Das Gerresheimer Evangeliar: Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle 9783412503925, 3412503924

Das Gerresheimer Evangeliar gehört zu den prominentesten, stilistisch eigenwilligsten Handschriften der im 10./11. Jahrh

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Das Gerresheimer Evangeliar: Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle
 9783412503925, 3412503924

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Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters BAND 1

Herausgegeben von Klaus Gereon Beuckers, Andreas Bihrer und Timo Reuvekamp-Felber

Klaus Gereon Beuckers, Beate Johlen-Budnik (Hg.)

Das Gerresheimer Evangeliar Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Das Buch wurde gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bürgerstiftung Gerricus.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Gerresheimer Evangeliar, fol. 87v: Evangelist Markus

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz: Punkt für Punkt . Mediendesign, Düsseldorf Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-50392-5

Inhalt

Halard Horst Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Klaus Gereon Beuckers · Beate Johlen-Budnik Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Klaus Gereon Beuckers Geschichte, Forschungsstand und Forschungsproblematik des Gerresheimer Evangeliars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Doris Oltrogge Maltechnische und kodikologische Befunde zu Herstellung und Gebrauch des Gerresheimer Evangeliars . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Annemarie Stauffer Die Velen und Registerknöpfe des Gerresheimer Evangeliars . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans-Walter Stork Zur Paläographie des Gerresheimer Evangeliars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Jens Lieven „vera mater nostra abbatissa Theophanu auxerit nostram vestituram“ . . . . . . . . . . . 119 Andreas Bihrer Die Handschrift im Gebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Philipp Frey und Friederike Szill Die Nachträge des Gerresheimer Evangeliars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Thorsten Henke Das Gandersheimer Plenar und seine Nachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Julia von Ditfurth Die neuzeitlichen Nachträge im Gerresheimer Evangeliar und die Ausstattungsgeschichte der Damenstiftskirche im 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . 183

Inhalt | 5

Beate Johlen-Budnik Zur Objektbiographie des Gerresheimer Evangeliars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Farbtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

6 | Inhalt

Grußwort

Die Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln beherbergt mit dem historischen Bestand der Dombibliothek die älteste und bedeutendste in situ verbliebene Kathedralbibliothek Europas. Ihre Anfänge in der Form eines gezielten Bibliotheksaufbaus werden mit dem ersten Metropolitanbischof der Kölner Kirche, Erzbischof Hildebald (amt. 787– 818), in Verbindung gebracht. Hildebald stand als Erzkaplan Karls des Großen in engster Verbindung zum fränkischen Königshof; ihm wird auch die Gründung einer Domschule in Köln zugeschrieben. Im Skriptorium dieser Schule sind zahlreiche Handschriften geschrieben worden – und dies nicht nur für den Gebrauch in Köln –, doch mit der Kunst der Buchmalerei hat man sich in dieser Werkstatt offenbar nicht befasst. Erst viele Generationen später, seit der Zeit Erzbischofs Everger (amt. 985–999), sind in kurzer Zeit etliche unvergleichlich ausdrucksstarke Prachtcodices entstanden, die zu den Höhepunkten der ottonischen und salischen Buchmalerei gehören. Das Gerresheimer Evangeliar wurde innerhalb dieser ersten Periode kölnischer Buchmalerei lange Zeit zu Unrecht vernachlässigt. Manchmal wurde es sogar als ein eher nachrangiges Produkt betrachtet, das in künstlerischer Hinsicht mit den präziser gestalteten und kostbarer ausgestatteten Werken, wie sie etwa in Darmstadt oder Köln erhalten sind, nicht mithalten könne. Entsprechend unsicher war die Forschung in der Datierung dieser Handschrift: Man hat in ihr ein Frühwerk der Schule gesehen, das noch vor 969 entstanden sei, man hat sie einer Zwischenphase in den 1020/40er Jahren zugerechnet, oder man hat ihr eine geradezu ephemere Stellung um 1056/58 am Ende des Wirkens der Kölner Schule zugesprochen. Es ist das Verdienst von Prof. Dr. Klaus Gereon Beuckers, diese Unsicherheit der Forschung zum Anlass für eine neue Diskussion genommen zu haben. Es war ihm ein persönliches Anliegen, den Codex ganz unbefangen von verschiedenen Seiten aus neu zu betrachten und ihn auch als Ort von Nachträgen verschiedener Jahrhunderte zu würdigen. Er hat dafür etliche kompetente Experten aus verschiedenen Fachgebieten gefunden und sie zu einer höchst lebendigen und interessanten Tagung in Gerresheim versammelt, die nicht zuletzt dank der Anregung und Unterstützung der ortsansässigen Kunsthistorikerin Dr. Beate Johlen-Budnik zustande kam. Die in diesem Band verschriftlicht vorliegenden Beiträge befassen sich so nicht nur mit der Entstehung, sondern auch mit der weiteren Geschichte und Funktion des Evangeliars innerhalb des Gerresheimer Frauenstifts. Sie dokumentieren damit die umfangreichste und gründlichste Untersuchung, die diesem Codex bisher zugekommen ist. Wer sich selbst ein umfassendes Bild vom Gerresheimer Evangeliar machen möchte, hat zusätzlich zu den in diesem Tagungsband veröffentlichten Farbtafeln die Möglichkeit

Grußwort | 7

der virtuellen Einsicht in jede einzelne Seite der Handschrift. Dies ermöglicht zum einen die Medienstation in der Schatzkammer vor Ort, mit deren Hilfe man den Codex durchblättern kann. So wird das kostbare Original geschont und seine Erhaltung für künftige Generationen gesichert. Zum anderen lassen sich die digital verfügbaren Seiten auch bequem über das Internet anschauen: Dort sind sie auf den Seiten des Projekts ‚CEEC – Codices Electronici Ecclesiae Colonienis‘ einzusehen, das die Diözesan- und Dombibliothek zusammen mit der Universität zu Köln vor nunmehr 15 Jahren durchgeführt hat. So ist nicht nur die Entstehung, sondern auch die digitale Verfügbarmachung dieser Handschrift aufs Engste mit der Kölner Kirche verbunden. Ich würde mich freuen, wenn beides – dieser Tagungsband und die Digitalisate – komplementär benutzt würde und die Lektüre des Bandes zu neuen Erkenntnissen und vielleicht ungewohnten Einsichten in eine wirklich staunenswerte Prachthandschrift des ausgehenden Frühmittelalters führt. Köln, den 20. November 2015 Harald Horst Handschriftenbibliothekar der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek Köln

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Vorwort

Das Gerresheimer Evangeliar gehörte von Anfang an in den Kreis der Handschriften, die von der Forschung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als ‚Ottonische Kölner Malerschule‘ bezeichnet wurden. Dennoch stand die Prachthandschrift, die im Mittelalter das zeremonielle Hauptobjekt in der Liturgie des Gerresheimer Kanonissenstiftes St. Hippolytus gewesen ist, bisher eher im Schatten der Diskussion. Dies änderte eine Tagung, die im Oktober 2015 in Gerresheim stattfand und zu der sich verschiedene Forscher unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen eigens mit dem Codex beschäftigten. Die Ergebnisse ihrer Beiträge legt dieser Band hier vollständig und um einen reichen Farbteil, in dem alle Zierseiten und alle Nachträge der Handschrift mit den ihnen jeweils gegenüberliegenden Seiten abgebildet werden, bereichert vor. So ist es nun für jeden möglich das noch nie so umfassend in Buchform veröffentlichte Evangeliar durchzublättern und an ihm alle vorgetragenen Thesen zu überprüfen. Ziel der Untersuchungen war nicht nur die Klärung zahlreicher Fragen zur Entstehung der Handschrift im 11. Jahrhundert, die sich aus einer umfassenden restauratorischen und kodikologischen Analyse durch die Technische Hochschule Köln, aus einer paläographischen Untersuchung der Schrift sowie aus kunsthistorischen Aspekten ergeben haben, sondern vor allem eine Würdigung der Handschrift als Geschichtsquelle. Der Gerresheimer Codex weist nämlich – wie viele andere hochmittelalterliche Prachtevangeliare  – etliche Nachträge auf, die im Laufe seiner Geschichte hier wegen ihrer Bedeutung für das Stift eingefügt worden sind. Die Spanne solcher Nachträge reicht von Urkunden zu spezifischen Rechten oder Besitzungen über Schatz- und Besitzverzeichnisse bis zu Eidformeln und Gebeten, die bei Amtsübernahmen innerhalb der geistlichen Gemeinschaft wichtig waren und hier deshalb im Wortlaut festgehalten werden sollten. Das Gerresheimer Evangeliar besitzt Nachträge aus jeder dieser Gruppen, wobei deren zeitliche Spanne vom 11. bis zum 17. Jahrhundert reicht. Für keine vergleichbare Handschrift sind solche Nachträge bisher systematisch und vollständig untersucht worden. Hiermit betritt das vorliegende Buch Neuland und sucht anhand der Nachträge, einer wechselnden Funktionsgeschichte der Handschrift nachzugehen. Dies ist über den Gerresheimer Codex hinaus von methodischem Interesse für die gesamte Buchmalerei-Forschung. Dafür wurden erstmals alle Nachträge des Gerresheimer Evangeliars ediert, übersetzt und einzeln diskutiert. Die weitreichenden Ergebnisse dieser Untersuchungen bis hin zu den auf diesem Wege plötzlich möglich gewordenen Analysen der Kirchenausstattung bis in den Barock werfen nicht nur auf das Evangeliar einen neuen Blick, sondern bereichern die Forschung zum Kanonissenstift Gerresheim und seiner Kirche – einem historisch herausragenden Ort von weit überregionaler Bedeutung – erheblich.

Vorwort | 9

Dieser Band wäre ohne zahlreiche Unterstützung nicht möglich gewesen. Die Idee einer Beschäftigung mit dem Gerresheimer Evangeliar entstand im Zuge der verdienstvollen Neueinrichtung der Gerresheimer Schatzkammer unter Dechant Karl-Heinz Sülzenfuss. Beate Johlen-Budnik trug dieses Anliegen in den ‚Essener Arbeitskreis zur Erforschung der Frauenstifte‘, der im November 2014 seine Jahrestagung mit einem Abendbesuch in Gerresheim krönte. In der Schatzkammer entbrannten dabei unter einigen Kollegen schnell Diskussionen über den Codex, dessen bisher allgemein anerkannte Datierung jüngst infrage gestellt worden war. Das günstige Zusammentreffen mit Forschungen zur Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, die seit einigen Jahren durch das Arbeitskreis-Mitglied Klaus Gereon Beuckers in Kiel stattfinden, führten zu der Idee einer Tagung zum Gerresheimer Evangeliar, auf der auch die bisher unveröffentlichten Ergebnisse von Doris Oltrogge von der Technischen Hochschule Köln vorgestellt werden sollten. Schnell fanden sich von Kiel aus mit Hans-Walter Stork, Andreas Bihrer (mit seinen Studierenden Friederike Szill und Philipp Frey), Thorsten Henke und Julia von Ditfurth sowie den Arbeitskreis-Mitgliedern Jens Lieven und Annemarie Stauffer fachlich bestens ausgewiesene Kollegen, die bereit waren, sich unter dem Konzept einer umfassenden Untersuchung der Nachträge erstmals mit dem Gerresheimer Codex auseinanderzusetzen. In engem inhaltlichen Austausch wurden die Beiträge abgestimmt, dann im Oktober 2015 in Gerresheim vorgetragen und diskutiert, um schließlich für den Druck verschriftlich und erweitert zu werden. In ungewöhnlich zügiger, kollegialer und freundschaftlicher Zusammenarbeit konnte somit dieser Band mit seinen zahlreichen neuen Ergebnissen vorgelegt werden. Die Umsetzung von Tagung und Buch wären ohne eine finanzielle Unterstützung nicht möglich gewesen. Vor allem die Bürgerstiftung Gerricus aus Gerresheim hat wesentliche Teile der Kosten übernommen und durch ihre bereitwillige, unkomplizierte Zusage das gesamte Unterfangen erst ermöglicht. Dafür sei ihrem Vorstand, Herrn Michael Brockerhoff, Frau Barbara Krug, Frau Angelika Fröhling sowie Frau Yvonne Schauch ganz herzlich gedankt. Weitere Unterstützung erhielten wir durch die Philosophische Fakultät und das Kunsthistorische Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, durch ungenannt bleiben wollende Privatpersonen sowie durch den Kulturkreis Gerresheim e.V., durch die Bezirksvertretung der Stadt Düsseldorf und durch die Pfarrei St. Margareta in Gerresheim. Ihnen allen und namentlich Herrn Dechant Karl-Heinz Sülzenfuss, der uns bei der Tagung auch mit einleitenden Worten begrüßt hat, sei dafür sehr gedankt. Frau Kirsti Doepner vom Böhlau-Verlag hat das Projekt von Anfang an begleitet und die jetzt vorliegende Veröffentlichung im Verlag betreut. Der größte Dank gilt allen Autoren, die sich selbstlos trotz etlicher anderer Verpflichtungen auf dieses Projekt eingelassen und mit großem Einsatz und viel investierter Zeit neue Forschungen erarbeitet haben. Dies ist weder in der Initiative noch in der Fülle der

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Ergebnisse selbstverständlich, erst recht nicht in der Zügigkeit, die das Erscheinen dieses Buches innerhalb eines halben Jahres nach der Tagung und nur etwas mehr als ein Jahr nach der Planung des Projektes ermöglicht hat. Dank sei den Autoren auch gezollt für die unkomplizierte Zusammenarbeit bei der Redaktion, in deren Zuge noch manche inhaltlichen Ergänzungen zu bewältigen waren, und der Drucklegung. Redaktionell unersetzliche Unterstützung fanden wir in Kiel bei den Mitarbeiterinnen Katharina Priewe und Vivien Bienert, ohne deren Erfahrung bei Redaktionen und deren Kenntnisse zur mittelalterlichen Buchmalerei dies nicht möglich gewesen wäre. Von Anfang an begleitet hat das Projekt die Dom- und Diözesanbibliothek Köln unter ihrem Leiter Heinz Finger sowie vor allem dem Bibliothekar der Handschriftenabteilung, Harald Horst, der uns jederzeit kollegial in allen möglichen Belangen unterstützt und für diesen Band freundlicherweise auch ein Grußwort beigesteuert hat. Wir freuen uns auf weitere Zusammenarbeit! Zum Abschluss liegt es den Herausgebern am Herzen, an ihren gemeinsamen Doktorvater Hugo Borger (1925–2005) zu erinnern, von dem beide in ganz unterschiedlicher, aber entscheidender Weise geprägt wurden. Seine großen Verdienste um die Kölner Kulturlandschaft sind in den letzten Jahren etwas aus dem Blick geraten, sollten aber nicht vergessen werden. Ein Mittelpunkt dieser Erfolgsgeschichte war in den 1960er bis frühen 1990er Jahren das Schnütgen-Museum in Köln, an dem mit Hermann Schnitzler, Peter Bloch und Anton von Euw die wichtigsten Forscher zur Kölner Buchmalerei tätig waren. Insbesondere Anton von Euw (1934–2008) ist der Impuls zu einer erneuten Beschäftigung mit der Kölner Buchmalerei zu verdanken, die er selbst nur in ihren Anfängen begleiten konnte, aus der heraus aber dieses Projekt für Gerresheim überhaupt erst möglich wurde. Dafür und vor allem für seine überragenden Leistungen als Forscher sowie seine kollegiale Freundlichkeit über viele Jahre sei seiner in größter Hochachtung gedacht. Klaus Gereon Beuckers (Kiel) Beate Johlen-Budnik (Düsseldorf )

Vorwort | 11

Klaus Gereon Beuckers

Geschichte, Forschungsstand und Forschungsproblematik des Gerresheimer Evangeliars

Das Gerresheimer Evangeliar war nach Ausweis des Stiftungseintrags auf fol. 210v bereits bei seiner Entstehung für das Damenstift des hl. Hippolytus in Gerresheim bestimmt. „Ista D(e)o vovit / ac mox pia Hidda patravit / ac simvl Yppolito / Meritis svp(er) aethera divo.“ weist in einer zum Anlagebestand gehörenden Goldschrift eine sonst in Gerresheim nicht nachweisbare Hidda als Stifterin aus.1 Der Eintrag ist mit größerem Zeilenabstand und Sperrung der Einzelbuchstaben in Kapitalis ausgeführt und entspricht darin den Explicit/Incipit-Zeilen der Handschrift, wie sie beispielsweise auf fol. 82v das MatthäusEvangelium beschließen und die Vorrede zum Markus-Evangelium einleiten oder auf fol. 138r das Lukas- sowie auf fol. 213v das Johannes-Evangelium beginnen. Er tritt damit in der Größe und dem Schriftbild gegenüber dem Niveau der Auszeichnungsschrift beispielsweise zum Beginn der Hieronymus-Vorreden auf fol. 9r und 11v, dem Incipit des Johannes-Argumentum fol.  207v oder gar auf den Zierseiten zu Beginn des Johannes-Evangeliums zurück, ist aber gegenüber dem Textkorpus nicht zuletzt auch durch seine Isolierung auf der sonst leeren Seite deutlich hervorgehoben. Ungewöhnlich ist die Lage der Inschrift vor dem Johannes-Evangelium statt am Anfang oder Ende des Codex, wie dies üblicher ist, jedoch kann an einer Zugehörigkeit der Inschrift zur Anlage der Handschrift nicht gezweifelt werden.2 Der Codex ist somit für Gerresheim entstanden. Dort ist er definitiv seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts nachgewiesen, da in ihn von späterer Hand eine Gerresheim betreffende, vom Kölner Erzbischof Anno (amt. 1056–1075) bezeugte Urkunde der Essener Äbtissin Theophanu (amt. 1039–1058) über eine Kleidungs- und Fastenspeisestiftung für die Kanonissen eingetragen wurde,3 und dort erhielt die Handschrift, die, von kurzen Unterbrechungen im 19. Jahrhundert abgesehen, bis heute in dem niederbergischen Ort 1

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„Dieses hat Gott gelobt und dann ins Werk gesetzt die fromme Hidda // und zugleich dem Hippolitus, der auf Grund seiner Verdienste göttlich über dem Himmel weilt.“ (Übersetzung Jan Radicke). – Ulrich Kuder, Gerhard Walter: HIDDA peregrina und der Hitdacodex, in: Forum der Forschung. Wissenschaftsmagazin Brandenburgische Technische Universität Cottbus 2 (1996), S. 91–101, hier S. 95, Anm. 25 übersetzen: „Die fromme Hidda hat dieses Gott und zugleich dem durch Verdienste über den Gestirnen heiligen Hippolyt gelobt und bald darauf auch beschafft.“ Zur Paläographie der Handschrift vgl. den Beitrag von Hans-Walter Stork in diesem Band. Vgl. hierzu den Beitrag von Jens Lieven in diesem Band.

Geschichte, Forschungsstand und Forschungsproblematik des Gerresheimer Evangeliars | 13

verblieb, verschiedene Nachträge spätmittelalterlicher Schatzinventare und Eide, aus denen die prominente Rolle des Evangeliars für den Gerresheimer Konvent ablesbar ist.4 In vermutlich spätgotischer Zeit wurde die Handschrift neu gebunden und dabei unbeschriebene Lagen an den Anfang und das Ende nachgebunden, auf denen dann, wohl im fortgeschrittenen 16. Jahrhundert, ein Eid zur adeligen Abkunft nachgetragen wurde. An die Bedeutung des Codex in mittelalterlicher Zeit knüpfte man bei einer offensichtlichen Reform des Konventes im 17. Jahrhundert an, als in direktem Anschluss an eine Visitation 1669 die Eidestexte für die Kanonissen und die verschiedenen Ämter sowie ein ausführliches Credo noch einmal fein säuberlich auf die freien Seiten zu Beginn und am Schluss des Codex niedergeschrieben wurden.5 Durch diese verschiedenen Nachträge geschah eine Selbstvergewisserung, eine Manifestation des Stiftes, das mit dem alten Stiftsplenar sein historisch-liturgisches Identifikationsobjekt aufgriff. Dies ist nicht singulär, wie ein Blick beispielsweise auf die nahezu gleichzeitig erfolgte Erweiterung des karolingischen Evangeliars aus dem Damenstift Gandersheim (Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1) zeigt, in dem die Eide sogar von den vereidigten Personen unterschrieben wurden.6 Die Funktion des Evangeliars wurde so verändert, da es nach seiner zeremoniellen und liturgischen Rolle, die im Laufe des Mittelalters wohl an Relevanz verloren hatte, nun auch als Eidbuch der Stiftsämter und somit des Stiftes als Institution insgesamt fungierte, was sonst eher Statutenhandschriften vorbehalten war.7 Durch diese Einträge wurde das historisch tradierte, eng mit der Geschichte des Stiftes verbundene Evangeliar verstärkt selbst zum Repräsentanten sowohl der Geschichte als auch der Institution – und dies zu einer Zeit, als die liturgische Funktion des Evangeliars längst durch beispielsweise das Missale übernommen worden war. Die Eintragung juristischer, aber für das geistliche Selbstverständnis wichtiger Texte wie der Eide zur Ahnenprobe oder zu Ämtern bediente sich der in seinem Alter gründenden Wertschätzung des Codex und legitimierte damit die neue Bedeutung als Garantiebuch für die Rechtmäßigkeit der Amtsführungen und damit des Stiftes selbst. Ähnliche Aspekte der dezidierten Bezugnahme auf die Historizität von Handschriften lassen sich auch im Damenstift Essen, das enge historische und personelle Verflechtungen mit Gerresheim besaß, beobachten, wo 1727 der Prachteinband von dem Stiftsplenar,

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Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Bihrer in diesem Band. Vgl. hierzu den Beitrag von Julia von Ditfurth in diesem Band. Vgl. hierzu den Beitrag von Thorsten Henke in diesem Band. Als ein Beispiel für solche Statutenhandschriften aus einem Damenstift sei das um 1460/65 angelegte Statutenbuch aus St. Cäcilien in Köln genannt (Universitätsbibliothek Bonn, Inv. Nr. S 334). Vgl. http://www.manuscripta-mediaevalia.de/dokumente/html/obj31275264 (letzter Zugriff: 17.01.2016). Die Bearbeitung des Liber Ordinarius von St. Cäcilien und der damit zusammenhängenden Handschriften befindet sich durch Tobias Kanngiesser als Bonner Dissertation in Vorbereitung.

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dem Theophanu-Evangeliar (Domschatz Essen, Hs. 3), gelöst wurde.8 Stattdessen verband man den Einband mit einem dünnen Heft, das die Initien der Evangelien für die Fronleichnamsprozession und weiterer Festtagsevangelien für die Lesungen am Ambo sowie vor allem einen Essener Äbtissinnenkatalog enthielt. Hier wurde nicht die Handschrift selbst, also das liturgisch bedeutende Plenar, sondern sein Prachteinband zum Inbegriff der langen Tradition des Konventes. Solche Fälle zeigen, wie das Gerresheimer Evangeliar, eine ausdrückliche, legitimierende Anknüpfung an die Historizität derjenigen Prachtcodices, die in der Geschichte der jeweiligen Damenstifte eine exponierte Rolle gespielt hatten. Hierfür lassen sich etliche weitere Beispiele finden, von denen aus dem Kreis der ottonischen Buchmalerei in Köln nur das (Lyskirchen-)Evangeliar aus dem Kanonikerstift St. Georg genannt sei, in dem unter anderem neben einem Schatzverzeichnis im 12. auch etliche Eide im 14., 16. und 17. Jahrhundert nachgetragen wurden.9 In eine ähnliche Richtung weisen auch die mittelalterlichen Pracht8

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Vgl. Birgitta Falk: Die Geschichte des Evangelienbuches der Essener Äbtissin Theophanu, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 91 (2013), S. 165–192, insb. S. 187 ff. – Zum Evangeliar und seinen liturgischen Nutzungen vgl. Berit Helga Gass: Das Theophanu-Evangeliar im Essener Domschatz (Hs. 3), in: ...wie das Gold den Augen leuchtet. Schätze aus dem Essener Frauenstift, hg. v. Birgitta Falk, Thomas Schilp u. Michael Schlagheck (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 5), Essen 2007, S. 169–188. – Klaus Gereon Beuckers: Liturgische Ensembles in hochmittelalterlichen Kirchenschätzen. Bemerkungen anhand der Essener Ostergrabliturgie und ihrer Schatzstücke, in: „... das Heilige sichtbar machen“. Domschätze in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, hg. v. Ulrike Wendland (Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Arbeitsbericht 9), Regensburg 2010, S. 83–106, insb. S. 88 ff. Die Eide sind auf fol. 1v/2r bereits im 14. Jahrhundert zusammengestellt worden. Im Einzelnen handelt es sich um die Einträge Juramentu(m) P(raese)nciarii (fol.  2v), Eydt der Lehenlude (fol.  7r, 16. Jh.), Juramentu(m) cellarii (fol. 7v), Juramentu(m) Pastoris s. Jacobi Colon(iensis) (fol. 8r, 17. Jh.), Juramentum canonici praebendati et vicarii perpetui parochialis ecclesiae in monte Beatae Mariae Virginis (fol. 23r/23v), Juramentu(m) p(er)petui vicarii in Homb(er)gh (fol. 76r, 15. Jh. u. dasgl. fol. 76v, 17. Jh.), Juramentum Pastoris in Frawenberg (fol. 110r, 1693 ohne Text), Eidesformeln für Propst, Kanoniker, Vikar, Dekan, Thesaurar und Scholasten (fol. 110v–112r, 15. Jh.), Kölner Bischofskatalog bis Amtsantritt Phillip von Heinsbergs, offeramps Eydt (fol. 168r–171r, 15. Jh.), Juramentu(m) Vicarii sub turri (fol. 171v, 17. Jh.), Schatzverzeichnis (fol. 215v, 12. Jh.) sowie weitere Eide für Propst, Pastor von St. Maria Lyskirchen, Kanoniker, Dekan, Scholasten, Thesaurar, Vikare, Portenar, Vizethesaurar und den Pastor von Roedelbergh sowie Eydt der Lehenlude von Zeben, Eide der Vicekuraten von Roselden, des Offerams ald altare sanctae Agathae, des Pastors und der Schultheißen in Holtzem, Lengsdorff, des Kellermeisters sowie Verzeichnis der Amtspflichten des Portenars und Eyde der Lehenlude von Egermonden (fol. 216r–224v, 14. und 17. Jh.). Zum Lykirchen-Evangeliar vgl. Peter Bloch u. Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, 2  Bde., Düsseldorf 1967/70, insb. Bd. 1, S. 113–120. – Anton von Euw: Das Evangeliar von St. Maria Lyskirchen. Bestimmung und Gebrauch einer mittelalterlichen Handschrift, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 64 (1993), S. 15–36, insb. S. 19–22, der auf vergleichbare Einträge im Liuthar-Evangeliar des Aachener Domes verweist und einige Einträge abbildet. – Übersetzungen von Schatzver-

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evangeliare ähnlicher liturgischer Funktion, in die Besitzurkunden und Pfründedotierungen nachgetragen wurden, um diesen am Ort der liturgischen Haupthandschrift des Stiftes eine besondere Autorität und vor allem auch eine gesicherte Überlieferung zu garantieren. Ein Beispiel dafür aus einem Gerresheim regional und historisch nicht allzu weit entfernt liegenden Damenstift dürfte das heute vom Staatsarchiv Münster als Dauerleihgabe an das Westfälische Landesmuseum gegebene Goldene Evangeliar aus Freckenhorst sein (StAM Msc. VII., Nr. 1315), in dem im 14. Jahrhundert auf 71 Seiten solche Einträge vorgebunden wurden.10 Trotz solcher weit verbreiteten Beispiele sind die Evangeliare hierzu bisher – abgesehen von einigen Einzelstudien, von denen beispielhaft zwei Beiträge Anton von Euws genannt seien,11 – systematisch noch nicht untersucht worden. Der vorliegende Band stellt dies erstmals für das Gerresheimer Evangeliar in den Mittelpunkt. Im Folgenden soll jedoch zuerst der Handschrift selbst in ihrer Forschungsgeschichte und damit auch der hiermit untrennbar verbundenen Diskussion zur Kölner Buchmalerei des 10./11. Jahrhunderts nachgegangen werden.

Die Anfänge Das Gerresheimer Evangeliar ist erst im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Blick der Forschung gelangt. Noch 1875 hatte man die Handschrift an die Hohenzollern in Sigmazeichnis und Eid des Thesaurars bei Manfred Groten: Schatzverzeichnisse des Mittelalters, in: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik in Köln, Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln, hg. v. Anton Legner, 3 Bde., Köln 1985, Bd. 2, S. 149–154, insb. S. 150–152. – Vgl. zuletzt auch Harald Wolter-von dem Knesebeck: Liturgische Prachthandschriften der Romanik in Köln. Schätze für Liturgie, Memoria und Status, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 30 (2015), S. 72–92, insb. S. 80–84 mit Farbabbildungen der Bildseiten des Codex. 10 Vgl. Ernst Friedländer: Die Heberegister des Klosters Freckenhorst nebst Stiftungsurkunde, Pfründeordnung und Hofrecht (Veröffentlichung der Historischen Kommission des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volkskunde IV, Bd. 1; Codex Traditionum Westfalicarum, Bd. 1), Münster 1872, mit Transkriptionen der Texte S. 71–130, zur Handschrift S. 63–69. – Vgl. auch Géza Jászai: Der Prachtdeckel vom „Goldenen Buch“ aus Freckenhorst, in: Kirche und Stift Freckenhorst. Jubiläumsschrift zur 850. Wiederkehr des Weihetages der Stiftskirche in Freckenhorst am 4. Juni 1979, hg. v. Wilhelm Kohl, Warendorf 1979, S. 193–197. – Ulrich Hinz: Verborgene Schätze. Die mittelalterlichen Handschriften der Stifts- und Dechaneibibliothek Freckenhorst, in: Freckenhorst 851–2001. Aspekte einer 1150jährigen Geschichte, hg. v. Klaus Gruhn (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Kreises Warendorf, Bd. 38), Freckenhorst 2000, S. 82–99, insb. S. 88–90. – Eine kunsthistorische Untersuchung zu der Handschrift durch Marina Meyer befindet sich als Kieler Masterarbeit in Vorbereitung. 11 von Euw 1993 (wie Anm. 9). – Anton von Euw: Früh- und hochmittelalterliche Evangelienbücher im Gebrauch, in: Der Codex im Gebrauch. Akten des Internationalen Kolloquiums 11.–13. Juni 1992, hg. v. Christel Meier, Dagmar Hüpper u. Hagen Keller (Münstersche Mittelalterschriften, Bd. 70), München 1996, S. 21–30.

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ringen ausgeliefert und einen Verkauf erwogen.12 Als Vermittler dabei war unter anderem der Aachener Kanoniker Franz Bock (1823–1899) aufgetreten, der dem Verbleib des Evangeliars an seinem historischen Ort offenbar wenig Gewicht beimaß. Selbst der ebenfalls Aachener Kanoniker Johann Hubert Kessel (1828–1891), der sich ausführlich mit der Frühgeschichte und der Liturgie Gerresheims beschäftigt und eine erste Geschichte des Stiftes verfasst hat, hat die dafür wichtigen Einträge in dem Codex nicht näher wahrgenommen,13 obwohl diese bereits im 16. Jahrhundert teilweise Eingang in die Kölner Bischofschronik gefunden hatten.14 Mit dem steigenden Interesse, das die mittelalterlichen Kunstwerke seit den 1880er Jahren im Zuge der akademischen Verbreitung der Kunstgeschichte fanden, gelangte auch diese Handschrift stärker in den Blick. Das älteste Zeugnis dafür ist in der kunsthistorischen Literatur das 1882 erschienene Werk des Wirtschaftshistorikers Karl Lamprecht (1856–1915), der 1879 als Hauslehrer in das Kölner Bankiershaus Deichmann gekommen war, sich in Bonn habilitiert und 1881 zusammen mit Gustav von Mevissen (1815– 1899) die ‚Gesellschaft für Rheinische Geschichte‘ gegründet hatte.15 Er vertrat dezidiert eine Kultur- und Wirtschaftsgeschichte vor einer Politik- und Personengeschichte. In diesem Kontext legte er eine Kunstgeschichte der Initial-Ornamentik der beiden ersten Drittel des Mittelalters vor, die nicht nur eine ausführliche Einleitung und Tafeln mit umgezeichneten Initialen umfasste, sondern auch einen 149 Codices umfassenden Katalog „Kunstgeschichtlich wichtige(r) Handschriften des Rheinlandes vom 8.–13. Jahrhundert“, in dem auch etliche Kölner Codices des 10./11. Jahrhunderts aufgenommen waren.16 Das Gerresheimer Evangeliar wurde zwar nicht abgebildet, aber unter Nr. 35 gelistet. Lamprecht ging ohne nähere Begründung von einer Entstehung der Handschrift im 10. Jahrhundert aus und sah die Evangelistendarstellungen – offensichtlich einer tendenziösen Expertise von Bock aus dem Jahre 1875 folgend17 – als „roh erneuert“ an.18 Die beginnende kunsthistorische Auseinandersetzung mit der Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts fand dann zwanzig Jahre später mit der 1904 in Düsseldorf stattfindenden ‚Internationalen Kunst- und Gartenbauausstellung‘ unter dem Protektorat 12 Vgl. hierzu den Beitrag von Beate Johlen-Budnik in diesem Band. 13 Johann Hubert Kessel: Der selige Gerrich. Stifter der Abtei Gerresheim. Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte des Christenthums im Bergischen Lande, Düsseldorf 1877. 14 Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Bihrer in diesem Band. 15 Zu Karl Lamprecht vgl. Bernhard vom Brocke: Karl Lamprecht, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 13 (1982), S. 467–472. – Ines Mann, Rolf Schumann: Karl Lamprecht. Einsichten in ein Historikerleben, Leipzig 2006, insb. S. 41 ff. 16 Karl Lamprecht: Initial-Ornamentik des VIII. bis XIII. Jahrhunderts. Vierundvierzig Tafeln meist nach rheinischen Handschriften nebst Erläuterungen im Text, Leipzig 1882, S. 26–32. 17 Vgl. hierzu den Beitrag von Beate Johlen-Budnik in diesem Band. 18 Lamprecht 1882 (wie Anm. 16), S. 28: „35. Gerresheim Stiftskirche. 4°. 10. Jahrh. Evangeliar. Roh erneuerte Evangelistenbilder, Initialen, Inschriften auf Purpurgrunde.“

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des deutschen Kronprinzen aus der Familie der Hohenzollern ihren Niederschlag.19 Als Folgeausstellung zu der 1902 präsentierten Gewerbeausstellung, in der auch sakrale Kunst ausführlich vorgestellt worden war, wurden 1904 mit einem Schwerpunkt auf der mittelalterlichen Tafelmalerei vornehmlich aus dem Rheinland, den Niederlanden und Westfalen 411 Werke der Malerei bis zum 18. Jahrhundert präsentiert. Ergänzt wurde die Schau durch einige Skulpturen und Tapisserien, vor allem aber durch 115 Manuskripte und Handzeichnungen, die unter der kuratorischen Leitung von Paul Clemen (1866–1947) zusammengestellt worden waren.20 Diese begleitete Arthur Haseloff (1872–1955) durch eine Ausstellung von Fotografien aus insgesamt 45 mittelalterlichen Handschriften, die er in Schulgruppen ordnete.21 Nachdem um die Jahrhundertwende die Kunstgeschichte durch Forscherpersönlichkeiten wie Wilhelm Vöge (1868–1952), Georg Swarzenski (1876–1957) oder eben Arthur Haseloff erstmals in breiterer Weise eine Gruppierung der Buchmalereiwerkstätten des 10./11. Jahrhunderts insbesondere auf der Reichenau, in Trier, Regensburg und Salzburg erarbeitet hatte, bot die Düsseldorfer Ausstellung die Möglichkeit einer Anbindung auch anderer bedeutender Produktionsorte wie Köln. Paul Clemen gewann dafür mit Haseloff einen Wissenschaftler, der aktuell mit seiner 1901 veröffentlichten Habilitationsschrift zum Egbert-Psalter in Cividale für Furore gesorgt hatte, da er dort die von Vöge 1891 formulierte Gruppe der ottonischen Buchmalerei der Reichenau zugewiesen und auf eine neue Grundlage gestellt hatte.22 Parallel zu seiner Tätigkeit für die Düsseldorfer Ausstellung behandelte Haseloff zudem in der groß angelegten, von André Michel in Paris herausgegebenen Kunstgeschichte in zwei Kapiteln die Buchmalerei des 10. bis 19 Kunsthistorische Ausstellung Düsseldorf 1904. Katalog, 2.  Auflage ausgegeben im August 1904, Düsseldorf 1904. 20 Paul Clemen: Verzeichnis der Bilderhandschriften und Zeichnungen, in: Kat. Düsseldorf 1904 (wie Anm. 19), S. 169–200. 21 Arthur Haseloff: Photographien rheinländischer Buchmalereien des IX. bis XIV. Jh., in: Kat. Düsseldorf 1904 (wie Anm. 19), S. 201–206. Haseloff wies dem Düsseldorfer Beitrag nicht sehr viel Gewicht zu und erwähnt ihn – im Gegensatz zu den renommierten Pariser Beiträgen (s. u.) – in seinem ausführlichen wissenschaftlichen Lebenslauf nicht. Vgl. Arthur Haseloff: Mein Lebenslauf (1947), in: Arthur Haseloff als Erforscher mittelalterlicher Buchmalerei, hg. v. Ulrich Kuder und Hans-Walter Stork (Zeit + Geschichte, Bd. 15), Kiel 2014, S. 17–22, hier S. 18. Mehr Gewicht weist der Liste Ulrich Kuder: Der Hitda-Codex im Zusammenhang der Kölner Buchmalerei, in: Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640). Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013, S. 89–111, hier S. 95 f. zu. 22 Heinrich Volbert Sauerland, Arthur Haseloff: Der Psalter Erzbischof Egberts von Trier. Codex Gertrudianus in Cividale. Festschrift der Gesellschaft für nützliche Forschung zu Trier zur Feier ihres hundertjährigen Bestehens, 2 Bde., Trier 1901. – Wilhelm Vöge: Eine deutsche Malerschule um die Wende des ersten Jahrtausends. Kritische Studien zur Geschichte der Malerei im 10. und 11. Jahrhundert (Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst, Ergänzungsheft 7), Trier 1891.

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14.  Jahrhunderts, wo erstmals auch ein Abschnitt zur Kölner ottonischen Malerei zu finden ist.23 Haseloff, der in diesen Jahren in Berlin unter Wilhelm Bode am Museum tätig war, verfügte also über eine bereits weit überregionale Reputation als Malereiforscher, als er durch Clemen für Düsseldorf gewonnen wurde. In seinem Beitrag für Michels Kunstgeschichte erwähnt Haseloff das Gerresheimer Evangeliar nicht, listet die Handschrift dann aber unter Nr. 637 mit äußerst knappem Text im redaktionell etwas jüngeren Düsseldorfer Katalog.24 Zudem stellte er immerhin vier Fotografien der Handschrift aus.25 Der Impuls dafür dürfte von Clemen ausgegangen sein, der das Evangeliar in der Ausstellung selbst prominent zwischen dem Liuthar-Evangeliar Ottos  III. aus dem Aachener Domschatz und dem Egbert-Codex präsentierte, also zwischen zwei Haupthandschriften der hochgeschätzten reichenauisch-trierischen Buchmalerei.26 Er datierte das Gerresheimer Evangeliar dort bereits in das 11. Jahrhundert. 23 Arthur Haseloff: Peintures, Miniatures et Vitreaux de l’Époque Romane: I. Dans les Pays du Nord, in: Histoire de l’Art depuis les Premiers Temps Chrétiens jusqu’à nos Jours, Bd. 1: Des Débuts de l’Art Chrétien à la Fin de la Période Romane, 2 Bde., hg. v. André Michel, Paris 1905, Teilband 2, S. 711– 755, zur Kölner Malerei S. 728–730. – Arthur Haseloff: La Miniature dans les Pays Cisalpins depuis le Commenvement du XIIIe jusqu’au Milieu du XIVe Siècle, in: Histoire de l’Art depuis les Premiers Temps Chrétiens jusqu’à nos Jours, Bd. 2: Formation, expansion et évolution de l’Art Gothique, 2 Bde., hg. v. André Michel, Paris 1906, Teilband 1, S. 298–371. – Zu Haseloff vgl. Ulrich Kuder: Arthur Haseloff. ‚qui vexilla eruditionis Germanicae protulit‘, in: Christiana Albertina. Forschungen und Berichte aus der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 69 (2009), S. 45–52. – Kuder/Stork 2014 (wie Anm. 21). 24 Haseloff 1904 (wie Anm. 21), S. 204: „637. 13–16. Evangelienbuch der Äbtissin Hidda in Gerresheim.“ 25 Nur jeweils ein Foto zeigte er aus dem Mailänder Evangeliar (Nr. 635), dem Darmstädter Hitda-Codex (Nr. 638), dem Gießener Evangeliar (Nr. 641), dem Evangeliar aus St. Gereon in Stuttgart (Nr. 644), dem Bamberger Evangeliar (Nr. 645) und dem Evangeliar aus St. Maria Lyskirchen (Nr. 646); zwei Fotos zeigte er von dem Gundold-Evangeliar in Stuttgart (Nr. 639). Vier Fotos präsentierte er – neben dem Gerresheimer Evangeliar – aus dem Everger-Codex (Nr. 642) und dem Manchester Evangeliar (Nr. 643). Seine besondere Wertschätzung dürfte sich in den sechs Fotos aus dem Evangeliar aus St. Gereon im Kölner Stadtarchiv (Nr. 640) und den zwölf Fotos aus dem Sakramentar aus St. Gereon in Paris (Nr. 636) ausdrücken (zur Identifizierung der Handschriften vgl. Anm. 31). Nicht ganz klar ist die Präsentation, da Haseloff teilweise fortlaufende Zählungen angibt. Vermutlich war dementsprechend das Gerresheimer Evangeliar zusammen mit dem Pariser Sakramentar und dem Hitda-Codex präsentiert. Nachforschungen zu den Abbildungen (oder Abbildungstafeln?) im in Kiel aufbewahrten Nachlass Haseloffs blieben hierzu erfolglos. Frau Marina Meyer sei für ihre Nachforschungen im Fotoarchiv des Kunsthistorischen Instituts herzlich gedankt. 26 Clemen 1904 (wie Anm. 20), Kat. Nr. 517, S. 175: „Evangeliar, aus dem 11. Jh., aus dem Stift des h. Hippolyt in Gerresheim, von einer Hidda dem Stift geweiht. Kanonestafeln, Initialen in goldenem Rankenwerk, vor jedem Evangelium das ganzseitige Bild des schreibenden Evangelisten, ein Zierblatt in Purpur und ein Zierblatt mit Initiale. Vor dem Johannesevangelium ausserdem Kreuzigungsbild. Stiftskirche zu Gerresheim“.

