus der Provinz‘ | 323

Zwischen Köln und Trier mit engen Kontakten nicht nur zur Reichenau, sondern zu Klöstern wie St. Maximin in Trier oder Stablo und ebenso zum Bischofssitz in Lüttich spiegeln die Prümer Handschriften einen im Kern lothringischen Kulturraum. Die Lage an der Grenze ­zwischen Nieder- und Oberlothringen und die personellen Verquickungen sind eine Erklärungsmöglichkeit dafür, dass man in Prüm auch über die neuesten Kölner Trends informiert war und diese Elemente im eigenen Bausatzkasten verwendet hat. Man versucht in Prüm sozusagen, ‚malerisch‘ zu sein, allerdings ohne die Kölner Raffinesse zu erreichen.50 Zudem rezipierte man punktuell eine ganz unantike und weder in der ­Reichenauer noch Trierer Produktion aufgegriffene Verwendung von Architektur, beispielsweise bei der Volkszählung im Tropar (fol. 4r), die so nur in Kenntnis Kölner Buchmalerei rund um den Hitda-Codex verständlich ist. Zeitlich passt das mit einer Ansetzung der Kölner Manuskripte vor 990 ausgezeichnet zusammen. Die gesicherte Datierung des Tropars stützt daher die Frühdatierung der ‚Malerischen Gruppe‘. Keineswegs auszuschließen ist aber, dass ein Ort wie Prüm einen auch für Köln interessanten Materialfundus zu bieten hatte und nicht automatisch von einer einseitigen Beziehung auszugehen ist. Wer, wann und für wen Provinz war, ist daher gar nicht so eindeutig zu klären.

50 Dass sich ähnliches auch in Mainz beobachten lässt, passt geographisch ebenso wie zeitlich. Bezeichnenderweise wurde auch für die Mainzer Handschriften ein „Einfluss byzantinischer Kunst“ in Anspruch genommen. Vgl. Kat. Köln 1991 (wie Anm. 1), S. 98. – Zur Mainzer Buchmalerei vgl. zuletzt Klaus Gereon Beuckers: Zur Mainzer Buchmalerei unter Erzbischof Willigis (amt. 975 – 1011), in: In Gold geschrieben. Zeugnisse frühmittelalterlicher Schriftkultur in Mainz, Ausst. Kat. Dom- und Diözesanmuseum Mainz, hg. v. Winfried Wilhelmy und Timo Licht (Publikationen des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums Mainz, Bd. 9), Regensburg 2017, S. 164 – 219.

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Eliza Garrison

Varietas and Ductus Ottonian Manuscript Illumination Around the Year 1000

In the decades between roughly 960 and 1024 in the Ottonian empire, the makers of illuminated books were responsible for an extraordinary amount of creative innovation that, in my estimation, anticipates artistic trends typically assigned to artworks made in later centuries. In this essay, I will attend to the significance of the medieval ideals of varietas and ductus, for they can help us make sense of the peculiarities of Ottonian aesthetics. I am primarily interested in making propositions that will help us articulate how the concerns of Ottonian artists were shared by artists working in other periods and in different cultural and religious traditions. To be sure, a comprehensive consideration of the importance of varietas and ductus in the Ottonian period would demand much more space than I have in the confines of this contribution, but I hope that this essay can enjoin us to reflect on issues that are vital to understand Ottonian manuscripts specifically and Ottonian artworks more generally. Regardless of the school of Ottonian bookpainting one is dealing with – be it Cologne, Reichenau, Corvey, Regensburg, or Echternach – in the Ottonian period manuscript illumination was a critically important tool for artists to visualize ideas about the role of the Word, the role of the Book, and the role of the artist as artifex. Such concerns were an outgrowth of the extraordinarily sophisticated intellectual culture that was cultivated at Ottonian convents and monasteries. While none of this is news to specialists, it is nonetheless worth reminding ourselves that books were of central cultural importance in the Ottonian period; luxury manuscripts had an enormous amount of heavy lifting to do. Indeed, the visual and material evidence makes clear that Ottonian artists and scribes were tasked with the creation of books that contained worlds within them.

Varietas and Ductus Among the most important aspects of Ottonian artmaking, particularly as it pertains to illuminated manuscripts, is the fact that illuminated books were often imagined (and created) as simulated spaces that contained simulated materials. Artists who were active at each of the major schools of illumination in the Ottonian period staged these spaces and

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encounters a bit differently, and they did so as a way to showcase their abilities as makers and to assist viewers in connecting with the sacred messages conveyed in the books they made. I will first attend to the terms varietas and ductus in order to examine how these aesthetic ideals enhanced the ways in which reader/viewers could engage with a manuscript’s visual program. I will then move into a discussion of the ways in which medieval artists imbued their illuminated cycles with different spatial modes before shifting to a more focused ­analysis of ‘textile spatiality’ in relation to the ductus and varietas of the Uta Codex (Bayerische Staatsbibliothek Munich, Clm 13601).1 In the luxury manuscripts that are the focus of this volume, the space of the illuminated page was imagined as a link between our material reality and varied realms beyond. Bruno Reudenbach has shown that the architectonic format of Canon Tables visually established the multivalent space of the book;2 his analysis can assist us in imagining a gospel book’s contents as a storehouse or a treasure – indeed as a space with varied rooms and structures that one can take in and apprehend exactly in the terms that Mary Carruthers has outlined in her numerous studies on the praxis of memoria in the Middle Ages.3 Furthermore, the singular, dazzling, and complicated visuality of Ottonian illuminated books can be understood in relation to the term varietas, which was a critically important aesthetic criterion in the Middle Ages, and one which William Diebold has discussed in relation to Carolingian writing about artistic media.4 The medieval meanings of varietas come close to its usage in present-day English, and yet in the Middle Ages, the term could 1

‘Textile Spatiality’ is a term Patricia Blessing uses in reference to Tristan Weddigen’s scholarship on the significance of textiles in architectural spaces and as constructive of architectural space. See P ­ atricia Blessing: Draping, Wrapping, Hanging. Transposing Textile Materiality in the Middle Ages, in: The Textile Museum Journal 45 (2018), p. 3 – 21, p. 14, n. 45. – See in particular Tristan Weddigen: Textile Spaces, Interior and Exterior, in: Display of Art in the Roman Palace, 1550 – 1750, ed. by Gail Feigenbaum et al., Los Angeles 2014, p. 162 – 165. – Tristan Weddigen: Space, in: Textile Terms: A Glossary, ed. by Anika Reineke et al., Emsdetten 2017, p. 234 – 237. 2 Bruno Reudenbach: Der Codex als heiliger Raum. Überlegungen zur Bildausstattung früher Evangelienbücher, in: Codex und Raum, ed. by Stephan Müller, Lieselotte E. Saurma-Jeltsch and Peter Strohschneider (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, vol. 21), Wiesbaden 2009, p. 59 – 84. – For the „Bildhaftigkeit“ of Canon Tables in Cologne book illumination see recently Klaus Gereon Beuckers: Zum Typus der Kölner Kanontafeln im 10./11. Jahrhundert und ihren Vorbildern. Am Beispiel des Evangeliars aus St. Maria ad Gradus (Diözesanblibliothek Köln Hs. 1001a), in: Mittelalterliche Handschriften der Kölner Dombibliothek. Siebtes Symposion, ed. Harald Horst (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen ­Kirchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, vol. 70), Cologne 2018, p. 15 – 62. 3 Mary Carruthers: The Book of Memory: A Study of Memory in Medieval Culture (Cambridge Studies in Medieval Literature, vol. 10) Cambridge 1990. – Mary Carruthers: The Craft of Thought: Meditation, Rhetoric, and the Making of Images, 400 – 1200 (Cambridge Studies in Medieval Literature, vol. 34) Cambridge 2000. 4 William Diebold: Medium as Message in Carolingian Writing About Art, in: Word and Image 22 (2006). p. 196 – 201, esp. p.197.

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also describe a work’s visual effect and appearance as well as its participation in notions of affect and rhetorical persuasion.5 Diebold’s work has shown that the Carolingians used the term to refer to the dynamic and pleasing mixture of colors and materials. Speaking more broadly, in ancient and medieval artworks, it was varietas that could appropriately enhance a work’s ductus, which, as Mary Carruthers has explained, is the way in which an artwork or a piece of writing leads a reader/viewer through itself, and allows one to “move within its structures, an experience more like traveling through stages along a route than like perceiving a whole object.” 6 Although this essay focuses on illuminated manuscripts, these aesthetic ideals can help us understand the design challenges involved in the making of works like the Reliquary of St. Andrew in Trier (Cathedral Treasury Trier), or the rich and evocative coordination we see in artworks like the Lothar Cross (Cathedral Treasury Aachen) and the Gospels of Otto III (Bayerische Staatsbibliothek Munich, Clm 4453), to name just a couple of examples.

Donors and Patrons as Guides The ideals of varietas and ductus can help us better understand the varied and dynamic donor portraits we see in Ottonian illuminated manuscripts as our guides in the spaces of the illuminated page. In these terms, the common visual device of showing the donor presenting her book to a sacred figure enjoins us to not only imagine ourselves doing the same thing, but it also is a visual cue – and here I think the donor portrait in the Hitda Codex serves as a nice example – to understand the book’s cycle of illumination as a spiritual itinerary of sorts (Abb. 97). On the surface this is a mundane point, but when it comes to books created for cloistered or semi-cloistered women, such visual devices were of critical importance; they are suggestive of the extended uses of liturgical books for purposes of personal devotion. In the donation scene in the Hitda Codex, Abbess Hitda stands just between the reader/viewer and Saint Walburga as she and the saint both grasp the codex that links their figures. Just as much as Saint Walburga is made visually available to us as viewers, it is Hitda with whom we might be asked to identify here. On fol. 2v of the Milan Gospels (Biblioteca Ambrosiana Milan, C 53 sup.), we see a variation on this theme: a book links the donors (monks or canons) who present their manuscript to a towering clerical figure at the center of the image; 5 Mary Carruthers: ‘Varietas’. A Word of Many Colors, in: Poetica 41 (2009), p. 11 – 32 – Mary Carruthers: The Experience of Beauty in the Middle Ages (Oxford-Warburg studies), Oxford 2013, p. 135 – 164. In her recent work Beth Williamson: Reliquary Tabernacles in Fourteenth-Century Italy: Image, Relic, and Material Culture (Boydell Studies in Medieval Art and Architecture, vol. 20), Woodbridge 2020, p. 152 – 174, has taken on varietas in relation to 14th century reliquary tabernacles. 6 Mary Carruthers: Rhetoric Beyond Words: Delight and Persuasion in the Arts of the Middle Ages (Cambridge studies in medieval literature, vol. 78), Cambridge 2010, p. 190.

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Abb. 97: Hitda Codex, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640, fol. 6r: Dedication.

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Abb. 98: Uta Evangelistar, Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 13601, fol. 1v/2r: Dedication.

Abb. 99: Uta Evangelistar, Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 13601, fol. 2v/3r: Crucifixion and Saint Erhard celebrating the mass.

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the thrust of movement here is from left to right (Abb. 64). In the next illumination in this manuscript, the reader/viewer encounters a scene of Jerome presenting his clerical companion with a large scroll, and this left-right motion continues, guiding the reader/viewer into the book as they move from scene to scene. In the first two-page opening of the manuscript portion of the Uta Codex, we see Abbess Uta presenting her own golden codex to a seated, enthroned Mary and Child (Abb. 98). Uta’s figure becomes a proxy for our own encounter with the Word, and in this prefatory scene, her figure is of course situated between us and Mary and Child. In the next fully illuminated two-page opening, Uta’s figure has moved: she is perched in the upper right corner of an illumination of Erhard celebrating the Mass in the presence of a vivid Symbolic Crucifixion on the facing folio (Abb. 99). It seems significant to me that, in both the Hitda Codex and the Uta Codex, it is female figures who form a connection between the world outside the book and the worlds contained inside. Furthermore, the designers of both books capitalized on the allusive potential of the diptych-like format afforded by fully illuminated double-page openings. This, in turn, allowed for manuscripts like the Hitda Codex and the Uta Codex to be used in devotional contexts that are slightly more expansive than what we may normally assume. In all of these examples, donor figures are central to the ductus of the manuscript in question, and it is manuscripts that enable various ways for the faithful to come into contact with the divine.

Ductus, Varietas, and the Space of the Illuminated Book In designing a reader/viewer’s path through the spaces of an illuminated book, Ottonian artists often established these spaces as architectural; each illumination is presented as a site of divine encounter. Bruno Reudenbach has addressed the ways in which canon tables provided the logos with its own type of architecture; in this scenario, the interior spaces of the Word become a place for revelation. Mary Carruthers’s many studies of medieval thought and memory have considered the ways in which books themselves were understood to be storehouses and treasures of memory, and the contents and structure of one’s memory were imagined in architectural terms. In his study of canon tables and the space of the illuminated book, Reudenbach examined the canon tables of the Maria ad Gradus Gospels in Cologne (Erzbischöfliche Diözesanund Dombibliothek Cologne, Cod. 1001a) (Abb. 100). The visual emphasis on the bookas-building is central to this manuscript’s ductus and varietas. The illumination sequence in the Maria ad Gradus Gospels commences on fol. 1r with a porphyry-colored interior ‘cover’ that evokes the lid of a portable altar (Abb. 101).7 Fol. 1v reveals a colorful vision of 7

For the gospels of Maria ad Gradus see Klaus Gereon Beuckers: Das Prachtevangeliar aus Mariengraden. Ein Meisterwerk der salischen Buchmalerei aus Köln. Die Handschrift Cod. 1001a der Erzbischöflichen

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Abb. 100: Gospels of St. Maria ad Gradus, Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 1001a, fol. 7v: Canon Table.

Christ in Majesty, surrounded by the symbols of the four evangelists as well as the prophets Ezekiel, Daniel, Isaiah, and Jeremiah; the evangelists are paired with small codices and the prophets unfurl scrolls (Abb. 10). The play between the deep purple of the porphyry and the majestic vision of Christ on the verso visualizes Christ’s significance as the cornerstone of the Church; it is tempting to think of this connection in relation to Hrabanus Maurus’ Commentary on Exodus, in which he likens Christ’s body to an uncut altar stone.8 I am further struck by the strident use of registers or boxes to organize the figures of the ­prophets and the symbols of the evangelists in this image, for in combination with the recto of this folio, this illumination becomes an extension of that folio’s ‘porphyry’ expanse; by turning the page, we have uncovered a compartmentalized visual roster of the contents of the

8

Diözesan- und Dombibliothek Köln, Lucern 2018. – At the conference proceedings for this volume Joshua O’Driscoll noted the likelihood that the blank ‘porphyry’ on this folio was originally intended to contain a text that was never added. What this folio presents us with, then, is a ‘happy accident’ that was perhaps also understood as such by the people who made this manuscript. Diebold 2006 (as note 4), S. 198, n. 20, which refers to Hrabanus’ Commentatorium in Exodum libri quattuor, PL 108, column 107. Diebold notes that this passage is taken from Isidore of Seville, Quaestiones in Veterum Testamentarum, PL 83, col. 304.

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Abb. 101: Gospels of St. Maria ad Gradus, Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 1001a, fol. 1r: Empty page for inscription.

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Abb. 102: Gospels of St. Maria ad Gradus, Diözesan- und Dombibliothek Köln, Cod. 1001a, fol. 21v: St. Matthew.

Gospels. On the folio facing the Maeistas, the canon tables begin: if the Maiestas made clear the relationship that exists between book, body, and Logos, the architectonic format of the canon tables give a shape to that relationship. It is therefore meaningful that the Jerome miniature that visually closes out this sequence on fol. 8r appears as an extension of the architectonic forms of the final canon table on fol. 7v (Abb. 11). Susanne Wittekind has correctly observed that in this image the “regular, two-dimensional structure of the canon tables” is translated in the Jerome miniature into a “quasi-real built space, a realistic and regular architecture.”9 It is no surprise, then, that the architectonic articulation of the space of this book is elaborated further in the evangelist portraits (Abb. 102). This manuscript serves as an example of one of the central propositions of this essay: Ottonian manuscripts were understood as sites of revelation and as imagined spaces where the reader/viewer could come into contact with the divine. Just as much as the book could 9 Susanne Wittekind: Shifting Frames. The Mutable Iconography of Canon Tables, in: Canones. The Art of Harmony. The Canon Tables of the Four Gospels, ed. by Alessandro Bausi, Bruno Reudenbach and Hanna Wimmer (Studies in manuscript cultures, vol. 18), Berlin 2020, p. 209 – 149, p. 211. – See also Beuckers 2018 (as note 2), p. 34 f.

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offer itself up as a ‘house’ for the logos, it could also be designed as a virtual space for the viewer that drew from their experience of being in and moving through sacred spaces. It was for this reason, then, that we see the simulation of various precious and rare materials that are rendered in tactile, sensual terms that rely on our understanding of the manuscript as a kinetic object. Further, it explains why the simulated materials we encounter on the pages of Ottonian illuminated books could often be sturdy (like marble or porphyry), soft, and fluid (like silk), or organized with an armature of gold and gems (like a reliquary). Indeed, details in Ottonian illuminations often recall multiple materialities at once. Such contrasts and elisions were critical aspects of a work’s varietas and its ductus. The combination of simulated precious materials in combination with architectonic details established the tactility and permanence of the space of the book, which was also understood as Christ’s body. It therefore stands to reason that the elements comprising this body/space also be made of not only the most sumptuous materials but also be beautifully crafted.10 Visualizations of the book-body-building relationship abound in medieval manuscripts, and it is of course on majestic display in Gießen’s own Maiestas miniature on fol. 1v (Universitäts­ bibliothek Gießen, Hs. 660), and in the Mystical Mass / Crucifixion opening in the Uta Codex, in the Liuthar Gospels (Cathedral Treasury Aachen, Inv. Nr. 25) – the list goes on. The varied simulative qualities in each of these books and others enshrined the Word, verified its permanence, and allowed readers/viewers to occupy those spaces in their mind’s eye. Veridical concerns can help us come to terms with, for example, the use of pseudo-­ notarial display scripts in full-page tituli in Cologne-school manuscripts, and it can help us comprehend both their striking variety and the care that was taken with their appearance. The question remains as to whether the makers of these tituli were deliberately simulating notarial script and the notions of authenticity that such scripts afforded. Wherever we might stand in relation to this question, tituli and other types of texts limned in monumental capitals emphasized the tactility and structure of the book-as-building – they provided proof positive of its permanence and veracity.11 For medieval readers and viewers, epigraphic texts in churches – whether those were mounted on or inset into a wall or laid out in tesserae on a floor – were generally located at sites of liturgical significance, and, as Bente Kiilerich has pointed out, the messages they communicated were meant to be seen and reflected upon.12 In both cases, tituli and miniatures featuring display scripts are calls to the reader/viewer to pause and reflect. 10 David Ganz: Clothing Sacred Scriptures. Materiality and Aesthetics in Medieval Book Religions, in: Clothing Sacred Scriptures. Book Art and Book Religion in Christian, Islamic, and Jewish Cultures, ed. by David Ganz and Barbara Schellewald (Manuscripta Biblica, vol. 2), Berlin 2019, p. 1 – 46. 11 For a brief mention of the connections between epigraphy and notions of permanence, see ­Jeffrey Hamburger: Script as Image (Corpus van verluchte handschriften, vol. 21), Paris 2014, p. 33. 12 Bente Kiilerich: Visual and Functional Aspects of Inscriptions in Early Church Floors, in: Inscriptions in Liturgical Spaces, ed. by Kristin B. Aavitsland and Turid Karlsen Seim (Acta ad Archeologiam

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In fact, tituli and texts that simulate epigraphy are to be found just about everywhere in Ottonian manuscript painting once one begins to look, and this statement holds for many manuscripts deriving from all of the dominant schools. In the manuscript component of the Uta Codex, which is a book of pericopes organized not according to the liturgical year, but rather according to the gospels from which each pericope derives, the ornamented text pages placed at the beginning of each new section of pericopes serve a liminal function between the bright and lively openings containing an evangelist portrait on the left facing an incipit on the right (Abb. 103 u. 104). Here, the ornamented opening verse of a pericope from each gospel section is limned in shimmering gold capitals that are separated by broad painted bands simulating rare and precious materials such as porphyry and woven silk. To my mind, these sections announce a shift from the loquacious and ebullient openings (in which inscriptions cover the page and demand the reader/viewer to unlock and reflect upon their meanings) to the written sections of the pericopes, which are calm and solemn by contrast. In Joshua O’Driscoll’s analysis of the Quedlinburg Gospels from Corvey (Morgan Library New York, MS M.755), he highlights a tension between the evocation of monumental epigraphy as an “outside” text in a gospel Incipit, especially when it is paired with display scripts in the opening sections of the gospel text that demands a certain kind of interiority.13 O’Driscoll speaks of this contrast as akin to a staged revelation that unfolded in the process of reading and contemplation. I would add, that these transitions can also be understood as simulative in a phenomenological sense. For example, in the Uta Codex and in the Quedlinburg Gospels, we might think of the transition from the display scripts and simulated materials often used in opening sequences to the simpler scripts of the text as akin from moving from one space – or room, if you will – into the next. Cologne manuscripts of the ‘Malerische Gruppe’ typically do not stage transitions in this way. If the examples I just cited suggest an artistic impulse to assist the reader/viewer to move through the spaces of the book in their mind’s eye, the makers of the Hitda Codex (to name one example) designed the book’s mise-en-scene with a heightened theatricality and, as Joshua O’Driscoll has shown, with an emphasis on the status of the illuminations as pictures. This, I think, can help explain the high drama of the compositions in the Hitda Codex: particularly in the scenes devoted to Christ’s ministry, the compositions famously oppose Christ’s figure with various figures of the faithful. This approach creates space for the reader/viewer to contemplate the image alongside the accompanying titulus, allowing them to participate as a witness. In his examination of the tituli in the Sacramentary of St. Gereon and the Hitda Codex, Joshua O’Driscoll has noted the pointed and deliberate philosophical tone of the inscriptions et Artium Historiam Pertinentia, vol. 24), Rome 2019, p. 45 – 63, p. 46. 13 Joshua O’Driscoll: Visual Vortex. An Epigraphic Image from an Ottonian Gospel Book, in: Word and Image 27 (2011), p. 309 – 321, p. 314 – 316.