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Paul Clemen, der Nestor der Denkmalinventarisation und herausragende Kenner mittelalterlicher Kunst in Köln und den Rheinlanden, dürfte die treibende Kraft der Aufarbeitung Kölner Buchmalerei des 10./11. Jahrhunderts in diesen Jahren gewesen sein.27 Über Haseloffs Düsseldorfer Liste wirkte er fortan auf die gesamte folgende Forschung. So bezog sich Heinrich Ehl, dem das erste Buch zur Kölner Buchmalerei des 10./11. Jahrhunderts zu verdanken ist (s.  u.), explizit auf die Vorarbeiten von Lamprecht und Haseloff.28 Angeregt und betreut wurde diese Dissertation jedoch nicht von Haseloff, der inzwischen in Kiel zum Ordinarius berufen worden war, sondern von Paul Clemen. Dieser hatte sich 1894 im Denkmalinventar zu Gerresheim erstmals schriftlich auch zum Evangeliar geäußert und sich dabei zwar vorerst die etwas abschätzige Einschätzung von Lamprecht zu eigen gemacht, war aber bereits stillschweigend von der These einer späteren Erneuerung der Miniaturen abgerückt.29 In der Ausstellung 1904 räumte er dem Gerresheimer Codex in Düsseldorf dann eine feste Stellung im Kreis Kölner Handschriften ein, bevor er ihn 1916 in seinem großen Werk zur Monumentalmalerei in den Rheinlanden sogar als eine der Haupthandschriften der Schule bezeichnete.30 Damit war das Gerresheimer Evangeliar fest in die Kölner Handschriftenproduktion einbeschrieben, woran die Forschung bis heute festhält. 27 Zur Person von Paul Clemen vgl. Paul Clemen 1866–1947. Erster Provinzialkonservator der Rheinprovinz, Ausst. Kat. Rheinisches Landesmuseum Bonn, bearb. v. Gisbert Knopp, Bonn 1991. – Paul Clemen „Der Rhein ist mein Schicksal geworden“. Fragment einer Lebensbeschreibung, hg. u. komm. v. Gisbert Knopp u. Wilfried Hansmann (Arbeitshefte der Rheinischen Denkmalpflege, Bd.  66), Worms 2006. 28 Heinrich Ehl: Die ottonische Kölner Buchmalerei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der frühmittelalterlichen Kunst in Westdeutschland (Forschungen zur Kunstgeschichte Westeuropas, Bd. 4), Bonn 1922, S. 7. 29 Paul Clemen: Die Kunstdenkmäler der Stadt und des Kreises Düsseldorf (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd. 3), Düsseldorf 1894, S. 104: „Evangeliar des 10. Jh., mit Evangelistenbildern, Initialen und Zierblättern, derbe Arbeit (genauer in den Bilderhandschriften der Rheinprovinz [die ist nie erschienen].)“ 30 Paul Clemen: Die Romanische Monumentalmalerei in den Rheinlanden (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 32), Düsseldorf 1916, S. 760 f.: „Die rheinischen Bilderhandschriften dieser Zeit geben uns noch nicht den Begriff von einem gleichmäßig durchgehenden Stil. [...] Unter den drei erkennbaren Gruppen und Schulen dieser Zeit, die wir im Rheinland bislang übersehen, weisen die geographisch nächsten, die Kölner und die Prümer, keine Ähnlichkeiten mit Essen oder Werden auf; vor allem ist der Stil, wie er aus den frühen Haupthandschriften der Schule, dem Sakramentar von St.  Gereon in Paris (Bibl. nat., Cod. lat.  817), dem Evangeliar der Äbtissin Hitda von Meschede in Darmstadt (Großherzogl. Bibl. 1640) und dem Evangelienbuch der Äbtissin Hidda in der Pfarrkirche zu Gerresheim, spricht, ein ganz anderer, und auch die noch in Köln befindlichen Handschriften, das Evangeliar aus St. Gereon im Stadtarchiv, das Lektionar des Erzbischofs Evergerus von Köln in der Dombibliothek, das Evangelienbuch in St.-Maria-Lyskirchen zeigen keine Verwandtschaft, die über den Zeitcharakter hinausgeht.“

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Heinrich Ehl und die Forschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die 1922 veröffentlichte Dissertation von Heinrich Ehl widmete sich auf der Grundlage von Lambrecht, Clemen und Haseloff erstmals einer umfassenden Diskussion der Handschriften und ihrer Zusammenhänge. Mit 306 Druckseiten war sie eine für diese Zeit ungewöhnlich ausführliche Promotionsschrift. Insgesamt unterschied Ehl in der ottonischen Kölner Buchmalerei fünf Gruppen: (1) die Schulbegründung (hierfür zog er das Everger-Lektionar und das Sakramentar aus St. Gereon in Paris heran),31 (2) den malerischen Hauptstil mit den Handschriften rund um den Hitda-Codex in Darmstadt, unter dem er auch das Gerresheimer Evangeliar einordnete, (3) den malerischen Mischstil mit unter anderem dem Evangeliar aus St. Maria ad Gradus im Kölner Priesterseminar und dem Lyskirchener Evangeliar, (4) dem dekorativen Stil um das Manchester Evangeliar, das Abdinghofer Evangeliar in Berlin und das Freiburger Sakramentar sowie (5) einen frühromanischen Stil.32 Zur Gerresheimer Handschrift wertete er den dortigen Eintrag der TheophanuUrkunde auf fol. 129r33 (sowie einen nicht identifizierbaren Eintrag an Theophanu auf fol. 137r34) als Argument zu einer Datierung „etwa für die zwanziger Jahre des 11. Jahr31 Zur Identifizierung der Handschriften der Kölner Buchmalerei vgl. Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9): Everger-Lektionar (Dombibliothek Köln, Col. Metr. 143), Kölner Evangeliar aus St. Gereon (Historisches Archiv Köln, Cod. W 312), Mailänder Evangeliar (Biblioteca Ambrosiana, C. 53 Sup.), Sakramentar aus St. Gereon (Bibliothèque Nationale de France Paris, Ms. Lat. 817), Hitda-Codex aus Meschede (Hess. Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Ms.  1640), Gießener Evangeliar (Universitätsbibliothek Gießen, Cos. 660), Namur-Evangeliar aus Saint-Gérard de Brogne (Bibliothèque du Grand Seminaire Namur, M 43 [13]), Gundold-Evangeliar (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. bibl. 4° 2a/b), Gerresheimer Evangeliar (Schatzkammer St. Margareta Düsseldorf-Gerresheim), Evangeliar des Kölner Priesterseminars aus St. Maria ad Gradus (Erzbischöfliche Diözesanbibliothek Köln, Hs.  1a), New Yorker Evangeliar (Pierpont Morgan Library New York, Cod. 631), Bamberger Evangeliar (Staatsbibliothek Bamberg, Msc. Bibl. 94), Stuttgarter Evangeliar aus St. Gereon (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. bibl. 2° 21), Nürnberger Einzelblätter (Kupferstichkabinett Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Mm 394 u. 395), Sakramentar aus Tyniec bei Krakau (Nationalbibliothek Warschau, BOZ 8), Sakramentar aus Mönchengladbach (Universitätsbibliothek Freiburg, Cod. 360a), Londoner Evangeliar (British Museum, Harley 2820), Evangeliar aus der Abtei Abdinghofen in Paderborn (Kupferstichkabinett Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin, Cod. 78 A 3), Lyskirchen-Evangeliar aus St. Georg in Köln (Schatzkammer St. Georg in Köln). 32 Ehl 1922 (wie Anm. 28), zum Gerresheimer Evangeliar S. 151–157. 33 Vgl. hierzu den Beitrag von Jens Lieven in diesem Band. 34 Ehl 1922 (wie Anm. 28), S. 152: „Das [die Datierung des Evangeliars in die 1020er Jahre und die Identifizierung der nirgendwo als Äbtissin bezeichneten Hiddas als Vorgängerin von Äbtissin Theophanu] erscheint umso glaubhafter, als das Evangeliar aus Hitdas Zeiten selber keine Eintragungen mehr besitzt, während sie sich unter Theophanu nur wenig häufen. So finden sich solche unwesentlicher Art auf Fol. 137 in Miniumschrift, die ebenfalls an Theophanu gerichtet sind und ferner ein zu verschiedenen

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hunderts“.35 Damit präzisierte er Clemens Einschätzung von 1904, die allgemein das 11. Jahrhundert genannt hatte, und setzte sich von der anderen bisherigen Forschung ab, die den Codex durchgängig in das 10. Jahrhundert datiert hatte. Aus den Kapitelzahlen der Evangelien erschloss er zwei verschiedene Textvorlagen, wobei die Hauptvorlage für die beiden ersten Evangelien der des Hitda-Codex in Darmstadt entspreche. Für die kunsthistorische Einordnung betonte er eine Abweichung der Evangelistentypen gegenüber den anderen Kölner Erzeugnissen und verwies dafür auf ein nicht näher benanntes Evangeliar des Mainzer Domes, wo er die nächsten Parallelen sah. In dieser vermeintlich mittelrheinischen Handschrift, die er noch durch den Verweis auf das Sakramentar aus St. Alban in Mainz erweiterte,36 sah er südwestdeutsche (reichenauische) Einflüsse, denen auch das Gerresheimer Evangeliar ausgesetzt gewesen sei. An dessen kölnischer Herkunft sei jedoch nicht zu zweifeln, da es ,technisch‘ in die Nähe des Evangeliars aus St. Gereon im Kölner Stadtarchiv zu rücken sei und weitere Bezüge zum Evangeliar im Priesterseminar, dem Lyskirchener Evangeliar, dem Hitda-Codex und dem Stuttgarter Evangeliar aus St. Gereon aufweise. Er folgerte zusammenfassend: „Damit ist bereits die stilistische und entwicklungsgeschichtliche Stellung der Handschrift innerhalb der Schule umschrieben. Wie der Gießener Kodex das Bindeglied zwischen dem Kölner Gereonsevangeliar und der Hitdahandschrift ist, so vermittelt der Gerresheimer Meister den Übergang von rein malerischem Stil der Hauptgruppe zum dunkelfarbigen Mischstil der Gruppe des Seminarkodex und darüber hinaus zum helldekorativen Stil des Stuttgarter Gereonsevangeliars und des ihm nahestehenden Evangeliars in Manchester. Damit erhält dieser qualitativ so minderwertige Kodex eine erhöhte kunsthistorische Bedeutung. Er ist wohl das einzige erhaltene Werk einer vermutlich größeren Gruppe, die den erneuten Anschluß an südwestliche Vorbilder im zweiten Viertel des Jahrhunderts und darüber hinaus vorbereitet.“ 37 Nach einer Diskussion des Mainzer Evangeliars schlussfolgerte er: „Somit ergibt sich also auf diesem Umwege ein neuer Beweis für die zweifellos kölnische Entstehung des Gerresheimer Evangeliars. Dazu trägt der Umstand bei, daß den Evangelisten die Symbole nicht beigegeben sind, wie es im Südwesten üblich ist. Gleichzeitig aber ergibt der Vergleich mit dem 981 entZeiten fortgesetztes Schatzverzeichnis auf Fol. 21b.“ – Die Schatzverzeichnisse finden sich auf fol. 263v und datieren im älteren Teil erst aus dem 13. Jahrhundert (vgl. den Beitrag von Andreas Bihrer in diesem Band), auf fol. 21v ist hingegen die Initialzierseite für das Liber generationis des MatthäusEvangeliums. Auf fol.  137r ist die Incipit-Seite des Lukas-Evangeliums mit dem typischen Text „Incipit Evangelivm D(omi)ni n(ost)ri IHV XPI secvndum Lvcam“, eine Miniuminschrift an Theophanu ist nicht erkennbar. Entweder Ehl hat hier Notizen verwechselt oder er hat seine Aussagen an der Handschrift selbst nicht überprüft. 35 Ehl 1922 (wie Anm. 28), S. 152. 36 Die beiden Vergleichshandschriften scheinen ihm in den Fotos von Haseloff vorgelegen zu haben, wo sie mit den Nummern 632 und 633 als Gruppe vor der Kölner Buchmalerei aufgeführt sind. Vgl. Haseloff 1904 (wie Anm. 21), S. 204. 37 Ehl 1922 (wie Anm. 28), S. 155.

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standenen Egbertkodex und dem um die Mitte des 11. Jahrhunderts entstandenen Gereonsevangeliar in Stuttgart, dessen Stil es vorbereitet, daß das Gerresheimer Evangeliar nur im Zusammenhang mit dem in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts gemalten Miniaturen entstanden sein kann und nicht mehr dem 10. Jahrhundert zuzuweisen ist.“ 38 Mit der Arbeit von Ehl schien das Themenfeld bestellt. Albert Boeckler (1892– 1957), der 1924/25 das Buch ausführlich rezensiert hatte,39 leitete 1948 auf dem mit dem Schwerpunkt mittelalterlicher Kunst in Brühl bei Köln veranstalteten ersten deutschen Kunsthistorikertag seinen kurzen Beitrag zu den Vorlagen der Kölner Buchmalerei – hier betonte er (Anregungen der Dissertation von Elisabeth Schipperges fortführend40) die byzantinischen Einflüsse gegenüber den traditionell stark gewichteten karolingischen – mit dem Hinweis ein, dass die ottonische Buchmalerei materiell ein bestelltes Feld sei, dessen Handschriften und Schulzusammenhänge weitgehend bekannt seien.41 Ein genauerer Blick auf die von Ehl für das Gerresheimer Evangeliar benannten Vergleiche lässt jedoch Fragen aufkommen. So wird das Mainzer Domschatz-Evangeliar, das Ehl aus dem Kunstdenkmäler-Inventar von Rudolf Kautzsch als ‚Kautzsch 1‘ über die Fotografien Haseloffs bekannt gewesen sein dürfte, längst dem Hildesheimer bzw. niedersächsischen Kunstkreis zugeordnet.42 Es ist textlich bis in die Fehlerübernahme 38 Ehl 1922 (wie Anm. 28), S. 156. 39 Albert Boeckler: Besprechung zu Ehl 1922 (wie Anm. 28), in: Jahrbuch für Kunstwissenschaft 2 (1924/25), S. 242–244. 40 Elisabeth Schipperges: Der Darmstädter Hitda-Codex. Eine Kölner Handschrift. Versuch einer Deutung, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 19 (1937), S. 235–301, insb. S. 285–288. – Eine selbständige Kurzfassung als Bilderheft: Elisabeth Schipperges: Der Hitda-Codex, ein Werk ottonischer Kölner Buchmalerei, Bonn 1938. 41 Albert Boeckler: Kölner ottonische Buchmalerei, in: Beiträge zur Kunst des Mittelalters. Vorträge der Ersten Deutschen Kunsthistorikertagung auf Schloß Brühl 1948, hg. v. Herbert von Einem, Berlin 1950, S. 144–149, hier S. 144: „Das Studium der ottonischen Buchmalerei ist keine Frage der Materialsammlung mehr, die Monumente sind bekannt, Entdeckungen bedeutender Bildhandschriften kaum mehr zu erwarten. Ebenso sind die Fragen der Entwicklung nicht mehr problematisch, wir besitzen zusammenhängende Denkmälerreihen, an denen sie sich ablesen und als einheitliche erkennen lassen.“ – Boeckler hatte sich bereits seit seiner Dissertation 1921 Jahren intensiv mit früh- und hochmittelalterlicher Buchmalerei auseinandergesetzt. Zur Kölner Malerei vgl. auch Albert Boeckler: Beiträge zur romanischen Kölner Buchmalerei, in: Mittelalterliche Handschriften. Paläographische, kunsthistorische, literarische und bibliotheksgeschichtliche Untersuchungen. Festgabe zum 60. Geburtstage von Hermann Degering, hg. v. Alois Bömer u. Joachim Kirschner, Leipzig 1926 (ND Hildesheim 1973), S. 15–28. 42 Dombibliothek Mainz, Hs. 974. – Rudolf Kautzsch, Ernst Neeb: Die kirchlichen Kunstdenkmäler der Stadt Mainz (Die Kunstdenkmäler im Freistaat Hessen; Die Kunstdenkmäler der Stadt und des Kreises Mainz, Bd. 2), Darmstadt 1919, S. 366, Nr. 1. – 1000 Jahre Mainzer Dom (975–1975). Werden und Wandel, Ausst. Kat. Dom- und Diözesanmuseum Mainz, hg. v. Wilhelm Jung, Mainz 1975, S. 284, Kat. Nr. 23. – Rolf Lauer: Mainzer Buchmalerei der Willigiszeit, in: Kat. Mainz 1975 (s. o.), S. 58–69, hier S. 68, Kat. Nr. 8. – Zum jüngeren Forschungstand mit Literatur vgl. Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, Ausst. Kat. Dom- und Diözesanmuseum Hildesheim u.

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beispielsweise beim Capitulare43 direkt abhängig von dem ehemals in Nimwegen, heute in Den Haag aufbewahrten Evangeliar aus Laon, das vermutlich in Mainz unter Erzbischof Willigis (amt. 975–1011) illustriert worden ist.44 Beide Handschriften zeigen jedoch wenig unmittelbare Nähe zum Gerresheimer Codex. So ist das Motiv des bartlosen Evangelisten, wie es für den Gerresheimer Matthäus (fol. 19v) gewählt wurde, zwar innerhalb der Kölner Buchmalerei ungewöhnlich, aber sonst bei weitem nicht singulär. In Adaption insbesondere karolingischer Vorlagen – vom Brüsseler Einzelblatt bis zum Wiener Krönungsevangeliar aus der Hofgruppe Karls des Großen und seiner Nachfolge im Reimser Ebo-Evangeliar (um 830), dem Trierer Strahov-Evangeliar in Prag (um 980/985) und weiteren Handschriften45 – zeigt auch das Evangeliar in Den Haag unbärtige Evangelisten. Wichtiger als ein solches Einzelmotiv sind aber die stilistischen Unterschiede. Nimmt man die Gruppe um das Evangeliar in Den Haag mit den unter Willigis nachträglich zugefügten (reimsisch geprägten) Kanontafeln und Evangelistenbildern, so fällt – neben den ikonographischen und motivischen Abweichungen der Darstellungen, der Rahmungen, der Hintergründe und der Einzelformen – die pastellige Farbpalette auf, die stark mit byzantinisierenden Weißhöhungen arbeitet. Diese sind jedoch in Den Haag gerne geometrisch, oft in dreieckigen oder leiterhaften Figurationen den Gewändern aufgelegt. Das Gerresheimer Evangeliar höht auf ganz andere Weise und zeigt auch sonst nur sehr allgemeine Vergleichbarkeiten. Ehls Vergleiche betrafen nur die Mainzer Buchmalerei der Willigis-Zeit. Treffender wäre jedoch der Verweis auf etwas jüngere Handschriften im zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts gewesen, die wie das Sakramentar aus St. Alban zu Namur eine abweichende Farb- und Formgebung aufweisen. Anton von Euw hat das Sakramentar Mainz zugeRoemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim, hg. v. Michael Brandt u. Arne Eggebrecht, 2  Bde., Mainz 1993, Bd. 2, S. 155 f., Kat. Nr. IV-5 (Ulrich Kuder). – Eine Neubearbeitung der Mainzer Buchmalerei unter Willigis befindet sich durch Christoph Winterer in Vorbereitung. 43 Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 26. 44 Koninklijke Bibliotheek Den Haag, Cod.  135 F  10 (ehem. Dominikanerkloster Nimwegen, Cod. 12). – Vgl. Lauer 1975 (wie Anm. 42), S. 66, Nr. 5. – Rita Otto: Zu Mainzer Handschriften des frühen Mittelalters, in: Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte 81 (1986), S. 1–32, hier S. 9 f.  – Rolf Lauer: Studien zur ottonischen Mainzer Buchmalerei, masch. schr. Diss. Bonn [1974], Bonn 1986, insb. S. 170–180 u. Kat. Nr. 4, S. 278– 284. – Kat. Hildesheim 1993 (wie Anm. 42), Bd. 2, S. 153 f., Kat. Nr. IV-4 (Ulrich Kuder). 45 Vgl. eine Zusammenstellung bei Matthias Exner: Typus, Kopie und Nachleben. Zur Wirkungsgeschichte des Krönungsevangeliars, in: Das Krönungsevangeliar des Heiligen Römischen Reiches, Ausst. Kat. Kunsthistorisches Museum Wien, hg. v. Sabine Haag u. Franz Kirchweger, Wien 2014, S. 95–130. Die dort zusammengestellten Reihen beruhen zu weiten Teilen auf der Zusammenstellung bei Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 125–144 mit den Abb. 473–560. – Auch in der Touroner Buchmalerei überwiegen unbärtige Evangelisten; vgl. Wilhelm Köhler: Die karolingischen Miniaturen, Erster Band: Die Schule von Tours (Denkmäler deutscher Kunst), Berlin 1930.

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schrieben und in ihm sowie einigen anderen Handschriften den Neuanfang der Mainzer Buchmalerei unter Erzbischof Bardo (amt. 1031–1051) gesehen.46 Betont hat er dabei die byzantinischen Vorlagen, die vor allem ikonographisch wirken. Aber darüber hinaus ist das Erscheinungsbild mit klar horizontal gebundenen Streifengründen und einer breiten Rahmung, in die Palmetten und Akanthusblätter farbig differenziert eingelegt sind, dem Erscheinungsbild des Gerresheimer Codex auffallend nahestehend. Auf diese Handschrift und ihre Gruppe verweist Ehl jedoch nicht, obwohl auch sie 1904 in Düsseldorf ausgestellt waren, ihm also in den Fotos Haseloffs vorgelegen haben müssten.47 Stilistisch sind die Figurenauffassung sowie die Gewandanlagen und nicht zuletzt die Konturbehandlung allerdings zu weit vom Gerresheimer Codex entfernt, um eine gemeinsame Werkstatt anzunehmen, vielmehr entstammen sie mit Gerresheim einem gemeinsamen Zeithorizont. Bemerkenswert an dem Sakramentar aus St. Alban ist aber auch die eigenwillige Anordnung von ganzseitigen Festtagsszenen, die als Block dem Sakramentartext vorangestellt werden, worin sich Gemeinsamkeiten mit dem heute in der Bibliothèque nationale in Paris befindlichen Kölner Sakramentar aus St. Gereon (Ms. lat. 817) zeigen. Anton von Euw hat dies – Bloch/Schnitzler folgend – auf eine gemeinsame Vorlage beider Codices aus dem Kreis Karls des Kahlen in der Art des um 870 entstandenen Metzer Krönungssakramentars zurückgeführt.48 Über gemeinsame karolingische Vorlagen sind manche Ähnlichkeiten zwischen Kölner und Mainzer Buchmalerei erklärbar. Eine direkte Nähe zwischen den mittelrheinischen Werken und dem Gerresheimer Evangeliar, wie sie Ehls Ausführungen suggerieren, ist aber nicht gegeben. Einen anderen Kontext sah Ehl in seinem systematischen Kapitel zu den Evangelistentypen der Kölner Handschriften. Dort versuchte er, die Gerresheimer Evangelisten, die in Köln singulär erhalten seien, (mit mehrfachen Sprüngen zu jüngeren Handschriften) über karolingische Vorlagen aus dem Kreis von Corbie (heute als Hofschule Karls des Kahlen bezeichnet) zu erklären.49 Für den Gerresheimer Matthäus verweist er zudem auf die Bibel aus St. Paul vor den Mauern in Rom, also eine für Karl den Kahlen entstandene 46 J. Paul Getty Museum Malibu 83 MF 77. – Vgl. Lauer 1975 (wie Anm. 42), S. 67, Nr. 7. – Anton von Euw, Joachim M. Plotzek: Die Handschriften der Sammlung Ludwig, Bd. 1, Köln 1979, Kat. Nr. V 2, S. 223–230 (Anton von Euw). – Otto 1986 (wie Anm. 44), S. 10 f. – Meisterwerke im J. Paul Getty Museum. Illuminierte Handschriften, Los Angeles 1997, Kat. Nr. 5, S. 18–20 (Elizabeth C. Teviotdale). 47 Vgl. Clemen 1904 (wie Anm. 20), Nr. 523, S. 176. – Dass Ehl die Fotografien von Haseloff vorlagen, belegt Boeckler 1924/25 (wie Anm. 39), S. 242. 48 Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 68. – von Euw/Plotzek 1979 (wie Anm. 46), S. 226/228. – Zum Metzer Sakramentar vgl. Florentine Mütherich: Sakramentar von Metz. Fragment. Ms. Lat. 1141 Bibliothèque Nationale de France Paris. Vollständige Faksimile-Ausgabe (Codices Selecti, Bd. 28), Graz 1972. – Wilhelm Köhler, Florentine Mütherich: Die karolingischen Miniaturen, Bd. 5: Die Hofschule Karls des Kahlen (Denkmäler deutscher Kunst), Berlin 1982, S. 165–174. 49 Ehl 1922 (wie Anm. 28), S. 270 f.

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vermutlich Reimser Handschrift, sowie auf die Evangelisten des karolingischen Prachteinbandes des Codex Aureus aus St. Emmeram in Regensburg und grenzt dies explizit von der Palastschule Karls des Großen ab.50 Offenbar verfügte Ehl dabei nur über eingeschränktes Bildmaterial, denn die typologische Nähe aller vier Evangelisten der Bibel aus St. Paul zu den Gerresheimer Evangelisten, die sich besonders auch bei der ungewöhnlichen Beinstellung von Markus (fol. 87v bzw. 270v) zeigt (s. u.), benennt er nicht.51 Heinrich Ehls Gruppierung der Kölner Buchmalerei fand nicht nur Zustimmung. Vor allem seine späte Datierung der Haupthandschriften der Malerischen Gruppe in Darmstadt und Gießen, die Ehl in die 1060er Jahre setzte, wurde in der ausführlichen Rezension durch Albert Boeckler verworfen.52 Ohnehin formulierte Boeckler eine eher vernichtende Gesamtbewertung des Buches.53 Die Spätdatierung war bei Ehl möglich geworden, da er den datierten Everger-Codex (zwischen 985 und 999) und das Pariser Sakramentar der Gruppe des malerischen Hauptstils in einer eigenen Gruppe der Schulbegründung vorangestellt hatte. So entkoppelten sich die Datierungen und er ließ sich durch den vollendeten Stil des Hitda-Codex zu einer Spätdatierung deutlich nach der Jahrhundertmitte hinreißen. Boeckler wollte dem nicht folgen und setzte diese Codices des malerischen Hauptstils in die 1020/30er Jahre.54 Zum Gerresheimer Evangeliar äußerte sich Boeckler in der Rezension nicht, jedoch verfügte er über eine sehr gute Kenntnis der Handschrift, vermutlich über Fotografien, aus denen Haseloff 1904 seine Ausstellung bestückt hatte.55 Jedenfalls war das Gerresheimer Evangeliar spätestens um 1930 50 Ehl 1922 (wie Anm. 28), S. 270: „Der Matthäus der Bibel von St. Paul sitzt frontal und dreht den Oberkörper in sich nach links, neigt sich etwas über und schreibt. Er ist unbärtig und bietet in allem das Vorbild des ebenfalls unbärtigen Matthäus in Gerresheim, der aber im Gegensinne ausgeführt ist und im Typus nicht unbedeutend modifiziert erscheint. Übrigens ist auch der Matthäus des Deckels vom Codex aureus unbärtig. Es läßt sich also auch der etwas auf den ersten Blick abweichende Typus des Gerresheimer Evangeliars der Corbiegruppe anschließen. Wichtig ist übrigens, daß auch Vivians- und Paulsbibel den übergeneigten Matthäustypus der Palastschule haben. Nur im Corbiekodex Codex aureus erscheint der frontal aufrechte, der in Köln herrschend wird.“ 51 Zur Bibel von St. Paul vgl. Wilhelm Köhler, Florentine Mütherich: Die karolingischen Miniaturen, Sechster Band: Die Schule von Reims (Denkmäler deutscher Kunst), 2 Bde., Berlin 1994/99, Bd. 2, S. 109–174. – Marco Cardinali (Hg.): La Bibbia carolingia dell’Abbazia di San Paolo fuori le Mura, Vatikan 2009. – Zu den früher Corbie zugeschriebenen Handschriften vgl. Köhler/Mütherich 1982 (wie Anm. 48). 52 Ehl 1922 (wie Anm. 28), S. 128. – Boeckler 1924/25 (wie Anm. 39), S. 243. 53 Boeckler 1924/25 (wie Anm. 39), S. 244: „Es sind also [...] immer wieder Einwände zu erheben, und zwar nicht nur gegen einzelne Ergebnisse, sondern ganz prinzipielle gegen die Sorgfalt und Methode der Untersuchung und auch gegen die Disziplin der Darstellung. Als Ganzes wird man deshalb dem Buche schwerlich eine lange Lebensdauer prophezeien können.“ 54 Ehl 1922 (wie Anm. 28), S. 128. – Boeckler 1924/25 (wie Anm. 39), S. 243. 55 Albert Boeckler: Schöne Handschriften aus dem Besitz der Preußischen Staatsbibliothek, Berlin 1931, Kat. Nr. 19, S. 41 f. zog das Gerresheimer Evangeliar ausführlich zum Vergleich für eine heute

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auch über die beiden Abbildungen bei Ehl hinaus (dieser hatte in den Abbildungen 60 und 61 nur den Evangelisten Lukas und die Kreuzigung abgebildet) den Forscherkreisen gut bekannt. Unabhängig von diesen Datierungsproblematiken wurde die letztlich von Haseloff stammende Gesamtreihung der Handschriften, die Ehl vor allem für die jüngeren Handschriften wesentlich erweitern konnte, nicht in Zweifel gezogen. Die Diskussion verlagerte sich – hier eher Ideen aufgreifend, die Haseloff schon 1905 im Pariser Band geäußert hatte – zu einer Würdigung der Eigenarten Kölner Malerei gegenüber den zeitgleichen Buchmalereien auf der Reichenau und in Trier/Echternach sowie gegenüber den karolingischen Wurzeln. Ein Beispiel dafür ist 1936 die wortreiche Erörterung des Hitda-Codex in Darmstadt durch Rudolf Kömstedt,56 die auch auf die kurz danach abgefasste Dissertation von Elisabeth Schipperges zu dieser Handschrift wirkte. Schipperges endete ihre Arbeit 1937 mit einer Diskussion der Kölner Buchmalerei-Gruppe. Auch sie benannte – wie Ehl  – eine Malerische Gruppe, in der sie neben dem Hitda-Codex den Everger-Codex, das Sakramentar aus St. Gereon, das Gießener und das Mailänder Evangeliar sowie den Gerresheimer Codex zusammenband.57 Chronologisch ordnete sie das Pariser Sakramentar – wie üblich – vor dem Hitda-Codex an, dem sie das Gießener Evangeliar folgen ließ. Die genaueren zeitlichen Bezüge zu den Evangeliaren in Mailand und Gerresheim blieben hingegen unbesprochen. Mit diesen hatte sie sich im Text ohnehin überMainz zugewiesene Handschrift heran (s. u.): „Die Handschrift ist ein unbekanntes Werk der Kölner Buchmalerei ottonischer Zeit, sie steht dem Evangeliar der Äbtissin Hitda, das in der Stiftskirche von Gerresheim aufbewahrt wird, stilistisch außerordentlich nahe, hat dieselbe einfache und großzügige Formgebung des Figürlichen, denselben Gewandstil, auch im Gesichtstypus oder in der einfachen Bildung von Thron und Schemel wird die Übereinstimmung deutlich. Die eigentümlichen ornamentierten Kreissegmente, welche die Ecken des Berliner Evangelistenbildes füllen – aus einem derselben sieht das Symbol hervor –, kann man gut mit den ähnlichen Segmenten der Gerresheimer Kreuzigung vergleichen, außerdem ist zu bemerken, daß die Ornamentik dieser Segmente deutlich von der sogenannten Schule von Corbie abstammt, welche für die Kölner Buchornamentik ja in vielen Fällen richtungsgebend war. Nicht weniger weisen die Initialen auf diese Schule hin, man mag wiederum das Gerresheimer Evangeliar, mag aber auch den Stuttgarter Codex Bibl. fol. 21 heranziehen. Schließlich lassen die verhältnismäßig einfach ornamentierten Kanonbögen mit ihren Dreiecksgiebeln in Aufbau und Ornamentik den Kölner Ursprung wohl erkennen, und die kreidige blasse Farbigkeit, die gebrochene grünliche, grau- oder braungelbe, rötliche und lilafarbene Töne bevorzugt, paßt ebenfalls gut in das genannte Zentrum rheinischer Buchkunst.“ 56 Rudolf Kömstedt: Zur Beurteilung der frühmittelalterlichen Buchmalerei, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch. Westdeutsches Jahrbuch für Kunstgeschichte 9 (1936), S. 31–58. 57 Schipperges 1937 (wie Anm. 40), S. 291 f.: „Der Hitdacodex schließt sich mit dem Everger-Epistolar, den Hss. in Paris (Bibl. nat. lat. 817), Gießen (Universitätsbibliothek 660), Gerresheim (Stiftskirche), Mailand (Ambrosiana, C. 53 sup.) zu einer malerischen Gruppe zusammen. Die nächsten Verwandten des Hitdacodex sind das Pariser Sacramentar und das Gießener Evangeliar. Aus stilistischen Gründen möchte ich annehmen, daß die Darmstädter Hs. nach dem Pariser Sacramentar, aber vor dem Gießener Codex entstanden ist.“

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haupt nicht beschäftigt. Dezidiert kehrt Schipperges gegenüber Ehl die zeitliche Abfolge zwischen dem Hitda-Codex und dem Gießener Evangeliar um,58 was seitdem Konsens der Forschung ist. Auch nahm sie die von Ehl abgesonderten Handschriften des Everger-Codex und des Pariser Sakramentars wieder in die Gruppe auf und folgte damit Boecklers Rezension, der die Ausgrenzung dieser Codices bei Ehl als „nicht überzeugend“ gewertet hatte.59 Durch die Hereinnahme des datierten Everger-Codex war der Weg zu einer einigermaßen umgrenzten und vor allem früheren Ansetzung der Gruppe wieder frei. Schipperges datierte den Hitda-Codex – ähnlich wie Boeckler – so in das erste Viertel des 11. Jahrhunderts. Eine argumentative Begründung für ihre Gruppierung blieb sie aber schuldig, was insbesondere für die postulierte Nähe des Gerresheimer Evangeliars zu den anderen Handschriften der Malerischen Gruppe Fragen aufwirft. Mit dem Zweiten Weltkrieg und dem anschließenden Wiederaufbau kam die Diskussion zur Kölner Buchmalerei vorerst zum Erliegen. 1952 legte dann Walter Broel die bis dahin ausführlichste Vorstellung des Gerresheimer Evangeliars in der Gerresheimer Heimatzeitschrift vor.60 Dabei nahm er nicht nur den Codex und seine über die Stifterin gegebene namentliche Beziehungen zum Darmstädter Hitda-Codex in den Blick, sondern verwies erstmals auch auf die verschiedenen Nachträge in der Handschrift, die er teilweise transkribierte und übersetzte. Den Beitrag ergänzten zudem vier Abbildungen, die den Evangelisten Matthäus (fol. 20v), die L-Initialzierseite (fol. 21v), eine Schriftprobe von fol. 139r sowie die Kreuzigung (fol. 211v) zeigten. In der kunsthistorischen Einordnung folgte Broel der Dissertation von Ehl.

Peter Bloch, Hermann Schnitzler und die Forschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Auf die Problematik der Zuordnung der Gerresheimer Handschrift zur Malerischen Hauptgruppe, die bisher von allen Autoren vertreten worden war, reagierten Hermann Schnitzler (1905–1976) und Peter Bloch (1925–1994) in ihrer grundlegenden Untersuchung der Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, die 1967 und 1970 in zwei opulent bebilderten, gewichtigen Bänden vorgelegt wurde.61 Der erste Band stellte die einzelnen Handschriften mit detaillierten Inhaltsangaben und Beschreibungen der 58 Ehl 1922 (wie Anm. 28), S. 108 u. 120. 59 Boeckler 1924/25 (wie Anm. 39), S. 242. 60 Walter Broel: Der Hitda-Kodex. Ein Evangeliar aus dem 11. Jahrhundert im Besitz der Stiftskirche zu Gerresheim, in: Rund um den Quadenhof. Heimatzeitschrift des Bürger- und Heimatvereins Düsseldorf-Gerresheim 3 (1952), S. 1–3. – Herrn Peter Stegt, Gerresheim, sei für eine Kopie des Beitrags herzlich gedankt. 61 Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9).

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gesamten Ausgestaltung sowie eine Abbildung aller Zierseiten in schwarz-weiß und ausgewählten Farbtafeln vor. Der zweite Band diskutierte die Gruppen systematisch nach den Voraussetzungen der Kölner Malerei, dem Aufbau der Handschriften, ihrer ornamentalen und bildlichen Ausstattung. Der bestens ausgewiesene Buchmalerei-Forscher Carl Nordenfalk (1907–1992) zollte dieser Leistung, die am Kölner Schnütgen-Museum erarbeitet und durch den Kölner Kulturdezernenten wesentlich gefördert wurde,62 zu Recht in einer umfangreichen Rezension „seine Bewunderung für die große Leistung“ und betonte die neue Qualität durch die erstmals erfolgte vollständige Veröffentlichung einer Buchmalerei-Gruppe.63 Seine große Hochachtung unterstrich er, indem er das Werk mit dem 1930 von Wilhelm Köhler begonnenen und von Florentine Mütherich bis in das 21.  Jahrhundert fortgesetzten Korpus der karolingischen Buchmalerei, dem bis heute wohl renommiertesten Projekt zur frühmittelalterlichen Buchmalerei weltweit, verglich (wobei das Kölner Werk dem Münchener Projekt in der Druckqualität der Abbildungen bereits 1967 deutlich überlegen war). Bis heute liegt für keine andere Buchmalerei-Werkstatt des 10./11. Jahrhunderts eine vergleichbar umfassende Publikation vor.64 Die beiden gewichtigen Bände waren die Frucht bereits längerer Beschäftigung von Hermann Schnitzler mit der Kölner Buchmalerei, die sich im ersten Bildband seiner ‚Rheinischen Schatzkammer‘ und vor allem in zwei wichtigen Aufsätzen zu den Kölner Hieronymus- und Gregordarstellungen sowie zu den späten Kölner Gruppen niedergeschlagen hatte.65 Mit Peter Bloch holte Schnitzler 1958 einen durch seine Dissertation 62 Die herausragende internationale Bedeutung des Schnütgen-Museums in dieser Zeit für die Erforschung mittelalterlicher Kunst und deren Präsentation ist bisher nicht angemessen untersucht. Zu einigen Daten vgl. 100 Jahre Schenkung Schnütgen. Eine Chronik, hg. v. Hiltrud Westermann-Angerhausen u. Manuela Beer (Schriften des Pro Arte Medii Aevi – Freunde des Museums Schnütgen), Köln [2006]. – Einige Aspekte bei Klaus Gereon Beuckers: Der Kunsthistoriker Anton von Euw. Ein Schweizer in Köln, in: Anton von Euw (1934–2009). Bibliographie seiner Schriften, hg. v. Wolfgang Schmitz (Kleine Schriften der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, Bd. 29), Köln 2011, S. 5–17, insb. S. 7 u. 10–13. 63 Carl Nordenfalk: Rezension zu Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), in: Kunstchronik. Monatsschrift für Kunstwissenschaft, Museumswesen und Denkmalpflege 24 (1971), S. 292–309, Zitat S. 301: „Zum ersten Mal wird eine der führenden deutschen Malerschulen aus der Zeit der sächsischen und salischen Herrscher in einer Prachtpublikation mit Anspruch auf Vollständigkeit in der Wiedergabe der Bild- und Schmuckseiten veröffentlicht und damit der Forschung zugänglich gemacht. Es ist ein Standardwerk gleicher Art wie die von W. Koehler im Auftrag des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft herausgegebene Karolingischen Miniaturen, nur etwas anders in Format und Bearbeitung des Materials.“ 64 Am ehesten erfüllt die Dissertation zur Gruppe um den Egbert-Psalter noch diese Kriterien. Vgl. Thomas Labusiak: Die Ruotprechtgruppe der ottonischen Reichenauer Buchmalerei. Bildquellen – Ornamentik – stilgeschichtliche Voraussetzungen (Denkmäler Deutscher Kunst), Berlin 2009. 65 Hermann Schnitzler: Rheinische Schatzkammer [I]. Tafelband, Düsseldorf 1957.  – Hermann Schnitzler: Hieronymus und Gregor in der ottonischen Kölner Buchmalerei, in: Kunstgeschichtliche Studien für Hans Kauffmann, hg. v. Wolfgang Braunfels, Berlin 1956, S. 11–18. – Hermann

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zum Hornbacher Sakramentar bestens in die ottonische Buchmalerei eingearbeiteten Mitarbeiter an das Schnütgen-Museum,66 mit dem er verstärkt ab 1962 das gewaltige Projekt angehen konnte.67 Zuarbeiten leistete ab 1962 auch der junge Anton von Euw (1934– 2009), der 1964 bereits ausgehend von dem Kölner Evangeliar in Bamberg einen Aufsatz zu Illustrationen zum Johannes-Prolog und den Vorlagen der Kölner Buchmalerei vorgelegt hatte und seitdem immer wieder auf das Thema zurückkam.68 In einer leichten Abweichung gegenüber Ehl untergliederten Bloch/Schnitzler die Kölner Handschriften, die fast alle bereits Ehl diskutiert hatte,69 in vier Gruppen plus dem Lyskirchener Evangeliar als Nachzügler. Wie bei Schipperges umfasste ihre Malerische Gruppe das Everger-Lektionar, das Sakramentar aus St. Gereon sowie die Evangeliare im Kölner Stadtarchiv, in Mailand und Gießen sowie den Hitda-Codex, 70 allerdings schlossen sie das Gerresheimer Evangeliar aus diesem Kreis aus. Eine zweite Reiche Gruppe bildeten Bloch/Schnitzler um das Bamberger Evangeliar, dem sie die Evangeliare aus St. Maria ad Gradus im Kölner Priesterseminar und in New York anschlossen.71

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Schnitzler: Zum Spätstil der ottonischen Kölner Malerei, in: Festschrift Hans R. Hahnloser zum 60. Geburtstag 1959, hg. v. Ellen J. Beer, Paul Hoder u. Luc Monjon, Basel 1961, S. 207–222. – Eine Zusammenstellung seiner Schriften bis 1965 in: Miscellanea pro arte. Hermann Schnitzler zur Vollendung seines 60. Lebensjahres am 13. Januar 1965, hg. v. Peter Bloch u. Joseph Hoster (Schriften des Pro Arte Medii Aevi – Freunde des Museums Schnütgen, Bd. 1), Düsseldorf 1965, S. 353–356. Peter Bloch: Das Hornbacher Sakramentar und seine Stellung innerhalb der frühen Reichenauer Buchmalerei (Basler Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 15), Basel 1956. Bloch wurde 1963 vom Assistenten zum Kustos am Schnütgen-Museum befördert, bevor er 1967 in die Skulpturensammlung der Berliner Museen wechselte. Eine intensive Beschäftigung mit der Buchmalerei setzte erst wieder nach seiner Kölner Habilitation über ‚Siebenarmige Leuchter in christlichen Kirchen‘ 1962 ein. Der erste umfangreiche, 1962 erschienene Beitrag hierzu war Peter Bloch: Zum Dedikationsbild im Lob des Kreuzes des Hrabanus Maurus, in: Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr, hg. v. Viktor H. Elbern, 3 Bde., Düsseldorf 1962/64, Textband 1, S. 471–494. Eine Zusammenstellung seiner Schriften in: Festschrift für Peter Bloch zum 11. Juli 1990, hg. v. Hartmut Krohm u. Christian Theuerkauf, Mainz 1990, S. XIII– XVIII. Anton von Euw: Zu den Quellen der ottonischen Kölner Buchmalerei, in: Elbern 1962/64 (wie Anm. 67), Textband 2, S. 1043–1067. – Zusammenstellungen seiner Schriften in: Thesaurus Coloniensis. Beiträge zur mittelalterlichen Kunstgeschichte Kölns. Festschrift Anton von Euw, hg. v. Ulrich Krings, Wolfgang Schmitz u. Hiltrud Westermann-Angerhausen (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd. 41), Köln 1999, S. 11–20 – Schmitz 2011 (wie Anm. 62), S. 18–44. Neu hinzu kamen die Evangeliare in Namur, New York und London sowie die Nürnberger Einzelblätter und die Sakramentare in Warschau und Freiburg. Schipperges 1937 (wie Anm. 40), S. 289. Das 1967 als XIII mitgelistete Evangeliar aus der Kölner Dombibliothek, Col. Metr. 144 wurde vor der Drucklegung 1970 wieder ausgeschlossen, da es inzwischen Seeon zugeschrieben wurde. Vgl. Glaube und Wissen im Mittelalter. Die Kölner Dombibliothek, Ausst. Kat. Erzbischöfliches Diözesanmuseum Köln, hg. v. Joachim M. Plotzek u. a., München 1998, Kat. Nr. 79, S. 383–385 (Ulrike

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Die Handschriften rund um das Abdinghofen-Evangeliar, die zwischenzeitlich Ernst Bange und Eberhard Wiegand neu besprochen und denen Schnitzler seinen Aufsatz in der Festschrift Hahnloser gewidmet hatte,72 fügten sie mit dem Stuttgarter Evangeliar aus St. Gereon als Gründungscodex, den Nürnberger Blättern, den Sakramentaren in Warschau und Freiburg sowie dem Londoner Evangeliar als Strenge Gruppe zusammen. Zwischen die Malerische Gruppe und die Reiche Gruppe schoben sie eine Malerische Sondergruppe ein, da die drei dort verorteten Evangeliare in Namur, Stuttgart (Gundold-Codex) und Gerresheim zwar gewisse Bezüge zur Malerischen Gruppe aufwiesen, aber mindestens ebenso viele Abweichungen. Gegenüber Ehl ergaben sich so einige wesentlichen Unterschiede: Ehl hatte unter der Überschrift „Der dekorative Stil“ eine Gruppe gebildet, in der er die Evangeliare aus St. Gereon in Stuttgart, in Manchester (John Rylands Library Manchester, Ms. lat. 98), in Berlin (Abdinghofener Ev.), London und das Freiburger Sakramentar zusammengeführt hatte. Grund dafür war die große Nähe der Stuttgarter Handschrift zum Manchester Codex, als dessen Kopie sie bis heute oft gilt, und deren stilistische Nähe zu den anderen Codices, die Bloch/Schnitzler als Strenge Gruppe fassten. Sah er die Handschrift in Manchester noch als Kölner Werk, so folgten Bloch/Schnitzler den Überlegungen von Carl Nordenfalk aus dem Jahre 1931, der das Evangeliar als Werk des Trierer Gregormeisters erkannt hatte.73 Bloch/Schnitzler zogen die Handschrift deshalb nicht nur aus der Kölner Produktion heraus, sondern übertrugen die offenkundig direkte Abhängigkeit der Handschriften in Ehls Dekorativer Gruppe vom Manchester Codex auf die gesamte Kölner Buchmalerei. Schon in der Einleitung und dann in jedem Kapitel verstanden sie die ganze Kölner Surmann). – Schreibkunst. Mittelalterliche Buchmalerei aus dem Kloster Seeon, Ausst. Kat. Haus der Bayerischen Geschichte Augsburg, hg. v. Josef Kirmeier, Alois Schütz u. Evamaria Brockhoff (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Bd. 28/94), Regensburg 1994, Kat. Nr. 28, S. 159 f. (Alois Schütz). 72 Ernst F. Bange: Das Abdinghofener Evangeliar im Kupferstichkabinett, in: Berliner Museen. Berichte aus den Preußischen Kunstsammlungen 42 (1920/21), S. 96–101. – Eberhard Wiegand: Ein Kölner Evangeliarfragment des 11.  Jahrhunderts, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1934/1935, S. 45–48. – Schnitzler 1961 (wie Anm. 65). 73 Carl Nordenfalk: Ein karolingisches Sakramentar aus Echternach und seine Vorläufer, in: Acta Archaeologica 2 (1931), S. 207–244, hier S. 207 f., Anm. 3 nur mit nennender Zuweisung. – Carl Nordenfalk: Der Meister des Registrum Gregorii, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 3. Folge 1 (1950), S. 61–77, insb. S. 64 f. – Brigitte Nitschke: Die Handschriftengruppe um den Meister des Registrum Gregorii (Münstersche Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 5), Recklinghausen 1966, insb. S. 72–75, deren Hände-Differenzierung sich nicht durchgesetzt hat. – Carl Nordenfalk: The Chronology of the Registrum Master, in: Kunsthistorische Forschungen Otto Pächt zu seinem 70. Geburtstag, hg. v. Artur Rosenauer u. Gerold Weber, Salzburg 1972, S. 62–76. – Zum Codex mit weiterer Literatur zuletzt Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike zum Mittelalter, Ausst. Kat. Kulturhistorisches Museum Magdeburg, hg. v. Matthias Puhle u. Gabriele Köster, Regensburg 2012, Kat. Nr. V.60, S. 662–664 (Thomas Labusiak).

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Buchmalerei als Nachfolgewerke der einen Handschrift – einschließlich der Malerischen Gruppe.74 Die sich daraus ergebende Problematik für die Datierung war ihnen bekannt, wenn sie zwar einerseits – aufgrund der inschriftlich bezeichneten Medaillons auf der Liber Generationis-Seite (fol. 16r) – den Manchester Codex zwischen 996 und 1002 in die Kaiserzeit Ottos III. datierten (worin sich die Forschung allgemein einig ist75), andererseits aber die in die Witwenregierungszeit zwischen 983 und 991 weisenden Medaillons im Kölner Evangeliar aus St. Gereon sowie das in die Königszeit Ottos III. 983 bis 996 weisende Gebet im Sakramentar aus St. Gereon zu ignorieren postulierten,76 weil sonst die Abhängigkeit der Malerischen Gruppe vom Manchester Codex infrage zu stellen sei. Bloch/Schnitzler mussten so die gesamte Kölner Buchmalerei erst nach 996 beginnen lassen. Die Diskussion um die Interpretation der Medaillons ist seitdem insbesondere von Rainer Kahsnitz und Wolfgang Christian Schneider weitergeführt worden.77 Die Widersprüche für die Datierungen der Kölner Handschriften sind bei einer direkten Abhängigkeit vom Manchester-Codex nicht aufzulösen. Kahsnitz, Ulrich Kuder, Jeremia Kraus sowie zuletzt auch Klaus Gereon Beuckers und Christoph Winterer haben sich deshalb für eine (oder mehrere) ältere Schwesterhandschrift(en) ausgesprochen, von der die Malerische Gruppe abhängig sei,78 wenn man denn überhaupt an dem Entwicklungsmodell von Bloch/Schnitzler festhalten möchte. Dies ist hier nicht weiter auszuführen, da die Datierung der Malerischen Gruppe das ja aus ihr ausgeschiedene Gerresheimer 74 Dies hatte bereits Nitschke 1966 (wie Anm. 73), S. 74 vermutet. 75 Vgl. Nordenfalk 1972 (wie Anm. 73), S. 66 zur Datierung. – Für eine Datierung zwischen 1000 und 1002 plädiert aufgrund der Formulierung im Brustmedaillon Ottos III. Ulrich Kuder: Die Ottonen in der ottonischen Buchmalerei. Identifikation und Ikonographie, in: Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen, hg. v. Gerd Althoff u. Ernst Schubert (Vorträge und Forschungen, Bd. 46), Sigmaringen 1998, S. 137–234, hier S. 140 u. 144–156. – Kuder 2013 (wie Anm. 21), S. 92. 76 Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 30 f. u. 43 sowie Bd. 2, S. 18 f. und öfter. 77 Rainer Kahsnitz: Ein Bildnis der Theophanu? Zur Tradition der Münz- und Medaillon-Bildnisse in der karolingischen und ottonischen Buchmalerei, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin, hg. v. Anton von Euw u. Peter Schreiner, 2 Bde., Köln 1991, Bd. 2, S. 101–134. – Wolfgang Christian Schneider: Die Generatio Imperatoris in der Generatio Christi. Ein Motiv der Herrschaftstheologie Ottos III. in Trierer, Kölner und Echternacher Handschriften, in: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster 25 (1991), S. 226–258.  – Vgl. auch Christoph Winterer: Das Evangeliar der Äbtissin Hitda. Eine ottonische Prachthandschrift aus Köln. Miniaturen, Bilder und Zierseiten aus der Handschrift 1640 der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Darmstadt 2010, S. 22–27. 78 Kahsnitz 1991 (wie Anm. 77), S. 132. – Kuder 1998 (wie Anm. 75), S. 157. – Jeremia Krauss: Worauf gründet unser Glaube? Jesus von Nazaret im Spiegel des Hitda-Evangeliars (Freiburger theologische Studien, Bd. 168), Freiburg 2005, S. 61. – Klaus Gereon Beuckers, Christoph Winterer: Der Hitda-Codex, zum Stand der Diskussion. Eine Einleitung, in: Beuckers 2013 (wie Anm.  21), S. 7–32, hier S. 23.

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Evangeliar kaum betrifft, jedoch sollte in Erinnerung bleiben, dass das Manchester Evangeliar auch innerhalb der Handschriftengruppe um den Gregormeister – trotz seiner Orientierung am Evangeliar aus der Sainte-Chapelle (BNF Paris, Ms. lat. 8851),79 in dem auch die Medaillons ihre Vorbilder haben – eine Randstellung einnimmt und gerade in den Elementen, die in Köln Nachfolge gefunden haben (Kanontafeln, Evangelisten), aus der Gruppe herausragt. Vielleicht wäre durchaus noch einmal neu zu diskutieren, ob der Codex nicht – wie Ehl schon meinte – Elemente der Malerischen Gruppe mit trierischen Formen zu einem besonderen Prachtcodex verband, dessen Zuordnung zu ‚Schulen‘ kaum ein befriedigendes Erklärungsmuster bietet. Solche Fälle hat es in Köln ja bekanntlich gegeben, wie der in Köln entstandene reichenauische Hillinus-Codex (Dombibliothek Köln, Hs.  12) ein Vierteljahrhundert später beweist.80 Jedenfalls lag der Manchester Codex den Kölner Buchmalern ab dem Stuttgarter Evangeliar aus St. Gereon vor und wurde in der Reichen Gruppe direkt rezipiert. Für das Gerresheimer Evangeliar ist die Malerische Sondergruppe wichtiger, in die Bloch/Schnitzler den Codex eingeordnet haben und die sie gegenüber der älteren Forschung erstmals einführten. Schon Carl Nordenfalk äußerte in seiner Rezension 1971 an diesem Konstrukt Zweifel und schloss sich in einigen Punkten eher Ehl an. Dies betraf vor allem die Absetzung des Everger-Codex von der Malerischen Gruppe, für den Nordenfalk ein Skriptorium am Dom postulierte und dem er weitere Handschriften anschloss.81 Für das Gundold-Evangeliar vermutete er eine deutlich frühere Entstehung am Anfang der Malerischen Gruppe, da sich hier sowohl in den Kanontafeln als auch in den Evangelisten und in den meisten Zierinitialen noch nicht die relativ einheitliche Gestalt der Malerischen Gruppe formiert habe und es dezidiert eklektizistische Züge gebe. Das Evangeliar in Namur schließt er hingegen als letztes Glied an die Malerische Gruppe an, da es in den Evangelisten dieser sehr eng folge, durch die Rezeption anderer karolingischer Vorlagen (Dombibliothek Köln, cod. 56) aber andere Wege einschlage.82 Er schließt: „Von der Sondergruppe bliebe dann nur das Gerresheimer Evangeliar übrig. Bei diesem wird man sicher, wie Schnitzler und Bloch es tun, mit einer Entstehung außerhalb der Hauptschule rechnen müssen.“ Dem ist 2013 auch Ulrich Kuder gefolgt, der das Gundold-Evangeliar ebenfalls vor dem Kölner Evangeliar aus St. Gereon, das Bloch/Schnitzler an den An-

79 Vgl. Bibliothèque nationale de France. Manuscrits enluminés d’origine germanique, Tome 1: Xe–XIVe siècle, bearb. v. François Avril u. Claudia Rabel, Paris 1995, Kat. Nr. 55, S. 64–67. – Kat. Magdeburg 2012 (wie Anm. 73), Kat. Nr. V.57, S. 658–660 (Thomas Labusiak). 80 Vgl. Kat. Köln 1998 (wie Anm. 71), Kat. Nr. 76, S. 349–356 (Ulrike Surmann). 81 Nordenfalk 1971 (wie Anm. 63), S. 303, dort auch zum Gundold-Evangeliar. 82 Nordenfalk 1971 (wie Anm. 63), S. 305, dort auch das folgende Zitat.

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fang der Malerischen Gruppe gesetzt haben, angeordnet hat und das Evangeliar aus Namur an deren Schluss.83 Die Sonderstellung des Gerresheimer Evangeliars innerhalb der Kölner Gruppe arbeiten Bloch/Schnitzler in jedem ihrer systematischen Kapitel im zweiten Band heraus. So nutzt der Codex zwar den für Köln so charakteristischen und sonst fast nicht vorkommenden Typ der Kanontafeln, der die durch Arkaden verbundenen Säulen mit einem meist flachen Giebel über einem flachen Gebälk überdeckt, jedoch unterscheidet sich die Form: „Die Kanontafeln des Evangeliars von Gerresheim stehen in der Dünngliedrigkeit der Architektur und den flachen Giebeln den Bögen der Malerischen Gruppe nahe. Doch verzichten sie auf das ‚Gesims‘ des Manchester-Evangeliars und setzen statt dessen den auffallend schmalen, teilweise wie im Hitda-Codex leicht abgeschrägten Architrav unmittelbar auf die Bögen auf. Über den äußeren Kapitellen wächst jedoch noch eine Art von Halbbogen zur Seite, der sich verjüngt und pflanzenhaft in einer Knolle endet. Das sind Abweichungen vom Schultypus, die möglicherweise auf die Einwirkung eines weiteren Modells zurückgehen, ohne daß dieses namhaft gemacht werden könnte. In jedem Fall speist sich die Ornamentik der Säulen, Kapitelle und Giebelrahmung weitgehend aus den Quellen der Malerischen Gruppe; [...]“.84 Die Autoren schließen Vergleiche isolierter Einzelformen zu anderen Kölner Handschriften der Gruppe an. Die Kanontafeln sind ein Spezifikum der Kölner Schule, da sie nicht den beiden sonst üblichen Arkaden- oder Giebeltypen folgen, sondern diese miteinander kombinieren.85 83 Kuder 2013 (wie Anm. 21), S. 108–111. Die anderen Umstellungen der Handschriften können hier ignoriert werden, zu seiner Einordnung des Gerresheimer Evangeliars s. u. 84 Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 39 f. 85 Die Typenbildung folgt in der Forschung dabei Carl Nordenfalk: Die spätantiken Kanontafeln. Kunstgeschichtliche Studien über die eusebianische Evangelien-Konkordanz in den vier ersten Jahrhunderten ihrer Geschichte, 2 Bde., Göteborg 1938 (ND 1992). – Ohne Frage basiert die stark architektonisierende Form des Kölner Kombinationstypus auf einer Formensprache, die man am ehesten der ottonischen Kunst und dort am liebsten dem Gregormeister zutrauen möchte. Allerdings gibt es Vorläufer wie beispielsweise das Evangeliar von Bischof Burghard (verst. 755; Universitätsbibliothek Würzburg, M. p. theol. fol. 68), bei dem die schlanken Kanonbögen zwar im Bogentypus von einem großen Überfangbogen zusammengebunden werden, dem jedoch ein giebelartiges Dreieck einbeschrieben ist. Gegenüber dem Kölner Typus fehlt allerdings ein Gebälk. Zum Burghard-Evangeliar vgl. Heinrich Zimmermann (Hg.): Vorkarolingische Miniaturen, Mappe 1, Berlin 1916, Tafel 70 f. – Fabrizio Crivello: Karolingische und ottonische Buchmalerei in Würzburg, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 66 (2012), S. 33–49, hier S. 33 mit Anm. 2. – Vorprägungen zeigt auch das Reimser Evangeliar in Paris (Bibl. nat. de France Paris, Ms. Lat. 265), wo die Kanonspalten in typisch Reimser Weise nur außen durch Säulen gerahmt werden, die ein Gebälk mit aufliegendem Bogen bzw. Giebel tragen. In dieser Handschrift sind die spaltentrennenden Linien mit kapitellartigen Enden versehen und in Spitzgiebeln bzw. Arkaden oben geschlossen. Das nebeneinander solcher Bögen unter dem Gebälk und dem aufliegenden Giebel (wie beispielsweise auf fol. 8r, 8v oder 9r) greift die Idee der Kölner Tafeln vorweg. Zur Handschrift vgl. Köhler/Mütherich 1994/99 (wie

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Dies mag ganz wesentlich dazu beigetragen haben, die Kölner Handschriften in die Nachfolge der besonders reich ornamentierten Manchester-Kanontafeln zu stellen. Jedoch gibt es auch außerhalb der Kölner Produktion Handschriften, die solche Kanontafeln zeigen und offenbar von karolingischen Vorlagen abhängig sind. Ein Beispiel dafür ist das oben bereits erwähnte mittelrheinische (?) Evangeliar theol. lat. fol. 25 in Berlin, dem nachträglich im 2. Viertel des 11. Jahrhunderts mit dem Capitulare (fol. 222r–238r) zwölf nur teilweise vollendete Kanontafeln (fol. 1r–6v) und ein Markusbild (fol. 15r) eingefügt wurden.86 Die hohen Giebel wie auch der relativ reiche Akroterienschmuck aus Engeln (fol.  1v) oder Gänsen (fol.  2r) erinnern an karolingische Handschriften der Reimser Gruppe,87 sind jedenfalls von den Kölner Beispielen unabhängig, mit denen sie allerdings den Kombinationstypus gemeinsam haben. Dies hatte die ältere Forschung sogar zur Zuweisung der Handschrift nach Köln geführt. Im Kölner Typus – wenn die Tafel nicht noch einmal eigens gerahmt wird, wie in New York oder dem Lyskirchen-Evangeliar – tragen die Binnenkapitelle jeweils zwei Bogenanläufe, während auf den äußeren Kapitellen die nach innen gerückte Position des inneren Bogens beibehalten und statt eines äußeren Bogens eine vertikale Leiste aufgestellt wird. Diese wird bei vielen Handschriften durch eine obere horizontale Leiste als Rahmung Anm. 51), Bd. 1, S. 159–166. – Von einer anderen Seite nähert sich die Kanontafel auf fol. 8v des Metzer Evangeliars in Paris (Bibl. nat. de France Paris, Ms. Lat. 9388) den Kölner Lösungen, da es in ähnlicher Formensprache die Kanonbögen mit einem Giebelfeld überfängt, jedoch ohne Architrav; vgl. Wilhelm Köhler: Die karolingischen Miniaturen, Dritter Band: Die Gruppe des Wiener Krönungs-Evangeliars / Metzer Handschriften (Denkmäler deutscher Kunst), Berlin 1960, S. 134–142. – Im Typus verwandt sind dafür auch das Liuthard-Evangeliar der Hofschule Karls des Kahlen (Hess. Landes- und Hochschulbibl. Darmstadt, Hs. 746) und andere Handschriften der Hofschule Karls des Kahlen; vgl. Köhler/Mütherich 1982 (wie Anm. 48), S. 88–99 und weitere. – In der Formensprache – nicht im Typus, denn es fehlen die Bögen über den Kanonspalten – zeigt die Kölner Gruppe große Nähe zu den Kanontafeln des Xantener Evangeliars der Gruppe um das Wiener Krönungsevangeliar (Bibl. Civica Queriniana Brescia, Cod. E. II.9); vgl. Köhler 1960 (s. o.), S. 81–93. 86 Vgl. Die illuminierten lateinischen Handschriften deutscher Provenienz der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, bearb. v. Andreas Fingernagel (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Kataloge der Handschriftenabteilung, Dritte Reihe: Illuminierte Handschriften, Bd. 1), 2 Bde., Wiesbaden 1991, Kat. Nr. 112, Bd. 1, S. 123–125, Bd. 2, S. 151–156. – Das von Boeckler 1931 (wie Anm.  55), Kat. Nr.  19, S. 41 f. Köln zugeschriebene Evangeliar wurde von Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 26 ausgeschieden, wobei sie einer Zuschreibung an Mainz unschlüssig gegenüberstanden und der Codex für sie „eher in einem lockeren Verhältnis zwischen ihr und der Kölner Malerei schweben bleibt“. – Boeckler betonte die große Nähe der Handschrift zum Gerresheimer Evangeliar. 87 Zur Reimser Gruppe vgl. Köhler/Mütherich 1994/99 (wie Anm. 51), Bd. 1, S. 159–166. – Von Reims beeinflusst sind auch die Freisinger Evangeliare des 3. Viertels des 9. Jahrhunderts, von denen im Kölner Domschatz im Evangeliar Dom Hs. 56 besonders verwandte Kanontafeln zur Berliner Handschrift zu finden sind. Vgl. Kat. Köln 1998 (wie Anm. 71), Kat. Nr. 75, S. 343–348 (Ulrike Surmann).

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unter dem Gebälk geschlossen. Das Gebälk, auf dem die Kanontafeln beschriftet werden, kragt in allen Fällen etwas gegenüber der vertikalen Leiste vor, meist jedoch nur wenig mehr als die Kämpferplatte des Kapitells. Beim Darmstädter Hitda-Codex wird die horizontale Leiste jedoch gegenüber der horizontalen autonom und als eigenes Zwischenglied auch mit eigener Vorkragung verstanden, die sogar eine etwas perspektivische Anlage bekommt. Da sie damit wie eine sockelnde Profilierung des Gebälks wirkt, scheinen die Bögen bis unter das Gebälk zu stoßen. Dies wird ohne horizontale Leiste im Gießener Evangeliar übernommen. Beide Evangeliare verzichten dabei auf eine vegetabile Ornamentierung der Giebelschrägen, die sonst in Köln üblich ist. Das Gerresheimer Evangeliar modifiziert den Typus erheblich. So wird auf den äußeren Kapitellen keine Leiste aufgestellt, sondern der von Bloch/Schnitzler „Halbbogen“ genannte florale Ausläufer. Dadurch fällt die Rahmung der Arkaden weg und das zudem sehr dünne Gebälk liegt direkt auf den Bögen auf. Das Ausgreifen der floralen Ausläufer ermöglicht, das Gebälk und damit auch die Giebel weit auskragen zu lassen und so die flache Gestalt weiter zu betonen. Die Form ist jedoch gänzlich unarchitektonisch und offenbar singulär. Mit den Kölner Parallelhandschriften hat sie nichts gemeinsam, allerdings finden sich solche Ausläufer zahlreich als Ausläufer der kapitellartigen Knotenenden touronischer Buchmalerei, wie sie in Köln vor allem durch die Bibel im Domschatz vertreten wird (Hs. 1).88 Als Beispiele seien nur die Initialen auf fol. 2r oder 304r genannt, die in sehr ähnlicher Sichelform mit Endakzentuierung durch eine Einrollung gestaltet sind. Die Idee einer solchen Übernahme für Kanontafeln dürfte aus einer Handschrift wie dem frankosächsischen Evangeliar G 531 im Museum Schnütgen stammen, wo die Arkadenfolge der Kanontafeln bei den äußeren Kapitellen flammende Blattaufsätze besitzen, deren Blattenden sich ebenfalls einrollen.89 Dem gleichen Kreis verpflichtet ist beispielsweise auch das aus Quedlinburg stammende frankosächsische Evangeliar in Halle (Univ.und Landesbibl., Qu. Cod. 83), wo die Blattaufsätze dreirippig angelegt sind und zu einem bestimmenden Element an den Ecken der Kanontafeln werden.90 Solche Formen waren nicht singulär und auch in anderen karolingischen Schulen verbreitet, wie beispielsweise die karolingischen Evangeliare der Hofschule Kaiser Lothars in Berlin (Staatbibliothek, theol. lat. fol. 260) und Rom (Bibl. Vaticana, Urb. Lat. 3) zeigen.91 Offenbar spiegelt 88 Vgl. Kat. Köln 1998 (wie Anm. 71), Kat. Nr. 25, S. 158–167 (Ulrike Surmann). – Zur Touroner Gruppe vgl. Köhler 1930 (wie Anm. 45). 89 Vgl. Die Handschriften und Einzelblätter des Schnütgen-Museums Köln. Bestandskatalog, bearb. v. Anton von Euw, Köln 1997, Kat. Nr. 1, S. 17–26. – Wilhelm Köhler, Florentine Mütherich: Die karolingischen Miniaturen. Siebter Band: Die fankosächsische Schule (Denkmäler deutscher Kunst), Wiesbaden 2009, S. 170–176. 90 Vgl. Köhler/Mütherich 2009 (wie Anm. 89), S. 160–164. 91 Vgl. Wilhelm Köhler, Florentine Mütherich: Die karolingischen Miniaturen. Vierter Band: Die Hofschule Kaiser Lothars / Einzelhandschiften aus Lotharingien (Denkmäler deutscher Kunst), Berlin 1971, S. 52–65.

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das Gerresheimer Evangeliar hier Elemente einer karolingischen, vermutlich frankosächsischen Vorlage. Darauf wird zurückzukommen sein. Bei ihrer vergleichenden Analyse der Initialzierseiten kommen Bloch/Schnitzler wiederum zu einer gewissen Sonderstellung des Gerresheimer Evangeliars, das sich vor allem in den Rankenfüllungen der Zierbuchstaben von den anderen Handschriften unterscheidet. Dezidiert einer anderen Vorlage als alle anderen Codices folge die Initiale zum Liber generationis (fol. 21v), da hier nicht wie üblich eine LI-Ligatur sondern nur eine L-Initiale ausgeschmückt wird (S. 47). Besonders auffällig ist die in Köln singuläre Q-Initiale zum Lukas-Evangelium (fol.  137r) mit ihren Tierwesen, denen Bloch/ Schnitzler eine eindringliche Beschreibung widmen und für die sie über Parallelen in der Bibel aus St. Paul vor den Mauern eine spätkarolingische Vorlage vermuten.92 Für die Kölner Evangelistenbilder der Malerischen Gruppe können Bloch/Schnitzler überzeugend neben der Übernahme von Matthäus und Johannes aus dem Wiener Krönungsevangeliar auch Einflüsse in der Art von Markus und Lukas aus dem Liuthard-Evangeliar der Hofschule Karls des Kahlen (Landes- und Hochschulbibl. Darmstadt, Hs. 746) aufzeigen, die auch auf die Werke des Gregormeisters gewirkt haben. Sowohl den Evangelisten der Malerischen als auch denen der Reichen und der Strengen Gruppe stehen die Gerresheimer fremd gegenüber. Eingangs betonen Bloch/Schnitzler die hier erstmals zu findenden floralen Rahmungen, die alle Bild- und Zierseiten umfassen und so auf die jüngeren Gruppen vorausweisen. Die Ornamentik sei in den Palmetten und herzförmigen Eckpalmetten „übernommenes Schulgut, während die geschwungenen Stauden des Lukasbildes [...] auf eigene spätkarolingische Voraussetzungen zurückgehen dürften.“ 93 Bei den Darstellungen der Evangelisten selbst werden die Ausführungen aber eigenartig hilflos, wenn der Gerresheimer Matthäus aus dem Markus in Namur abgeleitet wird, von dem aber das Pult in eine Sitzbank umgewandelt sei. Markus lehne sich an den Johannes im 92 Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 47 zur LI–Initiale sowie S. 50 zur Q–Initiale: „Der Buchstabe rückt gegenüber der Malerischen Gruppe vom oberen Rand in die Bildmitte, wodurch sich – wie schon beim Markus-Initial – gewisse Verbindungen zur Reichen Gruppe (Evangeliare in New York und Bamberg) ergeben. Dennoch ist die eigenwillige Konzeption des Gerresheimer Codex gegenüber allen anderen Bildungen der Schule nicht zu übersehen. Statt des geschlossenen, mit Flechtbandknoten besetzten Runds zeigt der Körper oben Endungen mit zwei gegenständigen Vogelköpfen, aus deren Schnäbel je eine üppige Ranke mit den für die gesamte Handschrift typischen breitlappigen Blättern und Traubenblüten symmetrisch verschlungen herabfällt, um unten zu einer gemeinsamen Staude zusammenzuwachsen. In diese Staude eingehängt erscheint als Q-Abstrich ein großer Drache mit Vogelkopf und Fischschwanz, dessen Schnabel gleichfalls eine Ranke entfährt. Buchstabenendungen mit Vögeln kommen häufig in der Bibel von St. Paul vor, etwa bei der Initiale P auf fol. 293r, wo überdies ein Rankenwerk aus dem Schnabel wächst [...]. Für den Flügeldrachen am Buchstabenende in der Kölner Handschrift hat sich eine Parallele nicht beibringen lassen, doch dürfte er seiner malerischen Erscheinung nach aus dem gleichen spätkarolingischen Kreise stammen.“ 93 Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 131 f., dort auch die folgenden Zitate.

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Mailänder Evangeliar an, „läßt aber dessen frei über dem Knie hängenden Mantelzipfel fort und greift beim Unterkörper nicht für die Stellung der Beine, wohl aber für die Führung der Gewandfalten, besonders die große Schlaufe beim rechten Knie, die Überlieferung des Matthäus aus dem Evangeliar von Manchester auf.“ Eine überzeugende Herleitung gelingt so nicht, weshalb sie resümieren „samt und sonders also ausgefallene Figuren, die entweder der Quelle des New Yorker Matthäus oder dem spätkarolingischen Bereich verpflichtet waren.“ In der Tat sind die Gerresheimer Evangelisten ungewöhnlich, jedoch keineswegs so singulär, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Matthäus ist in seiner nach rechts gewendeten Haltung von der Auffächerung sowohl der Arme als auch der Beine geprägt. Bilddominierend sind außer dem jugendlichen, weil unbärtigen Haupt sein rechter Arm, der als Bogen zum Schreibpult geführt wird, wo die andere Hand den geöffneten Codex hält. Ehl hatte dafür bereits nebenbei auf den Matthäus aus der Bibel von St. Paul verwiesen, der hier im Aufbau relativ ähnlich ist. Dies ist umso auffälliger, als er eine andere Schreibaktion vollzieht. Anders ist aber der Unterkörper, bei dem in Rom beide Beine etwa spiegelsymmetrisch axial gezeigt werden, also eine um 90° gedrehte Körperachse aufweisen. In Gerresheim ist der rechte Oberschenkel markant und auffallend konturiert, da er die Richtung der Beine nach rechts angibt. Beide Beine sind in einer Art Schrittstellung gezeigt, was eine labile Konstruktion ausweist. Der rechte Fuß erscheint hängend in Aufsicht, der linke auf der Fußbank diagonal aufgestellt und in Seitenansicht. Genau diese Position einschließlich der markanten Oberschenkelkonturierung findet sich bei Matthäus in der oben bereits für die Kanontafeln herangezogenen Berliner Handschrift Cod. theol. lat. fol. 25 (fol. 15r). Sie scheint die in der Bibel aus St. Paul dominante, viertelkreisförmige Bildteilung, mit der oben rechts das Evangelistensymbol abgetrennt wird, in viertelkreisförmige Eckornamente umzudeuten. Dass eine Vorlage in der Art der für Karl den Kahlen um 870 entstandenen Bibel auf den Gerresheimer Codex gewirkt hat, zeigt nicht weniger der Evangelist Markus. Wiederum ist er nach rechts gewandt und beschreibt in seinem Oberkörper aus dem hellen Mantel ein Oval, aus dem sich die Hand zum Schreibpult schwingt. Der frontal gezeigte Unterkörper ist etwas kissenhaft aufgewölbt in einer Herzform gegeben, aus dem die Füße züchtig aneinander gerückt unterhalb der Thronkante auf das Suppedaneum gestellt sind. Gerade diese Figurenanlage ist sonst weder in Köln noch auf der Reichenau oder in Trier zu finden – der von Bloch/Schnitzler gezogene Vergleich mit Johannes in Mailand passt bestenfalls für das Handlungsmoment des Oberkörpers aber überhaupt nicht für die Gesamtanlage. Sie entspricht aber auffallend dem Markus aus der Bibel von St. Paul. Bei Lukas kehren viele Elemente von Matthäus wieder, jedoch erhält die Beinanlage eine ganz andere Struktur, da sie nicht durch Spreizung eine Dynamik ausdrückt, sondern durch die gemütliche Übereinanderlegung der Füße in der Körperdiagonale der Disposition eine große Ruhe gibt. Dieses Motiv der Füße gibt es in Köln im Gundold-Evangeliar und dann seit der Reichen Gruppe, wo es im Stuttgarter Evangeliar aus St. Gereon sowohl bei Lukas als auch Johan-

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nes auftritt. Herleiten kann man dies von Darstellungen wie dem Markus im Darmstädter Liuthard-Evangeliar, der die Füße jedoch noch nicht übereinandergeschlagen hat, sondern sie noch mit etwas Abstand voreinander stellt. Nur einen Schritt voraus ist dem der Evangelist Lukas wiederum in der Bibel von St. Paul, der sich zudem zum Schreiben herunterbeugt. Eine gewisse Nähe, die auch in ihrer Figurenproportion und Linienführung die Beeinflussung aus einer Handschrift wie der Bibel aus St. Paul offenbart, zeigt der Evangelist Johannes im Oudalricus-Evangelistar in München (clm 23630), das um 1040/50 in Lorsch nach einer Vorlage des Gregormeisters entstanden sein soll.94 Haltung und Aufbau der Figur liegen zwischen dem Gerresheimer Lukas und dem Darmstädter Markus, jedoch wird für den Oberkörper das Motiv der sinnierenden Stützung des Hauptes übernommen, das im Liuthard-Evangeliar bei Lukas angeordnet wird. In Lorsch gut ablesbar ist die Beruhigung der Oberflächen und der Volumenanlagen, die zu einer Markierung der Oberschenkel über Kontur wie in Gerresheim führt. Gemeinsam ist beiden auch das Motiv des unter der Kniebeuge aufgefächerten Gewandes, was bei unterschiedlicher künstlerischer Umsetzung auf einen gemeinsamen Vorlagenkreis schließen lässt. Schließlich ist der Evangelist Johannes in Rom vor allem durch eine ungewöhnlich rechtwinklige Anlage der Oberschenkel gekennzeichnet, die wie eine scharfe Brechung der Figur die Horizontale betont. Die Füße stehen nebeneinander auf der Fußbank, eine Dynamik ergibt sich vor allem im Oberkörper durch die Staffelung der Arme, wo die Rechte mit dem Griffel leicht erhoben ist, während die Linke das Buch offen hält. In Gerresheim wird die Figur wegen der gegenüber angeordneten Kreuzigung nach links gespiegelt. Auch ist sie gegenüber den anderen etwas verkleinert, um sich in das kompositionelle Schema der Doppelseite einzupassen. Dennoch und auch trotz der Verhärtung durch die stärkeren Konturlinien folgt Johannes in Gerresheim dem Typus aus St. Paul mit der rechtwinkligen Gesamtanlage und der Idee der Aufspannung. Gleichzeitig zeigt sich hier aber auch erneut die Distanz zwischen den künstlerischen Lösungen. Sicher lag nicht die Bibel von St. Paul oder eine Schwesterhandschrift dem Gerresheimer Maler vor, aber die bei allen vier Evangelisten mehr oder weniger markant erkennbaren Übernahmen belegen deutlich, dass hier mindestens mittelbar eine spätkarolingische Handschrift Pate gestanden hat. Nimmt man die verschiedenen Aspekte, die Bloch/Schnitzler zusammengetragen haben, mit diesen Beobachtungen zusammen, die in einer ausführlichen kunsthistorischen Analyse zu untermauern wären, dann griff der Maler des Gerresheimer Evangeliars offenbar auf eine spätkarolingische Vorlage zurück, der er Dinge entnahm, die im sonstigen Kölner Werkstattkreis keinen Niederschlag fanden. Damit bestätigt sich die Einschät-

94 Vgl. Die ottonischen und frühromanischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek, bearb. v. Elisabeth Klemm (Kataloge der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München, Bd. 2), 2 Bde., Wiesbaden 2004, Kat. Nr. 219, Bd. 1, S. 237–240, Bd. 2, S. 244–250.

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zung von Bloch/Schnitzler und Nordenfalk, nach der der Codex in einem anderen kölnischen Skriptorium als dem der Malerischen Gruppe hergestellt wurde. Möglicherweise wirkte diese Vorlage auch auf die unvollendete Neugestaltung des Berliner Evangeliars. Dort verbindet sich das Evangelistenbild nicht nur mit Gerresheim in dem Palmettenrahmen, der allgemein im 11. Jahrhundert die einfachen Rahmungen ablöst, sondern auch in der Bildanlage, bei der ornamentale Viertelkreise alle vier Ecken füllen. Mögen sie auch formal ein Erbe der Wolken- oder Zierbänder in einer Ecke sein, mit denen in karolingischen Darstellungen das Evangelistensymbol abgetrennt wurde, so wird dies hier als Zierscheibe umgedeutet. Naheliegender dürfte es sein, hier einen Reflex von Ziereinbänden zu vermuten. Auf Elfenbeine von Bucheinbänden zurückgeführt haben Bloch/Schnitzler jedenfalls das Kreuzigungsbild im Gerresheimer Evangeliar (fol. 211v),95 das in den Ecken solche Viertelkreise mit den Evangelistensymbolen zeigt und dafür wiederum zum Vergleich für den Berliner Matthäus herangezogen wurde.96 Namentlich haben sie das Theophanu-Evangeliar in Essen und das Elfenbein vom Einband des Lyskirchener Evangeliars genannt, dem noch der Einband des Evangeliars aus St. Georg in Köln, der heute im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt liegt (Inv. Nr. Kg 54.210) hinzugefügt werden könnte.97 Alle drei sind Kölner Produkte aus dem zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts, die letztlich auf einer reduzierten Ikonographie der Kreuzigungstafeln der karolingischen Metzer Schulen basieren.98 Offenbar prägten solche Lösungen die Gerresheimer Ikonographie, die sonst eher ungewöhnlich ist. Die Miniatur der Kreuzigung ist auch in den Kölner Handschriften in Gießen und dem Lyskirchener Evangeliar dem Johannes-Evangelium vorgestellt, bildet jedoch nie ein direktes Gegenüber zu dem Evangelisten wie in Gerresheim. Insbesondere Hanns Peter Neuheuser hat in seinem Heft zum Gerresheimer Codex die Miniaturen ausführlich beschrieben und auch die Komposition der Doppelseite mit der Kreuzigung gewürdigt.99 Nicht thematisiert wurde dabei jedoch der Umstand, dass die Hinzufügung der Evangelistensymbole Elemente der Ikonographie der Maiestas Domini auf die Kreuzigung überträgt. Mag dies bei einem Evangeliar-Einband inhaltlich nachvollziehbar sein, da hier das 95 Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), S. 121. 96 Vgl. Fingernagel 1991 (wie Anm. 86), S. 124 f. 97 Vgl. Die mittelalterlichen Elfenbeinarbeiten des Hessischen Landesmuseums Darmstadt, bearb. v. Theo Jülich, Regensburg 2007, Kat. Nr. 15, S. 91–93. 98 Adolph Goldschmidt: Die Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karolingischen und sächsischen Kaiser VIII.–XI. Jahrhundert (Denkmäler der deutschen Kunst), 2 Bde., Berlin 1914/18 (ND (1969), Bd. 2, Nr. 55 u. 58–60, S. 29–31; Bd. 1, Nr. 72–119, S. 38–59 (Metzer Gruppen). – Canossa 1077. Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik, Ausst. Kat. Erzbischöfliches Diözesanmuseum Paderborn u. a. hg. v. Christoph Stiegemann u. Matthias Wemhoff, 2 Bde., München 2006, Kat. Nr. 477, S. 380–382, Kat. Nr. 479 u. 480, S. 383–387 (Theo Jülich). 99 Hanns Peter Neuheuser: Das Gerresheimer Evangeliar (Rheinische Kleinkunstwerke, Heft 2), Köln 1986, S. 17–20.

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Opfergeschehen der Kreuzigung mit den vier Autorensymbolen wie eine Inhaltsangabe wirkt, so ist diese Inhaltlichkeit in der Zuordnung zum Johannesbild erklärungsbedürftig. Erwarten würde man in dem Codex eine Zuordnung zu einer einleitenden Miniatur der Maiestas Domini, wie sie auch etliche Kölner Handschriften zeigen, die alle Evangelistensymbole in den Ecken aufweisen.100 Zumindest heute enthält der Gerresheimer Codex keine Maiestas mehr, jedoch gibt es Hinweise auf eine herausgeschnittene Miniatur.101 Eine Doppelung der Evangelistensymbole sowohl bei einer Maiestas als auch bei der Kreuzigung wäre singulär und hätte wie eine Unterstreichung der göttlichen und der menschlichen Natur wirken müssen. Wahrscheinlich ist sie eher nicht und deshalb wäre zu erklären, warum man die Evangelistensymbole an die Kreuzigung band. Sie fungiert damit wie ein Titelbild und vielleicht wurde der Codex auch so genutzt, wenn in der Weihnacht der Johannesprolog gelesen wurde oder wenn mit Verweis auf Joh 1,1 die im Codex später nachgetragenen Eide abgelegt wurden.102 Dieser Brauch hätte dann in Gerresheim bereits frühmittelalterliche Vorläufer gehabt. 1970, im gleichen Jahr, in dem der zweite Band von Bloch/Schnitzler erschien, wurde in Gerresheim das 1100-jährige Jubiläum des Stifts gefeiert. In der zugehörigen Festschrift stellte Hatto Küffner den Codex auf der Grundlage von Bloch/Schnitzler vor und brachte ihn so in das öffentliche Bewusstsein.103 Hugo Weidenhaupt, der den Band herausgab, hatte bereits in seiner 1954 veröffentlichen Dissertation kurz die mittelalterlichen Nachträge in der Handschrift herangezogen.104 In den folgenden Jahren blieb die Beschäftigung mit dem Codex aber auf dem Stand von Bloch/Schnitzler, wenn sich überhaupt mit ihm beschäftigt wurde. So erwähnte Joachim M. Plotzek ihn 1975 in seinem Überblicksbeitrag zur Kölner Buchmalerei anlässlich der Ausstellung ‚Monumenta Annonis‘ noch nicht einmal.105 Für die Düsseldorfer Ausstellung ‚Frommer Reichtum in Düsseldorf‘ bildete das Evangeliar immerhin die erste Katalognummer,106 allerdings verwechselte der Katalogtext die Kölner Erzbischöfe Hermann  II. (amt. 1036–1056) und Hermann  IV. 100 101 102 103

Vgl. Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), S. 85–93. Vgl. den Beitrag von Doris Oltrogge in diesem Band. Vgl. die Transkriptionen der Texte im Beitrag von Philipp Frey und Friederike Szill in diesem Band. Hatto Küffner: Das ottonische Evangeliar, in: Gerresheim 870–1970. Beiträge zur Orts- und Kunstgeschichte, hg. v. Hugo Weidenhaupt, Düsseldorf 1970, S. 149–156. 104 Hugo Weidenhaupt: Das Kanonissenstift Gerresheim, in: Düsseldorfer Jahrbuch. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins 46 (1954), S. 1–120. – Er bezog sich dabei (S. 2, Anm. 2) unter anderem auf Broel 1952 (wie Anm. 60). 105 Joachim M. Plotzek: Die Kölner Handschriftengruppe, in: Monumenta Annonis. Köln und Siegburg. Weltbild und Kunst im hohen Mittelalter, Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln, hg. v. Anton Legner, Köln 1975, S. 152–162 (ohne Gerresheim). 106 Frommer Reichtum in Düsseldorf. Kirchenschätze aus 10 Jahrhunderten, Ausst. Kat. Stadtgeschichtliches Museum Düsseldorf, hg. v. Meta Patas, Düsseldorf 1978, Kat. Nr.  1, S. 250 (Karl Bernd Heppe) mit Fehler bei Nennung Hermanns II. als Hermann IV.!