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Abb. 103: Uta Evangelistar. Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 13601, fol. 59v/60r: St. Luke and Incipit-Page Abb. 104: Uta Evangelistar. Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 13601, fol. 60v: Pericope.

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in the Sacramentary. For example, he has drawn attention to the use of the terms imaginativo and obumbratione that could call to mind the tension between the tangible and the intangible, between earthly and heavenly, and he proposes (I think rightly), that this is one way of understanding the dynamic painterly qualities of the Cologne School.14 The scenes of the Annunciation in both manuscripts stage this moment of the Incarnation in forceful ways (Abb. 71): in the earlier Sacramentary, the cave of the Annunciation is rendered in a rich green tone evocative of malachite, and the walls of the cave serve as a dramatic backdrop to this event. Mary has stood up from her throne at the right-hand side of the miniature, and raises her hands as she receives Gabriel’s message. In the Hitda Codex, Mary and Gabriel are positioned closely together, and the event takes place in an undefined space that is shot through with rich purple and pink tones. Their figures are separated by an undulating white band that highlights the drama of this episode, as if the unformed Logos is surrounding and entering Mary’s body. The contrast that the maker of this image created in paint is in line with the “brilliance of the invisible truth” proclaimed in the titulus accompanying the Maiestas miniature, which O’Driscoll examined in his dissertation in relation to the overall topos of christological light in this manuscript.15 At Cologne, the presence of varietas and ductus in that school’s corpus of illuminated manuscripts can be found in the staging of tituli and miniatures: on the one side, the veridical function of the text, and, on the facing page, an image that reveals some of the potentiality of the text. The rest, of course, was up to the viewer.

Textiles, Textility, and the Making of Space In earlier drafts of this essay, it was my plan to move here into a discussion of what I initially termed the ‘textility’ of Cologne-school manuscripts. In the process of writing, this was ultimately a preliminary way for me to come to terms with the Cologne School’s stylistic peculiarities. ‘Textility’ is a term taken from the world of Contemporary Art which characterizes artworks that draw from textiles and textile traditions, or artworks whose materiality and guiding concepts relate to textile traditions.16 The textile qualities of Ottonian illuminations vary from school to school, and yet ‘textility’ is of central importance in each 14 Joshua O’Driscoll: Anmerkungen zum Verhältnis von Bild und Titulus im Sakramentar aus Sankt Gereon und im Hitda-Codex, in: Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbiblio­ thek Darmstadt, Hs. 1640). Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, ed. by Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt, 2013, p. 113 – 128, p. 117 f. 15 Joshua O’Driscoll: Image and Inscription in the Painterly Manuscripts from Ottonian Cologne, Ph. D. Dissertation, Cambridge 2015, p. 218. 16 The co-curators of an exhibition at the New Jersey Center for the Visual Arts entitled Textility, Mary Birmingham and Joanne Matera, coined the term. Matera, who is also a practicing artist, offers a clear

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school. ‘Textility’ could enhance the varietas and ductus of the manuscripts and other objects in which it appears, and in a general sense it often keyed the reader/viewer to understand that it marked or signaled a liminal space. Anna Bücheler has shown in numerous studies that simulated textiles were integrated into illuminated spaces that had revelatory potential.17 For his part, Tristan Weddigen has discussed the ubiquity of textiles in medieval and early modern spaces; he reminds us that actual textiles would be viewed both in interior spaces but were also constructive of space.18 Simulated textiles could therefore evoke and help define the space of the book as tactile and tangible, something that was entirely fitting for an object that was understood as a container or treasure house for the logos. Like the other simulated materials one encounters in Ottonian illuminated manuscripts such as gemstones, metalwork, and enamels, simulated (and real) textiles created a tangible link between the world of the illuminated book and the real liturgical spaces beyond the book’s bounds. Indeed, the act of simulating precious materials was one way to prove the truth of God’s glory and to plumb its depths. In an artwork like the Uta Codex, whose multimedia design emphasized the interplay between its sumptuous box and the luxurious manuscript it houses, ‘textility’ is of the utmost importance. Moreover, both real and simulated textiles gave shape to a design concept that highlighted connections between Christ’s body and the book-as-logos, and suggestively linked the spaces of the Niedermünster Abbey to Christ’s body. The monumental golden figure of Christ in Majesty that graces the front of the book box that was made to contain the Uta Codex clutches a bejeweled codex to his left side, and raises his massive right hand in a gesture of blessing (Abb. 105). In formal terms, Christ’s figure heralds the luxurious golden aesthetic that characterizes the cycle of illumination in the manuscript component of the work. This scene is indeed so dramatic that it is easy to overlook the fact that Christ’s voluminous, embroidered tunic takes up much of the length of the cover, and its folds accentuate Christ’s physicality, as does the embroidered cushion upon which he sits. Indeed, it yields to the weight of his body. The Christ we see here is emphatically wrapped in and supported by sumptuous textiles; they give form to a body that takes up space and, as the illuminated portion of the Uta Codex reveals, is also a space itself. and concise explanation of the term on her blog. See https://joannemattera.blogspot.com/2012/01/ diverse-practices-common-threads.html [December 9, 2022]. 17 See in particular Anna Bücheler: Ornament as Argument. Textile Pages and Textile Metaphors in Medieval German Manuscripts (Zurich Studies in the History of Art, vol. 22), Berlin 2018. 18 Tristan Weddigen: Textile Spaces, Interior and Exterior, in: Display of Art in the Roman Palace, 1550 – 1750, ed. by Gail Feigenbaum et al., Los Angeles 2014, p. 162 – 165. – Tristan Weddigen: Space, in: Textile Terms: A Glossary, ed. by Anika Reineke et al., Emsdetten 2017, p. 234 – 237. – See also ­Patricia Blessing: Draping, Wrapping, Hanging. Transposing Textile Materiality in the Middle Ages, in: The Textile Museum Journal 45 (2018), p. 3 – 21, p. 14, n. 45.

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Abb. 105: Uta Evangelistar. Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 13601, fol. 60v: Buchkasten.

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The ‘textility’ that is announced on the cover of the Uta Codex once extended to the book box’s silk lining, of which only fragments remain; one set is blue, the other is orange and yellow, colors which are in keeping with the dominant color scheme of the illuminations in the manuscript component of the object. Karl-Georg Pfändtner’s examination of the Uta Codex has suggested that the manuscript may have had a textile binding, a detail that I think would be entirely in keeping with the rest of the work’s appearance (and it would have made practical sense).19 Significantly, the box’s lining – perhaps in addition to a textile binding – would have been a continuation of the emphatically ‘wrapped’ body of Christ in Majesty. That is, the users of the Uta Codex would have found another ‘wrapped’ body of Christ upon opening the box, and this body was the logos itself; the box therefore functioned like a reliquary, while the illuminated codex was imagined as a kind of relic.20 In the pages of the manuscript, these connections are elaborated in multivalent ways, some of which recent work of mine has discussed. In general, the designers of the manuscript portion of the Uta Codex created illuminations that could evoke numerous materials at once: goldsmithwork, enamel, silk, precious stones – the list goes on. Although I think that it is possible to say that a textile aesthetic and a general abundance of simulated textiles of various sorts are in evidence throughout the work (just as there is an aesthetic of wrought gold), it is on especially clear display on fol. 2r and 4r, the dedication scene, and that of Erhard’s Mystical Mass (Abb. 98 and 99). Among the many themes that are emphasized in both scenes, we see in each a particular emphasis on the connections shared between body, book, and the sacred spaces of the cloister; simulated luxury textiles are marshaled in each scene to make those connections. In the dedication scene, Abbess Uta offers her golden codex to figures of Mary and Child enthroned amidst the towers and crenellations of the heavenly city. Mother and son’s figures are swathed in a variety of precious textiles that contrast with Uta’s unadorned habit. The infant Christ in this scene echoes nearly exactly the posture and gesture of the golden Maiestas figure on the front of the book box: while the Christ child is turned slightly toward the Hand of God, this correlation obtains right down to the golden cloak that falls over his left shoulder and the golden codex he clutches to his chest. Decorative vertical bands that evoke sumptuous eastern textiles flank the scene and are fitted into its golden armature. Young and old unidentified female figures surround this scene; they respond to it in a range of gestures. Recent work of mine has proposed that what we see here in this emphatically 19 See Karl-Georg Pfändtner’s analysis of the textile lining and his thoughts about the textile binding in: Der Uta-Codex. Frühe Regensburger Buchmalerei in Vollendung, ed. by Karl-Georg Pfändtner and Brigitte Gullath, Lucerne 2012, p. 105. 20 For more on this connection, and for views of the textile fragments inside the case, see Eliza Garrison: The Golden Spaces of the Uta Codex, in: Illuminating Metalwork. Metal, Object, and Image in ­Medieval Manuscripts, ed. by Joseph Ackley and Shannon Wearing (Sense, Matter, and Medium, vol. 4), Berlin 2022, p. 303 – 332.

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female space is an idealized representation of the space of the cloister. In concert with the golden armature of the miniature and the various textiles on display within it, this image sets the stage for a visual program that celebrates the spaces of the abbey as extensions both of Christ’s own body and of the Heavenly city. We see this elaborated further on fol. 4r, in the dynamic miniature of Erhard’s Mystical Mass, which Uta observes from her privileged perch in the upper right corner of the illumination; she has been accepted into the spaces of the book she holds in the preceding opening. This scene is decidedly architectural, and the view is as if we are looking into the apse of the abbey church of Niedermünster. Textiles generally abound in this image, and here I would like to draw attention to the simulated textile at the painting’s lower left, which contains prancing winged horses framed by brightly colored roundels. This textile is a luxurious altar covering that supports a marble altar stone set into a gold frame. Here again, as on the case of the Uta Codex, we see textiles set into a close relationship with objects that were understood as representative of Christ’s body: an altar stone, a chalice and paten, Regensburg’s own Arnulf Ciborium, a shimmering votive crown, and, not least, a large golden codex that could be the Codex Aureus of St. Emmeram (Bayerische Staatsbibliothek Munich, Clm 14000), but could just as likely be a metapicture of the Uta Codex. This liturgical still life marks the altar as a site of transformation, and it is a testament to the power with which objects like the Uta Codex (or any of the artworks considered in this volume) were imbued. The ‘textile spatiality’ of the Uta Codex was central to its varietas and ductus; in concert, these elements not only helped its reader/viewers make their way through the book, but they also assisted them in situating themselves inside its various spaces. The creators of the Uta Codex took great pains to emphasize its sacred spatiality. Further, this work and the others discussed in this essay and in this volume allow us to think in new ways about the extraordinary amount of intellectual sophistication and self-awareness required of artists working at all of the dominant schools of illumination in the Ottonian period, responsible as they were for envisioning spaces that could bring reader/viewers closer to the divine.

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Jochen Hermann Vennebusch

Ottonische Resonanzräume karolingischer Kunst Die Werkgruppe des Thebäer-Elfenbeins und ihre Beziehungen zur Kölner Buchmalerei des 10. Jahrhunderts

„Durch diese Grausamkeit des schrecklichen Tyrannen ist also jenes Volk der Heiligen getötet worden, das die Wirklichkeit der gegenwärtigen Dinge gering geschätzt hat gegenüber der Hoffnung auf die zukünftigen. So ist jene engelsgleiche Legion vollkommen umgebracht worden, die, wie wir glauben, mit jenen Legionen der Engel schon immer im Himmel den Herrn Gott Zebaoth rühmt.“ 1 Mit diesen Worten spielte der Verfasser der Passio Acaunensium martyrum zum einen die von den Märtyrern der Thebäischen Legion verachtete zeitliche und irdische Gegenwart gegen die ewig währende Zukunft im Angesicht Gottes aus. Zum anderen deutete er an, dass der grausame Tod der Soldaten nur dazu geführt habe, dass die Glaubenszeugen nunmehr gemeinsam mit den Engeln Gott loben würden. Exakt den Moment, in dem die Angehörigen ­dieses Heeres, das um 300 im Wallis sowie der Legende nach in Köln der Christen­verfolgung zum Opfer gefallen ist, in die himmlische Ewigkeit aufgenommen werden, stellt das hochrechteckige Thebäer-Elfenbein dar, das auf dem Einband eines Buchdeckels aus dem Museum Schnütgen in Köln prangt (Inv. Nr. B 98).2 Diese stark plastisch durchgebildete Arbeit bildet das zentrale Stück einer aus vier Elfenbeinen bestehenden Gruppe, die deutliche Parallelen zu den Miniaturen der ‚Malerischen Gruppe‘ der ottonischen Kölner Buchmalerei aufweist. Die ikonografischen und motivischen, schließlich auch die stilistischen Bezüge dieser Reliefs auf die Darstellungen in den Evangelienbüchern, zu denen

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Die Forschung für diesen Beitrag wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder – EXC 2176 ‚Understanding Written Artefacts: Material, Interaction and Transmission in Manuscript Cultures‘, Projektnr. 390893796. Die Forschung fand am Centre for the Study of Manuscript Cultures (CSMC) an der Universität Hamburg statt. Passio Acaunensium Martyrum, in: Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici et antiquorum aliquot (MGH SS rer. Mer. III), hg. v. Bruno Krusch, Hannover 1896, S. 20 – 41, hier S. 37 [11]: „Hac igitur crudelitate inmanissimi tyranni confectus est ille sanctorum populus, qui contempsit rem praesentium ob spem futurorum. Sic interfecta est illa plane angelica legio, quae, ut credimus, cum illis angelorum legionibus iam conlaudat semper in caelis dominum Deum Sabaoth.“ Zum Einband vgl. Frauke Steenbock: Der kirchliche Prachteinband im frühen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Beginn der Gotik, Berlin 1965, Kat. Nr. 45, S. 124.

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auch das Gießener Evangeliar (Universitätsbibliothek Gießen, Hs. 660) zählt, in den Blick zu nehmen und in ­diesem Zusammenhang auch die bisher angenommenen Datierungen sowie Einflüsse zu überprüfen, ist Gegenstand des folgenden Beitrags.

* Bei dem auch als ‚Viktor-und-Gereon-Tafel‘ bekannten Elfenbein handelt es sich um eine 17,7 × 9,8 cm messende hochrechteckige Tafel, die in einen noch fragmentarisch erhaltenen, in der jüngeren Literatur auf das 12. Jahrhundert datierten Buchdeckel eingesetzt ist (Abb. 106). Auf der (heutigen) Rückseite sind noch die Spuren der Abarbeitung eines wohl im 5. oder 6. Jahrhundert entstandenen Reliefs mit der Darstellung Christi ­zwischen den Aposteln Petrus und Paulus erkennbar (Abb. 107).3 Im späten 10. Jahrhundert wurde die Tafel gewendet und die Szene der Glorifizierung der heiligen Gereon und Viktor auf der ehemaligen Rückseite eingeschnitzt.4 3

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Zur heutigen Rückseite vgl. Wolfgang Fritz Volbach: Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittel­alters, Mainz 31976, Kat. Nr. 136, S. 91. – Zur Umarbeitung der Elfenbeintafel vgl. Susanne Wittekind: Die mittelalterliche Verwendung spätantiker Elfenbeine, in: Persistenz und Rezeption. Weiterverwendung, Wiederverwendung und Neuinterpretation antiker Werke im Mittelalter (Zakmira-Schriften, Bd. 6), hg. v. Susanne Wittekind und Dietrich Boschung, Wiesbaden 2008, S. 285 – 318, hier S. 299 – 301. Zur Elfenbeintafel vgl. Franz Bock: Das heilige Köln. Beschreibung der mittelalterlichen Kunstschätze in seinen K ­ irchen und Sakristeien aus dem Bereiche des Goldschmiedehandwerkes und der Paramentik. Städtisches Museum, Leipzig 1858, S. 11 – 13. – Adolph Goldschmidt: Die Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karolingischen und sächsischen K ­ aiser VIII.-XI. Jahrhundert, Bd. 2, Berlin 1918, Kat. Nr. 47, S. 27. – Hermann Schnitzler: Alte Kunst im Schnütgen-Museum, Essen 1956, Kat. Nr. 9, S. 15. – Hermann Schnitzler: Rheinische Schatzkammer. Tafelband, Düsseldorf 1959, Kat. Nr. 23, S. 27. – Steenbock 1965 (wie Anm. 2), Kat. Nr. 45, S. 124. – Das Schnütgen-Museum. Eine Auswahl, hg. v. Hermann Schnitzler, Köln 41968, Kat. Nr. 5, S. 20 f. – Rhein und Maas. Kunst und Kultur 800 – 1400, Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln, hg. v. Anton Legner, Köln 1972, Kat. Nr. E 10, S. 205 (Anton von Euw). – Danielle Gaborit-Chopin: Elfenbeinkunst im Mittelalter, Berlin 1978, Kat. Nr. 80, S. 194. – Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik in Köln, Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln, hg. v. Anton Legner, 3 Bde., Köln 1985, Bd. 2, Kat. Nr. E 32, S. 238 – 241 (Jörg-Holger Baumgarten). – Wolfgang Christian Schneider: Christus Victor in der Roma Caelestis. Antike Siegesmotivik im ottonischen Kölner ‚Thebäer-Elfenbein‘, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-­ Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin, hg. v. Anton von Euw und Peter Schreiner, 2 Bde., Köln 1991, Bd. 1, S. 227 – 250. – Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, Ausst. Kat. Domund Diözesanmuseum und Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim, hg. v. Michael Brandt und Arne Eggenberger, 2 Bde., Mainz 1993, Bd. 2, Kat. Nr. IV-55, S. 224 f. (Rainer Kahsnitz). – Otto der Große, Magdeburg und Europa. Ausst. Kat. Kulturhistorisches Museum Magdeburg. Bd. 2, hg. v. Matthias Puhle, Mainz 2001, Kat. Nr. IV-83, S. 312 – 314 (Hiltrud Westermann-Angerhausen). – Manuela Beer: Kölner Elfenbeinarbeiten des Mittelalters: von den Anfängen bis zum Ausklang der Romanik, in: Glanz und Größe des Mittelalters. Kölner Meisterwerke aus den großen Sammlungen der Welt, Ausst. Kat. Museum Schnütgen, hg. v. Dagmar Täube und Miriam Verena Fleck, München 2011, S. 62 – 81, hier S. 65 – 67. – Täube / Fleck 2011 (wie oben), Kat. Nr. 1/2, S. 247 f. (Manuela Beer). – Géza Jászai: De

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Abb. 106: Christus segnet Gereon und Viktor (sog. Thebäer-Elfenbein), Köln vor 1000, Museum Schnütgen Köln, Inv. Nr. B 98.