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(amt. 1480–1508). Erneut lenkte ein Gerresheimer Jubiläum, diesmal zum 750-jährigen Kirchenjubiläum, das Interesse auf die Kirche und damit auch auf das Evangeliar. In die Festschrift übernahm man jedoch den Beitrag von Hatto Küffner von 1970 unverändert, während im gleichen Jahr Hanns Peter Neuheuser das Evangeliar in einem an die Rheinischen Kunststätten-Führer erinnernden Heft publizierte und dort auf der Grundlage des Forschungsstandes von Bloch/Schnitzler sowie weiterer Untersuchungen zur Kunst im 11. Jahrhundert, die inzwischen vor allem zur Skulptur und Schatzkunst erschienen waren,107 eine Gesamtwürdigung präsentierte.108 Hierbei ging es ihm weniger um eine Einordnung kunsthistorischer Details als vielmehr um eine Zusammenfassung des Kenntnisstandes im Kontext für die damals große Gruppe an Buchmalerei interessierter Laien.

Die Epoche Anton von Euws und der Übergang in das 21. Jahrhundert bis heute Ein Einschnitt in die Diskussion zur Kölner Buchmalerei bedeutete der 1987 veröffentlichte Aufsatz von Gerhard Weilandt, in dem er eine Spätdatierung des Darmstädter Hitda-Codex unter Äbtissin Ida von St. Maria im Kapitol (amt. um 1040–1060) vertrat und mit großem Nachdruck die Unsicherheiten des Datierungsgerüstes von Bloch/ Schnitzler aufdeckte.109 Das Gerresheimer Evangeliar spielte nur eine untergeordnete Rolle, wobei Weilandt – wie auch vorher bereits Bloch/Schnitzler – von einer Identität der Gerresheimer Hidda und der Mescheder Hitda ausging. Die Nähe zwischen Ida von St. Maria im Kapitol und Gerresheim über ihre Schwester Äbtissin Theophanu von Essen, deren Urkundeneintrag im Evangeliar zu finden ist, war ein Argument für seine These, nach der beide Handschriften frühestens um 1035 entstanden sein könnten. Direkte Reaktionen auf den Aufsatz, der letztlich das gesamte Datierungsgerüst der Kölner Buchmalerei deutlich in das 11. Jahrhundert verschob, gab es nicht. So ging auch Henry Mayr-Harting in seinem 1991 veröffentlichten Buch zur ottonischen Buchmalerei, in dem er aus den Kölner Handschriften fast ausschließlich den Darmstädter Hitda-Codex 107 Als wichtigste von ihm genannten Veröffentlichungen können gelten Rudolf Wesenberg: Frühe mittelalterliche Bildwerke. Die Schulen rheinischer Skulptur und ihre Ausstrahlung, Düsseldorf 1972. – Rhein und Maas. Kunst und Kultur 800–1400, Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln u. Königliche Museen für Kunst und Geschichte Brüssel, hg. v. Anton Legner, Köln 1972. – Kat. Köln 1975 (wie Anm. 105). – Kat. Köln 1985 (wie Anm. 9). 108 Hatto Küffner: Das ottonische Evangeliar, in: Gerresheim und seine Basilika. Festschrift zum 750jährigen Bestehen der Gerresheimer Stiftskirche, hg. v. Karl Heinz Bott, Düsseldorf 1986, S. 168–178. – Neuheuser 1986 (wie Anm. 99). 109 Gerhard Weilandt: Wer stiftete den Hitda-Codex (Darmstadt, Hess. Landes- und Hochschulbibliothek, Cod. 1640)? Ein Beitrag zur Entwicklung der ottonischen Kölner Buchmalerei, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 190 (1987), S. 49–83.

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erörterte, von den bisherigen Datierungen Bloch/Schnitzlers aus.110 Das Gerresheimer Evangeliar erwähnte er gar nicht. Eine neu angestoßene, intensive Beschäftigung mit der ottonischen Kunst in Köln erfolgte anlässlich des 1000.  Todestages von Kaiserin Theophanu 1991. Das Schnütgen-Museum plante eine große durch Anton von Euw kuratierte Ausstellung, die in relativ weit fortgeschrittener Vorbereitung aus finanziellen Gründen abgesagt werden musste. Mit Mühe gelang es der neu antretenden Direktorin, Hiltrud Westermann-Angerhausen, wenigstens eine abgespeckte Buchmalerei-Ausstellung realisieren zu lassen. 111 Mit dieser legte von Euw dann jedoch die umfangreichste Zusammenschau ottonischer Prachthandschriften seit der Ausstellung ‚Ars Sacra‘ 1950 in München vor, wo damals die bis dahin größte Anzahl in Köln entstandener Codices versammelt worden war – mehr als in den sonst vielgerühmten Ausstellungen ‚Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr‘ 1956 (an der Hermann Schnitzler wesentlich beteiligt gewesen war), ‚Rhein und Maas‘ 1972 und ‚Ornamenta Ecclesiae‘ 1985.112 Das Gerresheimer Evangeliar war jedoch in keiner Ausstellung dabei und fehlte auch 1991. Dies gilt auch für die zweibändige Gedenkschrift für Theophanu, in der die umfangreichen Forschungen anlässlich der zuerst geplanten Ausstellung veröffentlicht wurden. Hier beschäftigen sich zwar mehrere Beiträge auch mit der Kölner Buchmalerei, aber das Gerresheimer Evangeliar spielte dabei keine Rolle.113 Immerhin nutzte Anton von Euw die Gelegenheit, um in den Katalogeinträgen und den Beiträgen zur Gedenkschrift seine Vorstellung von den Datierungen der Kölner Handschriften zu formulieren, was für Gerresheim mittelbar von Bedeutung war. Er vertrat eine Datierung aller Handschriften der Malerischen Gruppe vor oder um die Jahrtausendwende und korrigierte so stillschweigend die Ansetzun110 Henry Meyr-Harting: Ottonische Buchmalerei. Liturgische Kunst im Reich der Kaiser, Bischöfe und Äbte, Stuttgart 1991 (engl. OA London 1991), S. 289–307. 111 Vor dem Jahr 1000. Abendländische Buchkunst zur Zeit der Kaiserin Theophanu, Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln, hg. v. Anton von Euw, Köln 1991. 112 Ars Sacra. Kunst des Frühen Mittelalters, Ausst. Kat. Bayerische Staatsbibliothek München, hg. v. Gustav Hofmann, München 1950 (Kölner Hss: Kat. Nr. 111–117, S. 58–64). – Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr, Ausst. Kat. Villa Hügel Essen, bearb. v. Victor H. Elbern, Essen 1956 (Kölner Hss: Kat. Nr. 443–453, S. 249–252, die Texte von Hermann Schnitzler). – Kat. Köln 1972 (wie Anm. 107) (Kölner Hss: Kat. Nr. E 15–E 19, S. 209–212, die Texte von Joachim M. Plotzek). – Kat. Köln 1985 (wie Anm. 9) (Kölner Hss: Kat. Nr. E 38–E40, S. 246–253 [St. Gereon], E 64, S. 278 [St. Andreas], die Texte von Roswita Neu-Kock). 113 Vgl. Peter Christian Jacobsen: Lateinische Dichtung in Köln im 10. und 11. Jahrhundert, in: von Euw/Schreiner 1991 (wie Anm. 77), Bd. 1, S. 173–189. – Anton von Euw: Die ottonische Kölner Malerschule. Synthese der künstlerischen Strömungen aus West und Ost, in: von Euw/Schreiner 1991 (wie Anm. 77), Bd. 1, S. 251–280. – Anton von Euw: Die Maiestas-Bilder der ottonischen Kölner Malerschule im Licht des platonischen Weltbildes. Codex 192 der Kölner Dombibliothek, in: von Euw/Schreiner 1991 (wie Anm. 77), Bd. 1, S. 379–398. – Kahsnitz 1991 (wie Anm. 77).

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gen Bloch/Schnitzlers nach vorne. Auf die Spätdatierung Weilandts reagierte er nicht explizit, stellte ihr aber in der Ausstellung das Gesamtgefüge datierter Handschriften anderer Schulen entgegen, die ihm eine so späte Datierung undenkbar erscheinen ließen. Für die große Bernward-Ausstellung, die 1993 in Hildesheim stattfand, wurde mit Ulrich Kuder ein Autor für die Katalognummern der Handschriften gewonnen, dessen unveröffentlichte Münchener Habilitationsschrift „Studien zur ottonischen Buchmalerei“ 1988 der ottonischen Buchmalerei als Ganzem gegolten hatte und der inzwischen an verschiedenen Orten hierzu gearbeitet hatte.114 Aus dem Kölner Kreis war nur das Pariser Sakramentar aus St. Gereon ausgestellt, das Kuder zwischen 984 und 996 datierte und damit der von Anton von Euw und Rainer Kahsnitz 1991 vertretenden Frühdatierung folgte.115 Damit schien sich unter den führenden Forschern zur ottonischen Buchmalerei ein Konsens ausgebildet zu haben, der die Malerische Gruppe vor und um 1000 ansetzte, jedoch fehlte nach wie vor eine argumentierte Zurückweisung Weilandts. Dementsprechend blieb die 1993 kurz vor dem Ausstellungskatalog erschienene Diskussion auch des Gerresheimer Evangeliars im Kontext der ezzonischen Stiftungen in ihrer Zuweisung an die Ezzonin Ida von St. Maria im Kapitol unbestimmt.116 Mit der Frühdatierung des Darmstädter Hitda-Codex durch von Euw, Kahsnitz und Kuder war eine personelle Identität von Hitda und Hidda unwahrscheinlicher geworden.117 So erklärt sich, dass sich die Diskussionen zwischen den beiden Handschriften voneinander abkoppelten und die Veröffentlichungen zum Hitda-Codex aus Meschede teilweise sogar ohne eine Diskussion der Gerresheimer Handschrift auskamen.118 Auf diesem Diskussionsstand wurde das Gerresheimer Evangeliar 1995 in den Handschriftenzensus aufgenommen.119

114 Eine Liste seiner Schriften in: Buchkunst im Mittelalter und Kunst der Gegenwart. Scrinium Kilonense. Festschrift für Ulrich Kuder, hg. v. Hans-Walter Stork u. a., Nordhausen 2008, S. 405–421. – Vgl. auch Klaus Gereon Beuckers: Vorwort, in: Buchschätze des Mittelalters. Forschungsrückblicke  – Forschungsperspektiven. Beiträge zum Kolloquium des Kunsthistorischen Instituts der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel vom 24. bis zum 26. April 2009, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Christoph Jobst u. Stefanie Westphal, Regensburg 2011, S. 7–12, insb. S. 9 f. – Der Nachdruck der Habilitationsschrift befindet sich für 2016 in Vorbereitung. 115 Kat. Hildesheim 1993 (wie Anm. 42), Bd. 2, Kat. Nr. IV-56 S. 226 (Ulrich Kuder). 116 Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Die Ezzonen und ihre Stiftungen. Eine Untersuchung zur Stiftungstätigkeit im 11. Jahrhundert (Kunstgeschichte, Bd. 42), Münster 1993, S. 164–168. 117 So sah dies auch Krauss 2005 (wie Anm. 78), S. 63. Sie vertritt eine Datierung der Malerischen Gruppe zwischen 991/994 und 996 (S. 59–62). 118 Winterer 2010 (wie Anm. 77), S. 30–35 erwähnte trotz des Kapitels „Die Stifterin Hitda und die Blüte der ottonischen Damenstifte“ die Gerresheimer Handschrift nicht, wie auch bei Kuder/Walter 1996 (wie Anm. 1) dieser nur Anm. 25, S. 95 galt. 119 Handschriftencensus Rheinland: Erfassung mittelalterlicher Handschriften im rheinischen Landesteil von Nordrhein-Westfalen, hg. v. Günter Gattermann (Schriften der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, Bd. 18), Wiesbaden 1993, Kat. Nr. 827, S. 482 f.

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Im Jahre 2011 gab Thomas Labusiak im Katalog des Museums Schnütgen zur ‚Glanz und Größe‘-Ausstellung Kölner Meisterwerke, die überraschenderweise keine einzige ottonische Handschrift ausstellte, einen Überblick über die Kölner Buchmalerei des 10. bis 12. Jahrhundert. Gemessen an der Länge des Gesamttextes relativ ausführlich verglich er dabei den Gerresheimer Evangelisten Matthäus mit dem Evangelisten Johannes im Mailänder Evangeliar, um die Gestaltungsbreite innerhalb der Kölner Malerei aufzuzeigen.120 Den Vergleich hatten weniger detailliert schon Bloch/Schnitzler gezogen (s. o.),121 und dies zeigt die – auch nach der von Labusiak berücksichtigten Neujustierung der Forschungsdiskussion im Umkreis der Gedenkschrift für Kaiserin Theophanu 1991 vor allem durch Anton von Euw und Rainer Kahsnitz – allen Kritikpunkten zum Trotz weiterhin gegebene Relevanz des Korpuswerkes. Der Kernthese von Bloch/Schnitzler – nämlich der direkten Abhängigkeit der gesamten Kölner ottonischen Buchmalerei von dem nach 996 entstandenen Manchester Codex – folgte unter Aufgriff der Modifikationen Nordenfalks, der ihr insgesamt ja auch gefolgt war, noch 2012 Harald Horst, wobei sein Fokus mit dem Evangeliar aus St. Maria ad Gradus und dem Hillinus-Codex den hierfür unproblematischen späteren Codices galt.122 Das Gerresheimer Evangeliar erwähnte er nur. Dessen Berücksichtigung blieb auch weiterhin die Ausnahme und selbst die Diskussion zu ottonischen Kruzifixformen in Köln, bei der schon Rudolf Wesenberg 1972 mehrfach Bezug auf die Gerresheimer Kreuzigungs-Miniatur (fol. 211v) genommen hatte,123 wurde 2012 von Kahsnitz nicht anhand des Gerresheimer Kreuzigungsbildes, sondern anhand der Miniatur im Pariser Sakramentar geführt.124 Zuletzt 2013 lieferte Julia Krumpen einen Katalogeintrag zum Codex anlässlich der Eröffnung der neu einge-

120 Thomas Labusiak: Die Kölner Buchmalerei des frühen und hohen Mittelalters. Ein Überblick, in: Glanz und Größe des Mittelalters. Kölner Meisterwerke aus den großen Sammlungen der Welt, Ausst. Kat. Museum Schnütgen Köln, hg. v. Dagmar Täube u. Miriam Verena Fleck, München 2011, S. 36–49. 121 Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 131 f. 122 Nordenfalk 1971 (wie Anm. 63). – Harald Horst: Illuminierte Kölner Handschriften und ihre Verbindung nach Trier, in: Libri Pretiosi. Mitteilungen der Bibliophilen Gesellschaft Trier 15 (2012), S. 65–77, insb. S. 67–70, zum Gerresheimer Evangeliar S. 69. – Trotz Kenntnis der Datierungen der Malerischen Schule in das 10. Jahrhundert – explizit nennt er die Argumentation von Ulrich Kuder zum Sakramentar aus St. Gereon in die Jahre zwischen 984 und 996 in Kat. Hildesheim 1993 (wie Anm. 42), Bd. 2, Kat. Nr. IV–56, S. 226 – beharrt Günther Binding: Die Datierung der Kölner spätottonischen Skulpturen. Ein kritischer Forschungsbericht, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch. Jahrbuch für Kunstgeschichte 72 (2011), S. 88–122, insb. S. 104 f. ohne Diskussion auf deren Abhängigkeit vom Manchester Codex und damit der späten Ansetzung durch Bloch/Schnitzler. 123 Wesenberg 1972 (wie Anm. 107), S. 46, 49–51, 73 und öfter. 124 Rainer Kahsnitz: Das Bild des toten Heilands am Kreuz in ottonischer Zeit. Künstlerische und theologische Probleme plastischer Kruzifixe, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 66 (2012 [2014]), S. 51–101, insb. S. 80–87.

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richteten Schatzkammer in Gerresheim, der sich keiner der relevanten Forschungsfragen widmete.125 Diese warf dafür ein 2012 in Kiel stattfindendes, 2013 publiziertes Kolloquium zum Darmstädter Hitda-Codex auf, in dem die verschiedenen Thesen zur Stifterin Hitda von Meschede zusammengetragen wurden. Neben den erneut vorgetragenen Überlegungen einer Spätdatierung der Darmstädter Handschrift und der zugehörigen Malerischen Gruppe durch Gerhard Weilandt formulierte Dieter Riemer im Gegenpol deren Frühdatierung, die kunsthistorisch dann von Ulrich Kuder überraschend aufgegriffen wurde.126 Kuder unterschied – unter anderem unter Bezug auf Nordenfalk und einen eigenen Beitrag zu dem 1944 verbrannten Kölner Evangeliar in Straßburg127  – zwei Malschulen, die er versuchsweise zum einen am Kölner Dom und zum anderen an St. Gereon (anstatt an dem sonst meist vermuteten Kloster St. Pantaleon) lokalisierte.128 Im Domskriptorium seien das Everger-Lektionar mit seinen zugehörigen, unbebilderten Handschriften sowie das in zwei Phasen entstandene Straßburger Evangeliar und das Lyskirchen-Evangeliar entstanden. Im Skriptorium von St. Gereon setzte Kuder in einer neu strukturierten Abfolge der übrigen Kölner Handschriften spektakulär das Gerresheimer Evangeliar an die Spitze und datierte es vor 969. Später seien dort in der Malerischen Gruppe chronologisch der Hitda-Codex (969–976) vor dem Pariser Sakramentar (984/985)129 und dann in schneller Folge die Evangeliare in Mailand (um 985), Gießen (um 985–995), Stuttgart (Gundold-Ev., um 990), im Kölner Stadtarchiv (991–994) und in Namur (Ende 10. Jh. / um 1000) entstanden. Mit dieser Frühdatierung steht die Gerresheimer Handschrift erstmals mitten in einer Forschungsdebatte. Die Spanne ihrer vorgetragenen Datierungen liegt somit zwischen 125 Besser als Silber und Gold. Ausgewählte Stücke des Gerresheimer Kirchenschatzes, hg. v. Beate Johlen-Budnik u. Andrea Hülsen-Esch, Essen 2013, S. 22 f. (Julia Krumpen). 126 Dieter Riemer: Neue Überlegungen zu Hitda, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 21), S. 33–55. – Gerhard Weilandt: Der Hitda-Codex und seine Stifterin Ida von St. Maria im Kapitol. Eine Wiederbegegnung nach einem Vierteljahrhundert, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 21), S. 57–74. – Kuder 2013 (wie Anm. 21). 127 Nordenfalk 1971 (wie Anm. 63), S. 303. – Ulrich Kuder: Eine weitere Pause nach dem in Straßburg verbrannten ottonischen Kölner Evangeliar, in: Kunstchronik. Monatsschrift für Kunstwissenschaft, Museumswesen und Denkmalpflege 38 (1985), S. 381–383. 128 Kuder 2013 (wie Anm. 21), S. 110 f. 129 Damit kehrte er die seit Ehl 1922 (wie Anm. 28) einheitlich von der Forschung vertretene Chronologie um, die durchgängig das Sakramentar für älter halten. Dieser chronologischen Umkehrung von Kuder folgt die jüngste Untersuchung zum Pariser Sakramentar, dem Hitda-Codex und dem Mailänder Evangeliar dezidiert nicht; vgl. Joshua O’Driscoll: Image and Inscription in Painterly Manuscripts from Ottonian Cologne, Diss. Harvard University Cambridge Mass. 2015. – Vgl. auch Joshua O’Driscoll: Anmerkungen zum Verhältnis von Bild und Titulus im Sakramentar aus Sankt Gereon und im Hitda-Codex, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 21), S. 113–127.

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‚vor 969‘ und ‚vor 1056/58‘ – mithin bei fast einhundert Jahren oder drei Generationen, die die moderate Datierung von Bloch/Schnitzler auf „um 1020–1040“ 130 fast vergessen macht. Eine umfassende Zurückweisung der Frühdatierung, die ihre zeitliche Eingrenzung vor allem der Identifizierung der Gerresheimer Hidda mit der gleichnamigen, 969 verstorbenen Mutter des Kölner Erzbischofs Gero (amt. 969–976) verdankt, kann hier im Rahmen eines Forschungsüberblicks nicht erfolgen, jedoch seien einige Aspekte angesprochen. Das Verhältnis des Gerresheimer Codex zu der um die Darmstädter Handschrift geführten Identifizierungsdiskussion hat Riemer in seinem Beitrag festgelegt.131 So sah er die Gerresheimer als älter an, da Hidda/Hitda dort nur als „pia“ in Darmstadt aber als „peregrina“ sowie (auf Widmungsbild und Widmungsinschrift) als „abbatissa“ bezeichnet werde. Kunsthistorisch nimmt er das Fehlen von byzantinischen Einflüssen in Gerresheim als Argument für das höhere Alter als das des Hitda-Codex, weshalb dieser seiner Ansicht nach „eine Weiterentwicklung aus einer älteren Vorlage [...] [ist], wie sie für Gerresheim Verwendung fand“.132 Angesichts der Tatsache, dass – trotz immer wieder vermuteter Identität – kein Beleg oder auch nur Hinweis bekannt ist, nach dem Hitda und Hidda die gleiche Person sind (auch die häufiger behauptete Seltenheit des Namens hält einer kritischen Überprüfung nicht stand133), ist schon ein chronologischer Vergleich der gänzlich anders gearteten Formulierungen der Stiftungseinträge fragwürdig.134 Dies besonders, als 130 Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 68. 131 Riemer 2013 (wie Anm. 126), S. 39 f. 132 Riemer 2013 (wie Anm. 126), S. 39 f. „Es besteht Einigkeit darüber, dass die Bilder des Mescheder Codex zahlreiche Motive enthalten, die auf östlichen – sei er nun byzantinisch oder eher syrisch – Einfluss zurückgehen. Beim Gerresheimer Codex ist davon nichts zu finden, was zusätzlich dafür spricht, dass dieser Codex der ältere ist. Am besten sind die Evangelistenbilder zu vergleichen. [...] Man hat den Eindruck, als wenn der für Gerresheim arbeitende Maler im Wesentlichen nur natürlich gewachsenes Haar gesehen hatte, während sein für Meschede arbeitender Kollege unterschiedliche Frisuren so gut kannte, dass er jedem der vier Evangelisten eine andere, sorgfältig gekämmte Frisur malen konnte. Insgesamt dürfte die Ansicht richtig sein, dass die beiden Codices relativ kurz hintereinander entstanden und ihre Stifterinnen Hitda und Hidda identisch sind. Entgegen der bisherigen Meinung ist jedoch der schlichtere Codex für Gerresheim vor dem für Meschede entstanden.“ 133 Vgl. Beuckers/Winterer 2013 (wie Anm. 78), S. 24 f. 134 Die Stifterinschrift des Hitda-Codex (fol. 5v) lautet: Hunc librum s(an)c(t)ę vvalbvrgę HITDA ABBATISSA pro se suisq(ue). „Dieses Buch (schenkt) die Äbtissin Hitda für sich und die ihren der heiligen Walburga.“ Übers. n. Winterer 2010 (wie Anm. 77), S. 45. – Auf fol. 1v befindet sich von anderer Hand der Text einer Schenkung, der mit folgendem Text beginnt: Hec munera HIDDA peregrina istius loci p(ro)curatrix d(e)o et S(an)ctę VVALTBVRGI dono dedit p(ro) se suis q(ue) ex voto. „Diese Geschenke hat die Pilgerin HIDDA, die Verwalterin dieses Ortes, Gott und der hl. Walburga als Votivgaben für sich und die ihrigen gegeben:“ Übers. n. Kuder/Walter 1996 (wie Anm. 1), S. 93 f. – Im Gerresheimer Evangeliar lautet die Stifterinschrift Ista D(e)o vovit / ac mox pia Hidda patravit / ac simvl Yppolito / Meritis svp(er) aethera divo. „Dieses hat Gott gelobt und dann ins Werk gesetzt die fromme Hidda und

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sich die Forschung noch nicht einmal über die genaue Bedeutung bzw. Übersetzung von „peregrina“ einig ist.135 Gänzlich unhaltbar ist es, die Verschiedenheit der künstlerischen Einflüsse chronologisch zu interpretieren – selbst wenn man mit dem 19. Jahrhundert an eine Abfolge von Stilen glauben wollte. Den beiden Handschriften liegen nicht nur gänzlich unterschiedliche stilistische Einflüsse zugrunde, sondern sie rezipieren diese Vorlagen mit einem ganz anderen künstlerischen Ansatz, der weniger älter oder jünger, sondern vor allem anders ist. So haben die Ausführungen oben gezeigt, dass das Gerresheimer Evangeliar in mehrerer Hinsicht eine starke Beeinflussung durch eine spätkarolingische Vorlage aufweist, die seine Sonderstellung innerhalb der Kölner Reihe begründet. Alle intensiver mit der Handschrift befassten Autoren, allen voran Bloch/Schnitzler und Nordenfalk haben diese Abweichungen vom Kölner Formenschatz nicht chronologisch, sondern als Hinweis auf eine Entstehung in einem anderen, aber wohl dennoch kölnischen Skriptorium gewertet. Auch die Paläographie weist in diese Richtung.136

Alte Fragen, neue Fragen Für die Einordnung des Gerresheimer Evangeliars in die Kölner Buchmalerei aufschlussreich ist die jüngste erhaltene Handschrift der Malerischen Gruppe, das Evangeliar in Namur.137 Während die Evangelisten eindeutig in den engen Zusammenhang der Malerischen Gruppe gehören (und hier aufgrund der Konturlinien sowie der Farbwirkung mit stilistischer Nähe zum Gießener Evangeliar), wich man bei den Kanontafeln auf ein ganz anderes Modell als das Kölnische Kombinationsmodell aus. Stattdessen bediente man sich einer einfachen Rahmung eines annähernd quadratischen Kanonfeldes mit nur dünnen, fast unsicher wirkenden Unterteilungen der Spalten und Blöcke mittels einfacher Linien. Das Gesamtfeld wird jedoch außen durch mittelkräftige Säulen gerahmt, die ein Gebälk mit aufgesetztem, gegenüber den anderen Kölner Lösungen nicht annähernd so flachen Giebel tragen. Die Form ist ganz offensichtlich karolingischen Reimser Vorlagen in der Art des Ebo-Evangeliars (Bibl. Munic. Èpernay, Ms. 1) oder des Harley-Evangeliars zugleich dem Hippolitus, der auf Grund seiner Verdienste göttlich über dem Himmel weilt.“ Übersetzung Jan Radicke. 135 Vgl. Klemens Honselmann: Eine Schenkung der Äbtissin Hitda von Meschede. Großartige Kostbarkeiten für die Kirche, in: Westfälische Zeitschrift. Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde  112 (1962), S. 305–307, hier S. 307.  – Weilandt 1987 (wie Anm.  109), S. 53 f.  – Kuder/alter 1996 (wie Anm. 1), insb. S. 94–96. – Winterer 2010 (wie Anm. 77), S. 31 f. – Weilandt 2013 (wie Anm. 126), S. 65 f. 136 Vgl. dazu den Beitrag von Hans-Walter Stork in diesem Band. 137 Vgl. Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 59 f. mit Tafeln 201–212. – http://www. cicweb.be/fr/manuscrit.php?id=47&idi=40 (letzter Zugriff: 18.01.2016).

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2816 (British Library London, Harley 2816) entlehnt.138 Dass solche Handschriften in Köln zur Verfügung standen, hat zuletzt Thomas Labusiak anhand des Figurenstils der Malerischen Gruppe aufgezeigt.139 Auch bei den Initialzierseiten wählte man ein ganz anderes, wesentlich geklärteres Seitendesign ohne Purpurhintergründe, aber mit einer eigenwilligen Verknüpfung karolingischer Buchstabenformen mit modernem Rankendekor. Offenbar suchte man durch den Einbezug anderer Vorlagen, die man insbesondere in karolingischen Handschriften fand, am Ende der Malerischen Gruppe nach neuen Wegen. Doch wie passt hier das Gerresheimer Evangeliar hinein? Nachdem Nordenfalk die Handschriften in Stuttgart (Gundold-Ev.) und Namur an die Malerische Gruppe verwiesen hat, scheint die Malerische Sondergruppe faktisch bis auf den Gerresheimer Codex aufgelöst zu sein (s. o.). Dennoch ist das Gerresheimer Evangeliar kein singulär entstandenes Werk. Vielmehr stammt es aus einer routinierten Produktion, was sich alleine schon bei einem Blick auf das sehr ausgewogene und gleichmäßige Schriftbild zeigt. Mehr noch als das belegt der nur als Blindrillenzeichnung erhaltene Kanontafel-Entwurf auf fol. 1r, den schon Bloch/Schnitzler gesehen haben, der aber nie diskutiert wurde, die Benutzung einer Pergamentlage, die für eine andere Handschrift vorbereitet wurde. In die gleiche Richtung weist auch der Abklatsch einer fremden, gemalten Kanontafel auf fol. 2r, der mindestens eine weitere Handschrift dieser Produktion belegt.140 Der Abklatsch ist stilistisch nur schwer einzuordnen, aber seine Anlage mit dünnen und besonders langgezogenen Säulen stimmt proportional nicht nur mit dem Gerresheimer Evangeliar überein, sondern ebenso mit den jüngeren Werken der Malerischen Gruppe in Darmstadt und Gießen sowie dem ältesten Werk der Reichen Gruppe aus St. Maria ad Gradus in der Kölner Diözesanbibliothek. Der Mariengradener Handschrift entspricht aber überraschend genau die Blindrillenzeichnung (fol. 1r), die eine andere Anlage als die anderen Gerresheimer Kanontafeln zeigt: Die Säulen, die selbst mit ihren Kapitellen offenbar noch nicht gerissen wurden (zumindest heute mit bloßem Auge nicht erkennbar sind), sollten bei dem unvollendeten Entwurf auf einem durchgehenden Sockel stehen, von dem zwei Linien deutlich erkennbar sind. Solche Sockel gibt es in der Malerischen Gruppe nur bei den Evangeliaren in Darmstadt und Gießen, vor allem aber in den Evangeliaren aus St. Maria ad Gradus und New York sowie dem in Straßburg verbrannten Codex, also den drei Handschriften der Reichen Gruppe. Die Giebelschrägen des Entwurfs sind in Gerresheim besonders gut erkennbar, da sie aus etlichen parallel geführten Rillen bestehen und so einen reich profilier138 Vgl. Köhler/Mütherich 1994/99 (wie Anm. 51), Bd. 2, S. 73–84 u. 143–149 und weitere. 139 Thomas Labusiak: Zum Stil des Hitda-Codex, in: Beuckers 2013 (wie Anm. 21), S. 75–88. – Vermutlich war es ein solche Handschrift, die auch als Vorlage für das bereits mehrfach erwähnte Evangeliar Berlin theol. lat. fol. 25 gedient hat; vgl. Fingernagel 1991 (wie Anm. 86), Kat. Nr. 112, Bd. 1, S. 123–125. 140 Vgl. den Beitrag von Doris Oltrogge in diesem Band.

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ten Giebel anlegen sollten. Diese Differenzierungen gibt es in diesem Reichtum bei der Malerischen Gruppe so nicht, wohl aber wiederum im Evangeliar aus St. Maria ad Gradus, wo auch die Proportionen des nur gerissenen Giebels von Gerresheim zu finden sind. Nimmt man die erhaltenen Codices Kölner Produktion zum Maßstab für die Planritzung, die diesen im Typus zugehörig ist, so muss man den Entwurf in das direkte Umfeld der frühen Reichen Gruppe legen, frühestens jedoch an das Ende der Malerischen Gruppe (wo die Handschrift in Namur in singulärer Weise ganz andere Kanontafeltypen wählt). Selbst wenn man die Kanontafeln der Reichen Gruppe direkt vom Manchester Codex ableiten möchte, so steht die Blindrillenzeichnung diesem deutlich ferner als dem Mariengradener Codex. Die Blindrillenzeichnung des Gerresheimer Evangeliars, die vor der Anlage der Handschrift selbst entstanden sein muss, gehört also stilistisch an den Übergang zwischen der Malerischen und der Reichen Gruppe. Etwas komplizierter wird dies, wenn man die unfertige Anlage einer Kanontafel im Gundold-Evangeliar in Stuttgart (fol. 1r) einbezieht.141 Bloch/Schnitzler hatten den Codex zur Malerischen Sondergruppe gezogen, Nordenfalk wollte ihn aber mit Verweis auf die Zierbuchstaben an den Anfang der Malerischen Gruppe setzen. Er folgte damit indirekt Albert Boeckler, der die unfertige Kanontafel gar um 971 datieren wollte.142 Dem waren aber schon Bloch/Schnitzler explizit entgegengetreten. Sie dürften in ihrer Einschätzung richtig gelegen haben, wenn man die Serie der Kanontafeln im Gundold-Evangeliar ansieht, die sich stämmiger, weil niedriger angelegt zeigen und hier auch besonders pastose, unpräzise Farbverläufe, hingegen eine sehr graphische Mennige-Zeichnung als letzte Auflage aufweisen. In den Proportionen setzen sie darin eine Tendenz des Gießener Evangeliars fort und sind gar nicht mehr so weit von der Quadratform in Namur entfernt, in der Profilierung des Giebels aber schon fast bei dem Evangeliar aus Mariengraden. Das spräche für eine Ansetzung ans Ende der Malerischen Gruppe, wenn sich die Qualität der Kanontafeln des Gundold-Evangeliars nicht so stark von den Handschriften der Malerischen Gruppe unterscheiden würde. Weder in der Anlage der Tafeln, noch in ihrem Kolorit oder den Höhungen erreicht der verwaschen anmutende Codex das Niveau der Malerischen Gruppe, von der ihn wohl nicht nur ein zeitlicher Abstand trennt, sondern der ganz sicher von anderen Personen hergestellt wurde. Bloch/Schnitzler haben die unfertige Kanontafel, die vor die Kanonfolge als Einzelblatt vorgebunden wurde, hingegen mit den Gerresheimer Kanontafeln in Verbindung gebracht.143 Zwar sind die Giebelformen in den fertigen Partien von Gerresheim nicht annähernd so fein profiliert, aber dafür in der Vorritzung (s. o.). Alles das spricht für eine 141 Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 61–64 mit Tafeln 214–234. – Kat. Köln 1991 (wie Anm. 111), Kat. Nr. 4, S. 36–38 (Anton von Euw). 142 Boeckler 1948 (wie Anm. 41), S. 148. – Nordenfalk 1971 (wie Anm. 63), S. 303. 143 Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 61.

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gewisse Zusammengehörigkeit beider Codices, auf die auch eine überraschend ähnliche Schrift sowohl in einigen Auszeichnungsschriften als auch der Textanlage hinzuweisen scheint.144 Ein Schlüsselwerk wird das Gundold-Evangeliar jedoch durch seine Evangelisten, die ganz eindeutig den Typen verpflichtet sind, die in der Strengen Gruppe kanonisch und einheitlich aus der direkten Auseinandersetzung mit dem Manchester Evangeliar hergeleitet werden. Dabei ist ihnen sogar eine kopistische Nachahmung unterstellt worden, die Nordenfalk zu seiner abschätzenden Klassifizierung als „Steife Gruppe“ führte.145 Das zweibändige Gundold-Evangeliar ist die älteste Handschrift innerhalb der gesamten Gruppe, die mit dem Manchester Evangeliar selbst zusammenhängt. Dafür spricht jedenfalls die b-Initiale des Beatissimo papae vom Anfang der ersten Hieronymus-Vorrede (fol. 11r), von der nicht nur die Initialform, sondern auch die Buchstabenverteilung als direkte Übernahme aus dem Manchester Codex gewertet wird. Sowohl im Anspruch als auch der Ausführung trennen beide Evangeliare aber Welten, was in Stuttgart selbst sehr augenscheinlich wird, wenn man das als Kopie des Manchester Codex anzusehende Stuttgarter Evangeliar aus St. Gereon daneben sieht.146 In den Evangelisten-Typen nimmt das Gundold-Evangeliar allerdings die Formulierungen der Handschrift in Manchester auf – wobei die in Manchester herausgeschnittenen Evangelisten über die Kopien im Stuttgarter Gereons-Evangeliar Bibl. fol. 21 gefasst werden müssen. So entspricht Matthäus im Gundold-Evangeliar Johannes in Codex 21, Lukas dem dortigen Markus und Johannes Matthäus, während Markus im Gundold-Evangeliar das Schema von Lukas dort etwas 144 Das Gundold-Evangeliar weist mehrere Hände auf, wie auch der Gerresheimer Codex. Relativ einheitlich ist der zweite Band der Handschrift, der im Gegensatz zum ersten Band auch systematisch angelegt ist (s. u.). Die Hand, die das Johannes-Evangelium im Gundold-Evangeliar geschrieben hat, scheint mir der Hand B des Gerresheimer Evangeliars im Lukas-Evangelium (z. B. fol. 207v) so auffallend nahezustehen, wie in keiner anderen mir bekannten Kölner Handschrift des Umkreises. Eine ausführliche paläographische Untersuchung hierzu wäre wünschenswert. 145 Nordenfalk 1971 (wie Anm. 63), S. 307: „Nicht in gleichem Maße [wie der Malerische und der Reiche Stil] scheint mir die dritte oder ‚strenge‘ Stilphase [...]. Die Verfasser halten mir vor, daß ich im Skira-Band bei dieser Stilgruppe einen traurigen Qualitätsabstieg festgestellt habe, aber ich sehe immer noch keinen Grund, für dieses Urteil Buße zu tun. Der ‚strenge‘ Stil, den ich lieber den ‚steifen‘ nennen möchte [...].“ Nordenfalks Einschätzung dürfte nicht zuletzt auf seiner Kenntnis der Gruppe durch Schwarz-Weiß-Fotografien beruhen, während Bloch/Schnitzler die Handschriften, deren Reiz nicht zuletzt aus den farblich differenzierten Zeichnungen entstehen, teilweise aus eigener Anschauung kannten. Eine Würdigung dieser bei Bloch/Schnitzler zu spät datierten Gruppe soll ein in Kiel im Aufbau befindliches Forschungsprojekt zum Sakramentar aus Tyniec in Kürze erarbeiten. 146 Ein Detailvergleich beider Codices steht bisher aus, jedoch kann an der einheitlich von der Forschung konstatierten kopistischen Abhängigkeit angesichts der Übernahme selbst von Details sowohl bei den Initialen als auch den Textzierseiten und den Rahmendekorationen über den ganzen Codex hinweg kein Zweifel bestehen. Bemerkenswert ist aber die durchaus vergleichbare Qualität beider Handschriften.

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modifiziert. Johannes und Markus hatten auch in der Malerischen Gruppe ihre Parallelen, jedoch gibt es keine so nahe Entsprechung wie zu der direkten Nachfolge des Manchester Evangeliars in der Reichen Gruppe. Vor allem ist die gesamte Reihe in der Malerischen Gruppe nirgendwo zu finden. Anton von Euw hat den Codex als von einer „bescheidenere[n] Vorlage [...], die im Skriptorium [...] in Umlauf war“ statt vom Manchester Codex selbst ableiten wollen,147 was durchaus denkbar ist. Sowohl die b-Initiale (fol. 11r) als auch die Evangelistenfolge zeigen jedoch, dass eine solche Vorlage in direkter Verbindung zum Manchester-Evangeliar gesehen werden muss. Der Stil der Evangelistenzeichnungen folgt jedoch weder den verschiedenen Ausprägungen der Reichen Gruppe noch dem der zudem meist schlankeren Gestalten der Malerischen Gruppe. Vielmehr spielen hier sowohl in der Faltenanlage als auch bei den nervösen Oberflächen mit ihren Einsprengseln wieder Reimser Prägungen und andere karolingische Stilelemente eine große Rolle, denen auch der floral überzogene Streifengrund bei Johannes (Bd. II, fol. 71r) verpflichtet ist. Die Anlage des zweibändigen, trotz seiner Schwächen aber unstrittig in einem geübten Skriptorium entstandenen Evangeliars ist etwas komplizierter.148 Ausgangspunkt war eine 147 Kat. Köln 1991 (wie Anm. 111), Kat. Nr. 4, S. 38 (Anton von Euw). 148 Die Kanontafeln des ersten Bandes der Handschrift sind auf eigenen Lagen angelegt und waren offenbar für ein anderes Format gedacht, sind jedenfalls im Gegensatz zu den beiden mittelalterlich gebundenen Codices beschnitten. Der auf fol. 2v weitgehend rasierte Evangelist folgt in Größe und Typus den anderen Evangelisten der beiden Teilbände. Die zwölfte Kanontafel (fol. 8v) wurde linkisch ohne architektonisierende Rahmenformen während der Anlage der Handschrift und vor der Beschriftung der Kanontafeln nachgetragen. Hinter den Kanontafeln beginnt eine neue Lage mit Kreuzigung (fol. 9r), Zierseite und Maiestas (fol. 9v/10r), Textzierseite und Initialzierseite zur ersten Hieronymus-Vorrede (fol. 10v/11r). Der Text von Novum opus ist auf fol. 11v aufgrund von Platzmangel sehr gedrängt und klein geschrieben, hat sogar 35 Zeilen. Auf fol. 12r gegenüber lockert sich das wechselhafte Schriftbild und wird ab der neunten Zeile gleichmäßiger. Auch hier befinden sich immerhin noch 24 Zeilen (statt sonst 22). Regelmäßig ist die Schrift ab der zweiten, mit P-Initiale eingeleiteten Vorrede Plures fuisse (fol. 13r) und entspricht von dort an der Anlage der Evangelientexte. Die Evangelistendarstellungen beginnen auf fol. 19v mit Matthäus, dem eine leere Seite (fol. 19r) als erste Seite dieser Lage vorausgeht. Ihm gegenüber beginnt auf fol. 20r der Evangelientext mit dem dreiviertelseitigen, gerahmten Ziertext zum Liber generationis. Ganz anders ist Markus auf fol. 73r mitten in einer Lage angeordnet. Hinter ihm sind fol. 73v/74r frei, erst fol. 74v folgt das Explicit für das Matthäus-Evangelium und fol. 76v das Initium zu Markus. Im Gegensatz dazu ist der zweite Band klar strukturiert und in der Textverteilung aufgehend: Das Lukas-Bild auf fol. 8r macht eine neue Lage auf, es folgt die freie Doppelseite fol. 8v/9r, bevor auf fol. 9v mit Quidem das Evangelium beginnt. Ebenso endet auf fol. 69r die Vorrede zu Johannes sehr sauber und gut angeordnet, um fol. 70r leer zu lassen. Die Doppelseite fol. 70v/71r zeigt links einen leeren Rahmen und ihm gegenüber den Evangelisten, der ihm zugewandt ist. Es folgt wieder eine leere Doppelseite fol. 71v/72r, dann der mit I-Initiale ausgezeichnete Evangelienanfang. Die gesamte Anlage des Johannes-Beginns liegt mitten in einer Lage. Offenbar hatte man im zweiten Band ein klares Konzept, das man sich im ersten erst erarbeiten musste. Von der Anlage her ist dies schon bei Markus erfolgt, dort kam man aber mit dem

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Lage mit den ganzseitigen Miniaturen der Kreuzigung (Bd. I, fol. 9r) und der Maiestas (fol. 10r), die von Euw überzeugend nahe am Mailänder Evangeliar der Malerischen Gruppe eingeordnet hat.149 Damit ist ein terminus post quem für das Evangeliar insgesamt gegeben, der durch Details wie die Rahmung des Ziertextes zum Matthäus-Evangelium (fol. 20r), die eine dem Gerresheimer Evangeliar vergleichbare Palmettenrahmung zeigt, ergänzt wird. Bemerkenswert ist weiterhin die Kopie der b-Initiale zur ersten Hieronymus-Vorrede aus dem Manchester-Evangeliar, für die man sogar eine empfindliche Störung des Schriftbildes direkt am Anfang des Codex hinzunehmen bereit war. Eine genauere Analyse der Handschrift, die immer etwas im Schatten der Diskussion stand, steht noch aus, aber sie mutet – und hier ist Nordenfalk Recht zu geben – wie der suchende Neuanfang eines Skriptoriums an. Es stand aber nicht am Beginn einer Kölner Buchmalerei, sondern ihm lagen sowohl die Vorlagen der Malerischen Gruppe als auch mit den beiden Miniaturen Produkte dieser vor, zudem kannte man den Manchester Codex oder eine Kopie davon. Die war so wichtig, dass man eine Initialzierseite hiervon selbst kopierte und dafür das Konzept der ersten Lage über den Haufen warf. Der von Nordenfalk postulierte Neuanfang bezieht sich – und hier hatten Bloch/Schnitzler mit der Anordnung ihrer Malerischen Sondergruppe Recht – auf den Übergang zur Strengen Gruppe. Wie in den Handschriften von Gerresheim und Namur griff man bei dieser Neuformierung der Kölner Buchmalerei wieder stark auf karolingische Vorlagen zurück. Im Vergleich zum Gerresheimer Evangeliar wirkt der Gundold-Codex unsicherer und weniger routiniert. Er dürfte deshalb um weniges älter sein. Eine Parallele zwischen beiden ist die im Gundold-Evangeliar dem Evangelisten Johannes gegenüberliegende Seite eines Zierrahmens, dessen zugehöriges Bild oder Ziertext nicht ausgeführt wurden (Bd. II, fol. 70v/71r). Die vorhergehende Seite blieb wegen des Durchschlags leer, der Johannes-Prolog endet dafür bereits auf fol. 69r. Offenbar war die Gegenüberstellung von dem Evangelisten zu dieser gerahmten verso-Seite, auf der in Geroffenbar parallel geschriebenen Text nicht hin, weshalb der Evangelist mit seinen Freiseiten zu weit vorne steht. Noch nicht gefunden war das Konzept bei Matthäus, der auf einer verso-Seite angeordnet ist und dem auch die anschließenden freien Doppelseiten der anderen Evangelisten fehlen, die ganz offensichtlich zur Verklebung gedacht waren (s. u.). Improvisiert erscheint der Beginn von Band 1: Offenbar musste man zwischen die Maiestas und die Plures fuisse-Vorrede die erste Vorrede einfügen, was durch die wohl ursprünglich nicht eingeplante Initialzierseite fol. 11r aus Platzmangel nicht mehr funktionierte. Da das Layout der Seiten und die Schreiberhand der zweiten Vorrede mit dem anschließenden Evangelium zusammengehören, muss dies alles zeitnah während der Erstellung des Codex geschehen sein. Die Lage mit der Kreuzigung und der Maiestas bildete offenbar den Ausgangspunkt für den ganzen Codex. Nimmt man die ursprünglich geplante, etwas größere Anlage der Kanontafeln an (die dann etwa der Größe des Gerresheimer Evangeliars entsprochen hätten), so fällt man die Entscheidung für die Hereinnahme der Maiestas-Lage während der Produktion. Kanontafeln und Evangelisten sind der Malerei nach zeitgleich, wofür auch der Probe-Evangelist auf fol. 2v spricht. 149 Kat. Köln 1991 (wie Anm. 111), Kat. Nr. 4, S. 38 (Anton von Euw).

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resheim die Kreuzigung angeordnet ist, wichtig. Dafür spiegelte man, wie in Gerresheim, den Evangelisten, der sich so der Seite zuwandte. Darauf wird zurückzukommen sein. Insgesamt sind alle drei Handschriften der Malerischen Sondergruppe mit Bloch/ Schnitzler in ein gemeinsames zeitliches Feld zwischen der Spätphase der Malerischen und der Frühphase der Strengen, etwa zeitglich zur Reichen Gruppe anzusetzen. Die hier greifbaren Neuanfänge können historisch gut mit den Neuanfängen einer Kölner Kunst in der Spätzeit bzw. nach dem Tod Kaiser Heinrichs II. (amt. 1002–1024) synchronisiert werden, nachdem die Geschehnisse in der Folge des Todes von Otto III. (amt. 983–1002) für einen Einbruch der Kölner Produktion gesorgt hatten.150 Die zahlreichen Verknüpfungen des Gerresheimer Evangeliars in dieses Beziehungsgeflecht der Kölner Handschriften und auch – was hier nicht ausgeführt werden kann – zu der Buchmalerei in Mainz und am Mittelrhein (das Berliner Evangeliar wurde bereits angesprochen, s.  o.) sowie in Prüm151 stützen eine Datierung in die 1020/30er Jahre.152 150 Vgl. zusammenfassend mit Literatur Klaus Gereon Beuckers: Die Stiftungen der Ezzonen. Manifestationen politischer und geistlicher Stellung unter den späten Ottonen und frühen Saliern in Lothringen, in: Verortete Herrschaft. Königspfalzen, Adelsburgen und Herrschaftsbildung in Niederlothringen während des frühen und hohen Mittelalters, hg. v. Jens Lieven, Bert Thissen u. Ronald Wientjes (Schriften der Heresbach-Stiftung Kalkar, Bd.  16), Bielefeld 2014, S. 255–288, insb. S. 265–269. – Beuckers/Winterer 2013 (wie Anm. 78), S. 31 f. – Eine ausführliche Diskussion der Wechselwirkungen zwischen den Geschehnissen von 973 bis etwa 1036 und der Kunstproduktion im Westen des Reiches befindet sich in Vorbereitung. – Ohne Berücksichtigung der Relevanz der historischen Abläufe für Köln und den Niederrhein zuletzt Anna-Maria Frings: Erzbischof Heribert von Köln und die Thronerhebung Heinrichs II., in: Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadt- und Regionalgeschichte 62 (2015), S. 19–42. 151 Zur Prümer Buchmalerei vgl. Claudia Höhl: Ottonische Buchmalerei in Prüm (Europäische Hochschulschriften, Reihe 28, Bd. 252), Frankfurt am Main 1996. – etliche Farbabbildungen des Prümer Tropar Bibl. nat. de France Paris, ms. lat. 9448 bei Christoph Winterer: Das Fuldaer Sakramentar in Göttingen. Benediktinische Observanz und römische Liturgie (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, Bd. 70), Petersberg 2009. 152 Die Chronologie der Kölner Buchmalerei ist deshalb in Auseinandersetzung insbesondere mit Bloch/ Schnitzler 1967/70 (wie Anm.  9), Kahsnitz 1991 (wie Anm.  77), Kat. Köln 1991 (wie Anm. 111) (Anton von Euw) und Kuder 2013 (wie Anm. 21) neu zu fassen. Unstrittig dürfte die von Nordenfalk 1971 (wie Anm. 63) vorgeschlagene Ausgliederung der Gruppe um den Everger-Codex in die sogenannte ‚Domschule‘ sein. In der ‚Hauptschule‘ sind die beiden Handschriften aus St. Gereon in Paris und dem Kölner Stadtarchiv an den Anfang zu stellen und durch ihre Medaillons bzw. das Gebet für König Otto zwischen 984 und 996 zu datieren. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass das Evangeliar mit seinen Medaillons eine dezidierte Antwort auf die Medaillons im Evangeliar der Sainte-Chapelle war, das als ‚Herrscherevangeliar‘ Heinrichs des Zänkers bei seinen Versuchen der Übernahme der Vormundschaftsregierung für Otto III. 983/985 angelegt wurde, und so die Kölner Gefolgschaft für Theophanu unterstreichen sollte, wobei der Gestus Theophanus in dem Medaillon eine Entstehung kurz nach ihrem Tod 991 gut denkbar macht. An diese beiden Gereons-Handschriften schließt stilistisch das Mailänder Evangeliar an, dessen Medaillons und Stifter-

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Schluss Abschließend ist für das Gerresheimer Evangeliar noch einmal auf den Widmungseintrag zurückzukommen. Die eigenartige Lage vor dem Johannes-Evangelium hat das Problem, dass mit der verso-Seite der Inschrift (fol. 210v) die Lage endet, der direkte Zusammenhang mit der auf der folgenden Lage beginnenden reichen Ausgestaltung des Beginns des Johannes-Evangeliums also ungeklärt bleiben muss. Die Folge beginnt heute mit einer Leerseite (fol. 211r) als Rückseite für das Kreuzigungsbild (fol. 211v), dem in einer gemeinsamen Komposition der Evangelist Johannes in für diese Handschrift singulärer Weise zugedreht ist (fol. 212r). Auf der folgenden Doppelseite schließen sich die IN-Initialzierseite (mit gleichartiger Rahmung wie die vorhergehende Doppelseite) und eine bilder neu zu diskutieren wären, weil die von Nordenfalk vorgeschlagene Identifizierung mit Erzbischof Heribert zeitlich nicht möglich ist. Der Codex dürfte wie der unmittelbar folgende Hitda-Codex und das daran anschließende Gießener Evangeliar in den 990er Jahren oder spätestens um 1000 entstanden sein. Mit dem 999 zum Erzbischof erhobenen Heribert haben sie bestenfalls indirekt zu tun. In der Schule wird mit den Evangeliaren in Namur und Stuttgart (Gundold-Ev.) sowie in Gerresheim ein Einschnitt und der Versuch einer Neuorientierung deutlich. In Namur schloss man sich zumindest teilweise der ‚Malerischen Gruppe‘ an, ist jedoch verwaschener, wie dies auch die im Typus ebenfalls anknüpfenden Kanontafeln im Gundold-Evangeliar sind. Ein direkter Anschluss an die Malerische Gruppe ist auch qualitativ höchst unwahrscheinlich, eher handelt es sich hier um den Versuch einer Wiederbelebung bei unterschiedlicher Fähigkeit. Dies gilt zumindest bis in die 1030er Jahre, bis (aus den hier erstmals greifbaren Kräften?) die Strenge Gruppe erwachsen ist. Diese entstand offenbar zeitlich etwa parallel zur Reichen Gruppe, die – vielleicht an einem anderen Ort als die Malerische Gruppe ansässig – dezidiert Elemente der reichenauischen Malerei aufgreift. Wie man den Reichenauischen Gerokodex in den 970er Jahren als Hinweis auf das Fehlen einer leistungsfähigen Kölner Buchmalerei verstehen möchte, so könnte man auch den Hillinus-Codex um 1025 so verstehen. Seine Wirkung ist auf die Reiche Gruppe, die Bloch/Schnitzler mit guten Argumenten in die Regierungszeit von Erzbischof Pilgrim (amt. 1021–1036) eingeordnet haben, zu erkennen, wobei hier an die zweite Hälfte seines Episkopates zu denken wäre. Über die Strenge Gruppe ist an anderer Stelle erst einmal ausführlich zu handeln, wie auch die hier vorgetragenen Überlegungen nur ein Vorabskizze sein können. Aber diese Handschriften, die sich dezidiert mit dem Manchester Evangeliar auseinandersetzen und mit dem Stuttgarter Evangeliar aus St. Gereon auf sehr hohem Niveau starten, können nicht wesentlich später als die Reiche Gruppe, bestenfalls Ende der 1030er Jahre einsetzen. Wenn man die Chronologie der Erzbischöfe auf die Handschriften übertragen möchte – was methodisch bei einer an einem Kloster oder Stift ansässigen ‚Schule‘ keineswegs naheliegt – so wäre die Strenge Gruppe mit dem Episkopat von Erzbischof Hermann II. (amt. 1036–1056) zu verbinden. – Selbst für das Lyskirchen-Evangeliar wurde zuletzt eine Gesamtdatierung vor 1067 vorgeschlagen: Vgl. Robert Suckale: Die Weltgerichtstafel aus dem römischen Frauenkonvent S. Maria in Campo Marzio als programmatisches Bild der einsetzenden Gregorianischen Kirchenreform, in: Das mittelalterliche Bild als Zeitzeuge. Sechs Studien, Berlin 2002, S. 12–122, hier S. 111–115. Ihm folgt Andrea Worm: Das Pariser Perikopenbuch Bibliothèque nationale de France, Ms. lat. 17325 und die Anfänge der romanischen Buchmalerei an Rhein und Weser (Denkmäler deutscher Kunst), Berlin 2008, S. 211 f.

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Textzierseite mit Mennige-gerahmten Goldinitialen PRIN / CIPIOE / RATVER des Evangelienanfangs an (fol. 212v/213r), der auf der folgenden Doppelseite mit links neun Zeilen in roter Auszeichnungsschrift sowie rechts in der typischen Anlageschrift das Evangelium fortsetzt (fol. 213v/214r). Kein anderes Evangelium in dem Codex wird so aufwendig eingeleitet. Üblich ist hingegen, nach einer Freiseite die Doppelseite mit den Evangelisten links und einer gerahmten Textzierseite mit dem Incipit zum Evangelium folgen zu lassen, auf die sich dann eine Doppelseite mit der Initialzierseite zum Evangelium links und dem beginnenden Evangelium rechts anschließt. Der kodikologische Befund hat ergeben, dass zwischen fol. 201v und 211r eine Seite aus dem gebundenen Buch herausgeschnitten wurde.153 Zudem gibt es auf fol. 211r eine kaum erhaltene Blindzeichnung, die man als Giebelarchitektur lesen könnte. Möglicherweise war der Bereich vor der Bilddoppelseite demnach für eine weitere Auszeichnung vorgesehen. Dies betrifft vor allem das herausgeschnittene Blatt, an dem man sich gegenüber der Stifterinschrift gut ein Stifterbild vorstellen könnte.154 Innerhalb der Kölner Handschriften des 10./11. Jahrhunderts gibt es jedoch nur drei Handschriften mit Stifterbildern: Das Everger-Lektionar, den Hitda-Codex und das Gundold-Evangeliar. Die Doppelseite im Everger-Lektionar (fol. 3v/4r) wird vorher und hinterher durch eine leere Doppelseite flankiert.155 Auf der recto-Seite thronen die Apostelfürsten Petrus und Paulus, von denen Petrus geleitend seine Rechte zu dem in Proskynese auf der verso-Seite liegenden Everger ausstreckt, während Paulus diese zum Segensgestus erhoben hat. Das Stifterbild folgt damit dem Typus des Orantenbildes.156 Ganz anders 153 Ein ähnlicher Befund auch vor den Evangelienvorreden (zwischen fol. 8v und 9r), wo sich möglicherweise ein für die Kölner Buchmalerei typisches Hieronymus-Bild befunden haben könnte. Vgl. den Beitrag von Doris Oltrogge in diesem Band. 154 Wenn dem so gewesen ist, dann wäre auf die Doppelseite aus Inschrift und Stifterbild eine doppelte Leerseite gefolgt, von der ja fol. 211r noch leer ist. So eine leere Doppelseite gibt es in dem gut angelegten und durchgeplanten Gerresheimer Evangeliar sonst nicht. Die Blindzeichnung könnte für eine ehemals geplante Ausgestaltung auch dieser Doppelseite sprechen, deren Inhalt aber unklar bliebe. Jedenfalls gab man die Planung auf und vielleicht damit auch die Ausführung eines Stifterbildes. Das Herausschneiden hätte dann eine beidseitig leere Seite betroffen, wie man sie wegen ihrer guten Verwendbarkeit oft aus Handschriften herausgeschnitten hat. 155 Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 13–25 mit Tafeln 2–7. – Kat. Köln 1991 (wie Anm. 111), Kat. Nr. 1, S. 28 f. (Anton von Euw). – Karolingische und ottonische Kunst, hg. v. Bruno Reudenbach (Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 1), München 2009, Kat. Nr. 85, S. 310 (Thomas Labusiak). 156 Zu Stifterbildern dieser Zeit vgl. Joachim Prochno: Das Schreiber- und Dedikationsbild in der deutschen Buchmalerei. I. Teil bis zum Ende des 11. Jahrhunderts (800–1100), Leipzig 1929. – Klaus Gereon Beuckers: Das ottonische Stifterbild. Bildtypen, Handlungsmotive und Stifterstatus in ottonischen und frühsalischen Stifterdarstellungen, in: Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Johannes Cramer und Michael Imhof, Petersberg 2002, S. 62–102, zum Everger-Lektionar S. 72 f. – Vgl. auch Petra Marx: Im Glanze Gottes und der Heiligen. Stifter-

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eingebunden ist die Kreuzigungsdarstellung im Gundold-Evangeliar, an dessen Kreuzesfuß der überraschend porträthaft gemalte Stifter im priesterlichen Gewand kniet (fol. 9r).157 Auf der gegenüberliegenden Seite endet die Kanonfolge (s. o.), die folgende Doppelseite zeigt links die Titelseite mit vierzehn farbig abwechselnd geschriebenen Textzeilen zur rechts dargestellten Maiestas Domini (fol. 9v/10r). Der Text des Titulus stimmt auch im Zeilenumbruch genau mit dem Mailänder Evangeliar überein (fol. 2r), wo er allerdings durch Rahmung und Purpurhintergrund erheblich ausgezeichneter wird. Stilistisch vergleichbar mit dem Mailänder Codex ist auch die Miniatur, deren Ikonographie das Evangeliar aus Mariengraden und in Bamberg vorprägt, seine Vorlagen über Zwischenstufen der Malerischen Gruppe letztlich aber aus karolingischen Vorbildern der Touroner Schule bzw. der Hofkunst Karls des Kahlen bezogen hat.158 Unter der gerahmten Maiestas Domini steht in griechischen Lettern der Name Gundoldus („ī‫׈‬ȃǻȦȁǻ‫)“&׈‬, was meist als Identifizierung des auf der Vorderseite unter dem Kreuz gezeigten Stifters verstanden wird. Ist das Stifterbild im Everger-Codex weitgehend von der übrigen Handschrift isoliert und auf die Doppelseite konzentriert, so gibt es im Gundold-Evangeliar eine Sukzession, in der nach den Kanontafeln rechts erst die Kreuzigung als Opfergeschehen Christi und damit Vertretung der menschlichen Natur Christi, dann auf der folgenden Doppelseite die Wiederkehr des Erlösers am Jüngsten Tag zwischen den Evangelistensymbolen und den vier Propheten als Vertretung der göttlichen Natur inszeniert wird. Der Stifter, der nicht durch Zufall in geistlichem Ornat wie bei der Verehrung am Karfreitag gezeigt wird, erfährt so durch den Gekreuzigten eine Überleitung zum Weltenrichter. Das innerbildliche Geleitmotiv des Everger-Codex wird so zu einer Sequenz umgedeutet. Für diese Sequenzen gibt es in der Buchmalerei der Zeit etliche Varianten und Beispiele,159 von denen aus dem Kölner Umfeld nur auf das Dedikationsbild des Essener Svanhild-Evangeliars (John Rylands Library Manchester, Ms. lat. 110, fol. 17r/17v) hingewiesen sei, wo Widmungsbild und Maiestas direkt zueinander in Beziehung gesetzt sind.160

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bilder in der mittelalterlichen Goldschmiedekunst, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 91 (2013), S. 107–164. Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 61 f. – Beuckers 2002 (wie Anm. 156), S. 69. Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 88. Vgl. Beuckers 2002 (wie Anm. 156), S. 69–76 auch zu den Vorbildern der Darstellung im Gebetbuch Karls des Kahlen (Schatzkammer der Residenz München, fol. 38v/39r) und vor allem dem Psalter Ludwig des Deutschen (Staatsbibliothek Berlin, Cod. theol. lat. fol. 110r, fol. 120r). – Zu unterscheiden sind diese Sequenzen von den Dedikationsfolgen, wie sie auf der Grundlage der karolingischen Kreuzeslobs-Handschriften vor allem die ottonische Reichenauer Buchmalerei ausgebildet hat. Vgl. dazu Bloch 1962/64 (wie Anm. 67). – Beuckers 2002 (wie Anm. 156), S. 77–82. Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Bildnisse des 10. und 11.  Jahrhunderts als rhetorische Konstruktion memorialer Funktion. Bemerkungen zum Widmungbild des Svanhild-Evangeliars und zu den

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Auch das viel diskutierte Widmungsbild im Hitda-Codex ist in einen solchen Zusammenhang eingebettet. Es befindet sich – in der für den Hitda-Codex typischen Weise der Darstellung auf der recto-Seite mit gegenüberliegendem Textzierfeld auf der verso-Seite, in dem sich ein zugehöriger Text befindet161 – direkt nach den Vorreden zu den Evangelien, die auf fol. 5r mit einer Leerseite enden. Auf der Doppelseite fol. 5v/6r folgen dann auf der Zierseite links die Stifterinschrift „Hvnc librvm / s(an)c(ta)e vvalburg(a)e / Hitda abbatissa / pro se svisq(ue)“ und rechts die ganzseitige Stiftungsminiatur, auf der Hitda in der Tracht einer Sanktimonialen der zentral auf einem Suppedaneum erhöht stehenden Heiligen den Codex überreicht. Das Bildschema entstammt bekanntlich byzantinischen Dedikationsbildern wie der Leo-Bibel (Bibl. Apost. Vaticana, Reg. Gr. I B, fol. 2v). Analog aufgebaut ist die folgende Doppelseite fol. 6v/7r mit dem Titulus „Hoc visibile iamginatum / figurat illud invisibile veru(m) / cuius splendor penetrat mundu(m) / cum bis binis candelabris / ipsius novi sermonis“ und der Maiestas Domini im Kreis der eckständig angeordneten Evangelistensymbole, flankiert von den vier rotae nach Ezechiel (1,5–20), die im Pariser Sakramentar noch ausführlicher als Cherubime gemalt worden waren (fol. 15v).162 Die nächste Doppelseite fol. 7v/8r präsentiert den Titulus „Hoc pictum aquivocat / Iheronimu(m) ex quo huius / corporis alienum nobis / lucet vicium“ und den heiligen Kirchenvater Hieronymus, der sich thronend nach links herunterneigt, als ob er der vorhergehenden Maiestas die Ehre erweisen würde. Danach beginnt die zwölfteilige Folge der Kanontafeln (fol. 8v–14r). Die späte Anordnung von Hieronymus, dessen Vorreden weit entfernt vor die Bilderfolge gestellt sind, ist erklärungsbedürftig,163 letztlich rahmen jedoch Hitda und Hieronymus beide die Maiestas in Bewegungen auf diese zu. Die heilige Walburga wird so zur Vermittlerin des ihr gereichten Codex an Gott, wobei alle drei Inschriften auf den Codex Bezug nehmen: Die Stifterinschrift auf das gestiftete Werk („Hvnc librvm“), die Hieronymusinschrift auf das Evangelium als Textkörper („huius corporis“) und die Maiestas-Inschrift, die Gott als unsichtbare/undarstellbare Wahrheit des Inhaltes charakterisiert. Das Gerresheimer Evangeliar scheint hier viel bescheidener – selbst wenn man der Stifterinschrift ein inzwischen verlorenes Stifterbild gegenübersetzen möchte (s. o.). Will Essener Stifteremails, in: Netzwerke der Memoria [Festschrift für Thomas Schilp], hg. v. Jens Lieven, Michael Schlagheck u. Barbara Welzel, Essen, 2013, S. 85–106, insb. S. 86–90. 161 Zu den Texten vgl. Jacobsen 1991 (wie Anm. 113). – O’Driscoll 2013 (wie Anm. 129). – O’Driscoll 2015 (wie Anm. 129). 162 Vgl. von Euw 1991 (wie Anm. 113), Bd. 1, S. 396 f. – O’Driscoll 2013 (wie Anm. 129), S. 125 f. 163 Auch die Wendung zur Maiestas und entgegen der Leserichtung zum Evangelientext hin ist ungewöhnlich und erklärt sich aus der Inhaltlichkeit dieser Bildfolge. So bezieht sich der Titulus auch nicht – wie üblicher – auf die Vorreden und damit auf die Autorenschaft von Hieronymus, sondern auf dessen Überleitung des göttlichen Lichtes, wie es im Maiestas-Titulus angesprochen wurde, zur Diesseitigkeit. Zur komplexen Bildtheologie dieser Bildfolge vgl. Winterer 2010 (wie Anm. 77), S. 37–41.

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man dies vermuten, so ergeben sich Parallelen zur Konstruktion des Hitda-Codex – allerdings in wesentlich reduzierter, auf Tituli verzichtender Form: Wie Hieronymus in Darmstadt, so ist in Gerresheim der Evangelist Johannes dem Christusbild zugewandt, das hier zwar als Kreuzigungsdarstellung gegeben wird, von der Ikonographie der Maiestas jedoch die Evangelistensymbole entlehnt. Ein Stifterbild würde diese Klammer vervollständigen, wobei jedoch dem kodikologischen Befund nach eine mögliche Stifterdarstellung nicht direkt vor dem Kreuzigungsbild angeordnet war, sondern dazwischen mindestens eine Leerseite, wenn nicht sogar eine leere Doppelseite lag. Eine leere Doppelseite hätte den direkten Zusammenhang zwischen Stiftereintrag und Kreuzigungsseite deutlich aufgerissen, jedoch zeigt beispielsweise das Stuttgarter Evangeliar aus St. Gereon solche leeren Doppelseiten miteinander offenbar ursprünglich verklebt.164 Dadurch wurde ein Durchschlagen der Farben auf die Rückseiten vermieden und zudem mit der größeren Dicke eine bessere Auffindbarkeit dieser Stellen der Evangelienanfänge markieren. Auch das Gundold-Evangeliar weist hinter den Evangelistenbildern doppelte Leerseiten auf,165 weshalb möglichweise auch in Gerresheim eine Verleimung des Blattes mit dem eventuell zu rekonstruierenden Stifterbild und dem Kreuzigungsblatt vorgesehen war, die das Auffinden des Stiftereintrags deutlich erleichtert hätte. Jedenfalls erschließt sich das Konzept der Seitenfolge nicht allein über den Darmstädter Hitda-Codex, der zur Entstehungszeit des Gerresheimer Evangeliars etwa eine Generation alt gewesen sein dürfte. Mindestens genauso aussagekräftig ist das etwa gleichzeitige Bamberger Evangeliar aus der Reichen Gruppe: Der Bamberger Codex besitzt kein Stifterbild, sondern beginnt mit dem Hieronymusbild (fol. 1v) vor den Vorreden, auf die die Maiestas Domini folgt (fol. 9v), die wiederum die Kanontafeln einleitet (fol. 10r–15v). Das ist ein systematischer Aufbau, der für ein Stifterbild keinen Platz reserviert. Sonst enthält der Codex Evangelistenbilder, die – wie der Gerresheimer Codex in etwas prächtigerer Gestalt – nach einer Leerseite auf einer Doppelseite links gegenüber der Incipit-Seite stehen, an die die folgende Doppelseite mit dem Evangelieninitial und den ersten (hier ebenfalls ausgezeichnet gerahmten) Evange164 Hinter Matthäus (fol.  19r) folgt eine heute offene Doppelleerseite fol.  19v/20r, hinter Markus (fol. 67r) zeigte die offene Doppelseite fol. 67v/68r deutliche Leimspuren und Knickspuren beider Seiten, die von der langjährigen Verklebung zeugen. Weiterhin fest verleimt sind – im Original eindeutig zu erkennen  – die Doppelseiten hinter den Evangelisten Lukas (fol.  101r) und Johannes (fol. 156r), weshalb dies bei der Inhaltsangabe zum Codex bei Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 9), S. 94–98 und in der Literatur seitdem keinen Niederschlag findet. 165 Bei Matthäus auf fol. 19v ist das Konzept noch nicht eingeführt. Ihm geht nur eine leere Seite auf fol. 10r voraus. Ab Markus ist das Konzept dann durchgängig in beiden Bänden zu finden: Auf das Evangelistenbild (fol. 73r) folgen auf fol. 73v/74r frei zwei Leerseiten und erst auf fol. 74v das Explicit für das Matthäus-Evangelium. Ähnlich ist dies bei Lukas (fol. 8r) mit der Doppelleerseite fol. 8v/9r und bei Johannes (fol. 71r) mit fol. 71v/72r.

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lienzeilen anschließt. Nur vor dem Johannes-Evangelium ist auf fol. 154v/155r eine Doppelseite eingeschoben, die links Christus zwischen zwei Cherubimen thronend auf einem Weltdiagramm zeigt, in dessen Firmament Sol und Luna und dessen Postament Mare und Terra angeordnet sind. Der Kreiskörper selbst ist in zwei Register unterteilt, in dem oben die den Thronenden adorierenden Engel und Heiligen einbeschrieben sind, während das untere mit der Götzenanbetung links und einer Taufe rechts antithetisch angelegt ist. Ganz anders als diese letztlich der Maiestas Domini verwandte Darstellung links ist auf der recto-Seite das gleichformatige und vergleichbar gerahmte Bild im oberen Drittel als Register mit dem von Engeln verehrten Christuskind im Kindbett links und der Verkündigung an die Hirten rechts gefüllt, während das deutlich größere untere Register links die Verklärung Christi auf dem Berg Tabor zwischen den alttestamentlichen Heroen Moses und Elias enthält, die die rechts unten zu einem Knäuel zusammengeschobenen Jünger erstaunt beobachten. Anton von Euw hat dieser Doppelseite schon 1964 einen ausführlichen Beitrag gewidmet und sie hinsichtlich ihrer Vorlagen sowie ihrer theologischen Aussage diskutiert.166 Er konnte sie – nicht zuletzt auch durch die innerbildlichen Inschriften  – eindeutig als Umsetzung des Johannes-Prologs erweisen: „beides [muss] gleichsam als fortlaufende Illustration zum Prolog des Johannesevangeliums zusammengesehen werden, so wie es die Inschriften besagen: 1. Das Wort, das alles gemacht hat, 2. Das Fleisch gewordene Wort und 3. Das im göttlichen Licht verklärte Wort.“ 167 Das Bamberger Evangeliar belegt mit seiner Doppelseite die Auszeichnung genau des gleichen Ortes wie das Gerresheimer Evangeliar. Auch das Gundold-Evangeliar hatte eine solche, Gerresheim sehr nahestehende Auszeichnung an dieser Stelle geplant, ließ diese jedoch unvollendet (fol. 70v/71r).168 Die Prominenz des Johannesprologes nicht nur in der Weihnachtslesung ist insbesondere für christologische (und eucharistische) Fragen bekannt und wird hier durch die Trias des Schöpfers, des menschgewordenen Gottes und dessen Verklärung auch eindeutig ausgestaltet. In Gerresheim formulierte man diese Ebenen nicht durch die Erweiterung einer Maiestas-Ikonographie und christologische Szenen, sondern komponierte dies in das eine Bild, das in der Kreuzigung den menschgewordenen und für die Erlösung geopferten Christus zeigte, dessen übergeordnete göttliche Natur durch die der Ezechiel-Vision über die Maiestas-Ikonographie entlehnten Evangelistensymbole bildimmanent zusammenband. Hierauf hätte ein Titulus, wie er im Hit166 von Euw 1962/64 (wie Anm. 68). – Vgl. auch von Euw 1991 (wie Anm. 113), S. 379 f. 167 von Euw 1962/64 (wie Anm. 68), S. 1063. 168 Eine Kreuzigung, wie in Gerresheim, dürfte im Gundold-Evangeliar nicht vorgesehen gewesen sein, da diese bereits am Anfang der Handschrift (fol. 9r) eingefügt war. Gleiches gilt für die Maiestas dort (fol. 10r). Möglicherweise sollte in den Rahmen eine Stifterinschrift nachgetragen werden, was die fertige Ausgestaltung des Rahmens erklären könnte, die bei einer bildlichen Darstellung ungewöhnlich wäre. Eine Inschrift an dieser Stelle läge an vergleichbarer Position mit der Stifterinschrift Hiddas im Gerresheimer Evangeliar.

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da-Codex auf fol. 6v für die Maiestas formuliert wurde (s. o.), sehr gut gepasst, zumal der gegenüber angeordnete Evangelist Johannes sowohl als Vertreter des Evangeliums bzw. der Evangelien zu lesen ist, in denen sich diese göttliche Heilswahrheit manifestiert, als auch als Seher, dessen übersinnliche Fähigkeiten insbesondere in der Apokalypse, aber auch im Evangelium selbst in großer Nähe zu der Verklärung Christi als mystische Vision stehen. In diesem Kontext Gottes verortete sich die „pia Hidda“ von Gerresheim und schrieb sich mit ihrem Widmungstext (und möglicherweise einer Stifterminiatur) in den Codex ein, der ihr so die dauerhafte, über ihre Lebenszeit hinausgehende Teilnahme in der Stiftsliturgie sicherte.169 Durch ihre Verortung bezogen auf das die Maiestas an dieser Handschrift vertretende, theologisch erweiterte Kreuzigungsbild, bezieht sie sich – wie Hitda im Hitda-Codex – über den Heiligen auf den undarstellbaren Gott in beiden Naturen selbst und erweist dadurch ihre Frömmigkeit. Ihre Frömmigkeit erweist sie aber auch durch ihr gottgefälliges Stiftungswerk im Codex selbst, das durchaus zu den himmlischen Verdiensten (Meritis sub aethera divo) zählen könnte, die die Inschrift in Bezug auf Hippolytus ausführt. Liest man nur die Anfänge der Zeilen der Inschrift (Ista Dō / Ac Mox / Ac Simul / Meritis) so ahnt man den Anspruch Hiddas, deren Person bis heute nicht erschließbar ist. Doch wer könnte sie gewesen sein? Mit der Frühdatierung des Darmstädter Hitda-Codex in das ausgehende 10. Jahrhundert muss eine personelle Identität zwischen Hidda von Gerresheim und Hitda von Meschede nicht mehr gegeben sein. Der historische Rahmen, den Jens Lieven um Gerresheim im 11. Jahrhundert zieht, liefert am ehesten Argumente für die von Gerhard Weilandt vorgetragene Identifizierung in Ida, der späteren Äbtissin von St. Maria im Kapitol (amt. um 1040–1060).170 Ida war eines der jüngeren Geschwister aus der Ehe von Pfalzgraf Ezzo mit der Kaisertochter Mathilde, der Schwester Ottos III. Die Ehe wurde vor 991 vereinbart, aber wohl erst einige Jahre später geschlossen worden. Aus ihr gingen zehn namentlich bekannte Kinder hervor, Ida dürfte deshalb nach der Jahrtausendwende geboren worden sein.171 In den Quellen greifbar wird sie 1026 an der Seite ihrer älteren Schwester Sophia, mit der sie im Kreis weiterer Frauen 169 Vgl. hierzu allgemein Klaus Lange: Mathildis, Theophanu et aliae. Funktionen von Eigennamen in Stifterinschriften, in: ... wie das Gold den Augen leuchtet. Schätze aus dem Essener Frauenstift, hg. v. Birgitta Falk, Thomas Schilp u. Michael Schlagheck (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 5), Essen 2007, S. 95–110. – Klaus Gereon Beuckers: Schatz und Stiftungen. Allgemeine Bemerkungen zu Stiftungsmotivationen im Früh- und Hochmittelalter, in: Der Gandersheimer Schatz im Vergleich. Zur Rekonstruktion und Präsentation von Kirchenschätzen, hg. v. Hedwig Röckelein (Studien zum Frauenstift Gandersheim und seinen Eigenklöstern, Bd. 4), Regensburg 2013, S. 21–34, insb. S. 27 f. 170 Vgl. den Beitrag von Jens Lieven in diesem Band. – Weilandt 1987 (wie Anm. 109). – Weilandt 2013 (wie Anm. 126). 171 Vgl. zusammenfassend Beuckers 1993 (wie Anm. 116), insb. S. 39 f. u. 43 f. – Beuckers 2014 (wie Anm. 126), auch zum Folgenden.

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dem Damenstift Gandersheim und damit ihrer dort regierenden Tante Äbtissin Sophia zu entkommen suchte. Die Schwestern flüchteten nach Mainz, wo sie in Erzbischof Aribo Unterstützung und im dortigen Frauenkloster Altenmünster Unterschlupf fanden.172 Ihre Flucht nach Mainz ist im Kontext des Gandersheimer Streits überliefert und seither auch erklärt worden, wenn auch Hinweise bestehen, dass hier zwei Familienmitglieder zur Absicherung der Gefolgschaft des rebellierenden Pfalzgrafen durch Kaiser Heinrich II. in die ihm sichere Gandersheimer Obhut übergeben worden sein könnten. Vielleicht waren sie ursprünglich sogar nach Essen, wo Ezzo als Vogt Einfluss besaß, zur Erziehung gegeben worden, von wo sie nach der Übernahme auch des Essener Abbatiates durch Sophia im Jahre 1011 nach Gandersheim aus dem Einflussbereich der Kölner Partei gebracht wurden. Jedenfalls gaben die mit dem Tod Kaiser Heinrichs II. obsolet gewordene Pfandstellung und das erneute Aufflackern der Streitigkeiten um Gandersheim die Gelegenheit, das Harzvorland zu verlassen. Heinrichs Nachfolger Konrad II. hatte dafür aber wenig Verständnis, er war zu dieser Zeit auch aus anderen politischen Gründen an einem Einvernehmen mit Äbtissin Sophia zu stark interessiert. Die Frauen wurden also 1027 in großer Öffentlichkeit per Schiedsspruch auf der Frankfurter Synode nach Gandersheim zurückgeschickt, um wenige Monate später wieder nach Mainz zu gehen, wofür sie exkommuniziert wurden. Nach dem Tod Aribos 1031 schickte dessen Nachfolger Bardo sie erneut zurück und suchte so das Problem loszuwerden. Idas ältere Schwester Sophia war inzwischen verstorben, aber Ida wurde ein paar Jahre später (nach 1038) mit dem Abbatiat des Marienklosters von Gandersheim abgefunden. Belastbare Hinweise für einen Bezug von Ida nach Gerresheim gibt es nicht, und wenn sie in den 1020/30er Jahren als Stifterin für den Codex in Anspruch genommen werden soll, so ist das mit den Geschehnissen rund um den Gandersheimer Streit und die Politik des Herrschaftsausbaus ihrer ezzonischen Familie seit den späteren 1020er Jahren in Einklang zu bringen. Hatte Ida also versucht, vielleicht durch eine Dignitärswürde in Gerresheim einer Rücksendung nach Gandersheim zu entgehen? War das Evangeliar möglicherweise sogar eine Sühnestiftung, mit der man die Exkommunikation abwenden oder lösen wollte? Wer regierte zu dieser Zeit überhaupt in Gerresheim? Die Äbtissinnen aus dieser 172 Zu dieser Spätphase des Gandersheimer Streits vgl. Katrinette Bodarwé: Sanctimoniales litterae. Schrift und Bildung in den ottonischen Frauenkommunitäten Gandersheim, Essen und Quedlinburg (Quellen und Studien. Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen, Bd. 10), Münster 2004, S. 29 f. – Caspar Ehlers: Bad Gandersheim, in: Die deutschen Königspfalzen. Repertorium der Pfalzen, Königshöfe und übrigen Aufenthaltsorte der Könige im deutschen Reich des Mittelalters, Bd. 4: Niedersachsen, Göttingen 2001, S. 247–333, hier S. 255 mit weiterer Literatur. – Beuckers 2014 (wie Anm. 126), S. 267 f. – Vgl. zur Frühphase auch Klaus Gereon Beuckers: Bernward und Willigis. Zu einem Aspekt der bernwardinischen Stiftungen, in: 1000 Jahre St. Michael in Hildesheim. Kirche – Kloster – Stifter, hg. v. Gerhard Lutz u. Angela Weyer (Schriften des Hornemann-Instituts, Bd. 14), Petersberg 2012, S. 142–152, insb, S. 143–145.

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Zeit sind namentlich nämlich nicht überliefert, und ein Rückschluss aus der Personalunion, mit der später Idas Schwester Theophanu ihr Essener Abbatiat (amt. 1039–1058) und auch Gerresheim geführt zu haben scheint, ist nicht unbedingt auf die Jahrzehnte davor zu übertragen. Wenn dies so wäre, dann hätte seit 1011 die Gandersheimer Sophia neben Essen auch in Gerresheim regiert. Eine eigenständige Politik Gerresheims gegenüber der von außen eingesetzten, in Essen nicht besonders aktiv gewordenen Heinrichs-Parteigängerin nach 1024 ist nicht sehr wahrscheinlich.173 Eher denkbar wäre es, dass Sophia die formell nach Gandersheim gehörende Ida mit einer wichtigeren Funktion, vielleicht als Statthalterin, in Gerresheim betraut hätte. Dies könnte zu der Aussöhnung Sophiens mit den Ezzonen in den 1020er Jahren passen, wie sie 1027 in der Regelung des Essener Zehnts erkennbar ist.174 Zu der Zeit waren die Schwestern auch kurzzeitig wieder in Gandersheim, aber ein Evangeliar kann man so kurzfristig nicht schreiben und ausmalen lassen. Als Ida wieder nach Mainz geflohen war, dürfte Sophia ihr kaum ein wichtigeres Amt in Gerresheim angetragen haben. Dies wäre bestenfalls nach ihrer Rückkehr 1031 infrage gekommen. Ging aber die Initiative vielleicht gar nicht von Sophia und einem Gerresheimer Amt, sondern von Ida aus? Hat Ida vielleicht im heimischen Rheinland – ganz im Sinne der durch die systematische Übernahme von Abbatiaten durch ezzonische Schwestern ab den 1020er Jahren betriebenen ezzonischen Machtformierung  – Fuß zu fassen versucht, indem sie einen Prachtcodex an Gerresheim stiftete? Ihre Stellung als einfache Kanonisse (wenn überhaupt mit Gelübde) würde das pia Hidda erklären, hinter dem sich in dieser äußerst standesbewussten Familie kaum der Bescheidenheitsgestus einer Äbtissin verbirgt. Wäre ein solches Evangeliar so etwas wie ein Bewerbungsgeschenk? Gab es das im 11. Jahrhundert überhaupt? Hier ist aus den bekannten Quellen keine Gewissheit, noch nicht einmal ein besserer Hinweis zu gewinnen. Eine Identität Hiddas mit der Ezzonin Ida ist deshalb ein anregendes Gedankenspiel – aber eben nicht mehr. 173 Vgl. zur Personenkonstellation auch Klaus Gereon Beuckers: Kaiserliche Äbtissinnen. Bemerkungen zur familiären Positionierung der ottonischen Äbtissinnen in Quedlinburg, Gandersheim und Essen, in: Frauen bauen Europa. Internationale Verflechtungen des Frauenstifts Essen, hg. v. Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 9), Essen 2011, S. 65–88. 174 Vgl. Essener Urkundenbuch. Regesten der Urkunden des Frauenstifts Essen im Mittelalter, Band 1: Von der Gründung um 850 bis 1350, bearb. v. Thomas Schilp (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 80), Düsseldorf 2010, Nr. 25, S. 16 f. – Zu Sophia vgl. Otto Perst: Die Kaisertochter Sophia, Äbtissin von Gandersheim und Essen (975–1039), in: Braunschweigisches Jahrbuch 38 (1957), S. 5–46. – Gunther Wolf: Prinzessin Sophia (978–1039). Äbtissin von Gandersheim und Essen, Enkelin, Tochter und Schwester von Kaisern, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 61 (1989), S. 105–123. – Bodarwé 2004 (wie Anm. 172), S. 26–30. – Klaus Gereon Beuckers: Der Essener Marsusschrein. Untersuchungen zu einem verlorenen Hauptwerk der ottonischen Goldschmiedekunst (Quellen und Studien. Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen, Bd. 12), Münster 2006, S. 46 f.

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Die fromme Hidda – wer auch immer sie war – ließ jedenfalls in den 1020/30er Jahren mit ihrer Stiftung des Evangeliars dem Damenstift Gerresheim eine Prachthandschrift zukommen, die fortan in den wichtigen Liturgien genutzt wurde und gewissermaßen für das Stift selbst stand. In dieser Rolle hat die Handschrift im Laufe der Jahrhunderte ihre für die Gerresheimer Kommunität identitätsstiftenden Nachträge erhalten, mit denen sich die Schenker, Dignitäre und Angehörigen des Stiftes alle in die Tradition Hiddas einreihten.