Abb. 107: Christus ­zwischen Petrus und Paulus, abgearbeitete Rückseite des Thebäer-Elfenbeins, Trier 6. Jahrhundert, Museum Schnütgen Köln, Inv. Nr. B 98.

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Exakt auf der Mittelachse thront der bartlose und daher jugendlich wirkende Jesus Christus, der mit einem weiten, bis zu den Füßen reichenden Gewand mit vorne offenem, mantelartigen Überwurf bekleidet ist, die beide in regelrechten Faltenkaskaden im Bereich der Arme und des Schoßes herabfallen. Vor seinem Bauch scheint das mit einem Prachteinband ausgestattete Buch des Lebens regelrecht zu schweben, da es von den locker drapierten Gewandfalten nur leicht eingefasst wird und kaum in die Stoffbäusche einsinkt. Für eine enorme Plastizität sorgen die voluminösen und teilweise sogar tief hinterschnittenen Faltenwürfe, die jedoch von oben nach unten immer kleinteiliger werden und schließlich durch die sich unter ihnen abzeichnenden Glieder die Körperhaftigkeit des Protagonisten betonen. Als Sitz dient Christus der Kosmos, der durch einen mit feinen, punktförmigen Vertiefungen versehenen Ring angedeutet wird. Seine Füße ruhen leicht versetzt auf der Weltkugel, die wiederum von einer wohl achteckigen, als christliche Adaption antiker Darstellungen der Ikonografie der Siegesgöttin Victoria und der römischen ­Kaiser gedeuteten Säule getragen wird.5 Diese Säule steht auf dem unteren, schräg nach innen geneigten Reliefrand und ragt vorne leicht über ihn hinaus. Hinter Christus erscheint eine Mandorla mit darin eingetieften Sternen und dem hinter seinem Haupt aufragenden Kreuznimbus. Diese Glorie wird von zwei als Halbfiguren gezeigten Engeln gehalten, die aufgrund ihrer stark zur Mitte geneigten Körperhaltung als fliegend oder schwebend gekennzeichnet sind und deren Flügel die Zwickel z­ wischen der Mandorla und den beiden oberen Ecken ausfüllen. Zu beiden Seiten Christi steht unterhalb der Engel je ein Märtyrer der Thebäischen Legion, die durch eine aller Wahrscheinlichkeit nach ursprüngliche Majuskel-Inschrift in dem jeweiligen Nimbus als S. GEREON zu seiner Rechten und S. VICTOR zu seiner Linken bezeichnet sind und die Mandorla leicht überschneiden. Während sie sich dem jugendlichen Weltenrichter zuwenden, halten sie in ihrer zum seitlichen Rand weisenden Hand einen Palmzweig, der die Kurvatur der von den Heiligen teilweise verdeckten Gloriole aufgreift. Der leicht oberhalb von ihnen thronende Christus berührt mit den Händen ihre mit helmartigen Kronen versehenen Häupter, sie selbst legen je eine Hand an seine auf der Weltkugel ruhenden Füße. Ihre in ruhigen und nur im Bereich der Unterarme deutlicher akzentuierten Falten herabfallende Chlamys wird vor der Brust durch eine runde Fibel geschlossen. Je neun weitere, nun namentlich jedoch nicht bezeichnete Begleiter, wohl Gefährten der Thebäischen Legion, sind mit weit geöffneten Augen in drei Dreierreihen unterhalb gloria martyrum. Zum ottonischen Elfenbeinrelief mit der Glorifikation der Thebäischen Märtyrer, in: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 66 (2013), S. 295 – 300 (mit kriti­ schem Forschungsüberblick). – Museum Schnütgen. Handbuch zur Sammlung, hg. v. Moritz Woelk und Manuela Beer, München 2018, Kat. Nr. 19, S. 46 f. (Moritz Woelk). – Klaus Gereon Beuckers: Das Prachtevangeliar aus Mariengraden. Ein Meisterwerk der salischen Buchmalerei. Die Handschrift Cod. 1001a der Erzbischöflichen Diözesan und Dombibliothek Köln, Luzern 2018, S. 44 f. 5 Vgl. Schneider 1991 (wie Anm. 4). – Beer 2011 (wie Anm. 4), S. 66 f. – Woelk / Beer 2018 (wie Anm. 4), S. 47.

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von Gereon und Viktor gezeigt. Sie sind in der Regel durch einen Nimbus ausgezeichnet und halten in ihren Händen Palmzweige. Indem nur die vordersten Märtyrer als Halb­ figuren ausgearbeitet wurden, von den weiteren Angehörigen des Heeres hingegen nur die Köpfe immer leicht versetzt gestaffelt sind, erzeugte der Bildschnitzer eine räumliche Tiefe, die noch durch die leicht über den Rand vorgezogene Stellung der Säule unterhalb des Thrones Christi gesteigert wird. Das trotz seiner nur geringen Stärke von sechs Millimetern ungemein plastisch durchgebildete Relief, das etliche Hinterschneidungen aufweist, zählt zu den Spitzenwerken der Kölner Elfenbeinschnitzerei an der Schwelle zum zweiten nachchrist­lichen Jahrtausend. Die Entstehung in Köln gilt aufgrund der prominenten Hervorhebung der heiligen Viktor und Gereon als sicher. Vermutlich gehörte die Tafel von Anfang an zum Schatz des Kanonikerstiftes St. Gereon, wo es in einem Inventar aus dem Jahre 1370 nachweisbar ist. Dort wird ein Bucheinband erwähnt, „der in der Mitte eine Elfenbeintafel trägt, auf der Christus dargestellt ist, der auf dem Thron sitzt und die Märtyrer Gereon und Victor krönt“.6 Der zu einem unbekannten Zeitpunkt seines Edelsteinbesatzes beraubte Buch­deckel gehörte vermutlich zu einem Evangeliar oder Evangelistar, worauf die abgewandelte Ikonografie der Maiestas Domini auf der Elfenbeintafel hindeuten könnte. Die vermutlich älteste erhaltene Tafel der ottonischen Elfenbeinschnitzerei in Köln gelangte aus der Kölner Sammlung Hüpsch in das Hessische Landesmuseum in Darmstadt (Inv. Nr. Kg 54:209) und wird in der Regel auf die Zeit ­zwischen 960 und 980 datiert. Sie misst 21 × 11,7 cm (Abb. 108).7 Auch hier thront der erneut bartlos und jugendlich dargestellte Christus auf dem Kosmos, der als leicht unregelmäßiger Ring dargestellt ist. Seine Füße stehen versetzt auf einem leicht schräggestellten Suppedaneum, das durch die perspektivische Darstellung dem Relief zusätzlich Tiefe verleiht. Zu der regelrecht strengen Bildwirkung tragen seine frontale Ausrichtung sowie die Positionierung exakt auf der Mittel­achse bei, die durch einen in die obere und untere Rahmenleiste übergehenden, vertikal hinter der Mandorla verlaufenden Steg hervorgehoben wird. In seiner linken Hand hält er den aufgeschlagenen Liber vitae, mit der rechten vollzieht er einen Segensgestus. Ein horizontaler Steg, der teilweise in die Rahmen dieser Arkaden übergeht, bildet mit dem dominierenden Vertikalbalken eine Kreuzfiguration, deren Schnittpunkt im Brustbereich des Weltenrichters liegt. Auf jedes Teilstück dieser Balken ist ein einsilbiges Wort 6 7

Urkundenbuch des Stiftes St. Gereon zu Köln, hg. v. P. Joerres, Bonn 1893, S. 453: „habentem in medio tabulam eburneam in qua habetur Christus sedens in solio coronans Gereonem et Victorem martires“. Zur Elfenbeintafel vgl. Hermann Schnitzler: Die Inkunabeln der Kölner Elfenbeinplastik, in: Beiträge zur Kunst des Mittelalters: Vorträge der ­Ersten Deutschen Kunsthistorikertagung auf Schloß Brühl 1948, Berlin 1950, S. 112 – 118, hier S. 113. – Kat. Köln 1972 (wie Anm. 4), Kat. Nr. E 8, S. 204 (Anton von Euw). – Die mittelalterlichen Elfenbeinarbeiten des Hessischen Landesmuseums Darmstadt, Ausst. Kat. Kunstgewerbemuseum Berlin, hg. v. Theo Jülich, Regensburg 2007, Kat. Nr. 14, S. 89 f. – Beer 2011 (wie Anm. 4), S. 64. – Kat. Köln 2011 (wie Anm. 4), Kat. Nr. 1, S. 247 f. (Manuela Beer). – Beuckers 2018 (wie Anm. 4), S. 45.

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Abb. 108: Maiestas Domini mit den vier Evangelisten und den Animalia, Köln um 985, Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Inv. Nr. Kg 54:209

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mit Selbstcharakterisierungen Christi aus dem Johannesevangelium eingeschnitten, die schließlich von Abt Angilbert von Saint-Riquier (verst. 814) für sein Epitaph kompiliert wurden: Während auf dem Vertikalbalken LVX (Licht) oben und LEX (Gesetz) unten zu lesen ist, steht PAX (Friede) zur Linken und REX (König) zur Rechten Christi.8 Durch die dominierende Kreuzformation wird die Tafel in insgesamt vier Christus umgebende Kompartimente geteilt, die von den Evangelisten mit ihren zugehörigen Symbolwesen eingenommen werden. In diesen Darstellungen nehmen Bücher eine zentrale Rolle ein, denn es halten nicht nur sämtliche sich der Mitte zuwendenden Animalia einen geöffneten Codex, sondern auch die Evangelisten sind damit beschäftigt, die ihnen eingegebene Offenbarung in den vor ihnen liegenden Büchern festzuhalten. Neben den Evangelistensymbolen tragen auch die Anfangsworte der jeweiligen Evangelien dazu bei, die vor Velen oder Vorhängen sitzenden Evangelisten identifizieren zu können. So wird zur Rechten des Weltenrichters Johannes (IN PRINCIPI[o] ) mit dem Adler gezeigt, das Kompartiment darunter nehmen Matthäus (LIBER G[enerationis] ) und der Engel ein, zur Linken Christi sind Lukas (FUIT IN DI [ebus]) und der Stier oberhalb von Markus (VOX CLA [mantis] ) und dem Löwen dargestellt. Im Vergleich zum Thebäer-Elfenbein besitzt diese Tafel mit acht Millimetern eine deutlich geringere Stärke, wodurch das Elfenbein kaum tiefere Hinterschneidungen aufweist. Daher erscheint es plastisch deutlich flacher, so dass die Körperproportionen breiter und flächiger wirken. Die dominierenden Parallelfalten werden durch Einschnitte gebildet, die von den Säumen erzeugten Faltenkaskaden hingegen durch stärkere Einkerbungen. Indem die Stege und Rahmen ebenfalls deutlich durch abgeschrägte Kanten konturiert sind, erhält das Relief eine räumliche Tiefe, die durch die geschickten Staffelungen hervorgehoben wird. Erkennbar ist dies beispielsweise an den Evangelisten, die vor einer Vorhangdraperie an einem Schreibpult sitzen, auf dem ein perspektivisch gezeigter geöffneter Codex liegt. Auf diese Weise gelingt es dem Schnitzer, trotz der geringen Stärke des Elfenbeins verschiedene räumliche ‚Schichten‘ aufeinander folgen zu lassen. Aufgrund der Bohrlöcher an den vier Ecken der Tafel ist davon auszugehen, dass sie ehemals montiert war, möglicherweise auf einem Bucheinband, wobei es nahe liegt, dass es sich wegen der Darstellung der den Weltenrichter umgebenden vier Evangelisten und ihrer Symbole um ein Evangeliar oder Evangelistar handelte. Auf um 980 wird die Elfenbeintafel mit den Maßen 28,5 × 18,6 cm im Museum für Angewandte Kunst in Köln (Inv. Nr. B 2b) datiert (Abb. 109).9 Leicht von der Mittelachse nach links verschoben thront der lehrende Christus inmitten der Zwölf Apostel. Trotz des 8 9

Zu den in die Leisten eingeschnittenen Worten vgl. Robert Favreau: Rex, lex, lux, pax. Jeux de mots et jeux de lettres dans les inscriptions médiévales, in: Bibliothèque de l’École des chartes 161 (2003), S. 625 – 635. Zur Elfenbeintafel vgl. Schnitzler 1950 (wie Anm. 7), S. 112 f. – Schnitzler 1968 (wie Anm. 4), Kat. Nr. 7, S. 21 f. – Kat. Köln 1972 (wie Anm. 4), Kat. Nr. E 9, S. 205 (Anton von Euw). – Beer 2011 (wie Anm. 4), S. 64 f.

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Abb. 109: Der lehrende Christus im Kreis der Apostel, Köln um 985, Museum für Angewandte Kunst Köln, Inv. Nr. B 2b.

nur leicht erkennbaren Bartes wirkt er jugendlich, den von einem scheibenartigen Kreuznimbus hinterfangenen Kopf wendet er ganz leicht nach links. Während er in der linken Hand einen geschlossenen Codex hält, ist die rechte vor der Brust erhoben, wobei der Gestus als Segens- oder Zeigegebärde gedeutet werden kann. Seine Füße ruhen auf einem Suppedaneum, das aufgrund der perspektivischen Verkürzung als Raute erscheint. In ruhig wirkenden Parallelfalten, die durch feine Einschnitte modelliert werden, fällt sein Gewand, die Knie treten unter den Stoffbäuschen hervor, die den Schoß durch flache Muldenfalten akzentuieren. Unterhalb des Suppedaneums erhebt sich der in Aufsicht gezeigte Paradiesberg, von dem sich in vier Richtungen die vier Paradiesströme ergießen, die in Bögen zu Christus sowie zu den Aposteln fließen. Die deutlich kleiner dargestellten Jünger, von denen Petrus zur Linken und Paulus zur Rechten Christi identifizierbar sind, werden zum Teil in heftiger Erregung gezeigt, die durch die Zeige- und Redegesten angedeutet wird. Einige von ihnen sind miteinander ins Gespräch vertieft, andere wenden sich ihrem Lehrer zu. Trotz der nur geringen Stärke der Platte arbeitete der Schnitzer die Köpfe, Arme und die Säume der sonst nur durch flache Schnitte in Falten gelegten Gewänder deutlich heraus und verlieh damit dem Relief eine entsprechende Tiefe. Dennoch bleibt die räumliche Disposition der Personen unklar, da sich die Größenverhältnisse nicht an der Perspektive, sondern an

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Abb. 110: Kreuzigung und nachösterliche Szenen, Köln vor 1000, Musée national du Moyen Âge – Thermes de Cluny Paris, Inv. Nr. Cl. 13064.

der den Dargestellten beigemessenen Bedeutung zu orientieren scheinen. Hierdurch erhält das Relief einen regelrecht vexierbildhaften Charakter. Das laut der Forschung jüngste und zugleich komplexeste der vier Elfenbeine mit den Maßen 21,2 × 10,3 cm entstand vermutlich um 1000 und wird im Musée national du Moyen Âge – Thermes de Cluny in Paris aufbewahrt (Inv. Nr. Cl. 13064) (Abb. 110).10 Während Adolph Goldschmidt lediglich „den gleichen Entstehungsbereich“ 11 für d ­ ieses Relief wie für das Thebäer-Elfenbein annahm, ging Anton von Euw für beide Tafeln von demselben Schnitzer aus.12 Danielle Gaborit-Chopin war davon überzeugt, dass diese beiden Reliefs Gegen­stücke ­seien.13 Hierbei gilt jedoch zu bedenken, dass beide Elfenbeine unterschiedliche 10 Zur Elfenbeintafel vgl. Goldschmidt 1918 (wie Anm. 4), Kat. Nr. 48, S. 27. – Kat. Köln 1972 (wie Anm. 4), Kat. Nr. E 11, S. 206 (Anton von Euw). – Musée de Cluny. Musée national du Moyen Âge. Le Guide, Paris 2009, Kat. Nr. 23, S. 37. – Beer 2011 (wie Anm. 4), S. 67. – Tobias Frese: Aktual- und Realpräsenz. Das eucharistische Christusbild von der Spätantike bis ins Mittelalter (Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst, Bd. 13), Berlin 2013, S. 184 f. 11 Goldschmidt 1918 (wie Anm. 4), S. 8. 12 Kat. Köln 1972 (wie Anm. 4), S. 205. 13 Gaborit-Chopin 1978 (wie Anm. 4), S. 194.

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Maße besitzen und daher wohl nicht für den Vorder- und Rückdeckel eines Codex konzipiert worden sein können. Durch ein in das gerahmte Feld einbeschriebenes lateinisches Kreuz wird die Tafel – ober- und unterhalb der Kreuzbalken und zu beiden Seiten des auf der Mittelachse stehenden Kreuzstamms – in vier Kompartimente geteilt. Vor dem mit runden Einkerbungen versehenen und somit eine crux gemmata alludierenden Kreuz steht der mit einer Toga bekleidete, jugendlich erscheinende Christus. Ob die Einkerbungen an seinen Händen und den nebeneinander auf einem Suppedaneum stehenden Füßen als Nägel selbst oder als die von ihnen verursachten Male zu deuten sind, muss offenbleiben. Hinter dem bartlosen und nach links geneigten Haupt Christi ragt der scheibenartige Kreuznimbus auf. Da die Augen des Gekreuzigten geöffnet sind, scheint er als Lebender dargestellt zu sein, worauf auch das Fehlen einer Seitenwunde hindeutet. Trotz der im Brustbereich voluminös und schwer wirkenden Gewandung tritt die Körperhaftigkeit Christi deutlich zutage, indem durch sehr feine Schnitte tropfen- oder blasenförmige Faltenwürfe und vor allem im Bereich der Ellenbogen- und Schultergelenke die Glieder betont werden. Demgegenüber liegen die Stoffbäusche eng an Bauch und Beinen an, vor allem dort unterstreichen geschwungene, aus der Bewegung heraus resultierende Faltenkaskaden die bogenförmige Krümmung des Leibes des Crucifixus. Das Kreuz, dessen Stamm oberhalb des Nimbus teilweise vom Titulus IHS NAZARENVS REX IVDEORVM verdeckt wird, ist ­zwischen vier Kreisformationen eingespannt. Sowohl die beiden seitlichen Medaillons mit den inschriftlich bezeichneten Personifikationen von SOL zur Linken und LVNA zur Rechten Christi als auch die unterhalb des Suppedaneums angeordnete Scheibe, die einen Kelch zum Auffangen des vergossenen Blutes zeigt, überschneiden den Rahmen der Elfenbeintafel. Oberhalb des Kreuzes reicht die sehr groß wiedergegebene Hand ­Gottes dem Gekreuzigten einen Lorbeerkranz. Vervollständigt wird die Darstellung durch die unterhalb des rechten Armes Jesu stehenden Maria und Johannes, die jedoch nicht – wie es der ikonografischen Tradition entsprochen hätte – auf die Bereiche unter den Kreuzbalken verteilt sind, sondern eng nebeneinanderstehen. Auf der Tafel wird ein kompakter heils­geschichtlicher Zyklus entfaltet, wobei der Elfenbeinschnitzer die durch die Zwickel z­ wischen Kreuzstamm und Kreuzbalken gebildeten Kompartimente nutzte. Gegenüber den trauernden B ­ egleitfiguren der Kreuzigung wird die Begegnung der drei Marien mit dem Engel am Grab Christi gezeigt. Zwei der Frauen tragen in ihren Händen Salbgefäße und sind in einem Gespräch mit dem Engel gezeigt, wie die verschiedenen Rede- und Zeige­gesten andeuten. Zwischen der vordersten Maria und dem Engel, dessen hoch gereckte Flügel das Kompartiment zum Rand hin abschließen, ragt das turmartige Grab Christi auf, das als gemauerter Rundbau mit einer schirmartigen Kuppel gezeigt ist. Im oberen rechten Quadranten wird der durch den Kreuznimbus ausgezeichnete Christus vor den Augen Mariens und seiner elf Jünger, die – ihre Köpfe stark nach hinten neigend – emporblicken, in den Himmel aufgenommen und von der aus der Ecke des Relieffeldes ragenden Hand Gottes empfangen. Zum einen begleiten vier Engel Christus, zum anderen verkünden sie den Aposteln die Himmelfahrt.