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Doris Oltrogge

Maltechnische und kodikologische Befunde zu Herstellung und Gebrauch des Gerresheimer Evangeliars

Das Gerresheimer Evangeliar ist in seinem materiellen Bestand bisher noch nicht umfassend beschrieben worden. Zwar wurden Text und Ausstattungsprogramm im Katalog von Peter Bloch und Hermann Schnitzler erfasst, die kodikologischen Daten beschränken sich jedoch weitgehend auf die Maße und eine summarische Lagenformel.1 Auch in der kleinen Monographie von Hanns Peter Neuheuser ist die kodikologische Beschreibung kaum ausführlicher.2 Im Zusammenhang mit der Restaurierung der Handschrift bot sich 2012/13 die Gelegenheit zu einer umfassenden kodikologischen und erstmals auch kunsttechnologischen Untersuchung.3 Diese erbrachte eine Reihe neuer Erkenntnisse zur Herstellung von Handschrift und Buchmalereien sowie auch zur Geschichte der Nutzung in Mittelalter und früher Neuzeit. Die wichtigsten Befunde sollen im Folgenden vorgestellt werden.

Heftung und Einband Der Buchblock umfasst 274 Blätter mit einem Format von etwa 273 x 200 mm. Der Einband besteht aus zwei wenig überstehenden 12 bzw. 13 mm starken Eichenholzdeckeln mit geradem Zuschnitt.4 Die Heftung erfolgte auf fünf geschlitzte Doppelbünde aus alaungegerbtem Leder, diese sind von hinten durch leicht schräg verlaufende Bundkanäle

1 2 3

4

Peter Bloch, Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, 2 Bde., Düsseldorf 1967/70, Bd. 1, S. 64–68. Hanns Peter Neuheuser: Das Gerresheimer Evangeliar (Rheinische Kleinkunstwerke, Heft 2), Köln 1986, S. 4. Diese Untersuchungen gingen auf die Initiative von Beate Johlen-Budnik zurück. Ich danke der Gemeinde St. Margareta, Gerresheim, für die großzügige Bereitschaft, die Handschrift für die Untersuchungen in das CICS, Institut für Restaurierungs- und Konservierungswissenschaft der Fachhochschule Köln (jetzt Technische Hochschule Köln) auszuleihen. Die naturwissenschaftlichen und maltechnischen Analysen erfolgten in engster Zusammenarbeit mit Robert Fuchs, CICS. Mit der technischen Durchführung der XRD- und RFA-Messungen war Luigi di Stefano, CICS, betraut. Format des Vorderdeckels: 287 x 206 mm, Stärke 12 mm; Format des Rückdeckels: 286 x 206 mm, Stärke 13 mm. Am Rücken wirken die Decken sehr schwach außen abgeschrägt.

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Abb. 1: Gerresheimer Evangeliar: Rücken während der Restaurierung. Erkennbar sind die Doppelbünde und die in die Buchdeckel geführten Bundkanäle. Zwischen den Doppelbünden sind im ersten und vierten Bundfeld sowie darüber und darunter die von innen gestochenen Heftstationen der Erstbindung zu sehen.

auf die Außenseite der Deckel geführt und dort verpflockt.5 Runde Kanäle an Kopf und Fuß der Einbanddeckel waren für die Kapitale vorbereitet, von denen sich sonst keine Spuren erhalten haben. Die Heftstationen für die aktuelle Heftung wurden von außen mit dem Messer in die Lagen eingeschnitten. An vier Stellen sind mittig durch die Lagen gestochene Löcher zu erkennen, die zu einer älteren Heftung gehören und sich dem Fitzbund oben und unten sowie zwei Bünden im oberen und unteren Bundfeld der heutigen Bindung zuordnen lassen (Abb. 1). Da diese ältere Heftung vermutlich mehr als zwei Bünde aufwies, müssen weitere Heftstationen durch die Bünde der aktuellen Heftung abgedeckt sein. Am Kopf sind drei Reihen von ähnlichen Löchern zu erkennen, die Philipp Kochendörfer als Hinweis auf ein ehemals vorhandenes Ohr deutet. Die Löcher dieser ersten, also ottonischen Heftung weisen Gebrauchsspuren auf, sie sind jedoch nicht stark ausgerissen. Während die eingeschnittenen Heftstationen in sämtlichen Lagen identisch sind, fehlen die von innen 5

Die hier vorgestellten Befunde zur Hefttechnik und zum Einband beruhen weitgehend auf den Ergebnissen der heft- und einbandtechnischen Dokumentation, die durch das Atelier für Papierrestaurierung Dirk Ferlmann, Köln, im Zusammenhang mit der Restaurierung der Handschrift vorgenommen wurde. Ich danke Philipp Kochendörfer, dass er mir diese Befunde zur Verfügung gestellt hat, sowie für die ausführliche Diskussion und Überlassung von Dokumentationsfotos. Der Textilbezug wurde von Viola Beier (Restaurierungsatelier Beier  – Freund  – Kühler, Köln) untersucht; ich danke Beate Johlen-Budnik für die Informationen über diese Ergebnisse.

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gestochenen Heftstationen der ursprünglichen Bindung an Vor- und Nachsatz (Lagen I und XXXIX). Vor- und Nachsatz wurden demnach bei der Neubindung zugefügt. Da die Holzdeckel nur Bundkanäle für die heutigen Doppelbünde aufweisen, aber keine für die abweichenden Bünde der Erstbindung, müssen auch die Holzdeckel erneuert worden sein.6 Auf dem Vorderdeckel und dem Rücken sind über einer modernen Textilunterlegung die Reste eines roten Samtbezuges erhalten, der den Abdruck einer rechteckigen Platte mit zwei Medaillons mit Fischblasenornamentik aufweist.7 Der Seidensamt wird wegen seiner Zusammensetzung von Viola Beier „nach dem 15. Jahrhundert datiert“.8 Die beiden Medaillons waren nur mit zwei Nägeln auf dem Vorderdeckel befestigt, auf dem Rückdeckel sind am Vorderschnitt vier Löcher zu erkennen, die eventuell von Nägeln herrühren. Die Stehkanten beider Deckel weisen Nagellöcher auf, es ist auch noch der Rest eines grün korrodierten Nagels, wohl aus Messing, erhalten. Demnach waren die Stehkanten allseitig mit einem Metallbeschlag versehen. Am Vorderschnitt des Vorderdeckels deuten zwei größere Löcher, die nur wenig von anderen Nagellöchern entfernt sind, auf die Existenz von Schließen. Da sich im Samt nur die Medaillons abzeichnen, griffen vermutlich keine Stehkanten auf die Deckelaußenseiten über. Dagegen lässt sich nicht entscheiden, ob es eine ganzflächige Metallplatte gab, die nur an den Kanten befestigt war und später durch den Fischblasendekor ersetzt wurde.9 Die Anbringung dieser querrechteckigen Ornamentplatte auf dem Vorderdeckel ist ungewöhnlich, die geläufigste Anordnung von Beschlägen auf gotischen und frühneuzeitlichen Einbänden folgt dem Quincunx-Schema, häufig mit stark betontem Zentralmotiv. Die gerade zugeschnittenen, wenig überstehenden Eichenholzdeckel und die Art der Verpflockung wären bereits im Hochmittelalter denkbar.10 Ungewöhnlich wären in dieser Zeit allerdings die aufwendigen Pergamentvorsätze, deren Material und Bearbeitung sowie die Hefttechnik, die für eine Datierung frühestens ins 15. Jahrhundert, vermutlich aber eher später sprechen. Der Eintrag der Aufschwörformel auf dem Nachsatz (fol. 271v) setzt

6 Eine dendrochronologische Untersuchung der Deckel war leider bisher nicht möglich. 7 Die Unterlegung mit dem modernen Textil erfolgte vermutlich bei einer Restaurierung in den 1960/70er Jahren; eine Dokumentation hierüber liegt nicht vor. 8 Schriftliche Mitteilung von Viola Beier an Beate Johlen-Budnik vom November 2015. 9 Zur Frage eines möglichen Silbereinbandes vgl. den Beitrag von Beate Johlen-Budnik in diesem Band. Die Wahl von Eichenholz anstelle des bei zeitgenössischen spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen deutschen Einbänden üblicheren Buchenholzes könnte ein Hinweis auf einen schweren, ganzflächigen Metallbeschlag sein. 10 Vgl. zu Technik und Materialität früh- und hochmittelalterlicher Einbände János A. Szirmai: The Archaeology of the Medieval Bookbinding, Aldershot 1999, S. 99–172. An romanischen Einbänden findet sich ein vergleichbarer Deckelzuschnitt dort S. 153, Abb. 8.9, bei Typ A bzw. E, eine vergleichbare Verpflockungsart auf Abb. 8.10 Typ [a].

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einen terminus ante quem von 1585.11 Ob der Samt zu der Neubindung gehört oder erst bei einer Erneuerung des Einbands zugefügt wurde, muss offenbleiben.

Der Buchblock: Der kodikologische Befund Die beiden ungezählten fliegenden Blätter zu Beginn bestehen ebenso wie das Nachsatz (fol.  270–272) und die Spiegel aus beidseitig geschliffenem Kalbspergament. Für das Evangeliar wurde dagegen ausschließlich Schafspergament verwendet (fol. 1–269).12 Die Qualität ist heterogen, aber im Allgemeinen gut; das Pergament weist also relativ wenige Löcher oder Verhornungen auf. Die ersten Lagen mit den Kanontafeln und Vorreden sind sorgfältig beidseitig geschliffen; in den folgenden Textlagen finden sich auch dünnere und eher glatte Pergamente, oft auch mit sichtbarer Follikelstruktur. Für die Bild- und Zierseiten wurde grundsätzlich ein deutlich stärkeres Pergament genutzt, das beidseitig sorgsam bearbeitet wurde, um einen guten Malgrund zu erhalten. Davon abweichend hat das beidseitig geschliffene Schafspergament des Capitulare eine eher mittlere Stärke und weist eine schwach veloursartige Oberfläche auf.13 Die Doppelblätter wurden in der Regel zu Quaternionen zusammengefügt; durch die Verwendung besonders vorbereiteter Pergamente für Bild- und Zierseiten ergaben sich allerdings einige Unregelmäßigkeiten.14 Das erste Quaternio (II, fol. 1–8)15 wird von den Kanontafeln eingenommen (fol. 2v–8r), die mit einem Explicit auf fol. 8v enden. Die ersten drei Seiten der Lage blieben leer, allerdings ist auf fol. 1r mit dem Blindgriffel schwach der Entwurf einer Kanontafel eingeritzt. Es folgt ein unvollständiges Ternio mit den Vorreden Novum opus und Plures fuisse (III, fol. 9–13). Das erste Blatt dieser Lage wurde sehr unregelmäßig am Falz abgeschnitten, vermutlich erst nach der Neubindung. Demnach bildeten Explicit der Kanontafeln und Beginn des Novum opus ursprünglich kein Seitenpaar, sondern waren durch das verlorene Folio 8a getrennt. Natürlich ist es möglich, dass dieses Blatt leer war, doch erscheint es im Vergleich mit anderen Kölner ottonischen Evangeliaren plausibel, auf dem

11 Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Bihrer in diesem Band. 12 Die moderne Foliierung setzt mit dem dritten Blatt ein (fol. 1–272), dem ersten Blatt des ursprünglichen Buchblocks. Das Nachsatz ist im Gegensatz zu den fliegenden Blättern zu Beginn der Handschrift mitgezählt. 13 Wegen der insgesamt sehr heterogenen Blattstärken wurde darauf verzichtet, die Blätter systematisch zu vermessen. 14 Vgl. zur folgenden Beschreibung das Lagenschema im Anhang. 15 Das Vorsatz wird hier als Lage I gezählt, entsprechend die erste Lage des ursprünglichen Buchblocks als Lage II.

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Verso ein Bild des Hieronymus anzunehmen, mit dem die Vorreden eröffnet wurden.16 Die Miniatur könnte einem neuzeitlichen Kunstraub zum Opfer gefallen sein. Das anschließende regelmäßige Ternio enthält Argumentum und Capitula zum Matthäus-Evangelium (IV, fol. 14–19). Ein Unio (V, fol. 20–21) mit dem Bild des Matthäus (fol. 20v)17, einer Incipit- und einer Initialzierseite (fol. 21r/v) steht am Beginn des Matthäus-Evangeliums, dessen Text die folgenden sieben Quaternionen (VI–XII, fol. 22–77) sowie die ersten Seiten der dreizehnten Lage einnimmt (fol. 78r–82v). Die übrigen Seiten dieses Quaternio (XIII, fol. 78–85) sowie das anschließende, unregelmäßige Binio (XIV, fol.  86–88) enthalten Argumentum und Breviar zu Markus (fol.  82v–86v). Letzteres bricht auf fol. 86v unvollständig ab;18 der Schluss sowie die folgenden Capitula 43–46 befanden sich, wie Schriftreste erkennen lassen, auf dem abgeschnittenen Gegenblatt zu fol. 86, dessen Falz heute um fol. 88 umgehängt ist. Das aus stärkerem Pergament gebildete Doppelblatt fol. 87/88 trägt das Markusbild (fol. 87v) sowie Initium- und Initialzierseite zum Markus-Evangelium (fol. 88r/v). Es folgen fünf Quaternionen mit dem Text dieses Evangeliums (XV–XIX, fol. 89r–128v). Ursprünglich kann demnach Lage XIV kein Binio gebildet haben, da dann der Text des Markus-Breviars durch Bild- und Zierseiten unterbrochen gewesen wäre und sein Schluss unvermittelt zwischen Initialzierseite und anschließendem Evangeliumstext gestanden hätte. Vielmehr folgten in der ersten Heftung zwei Unionen unmittelbar aufeinander, das Bifolium fol.  86/88a mit dem Markus-Breviar und das kräftigere Doppelblatt fol. 87/88 mit Miniatur und Zierseiten. Vermutlich hat der spätere Buchbinder diese Anordnung nicht mehr verstanden und aus beiden Doppelblättern ein Binio zusammengefügt; ein Benutzer dürfte das nun störende Blatt fol. 88a aus dem gebundenen Buch recht grob ausgeschnitten haben. Die Texte zum Lukas-Evangelium beginnen ebenso mit einer heterogenen Lage (XX, fol. 129–138); den Kern bildet ein Quaternio, in das ein Doppelblatt mit Bild- und Zierseiten eingefügt wurde (fol. 136/137). Allerdings weist auch die Textverteilung einige Unregelmäßigkeiten auf. Die erste Seite blieb ursprünglich leer, hier wurden nachträglich die Stiftungsurkunde der Theophanu und die Eidesformel der Äbtissin Richardis von Sleiden eingetragen (fol. 129r). Das Verso ist mit viel Freiraum gestaltet zwischen dem zweizeiligen Explicit des Markus-Evangeliums oben auf der Seite und dem Incipit sowie den ersten drei Textzeilen des Lukas-Arguments im unteren Drittel. Die anschließenden drei Bifolia enthalten den restlichen Text des Arguments sowie die Capitula (fol. 130r– 135v). Dahinter ist das Doppelblatt mit Lukasbild (fol. 136v), Incipit- und der Initialzierseite (fol. 137r/v) eingeheftet; der Text des Lukas-Evangeliums beginnt auf dem Gegen16 Zu Hieronymusbildern in der Ausstattung ottonischer Kölner Evangeliare vgl. Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 144–150. 17 Die recto-Seite ist wie bei den Miniaturen des Markus und Lukas leer. 18 Kap. 42 („Aedificationes templi [...]“) endet unten auf fol. 86v „[...] prolixius di[sputans]“.

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blatt des äußeren Bifoliums (fol. 138r/v). Die Gestaltung ist aufwendiger als bei den vorangehenden Evangelien, da der Textanfang auf fol. 138r in goldener, in den ersten fünf Zeilen von fol. 138v in roter Capitalis rustica geschrieben ist. Erst mit Lk 1,5 erfolgt der Übergang zu schwarzer Eisengallustinte und Minuskelschrift. Doch ist diese auf fol. 138v weitaus lockerer und mit größeren Spatien geschrieben als gewöhnlich; auch umfasst die Seite nur 17 statt der üblichen zwanzig Zeilen. Die großzügigere Schrift weist nicht nur auf einen anderen Schreiber, sondern auch auf ein abweichendes Konzept. Fol. 138 bildet ein Bifolium mit dem problematischen fol.  129. Offenbar wurde parallel zur Fertigstellung des Markus-Evangeliums bereits mit der Einleitungslage zum Lukas-Evangelium begonnen.19 Während für Evangelistenbild, Incipit und Initialzierseite wie üblich ein Unio aus stärkerem Pergament vorbereitet wurde, sollte der durch Zierschrift ausgezeichnete Textbeginn auf normalem Schreibpergament stehen. Da der Platzbedarf für den Schluss des Markus-Evangeliums noch nicht feststand, reservierte man hierfür vorsorglich die linke Hälfte des äußeren Doppelblattes der neuen Lage, auf dessen rechter Hälfte der Textbeginn des Lukas-Evangeliums geplant war, und schrieb Argument und Capitula auf die übrigen drei Doppelblätter der Quaternio. Nachdem sich der Puffer für das Markus-Evangelium als überflüssig erwiesen hatte, wurde dessen Explicit auf fol. 129v verlegt, um so die Seite etwas ausgewogener zu füllen und einen Übergang zwischen den verschiedenen Texten zu schaffen; fol. 129r blieb leer. Als Muster diente das Layout des Incipits zum Markus-Argument (fol. 82v). Die Gestaltung von fol. 138r/v ist dagegen keine Notlösung, sondern folgt einem klaren ästhetischen Konzept, bei dem der Ausstattungsaufwand von der Initialzierseite hierarchisch abgestuft zunächst über goldene, dann rote Capitalis rustica zur Minuskel-Tintenschrift führt,20 deren großzügige Anlage im unteren Bereich zur engeren ,normalen‘ Textschrift des Hauptschreibers ab fol. 139r überleitet. Der anschließende Text des Lukas-Evangeliums (fol. 139r–207v) umfasst acht Quaternionen (XXI–XXVIII, fol. 139–202) sowie fünf Blätter eines Ternio (XXIX, fol. 203– 208). In diesem beginnt auf fol.  207v das Johannes-Argument (fol.  207v–209r); der Schluss des Arguments und die Capitula (fol. 209r–210r) wurden auf ein Doppelblatt geschrieben, auf dessen letzter Seite in goldener Capitalis rustica die Widmung der Hidda eingetragen ist (fol. 210v). Die folgende Lage weist wieder auffällige Besonderheiten auf (XXXI, fol. 211–213). Es handelte sich ursprünglich um ein Binio, dessen erstes Blatt vor fol. 211 abgeschnitten wurde. Fol. 211r ist unbeschriftet und unbemalt, allerdings wurde mit dem Blindgriffel 19 Nach den Untersuchungen von Hans-Walter Stork war die Handschrift im Wesentlichen das Werk eines einzigen Schreibers; eine konsequente Aufteilung der Arbeit, z. B. pro Evangelium, auf verschiedene Personen fand also nicht statt. 20 Die Minuskelschrift setzt mit Lk 1,5 ein, dem Beginn der Lesung zur Vigil der Geburt von Johannes Baptist, dazu auch die Ausführungen weiter unten.

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der Entwurf einer Architektur eingeritzt. Sollte dies eine unvollendete Dedikationsminiatur sein, so bleibt merkwürdig, dass das erste Blatt des Unio entfernt wurde, statt dort den Widmungstext anzubringen.21 Zudem spricht die unregelmäßige Schnittkante dafür, dass das fehlende Folio 210a erst im gebundenen Buch ausgeschnitten wurde, ursprünglich also fol. 210 und 211 trennte. Daher lässt sich vermuten, dass fol. 210ar ein vollendetes Widmungsbild aufwies, das möglicherweise einem Diebstahl zum Opfer fiel. Fol. 211v zeigt die Kreuzigung, der auf fol. 212r das Bild des Evangelisten Johannes gegenübergestellt ist. Auf eine Incipit-Seite wurde verzichtet, die nächste Öffnung des Buches präsentiert den Textbeginn des Johannes-Evangeliums mit der Initialzierseite auf der linken und einer pergamentgrundigen Textzierseite auf der rechten Seite (fol. 212v/ 213r). Auf dem Verso wird der Text in roter Capitalis rustica fortgesetzt (fol. 213v), um erst auf fol. 214r zur normalen schwarzen Minuskelschrift zu wechseln.22 Das Johannes-Evangelium umfasst die folgenden fünf Quaternionen (XXXII–XXXVI, fol. 214–253) sowie ein Quinternio (XXXVII, fol. 254–263). Die letzte Seite blieb bei der ursprünglichen Anlage leer, hier wurden im Spätmittelalter zwei Schatzverzeichnisse nachgetragen (fol. 263v). Das Capitulare Evangeliorum füllt ein eigenes Ternio aus Schafspergament, das, wie erwähnt, in der Bearbeitung von dem des Evangeliars abweicht (XXXVIII, fol. 264–269). Vor- und Nachsatz bestehen aus je einem Binio aus Kalbspergament, dessen äußeres Blatt als Spiegel auf den Holzdeckel geklebt ist. Die linke Hälfte des inneren Vorsatzdoppelblattes ist ausgeschnitten, so dass nur zwei fliegende Blätter verbleiben (fol. 1*, 2*); das hintere Binio ist vollständig, mit drei fliegenden Blättern am Schluss (fol. 270r–272v). Auf Vor- und Nachsatz wurden, überwiegend am 30. März 1669, Eidesformeln und ein Credo eingetragen.23 Der Schriftraum des Evangeliars wurde einspaltig zu je zwanzig Zeilen im Format von 166 x 102 mm angelegt. Die Blindliniierung wurde jeweils von der Außenseite der ausgebreiteten Bifolia eingedrückt; Bild- und Zierseiten sind nicht bzw. entsprechend der Verteilung der Auszeichnungsschriften liniiert. Die deutlich dichter und enger beschriebenen Seiten des Capitulares umfassen 39 Zeilen in einer Spalte; die Blindliniierung ist ebenfalls auf den Außenseiten der Bifolia ausgeführt. Die Zeilenzahl der Nachträge schwankt; der Schriftraum auf Vor- und Nachsatz ist durch Tintenlinien begrenzt.

21 Zu einem Planwechsel an dieser Stelle siehe weiter unten. 22 Fol. 214r setzt mit Joh 1,6 ein. 23 Vgl. dazu den Beitrag von Julia von Ditfurth in diesem Band.

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Miniaturen und Zierseiten: Planung und Planungsbrüche des Ausstattungsprogramms Im Buchblock lassen sich also mehrere Problemstellen identifizieren, die auf Brüche in der Planung oder nachträgliche Veränderungen hindeuten: die beiden Blindgriffelzeichnungen auf fol. 1r und 211r, die ‚Notlösung‘ bei der Gestaltung des Übergangs vom Markus-Evangelium zum Lukas-Argument sowie der Verlust zweier möglicherweise bemalter Blätter vor fol. 9 und vor fol. 211. Die wegen der starken Verschmutzung der Seite nur schwer lesbare Zeichnung auf fol. 1r zeigt eine Kanontafel mit vier Säulen, die über Rundbögen einen niedrigen, breit gelagerten Dreiecksgiebel tragen (Farbabb. 3). Das Gebälk besteht aus drei annähernd gleich hohen Leisten, die Sima dagegen aus einem breiten, von zwei schmalen Leisten eingefassten Fries. Eine weitere schmale Leiste gliedert das Tympanon. Ein allseitiger Rahmen definiert den verfügbaren Platz; Paare von horizontalen Hilfslinien markieren die Position von Basis, Kapitell und Bogenansatz. Details des Baudekors sind nicht vorgezeichnet; Kapitelle, Halsringe und Abakusplatten sind nur schematisch durch vertikale Striche innerhalb des Netzes horizontaler Hilfslinien abgegrenzt. Die Architektur entspricht weitgehend den ausgeführten Kanontafeln der Handschrift, weicht jedoch in Details wie der Proportionierung der Architravleisten und des geringfügig höheren Giebels sowie der Untergliederung des Tympanons von diesen ab.24 Auch kann der Entwurf keinesfalls für die heutige Position auf fol. 1r bestimmt gewesen sein. Die erste Kanontafel muss vier Bögen enthalten, eine dreibogige Architektur ist in der Regel frühestens auf der dritten Seite zu erwarten. Zudem ist es in ottonischer Zeit äußerst unüblich, ein Buch auf dem Recto des ersten Blattes zu beginnen, vermutlich auch, weil dieses die Funktion eines Schmutzblattes hatte. Denkbar wäre höchstens, dass das Doppelblatt fol. 1/8 ursprünglich hätte andersherum gefalzt werden sollen, fol. 1r also anstelle von fol. 8r stehen sollte, wo mit dem zehnten Kanon drei Arkaden gefordert sind. Gründe für eine solche Umkehrung sind jedoch nicht klar ersichtlich, es sei denn, dass die von den ausgeführten Kanontafeln abweichende geringere Höhe der mittleren Gebälkleiste als zu niedrig für die Beschriftung erachtet und die Zeichnung daher verworfen wurde. Wegen dieser Proportionsunterschiede und der abweichenden Gestaltung des

24 Eine ähnliche Aufteilung des Tympanons findet sich z. B. im Mailänder Evangeliar; vgl. die Abbildungen in Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 1), Bd. 1, Tafeln 51–55. Dort ist allerdings das Gebälk höher und der seitliche Abschluss der Arkaden abweichend. Besonders vergleichbar sind die Kanontafeln im Evangeliar aus St. Maria ad Gradus; vgl. die Abbildungen in Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 1), Bd. 1, Tafeln 263–266, wo die Giebel rechteckig umrahmt werden. Ob die Umrahmung der Ritzzeichnung farbig ausgeführt werden sollte oder als Hilfskonstruktion dient, kann nicht entschieden werden. Vgl. auch den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in diesem Band.

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Tympanons ist freilich nicht auszuschließen, dass das Blatt ursprünglich für eine andere, gleichzeitig in der Werkstatt hergestellte Handschrift bestimmt war. Dazu könnte auch der merkwürdige Abklatsch einer dreibogigen Architektur auf fol. 2r passen. Deutlich zeichnen sich zwei mittlere grüne Säulen mit blauen Basen sowie die silbernen Architekturelemente, Bögen, Halsringe der Kapitelle und Basiswulste ab. Basen und Säulenschäfte waren bereits vollständig modelliert, die Seite war aber offenbar noch nicht fertig, da weder die Kapitelle noch die seitlichen Säulen Spuren hinterlassen haben. Fol. 1v ist leer, eine ähnliche Farbzusammenstellung auf einer Kanontafel mit drei Arkaden ist in der Handschrift nur auf fol. 7v zu finden. Dort weichen jedoch die Abstände der Säulen und die Höhe der Säulenschäfte um wenige Millimeter von denen des Abklatsches ab; vor allem aber finden sich keinerlei Spuren von Farbverlusten oder Retuschen in der Malschicht. Zudem bilden fol. 2 und 7 ein Doppelblatt; sollte der Abklatsch also von fol. 7v stammen, hätte man das Blatt im noch unfertigen, feuchten Zustand falsch herum zusammenfalten müssen, also eine doppelte Unachtsamkeit des Malers. Es scheint daher plausibler anzunehmen, dass ein feuchtes Blatt aus einem anderen, zeitgleich im Skriptorium illuminierten Evangeliar auf die Blätter des Gerresheimer Evangeliars geriet. Das setzt freilich einen arbeitsteiligen Werkprozess voraus, für den sich weitere Indizien in der Handschrift finden. Die vom Fortschritt der Schreibarbeit unabhängige Planung und Ausführung von Bild- und Zierseiten in einem eigenen, zusammenhängenden Werkprozess ergibt sich aus Konzeptänderungen, die in gleicher Weise alle Evangelistenbilder betreffen. Kanontafeln und Initialen wurden mit einem Blindgriffel unterzeichnet, die Bilddarstellungen zunächst mit einem Metallstift, darüber offensichtlich mit Eisengallustinte.25 Zuerst wurden Rahmen und Architekturen mithilfe von Lineal und Zirkel konstruiert bzw. an einem System von Hilfslinien ausgerichtet. Auffällig ist nun, dass für alle Evangelisten zunächst deutlich schmalere Bildfelder vorgesehen waren, deren mit Metallstift gezeichnete rechte Begrenzung in etwa 9–11 mm Abstand von der gemalten inneren Rahmenleiste erkennbar ist; bei dem auf einem Recto gemalten Bild des Johannes findet sich diese Linie auf der linken Seite. Auf den ersten drei Evangelistenbildern sind zudem in den Ecken mit Metallstift gezeichnete Herzpalmetten zu erkennen, die belegen, dass auch der Dekor dieser etwas nach innen versetzten Rahmenleiste bereits skizziert war (Abb. 2 u. 3, Farbabb. 5–8).26 25 Die Unterzeichnungen wurden mit der Bandpassfilter-Reflektographie (IR-Hamatsu-Röhrenkamera; verschiedene Wellenlängen) untersucht und dokumentiert. Da die Malschichten teilweise viel Bleiweiß enthalten, sind die Unterzeichnungen nur partiell sichtbar zu machen. Einzelne Details der durchschlagenden Unterzeichnung konnten auch mithilfe von Bandpassfilter-Reflektographie und UV-Untersuchungen von der Rückseite sichtbar gemacht werden. 26 Da die Malschichten der ausgeführten Rahmenleisten viel Bleiweiß oder Kupfergrünpigment enthalten und die Ecken der geplanten Rahmen weitgehend überdecken, sind die Unterzeichnungen teil-

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Abb. 2 und 3: Gerresheimer Evangeliar, fol. 136v: Evangelist Lukas, Aufnahme bei 800 nm. Rechts gibt eine vertikale Metallstiftlinie die Begrenzung des ursprünglich schmaler geplanten Bildfeldes an, deutlich erkennbar ist auch das Eckblatt dieses etwas nach innen versetzten ursprünglichen Rahmenentwurfs. Links neben dem Thron ist der skizzenhafte Entwurf eines Schreibpultfußes erkennbar; es gehörte zu der ersten Konzeption der Darstellung. Lukas war weiter nach links verschoben dargestellt, er saß auch höher, der Kontur seines stark gekrümmten Rückens ist hinter und oberhalb des gemalten Rückens erkennbar.

weise nur von der Rückseite gut zu erkennen; von der Bildseite am deutlichsten in der Bandpassfilter-Reflektographie bei Lukas (fol.  136v). Auf dem Verso der Johannes-Miniatur blockiert die Initialzierseite die Untersuchung mittels Bandpassfilter-Reflektographie. Es ist demnach gut möglich, dass auch bei Johannes bereits Eckblätter vorgezeichnet waren.

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Damit entsprach das ursprünglich geplante gestreckt hochrechteckige Format den Proportionen der Zierseiten, deren Schrift- bzw. Initialfeld bei einer Höhe von ca. 137– 141 mm zwischen 79 und 81 mm breit ist.27 Die Bildfelder der ausgeführten Miniaturen weisen dagegen bei gleicher Höhe eine Breite von etwa 90–92 mm auf.28 Deutlich breiter gelagert ist nur das Bildformat der Kreuzigung mit 143 x 110 mm, wohl um ausreichend Platz zu schaffen für das umfangreiche Bildprogramm und zudem der Darstellung ein höheres Gewicht zu verleihen.29 In der Unterzeichnung sind zwar zwei vertikale Begrenzungslinien erkennbar, die links etwa 15 mm und rechts etwa 5 mm vom Innenrand der linken bzw. rechten Rahmenleiste entfernt sind, doch sind beide Linien nicht über die ganze Höhe durchgezogen, sondern setzen erst unterhalb des Kreuzes an. Sie könnten also auch reine Konstruktionshilfen für die Anlage der Komposition sein, wie die auf das ausgeführte Bildformat bezogene vertikale Mittelachse, an der Kreuz und Gekreuzigter ausgerichtet sind (Abb. 4 u. 5).30 Eine erste Planung mit einem schmaleren Format ist also bei der Kreuzigung nicht nachweisbar. In diesem Zusammenhang ist die unvollendete Blindgriffelzeichnung auf der Vorderseite des Blattes von Bedeutung (Farbabb. 4). Hier war offensichtlich eine Miniatur vorgesehen, deren Breite mit Rahmen dem der ausgeführten Kreuzigung auf dem Verso entspricht, die aber oben etwa 4 mm, unten etwa 18 mm höher ist. Eine Bilddarstellung wurde nicht entworfen, wohl aber eine Architektur mit breitgelagertem Giebel, dessen Gebälk die seitlichen Rahmenleisten deutlich überragt. 31 In der Bildmitte sind zwei

27 Davon abweichend nur das mit 71 mm ungewöhnlich schmale Feld des Liber generationis (fol. 21v) und das mit 89 mm deutlich breitere des In principio (fol. 212v), dazu unten. Die Maße der Zierseiten im Einzelnen (Höhe  x  Breite, in Klammern die Maße mit Rahmen): fol.  21r: 141  x  79  mm (173 x 111 mm); fol. 21v: 141 x 72 mm (172 x 109 mm); fol. 88r: 140 x 81 mm (173 x 112 mm); fol.  88v: 142  x  81  mm (172  x  113  mm); fol.  137r: 137  x  79  mm (173  x  113  mm); fol.  137v: 138 x 81 mm (173 x 114 mm); fol. 212v: 139 x 89 (176 x 126 mm). 28 Die Maße der ausgeführten Evangelistenbilder im Einzelnen (Angaben wie oben): fol. 21v (Matthäus): 137 x 90 mm (172 x 122 mm); fol. 87v (Markus): 141 x 92 mm (174 x 123 mm); fol. 136v (Lukas): 138 x 90 mm (172 x 127 mm); fol. 212r: 141 x 91 mm (175 x 120 mm). 29 Mit Rahmen 174 x 141 mm. 30 Derartige Vertikalachsen wurden häufiger in früh- und hochmittelalterlichen Handschriften als Konstruktionshilfen genutzt. Beispiele sind etwa das Reichenauer Perikopenbuch in Wolfenbüttel und das Evangeliar der Ste. Chapelle. Vgl. Robert Fuchs, Doris Oltrogge: Mit Gold und vielerlei Farben. Zur Maltechnik im Reichenauer Perikopenbuch, in: Das Reichenauer Perikopenbuch. Vollständige Faksimile-Ausgabe der Handschrift Cod. Guelf.  84.5 Aug.  2° der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, komm. v. Thomas Labusiak, Graz 2010, S. 67–78, insb. 69. – Im Gerresheimer Evangeliar ist die Mittelachse auf symmetrisch angelegte Kompositionen beschränkt: die Kreuzigung und das In principio (fol. 212v). 31 Die obere vertikale Begrenzung ist dagegen wohl nicht als Rahmenleiste gedacht, sondern als Hilfslinie zur Bestimmung des Giebelscheitels.

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Abb. 4 und 5: Gerresheimer Evangeliar, fol. 211v: Kreuzigung, Aufnahme bei 1000 nm. Erkennbar sind die ursprünglichen vertikalen Begrenzungslinien sowie die Mittelachse und weitere mit dem Lineal gezogene Hilfslinien. Sehr viel freier und suchender ist die Unterzeichnung für Figuren und Inschriftentafel.

Säulenschäfte mit zugehörigen Kapitellen zu erkennen, deren Halsringe und Abakusplatten an je zwei über die gesamte Bildbreite laufenden horizontalen Hilfslinien ausgerichtet sind (Abb. 6). Ähnlich sollten wohl die beiden Paare von parallelen Horizontallinien unten der Positionierung von Plinthe und Wulst der Basen dienen; diese wurden aber offenkundig nicht vorgezeichnet. An den Seiten scheinen Halbsäulenvorlagen an die schmalen Rahmenleisten anzuschließen. Zwischen Kapitellen und Giebel verbleibt ein hohes Feld, Ansätze für Arkaden sind nicht zu entdecken, eventuell ist hier also eine geschlossene Wandfläche zu

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Abb. 6: Gerresheimer Evangeliar, fol. 211r: Entwurfszeichnung mit Blindgriffel; Aufnahme im Streiflicht. Erkennbar sind vor allem die Schäfte und Kapitelle der mittleren beiden Säulen.

denken. Unmittelbare Parallelen zu der geplanten architektonischen Gestaltung des Bildgrundes fehlen, als entfernte Verwandte in der Kölner ottonischen Buchmalerei lassen sich die Matthäus- und Markusdarstellung im Kölner Evangeliar in New York anführen.32 Motivisch ist auch auf die in einigen Kölner Handschriften der Zeit auftretenden Giebelrahmen zu verweisen.33 Eine Bilddarstellung wurde auf fol. 211r nicht entworfen. Die Seite steht heute unmittelbar gegenüber dem Widmungseintrag Hiddas auf fol. 210v, es liegt also nahe, als Gegenüber ein Widmungsbild zu vermuten, das gut vor einem architektonischen Hinter32 Pierpont Morgan Library New York, M  651, fol.  8v und 50v. Vgl. die Abbildungen bei Bloch/ Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 1), Bd. 1, Tafeln 296 u. 298. 33 So z. B. im Majestas- (fol. 12v) und im Lukasbild (fol. 110r) des Evangeliars aus St. Gereon oder in mehreren Miniaturen im Sakramentar aus St. Gereon. Vgl. die Abbildungen bei Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 1), Bd. 1, Tafeln 10 u. 31 bzw. 92, 97, 99, 101, 105 u. 107).

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grund vorstellbar wäre.34 Allerdings fehlt, wie oben ausgeführt, ein Blatt zwischen fol. 210 und 211. Dabei handelt es sich um das erste Blatt des aus stärkerem Pergament gearbeiteten Binio für die Bild- und Zierseiten zu Beginn des Johannes-Evangeliums. Wenn auf fol. 211r das Dedikationsbild Platz finden sollte, hätte es eigentlich nahegelegen, für den Widmungstext das erste Blatt des Binio, fol. 210av, zu verwenden statt ihn auf die letzte Seite des Lukas-Evangeliums zu schreiben. Da kaum anzunehmen ist, dass die eigens für die Bildausstattung ausgewählten Pergamentblätter schadhaft waren, muss es einen anderen Grund für das Fehlen von fol. 210a wie auch die Nichtvollendung des Entwurfes auf fol. 211r geben. Als Hypothese soll hier folgender Arbeitsablauf vorgeschlagen werden: Zunächst war geplant, das vollständige Binio fol. 210a–213 mit einer Folge aus Leerseite (fol.  210ar), Widmungstext (fol.  210av), Widmungsbild (fol.  211r), Kreuzigung (fol.  211v), Johannes (fol.  212r), Initialzierseite (fol.  212v) und zwei Textzierseiten (fol. 213r/v) auszustatten. Hierfür wurden die Bildfelder inklusive Rahmen sowie die Architektur der Dedikationsminiatur konstruiert. Noch vor der Konkretisierung der Bildentwürfe wurde beschlossen, das Widmungsbild auf fol. 210ar zu verlegen, mit der Folge, dass nach Abschluss der Schrift des Lukas-Evangeliums auf dessen letzter Seite der Widmungstext Platz finden musste. Der zunächst für die Dedikationsminiatur vorgesehene Entwurf auf fol. 211r blieb daher unvollendet. Ein Motiv für den Planwechsel könnte die Befürchtung gewesen sein, durchschlagende Farben und Metalle der jeweiligen Rückseiten könnten die Lesbarkeit der Miniaturen zu stark stören, was man freilich bei Johannes mit der rückseitigen Initialzierseite weiterhin in Kauf nahm. Daher ist zu fragen, ob die Neustrukturierung der Bildfolge nicht eher mit Überlegungen zum performativen Gebrauch der Handschrift zusammenhängt. So lässt sich das durch die Verschiebung der Bildfolge entstehende Leerseitenpaar (fol.  210av/211r) als dramaturgische Zäsur verstehen, eine Pause nach dem Schließen der Widmungsdoppelseite, um so die Spannung und Konzentration vor dem Öffnen des Bilddiptychons Kreuzigung/Johannes zu steigern und damit dessen Bedeutung für das Bildprogramm zu unterstreichen.35 Ähnlich, wenngleich beschränkt auf eine einfache Leerseite, bilden die recto-Seiten der ersten drei Evan34 Als Parallele, wenn auch in den Einzelformen deutlich abweichend, sei das Widmungsbild des Hillinus-Codex genannt (Erzbischöfliche Dom- und Diözesanbibliothek Köln, Cod. 12, fol. 16v). 35 Die Möglichkeit eines performativen Charakters von Öffnen und Schließen von Bilddoppelseiten wurde erstmals von Wolfgang Christian Schneider: Geschlossene Bücher – offene Bücher. Das Öffnen von Sinnräumen im Schließen der Codices, in: Historische Zeitschrift 271 (2000), S. 561–592 in die Diskussion eingebracht. Im Gegensatz zu seinen weitreichenden Schlussfolgerungen bezüglich der performativen ‚Erfüllung‘ der Bilderzählung bezieht sich die hier zu Gerresheim vorgestellte Hypothese nur auf den Moment des Ver- und Enthüllens beim Blättern von Bild- und Zierseitensequenzen und die sich daraus ergebenden Schaueffekte, ähnlich dem Aufschlagen von Velen. In welchen Kontexten Miniaturen in früh- und hochmittelalterlichen Evangeliaren aufgeschlagen wurden, bleibt aber weiter offen. Zur Rolle der Velen in diesem Zusammenhang vgl. die Ausführungen weiter unten.

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gelistenbilder eine Zäsur vor der feierlichen Einleitung der Evangelien mit Bild- und Zierseiten.36 Kreuzigung und Widmungsbild bieten nun auch den Schlüssel für die Formatänderungen der Evangelistenbilder. Wie erwähnt, wurde die Kreuzigung sehr wahrscheinlich von vornherein in dem heutigen breiten Bildformat geplant, sicher gilt dies für das verworfene Widmungsbild. Anlass für die deutliche Verbreiterung gegenüber den Miniaturen der Evangelisten war vermutlich der Wunsch, die Kreuzigung um die Evangelistensymbole zu bereichern und damit der Ikonographie einen endzeitlichen Aspekt hinzuzufügen. Mit der Einführung eines neuen Bildformates entstand aber auf der Doppelseite fol. 211v/212r das Problem, dass die Miniatur von Johannes unproportioniert schmal neben der Kreuzigung erschienen wäre. Vermutlich deswegen entschied man sich, das schon entworfene Bildfeld so weit zu verbreitern, dass der Evangelist der Kreuzigung untergeordnet blieb, ohne daneben verloren zu wirken. Allerdings musste nun auch als einzige Zierseite das In principio an die neuen Maße angepasst werden, da es sich auf dem Verso des Johannesbildes befindet. Hätte es das übliche schmale Format der Zierseiten, hätten sich vermutlich bald die Gold-Silberleisten der Rahmen hässlich in der Miniatur abgezeichnet.37 Hinweise darauf, dass hier zunächst ein schmaleres Initialfeld angelegt wurde, fehlen. Vielmehr bezieht sich die als Konstruktionshilfe dienende Mittelachse bereits auf die heutige Breite. Die Planänderung erfolgte demnach, bevor die In principioSeite angelegt wurde. Die Umarbeitungen beschränken sich aber nicht auf diese letzte Bild-Zierseitenlage. Vielmehr wurden, um ein einheitliches Erscheinungsbild der Miniaturenausstattung zu gewährleisten, nun auch die Formate der übrigen Evangelistenbilder analog zu der veränderten Johannesminiatur vergrößert. Dies war möglich, weil offensichtlich noch alle Bild- und Zierseiten unfertig vorlagen. Wie erwähnt, waren zunächst die Rahmen der Bild- und Zierseiten angelegt sowie mindestens die Herzpalmetten in den Ecken skizziert worden. Offensichtlich war zum Zeitpunkt der Planänderung jedoch auch bereits eine für das schmalere Bildformat konzipierte Darstellung der ersten drei Evangelisten entworfen. Besonders deutlich wird dies bei Lukas (fol. 136v), dessen stark von der gemalten Fassung abweichende Unterzeichnung recht gut mittels Bandpassfilter-Reflektographie sichtbar zu machen ist (Abb. 2 u. 3). Am linken Rand sollte demnach ein Pult stehen, von dem zwei steile Füße in der Unterzeichnung gut erkennbar sind. Die beiden etwas nach rechts versetzten Stufen sind 36 Vgl. hierzu den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in diesem Band. Er vermutet eine geplante Verklebung von fol. 210av/211r. Spuren einer ausgeführten Verklebung lassen sich nicht eindeutig nachweisen. 37 Denkbar ist allerdings auch, dass dadurch der Beginn des Johannes-Evangeliums zusätzlich hervorgehoben werden sollte, das innerhalb der Handschrift auch durch die Widmung und die Kreuzigungsminiatur in besonderer Weise ausgezeichnet ist.