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Auf der gegenüberliegenden Seite wird schließlich als Abschluss und mit der Parusie eintretender Höhepunkt der Sequenz die Maiestas Domini dargestellt. Der Weltenrichter thront erneut auf dem ringförmigen Kosmos und wird von einer mit einem gepunkteten Rand versehenen und mit Sternen besetzten Mandorla hinterfangen; zusätzlich wird Christus von den griechischen Buchstaben A und Ω flankiert. Der charakteristischen Ikonografie der Maiestas Domini folgend erhebt er die Rechte zum Segen und hält in der Linken den Liber vitae. Seine Thronbegleiter, die vier Animalia, kommen aus den vier Zwickeln z­ wischen Mandorla und den Grenzen des Reliefkompartiments hervor und wenden sich Christus zu, wobei sie die Gloriole leicht überragen.

* Mit einer Entstehungszeit im Laufe zweier Generationen von Bildschnitzern sind die Tafeln durchaus heterogen. Dennoch treten Parallelen auf, die auf eine gegenseitige Bezugnahme oder zumindest auf die Rezeption verwandter Vorlagen hindeuten. Zentral ist in d ­ iesem Zusammenhang sicherlich das Bildmotiv der Maiestas Domini: Das Elfenbeinrelief aus Darmstadt sah Anton von Euw – wohl wegen der ähnlichen Formationen von KosmosThron und dahinter gestaffelter Mandorla – in der Tradition des um 870 entstandenen Vorderdeckels des Codex Aureus aus St. Emmeram in Regensburg (Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 14000) stehend.14 Zuvor stellte bereits Hermann Schnitzler Anklänge an die karolingische franko-sächsische Buchmalerei der Zeit um 860/870 im Bereich von Saint-Armand und möglicherweise auch Arras fest, die durch das im Museum Schnütgen aufbewahrte Evangeliar (Inv. Nr. 531) nach Köln vermittelt worden sein könnten.15 Während sich die Maiestas Domini auch in der oberen linken Ecke der Tafel aus Paris mit der das Relieffeld geradezu strukturierenden Kreuzigungsszene findet, so handelt es sich bei den anderen beiden Elfenbeinen um Variationen ­dieses Motivs: Zumindest im ThebäerElfenbein ist Christus von einer Mandorla umgeben, die von Engeln gehalten wird, wobei jedoch die zur ‚klassischen‘ Maiestas-Ikonografie zählenden Symbolwesen der Evangelisten fehlen.16 Auch hier dient ihm der als Ring erscheinende Kosmos als Herrschaftssitz, der 14 Kat. Köln 1972 (wie Anm. 4), S. 204. – Zum Einband des Codex aureus vgl. Steenbock 1965 (wie Anm. 2), Kat. Nr. 20, S. 90 – 92. – David Ganz: Buch-Gewänder. Prachteinbände im Mittelalter, Berlin 2015, S. 168 f. 15 Schnitzler 1950 (wie Anm. 7), S. 114 – 116. – Vgl. auch Kat. Köln 1972 (wie Anm. 4), S. 204. – Zum Evangeliar vgl. Anton von Euw: Die Handschriften und Einzelblätter des Schnütgen-Museums Köln. Bestandskatalog, Köln 1997, Kat. Nr. 1, S. 17 – 26. 16 Zur Ikonografie der Maiestas Domini vgl. Gertrud Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst. Bd. 3: Die Auferstehung und Erhöhung Christi, Gütersloh 1971, S. 233 – 249. – Lexikon der christlichen Ikonographie. hg. v. Engelbert Kirschbaum, Bd. 3, Freiburg im Breisgau 1971, Sp. 136 – 142 (Frits van der Meer). – Anne-Orange Poilpré: Maiestas Domini: Une image de l’Eglise en Occident (Ve–IXe siècle), Paris 2005.

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zwar vor der Glorie gezeigt wird, jedoch gleichermaßen mit ihr verschränkt zu sein scheint. ­Hermann Schnitzler erkannte in der Tafel verschiedene, miteinander amalgamierte Motive und stellte daher fest, dass „[d]ie großartige, im Aufbau so geschlossen wirkende Komposition […] nicht einer einheitlichen Vorlage entnommen [sei], sondern aus mehreren, thematisch untereinander verschiedenen Bildquellen geschöpft: einer Maiestas Domini, einem wohl byzantinischen Krönungsbild und einer Himmlischen Hierarchie, wie sie die karolingische Kunst geschaffen hat.“ 17 Diese Charakterisierung wurde von Anton von Euw noch präzisiert, indem er die Maiestas Domini auf das für Karl den Kahlen geschaffene Metzer Sakramentar (Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 1141) zurückführte und Parallelen zum Faltenstil erkannte.18 Frauke Steenbock fasste schließlich zusammen, dass „aus der Verwendung verschiedenartiger Bildquellen […] ein neuer Bildtypus entstanden“ sei,19 wobei sie implizit die Kölner Adaption zum Ausdruck brachte, da sich „die Darstellung […] thematisch auf das Gereonsstift […] beziehen“ ließe. Schließlich sahen Wolfgang Christian Schneider und – ihm folgend – Manuela Beer in ­diesem Relief einen bewussten Rekurs auf die antike VictoriaIkonografie, „um Christus als siegreichen Herrscher zu charakterisieren, der die in seinem Sinne Siegenden – die heiligen Märtyrer – mit besonderen Gaben auszeichnet“.20 Zwar wird in der Lehrszene aus dem Kölner Museum für Angewandte Kunst keine himmlische Entrückung durch die Mandorla angedeutet, doch thront Christus frontal oberhalb des Paradiesberges inmitten seiner Jünger, wodurch die Szene ebenfalls eine von den Evangelien losgelöste, eschatologische Dimension erhält. Auch in dieser Tafel erkannte Schnitzler „eine frühbyzantinische Vorlage […], die ebenso wie die mehrmalige Wiederholung der Paulusfigur und des dritten Apostels rechts auf eine antike Versammlung der Sieben Weisen als Urbild schließen“ 21 ließe, wodurch er die in Köln erfolgte Rezeption aus Byzanz stammender oder auf dortige Bilderfindungen zurückgehender motivischer Vorbilder als erwiesen ansah. Ganz explizit stellte Adolph Goldschmidt eine Verbindung z­ wischen den Elfenbeintafeln und der ottonischen Kölner Buchmalerei her, denn er kam im Hinblick auf das 17 Schnitzler 1959 (wie Anm. 4), S. 27. – Vgl. auch Schnitzler 1956 (wie Anm. 4), S. 15, wortgleich in Schnitzler 1968 (wie Anm. 4), S. 21. – Steenbock 1965 (wie Anm. 2), S. 124. – Beer 2011 (wie Anm. 4), S. 65. 18 Kat. Köln 1972 (wie Anm. 4), S. 205. – Vgl. auch Beer 2011 (wie Anm. 4), S. 64. – Zum Metzer Sakramentar vgl. Wilhelm Koehler / Florentine Mütherich: Die Hofschule Karls des Kahlen (Die karolingischen Miniaturen, Bd. 5), Berlin 1982, S. 165 – 174. – Trésors carolingiens. Livres manuscrits de Charlemagne à Charles le Chauve. Ausst. Kat. Bibliothèque Nationale de France Paris, hg. v. MariePierre Laffitte und Charlotte Denoël, Paris 2007, Kat. Nr. 18, S. 117 – 119 (Marie-Pierre Laffitte). – Frese 2013 (wie Anm. 10), S. 143 – 147. 19 Steenbock 1965 (wie Anm. 2), S. 124. 20 Schneider 1991 (wie Anm. 4). – Beer 2011 (wie Anm. 4), S. 67. – Woelk / Beer 2018 (wie Anm. 4), S. 47. 21 Schnitzler 1956 (wie Anm. 4), S. 14, wortgleich bei Schnitzler 1968 (wie Anm. 4), S. 22.

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Thebäer-Elfenbein zum Schluss, dass „schon der Name der Heiligen für Köln“ 22 spräche, aber „die dortige Entstehung noch bestätigt [würde] durch Gemeinsamkeiten mit Kölner Miniaturen“. Ein maßgebliches Charakteristikum für die ottonischen und frühsalischen Kölner Evangelienbücher ist die Integration einer den Evangelien meistens vorangestellten Darstellung der Maiestas Domini; eine ­solche Bildseite findet sich darüber hinaus auch im Sakramentar aus St. Gereon (Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 817, fol. 15v). Zwar machte Christoph Winterer darauf aufmerksam, „dass sich kein direktes Vorbild für die Miniatur des Hitda-Codex finden lässt und sich die vier erhaltenen ottonischen Majestas-Bilder aus Köln weder untereinander noch einer touronischen Vorlage gleichen“,23 doch liegen die Verbindungen ­dieser Bildseiten in den fünf zur ‚Malerischen Gruppe‘ zählenden Handschriften zu karolingischen Manuskripten auf der Hand: Zum einen sind die Evangeliare aus dem Skriptorium der Abtei St. Martin in Tours regelhaft mit einer Darstellung der Maiestas Domini ausgestattet, zum anderen finden sich – wie im Hitda-Codex 24 – den Evangelisten beigegebene Tituli, hier zumeist aus dem Carmen paschale des Paschasius Radbertus.25 Auch in ­diesem ottonischen Evangeliar werden den Evangelistenbildern komplexe Tituli beigegeben, die Impulse aus den Touroner Handschriften aufgegriffen haben könnten. Darüber hinaus ist die Bezugnahme der hochmittelalterlichen Manuskripte aufeinander angesichts ihrer zeitlich in engem Zusammenhang stehenden Herstellung in derselben Kölner Werkstatt wahrscheinlich.26 Hierbei ist anzunehmen, dass diese Darstellungen der Maiestas Domini in den Evangeliaren und im Sakramentar für jeden Codex und den jeweiligen, damit verbundenen (künstlerischen und theologischen) Anspruch eigens modifiziert und nicht nur kopiert wurden, weswegen sie einander nicht „gleichen“. Insbesondere ­zwischen den Elfenbeinreliefs und Miniaturen in den Handschriften, die der ‚Malerischen Gruppe‘ zugerechnet werden, bestehen zahlreiche motivische Korrespondenzen. Ein enger Zusammenhang scheint mit dem Sakramentar aus St. Gereon (fol. 15v) 22 Goldschmidt 1918 (wie Anm. 4), S. 20. 23 Christoph Winterer: Das Evangeliar der Äbtissin Hitda. Eine ottonische Prachthandschrift aus Köln. Miniaturen, Bilder und Zierseiten aus der Handschrift 1640 der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Darmstadt 22011, S. 38. 24 Zum Hitda-Codex vgl. Leo Eizenhöfer / Hermann Knaus: Die liturgischen Handschriften der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Wiesbaden 1968, Kat. Nr. 25, S. 96 – 100. – Winterer 2011 (wie Anm. 23). – Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbiblio­ thek Darmstadt, Hs. 1640). Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013. 25 Zu den Evangelistenbildern und Tituli aus dem Carmen Paschale vgl. Jochen Hermann Vennebusch: Between Adaptation and Accentuation. Negotiating Divine Inspiration in the Reichenau Evangelist Portraits, in: Copying Manuscripts. Textual and Material Craftsmanship (Series Minor, Bd. 43), hg. v. Antonella Brita u. a., Neapel 2020, S. 133 – 150, hier S. 136 – 138. 26 Ulrich Kuder: Der Hitda-Codex im Zusammenhang der Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 24), S. 89 – 111, hier S. 111.

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sowie dem Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640; fol. 7r) gegeben zu sein, denn in beiden Handschriften ist die Christus umgebende Mandorla – wie auf den beiden jüngsten Elfenbeinen mit der Glorifizierung der heiligen Gereon und Viktor sowie mit der Kreuzigung und den sich anschließenden christologischen Szenen – mit zierlichen Sternen besetzt und charakterisiert auf diese Weise die Lichtgloriole als kosmisches Phänomen. In den Darstellungen der Maiestas Domini sowohl im Gießener Evangeliar (fol. 1r) als auch dann im Hitda-Codex (fol. 7r) (Abb. 9) tritt jedoch eine Abweichung im Detail zutage, die möglicherweise auf eine missverstandene Vorlage hindeuten konnte: Auf beiden Bildseiten wird der Thron nicht als Ring, sondern als achtförmiger Sitz dargestellt, da vermutlich die in der Vorlage gezeigte Staffelung von Mandorla und Kosmos nicht entsprechend erkannt wurde, was schließlich zu ihrer Verschmelzung geführt haben könnte. Diese Annahme liegt auch deswegen nahe, weil in beiden Handschriften diese Formation von einer weiteren Mandorla umgeben ist, die im Hitda-Codex ebenfalls achtförmig ist. Demgegenüber finden sich noch in der Miniatur der Maiestas Domini im jüngsten Evangelienbuch dieser Gruppe, dem Kölner Evangeliar 312 (Historisches Archiv der Stadt Köln, Bestand 7010, Nr. 312, fol. 12v), zwei klar voneinander unterschiedene und vor allem unterschiedliche Symbole für den Thron und die Gloriole.27 Eine enge Übereinstimmung ist zudem zur Miniatur der Maiestas Domini im Evangeliar aus St. Maria ad Martyres in Trier (Landeshauptarchiv Koblenz, Ms. 701/81, fol. 127r) feststellbar: Auf dieser Bildseite in der von Anton von Euw auf das letzte Viertel des 10. Jahrhunderts datierten und möglicherweise in der Benediktinerabtei St. Maximin in Trier entstandenen Handschrift ist nicht nur eine ähnliche Staffelung von Kosmosthron und Mandorla gegeben, Christus stellt zudem seine Füße wie auf dem Thebäer-Elfenbein auf den Weltglobus.28 Darüber hinaus ist der Einband des Liber vitae in seiner Linken durch schematisch wirkende Formationen als mit Edelsteinen besetzter Prachteinband gekennzeichnet, die den feinen Schnitten auf der Tafel mit der Glorifizierung der heiligen Gereon und Viktor stark ähneln. Weitere motivische Entsprechungen betreffen die Architektur des Grabes Christi mit der schirmartigen Kuppel im Elfenbein aus Paris, das sich in ähnlicher Form auch in der Dedikationsminiatur (fol. 6r) (Abb. 97) sowie in der Darstellung der Anbetung der Könige (fol. 22r) des HitdaCodex findet. Wenngleich sich mutmaßen lässt, dass s­ olche abbreviaturhaft erscheinenden Elemente als frei kombinierbare Versatzstücke eingesetzt wurden, da in dieser Handschrift „verbleibende Flächen […] meist mit Architekturkulissen und/oder Landschaftsanlagen gefüllt“ wurden,29 ist die Nutzung einer gemeinsamen Vorlage oder die gegenseitige Bezugnahme aufeinander durchaus denkbar. Darüber hinaus könnte der mit feinen Punkten versehene 27 Vgl. Beuckers 2018 (wie Anm. 4), S. 71 – 73. 28 Zu ­diesem Evangeliar vgl. Vor dem Jahr 1000. Abendländische Buchkunst zur Zeit der Kaiserin Theophanu. Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln, Köln 1991, Kat. Nr. 40, S. 146 (Anton von Euw). 29 Thomas Labusiak: Zum Stil des Hitda-Codex, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 24), S. 75 – 87, hier S. 76.

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Kreuznimbus Christi auf dem Thebäer-Elfenbein und der Tafel aus dem Musée de Cluny in einem Zusammenhang mit gleichartig gestalteten Nimben in den Miniaturen der ­Maiestas Domini stehen. Kompositorisch ist sämtlichen Elfenbeinreliefs der Ikonografie gemäß die starke Betonung der Mittelachse gemein. Während dies auf dem Elfenbein im Kölner Museum für Angewandte Kunst eher implizit durch die Positionierung Christi auf der zentralen Vertikale geschieht, wird dies auf den anderen Tafeln durch verschiedene Formationen oder architektonisierende Elemente markiert. Hiermit verbunden ist ein deutlich erkennbarer symmetrischer Aufbau der jeweiligen Darstellung, der nicht nur das Bildpersonal, sondern gleichermaßen die jeweilige räumliche Struktur betrifft. Dementsprechend teilt auf dem in Darmstadt aufbewahrten Stück ein hinter der Maiestas Domini verlaufender, in den oberen und unteren Rand übergehender Steg, der von einem horizontalen Balken hinter der Brust des Weltenrichters gekreuzt wird, das Bildfeld. Zusätzlich wird diese Teilung durch die übereinander angeordneten Majuskeln der Inschriften LVX und LEX hervorgehoben, die gegenüber den Inschriften REX sowie PAX auf dem Querbalken dominant wirken. Auf dem Thebäer-Elfenbein sorgt die Säule, die den Kosmos und den darauf thronenden Christus trägt, für eine Scheidung des Reliefs in eine rechte und linke Hälfte, was schließlich die achsensymmetrische Anordnung der Engel, der glorifizierten Gereon und Viktor sowie der übrigen Märtyrer noch unterstreicht; allerdings wird „die Symmetrie der Komposition […] durch individuelle Variation belebt, von der leicht bewegten Beinhaltung Jesu bis zu den Gesichtern der Heiligen“.30 Noch weitergeführt wird diese Teilung im Elfenbein aus Paris, das zum einen durch den fast durchgehenden vertikalen Kreuzstamm sowie durch den horizontalen Kreuzbalken in vier Kompartimente gegliedert wird. Da es sich bei den Elfenbeintafeln um verschiedene, neu kontextualisierte Variationen der Maiestas Domini handelt, ist es nun nicht weiter verwunderlich, dass die ottonischen Miniaturen, die dieser Ikonografie folgen und den hieratisch thronenden Weltenherrscher am Ende der Zeiten in Frontalansicht darstellen, ebenso streng, symmetrisch und die Mittelachse betonend aufgebaut sind. Gertrud Schiller stellte in ­diesem Zusammenhang fest, dass „vom 10. Jh. an […] die Christusgestalt in der Buchmalerei immer stärker monumentalisiert“ worden sei,31 was sich ebenso auf die Kölner Elfenbeine übertragen lässt. Die Maiestas Domini-Tafel aus Darmstadt, die von der Forschung als das älteste Elfenbeinrelief dieser Gruppe erachtet wurde, weist starke Parallelen zur Miniatur im jüngsten ottonischen ‚malerischen‘ Evangelienbuch, dem Kölner Evangeliar 312, auf: Auch wenn die schreibenden Evangelisten selbst fehlen (auf der Bildseite werden stattdessen die Propheten Jesaja, Daniel, Ezechiel und Jeremia am unteren Rand gezeigt) und die exakte Anordnung ihrer Symbolwesen voneinander abweicht, so umgeben sie den auch hier auf dem Kosmos thronenden und von 30 Woelk / Beer 2018 (wie Anm. 4), S. 46. 31 Schiller 1971 (wie Anm. 16), S. 244.