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für den Schaft zu breit; ob sie zum Sockel eines Thronsitzes gehören, ist nicht eindeutig zu entscheiden, der Sitz wäre dann deutlich höher positioniert als in der Malerei. Allerdings lässt sich auch aus dem gezeichneten Rückenkontur, der hinter und oberhalb des gemalten Evangelisten erkennbar ist, schließen, dass dieser höher saß, vor allem aber weiter nach links verschoben war. Um nicht am oberen Rand anzustoßen, musste er seinen Rücken stark krümmen, ähnlich wie Markus im Evangeliar aus St. Gereon.38 Ungewöhnlicher ist die Position des Pultes im Rücken. Parallelen hierfür finden sich zwar in den LukasBildern der Evangeliare Harley 2820 und Berlin, Kupferstichkabinett, Cod. 78 A 3, doch liegen in beiden Fällen auf diesen Pulten die zur Lektüre aufgeschlagenen Bücher, während sich der Evangelist dem vor ihm stehenden Schreibpult zuwendet.39 Spuren eines solchen vor Lukas stehenden Pultes sind in der Unterzeichnung in Gerresheim ganz schwach zwischen den Unterschenkeln des Evangelisten und dem Pultschaft der Malerei festzustellen (Abb. 3); es stand demnach nur geringfügig links der ausgeführten Fassung.40 Auch die korrigierte Unterzeichnung für die gemalte Darstellung des Lukas passt noch in das schmale Bildfeld der Erstfassung, nur die Platte des Schreibpultes mit dem Tintenfass ragt in den ersten Rahmen hinein (Farbabb. 5). Durch die Verschiebung nach rechts, die niedrigere, nun aufrechte Sitzposition und den Verzicht auf das hinter dem Evangelisten stehende Pult wird aber nicht nur dem erweiterten Bildformat Rechnung getragen, vielmehr werden Miniatur und gegenüberliegende Incipit-Seite in einen spannungsreichen Dialog gebracht, indem der Blick des Autors über das Buch in seinen Händen auf die mit Gold geschriebene Eröffnung seines Textes fällt. Bei Matthäus und Markus ist die Erstfassung schwieriger zu beurteilen. Bei Matthäus sind in der Bandpassfilter-Reflektographie zwischen Oberschenkel und Buch sehr schwach zwei spitzovale Elemente zu erkennen, die möglicherweise zu einem deutlich dichter an den Evangelisten gerückten Schreibpult gehören; auch ist das Buch kleiner, hätte also den ursprünglichen Rahmen nicht überragt (Farbabb. 6). Bei der Figur des Matthäus lässt sich nur die Unterzeichnung für die ausgeführte Malerei erkennen, Spuren eines abweichenden Entwurfs fehlen. Es ist also möglich, dass hier der erste Entwurf nur minimal verändert wurde, indem das Pult weiter nach rechts in den neu entstandenen Bildraum geschoben wurde. Vielleicht beließ man sogar den Fuß an alter Stelle, dies könnte die merkwürdige Schrägstellung des gemalten Pultes erklären. Ungewöhnlich wäre allenfalls, dass in dieser hypothetischen Erstfassung das Pult extrem nahe hinter dem Bein des Evangelisten gestanden hätte. 38 Vgl. die Abbildung bei Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 1), Bd. 2, Abb. 506. 39 Vgl. die Abbildungen in Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 1), Bd. 2, Abb. 550 u. 554; beide seitenverkehrt zum Gerresheimer Evangeliar. 40 Da die Malschichten in diesem Bereich viel Kupfergrünpigment und Bleiweiß enthalten, ist die Unterzeichnung in der Bandpassfilter-Reflektographie nur partiell sichtbar zu machen.

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Bei Markus fehlen Hinweise auf eine Veränderung des Entwurfes, die erkennbare Unterzeichnung passt fast vollständig zum ausgeführten Bild, einzig das Buch scheint zunächst etwas kleiner angelegt und überragt damit nicht das alte Bildfeld (Farbabb. 7 u. 8). Der erweiterte Bildraum wird nur zur Vergrößerung von Schreibplatte und Buch genutzt, eine Verlagerung der raumgreifenden, das gesamte ursprüngliche Bildfeld füllenden Darstellung des Evangelisten erschien nicht notwendig. Auch bei Johannes fehlen Spuren einer abweichenden ersten Unterzeichnung; das Pult war, soweit sich das anhand der Reflektographie-Aufnahmen beurteilen lässt, von vornherein an der heutigen Stelle geplant, also unmittelbar über dem ursprünglichen Rahmen.41 Das legt den Verdacht nahe, dass bei der Veränderung der Bildgröße nur die ersten drei Evangelisten bereits entworfen waren und bei Johannes die Erweiterung bereits beim Entwurf der Bilddarstellung berücksichtigt werden konnte. Deutlich kleiner als die übrigen Evangelisten richtet Johannes seinen Blick unmittelbar auf den Gekreuzigten. So wird er in dem als Diptychon konzipierten Bildpaar zum Zeugen des Heilsgeschehens, das er als Autor von Evangelium und Apokalypse dokumentiert. Dass auch die sehr gut erkennbare Unterzeichnung der Kreuzigung das heutige Format voraussetzt, bestätigt abermals die Vermutung, dass die Konzeption dieser Miniatur den Anlass für die Überarbeitung der gesamten Bildausstattung lieferte. Vereinzelt scheint es, als sei auch die malerische Ausführung der ersten Evangelistenbilder bei der Planänderung schon begonnen gewesen. So wurde bei Markus das bereits gemalte, in die Schreibpultplatte gesteckte grüne Tintenfass mit einer leicht abweichend orientierten Platte sowie dem geöffneten Buch komplett überdeckt (Farbabb. 8 u. 9). Die Platte verunklärt auch das obere spitzovale Glied des gedrechselten Pultschaftes. Letzteres gilt auch für das Pult des Lukas, wo allerdings das Tintenfass unberührt blieb (Farbabb. 5 u. 10). Nur bei Johannes steckt die Schreibplatte wie geplant auf der Schaftspitze. Dennoch bleiben Zweifel, dass diese Übermalungen durch die Vergrößerung des Bildfeldes bedingt sind. Das Tintenhorn bei Markus hätte den geplanten ersten Rahmen deutlich überlappt; auch scheint der Hintergrund nicht in zwei Phasen gemalt worden zu sein. Zudem sind auch andernorts kleinere Pentimenti zu finden, die nicht mit der Formatänderung zusammenhängen können. So wurde etwa der grüne Mantel des Matthäus zunächst bis zur Hand über den Arm geführt, anschließend aber mit dem Unterarm übermalt (Farbabb. 6 u. 11). Großflächige Übermalungen lassen sich dagegen nicht verifizieren. Demnach wurden sehr wahrscheinlich alle Bild-Zierseitenlagen in einer gemeinsamen Arbeitsphase zunächst entworfen und anschließend ausgeführt. Der gegen Ende des Entwurfsprozesses erfolgte Planwechsel konnte daher noch ohne großen Aufwand auf die 41 Da die Malschichten hier nur bedingt durchlässig sind für die Bandpassfilter-Reflektographie und die Zierseite auf dem Verso eine Untersuchung von hinten unmöglich macht, sind die Unterzeichnungen nur partiell sichtbar zu machen.

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gesamte Bildausstattung übertragen werden. Dieser Befund ist zugleich ein Hinweis auf ein arbeitsteilig organisiertes Skriptorium, in dem Schreib- und Malarbeiten von den jeweiligen Spezialisten parallel ausgeführt wurden.

Materialien, Maltechnik, Kolorit Doch nutzten Schreiber und Maler zumindest teilweise die gleichen Materialien, vor allem eine ähnliche silberhaltige Goldtusche.42 Die Texte wurden mit braunen, braunschwarzen und schwarzen Tinten geschrieben; Auszeichnungen im Evangeliar in Rot und Gold, im Capitulare in Rot. Unabhängig vom Farbton handelt es sich bei den Schreibtinten von Evangeliar, Capitulare und sämtlichen Nachträgen grundsätzlich um Eisengallustinten. Die Zusammensetzung von Eisengallustinten variiert in Abhängigkeit von Rezept und Qualität der natürlichen Rohstoffe.43 Die genaue chemische Konstitution ließ sich zerstörungsfrei nicht analysieren, wohl aber können innerhalb einer Handschrift Typen von Eisengallustinten mithilfe der Bandpassfilter-Reflektographie differenziert werden. Demnach unterscheiden sich die für die Schrift des Evangeliars verwendeten Eisengallustinten signifikant von der Tinte des Capitulares wie auch von jener, mit der die TheophanuUrkunde eingetragen wurde. Diese drei Textteile entstanden also sehr wahrscheinlich unabhängig voneinander, der zeitliche Abstand lässt sich jedoch nicht bestimmen. Unterschiede zwischen Evangeliar und Capitulare Evangeliorum zeigen sich auch bei den Rubra. Zwar ist in beiden Fällen ausschließlich Mennige nachweisbar, doch wurde die rote Tusche im Capitulare Evangeliorum offenbar flüssiger und vielleicht mit einem anderen Bindemittel verschrieben, so dass es zu einer Hofbildung kam.44 Auffällig ist, dass die Goldtusche in Schrift, Initialen und Malerei grundsätzlich mit Silberpulver gemischt ist. Dessen Anteil variiert und entsprechend auch das Erscheinungsbild der goldenen Schriften und Bildelemente, die teils deutlich golden schimmern, teils schmutzig bräunlich-golden wirken (Farbabb. 12 u. 13). Bei höherem Silberanteil ist auch 42 Die in der Handschrift verwendeten Tinten, Farbmittel und Metalle wurden mit verschiedenen zerstörungsfreien Methoden in situ analysiert: Vis-Spektroskopie (Gretag SPM 100; Software Robert Fuchs), Röntgendiffraktometrie (Stoe) und Röntgenfluoreszanalyse (Niton). Die detaillierte Erfassung der Maltechnik erfolgte mithilfe einer Stereolupe (Zeiss); die Dokumentation des Befundes wurde mit dem 3D-Videomikroskop (Keyence) durchgeführt. Zu den Methoden vgl. Robert Fuchs: Archäometrische Untersuchungen von Malereien, in: Praxis der Naturwissenschaften  – Chemie in der Schule 5,59 (2010), S. 20–27. 43 Zur historischen Tintenherstellung vgl. Robert Fuchs: Analyse von Tinten und Tuschen. Eine archäometrische Herausforderung, in: Praxis der Naturwissenschaften – Chemie in der Schule, 5.59 (2010), S. 27–34. 44 Bindemittelanalysen sind zerstörungsfrei nicht möglich und wurden daher nicht durchgeführt.

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die typische Verschwärzung von Silber zu bemerken. Durch die Silberkorrosion dürfte der heutige Farbton oft nicht mehr dem ursprünglichen entsprechen und tendenziell dumpfer geworden sein. Sehr wahrscheinlich sollte mit dem Silberpulver die kostbarere Goldtusche gestreckt werden. Die wechselnden Silbergehalte ergaben sich wohl eher zufällig beim Verreiben der beiden Metallpulver; eine systematische Nutzung von reineren Goldtuschen und solchen mit hohem Silberanteil für verschiedene Aufgaben wie Malerei oder Schrift ist nicht festzustellen. Reine Silbertusche wurde nur vereinzelt verwendet, so in den Arkaden der Kanontafeln oder in den Ranken der Initialen. Sie ist häufig schwärzlich korrodiert und schlägt stark auf die Rückseite durch. Die goldene Schrift wurde zunächst mit Mennige vorgeschrieben; die Goldbuchstaben stehen also auf einer roten Grundierung, die ihnen ein gewisses Volumen und einen leichten rötlichen Schimmer verleiht. Ähnlich weisen auch die Initialen auf den Zierseiten eine Grundschicht aus Mennige auf, nicht aber die Initialen der Vorreden. Auch in den Miniaturen und den goldenen Rahmenleisten der Zierseiten wurde auf eine solche Untermalung verzichtet; Mennige dient hier nur zur Konturierung der goldenen Bildelemente. Die damit intendierten koloristischen Effekte lassen sich wegen der Korrosion der GoldSilbertusche leider nur noch bedingt erleben. Als Technik erfreute sich die MennigeUnterlegung von goldenen Auszeichnungsschriften im 11. Jahrhundert einiger Beliebtheit, wie Beispiele aus Köln, Hildesheim, Regensburg oder Prag bezeugen.45 Die Palette des Gerresheimer Evangeliars ist nicht sehr umfangreich. Wichtigste Farbmittel sind Mennige, Flechtenpurpur, Lapislazuli, Indigo, Kupfergrünpigment, Bleiweiß und Auripigment. Daneben finden sich in Mischungen auch Rotocker, Gelbocker und Grünerde. Ein reines Schwarzpigment fehlt. Damit sind mit Ausnahme der bisher selten nachgewiesenen Grünerde nur die geläufigsten Pigmente und Farbstoffe der ottonischen Buchmalerei vertreten.46 Als Kriterium für eine Werkstattzuordnung ist die Materialauswahl nur bedingt heranzuziehen, da diese im Früh- und Hochmittelalter wohl stärker durch das vom Auftraggeber gewünschte Ausstattungsniveau und die – wohl zumindest teilweise über diesen vermittelte – Verfügbarkeit von Materialien bestimmt war.47 Hier 45 In Köln z. B. in den Evangeliaren aus St. Gereon (Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 7010 312), und aus St. Maria ad Gradus (Dom- und Diözesanbibliothek Köln, Cod. 1001a); zu Beispielen aus anderen Regionen vgl. Doris Oltrogge: Die Technik der Buchmalerei, in: Romanik, hg. v. Andreas Fingernagel (Geschichte der Buchkultur, Bd. 4), 2 Bde., Graz 2007, Bd. 1, S. 309–333, hier S. 318. 46 Vgl. die Zusammenstellung der Farbmittel ottonischer und salischer Handschriften in Doris Oltrogge, Robert Fuchs: Die Maltechnik des Codex Aureus aus Echternach. Ein Meisterwerk im Wandel (Wissenschaftliche Beibände zum Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums, Bd. 27), Nürnberg, 2009, S. 163 f., zu den einzelnen Farbmitteln S. 153–162. 47 Vgl. zur Rolle persönlicher Netzwerke bei der Beschaffung von Farbmitteln im Hochmittelalter Per Norseng: The Trade in Painters’ Materials in Norway in the Middle Ages. Part 1: The ‚Silent‘ Trade

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vertritt das Gerresheimer Evangeliar mit seiner Beschränkung auf Standardfarbmittel und vor allem die Streckung der Goldtusche mit Silberpulver ein eher mittleres Anspruchsniveau innerhalb der Kategorie von Luxushandschriften.

Maltechnik Künstlerische oder werkstatttypische Charakteristika sind dagegen eher in der koloristischen Anwendung der Farbmittel und der Maltechnik zu suchen. Die Malerei wurde, wie erwähnt, mit einer Metallstiftzeichnung vorbereitet, die vielfach erheblich auf die Rückseiten der Miniaturen durchkorrodiert ist, bisweilen auch auf die Oberfläche der Malschicht (Farbabb. 14). Konturen und Binnenzeichnung sind mit knappen Linien sicher umrissen, nur vereinzelt, etwa bei der Tafel für den Kreuztitulus, ist die Zeichnung suchend (Abb. 4). Auf den unbemalten Rückseiten der ersten drei Evangelistenbilder sind vor allem im Inkarnatbereich und in den Bärten diffuse breitere Linien oder Flächen erkennbar. Über dem Metallstift war also vermutlich mit Eisengallustinte eine präzisierende Zeichnung mit partiellen Lavierungen ausgeführt, die durch einen schwachen Tintenfraß auf die Rückseite durchgewandert ist. Die malerische Ausführung folgt, soweit erkennbar, bis auf Varianten des Faltenverlaufs weitgehend den Vorgaben der Unterzeichnung. Deutlich anders in den Proportionen ist aber der massige Kopf von Matthäus, der in der Unterzeichnung sehr viel schmaler angelegt war (Farbabb. 6 u. 15).48 Entgegen der üblichen Praxis wurde nicht mit dem Auftrag der goldenen Bildelemente begonnen, sondern zunächst unter Aussparung der unterzeichneten Darstellung der Hintergrund angelegt. Dieser ist bei der Kreuzigung monochrom matt purpurn sowie mattblau für die Evangelistensymbole. Bei den Evangelistenbildern ist der obere Streifen ein mattes Purpur aus Flechtenpurpur auf Kreidesubstrat, der mittlere ein leuchtendes Blau aus Lapislazuli,49 der untere ein dumpfes Blau aus Indigo, dem zur Aufhellung sehr wenig

in Painters’ Materials in Norway in the High Middle Ages, in: Trade in Artists’ Materials: Markets and Commerce in Europe to 1700, hg. v. Jo Kirby u. a., London 2010, S. 50–63. 48 Bei Markus und Lukas sind die Differenzen weniger deutlich, wenngleich die Lavierung der Bärte auch hier den Eindruck erzeugt, als seien die Köpfe in der Unterzeichnung insgesamt schmaler. Bei Johannes ist die Unterzeichnung des Kopfes nicht sichtbar zu machen. 49 Die Malschicht weist teilweise weißliche Pusteln an der Oberfläche auf; es konnte bisher nicht geklärt werden, ob dies mit der Qualität des aufbereiteten Minerals zusammenhängt. In der Ölmalerei ist ein ähnliches Erscheinungsbild als ,Ultramarinkrankheit‘ bekannt; für die Buch- oder Gouachemalerei ist dieses Phänomen bisher nicht beschrieben worden. Die für die Ölmalerei diskutierten Ursachen können hier nur bedingt zutreffen; zu diesen vgl. Jörg Klaas: Die ‚Ultramarinkrankheit‘. Studien zu Veränderungen in ultramarinhaltigen Farbschichten an Gemälden (Studien aus dem Institut für Baugeschichte, Kunstgeschichte, Restaurierung), Diss. TU München 2011.

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gelbes Auripigment zugemischt ist.50 Erst anschließend wurden die goldenen Nimben gemalt und schwach poliert, danach folgte die Ausführung der farbigen Darstellung. Zum Schluss wurde der Purpurgrund nochmals mit Flechtenfarbstoff überfangen (Farbabb. 19) sowie die goldenen Zierelemente und Rahmenleisten gemalt und mit Mennige konturiert. Die einzelnen Bildelemente sind mit einer kompakten Grundschicht angelegt, darauf ist die dunklere Modellierung dünner aufgetragen, die weißen oder gelben Lichter wieder pastoser. Vor allem die mit Weiß ausgemischten Malschichten sind recht grobkörnig, vereinzelt auch klümprig. Thronsitze und Suppedaneen sind mit einer grellrosa Mischung aus Mennige, wenig Rotocker und Bleiweiß angelegt, mit reiner Mennige abgesetzt und mit Bleiweiß gehöht; die Konturierung erfolgte mit dunkelblauem Indigo. Nur bei Lukas sind zusätzlich violette Nischen mit Flechtenfarbstoff aufgemalt (Farbabb. 16). Sockel und Sitzfläche sind grün, ebenso die Seiten der Suppedaneen; Grün ist auch die dominierende Farbe der Kleidung sowie der Eckblätter in den Rahmen der Evangelistenbilder. Für die Grundschicht wurde Kupfergrünpigment mit Grünerde und Gelbocker gemischt. Durch Alterung hat sich das Kupfergrünpigment teilweise zersetzt, auch sind vereinzelt Verbräunungen durch Reaktion mit Auripigment zu beobachten; ob der Farbton ursprünglich eher olivstichig war – wie heute – oder leuchtender grün lässt sich daher nicht entscheiden. Sicher aber wich die Farbwirkung der grünen Bildelemente insgesamt deutlich vom heutigen Erscheinungsbild ab. Die dunklere Modellierung erfolgte mit Flechtenpurpur sowie mit Indigo, auf den Gewändern teilweise auch mit rötlichbraunem Ocker. Dagegen waren die heute heller bräunlichen ebenso wie die schmutzig-weißlichen Bereiche der Modellierung ursprünglich leuchtend gelb. Sie waren mit Auripigment gemalt, einem Arsensulfid, das dazu neigt, sich zu zersetzen und abzuplatzen oder aber zu bräunlichen Arsensulfiden umzuwandeln. Äußerst selten sind unter dem Mikroskop einzelne strahlend gelbe Pigmentkörner zu finden (Farbabb. 12), an sehr wenigen Stellen ist zumindest in Ansätzen die Wirkung einer gelben Höhung auf Grün noch zu erahnen (Farbabb. 17). Demgegenüber dürften die blauen und violettrosa Gewänder wie auch die rotrosa Rahmenleisten noch weitgehend der ursprünglichen Farbwirkung entsprechen. Die blauen Tuniken sind mit einer Mischung aus Lapislazuli und Bleiweiß angelegt, mit einem Rosa aus Flechtenfarbstoff und Bleiweiß, reinem Flechtenpurpur sowie einer dunkelblauen Mischung aus Indigo und Purpurfarbstoff abgesetzt und mit Bleiweiß gehöht (Farbabb. 16). Ähnlich sind die blauen Gewänder der Kreuzigung modelliert, doch ist hier die Grundschicht kräftiger blau, da kaum Bleiweiß eingemischt wurde (Farbabb. 19).

50 Diese Technik lässt sich vereinzelt auch in anderen Handschriften beobachten, so im Berner Prudentius (Burgerbibliothek Bern, Cod. 264), Reichenau, 3. Drittel des 9. Jahrhunderts.

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Die rosa Gewänder und Rahmenleisten sind mit einer Mischung aus Flechtenfarbstoff und Bleiweiß angelegt, mit helleren Ausmischungen sowie mit dunkelblauem Indigo abgesetzt und mit Bleiweiß gehöht (Farbabb. 20). Nur in den Rahmen der Zierseiten sowie auf den Kanontafeln ist zudem ein grünliches Blau zu finden; die Grundschicht besteht aus grünlichem Indigo, die Modellierung erfolgte mit dunkelblauem Indigo und mit Auripigment (Farbabb.  17). Ausnahmsweise sind auf fol. 7v und 8r die Tympana der Kanontafeln rein gelb mit Auripigment gestaltet. Deutlich komplexer ist der Malschichtaufbau der Inkarnate (Farbabb. 15 u. 21). Die Gesichter sind mit einer kräftig purpurrosa Mischung aus Flechtenfarbstoff und Bleiweiß angelegt. Darauf wurden die Schattenpartien großflächig mit Lapislazuli untermalt und durch lasierende Aufträge von Hellrosa und rötlich abgetöntem Weiß weiter gestaltet. Es folgten pastose Weißhöhungen sowie die abschließende Zeichnung mit schwärzlichblauem Indigo. Der Mund ist mit Mennige gemalt, vereinzelt sind auch an Augen oder Ohren kleine Mennigeakzente gesetzt. Die Extremitäten sind rötlicher gestaltet, mit Mennigelasuren sowie einem weitgehenden Verzicht auf Lapislazuli. Abweichend davon sind die Inkarnate von Christus und Johannes auf der Kreuzigungsminiatur insgesamt deutlich röter, da hier bereits in der Grundschicht etwas Mennige eingemischt ist, das auch das dominante Farbmittel der Modellierung bildet, während Blau ganz fehlt (Farbabb. 14).

Kolorit Als ein Charakteristikum des Gerresheimer Evangeliars, vor allem im Verhältnis zur Malerischen Gruppe der Kölner ottonischen Buchmalerei, hoben Klaus Gereon Beuckers und Christoph Winterer dessen „grünlastige[n] Farbkanon“ hervor.51 Dem wäre nach den maltechnischen Befunden noch die starke Akzentuierung durch leuchtend gelbe Höhungen hinzuzufügen. Bisher fehlt es an systematischen Untersuchungen von Kölner ottonischen Handschriften.52 Aussagen über die Ausbildung werkstattspezifischer Maltechniken in Köln oder über Einflüsse aus anderen Regionen sind daher derzeit nicht möglich. Im Vergleich mit besser untersuchten Skriptorien fällt vor allem die Schattenmodellierung 51 Klaus Gereon Beuckers, Christoph Winterer: Der Hitda-Codex, zum Stand der Diskussion. Eine Einleitung, in: Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs.  1640). Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013, S. 7–32, bes. S. 22. 52 Durch das CICS (Robert Fuchs, Doris Oltrogge) wurden maltechnische Untersuchungen des Evangeliars aus St. Gereon im Historischen Archiv der Stadt Köln durchgeführt sowie Voruntersuchungen der Evangeliare aus St. Maria ad Gradus und in New York; bisher unpubliziert. Auch liegen keine publizierten Analysen weiterer Handschriften vor.

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der Inkarnate mit reinem Blau als Besonderheit auf, die den Gesichtern, unabhängig vom Alter, einen grauen, matten Ausdruck verleiht.53 Auffällig ist zudem der gezielte Einsatz des Kolorits als Mittel der Strukturierung und Rhythmisierung der Handschriftenausstattung. Vor jedem Evangelium wiederholt sich eine analoge Farbenfolge, nahezu identisch bei Matthäus, Markus und Lukas, variiert bei Johannes. Die Miniatur auf der ersten Seite ist jeweils von einem kräftig rosa Rahmen mit grünem Eckblatt eingefasst, ein dumpfes Blaugrün mit hellblauem Eckblatt bestimmt den Rahmen des gegenüberliegenden Recto, während jener auf dem folgenden Verso in changierendem Hellblau-Violett mit gelben Akzenten gestaltet ist. Bei den ersten drei Evangelien kontrastiert der Purpurgrund des Incipit mit der dunklen Einfassung, bei Johannes findet sich hier das Bild des Autors. Dabei folgt das Kolorit des Rahmens dem Rhythmus der recto-Seiten, der dreifarbige Streifengrund dagegen verknüpft die Miniatur mit den übrigen Evangelistenbildern. Ein Gleichklang des Farbenkanons schließt diese eng zusammen, wird jedoch abermals rhythmisiert, indem die Gewandfarben regelmäßig zwischen Grün/Blau und Grün/Purpur wechseln. Der rosapurpurne Rahmen ordnet die Kreuzigung den verso-Seiten der Bilder zu, auch greift die Farbigkeit von Kreuz und Eckfeldern das Kolorit der Streifengründe auf, der dominant monochrome purpurrosa Hintergrund der Darstellung hebt jedoch die Andersartigkeit des heilsgeschichtlichen Bildes gegenüber den Evangelistenbildern hervor und unterstreicht dessen Bedeutung im Ausstattungsprogramm. Entgegen der weitgehend eher abwertenden Beurteilung der künstlerischen Qualität des Gerresheimer Evangeliars verrät somit das durchdachte koloristische Referenzsystem, dass es um weit mehr ging als das gedankenlose Kopieren von Vorlagen, wenngleich die Konzeption weit vom intellektuellen Niveau eines Hitda-Codex entfernt ist.54

53 Dies konnte in anderen ottonischen Skriptorien bisher nicht beobachtet werden. Zu Trierer Handschriften vgl. Doris Oltrogge, Robert Fuchs: Mit Infrarot und Röntgenstrahl. Ergebnisse naturwissenschaftlicher und kunsttechnologischer Untersuchungen des Egbert-Codex, in: Der EgbertCodex, hg. v. Gunter Franz, Luzern 2005, S. 189–217. – Zu Reichenauer Handschriften vgl. Fuchs/ Oltrogge 2010 (wie Anm. 30) sowie Doris Oltrogge, Robert Fuchs: The Dream of Nebukadnezar. Painting Technique of the Ottonian Reichenau Scriptorium, in: Inside Illuminations, hg. v. Lieve Watteeuw [im Druck]. – Zu Echternach vgl. Oltrogge/Fuchs 2009 (wie Anm. 46). – Maltechnische Untersuchungen des Echternacher Perikopenbuches in Brüssel durch Lieve Watteeuw sind bisher nicht publiziert; ich danke Lieve Watteeuw, Leuven, für Informationen über die Handschrift. 54 Zur Forschungsgeschichte des Gerresheimer Evangeliars und seiner Stellung in der Kölner Buchmalerei vgl. den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in diesem Band.

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Spuren des Gebrauchs Evangeliare waren im Mittelalter als Lesetext für die Messe wie auch als Verkörperung Christi in vielfältiger Weise in liturgische Praktiken eingebunden.55 Wie allerdings konkrete Manuskripte individuell genutzt wurden, ist schwieriger zu bestimmen. Dies gilt vor allem für Prachthandschriften, die nicht im täglichen Gottesdienst ‚zerlesen‘ wurden. Der sorgsame, auf wenige Anlässe im Jahr beschränkte Gebrauch hinterlässt selten eindeutige Abnutzungsspuren, aus denen sich ablesen ließe, wann und auf welchen Seiten die Codices geöffnet und wie sie dabei genutzt wurden. So sind Wachsreste, die zu solchen Indizien zählen, im Gerresheimer Evangeliar nicht festzustellen. Wohl aber finden sich einige andere Hinweise auf Nutzungskontexte und -praktiken. Auf das ursprüngliche Gebrauchsumfeld sowie den Anspruch von Stifterin Hidda verweist das Ausstattungsprogramm. Wie erwähnt, belegen Brüche im kodikologischen Befund und der Konzeptwechsel bei der Gestaltung der Miniaturen, dass gerade dem Beginn des Lukas-Evangeliums und der Verbindung von Widmung, Widmungsbild und Kreuzigung mit dem Johannes-Evangelium besonderes Gewicht beigemessen wurde. Die Gründe hierfür sind bisher nicht vollständig geklärt. Hinsichtlich des Lukas-Evangeliums ist zu überlegen, ob die Abstufung der Zierschriften bis zum Beginn von Lk 1,5 als eine feierliche Einführung zu diesem Text zu verstehen ist, der zur Vigil der Geburt von Johannes Baptist gelesen wird. Johannes Baptist war der Patron des Altares im Kanonissenchor,56 woraus sich ein Nutzungskontext ergeben könnte. Die Positionierung von Widmungstext und, wie die kodikologische Untersuchung ergab, vermutlich auch eines Widmungsbildes vor dem Johannes-Evangelium ist ungewöhnlich. Die vielschichtigen Beziehungen, die sich aus dieser Konstellation sowie ihrer Verknüpfung mit der Kreuzigung und deren ikonographischer Erweiterung um Elemente der Majestas, und damit um endzeitliche Aspekte, ergeben, kann an dieser Stelle nicht näher untersucht werden.57 Auf Praktiken des Gebrauchs verweist die oben vorgestellte 55 Vgl. hierzu Felix Heinzer: Die Inszenierung des Evangelienbuches in der Liturgie, in: Codex und Raum, hg. v. Stephan Müller (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, 21), Wiesbaden 2009, S. 43–58. – Thomas Lentes: Textus evangelii. Materialität und Inszenierung des textus in der Liturgie, in: Textus im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, hg. v. Ludolf Kuchenbuch u. Uta Kleine (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 216), Göttingen 2006, S. 133–148. – Ein laufendes Forschungsprojekt der Universität Hamburg (Bruno Reudenbach) widmet sich der liturgischen Lesenutzung frühmittelalterlicher Evangeliare; ich danke Jochen Vennebusch, Hamburg, für diesen Hinweis. 56 Der Altar ist allerdings erstmals im 14. Jahrhundert bezeugt. Vgl. Hugo Weidenhaupt: Das Kanonissenstift Gerresheim, in: Düsseldorfer Jahrbuch. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins 46 (1954), S. 1–120, hier S. 55. – Zur Altardisposition von Gerresheim vgl. den Beitrag von Julia von Ditfurth in diesem Band. 57 Vgl. hierzu den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in diesem Band.

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Konzeptänderung, die zwei Leerseiten zwischen dem rekonstruierten Text-Bild-Diptychon der Dedikation und dem erhaltenen Diptychon aus Kreuzigung und Johannes einfügt und so Bilder und Texte in eine Dramaturgie des Öffnens und Schließens einbindet. Der Akt des Ver- und Enthüllens wurde nochmals gesteigert durch die Anbringung von Velen, die beim Umblättern die Bilder der Doppelseite zunächst noch verdeckten und so einen weiteren Vorgang des Enthüllens erforderten.58 Solche Velen lassen sich im Gerresheimer Evangeliar für alle Bild- und Zierseiten belegen; drei solcher weißer Schleier haben sich noch an Initialen erhalten (fol. 11v, 14r u. 208r). Auch wenn sich die schlichten Textilien nicht exakt datieren lassen, spricht doch einiges für ihre ursprüngliche Zugehörigkeit zur Handschrift.59 Allerdings lässt sich nicht eindeutig klären, ob bei den Bild-Zierseitenpaaren beide Seiten ein Velum aufwiesen. So dienten die oben und unten links angebrachten Nadellöcher auf den mit Miniaturen versehenen verso-Seiten (fol. 20v, 87v, 136v u. 211v) sicher den Vorhängen für diese Bilder, die Nadellöcher auf den Außenseiten des jeweils gegenüberliegenden Blattes beziehen sich dagegen zunächst einmal auf die auf dem Verso befindlichen Zierseiten. Ob an derselben Stelle beidseitig Tüchlein angenäht waren, lässt sich dagegen nicht eindeutig erschließen. Dies hätte jedoch Konsequenzen für einen performativen Gebrauch der Bilder und Zierseiten, da entweder nur die Bilder, beim Beginn des Johannes-Evangeliums nur die Kreuzigung, enthüllt werden mussten, oder das gesamte aufeinander bezogene Bild-Textpaar.60 Daraus erhellt zugleich, dass den Velen eine weitere gebrauchsunabhängige Funktion zukam, der Schutz von Malerei und Initialen. Die erhaltenen Tüchlein finden sich bei den Initialen auf fol. 11v, 14r und 208r; Fadenreste auf fol. 9 und 82 belegen, dass auch zu Beginn des Novum opus (fol. 9r) und des Markus-Arguments (fol. 82v) ein Tüchlein eingenäht war. Bei den Kanontafeln weist nur die erste auf fol. 2v Spuren einer solchen Befestigung auf.61 Die erhaltenen Velen decken jeweils die goldene Initiale und die anschließende goldene Auszeichnungsschrift ab, sie sind nur an einer Stelle links oberhalb der Initiale fixiert, so dass sie nach oben zurückgeschlagen werden konnten; auf fol. 9r waren 58 Zur Rolle von Velen im performativen Gebrauch von Handschriften vgl. Christine Sciacca: Raising the Curtain. On the Use of Textiles in Manuscripts, in: Weaving, Veiling, and Dressing. Textiles and their Metaphors in the Late Middle Ages, hg. v. Kathryn M. Rudy u. Barbara Baert (Medieval Church Studies, Bd. 12), Turnhout 2007, S. 161–190. 59 Vgl. dazu den Beitrag von Annemarie Stauffer in diesem Band. 60 Zu erhaltenen nur auf einer Seite angebrachten Velen bei Bildpaaren in einer Salzburger Handschrift des 11. Jahrhunderts vgl. Regula Schorta: Les rideaux du Lectionnaire G44 de la Pierpont Morgan Library, New York, in: Centre International d’Etude des Textiles Anciens (CIETA) Bulletin  73 (1995/96), S. 54–62. 61 Die Befestigung, von der sich Fadenreste erhalten haben, erfolgte wie bei den Bild- und Zierseiten oben und unten links.

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die Tüchlein rechts neben und auf fol. 208r rechts oberhalb der Schrift befestigt. Performative Praktiken machen an diesen Stellen keinen Sinn, zumal die Texte der Vorreden keine Rolle für die Liturgie spielten. Ganz offensichtlich sollte hier die Handschrift vor Verschmutzung durch die Korrosion der Gold-Silbertusche geschützt werden, also eigentlich eine Maßnahme für das geschlossene Buch, da nur hier die Gefahr des Abklatsches von korrodiertem Silber auf die gegenüberliegende Seite besteht.62 In diesem Zusammenhang zeugen die Velen von der besonderen Wertschätzung der Handschrift, deren Integrität es zu wahren galt, nicht aber von einem konkreten Gebrauch in der Liturgie. Die Bedeutung, die das Evangeliar im Selbstverständnis der Gerresheimer Kommunität einnahm, spiegelt sich vor allem in den späteren Zufügungen. Noch im 11. Jahrhundert wurde auf der frei gebliebenen Seite nach Ende des Markus-Evangeliums eine Stiftung der Äbtissin Theophanu eingetragen (fol. 129r), unter der bezeichnenderweise 1367 der Äbtissinneneid von Richardis von Sleiden für sich und als Muster für ihre Nachfolgerinnen zugefügt wurde. Weitere Eide folgten auf den bei der frühneuzeitlichen Neubindung eingefügten Vor- und Nachsatzblättern. Zuvor waren schon im 13. und 14. Jahrhundert auf dem leer gebliebenen fol. 263v am Schluss des Johannes-Evangeliums zwei Schatzverzeichnisse erstellt worden.63 Im frühen 15. Jahrhundert erfolgte ein ungewöhnlicher Eingriff in den kodikologischen Bestand der Handschrift. Auf mehreren Blättern wurden an aufgeklebten Pergamentstreifen Registerknöpfe befestigt, die aufwendig aus Goldfäden und farbigem Seidenzwirn gefertigt wurden.64 Da die Evangelienlesungen in der Messe täglich wechselten, waren für häufig verwendete Evangeliare fest an einzelnen Blättern fixierte Blattweiser nur bedingt sinnvoll. Hierfür standen Registerschnüre zur Verfügung, die flexibel nach Bedarf bei der Vorbereitung der Messe an der jeweils erforderten Stelle eingelegt wurden.65 Der-

62 Bisher fehlt es an systematischen Beobachtungen zu Befestigungsspuren von Velen in Handschriften, dies gilt für Initialen in noch höherem Maße als für Miniaturen. Vermutlich waren derartige Schutzvelen über Gold- oder Silberinitialen im Mittelalter weiter verbreitet, ein spätmittelalterliches Beispiel findet sich in einem Heiligen-Orationale des späten 15.  Jahrhunderts aus Medingen, Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. in scrin. 206, fol. 64v. Vgl. die Abbildung in Henrike Lähnemann: Medinger Nonnen als Schreiberinnen zwischen Reform und Reformation, in: Rosenkränze und Seelengärten. Bildung und Frömmigkeit in niedersächsischen Frauenklöstern, Ausst. Kat. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, hg. v. Britta-Juliane Kruse (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, Nr. 96), Wolfenbüttel 2013, S. 38–42, hier S. 39, Abb. 8. 63 Vgl. dazu die Beiträge von Jens Lieven, Andreas Bihrer und Julia von Ditfurth in diesem Band. 64 Zu Herstellungstechnik und Datierung vgl. den Beitrag von Annemarie Stauffer in diesem Band. 65 Vgl. hierzu Bertram Lesser: Registerknöpfe und Leserädchen. Lesezeichen aus Klosterbibliotheken in Südniedersachsen, in: Schätze im Himmel, Bücher auf Erden. Mittelalterliche Handschriften aus Hildesheim, Ausst. Kat. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, hg. v. Monika E. Müller (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, Nr. 93), Wolfenbüttel 2010, S. 227–236.

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artige Bändchen sind allerdings weitgehend verloren.66 Die nachträglich fest fixierten Registerknöpfe im Gerresheimer Evangeliar dagegen sind ein seltenes Zeugnis für einen offenbar auf wenige Anlässe und Texte beschränkten Lesegebrauch eines Prachtevangeliars.67 Auch wenn nur vier vollständige Registerknöpfe erhalten sind, lässt sich anhand der Pergamentstreifen, an denen sie befestigt waren, die ursprüngliche Verteilung vollständig rekonstruieren. Demnach waren die Anfänge der vier Evangelien markiert (fol. 22, 89, 138 und 229), interessanterweise nicht die Bild-Incipitseitenpaare, sondern jeweils der Textbeginn. Die Bedeutung der Urkunde der Theophanu und des Äbtissinneneides (fol. 129r) im spätmittelalterlichen Stiftsleben ergibt sich aus der Anbringung eines weiteren Registerknopfes auf dem gegenüberliegenden Blatt (fol. 128). Dieser ist wie der einzig erhaltene vor einem Evangelienanfang (fol. 22) aus roter Seide gefertigt; es kann vermutet werden, dass die Farbigkeit auch eine hierarchische Strukturierung der einzelnen Texte ermöglichte.68 Die beiden anderen erhaltenen Registerknöpfe sind gelb bzw. gelbgrün. Außer den fünf genannten Markierungen sind sieben weitere in den Evangelien verteilt, je zwei bei Matthäus (fol. 39 u. 72), Lukas (fol. 156 u. 176) und Johannes (fol. 229 u. 254), eine bei Markus (fol. 105). Beim Widmungstext der Stifterin Hidda (fol. 210v) fehlt eine solche Kennzeichnung, wenn kein Knöpfchen an dem verlorenen Blatt fol. 210a angebracht war, wäre also die Urheberin der Handschrift aus der Erinnerung der Kommunität herausgefallen. Der Text ist zwar in der Erstanlage durch Initialen strukturiert, es wurden jedoch keine zusätzlichen Markierungen angebracht, anhand derer sich die Perikopenanfänge der spätmittelalterlichen Auswahl eindeutig identifizieren ließen. Es ist aber zu vermuten, dass die Registerknöpfe jeweils an dem Blatt befestigt wurden, auf dem die entsprechende Lesung beginnt. Vergleicht man die Texte auf diesen Seiten mit den Vorgaben des Capitulare sowie dem spätmittelalterlichen Kölner Missale,69 so ergibt sich ein sehr disparates Bild. Auf fol. 39 beginnen zwei Perikopen (fol. 39r: Mt 10,26–32; fol. 39v: Mt 10,34–42), von 66 Der Abdruck eines verlorenen Lesebändchens hat sich im Reichenauer Perikopenbuch in Wolfenbüttel erhalten, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf.  84.5 Aug.  2°. Vgl. Lesser (wie Anm. 65), S. 231 mit Abb. 145. 67 Dass selbst Festtagsevangelistare nicht grundsätzlich an allen Tagen gebraucht wurden, deren Perikopen sie enthalten, belegt das um 900 entstandene Gundis-Evangelistar, in dem ein Nachtrag des 13. Jahrhunderts auf dem Spiegel des Vorderdeckels die Festtage aufzählt, an denen aus dieser Handschrift zu lesen sei (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 54). Zur Handschrift vgl. Anton von Euw: Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts (Monasterium Sancti Galli, Bd. 3), St. Gallen 2008, Bd. 1, S. 422–425, Nr. 107 (ohne Hinweis auf den Nachtrag). 68 Zu Größendifferenzen als Möglichkeit der Strukturierung von Textkorpora durch Registerknöpfe vgl. Lesser (wie Anm. 65), S. 229 f. 69 Zum Vergleich herangezogen wurde das Missale Coloniense, Köln (Hermann Bungart), 27. Oktober 1498 nach dem Exemplar der Freiburger Universitätsbibliothek (letzter Zugriff: 18.01.2016).