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einer Mandorla eingefassten Weltenrichter ungefähr auf gleicher Höhe.32 Während jedoch auf dem Elfenbeinrelief eine Separierung der Animalia durch Bögen erfolgt, strukturiert in der Miniatur die Farbe des Hintergrundes die von ihnen eingenommenen Kompartimente und sorgt für die Herausbildung klar erkennbarer Register. Nicht nur motivisch und ikonografisch, sondern auch stilistisch kommen die Elfenbeinreliefs den Miniaturen der zur ‚Malerischen Gruppe‘ zählenden Manuskripte nahe. Eine deutliche Parallele besteht in der Stellung der auf einem brett- oder kastenförmigen Suppedaneum oder auf dem Erdglobus ruhenden Füße Christi, die in der Regel ruhig ausponderiert sind, wobei ein Fuß leicht zurückgesetzt ist. Diese versetzte Fußstellung ist in den Handschriften sowohl in den Darstellungen der Maiestas Domini als auch in den Evangelistenbildern zu beobachten. Letztlich führt sie aufgrund der über die Breite der Schultern hinausgehenden, weit nach außen gedrückten Knie zur Ausbildung eines enormen, von den teilweise gebläht wirkenden Stoffbahnen umhüllten Körpervolumens ­zwischen dem Beckenbereich und den Knöcheln. Auf diese Weise wurde es den Elfenbeinschnitzern sowie den Buchmalern außerdem ermöglicht, die einzelnen Glieder zu staffeln und beispielsweise durch eine unterschiedliche Höhe der Knie die Faltenwürfe aufzustauchen, zu raffen und schließlich in Stufen oder Kaskaden herabfließen zu lassen. Diese Falten selbst sind auf den Reliefs als sehr feine, flache Schnitte ausgeführt, nur im Bereich der Säume sind, vor allem im Thebäer-Elfenbein, tiefere Hinterschneidungen feststellbar. Charakteristisch erscheinen parallel geführte Falten, die sich jedoch vor allem im Bereich des Schoßes bis hin zu den Unterschenkeln auffächern. Gewisse Korrespondenzen bestehen darüber h ­ inaus auch z­ wischen den längsoval erscheinenden Gesichtstypen auf den Elfenbeinen sowie in den Handschriften, wie beispielsweise auf der Hieronymus-Miniatur (fol. 2v) des Gießener Evangeliars.33

* Die Wiederverwendung des wohl im 6. Jahrhundert geschaffenen Elfenbeinreliefs mit der Darstellung Christi neben Petrus und Paulus und die Überschnitzung der Tafel mit der für Köln zentralen hagiografischen Szene der Glorifizierung der heiligen Gereon und Viktor deutete Jörg-Holger Baumgarten als einen „Beweis für die direkte Beeinflussung der Kölner Kunst durch Byzanz“ 34, wobei er die Einschätzung Wolfgang Fritz Volbachs außer Acht ließ, der ihre stilistische Verwandtschaft mit der aus einem Moseldorf stammenden und wohl in Trier entstandenen Berliner Pyxis des 5. Jahrhunderts feststellte.35 Byzantinische Einflüsse sah 32 Vgl. Beuckers 2018 (wie Anm. 4), S. 72 f. 33 Kat. Köln 2011 (wie Anm. 4), S. 247. 34 Kat. Köln 1985 (wie Anm. 4), S. 241. 35 Volbach 1976 (wie Anm. 3), S. 91. – Zur Berliner Pyxis vgl. Volbach 1976 (wie Anm. 3), Kat. Nr. 161, S. 104. – Glanz der Ewigkeit. Meisterwerke aus Elfenbein der Staatlichen Museen zu Berlin, Ausst. Kat.

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auch Christoph Winterer in der Produktion der Handschriften der ‚Malerischen Gruppe‘, denn ihm zufolge ­seien „[o]hne importierte griechische Malereien und ohne ungewöhnlich große Kenntnisse griechischer Theologie […] weder der Stil noch die intellektuellen Programme von Hitda-Codex und Sakramentar von St. Gereon denkbar“.36 Zuvor war Heinrich Ehl von einer Beeinflussung der ottonischen Kölner Buchmalerei vor allem durch karolingische Skriptorien ausgegangen,37 doch schließlich kamen sowohl Elisabeth Schipperges als auch Peter Bloch und Hermann Schnitzler zu dem Schluss, dass eine Adaption byzantinischer Vorbilder zu konstatieren sei.38 Eine Synthese der verschiedenen Positionen erfolgte durch Thomas Labusiak, der feststellte, dass diese Vorlagen nicht einfach übernommen, sondern dass diese Motive und stilistischen Charakteristika weiterentwickelt wurden, indem man in Köln die schon von Ehl angenommenen Einflüsse aus karolingischen Skriptorien wie der Aachener Palastschule Karls des Großen und aus Reims rezipierte.39 Diese Beobachtung machte bereits Franz Bock in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als er sich in seiner Arbeit über die sakrale Kunst des Mittelalters in Köln auch mit dem Thebäer-Elfenbein beschäftigte und schlussfolgerte, „dass nur allein die Technik und einzelne traditionelle Formen, wie sie sich von griechischen ymagiers traditionell fortgeerbt hatten, diesen vielen figürlichen Darstellungen geblieben ist, dass jedoch sowohl in der Composition, als in der charakteristischen Auffassung der Köpfe ein neues in Bildung begriffenes germanisches Formengesetz vorwaltet“.40 Zwar datierte er die Tafel in das frühe 13. Jahrhundert und setzte es mit dem Umbau des Dekagons von St. Gereon in Beziehung, doch wurde der von ihm beschriebene „offenbare Bruch mit den überlieferten typischen Formen von Byzanz“ im Sinne einer in Köln erfolgten Adaption der stilistischen Charakteristika beispielsweise ebenso von Hermann Schnitzler, Anton von Euw und Frauke Steenbock erkannt. Vor dem Hintergrund der Beobachtungen an den Elfenbeinreliefs und an den Miniaturen in den Handschriften der ‚Malerischen Gruppe‘ erscheint es angezeigt, einige von der Forschung vertretene Thesen zu prüfen: Aufgrund der für Köln bedeutenden hagiografischen Szene der Glorifizierung der Märtyrer der Thebäischen Legion und aufgrund der motivischen, kompositionellen und in Teilen auch stilistischen Entsprechungen mit den im Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, hg. v. Regine Marth, Berlin 1999, Kat. Nr. 1, S. 28 f. (Gudrun Bühl). 36 Winterer 2011 (wie Anm. 23), S. 17. 37 Heinrich Ehl: Die ottonische Kölner Buchmalerei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der frühmittelalterlichen Kunst in Westdeutschland (Forschungen zur Kunstgeschichte Westeuropas, Bd. 4), Bonn 1922, S. 16 – 37. 38 Elisabeth Schipperges: Der Darmstädter Hitda-Codex. Eine Kölner Handschrift, Versuch einer Deutung, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 19 (1937), S. 237 – 301, hier S. 296 f. – Peter Bloch / Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, 2 Bde., Düsseldorf 1967/70, Bd. 2, S. 99 f. 39 Labusiak 2013 (wie Anm. 29). 40 Bock 1858 (wie Anm. 4), S. 12, hier auch das folgende Zitat.

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Skriptorium von St. Pantaleon angefertigten Handschriften kann die Entstehung des Thebäer-Elfenbeins und der sich um ­dieses Stück gruppierenden Tafeln in Köln angenommen werden. Die wegen der Abarbeitung nur noch schemenhaft erkennbare Darstellung Christi ­zwischen Petrus und Paulus kann jedoch nicht als Garant für die Herkunft des Stücks aus Byzanz und die damit verbundene Beeinflussung der Kölner Elfenbeinschnitzerei durch byzantinische Vorlagen angenommen werden, zumal die Herkunft aus Byzanz keineswegs gesichert ist (s. o.). Die von der Forschung bisweilen konstatierte Byzanzrezeption wurde generell recht vage formuliert. Beispielsweise sah Hermann Schnitzler „wohl“ ein byzantinisches Krönungsbild als eines der Vorbilder für die Darstellung des Thebäer-Elfenbeins an, zudem war der Verweis auf eine sich in der Tafel mit der Lehrszene manifestierende und die Versammlung der Sieben Weisen von Athen zeigende Vorlage nicht durch konkrete Stücke belegt. Demgegenüber rekurrierte Theo Jülich – wie zuvor bereits Anton von Euw – auf den um 870 entstandenen vorderen Einbanddeckel des Codex aureus aus St. Emmeram in Regensburg und stellte fest „dass es zumindest in der Treibarbeit mögliche Vorbilder aus der Zeit Karls des Kahlen für das Darmstädter Majestasrelief gegeben haben muss“.41 Für das Thebäer-Elfenbein nahm von Euw hingegen die stilistische und motivische Beeinflussung durch die Darstellungen des Weltenrichters im Metzer Sakramentar an.42 Gemein ist den postulierten Vorbildern die Herkunft aus der Hofschule Karls des Kahlen, wodurch sich weitere Möglichkeiten zu einem Vergleich eröffnen: In den vorderen Einbanddeckel des Evangeliars aus Noailles (Bibliothèque nationale de France Paris, Ms. lat. 323) ist eine auf das dritte Viertel des 9. Jahrhunderts datierte Elfenbeintafel eingesetzt, die trotz des starken Abriebs noch ihre Details erkennen lässt. Zum einen thront Christus frontal auf dem Kosmosthron innerhalb einer mit ­diesem Sitz verschränkten Mandorla und setzt seine Füße auf ein leicht schräg gezeigtes Suppedaneum. Zum anderen weist die vergröbert wiedergegebene Gewandung mit den ottonischen Elfenbeinen dennoch eng verwandte stilistische Korrespondenzen mit den ottonischen Tafeln auf wie die blasenförmig gelegten Bäusche im Bereich der Schultern und Armgelenke, die stufenartig verlaufenden Säume sowie die parallel verlaufenden und sich am rechten Unterschenkel strahlenartig auffächernden Falten.43 Da diese Handschrift auch umgangssprachlich ‚Evangeliar Karls des Kahlen‘ genannt wurde, ist die Verbindung zu dessen Hofschule evident. Im Hinblick auf die in Köln aufbewahrte Darstellung des lehrenden Christus im Kreis der Apostel erkannte Jülich eine „weitgehende Übereinstimmung in den parallelen, schematischen Faltenverläufen, den Gewandsäumen, der

41 Kat. Berlin 2007 (wie Anm. 7), S. 89 f. – Vgl. hierzu auch Kat. Köln 1972 (wie Anm. 4), S. 204. 42 Kat. Köln 1972 (wie Anm. 4), S. 205. 43 Adolph Goldschmidt: Die Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karolingischen und sächsischen ­Kaiser VIII.–XI. Jahrhundert, Bd. 1, Berlin 1914, Kat. Nr. 71a–b, S. 37. – Gaborit-Chopin 1978 (wie Anm. 4), Kat. Nr. 59, S. 67 f., 190. – https://archivesetmanuscrits.bnf.fr/ark:/12148/cc8438p [27. März 2023].

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Gesichtsbildung und dem flachen Relief mit der Darmstädter Tafel“.44 Da er das Vorbild für das Maiestas-Relief bereits im Einbanddeckel des Codex aureus aus St. Emmeram, einer spätkarolingischen Goldschmiedearbeit, erkannt hatte, ist folglich auch bei dieser Tafel von einem karolingischen Einfluss auszugehen. Während sich keine Bezugnahme auf eine byzantinische Vorlage mit der Versammlung der Sieben Weisen durch ein erhaltenes Objekt belegen lässt, so erweist sich ein auf die Mitte des 9. Jahrhunderts datiertes Elfenbein mit den Maßen 22,2 × 13,3 × 1,4 cm (Victoria and Albert Museum London, Inv. Nr. 379 – 1871) als ein potenzielles motivisches sowie kompositionelles Vorbild.45 Neben zahlreichen Szenen aus der Kindheitsgeschichte (Traum Josefs, Flucht nach Ägypten, Bethlehemitischer Kindermord, Darbringung im Tempel) und dem öffentlichen Wirken (Hochzeit zu Kana) zeigt ­dieses Elfenbein den lehrenden Christus, der durch den Kreuznimbus ausgezeichnet ist. Er ist bartlos dargestellt und thront frontal ausgerichtet inmitten von zehn bewegt gestikulierenden Männern unter einer Architekturabbreviation. Links scheinen sich zwei Frauen dem angedeuteten Gebäude zu nähern und schauen durch eine bogenförmige Tür. Christus stützt seine Füße auf ein kastenartiges, in leichter Schrägansicht gezeigtes Suppedaneum und hält in seiner Linken ein geöffnetes Buch, die Rechte ist ausgestreckt, als wollte er auf einen Einwand oder eine Frage eines der Männer reagieren. Aufgrund des Kontextes ­dieses Reliefs, das im dritten von vier Registern auf die Darbringung im Tempel folgt, ist davon auszugehen, dass es sich um die Szene des zwölfjährigen Jesus im Tempel handelt. Zwar wirkt Christus jugendlich, nicht jedoch kindlich, besitzt aber deutliche Anklänge an die Ikonografie des Weltenrichters, so dass die hieratische Körperhaltung, das Thronen inmitten der Schar gelehrter Männer sowie das geöffnete Buch in der Linken dieser Darstellung ebenfalls den ambigen Charakter eines Vexierbildes verleihen. Möglicherweise ist vielmehr die naheliegende Lösung, ein solches bereits eschatologisch gedeutetes Elfenbeinrelief, das die Begebenheit des im Tempel lehrenden zwölfjährigen Jesus adaptiert, anstelle eines byzantinischen Vermittlers als Vorlage für die Darmstädter Tafel anzunehmen. Auch das ebenfalls im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt (Inv. Nr. Kg 54:217) präsentierte und wohl in der Hofschule Karls des Großen im frühen 9. Jahrhundert geschaffene Fragment eines Elfenbeins mit der Darstellung der Himmelfahrt legt die karolingischen Einflüsse auf die im späten 10. Jahrhundert in Köln entstandenen Reliefs nahe (Abb. 111).46 Zwar ist nur noch der untere Teil der Szene erhalten, jedoch zeigen sich in der Haltung der 44 Kat. Berlin 2007 (wie Anm. 7), S. 90. 45 Zu dieser Tafel vgl. Margaret H. Longhurst: Catalogue of Carvings in Ivory. Up to the Thirteenth Century, 2 Bde., London 1927/29, Bd. 1, S. 72. – Adelheid Heimann: An Ivory in the Victoria and Albert Museum, its Iconography and Provence, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek (1959), S. 5 – 50. – Paul Williamson: Medieval Ivory Carvings. Early Christian to Romanesque, London 2010, Kat. Nr. 51, S. 204 – 209. – https://collections.vam.ac.uk/item / O93131/scenes-from-the-life-of-panel-unknown/?​ carousel-image=2009CR4852 [27. März 2023]. 46 Zu dieser Tafel vgl. Kat. Berlin 2007 (wie Anm. 7), S. 69 – 71.

Ottonische Resonanzräume karolingischer Kunst | 361

um fast 90° nach hinten in den Nacken gelegten Köpfe einiger Apostel und Mariens eine deutliche Entsprechung zur Himmelfahrtsszene auf der Tafel mit der Kreuzigung und den sich anschließenden nachösterlichen Begebenheiten. Darüber hinaus fallen unter stilistischen Gesichtspunkten die parallel geführten Falten der Gewänder auf, die an den Säumen in markante, tief hinterschnittene Kaskaden und sogar Omega- und nahezu herzförmige Falten gelegt sind. Ähnliche Faltenwürfe zeigen nun auch das Thebäer-Elfenbein sowie das bereits in ­diesem Zusammenhang erwähnte Kreuzigungs-Relief. Es stellt sich die Frage, wie ­solche karolingischen Einflüsse und Vorlagen in ottonischer Zeit nach Köln vermittelt wurden. Eine Schlüsselrolle nimmt hier die Benediktinerabtei St. Pantaleon ein, die im Jahre 965 von Erzbischof Brun von Köln gegründet und mit Mönchen aus St. Maximin in Trier besiedelt wurde.47 Möglicherweise gelangten einzelne Stücke und auch Vorlagen aus Trier in die Kölner Werkstatt, wo sie mit entsprechenden lokalen Bildtraditionen verbunden wurden. Die Nähe von Trier zu Lothringen würde schließlich auch die deutlichen motivischen und stilistischen Anklänge an die Manuskripte und Elfenbeine aus der dort zu lokalisierenden Hofschule Karls des Kahlen erklären. In d ­ iesem Zusammenhang ­seien zwei Objekte nochmals in Erinnerung gerufen: die auf das 6. Jahrhundert datierte und von Volbach der Trierer Kunst als stilistisch verwandt eingeschätzte Elfenbeinplatte, die vielleicht in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts nach Köln gelangte heutige Rückseite des Thebäer-Elfenbeins, sowie die mit den Darstellungen der Maiestas Domini eng verwandte Bildseite aus dem Evangeliar aus St. Maria ad Martyres, die vermutlich nur wenige Jahre vor den ottonischen Kölner Handschriften und Elfenbeinen in St. Maximin in Trier entstand. Auch stehen die stilistischen Formen der Kölner Elfenbeine mit ihren weich gezeichneten, flachen Reliefs Trierer Elfenbeinen des ausgehenden 10. Jahrhunderts wie beispielsweise dem auf das letzte Viertel des 10. Jahrhunderts datierten Nazarius-Elfenbein im Museum August Kestner in Hannover (Inv. Nr. 410) nahe (Abb. 112).48 Es ist daher gut denkbar, dass nach der Gründung des Benediktinerklosters St. Pantaleon und der Einrichtung der entsprechenden Werkstätten ab den 980er Jahren dort die Produktion 47 Zur Gründung der Abtei St. Pantaleon vgl. Hans Joachim Kracht: Geschichte der Benediktinerabtei St. Pantaleon in Köln 965 – 1250, Siegburg 1975, S. 25 – 51. – Vgl. auch Art. ‚St. Pantaleon, Benediktiner‘ in: Nordrheinisches Klosterbuch. Lexikon der Stifte und Klöster bis 1815, Teil 3: Köln, hg. v. Manfred Groten u. a. (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 37.3), Siegburg 2022, S. 596 – 616 (Marcel Aubert). 48 Zu ­diesem Elfenbein vgl. Goldschmidt 1918 (wie Anm. 4), Kat. Nr. 39, S. 25. – Ferdinand Stuttmann: Kestner-Museum Hannover. Mittelalter I. Bronze, Email, Elfenbein (Bildkataloge des Kestner-­Museums Hannover, Bd. 8), Hannover 1966, S. 97 – 99, Kat. Nr. 97. – Kat. Köln 1972 (wie Anm. 4), Kat. Nr. C 5, S. 181 (Anton von Euw). – Holger A. Klein: Aspekte der Byzanz-Rezeption im Abendland, in: Byzanz. Macht der Bilder, Ausst. Kat. Dom-Museum Hildesheim, hg. v. Michael Brandt und Arne Effenberger, Hildesheim 1998, S. 122 – 153, hier S. 126. – Vgl. auch die z­ wischen dem Rhein- und dem Moseltal nicht näher zugeordnete Elfenbeintafel des späten 10. Jahrhundert mit einer Maiestas Domini im Victoria & Albert Museum (Inv. Nr. A.36 – 1923). Vgl. Williamson 2010 (wie Anm. 45), Kat. Nr. 54, S. 220 f.

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Abb. 111: Himmelfahrt Christi (Fragment), Aachen (?) frühes 9. Jahrhundert, Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Inv. Nr. Kg 54:217.

von Handschriften und auch von Elfenbeinschnitzereien einsetzte. Dass sich die Bilderfindungen in den Manuskripten und auf den Tafeln ähneln, liegt nicht nur wegen ihrer anzunehmenden Produktion in der Abtei nahe, die gegenseitige Beeinflussung ist auch durch den Umstand gegeben, dass es sich in beiden Fällen um Buchschmuck handelt, da auch die Elfenbeinreliefs mit großer Wahrscheinlichkeit für Einbanddeckel geschaffen wurden. Daher ist auch für die Entstehung der Tafeln eine mit der Herstellung der ottonischen Handschriften korrespondierende Datierung nach 980 anzunehmen, wobei die elaboriertesten von ihnen, das Thebäer-Elfenbein und auch die Kreuzigungstafel aus Paris, aufgrund der stärkeren lokalen Bezugnahmen und der stilistischen Weiterentwicklungen auf die Jahre vor der Jahrtausendwende datiert werden können.

* Die in Köln entstandenen Reliefs aus dem Umkreis des Thebäer-Elfenbeins zeigen deutliche Anklänge an die dortige ottonische Buchmalerei der ‚Malerischen Gruppe‘, die wiederum karolingische (Touroner) Miniaturen rezipiert und weiterentwickelt hat. Auf den Elfenbeintafeln wurden diese Einflüsse noch mit Motiven und stilistischen Charakteristika amalgamiert, die sich auf Objekte insbesondere aus dem Bereich der Hofschule Karls des Kahlen

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Abb. 112: Heiliger Nazarius, Elfenbein, Trier (?) letztes Viertel des 10. Jahrhunderts, Museum August Kestner Hannover, Inv. Nr. 410.

zurückführen lassen. Vermittelt wurden die verschiedenen Vorlagen vermutlich durch die Benediktinermönche, die aus der Abtei St. Maximin in Trier nach Köln gesandt wurden, um das dortige Kloster St. Pantaleon zu besiedeln. Aufgrund der verschiedenen Variationen ­dieses Bildsujets hat sich in den dort etablierten Werkstätten das Motiv der Maiestas Domini als besonders wirkmächtig erwiesen. Daher können die vier Elfenbeintafeln, die in unterschiedlichen Zusammenhängen diese Bilderfindung variieren oder adaptieren und die regelhaft als Miniatur nicht nur in Touroner, sondern bezeichnenderweise vor allem auch in Kölner Handschriften enthalten ist, als Zeugen „einer intensiven Auseinandersetzung mit ­diesem Motiv spätestens seit der hochottonischen Zeit für zwei Generationen sowohl in formaler als auch inhaltlicher Weise“ gelten.49

49 Beuckers 2018 (wie Anm. 4), S. 73.

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Markus Späth

Goldschmiedekunst und Buchmalerei in Köln um 1000

Keine Gattung der bildenden Künste um die erste christliche Jahrtausendwende ist der Buchmalerei sogar im Wortsinn enger verbunden als die Goldschmiedekunst. Denn gerade aus dieser Zeit haben sich in den nordalpinen Bereichen des Heiligen Römischen Reiches eine ganze Reihe aufwändig gearbeiteter Prachteinbände für liturgische Handschriften aus hochrangigen Stiftungskontexten erhalten, ­welche mit den Materialien und Techniken der Goldschmiedekunst den göttlichen Charakter des darin illuminierten Wortes ­Gottes nach außen hin vermittelten.1 Gerade an diesen Objekten zeigt sich, dass Werke der Goldschmiede­kunst durch ihre Stiftungs- und Entstehungs- und Nutzungskontexte im Wortsinn sehr dicht bei den illuminierten liturgischen Handschriften lagen. Sie bildeten in ­Kirchen einen gemeinsamen Thesaurus, wo sie gleichermaßen eine entscheidende Rolle bei der Ausgestaltung des Kirchenraums einnahmen; Objekte der einen Gattung wären in bestimmten liturgischen Situationen nicht ohne die der anderen ausgekommen. Viele dieser auf Gold basierenden Einbände verbindet die klare Zuordenbarkeit zu wichtigen Zentren der Handschriftenproduktion sowie Auftraggebern, allen voran die Einbände des Perikopenbuchs sowie des Sakramentars für K ­ aiser Heinrich II. in Regens2 burg. Überhaupt erweist sich die Zeit ­zwischen 980 und 1020 und damit die hier verhandelte Epoche der Malerischen Gruppe als eine Blütephase der Goldschmiedekunst. Dies zeigt sich besonders für Trier als dem konkurrierenden rheinischen Metropolitansitz, das unter der Patronage von Erzbischof Egbert (amt. 977 – 993) im letzten Viertel des 10. Jahr­ iesem hunderts zu einem herausragenden Zentrum der Goldschmiedekunst wurde.3 Aus d

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Vgl. grundlegend Frauke Steenbock: Der kirchliche Prachteinband im frühen Mittelalter von den Anfängen bis zum Beginn der Gotik, Berlin 1965. – Zuletzt zur Materialität von Bucheinbänden vgl. David Ganz: Exzesse der Materialität. Prachteinbände im Mittelalter, in: Codex und Material, hg. v. Patrizia Cramassi und Gia Toussaint (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, Bd. 34), Wiesbaden 2018, S. 179 – 214. 2 München, BSB, Clm 4452 und 4456. – Vgl. im Überblick: Prachteinbände 870 – 1685. Schätze aus dem Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek München, Ausst. Kat. Bayerische Staatsbibliothek München, bearb. v. Béatrice Harnad, München 2001, Nr. 4 u. 6. 3 Vgl. Egbert Erzbischof von Trier 977 – 993. Gedenkschrift der Diözese Trier zum 1000. Todestag, hg. v. Franz Ronig (Trierer Zeitschrift für Geschichte und Kunst des Trierer Landes und seiner Nachbargebiete. Beiheft, Bd. 18), 2 Bde., Trier 1993. – zuletzt Klaus Gereon Beuckers: Kunst als politisches Argument. Erzbischof Egbert und seine Goldschmiedewerkstatt, in: Der Andreas-Tragaltar. Restaurierungsgeschichte,

Goldschmiedekunst und Buchmalerei in Köln um 1000 | 365

Entstehungskontext haben sich noch eine Reihe herausragender Werke wie der AndreasTragaltar oder der Limburger Petrusstab erhalten. Für Köln als altem Metropolitansitz und neuem Zentrum der Buchproduktion seit 980 steht trotz des Reichtums der Überlieferung illuminierter Handschriften ein weitgehendes Fehlen der zeitgleichen Goldschmiedekunst gegenüber. Dieser Umstand erstaunt umso mehr, als dass die Kaiserwitwe Theophanu nach dem Tod Ottos II. Köln seit Mitte der 980er Jahre zu ihrem bevorzugten Residenzort gemacht hatte und in ihrem Gefolge vielfältige künstlerische Einflüsse aus Byzanz an den Rhein gekommen waren.4 Diese manifestieren sich nicht zuletzt in Werken der Elfenbeinschnitzerei, die just aus der Zeit seit dem ausgehenden 10. Jahrhundert in Köln vermehrt überliefert sind. Deren Produktionen sind in unmittelbare institutionelle Nachbarschaft zur aufkommenden Buchmalerei in den Stiften und Klöstern gestellt worden.5 Doch wo bleiben bei alledem Werke der Kölner Goldschmiedekunst um 1000? Dass es sie angesichts des massiven Booms an Neu- und Wiedergründungen von Stiften und Klöstern im späteren 10. Jahrhundert in großer Zahl gegeben haben muss, zeigt sich in der nach 969 entstandenen Vita Brunonis archiepiscopi Coloniensis.6 An deren Ende fügte der Hagiograph Ruotger das Testament Bruns an, von dem er betont, dass der Erzbischof es in Eile auf seinem Sterbebett verfasst habe,7 weshalb die vermachten Gegenstände nur summarisch benannt, nicht aber genau beschrieben ­seien. Darin verteilte Brun, der wesentliche Protagonist der künstlerischen Entwicklung im späten 10. Jahrhundert, seinen persönlichen Besitz an die Stifte und Klöster Kölns, aber auch an die in Bonn, Xanten und Soest.8 Vorrangig bedachte er aber seine vor den Toren Kölns gelegene Klostergründung St. Pantaleon, die unter anderem einen goldenen Becher, einen Siegelring und ein griechisches Schüsselchen („cuppam auream, sigillum et scutellam Graecam“), darüber hinaus einen

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offene Forschungsfragen und Neupräsentation eines Hauptwerks der ottonischen Goldschmiedekunst, hg. v. Markus Groß-Morgen und Kirstin Jakob, Regensburg 2023 (im Druck). Vgl. Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todestag der Kaiserin, hg. v. Anton von Euw und Peter Schreiner, 2 Bde., Köln 1991. – Kunst im Zeitalter der Kaiserin Theophanu. Akten des Internationalen Kolloquiums veranstaltet vom Schnütgen-Museum Köln, hg. v. Anton von Euw und Peter Schreiner, Köln 1993. Vgl. Manuela Beer: Kölner Elfenbeinarbeiten des frühen und hohen Mittelalters: Ein Überblick, in: Glanz und Grösse des Mittelalters. Kölner Meisterwerke aus den großen Sammlungen der Welt, Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln, hg. v. Dagmar Täube und Miriam Verena Fleck, München 2011, S. 62 – 81, hier S. 64. – Vgl. dazu auch den Beitrag von Jochen Hermann Vennebusch in ­diesem Band. Ruotgeri Vita Brunonis archiepiscopi Coloniensis, in: MGH SS rer. germ. 52, hg. v. Georg H. Pertz, Hannover 1841, S. 252 – 279. Ruotgeri Vita Brunonis (wie Anm. 6), c. 49, S. 274 f. Vgl. Heinrich Schrörs: Das Testament des Erzbischofs Bruno I. von Köln (953 – 965), in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 91 (1911), S. 109 – 128 mit Übersetzung und einer ersten Quellenanalyse.

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vom Mainzer Erzbischof geschenkten silbernen Reiter („equitem argentum a Magnonciaco archiepiscopi datum“) sowie zehn silberne vasa der besseren Art („vasa decem argentea ex melioribus“) erhielt – ein in der Zeit mit weitem Bedeutungshorizont gebrauchter Begriff, der auf geschmiedete Objekte zum liturgischen Gebrauch weist.9 Diese Auflistung vermittelt zumindest einen vagen Eindruck des Reichtums von Goldschmiedearbeiten in den Kölner Kirchenschätzen des späteren 10. Jahrhunderts.10 Doch von d ­ iesem Überfluss an Objekten aus ottonischer Zeit ist nach heutigem Wissen fast nichts erhalten geblieben. Daher ist es das Ziel des vorliegenden Beitrags, die Rolle der Goldschmiedekunst in Köln um die erste Jahrtausendwende trotz ihrer schlechten Überlieferungslage genauer in den Blick zu nehmen, wobei besonders das mediale Verhältnis zur Buchmalerei besondere Aufmerksamkeit verdient. Die folgende Untersuchung gliedert sich in folgende Schritte. Zunächst richtet sich der Blick auf den Stand der Forschung. Im folgenden Schritt werden vier in der Forschung meist übereinstimmend einer Kölner Provenienz zugeordnete Werke der Goldschmiedekunst um 1000 eben auf die Probleme, aber auch die Parameter einer Zuschreibung hin beleuchtet. Und schließlich wird die zeitgenössische Kölner Buchmalerei exemplarisch nach ihrer medialen Auseinandersetzung mit der Ästhetik der Schatzkunst hinterfragt.

Die Kölner Goldschmiedekunst um 1000 – eine Chimäre der Forschung? Obwohl seit den Ursprüngen der kunsthistorischen Forschung zu d ­ iesem Feld im frühen 20. Jahrhundert weitgehend übereinstimmend gerade einmal eine Handvoll Objekte der Schatzkunst einer Kölner Provenienz zugerechnet werden, hat dieser geringe Bestand immer wieder eine erstaunlich große Aufmerksamkeit erfahren. So hat noch Hermann Fillitz 1993 mit einer bemerkenswerten Selbstverständlichkeit Köln als ein mit Trier gleichrangiges Zentrum der ottonischen Goldschmiedekunst dargestellt.11 Die Fertigung von Objekten wie 9 Anna Pawlik: Das ‚Schatzverzeichnis des Stiftes St. Georg oder: Die Bestandsaufnahme einer hochmittelalterlichen Sakristei, in: Das Jüngere Evangeliar aus St. Georg in Köln. Untersuchungen zum Lyskirchen-Evangeliar, hg. v. Klaus G. Beuckers u. Anna Pawlik, Köln 2019, S. 241 – 264, hier S. 248. 10 Dieses Testament stellt – nach Lothar Lambacher: Romanische Goldschmiedekunst in Köln. Bestand, Bedeutung und Erforschung, in: Kat. Köln 2011 (wie Anm. 5), S. 90 – 111, hier S. 92 – zugleich die einzige bislang bekannte Kölner Quelle zur Schatzkunst vor dem Inventar der Liturgika des Stifts St. ­Andreas aus dem frühen 12. Jahrhundert dar. Inzwischen hat sich die Kenntnis über hochmittelalterliche Inventare Kölner ­Kirchen, insbesondere das aus St. Georg, erweitert, vgl. Pawlik 2019 (wie Anm. 9), S. 245 – 249. 11 Hermann Fillitz: Ottonische Goldschmiedekunst, in: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, Ausst. Kat. Dom- und Diözesanmuseum und Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim, hg. v. Michael Brandt und Arne Eggebrecht, 2 Bde., Mainz 1993, Bd. 1, S. 173 – 200, hier S. 174 – 176: „Ab etwa 980 werden Zentren der ottonischen Goldschmiedekunst in Deutschland näherhin faßbar. Fast

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den ottonischen Kreuzen des Essener Domschatzes, deren Ursprung Fillitz noch in Köln vermutete, werden längst teilweise mit Trier respektive einer lokalen Fertigung in Essen selbst oder dem benachbarten Kloster Werden verknüpft.12 Ohne nähere Belege verortet Fillitz eine herausragende Goldschmiedewerkstatt eben in Bruns Gründung St. Pantaleon, die er aufgrund der Förderung Theophanus als hierfür besonders prädestiniert ansah.13 Er schrieb damit eine immer wieder formulierte Zuordnung fort, die allerdings bislang eines archäologisch fundierten Nachweises entbehrt.14 Dieses Berufen auf ‚Tradition‘ anstatt auf überprüfbare Quellen findet sich im Kontext der Forschung zur Kölner Goldschmiedekunst wiederholt.15 Diese Dekonstruktion einer evidenzbasierten Erkenntnis über einen Bestand ottonischer Goldschmiedekunst mit Entstehungszusammenhängen in der rheinischen M ­ etropole zeigt sich implizit im Katalog der Kölner Ausstellung Glanz und Größe des Mittelalters von 2011. Dieser nahm eine nach Gattungen differenzierte Bestandsaufnahme der mittel­ alterlichen Kunst in Köln vor, bei der jeweils zwei Beiträge eine Gattung analysierten, nämlich einer die Zeit bis zur Romanik sowie der zweite die Gotik. So fällt auf, dass einzig Lothar ­Lambachers Beitrag zur frühen Goldschmiedekunst sich bereits in seinem Titel ausschließlich auf die ‚Romanik‘ beschränkt und in seinen Ausführungen die vorherige Zeit unerwähnt lässt. Dieses Fehlen steht in einem auffälligen Kontrast zur Fülle der Kölner Goldschmiedekunst seit der Mitte des 11. Jahrhunderts und vor allem in der Zeit ­zwischen 1150 und 1230, die Lambacher „zu den absoluten Höhepunkten der europäischen Kunst des Mittalters“ zählt.16 So führt er ein Corpus von etwa sechzig Objekten respektive Fragmenten Kölner Provenienz aus der letztgenannten Phase zusammen, die für ihn nach den Limousiner Arbeiten den zweitgrößten Bestand romanischer Goldschmiedekunst im lateinischen Europa darstellen.17

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gleichzeitig treten in Trier und Köln, also in den Residenzen der mächtigsten Erzbischöfe des Reiches, Werkstätten hervor, von denen eine Reihe hervorragendster Zeugnisse erhalten geblieben sind“. Vgl. zusammenfassend Klaus Gereon Beuckers: Farbiges Gold. Die ottonischen Kreuze in der Domschatzkammer Essen und ihre Emails, Essen 2006. Fillitz 1993 (wie Anm. 11), S. 176: „Möglicherweise ist dort [in St. Pantaleon] auch das Zentrum der Kölner Goldschmiedekunst zu suchen.“ Lambacher 2011 (wie Anm. 5), S. 92. – Allerdings wurde schon bei den Ausgrabungen der 1950er Jahre eine Bronzewerkstatt des 11. Jahrhunderts gefunden. Vgl. Sebastian Ristow: Die Ausgrabungen von St. Pantaleon in Köln. Archäologie und Geschichte von römischer bis karolingisch-ottonischer Zeit (Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters. Beiheft, Bd. 21), Bonn 2009, S. 101 u. Kat. Nr. 656 sowie 663a–b, S. 159 f. Dazu kritisch Ulrike Surmann: Das Kreuz Herimanns und Idas (Kolumba. Werkhefte und Bücher, Bd. 4), Köln 1999, S. 7. Lambacher 2011 (wie Anm. 5), S. 91. Lambacher 2011 (wie Anm. 5), S. 91.

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Schwierigkeiten der Zuschreibung: Der Buchdeckel aus St. Gereon und die Essener Madonna Diese Diskrepanz z­ wischen Mangel und Reichtum der Überlieferung in einem Zeitraum von gerade einmal hundert Jahren ­zwischen der Mitte des 11. und 12. Jahrhunderts verlangt einen erneuten Blick auf den Bestand von vier Objekten sowie einigen Fragmenten,18 deren Entstehung in der Forschung aufgrund unterschiedlichster Argumente in Köln um 1000 gesehen wird oder wurde. Die Problematik einer nur bruchstückhaft erhaltenen Kölner Schatzkunst aus der Zeit um 1000 manifestiert sich idealtypisch im fragmentierten Buchdeckel mit der Viktor und Gereon-Tafel in seiner Mitte (Abb. 106 u. 113).19 Dieses Objekt ist seit langem von großer Bedeutung für die Forschung zur Kölner Schatzkunst um 1000, nämlich bezüglich seines zentralen Elfenbeinreliefs, das die Krönung der Märtyrer Viktor und Gereon durch den zentral thronenden Christus zeigt. Dieses gilt – nicht zuletzt aufgrund der besonderen Heiligendisposition, die spezifisch auf das Gereonsstift weist – als eine der frühesten sicher nach Köln lokalisierbaren Elfenbeinschnitzereien. Dabei ist wichtig zu konstatieren, dass die 17,7 × 10 cm große Elfenbeinplatte selbst Produkt eines Recyclings ist, denn auf ihrer heutigen Rückseite finden sich die abgetragenen Reste eines spätantiken Elfenbeinreliefs mit einer Darstellung des thronenden Christi, der von den Aposteln Petrus und Paulus begleitet wird (Abb. 107). Kaum Beachtung in der wissenschaftlichen Wahrnehmung fand im Gegensatz dazu der Rahmen aus Eichenholz, der mit seinen Maßen von 32 × 22 cm ursprünglich den Kern eines Buchdeckels bildete. Dessen Vorderseite ist mit vergoldetem Kupferblech überzogen und war vormals mit reichem Stein- und Emailbesatz verziert. Dieser Buchdeckel diente als Einband eines Evangeliars, wie aus dem Schatzverzeichnis des Gereonsstifts aus dem Jahr 1370 durch einen Verweis auf das Elfenbeinrelief der Märtyrerkrönung sehr wahrscheinlich hervorgeht.20 Dessen recht genaue Datierung auf die Zeit um 1000 legt nahe, dass es sich hierbei um den Einband für eine ottonische Handschrift gehandelt haben könnte. 18 Zu diesen Fragmenten zählt auch die sogenannte Severinscheibe von etwa 11,7 cm Durchmesser als eventuell einziger erhaltener Teil eines älteren Reliquiars ­dieses Heiligen, vgl. Fillitz 1993 (wie Anm. 11), S. 177. – Umfassend zur Scheibe mit einer Zuordnung zu dem 1043 entstandenen Schrein vgl. Sybille Eckenfels-Kunst: Goldemails. Untersuchungen zu ottonischen und frühsalischen Grubenschmelzen, Berlin 2008, S. 140 – 145 u. Kat. Nr. 23, S. 272 – 276. – Aufgrund des Filigrans könnte auch die Unterseite einer Fassung eines Zitrins im Aachener Domschatz (Inv. Nr. G 29) auf eine Kölner Provenienz deuten. Vgl. Ernst Günter Grimme: Der Aachener Domschatz (Aachener Kunstblätter, Bd. 42), Düsseldorf 1973, Nr. 29. Für diesen Hinweis danke ich Birgitta Falk. 19 Köln, Schnütgen Museum, Inv. B. 98. – Vgl. Museum Schnütgen. Handbuch zur Sammlung, hg. v. Moritz Woelk und Manuela Beer, München 2018, Nr. 19. 20 Urkundenbuch des Stiftes St. Gereon zu Köln, hg. v. Peter Joerres, Bonn 1893, Nr. 450 (1370 Apr. 4): „alium qui intitulatur ‚concordantia 4 ewangelistarum‘ habentem in prima parte laminam argenteam deauratam vermicalatam cum diversis lapidibus politis ornatam habentem im medio tabulam eburneam in qua

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Abb. 113: Buchdeckel mit Elfenbein der Krönung der Märtyrer Gereon und Viktor, Museum Schnütgen Köln, Inv. B. 98: Vorderseite.

Doch ein solcher Analogieschluss wird konterkariert durch ein ganz grundlegendes Datierungsproblem für die Goldschmiedearbeit. Während lange Zeit dieser Beschlag insbesondere aufgrund des Perlen imitierenden Buckels als eine frühmittelalterliche, vielleicht sogar merowingische Goldschmiedearbeit gedeutet wurde – und somit älter als die um 1000 umgearbeitete Elfenbeinplatte –, argumentierte Hermann Schnitzler in seinem Überblickskatalog des Schnütgen-Museums von 1968 damit, dass die Tafel aufgrund der aus Silberblech gearbeiteten Kastenrahmungen ein Werk des 12. Jahrhunderts sei oder zumindest doch in dieser Zeit umgearbeitet worden sei.21 Von da an verselbständigte sich in allen Publikationen zum Objekt eine Datierung des Rahmens ins 12. Jahrhundert, wie 2018 Moritz Woelk im neuen Auswahlkatalog kritisch konstatiert hat.22 Ohne eine genaue Material- und Technikanalyse ­dieses Objektes ist bis auf Weiteres keine Aussage darüber möglich, ob es sich um eine Goldschmiedearbeit des 7. oder 12. Jahrhunderts, vielleicht sogar mehrerer Etappen in der Zwischenzeit eines halben Jahrtausends handelt. Dass jedoch auch bei sehr genau datierbaren Werken die Frage nach der künstlerischen Verortung nicht einfacher zu beantworten ist, zeigt das Beispiel der Goldenen Madonna aus dem Essener Domschatz (Abb. 114 u. 119). Aufgrund kunstgeschichtlicher wie historischer Argumente wird die Entstehung dieser 74 Zentimeter hohen, komplett in getriebenes habetur Christus sedens in solio coronans Gereonem et Victorem martires“. Demnach war der Steinbesatz damals noch vorhanden. 21 Hermann Schnitzler: Das Schnütgen-Museum. Eine Auswahl, Köln 41968, Nr. 5. Wie fluide Positionen selbst bei Schnitzler sind, zeigt der Umstand, dass er in früheren Auflagen (hier 2., 1961, Nr. 9) den gesamten Rahmen für eine Arbeit des 7. Jahrhunderts hält, die allenfalls mit dem Elfenbein um 1000 eine Umarbeitung erfuhr. 22 Vgl. Woelk / Beer 2018 (wie Anm. 19), Nr. 19, S. 46.

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Abb. 114: Goldene Madonna, Domschatz Essen, Inv. Nr. 2.

Goldblech gehüllten, vollplastischen Skulptur der thronenden Gottesmutter mit dem Jesusknaben auf ihrem Schoß auf die Zeit ­zwischen 980 und klar vor 1000 datiert.23 Obgleich 23 Vgl. Frank Fehrenbach: Die goldene Madonna im Essener Münster. Der Körper der Königin (KunstOrt Ruhrgebiet, Bd. 4), Essen 1996 – Birgitta Falk: „ein M ­ utter gottesbild mit gold plattiert…“. Zum Erhaltungszustand der Goldenen Madonna des Essener Doms, in: Das Münster am Hellweg 56 (2003), S. 159 – 174, hier S. 161 f. – Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, Ausst. Kat. Ruhrlandmuseum Essen u. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, München 2005, Nr. 147, S. 270 (Birgitta Falk). – Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 1: Karolingische und ottonische Kunst, hg. v. Bruno Reudenbach, München 2009, Kat. Nr. 283, S. 515 (Bruno Reudenbach). – Klaus Gereon Beuckers: Bemerkungen zum Filigran der Goldenen Madonna, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 69 (2015), S. 57 – 76. – zuletzt: Essen sein Schatz. Die Goldene Madonna. Ausst. Kat. Domschatz Essen, hg. v. Andrea Wegener, Essen 2019.

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keine Quellen zur Stiftung überliefert sind, ist die Einbindung in den liturgischen Zusammenhang des Essener Damenstifts so deutlich, dass von einer Auftragsarbeit der Äbtissin Mathilde (amt. 973 – 1011), einer Enkelin Ottos I. sowie Stifterin des Otto-Mathilden-­Kreuzes (Abb. 41), für diese Gemeinschaft ausgegangen werden kann.24 Der in seiner Zeit wahrscheinlich noch exzeptionelle Charakter der Goldenen Madonna als eines der frühesten erhaltenen vollplastischen Marienbildnisse des europäischen Mittelalters legt seine Entstehung in einem wichtigen Zentrum der künstlerischen Entwicklung nahe. Dass als Entstehungsort Köln in Frage kommt, wo zu dieser Zeit mit dem Gerokreuz auch das früheste erhaltene monumentale Kruzifix als Stiftung Erzbischof Geros (amt. 969 – 976) für seine eigene Grabstätte entstand,25 wurde in der Forschung mit stilistischen Parallelen untermauert, die Frank Fehrenbach in ihrer Vielfalt zusammengetragen hat:26 Nämlich zum einen kompositionelle Elemente zur Kölner Buchmalerei der Zeit wie beispielweise die Bein- und Fußhaltung der Gottesmutter, die an diejenige der Apostelfürsten im Dedikationsbild des Everger-Epistolars aus der Zeit z­ wischen 985 und 999 erinnert (Abb. 115), zum anderen aber auch Parallelen ­zwischen den durch Emails als wach und präsent gestalteten Augen Mariens und des Jesusknaben mit den zeitgleichen Skulpturfragmenten aus dem neu errichteten Westbau von St. Pantaleon. In den vergangenen zwanzig Jahren war die Forschung zunehmend zurückhaltender mit der Verortung der Entstehung der Goldenen Madonna,27 denn sie hat mit dem Argument der Existenz einer Goldschmiedewerkstatt im Essener Damenstift auch eine dortige Herstellung in Betracht gezogen.28 Diese Verschiebung in der Zuordnung eines Herstellungsortes wird zudem durch Befunde zu einzelnen Gestaltungselementen argumentativ bestärkt, insbesondere zum Filigran und den Grubenschmelzapplikationen. Klaus Gereon Beuckers hat in einer systematischen Analyse des Filigrans wichtiger Werke ottonischer Goldschmiedekunst zeigen können, dass deut­liche motivische und stilistische Parallelen des Filigrans an der Essener Madonna sowohl auf der Spheira als auch dem von Christus gehaltenen Codex auf die Trierer Egbert-Werkstatt verweisen (Abb. 119).29 Was zunächst wie ein Widerspruch zu den bislang in der Forschung diskutierten Verortungen nach Köln respektive Essen erscheint, löst sich jedoch mit 24 Vgl. Birgitta Falk: Die Goldene Madonna, in: Mathilde. Glanzzeit des Essener Frauenstifts, hg. v. B ­ irgitta Falk u. Andrea von Hülsen-Esch, Essen 2011, S. 111 – 114. 25 Reudenbach 2009 (wie Anm. 23), S. 504 – 506 u. Nr. 282, S. 515. 26 Fehrenbach 1996 (wie Anm. 23), S. 29 – 31. 27 Vgl. Kat. Essen / Bonn 2005 (wie Anm. 23), Nr. 147, S. 270 („Westdeutschland“ ) – Andrea Wegener: Berühmt, in: Kat. Essen 2019 (wie Anm. 23), S. 8 – 17, hier S. 11, ohne Herkunftsangabe, impliziert aber durch den Verweis auf stilistische Parallelen mit der Aachener Pala d’Oro auch einen Bezug der Goldenen Madonna zu einer oberitalienischen Werkstatt. 28 Vgl. Birgitta Falk: Goldene Madonna, in: Gold vor Schwarz. Der Essener Domschatz auf Zollverein, Ausst. Kat. Ruhr-Museum Essen, hg. v. Birgitta Falk, Essen 2008, Nr. 5, S. 62. 29 Beuckers 2015 (wie Anm. 23), S. 67 u. 75.

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Abb. 115: Everger Epistolar, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 143, fol. 3v/4r: Dedikationsbild.

Blick auf stark arbeitsteilige Produktionsprozesse in Goldschmiedewerkstätten auf. Sybille Eckenfels-­Kunst, die bereits die Goldemails der Essener Madonna der Trierer Produktion zugewiesen hatte, hat anhand der ottonischen Emails gezeigt, wie diese in hochspezialisierten Werkstätten mit der notwendigen technischen Ausrüstung wie den Schmelzöfen gefertigt und auch als Handelsgut an weit entfernte Auftraggeber vertrieben wurden.30 Auch im Fall der Goldenen Madonna schließen die unterschiedliche Herkunft der ‚Komponenten‘ wie Emails oder des Filigran eine Herkunft des Werks weder aus dem Essener Damenstift noch aus Köln aus, wo sie sich in ihrem innovativen medialen Charakter gut in die dort im letzten Drittel des 10. Jahrhunderts virulente künstlerische Dynamik einfügen würde. Sowohl in der Goldenen Madonna als auch dem Buchdeckel aus St. Gereon manifestiert sich zugleich eine mediale Stärke der Goldschmiedekunst, nämlich ihre Wandlungsfähigkeit bereits bestehender Werke durch Umarbeitung. Sie bringt für die kunsthistorische Analyse jedoch Schwierigkeiten mit sich, denn Emails, Edelsteine, Kristalle und Perlen konnten alten Fassungen entnommen und in neue Werkkontexte überführt werden. Objekte der Goldschmiedekunst konnten vergrößert, aber auch beschnitten werden. Und nicht zuletzt 30 Eckenfels-Kunst 2008 (wie Anm. 18), S. 203 f. – Zu der in Briefen bezeugten Reimser Bestellung von Kreuzen aus der Trierer Egbert-Werkstatt vgl. zuletzt auch Beuckers 2023 (wie Anm. 3).

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waren die Grundmaterialien dieser Kunst, die Metalle, jederzeit einschmelzbar und somit ohne große Qualitätsverluste wiederverwertbar. Darin könnte ein Grund des Überlieferungsproblems der frühen Kölner Goldschmiedewerke um 1000 liegen, wenn diese eventuell ein Opfer des künstlerischen Booms im 12. und frühen 13. Jahrhundert wurden. Beide Beispiele zeigen zudem, dass eine Engführung von Datierungs- und Lokalisierungsfragen in der Goldschmiedekunst – zumindest in der frühen Zeit um 1000 – manchmal nicht in dem Maße möglich ist wie für Buchmalerei. Anders als im Codex mit der Omnipräsenz der Schrift als eines zweiten Medium, das für einen paläographischen Befund zur Verfügung steht, sind Werke der Goldschmiedekunst häufig ein Patchwork unterschiedlicher Techniken und Materialien bis hin zur Wiederverwendung von Bestandteilen. Dieser heterogene Charakter hat bereits Lothar Lambacher mit Blick auf die w ­ esentlich besser überlieferte romanische Goldschmiedekunst Kölns dazu bewogen, nach den Kriterien der Lokalisierung zu fragen.31 Denn „auf ­welche Weise sich im Geflecht unterschiedlicher Werkstattstrukturen verschiedene Stilformen […] ausgeprägt haben, lässt sich […] selbst für ein herausragendes Zentrum wie Köln nur ansatzweise erkennen“.32 Er fragt weiter: Sind es Inschriften von Stiftern oder gar der ausführenden Künstler wie im Fall des Eilbertus auf dem im Welfenschatz befindlichen Tragaltar? Was bedeutet Lokalisierung für ein Objekt wie den Dreikönigsschrein, an dem der dezidiert auswärtige Nikolaus von Verdun beteiligt war, der aber gerade durch dessen Schöpfung seinen unbestrittenen Platz im Kölner Dom fand?

Parameter der Zuschreibung: Das Lotharkreuz und das Herimannkreuz Zwei liturgische Kreuze als Zeugnisse einer sich wandelnden Kreuzesverehrung im 10. Jahrhundert 33 gehören zu den prominenten Objekten, die in der Forschung immer wieder mit einer Herstellung im ottonischen Köln in Verbindung gebracht werden – dies jedoch aufgrund sehr unterschiedlicher Parameter. Auch wenn die Vielzahl der Parameter künstlerische Zuordnungsfragen ein Stück weit auf sichere Fundamente zu stellen vermag, so löst der geringe Denkmälerbestand doch andererseits auch argumentative Widersprüche hinsichtlich der Datierung und Lokalisierung aus. Ausgangspunkt der Überlegungen ist das Lotharkreuz aus dem Aachener Domschatz, das inzwischen mit guten Argumenten insbesondere seiner Rezeption meist um 980 datiert 31 Lambacher 2011 (wie Anm. 5), S. 92: „Die Frage, worauf die Lokalisierung der Entstehung der im Mittelpunkt unserer Betrachtung stehenden Werke […] im Einzelnen basiert, ist leichter gestellt als beantwortet.“ 32 Lambacher 2011 (wie Anm. 5), S. 93. 33 Zum Boom künstlerischer Auseinandersetzung angesichts sich wandelnder theologischer Vorstellungen vgl. Reudenbach (wie Anm. 23), S. 506.

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Abb. 116: Lotharkreuz, Gemmenseite, Domschatz Aachen, Inv. Nr. G 22.

wird, während die ältere Forschung es um 1000 ansetzte.34 Dieses Gemmenkreuz bietet auf jeder seiner beiden so unterschiedlich gestalteten Ansichtsseiten Anhaltspunkte für eine Kölner Provenienz. Gerade die Vorderseite mit ihrem reichen Gemmen- und Edelsteinbesatz kann ihre Plastizität nur deshalb entwickeln, weil sie durch extrem feingliedrige Filigranfassungen gehalten werden (Abb. 116). In kleinster Dimension von wenigen Millimetern umlaufen Rundbogenarkaden die Steinfassungen. Gerade die feine Textur des Filigran hat die Forschung als Merkmal der Kölner gegenüber der Trierer Goldschmiedekunst um 1000 betrachtet, ­welche sich durch die reiche Verwendung von Grubenschmelzflächen auszeichnete.35 Wenn jedoch die ältere Forschung einen Werkstattzusammenhang ­zwischen dem 34 Aachen, Domschatz, Inv. Nr. G 22. – Vgl. Grimme 1973 (wie Anm. 18), Nr. 22, S. 24 – 28. – Theo Jülich: Gemmenkreuze. Die Farbigkeit ihres Edelsteinbesatzes bis zum 12. Jahrhundert, in: Aachener Kunstblätter 54/55 (1986/87), S. 99 – 258, hier S. 159 – 168. – Reudenbach 2009 (wie Anm. 23), Kat. Nr. 23, S. 229 f. mit Literatur (Rebecca Müller). – Zuletzt umfassend Klaus Gereon Beuckers: Das Lotharkreuz im Aachener Domschatz. Zur Datierung mit ikonologischen, stilistischen und historischen Methoden, in: Kanon Kunstgeschichte. Einführung in Werke, Methoden und Epochen, Bd. 1: Mittelalter, hg. v. Kristin Marek und Martin Schulz, Paderborn 2015, S. 78 – 107. 35 Fillitz 1993 (wie Anm. 11), S. 176.

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Lotharkreuz und dem Otto-Mathildenkreuz im Essener Domschatz konstatiert hat, so bauen sich angesichts des aktuellen Erkenntnisstandes methodische Fragen bezüglich der arbeitsteiligen Fertigung eines solchen Werkes auf. Denn während die Emails des Essener Stücks unter anderem aufgrund technischer Befunde, aber auch stilistischer Argumente als Produkte der Trierer Egbert-Werkstatt erkannt wurden,36 sind das Filigran und die Fassungsdetails kaum mit der Trierer Formensprache in Einklang zu bringen. Klaus Gereon Beuckers hat die Formen des Essener Kreuzes mit dem Lotharkreuz, das die vergleichbaren Anlagen der Kreuzenden zeigt, verglichen und erhebliche Unterschiede benannt.37 Ob die Goldschmiedearbeiten in Essen selbst oder an einem anderen Ort wie Köln oder eventuell sogar im Kloster Werden entstanden sind, kann kaum geklärt werden.38 Sicher ist jedoch, dass beide Kreuze unterschiedlichen Goldschmiedewerkstätten entstammen. Eindeutiger scheint beim Lotharkreuz die Referenz für Köln zu sein, w ­ elche die wesentlich schlichtere Rückseite bietet (Abb. 40). Dort ist in das vergoldete Silberblech der Kreuzarme Christus am Kreuz in einem ikonographischen Typus graviert, der stark an das Gerokreuz aus dem Kölner Dom erinnert, insbesondere bei der Schwere des herabhängenden Christuskopfes.39 Sie dürfte davon zeugen, dass der Graveur diesen monumentalen Kruzifix aus eigener und genauer Anschauung kannte, wodurch er in der Lage war, die Dynamik des schwer am Kreuz hängenden Christuskörpers aus der dreidimensionalen Skulptur in das zweidimensionale Medium der gravierten Zeichnung zu überführen. Dies legt eine Ausführung in Köln nahe, macht diese aber nicht zwingend notwendig, was eben auch für das Filigran der Gemmenseite gilt. Zumindest zeugt das gravierte Kruzifix von einer intensiven künstlerischen Auseinandersetzung mit einem wichtigen aktuellen Werk aus dem unmittel­ baren Umfeld des Doms im späten 10. Jahrhundert. Ein völlig anderer Parameter der Lokalisierung, nämlich das des inschriftlichen Ausweises der Stifter, wird in einem weiteren prominenten Objekt virulent, das in der Forschung als ein in Köln gefertigtes identifiziert wird, nämlich dem Herimann-Kreuz.40 Dessen personales Stiftungsnetzwerk – und damit auch seine Lokalisierung in das Kölner Frauenstift St. Maria im Kapitol – ist seit den Forschungen von Klaus Gereon Beuckers zur Stiftungstätigkeit der Ezzonen bekannt.41 36 Vgl. Eckenfels-Kunst 2008 (wie Anm. 18), S. 62 – 64 u. Kat. Nr. 15, S. 247 – 251. 37 Beuckers 2015 (wie Anm. 34), S. 88 – 100. 38 Grimme 1973 (wie Anm. 18), Nr. 22, S. 25 – 28 („Rheinisch [wohl Köln]“ ). 39 Auf diese Parallele wird in der Forschung fast konstant verwiesen, so bei Grimme 1973 (wie Anm. 18), Nr. 22, S. 25. – Müller 2009 (wie Anm. 24), Nr. 23, S. 229 f. – Kritisch dazu Beuckers 2015 (wie Anm. 34), S. 97 f. 40 Köln, Kolumba-Kunstmuseum, Inv.-Nr. H II. – Grundlegend: Surmann 1999 (wie Anm. 15). – Müller 2009 (wie Anm. 24), Nr. 22, S. 228 f. mit aktuellerer Literatur. 41 Klaus Gereon Beuckers: Die Ezzonen und ihre Stiftungen. Eine Untersuchung zur Stiftungstätigkeit im 11. Jahrhundert (Kunstgeschichte, Bd. 42), Münster 1993, in Bezug auf das Kreuz bes. Kap. 2.9. und 2.10.

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Abb. 117: Herimann-Kreuz, KolumbaKunstmuseum des Erzbistums Köln, Inv.-Nr. H II: Rückseite.

Die Rückseite des Kreuzes, die wie beim Aachener Lotharkreuz aus einem vergoldeten und graviertem Blech verkleidet ist, bringt ­dieses Personennetzwerk auf mannigfaltige Weise in Erscheinung (Abb. 117).42 Eine Inschrift oberhalb des Bergkristalls im Kreuzungspunkt der Balken weist das Objekt im oberen Kreuzarm (HERIMANN ARCHIEPS ME FIERI ­I VSSIT  ) als Stiftung des Kölner Erzbischofs Herimann II . (amt. 1036 – 1056) aus. Diese Inschrift korrespondiert mit einer Darstellung des knienden Stifters zu Füßen der Maria orans, die ihn allerdings nicht in erzbischöflichem Ornat, sondern in monastischem Habit mit einer Krümme zeigt. Eine zweite, vertikal nach unten weisende Namensinschrift (HERIMANVS  ) in der Verlängerung der Körperachse Mariens stellt diesen personalen Bezug zweifelsfrei her und dürfte aufgrund die HE -Ligatur den Rechtscharakter dieser Stiftung unterstreichen. Ihm gegenüber kniet eine Konventualin in Hinwendung zu Maria, denn sie fasst mit verhüllten Händen nach deren linkem Fuß. Die etwas ungelenk über ihrem Haupt gravierte Inschrift IDA weist sie als Schwester Herimanns und Äbtissin von St. Maria im Kapitol (amt. um 1040 – 1060) aus.

42 Stellvertretend: Surmann 1999 (wie Anm. 15).

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Damit verorten Bild und Schrift das Geschwisterpaar als herrschaftsnah, denn sie stammten mütterlicherseits vom sächsischen Kaiserhaus ab und waren Enkelkinder Ottos II .43 Darüber hinaus stellt ihr Erscheinen zu Füßen von Maria eine Referenz auf den Bestimmungsort ­dieses liturgischen Objekts dar, das wegen des Abbatiats von Ida an St. Maria im Kapitol mit großer Wahrscheinlichkeit als eine Stiftung zugunsten dieser Frauengemeinschaft gelten kann.44 Während die Ikonographie ambivalent über die Stellung Idas bleibt und der gewählte Typus des Dedikationsbildes beide Protagonisten als Stifter erscheinen lässt,45 macht die Inschrift deutlich, dass Herimann der gebende Part und seine Schwester stellvertretend für das Stift der nehmende war. Diese genaue Identifikation der Akteure erzeugt jedoch Schwierigkeiten bei der Datierung des Kreuzes, dessen Entstehung sich in der bisherigen Diskussion auf einen Zeitraum von etwa einem Vierteljahrhundert ­zwischen 1036 und 1060 erstreckt. Ein naheliegender Anlass zur Stiftung wäre die Weihe des Kreuzaltars von St. Maria im Kapitol im Jahr 1049, der so immer wieder in der Forschung betont wird.46 Doch selbst wenn dies der Stiftungsanlass war, muss das Objekt keineswegs zu d ­ iesem Zeitpunkt gefertigt gewesen sein. Vor ­diesem Hintergrund verunklären zwei Bildbefunde die Datierungsfrage: Herimann erscheint hier nicht in erzbischöflichem Ornat, sondern in einer schlichten Albe sowie einer Krümme, die zusammen mit der sichtbaren Tonsur eher den Eindruck eines Abtes evozieren. Das könnte auf einen Zeitpunkt vor seiner Erhebung 1036 oder nach seinem Tod 1056 verweisen. Letzteres würde wiederum die Bildpräsenz Idas erklären, die hier als Ausführende seines Stiftungswillens bildfähig geworden sei, während die Inschrift sich auf den Stifter in rechtlichem Sinn beschränkte.47 Beuckers hat diese Stiftung als stark der Familienmemoria der Ezzonen verpflichtet gedeutet,48 so dass in der Dedikationsdarstellung keine Notwendigkeit zur Betonung der geistlichen Ämter des Geschwisterpaares bestand. Eine ­solche memoriale Bindung entzieht ­dieses Objekt den modernen Bedürfnissen nach einer genauen Datierung.

43 Zu den genealogischen Zusammenhängen vgl. Beuckers 1993 (wie Anm. 41), S. 17 – 47. – Surmann 1999 (wie Anm. 15), S. 10 f. 44 Die Provenienz des Kreuzes lässt sich gesichert nur bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Vgl. Surmann 1999 (wie Anm. 15), S. 7. 45 Zum Stifterbild vgl. Klaus Gereon Beuckers: Das ottonische Stifterbild. Bildtypen, Handlungsmotive und Stifterstatus in ottonischen und frühsalischen Stifterdarstellungen, in: Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Johannes Cramer und Michael Imhof, Petersberg 2002, S. 62 – 102, zum Herimann-Kreuz S. 68 f. 46 Mit den vorherigen Forschungspositionen Surmann 1999 (wie Anm. 15), S. 7 f. – Müller 2009 (wie Anm. 24), Nr. 22, S. 228. 47 Vgl. Beuckers 2002 (wie Anm. 45), S. 68 f. 48 Vgl. Beuckers 1993 (wie Anm. 41), S. 212.

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Abb. 118: Herimann-Kreuz, KolumbaKunstmuseum des Erzbistums Köln, Inv.-Nr. H II: Vorderseite.

Dessen chronologische Einordnung wird zusätzlich erschwert durch seine heutige Erscheinungsform, die sich als Resultat vielfältiger Veränderungen und Transformationen erweist. Die stilkritisch deutlichste Verortung nach Köln ist eigentlich das reiche Filigran, das sich auf der Vorderseite hinter dem Kruzifix wie ein Textil aufspannt. Doch just d ­ ieses Filigran ist erst in das 13. Jahrhundert zu datieren.49 So unmöglich die jahrgenaue Datierung für ­dieses Objekt daher sein mag, bieten seine künstlerischen Charakteristika wichtige Anhaltspunkte für eine relative Einordnung. Denn es erweist sich mit Blick auf den weiteren regionalen Kontext im Rheinland als ein Objekt, das von künstlerischer Innovation zeugt. Dies soll exemplarisch am Kruzifix gezeigt werden. Der Corpus ist ein vergoldeter Bronze­guss, was für das 11. Jahrhundert aus der bekannten Überlieferung ebenso eine Innovation darstellt wie seine Platzierung auf der vormaligen Gemmenseite.50 Der Bronzeguss 49 Surmann 1999 (wie Anm. 15), S. 8 f. 50 Surmann 1999 (wie Anm. 15), S. 12 – 15. – Zu Bronzekruzifixen vgl. grundlegend Peter Bloch: BronzeKruzifixe (Bronzegerät des Mittelalters, Bd. 5), Berlin 1992, zum Herimann-Kreuz Kat. Nr. I E 1, S. 86 f. – Der erste Kruzifixus auf der Gemmenseite ist im erhaltenen Denkmälerbestand das Otto-MathildenKreuz in Essen von um 985, vgl. Reudenbach 2009 (wie Anm. 23), Kat. Nr. 94, S. 316 (Klaus Gereon Beuckers).

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bringt d ­ ieses Objekt in die immer wieder diskutierte Nähe zum Kloster Werden und damit dem Essener Damenstift und den ottonischen Werken seines Kirchenschatzes. Mittels der namentlich identifizierenden Stifterdarstellungen wurde das Objekt – bei aller Problematik seines Erhaltungszustandes – ostentativ in das so herrschernahe Netzwerk rheinischer Klöster und Stifte eingeordnet. Dieser Anspruch wird auch durch die Nutzung einer antiken Spolie als Christushaupt unterstrichen. Dieses zu Beginn unserer Zeitrechnung aus Lapislazuli gearbeitete Frauenköpfchen stammt aus dem unmittelbaren Umfeld der julischclaudischen Kaiserdynastie und ist vermutlich ein Porträt von Livilla oder Livia, also frühen Familienmitgliedern.51 Ob den Stiftern dieser imperiale Zusammenhang bewusst war wie beim Lotharkreuz mit dem Augustuskameo (Abb. 116), muss spekulativ bleiben. Die Verwendung einer solch heraus­ragenden wie seltenen Spolie zeugt aber von ihrem Distinktionsbewusstsein.52 So gering auch die Überlieferung von Goldschmiedekunst ist, die um 1000 in oder für Köln geschaffen wurde, so deutlich zeigt sich an den hier diskutierten Beispielen deren hohe künstlerischen Qualitäten.

Reflexe der Goldschmiedekunst in der Kölner Buchmalerei um 1000 Die heute dichteste Dokumentation dessen, was um 1000 in den florierenden Stiften und Klöstern Kölns an Goldschmiedekunst vorhanden gewesen sein muss, bietet die Buchmalerei. Denn hier, besonders in Dedikationsbildern, werden die in golden glänzende Deckel eingebundenen Codices zum zentralen Gegenstand der Darstellung (Abb. 97). Ein prägnantes Beispiel dafür findet sich in der doppelseitigen Eröffnungsillumination des Everger-Epistolars, das unter dem Kölner Erzbischof Everger (amt. 985 – 999) entstand.53 Hier wird kunstvoll das Dedikations- und Autorenbild miteinander ­verschmolzen (fol. 3v–4r; Abb. 115). Auf der Verso-Seite liegt der im erzbischöflichen Ornat gekleidete Stifter ausgestreckt auf einem grünen Grund, dessen rote Farbsprengsel ihn als Blumenwiese erscheinen lassen. 51 Vgl. stellvertretend Surmann 1999 (wie Anm. 15), S. 13 f. – Müller 2009 (wie Anm. 24), Kat. Nr. 22. 52 Vgl. Surmann 1999 (wie Anm. 15), S. 12. 53 Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 143. Digitalisat: urn:nbn:de:hbz:kn28-3-688. – Vgl. Ursula Prinz: Die älteste ottonische Kölner Prachthandschrift. Überlegungen zur malerischen Ausstattung des Everger-Epistolars (Cod. 143) unter besonderer Berücksichtigung der Ornamentik, in: Mittelalterliche Handschriften der Kölner Dombibliothek. Achtes Symposion der Diözesan- und Dombibliothek Köln zu den Dom-Manuskripten, hg. v. Harald Horst (Libelli Rhenani. Schriften der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek zur rheinischen K ­ irchen- und Landesgeschichte sowie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte, Bd. 73), Köln 2019, S. 153 – 205. – Harald Horst: Das EvergerEpistolar in der Kölner Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 143, in: Illustrierte Epistolare des frühen und hohen Mittelalters, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Vivien Bienert und Ursula Prinz, Regensburg 2021, S. 79 – 102.

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Abb. 119: Goldene Madonna, Domschatz Essen, Inv. Nr. 2: Codex des Christuskindes.

In seinen vor dem Körper ausgestreckten Händen hält er das Manipel, das er den auf der gegenüberliegenden Seite auf einer Thronbank sitzenden Apostelfürsten Petrus und Paulus entgegenhält; also sowohl dem Dompatron – und damit dem Empfänger der Handschriftenstiftung – als auch Paulus, einem der wesentlichen Autoren der im Epistolar kompilierten Texte. Beide halten jeweils in ihrer linken Hand einen Codex auf dem Knie, der durch die Vergoldung seiner Vorderseite und einen durch rote Linien angedeuteten Steinbesatz auf einen für die ottonische Zeit typischen Buchdeckel einer liturgischen Handschrift verweist. Wie eng die medialen Beziehungen ­zwischen der Goldschmiedekunst und der Buchmalerei dieser Zeit waren, zeigt ein selten beachtetes Detail der Goldenen Madonna. Dort hält das Jesuskind einen Codex in seiner linken Hand (Abb. 119),54 dessen Steinbesatz, insbesondere das Wechselspiel von rundem Stein in der Mitte zu vier tropfenförmigen Steinen in den Ecken, dem gemalten der Codices in Händen der Apostel des Dedikationsbildes im Everger-Epistolar entspricht. Mit der Verwendung von Gold war ­zwischen der Buch- und Goldschmiedekunst eine materiale Äquivalenz geschaffen, die über die bloße ikonographische Ähnlichkeit hinaus eine Präsenz des aus ‚demselben‘ Material gearbeiteten Schatzkunstobjekts 54 Vgl. dazu Beuckers 2015 (wie Anm. 23), S. 68 – 72, der den Nachweis führt, dass dessen Filigran und der Steinbesatz zum ursprünglichen Bestand gehören.

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erzeugt.55 Es kann in Bezug auf den Stifter, Everger, von einer Sensibilisierung für s­ olche Fragen ausgegangen werden, denn er war vor seiner Erhebung zum Erzbischof cimeliarius – also Schatzverwahrer – des Doms gewesen.56 Die Frage nach der Goldschmiedekunst in Köln um 1000 muss trotz ihrer schlechten Überlieferung keine vergebliche sein, wenn man unter der Prämisse der Materialevokation den Blick auf die zeitgleiche Buchmalerei gerade der Malerischen Gruppe in der rheinischen Metropole richtet. Denn gerade sie zeichnet eine Sensibilität gegenüber Formgebungen in Metallen aus, wie ein abschließendes Beispiel aus dem Gießener Evangeliar zeigen soll. Die Incipitseite zum Johannes-Evangelium (fol. 189v) weist eine der für den Codex typischen Rahmungen seiner Textzierseiten auf. Der in Metalltinte skizzierte Rahmen ist jeweils in der Mitte jeder Seite durch eine quadratische ‚Applikation‘ unterbrochen, die in einer ganz anders – als sonst auf der Seite gebräuchlich – akzentuierten, blauweiß strahlenden Farbigkeit ein diagonal gestelltes Kreuz zeigt. Die Kombination dieser Farbigkeit in Verbindung mit der mehrfachen Rahmung evozieren eine Erinnerung an Zellschmelzapplikationen der Goldschmiedekunst. In einer engeren Verknüpfung der reichen Buchmalereiüberlieferung mit der spärlichen der Schatzkunst liegt Potenzial für ein besseres Verständnis der letzteren.

55 Vgl. Joseph Salvatore Ackley / Shannon Wearing: Preciousness on Parchment: Materiality, Pictoriality, and the Decorated Book, in: Illuminating Metalwork. Metal, Object, and Image in Medieval Manuscripts (Sense, Matter, and Medium. New Approaches to Medieval Literary and Material Culture, Bd. 4), Berlin 2021, S. 3 – 48, hier S. 3: „The ‘medium-specific’ representations that resulted, in which metallic objects were depicted with metallic media, strikingly contrasted with the rest of the (non-lustrous, non-metallic) page.“ 56 Zur Biographie Evergers vgl. zuletzt Horst 2021 (wie Anm. 53), S. 95 f.

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Abbildungsnachweis Universitätsbibliothek Gießen: Abb. 1, 2, 4, 5, 8b, 9b, 11b, 12b, 13, 17, 38b, 44, 45, 46, 47, 48b, 49b und die Bilder des Gießener Evangeliars im Tafelanhang. Justus-Liebig-Universität Gießen: Abb. 3 u. 6. Klaus Gereon Beuckers, Kiel: Abb. 7. Veneranda Biblioteca Ambrosiana / Mondadori Portfolio Mailand: Abb. 8a, 11a, 12a, 20a, 56 u. 62 – 68. Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt: Abb. 8c, 9c, 11c, 12c, 15, 16, 20b, 51, 52, 54, 61 u. 97. Historisches Archiv der Stadt Köln: Abb. 8d, 9d, 12d, 49a, 50, 79 – 81 u. 83 – 85. Bibliothèque nationale de France Paris: Abb. 9a, 14, 20c, 38a, 58, 86, 87, 89 u. 91 – 96. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart: Abb. 10a u. 38c. Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln: Abb. 10b, 11d, 48a, 100 – 102 u. 115. St. Margareta Düsseldorf-Gerresheim / Diözesan- und Dombibliothek Köln: Abb. 18 u. 39a. Biblioteka Narodowa Warschau: Abb. 19. Robert Fuchs, Köln: Abb. 21 – 37. Wikimedia.org: Abb. 39b. Domschatzkammer Aachen: Abb. 40 u. 116. Domschatzkammer Essen: Abb. 41, 114 u. 119. Staatsbibliothek Bamberg: Abb. 42 u. 57. Bayerische Staatsbibliothek München: Abb. 45, 98, 99 u. 103 – 105. British Library London: Abb. 53. Joshua O’Driscoll, New York using VCEditor: Abb. 55, 59 u. 60. Stadtbibliothek Trier: Abb. 69. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz: Abb. 70. Bibliothèque nationale de France Paris, Foto: Cécile Voyer, Poitiers : Abb. 71 – 77. Elisabeth Luger-Hesse, Köln: Abb. 78 u. 82. John Rylands University Library Manchester: Abb. 88 u. 90. Museum Schnütgen / Rheinisches Bildarchiv, Köln: Abb. 106, 107 u. 113. Hessisches Landesmuseum Darmstadt (Wolfgang Fuhrmannek): Abb. 108 u. 111. Museum für Angewandte Kunst / Rheinisches Bildarchiv, Köln: Abb. 109. Musée national du Moyen Âge – Thermes de Cluny Paris: Abb. 110. Museum August Kestner Hannover: Abb. 112. Kolumba-Kunstmuseum des Erzbistums Köln: Abb. 117 u. 118.

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Farbtafeln Die folgenden Farbtafeln zeigen alle Seiten des Gießener Evangeliars, die Bilder, Zierinitialen oder Zierschriften enthalten. Um einen angemessenen Eindruck der Handschrift zu erhalten, wurden immer die jeweiligen Doppelseiten abgebildet. Die Größe der Seiten ist im Druck gegenüber dem Original etwas verkleinert. Der Buchblock des Gießener Evangeliars misst etwa 16,6 × 21,2 cm. Das Evangeliar ist in der Universitätsbibliothek Gießen unter der Signatur Hs 660 erhalten. Es ist digital unter https://digisam.ub.uni-giessen.de/urn/urn:nbn:de:hebis:26digisam-67353 vollständig einsehbar.

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