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denen erstere an den Festen der heiligen Gordian, Vitus und Laurentius, letztere an jenen der heiligen Cyriacus sowie Felix und Adauctus gelesen wird, beide sind zudem im Commune allgemein für Märtyrer angeführt. Am ersten Montag der Fastenzeit erfolgt die Evangelienlesung aus Mt 25,31–46, deren Anfang auf fol. 72r steht. Die auf fol. 105v beginnende Perikope Mk 8,22–26, sollte dem Gerresheimer Capitulare zufolge am Mittwoch nach der Kreuzerhöhung, also am Quatembermittwoch im September, gelesen werden.70 Das verlorene Knöpfchen auf fol. 156 verwies auf die Kirchweihperikope Lk 6,43– 48, deren Text auf dem Recto des Blattes steht.71 Die auf fol. 176r beginnende Lesung Lk 12,35–40 ist im Capitulare sowohl für das Fest der heiligen Felix, Simplicius, Faustinus, Beatrix als auch für jene der heiligen Agapitus, des Papstes Markus und Martin vorgesehen.72 Auf fol. 229 kommen zwei Perikopen infrage, Joh 6,51–53 (fol. 229r) für die Totenmesse oder Joh 6,56–59 (fol 229v) für Fronleichnam.73 Joh 18,1–19,42 ist die Karfreitagsperikope, deren Anfang auf fol. 153v durch den noch erhaltenen Knopf signalisiert wird. Ein schlüssiges Muster lässt sich aus dieser Auswahl nicht ablesen. Vor allem bestätigt sie nicht die verbreitete Ansicht, Prachtevangeliare seien, wenn überhaupt, für die Lesungen zu den Messen der hohen Feiertage verwendet worden. Zwar sind die Perikopen für Weihnachten (Mt 1,18–2174 und Joh 1,1–14) und die Vigil zur Geburt von Johannes Baptist (Lk 1,5–17) markiert, doch ist nicht sicher, ob die Blattweiser hier nicht vornehmlich den Evangeliumsanfängen galten. So bliebe als einziges Hochfest Fronleichnam. Der spätmittelalterliche liturgische Gebrauch des Gerresheimer Evangeliars als Lektionar erfolgte also offensichtlich in anderen Kontexten. Auffällig ist, dass sich zumindest zwei Perikopen auf die Fastenzeit beziehen, hinzu kommt die Karfreitagsliturgie. Da die Urkunde von Theophanu, welche den Sanctimonialen Zuwendungen für den Kauf zusätzlicher Fastenspeise stiftete, ebenfalls durch einen Registerknopf gekennzeichnet ist, wäre zu überlegen, ob hier ein Zusammenhang besteht. Dann könnte sich der Blattweiser auf fol. 229 statt oder neben Fronleichnam vielleicht auf die Perikope Joh 6,51–53 beziehen, die man zum Anniversarium der Stifterin hätte lesen können. Eindeutig lässt sich der Gebrauch des Evangeliars am Tag der Kirchweihe mit der großen Bedeutung dieses Festes für die Identität des Konventes erklären. Umso mehr fällt auf, dass eine Kennzeichnung

70 Vgl. im Gerresheimer Capitulare, fol. 268r. – Im ottonischen Evangelistar des Kölner Domes steht die Lesung erst am Samstag. Vgl. Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 91, Nr. 196. – Das Missale Coloniense (wie Anm. 69), fol. 92v, führt stattdessen Mk 9,16–28. 71 Vgl. im Gerresheimer Capitulare fol. 269v, im Missale Coloniense (wie Anm. 69), fol. 115r. 72 Fol. 267r, 267v, 268r u. 268v. 73 Fronleichnam ist im ottonischen Capitulare selbstverständlich nicht genannt, im Missale Coloniense von 1498 (wie Anm. 69), fol. 82v, dort fol. 134v die Totenmesse. 74 Der Text beginnt auf fol. 22v.

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der Lectio für das Fest des Stiftspatrons Hippolytus fehlt.75 Dagegen besteht kein erkennbarer Bezug des Gerresheimer Stiftes zu den Heiligen, an deren Festen die Perikopen aus Mt 10 und Lk 12 vorgesehen sind. Auch wenn die Auswahl der Lektionen nicht abschließend geklärt werden kann, verweist der Lesegebrauch des Evangeliars auf dessen bedeutende Rolle für die Identitätsstiftung des Konventes. Dazu gehört auch der Eid der Äbtissin, der, unter die Stiftungsurkunde Theophanus geschrieben, ebenso durch den roten Knopf auffindbar war. Das wirft die Frage auf, ob die Handschrift im Spätmittelalter überhaupt für die Evangeliumslesung während der Messfeier verwendet wurde oder ob sie nicht eher den Sanctimonialen im Kontext religiöser und juristischer Praktiken wie Fasten und Anniversarien oder Wahl und Amtseinführung der Äbtissin als ‚Lektionar‘ diente. Leider geben die beiden bekannten Libri ordinarii aus Gerresheim darüber keine Auskunft, da hier nur die aktive Beteiligung der Kanonissen an der Messliturgie und öffentlichen Prozessionen behandelt wird.76 Zumindest aber ist nirgends, auch nicht in der Karfreitagsliturgie, die Nutzung eines besonderen Evangeliars für die Perikopenlesung genannt.77 Und auch die grüne Farbe des erhaltenen Registerknopfes spricht nicht für ein liturgisch orientiertes Referenzsystem, da hier zum Karfreitag schwarz zu erwarten wäre. Allerdings erlauben die sehr sparsamen Informationen über religiöse Praktiken spätmittelalterlicher Kanonissenstifte außerhalb

75 Die übliche Perikope ist hier Lk 12,1–8 (so auch im Capitulare des Evangeliars, fol. 267v); dieser Text beginnt auf fol. 174r. 76 Der seit 1945 verschollene, fragmentarische Liber ordinarius des 14. Jahrhunderts liegt transkribiert vor: Johann Hubert Kessel: Der selige Gerrich, Stifter der Abteil Gerresheim. Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte des Christenthums im Bergischen Land, Düsseldorf 1877, S. 197–210. – Ein damit nur teilweise übereinstimmender Liber ordinarius des 15. Jahrhunderts hat sich in der Universitätsund Landesbibliothek Düsseldorf unter der Signatur Ms. C 50 erhalten; er ist bisher nicht ediert. Zur Handschrift vgl. http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/ulb/sosa.html (letzter Zugriff: 18.03.2014) – Zur Liturgie in Gerresheim vgl. auch Arnold Dresen: Die Feier der Hochfeste in der Stiftskirche zu Gerresheim, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 115 (1929), S. 205–219. 77 Vgl. Kessel 1877 (wie Anm. 76), S. 200–202. – Im Gegensatz zu Essen wird auch nur ein Kreuz, nicht aber ein Evangeliar in der Grabesliturgie beigesetzt.  – Zur Osterliturgie in Gerresheim vgl. Andreas Odenthal: ‚Non est hic, surrexit‘. Bislang unbeachtete Osterfeiern aus der Kölner Liturgietradition, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 198 (1995), S. 29–52, hier S. 45– 48. – Zum Essener Ritus vgl. Jürgen Bärsch: Die Feier des Osterfestkreises im Stift Essen nach dem Zeugnis des Liber Ordinarius (2. Hälfte 14. Jahrhundert). Ein Beitrag zur Liturgiegeschichte der deutschen Ortskirchen (Quellen. und Studien. Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung im Bistum Essen, Bd. 6), Münster 1997, S. 146–151 sowie Klaus Gereon Beuckers: Liturgische Ensembles in hochmittelalterlichen Kirchenschätzen. Bemerkungen anhand der Essener Ostergrabliturgie und ihrer Schatzstücke, in: „... das Heilige sichtbar machen“. Domschätze in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, hg. v. Ulrike Wendland (Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Arbeitsbericht 9), Regensburg 2010, S. 83–106.

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der Messfeiern oder die Gestaltung von Äbtissinnenwahl und -einsetzung78 auch nicht, die Nutzung von Traditionscodices im Rahmen konventualer Lesungen näher zu fassen. Die auffällige Referenzierung von Textstellen durch Registerknöpfe im Gerresheimer Evangeliar kann jedoch als ein Hinweis auf solche Gebrauchskontexte verstanden werden, die durch weitere Forschungen präzisiert werden müssten. Ob mit der Einfügung der kostbaren textilen Knöpfchen im frühen 15. Jahrhundert auch eine Neugestaltung des Einbandes erfolgte, lässt sich nicht entscheiden. Die einbandtechnischen Besonderheiten und der in Fragmenten erhaltene Samt sprechen eher für ein späteres Datum. Das schließt allerdings nicht aus, dass an dem vorausgehenden Einband Verschönerungen oder Bereicherungen vorgenommen wurden. Sicher aber belegen die Nachträge von 1669 die beständige Nutzung und Pflege der Handschrift als Speicher konventualer Erinnerung.

Fazit Die kodikologischen, material- und maltechnischen Untersuchungen zum Gerresheimer Evangeliar erlauben einige präzisere Aussagen über die Entstehungs- und Gebrauchsgeschichte der Handschrift. Die Texte von Evangelien und Capitulare wurden unabhängig voneinander, aber nicht unbedingt in einem zeitlichen Abstand geschrieben. Bild- und Zierseiten wurden parallel zur Textschrift geplant und in einem arbeitsteilig organisierten Skriptorium ausgeführt, das offensichtlich gleichzeitig mindestens ein weiteres Buchprojekt betrieb. Überarbeitungen der Evangelistenbilder während der Entwurfsphase belegen die Bedeutung der Text-Miniaturenfolge vor dem Johannes-Evangelium für das Programm der Handschrift sowie zugleich das Bemühen um eine einheitliche und zugleich rhythmisierende Wirkung der Gesamtausstattung. Über den heutigen Bestand hinaus lassen sich eine Dedikationsminiatur gegenüber dem Widmungstext sowie möglicherweise eine Hieronymusdarstellung zwischen Kanontafeln und Vorreden rekonstruieren. Gegenüber anderen Prachtevangeliaren der Zeit vertritt die Handschrift in ihrer Materialverwendung ein eher mittleres Ausstattungsniveau. Für eine nähere Einordnung der Maltechnik in das Umfeld der Kölner ottonischen Buchmalerei fehlen derzeit noch ausreichende Untersuchungen weiterer Handschriften. Für die stilistische Beurteilung sollte berücksichtigt werden, dass die ursprüngliche Farbwirkung deutlich stärker von leuchtend 78 Zum Ablauf von Wahl und Amtseinsetzung von Äbtissinnen und Priorinnen in Spätmittelalter und Frühneuzeit vgl. Eva Schlotheuber: Die Wahl der Priorin, in: Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. Festschrift für Berndt Hamm zum 60. Geburtstag, hg. v. Gudrun Litz, Heidrun Munzert u. Roland Liebenberg (Studies in the History of Christian Tradition, Bd. 124), Leiden 2005, S. 145–158 mit weiterer Literatur.

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gelben Akzenten auf Grün und Blaugrün bestimmt war. Wieweit dies auch für andere Kölner Manuskripte gilt oder ob dies zusätzlich die häufig betonte Sonderstellung des Evangeliars unterstreicht, kann nur durch Untersuchungen weiterer Handschriften geklärt werden. Der kontinuierliche, aber offenbar auch Modifikationen unterliegende Gebrauch der Handschrift lässt sich zumindest teilweise aus textlichen wie materiellen Ergänzungen erschließen. Vermutlich zum ursprünglichen Bestand zählen Velen, deren Anbringung sowohl auf performative wie auch auf schützende Funktionen deuten. Während im ottonischen Ausstattungsprogramm die Rolle Hiddas als Stifterin vermutlich auch durch ein Widmungsbild hervorgehoben wurde, wird ihre Bedeutung in der späteren Nutzung im Frauenkonvent offenbar zugunsten Theophanus als langfristige Wohltäterin der Kommunität zurückgedrängt. Die Eintragung von deren Stiftung, von Schatzverzeichnissen sowie von verschiedenen Eiden in Spätmittelalter und Frühneuzeit belegt die Funktion des Evangeliars als identitätsstiftender Traditionscodex. Die ungewöhnliche Einfügung von Registerknöpfen zur Auffindung von Lesetexten verweist zudem auf bisher wenig dokumentierte religiöse und vielleicht auch juristische Praktiken innerhalb des Konventes.

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Lage I

Vorsatz Spiegel 1 2

Lage II Lage III

Quaternio (fol. 1–8) (fol. 8 – 13)

8a

Lage IV Lage V Lagen VI – XIII Lage XIV

9 10 11 12 13

Ternio (fol. 14–19) Unio (fol. 20–21) Quaternionen (fol. 22–85) (fol. 86–88) 86 87 88

86a

Lagen XV – XIX Lage XX

Quaternionen (fol. 89 – 128) (fol. 129–138) 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138

Lagen XXI – XXVIII Lage XXIX Lage XXX Lage XXXI

Quaternionen (fol. 139–202) Ternio (fol. 203–208) Unio (fol. 209–210)

210a 211 212 213

Lagen XXXII – XXXVI Lage XXXVII Lage XXXVIII Lage XXXIX

Quaternionen (fol. 214–253) Quinternio (fol. 254–263) Ternio (fol. 264–269) Nachsatz (fol. 270–272) 270 271 272 Spiegel

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Annemarie Stauffer

Die Velen und Registerknöpfe des Gerresheimer Evangeliars

Illuminierte Handschriften sind für den heutigen Betrachter Kulturzeugnisse, deren Umgang allerhöchste Sorgfalt erfordert. In der Zeit ihrer Entstehung und Verwendung waren es jedoch primär Gebrauchsgegenstände für besondere Anlässe. Spuren des aktiven Gebrauchs sind abgegriffene Ecken, abgeriebene Seitenränder, Verfleckungen und anderes mehr. Um die kostbarsten Bestandteile einer Handschrift, illuminierte Seiten und kunstvoll ausgeführte Initialen, vor Abnutzung zu schützen, hat man bereits in der Schreibwerkstatt Maßnahmen zu deren Schutz ergriffen und diese Partien mit feinen Stoffläppchen abgedeckt. Um bestimmte Stellen einer Handschrift rasch auffinden zu können, wurden bisweilen auch fest mit einer Seite verbundene ‚Buchzeichen‘, sogenannte Register, eingefügt. Beides hat sich in und am Gerresheimer Evangeliar erhalten.

Velen Ein bislang kaum beachteter, aber zahlreich nachweisbarer Bestandteil früh- und hochmittelalterlicher Handschriften sind Reste, bisweilen auch nur Spuren zarter Gewebe, welche die illuminierten Seiten sowie die reich mit Gold und Silber gezierten Initialen und Initialtexte zu deren Schutz abdeckten. Damit diese textilen Einlagen das Volumen des Bandes nicht übermäßig vergrößerten, wurden dafür sehr feine Gewebequalitäten verwendet. Im Idealfall und je nach Verfügbarkeit wählte man Reste von Seiden oder Halbseidengewebe. Bisweilen hatten aber die Skriptorien nicht unbeschränkt Zugang zu Seidengeweben und es musste deshalb auf feinstes Leinen zurückgegriffen werden. Seide und auch feines Leinen wiesen glatte Oberflächen auf, welche die Pigmente und Metallauflagen ideal vor Abrieb schützten. Die feine hauchdünne Qualität der Gewebeabdeckungen trug diesen die Bezeichnung Velen – Schleier – oder auch ‚Vorhänge‘ ein. Mit beiden Begriffen ist die Qualität des Verhüllens und Schützens konnotiert. Die feinen Gewebeabschnitte wurden mit wenigen Nähstichen an der vorgesehenen Stelle fixiert. So blieben sie dort liegen, wo sie zum Schutz der Illuminationen und Initialen vorgesehen waren und ließen sich dennoch beim Lesen problemlos zurückschlagen. Bislang sind solche Vorhänge kaum beachtet und nur selten veröffentlicht worden. Eine große Zahl von Vorhängen aus verschiedenen Geweben wurde in der Theodulph Bibel in Puy-en-Velay aus dem 9. Jahrhundert sichergestellt, dagegen sind die Vorhänge in einem

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Abb. 7: Gerresheimer Evangeliar, fol. 11v: Velum aus Leinen über der mit Silber und Gold gestalteten Initiale P(lures fuisse).

Lektionar der Pierpont Morgan Library in New York alle aus demselben Seidengewebe geschnitten.1 Auch das Gerresheimer Evangeliar ist mit Velen ausgestattet worden. Diese sind heute fast vollständig verloren, lassen sich jedoch bei allen illuminierten Seiten in Form von Einstichlöchern und Nahtresten nachweisen. An drei Stellen sind sie noch erhalten: Das eine Velum auf fol. 11v liegt über der mit Silber und Gold gestalteten Initiale P(lures fuisse) und den drei in goldenen Lettern geschriebenen einleitenden Zeilen. Das zweite Velum schützt die Initiale M(athevs inivdaea) und die darüber stehende Zeile in Goldlettern auf fol. 14r, das dritte den Anfang der Vorrede zum Johannes-Evangelium auf fol. 208r. Das Velum über der Initiale P besteht aus einem feinen gebleichten Leinengewebe (Abb. 7).2 Die Oberflächenbeschaffenheit lässt darauf schließen, dass es sich um kein neuwertiges, sondern um ein gebrauchtes Gewebefragment handelt, welches von einem Stück

1

2

Vgl. Micheline Visieux: Les Tissus de la Bible de Theodulf, in: Centre International d’Etude des Textiles Anciens (CIETA) Bulletin 71 (1993), S. 19–25. – Regula Schorta: Les rideaux du Lectionnaire G44 de la Pierpont Morgan Library, New York, in: Centre International d’Etude des Textiles Anciens (CIETA) Bulletin 73 (1995/96), S. 54–62. Höhe 6,4 cm, Länge 11 cm. Leinwandbindung, Kette und Schuss Leinen, gebleicht, in Z-Richtung gesponnen. Dichte: 28 x 28–28 Fäden auf 1 cm. Die Fäden sind unregelmäßig versponnen, so dass das Gewebebild leicht ‚noppig‘ wirkt.

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Leinen abgeschnitten wurde, das bereits mehrfach gewaschen worden war.3 Die Kanten sind nicht versäubert. Am Rand links ist das Gewebe wenige Millimeter nach hinten umgelegt und oben und unten mit einem weißen Leinenzwirn mit wenigen Stichen festgehalten.4 Vom regen Gebrauch der Handschrift an dieser Stelle zeugen die gelblichen, speckigen Verfleckungen an der rechten unteren Ecke des Schleiers, dort, wo das Gewebe beim Zurückschlagen immer angefasst worden ist. An dieser Stelle ist auch die Buchseite verschmutzt. Der zweite Schleier auf fol. 14r ist aus demselben Leinengewebe geschnitten. Wie jener auf fol. 11v ist er mit zwei Stichen an der linken Seite befestigt.5 Beim Lesen wurde er irgendwann nicht mehr ordentlich zurückgelegt, so dass er heute zu einem zerdrückten Röllchen zusammengeschoben an der linken Seite der Initiale liegt. Von den anderen Velen sind an vielen Stellen noch die Nähfäden erhalten. Deutlich zu sehen etwa bei fol. 9r, 20v und 21r. Bei fol. 9r waren die prachtvollen goldenen Lettern mit einem Velum abgedeckt, das extra fest mit mehreren Stichen befestigt war. Dennoch ist das Gewebe nicht mehr vorhanden. Bei direkt gegenüberliegenden illuminierten Seiten wie beispielsweise fol. 20v und 21r wurde nicht ein gemeinsamer Schleier zwischen den Seiten eingefügt, sondern jede Seite mit einem eigenen Velum ausgestattet.6 Obwohl die Velen aus einfachem ungemusterten Leinen geschnitten sind, erschließen sie weitere Facetten zu Werkstattgepflogenheiten und zum Umgang mit der Handschrift.

Die Registerknöpfe Eine weitere Besonderheit bilden ehemals zwölf textil gearbeitete Textreiter, sogenannte Registerknöpfe, an der Längsseite des Buchschnitts, mit deren Hilfe sich zwölf ausgewählte Textstellen sofort und allenfalls auch nur durch Ertasten auffinden ließen (Farbabb. 1). Die Knöpfe von durchschnittlich 0,9 cm Durchmesser sind durch eine Pergamentlasche fest mit der jeweiligen Seite verbunden.7 Von den ursprünglich zwölf Knöpfen sind nur die beiden obersten und der letzte gut erhalten, Knopf sechs ist stark beschädigt. An den übrigen Stellen sind lediglich Spuren übrig geblieben, die aber immer noch deut3 4 5 6 7

Auch die Velen im Evangelistar G44 rühren von einem gebrauchten Objekt her. Vgl. Schorta 1995/96 (wie Anm. 1), S. 59 f. Leinenzwirn aus zwei Z-gesponnenen, S-gezwirnten Fäden. Höhe 6 cm, Länge 5 cm. Anders im Evangelistar G44 der Pierpont Morgan Library, wo nur ein Vorhang zwischen zwei gegenüberliegende Seiten gelegt wurde. Vgl. Schorta 1995/96 (wie Anm. 1), S. 55. Sie befinden sich an fol. 22, 39, 71, 89, 105, 128, 138, 156, 196, 213, 229 und 254. Zur Auswahl der Textstellen vgl. den Beitrag von Doris Oltrogge in diesem Band.

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lich zu erkennen sind. Von den erhaltenen Knöpfen sind jene an Position eins und sechs rot, jene an Stelle zwei gelbgrün und der letzte grün. Dies lässt darauf schließen, dass kein regelmäßiger Farbwechsel rot-grün bestand. Es ist auch davon auszugehen, dass die heute fehlenden Knöpfe noch weitere Farben aufwiesen. An den beschädigten Stellen lassen sich die einzelnen Arbeitsschritte zur Herstellung der Textreiter ablesen. Dazu wurde ein Pergamentstreifen von etwa 4 cm Länge und 0,4 cm Breite in der Mitte geknickt und unterhalb der Knickstelle mit einer kleinen Kerbe versehen. Hierauf wurde zwischen die beiden Lagen des Pergaments ein Leinenzwirn eingelegt, der zur Bildung eines kunstvoll gewickelten Leinenknotens an dem umgeknickten Ende diente.8 Dieser Leinenknoten wurde mit einem Klebstoff, vermutlich einem Stärkekleister, bestrichen, um die Fäden zusammenzuhalten und dem Kern eine gewisse Festigkeit zu verleihen. Abschließend wurden die Knöpfe mit einem spiralig gelegten Goldfaden umwickelt und dieser mit buntem Seidenzwirn in rund verlaufenden Reihen so umstochen, dass der weiße Leinenkern vollständig verschwand (Farbabb. 2).9 Das so fertiggestellte Register konnte schließlich mit dem gespaltenen Ende des Pergamentstreifens an der ausgewählten Seite festgeklebt werden. Die Knöpfchen sind mit Sicherheit nicht bei Anlage der Handschrift, sondern erst in der Zeit um 1400 entstanden. Als Vergleichsbeispiel bieten sich zwei kleine Beutel an, die zum sogenannten Nachlass Hermann von Gochs, eines bedeutenden Kölner Kaufmanns, zählen und heute im Kölnischen Stadtmuseum aufbewahrt werden. Hermann von Goch wurde 1398 hingerichtet.10 Im Besitz des Museums befinden sich ein Gürtel und eine Anzahl kleiner Gegenstände, die er während der Haft bei sich getragen haben soll. 2009 fand auf Wunsch des Museums an der Technischen Hochschule Köln eine eingehende Prüfung dieser Objekte im Hinblick auf ihre Authentizität statt.11 Im Mittelpunkt standen insbesondere eine Anzahl kleiner Beutel und Börsen. Das Fragment eines Beutels (Inv. Nr. 1888/6) ist aus einem reich gemusterten Seidengewebe genäht und mit einem Knopf in Nadelarbeit aus bunter Seide bekrönt.12 Das Gewebe ist in einer Technik hergestellt, die kurz nach 1400 8 Zwirn aus zwei Z-versponnenen und anschließend in S-Richtung verzwirnten Einzelfäden aus gebleichtem Leinen. 9 Seidenzwirn aus zwei in S–Richtung verzwirnten Fäden aus rot beziehungsweise gelb eingefärbter Maulbeerseide. Goldfaden: Kernfaden aus bräunlicher, in S-Richtung versponnener Seide, in S–Richtung mit einem Metalllahn aus vergoldetem Silber offen (riant) umwickelt. 10 Franz Irsigler: Hermann von Goch, in: Rheinische Lebensbilder 8 (1980), S. 61–80. – Zuletzt die Quellen und Literatur zusammenfassend und präzisierend: Mittelalter in Köln. Eine Auswahl aus den Beständen des Kölnischen Stadtmuseums, hg. v. Werner Schäfke u. Markus Trier, Köln 2010, Kat. Nr. II.1, S. 138–139 (Thomas Höltken, Bettina Mosler). 11 TH Köln, Institut für Konservierungswissenschaft, Studienrichtung Textil und Archäologische Fasern. Die Untersuchungen wurden von Gesa Bernges und der Autorin durchgeführt. 12 Kölnisches Stadtmuseum Inv. Nr. 1888/6. Es handelt sich dabei vermutlich um die Verschlussklappe eines Beutels. Zum Objekt vgl. Schäfke/Trier 2010 (wie Anm. 10), Kat. Nr. II.5.6, S. 154 f. (Werner Schäfke, Gesa Bernges).

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zum ersten Mal auftauchte und sich anschließend im 15. Jahrhundert durchsetzte.13 Das Muster selber spricht für eine frühe Variante dieser Bindung. Für den Beutel kann deshalb eine Entstehung kurz nach 1400 angenommen werden. An dem Beutel wurde ein Schmuckknopf angebracht, der wie die Knöpfe an den Registern des Gerresheimer Evangeliars gearbeitet ist und auch ungefähr den gleichen Durchmesser aufweist. Ein weiterer derartiger Schmuckknopf befindet sich an einer kleinen Börse aus demselben Kontext (Inv. Nr. 1888/3). Die Börse ist nicht aus einem Gewebe, sondern aus einer Stickerei genäht,14 und weist technisch die charakteristischen Merkmale südniederländischer Paramentenstickereien aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf. Deshalb ist auch hier eine Entstehung der Börse und des dazugehörenden Schmuckknopfes nach 1400 wahrscheinlich.15 Schließlich ist die spezielle Art der reihenweise verschlungenen Schlaufen aus buntem Seidengarn auch als Schmuck an einer Börse im Besitz der Kathedrale in Tongeren zu finden. Die Börse ist aus rotem Samt gearbeitet und mit Sicherheit in das 15. Jahrhundert zu datieren.16 Die erwähnten Börsen und Beutel, an denen ähnlich gearbeitete Knöpfe oder Schmuckelemente wie bei den Registern des Gerresheimer Evangeliars zu finden sind, bilden eine geschlossene Gruppe kleiner Täschchen und Behältnisse, wie sie im 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in großer Menge in Köln und den angrenzenden Gebieten zwischen Rhein und Maas hergestellt wurden.17 Die zu ihrer Anfertigung notwendigen Garne aus eingefärbter Seide, Bändchen, Schnüren und Goldfäden zählten zu den Spezialitäten, die in Köln produziert und teils in großen Mengen vor Ort selber verarbeitet, teils als Kölner Kurzwaren in alle Himmelsrichtungen verkauft und gehandelt wurden.18 13 Es handelt sich um eine sogenannte Lampasbindung mit einem atlasbindigen Grund. Zur Entwicklung dieser Bindung vgl. Brigitte Tietzel: Italienische Seidengewebe des 13., 14. und 15. Jahrhunderts (Kataloge des Deutschen Textilmuseums Krefeld, Bd. 1), Köln 1984, S. 50 sowie Kat. Nr. 104 und 107. 14 Kölnisches Stadtmuseum Inv. Nr. 1888/3. Zum Objekt vgl. Schäfke/Trier 2010 (wie Anm. 10), Kat. Nr. II.5.3, S. 148 f. (Werner Schäfke, Gesa Bernges). 15 Gesa Bernges gelang damit der eindeutige Nachweis, dass die Hermann von Goch zugeschriebenen Objekte nicht alle aus seinem Nachlass stammen. 16 Vgl. Tongeren. Basiliek van O.-L.-Vrouw Geboorte. Textiel van de vroege middeleeuwen tot het Concilie van Trente (Clenodia Tungrensis, Bd. 1), Tongeren 1988, S. 215–218. 17 Vgl. zusammenfassend Annemarie Stauffer: Ein textiles Reliquiar aus dem 13. Jahrhundert, in: ... mit Gold und Seide reich verziert. Ein mittelalterliches Reliquiar aus Dortmund-Barop, hg. v. Thomas Schilp u. Annemarie Stauffer (Dortmunder Exkursionen zur Geschichte und Kultur, Bd. 1), Bielefeld 2009, S. 11–30. – Annemarie Stauffer: Untersuchungen zur Herkunft und zeitlichen Einordnung der textilen Reliquien aus dem Cappenberger Barbarossakopf, in: Textile Kostbarkeiten staufischer Herrscher. Werkstätten, Bilder, Funktionen, hg. v. Irmgard Siede u. Annemarie Stauffer (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, Bd. 99), Petersberg 2014, S. 153–155. 18 Vgl. Ernst Scheyer: Die Kölner Bortenweberei des Mittelalters, Augsburg 1932. – J. Helsen: Historische gegevens betreffende verwerving, onderhoud en perdita van de middeleeuwse textielschat, in: Clenodia Tungrensis 1988 (wie Anm. 16), S. 33–38.

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Die Knöpfchen am Gerresheimer Evangeliar gehören in den Kontext dieser in nahezu serieller Produktion entstandenen Accessoires und Klosterarbeiten. Es ist jedoch bemerkenswert, dass ein qualitativ hochstehender Goldfaden verwendet wurde, wie man ihn für ‚Beiwerk‘ dieser Art nicht unbedingt erwarten würde. Die große Nachfrage nach Goldund Silberfäden im späten Mittelalter zur Herstellung von Klosterarbeiten und Reliquienbehältnissen, aber auch für die Fertigung von Borten, Gürteln, Täschchen, Futteralen und ähnlichen Kleinerzeugnissen erforderte Ersatzmaterialien, die anstelle der massiven Metallfäden verwendet werden konnten. Auch hier schuf sich Köln seit dem 14. Jahrhundert durch die Herstellung des sogenannten Kölner Goldes einen Namen und ein einträgliches Produktionsmonopol.19 Für Fäden aus Kölner Gold wurden Darmhäute versilbert, mit einer hauchdünnen Schicht Gold überzogen und in Streifen geschnitten, welche zur Ummantelung eines Seidengarnes dienten. Diese Art von qualitativ schlechten Goldfäden findet sich heute in neunzig Prozent aller Kleinerzeugnisse. Umso auffälliger wurde für die Knöpfe am Gerresheimer Evangeliar ein hochwertiger Goldfaden aus einer dauerhaften, vergoldeten Silberfolie verwendet. Dies ist wohl als Zeichen einer hohen Wertschätzung der Handschrift, ja möglicherweise als Hinweis auf eine Einzelanfertigung zu werten. Wo die Knöpfe entstanden sind, lässt sich nicht festlegen; eine Entstehung in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts scheint dagegen ziemlich wahrscheinlich.

19 Vgl. Scheyer 1932 (wie Anm. 18). – Kölner Bortenweberei des Mittelalters. Corpus Kölner Borten, bearb. v. Maria Bombek u. Gudrun Sporbeck (Corpus Kölner Borten, Bd. 1), Regensburg 2012.

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Zur Paläographie des Gerresheimer Evangeliars

In goldener Capitalis rustica bringen die Widmungsverse auf fol. 210v des Gerresheimer „Evangeliars Nachricht über die Stifterin und den Empfänger der kostbaren Handschrift: „Ista d(e)o vovit / Ac mox pia Hidda patravit / Ac simvl Yppolito / Meritis svp(er) aethera divo.“ „Dies hat die fromme Hidda Gott und zugleich dem Hippolyt, dem aufgrund seiner Verdienste im Jenseits Heiligen, gelobt und alsbald vollbracht.“ 1

Dort, am vorgesehenen Ort der Schenkung, in der ehemaligen Damenstiftskirche und heutigen Pfarrkirche St. Margareta zu Gerresheim bei Düsseldorf, befindet sich das Evangeliar noch heute.2 Auch die zweite mit dem Namen einer Hitda verbundene Handschrift, der Hitda-Codex in Darmstadt, Hess. Universitäts- und Landesbibliothek ULB Cod. 1640, weist auf fol. 5v eine Widmungsinschrift in Minuskel- und Majuskelgoldschrift auf, die durch den purpurnen Untergrund und die Rahmung des Schriftfeldes weitaus prächtiger gestaltet ist als die im Gerresheimer Evangeliar (Abb. 8): 1

2

Übersetzung zit. n. Ulrich Kuder: Der Hitda-Codex im Zusammenhang der Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640). Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013, S. 89–111, hier S. 108. Zur Forschungsgeschichte vgl. den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in diesem Band. – Die Forschungsliteratur zur Handschrift ist überschaubar, hier die wichtigsten Untersuchungen: Heinrich Ehl: Die Ottonische Kölner Buchmalerei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der frühmittelalterlichen Kunst in Westdeutschland (Forschungen zur Kunstgeschichte Westeuropas, Bd. 4), Bonn 1922, insb. S. 151–157 mit der Datierung „etwa für die zwanziger Jahre des 11. Jahrhunderts“ (S. 152). – Peter Bloch, Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule. Bd. 1: Katalog und Tafeln, Düsseldorf 1967; Bd. 2: Textband, Düsseldorf 1970, Bd. 1, S. 64–68, Tafeln 236–259, Farbtafeln XIII und XIV, weitere Literaturhinweise dort Bd. 1, S. 68. – Hatto Küffner: Das ottonische Evangeliar, in: Gerresheim und seine Basilika. Festschrift zum 750jährigen Bestehen der Gerresheimer Stiftskirche, hg. v. Karl Heinz Bott, Düsseldorf 1986, S. 169–178. [Wiederabdruck aus: Gerresheim 870–1970. Beiträge zur Orts- und Kunstgeschichte, hg. v. Hugo Weidenhaupt, Düsseldorf 1970, S. 149–156]. – Hanns Peter Neuheuser: Das Gerresheimer Evangeliar (Rheinische Kleinkunstwerke, Heft 2), Köln 1986 (digitalisiert unter http://www.ceec.uni-koeln.de/projekte/CEEC/texts/Neuheuser1986.htm, letzter Zugriff: 18.01.2016). – Handschriftencensus Rheinland: Erfassung mittelalterlicher Handschriften im rheinischen Landesteil von Nordrhein-Westfalen, 3 Bde., hg. v. Günter Gattermann (Schriften der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, Bd. 18), Wiesbaden 1993, Kat. Nr. 827, S. 482 f.

Zur Paläographie des Gerresheimer Evangeliars | 103

Abb. 8: Hitda-Codex, Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640, fol. 5v: Widmungsinschrift. Köln, spätes 10. Jahrhundert.

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„Hunc librum / Sanctae Walburgae / Hitda abatissa / Pro se suisque.“ „Dieses Buch (schenkt) der heiligen Walburga die Äbtissin Hitda für sich und die Ihren.“

Diese beiden Widmungsseiten mit der jeweiligen Nennung einer Hidda oder Hitda sind seit über einhundert Jahren der Ausgangspunkt für kunsthistorische, aber auch historische Untersuchungen, wie zuletzt bei der Kieler Tagung ‚Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex. Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei‘ am 30.  Juni 2012.3 Rein paläographische, also ausschließlich oder mehrheitlich auf die Schrift bezogene Untersuchungen jener Handschriften, die in ihren Illustrationen die ottonische Kölner Buchmalerei verkörpern, gibt es fast keine.4 Jede Untersuchung einer einzelnen Kölner Handschrift auf ihre Schrift hin ist zwar ein Baustein, aber die Zusammenschau fehlt. Ulrich Kuder, der beim Kieler Kolloquium dem Hitda-Codex im Zusammenhang der Kölner Buchmalerei des 10. und 11. Jahrhunderts nachging,5 hat nicht zuletzt deshalb seinen Beitrag mit den Worten begonnen: „Es gibt keine brauchbare Darstellung der Kölner Schriftentwicklung im 10. und 11. Jahrhundert. Auch fehlt es an gut datierten Schriftbeispielen.“ Gerade aus den Kölner Skriptorien sind an sich sehr zahlreiche Handschriften überliefert. Die trotz aller methodischen Bedenken nützliche Übersicht Sigrid Krämers im ‚Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters‘ zählt für Köln 58 geistliche Gemeinschaften auf, die über Buchbesitz verfügten.6 Deren Bücher reichen aber längst und bei weitem nicht alle bis in das 10. oder 11. Jahrhundert zurück, also den Zeitraum, der für das Gerresheimer Evangeliar interessiert. Raymund Kottje konstatiert in seinem ansonsten in vielen Einzelheiten problematischen Beitrag in der Theophanu-Festschrift einschränkend, dass nur wenige Handschriften im ottonischen Köln geschrieben worden seien und zählt insgesamt 14 auf.7 3 4

5 6 7

Die Beiträge der Tagung gedruckt in Beuckers 2013 (wie Anm. 1). Lediglich für die Anfänge der Kölner Buchproduktion von Erzbischof Hildebald (787/795) bis zum Episkopat von Erzbischof Hermann I. von Köln (amt. 890–923) liegt eine solide paläographische Untersuchung vor: Leslie W[ebber] Jones: The script of Cologne, Cambridge / Mass. 1932 (digitalisiert unter http://www.ceec.uni-koeln.de/projekte/CEEC/texts/Jones32/Jones32-Inhalt.htm, letzter Zugriff: 18.01.2016). Kuder 2013 (wie Anm. 1), S. 89. Sigrid Krämer: Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters, Teil 2: Köln – Zyfflich (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Erg.-Bd. 1,2), München 1989, S. 406–457. Raymund Kottje: Schreibstätten und Bibliotheken in Köln Ende des 10. Jahrhunderts, in: Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todestag der Kaiserin, hg. v. Anton von Euw u. Peter Schreiner, 2 Bde., Köln 1991, Bd. 1, S. 153–163, hier S. 163, Anm. 46. Genannt werden Köln, Dombibliothek Cod. 5, 53, 97, 100, 101, 143, 185, 189 (?), 193, 194 (?), 198 und 204, dazu Cam-

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Zum einen stellt sich also bei der Bearbeitung der Kölner Schreibtätigkeit in dem einen Jahrhundert von 970 bis 1070 – vom Gero-Codex bis zum Evangeliar in London – das Problem der mangelnden Überlieferungsdichte, zum anderen ist das Fehlen von Handschriften mit eindeutig vermerktem Entstehungsdatum oder wenigstens Vermerken, die die Entstehungszeit deutlich eingrenzen, ein weiteres Problem.

Der paläographische Befund des Gerresheimer Evangeliars Das Evangeliar besteht bis heute in seiner ursprünglichen kodikologischen Einheit von 272  Blättern aus Pergament, im Format 27,5  x  20,5  cm8 bzw. 27,2  x  20,4  cm9 und einem Schriftspiegel von 17 x 11,2 cm. Zum Textbestand des Evangeliars kommen spätere Nachträge hinzu.10 Von den Maßen her ist das Gerresheimer Evangeliar nur geringfügig kleiner als der Hitda-Codex in Darmstadt, der 29,3 x 21,6 cm misst und 220 Blätter aufweist. Damit fügt es sich ein in das für die damalige Kölner Buchherstellung beliebte Mittelformat.11 Nur geringfügig beschnitten, ist der Codex heute in rotem Samt über Holzdeckeln gebunden. „Auf dem Vorderdeckel finden sich Druckspuren eines in der Mitte montierten spätgotischen Beschlages mit Fischaugenornamentik.“ 12 Schließen weist der Band keine (mehr) auf.13

8 9 10 11

12 13

bridge, Fitzwilliam Museum, McClean Collection sowie Hamburg, SUB, Cod. theol. 1523, hauptsächlich mit dem Psalmenkommentar des Paterius (die Handschrift war zur Zeit der Abfassung des Katalogbeitrags 1991 noch nicht wieder aus der Kriegsauslagerung zurück, sondern wurde erst 1996 aus Armenien wieder zurückgeführt. Eine paläographische Untersuchung des Codex, der mehrere Teile von verschiedenen wohl Kölner Schreibern enthält, steht noch aus). Vgl. Gattermann 1993 (wie Anm. 2), S. 482. Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 2). – Neuheuser 1986 (wie Anm. 2), S. 9. Zu diesen Nachträgen vgl. die Beiträge von Jens Lieven, Andreas Bihrer und Julia von Ditfurth in diesem Band. Maßangaben anderer Handschriften bei Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 2) und Christoph Winterer: Das Evangeliar der Äbtissin Hitda: eine ottonische Prachthandschrift aus Köln. Miniaturen, Bilder und Zierseiten aus der Handschrift 1640 der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Darmstadt 2010, S. 12. Neuheuser 1986 (wie Anm. 2), S. 4. – Vgl. hierzu auch den Beitrag von Beate Johlen-Budnik in diesem Band. Auch der Hitda-Codex in Darmstadt weist nicht mehr seinen ursprünglich Einband aus der Entstehungszeit auf, sondern einen (nach der Restaurierung 1960–1968 in der Restaurierungswerkstatt der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg geschaffenen) Einband des Hamburger Einbandkünstlers Kurt Londenberg. Vgl. dazu Helma Schaefer: Leben und Werk des Buchkünstlers Kurt Londenberg (1914–1995). Illustriertes Verzeichnis seiner Einbände, hg. v. Jürgen Neubacher u. Antje Theise (Publikationen der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Bd. 3), Kiel 2009, Kat. 96, S. 115 mit Abb. 39.

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Die Anlage des Codex ist durchdacht konzipiert – was man beispielsweise an den Leerseiten vor Seiten mit Buchmalerei merkt – und nicht durch spätere Veränderungen beeinträchtigt; das Lagenschema – das hier nicht eigens vorgestellt werden soll – ist regelmäßig. Das erste Blatt (fol. 1r/v) ist leer und ein Schutzblatt, fol. 2r ist bis auf die Farbspuren der durchgeschlagenen Kanonesbögen von der Rückseite leer; auf den folia 2v–8r eröffnen 13 Kanontafeln den Band. Danach beginnt der Text der Vorrede zum ersten Evangelium.14 Überblickt man die Arbeit der Schreiber für das Gerresheimer Evangeliar im Gesamten, ist festzustellen, dass der überwiegende Teil des Codex von einer Hand geschrieben wurde (fol. 8v–263r), also von den Vorreden bis zum Schluss des Johannes-Evangeliums. Dabei sind kleinere Schwankungen nicht eigens als Schreiberwechsel aufgefasst; eine gewisse Bandbreite der Schriftstärken, Tintenfarben, Laufweiten ist normal, wenn der Charakter der Hauptschrift nicht verlassen wird. Sehen wir uns die Schreiber näher an, zunächst den Hauptschreiber A: Auf fol. 8v stehen in goldener Auszeichnungsschrift Capitalis rustica die vier Zeilen der Bemerkung „EXPLICIVNT CANONES QVATVOR EVANG(e)L(i)ORVM FELICITER IN XPO AMEN“ – „Hier enden glücklich die Kanontafeln der vier Evangelien in Christo – Amen“. Dies ist der erste zusammenhängende etwas längere Text im Codex.15 Dieser Seite gegenüber, also auf fol. 9r, beginnt der Brief des Hieronymus an Papst Damasus: „INCIPIT EPISTOLA HIERONYMI PRESBYTERI. DAMASO BEATO PAPAE HIERONYMVS. NOVUM OPVS FACERE“ – bis hierhin in Goldbuchstaben, weiter in brauner Tinte: „me cogis ex ueteri“. Der Brief reicht bis fol.  11v Mitte und schließt mit „EXPLICIT EPISTOLA HIERON(ymi)“. Auf der Zeile direkt daneben ist das Incipit der Praefatio platziert, dieser Hinweis auf einen Textbeginn geht aber auch noch ab der Mitte der nächsten Zeile weiter, auch wenn den Beginn dieser Zeile bereits der eigentliche Textbeginn „PLVRES“ füllt. Die Initiale hierzu ist eine einfache Zierinitiale über sechs Zeilen – hier ist das Schutzläppchen über dem Buchstaben noch erhalten!16 Der Text von Explicit und Incipit ist optisch nicht besonders glücklich auseinandergehalten; und auch sonst war der Schreiber wohl noch nicht so ganz bei der Sache: richtig muss es heißen „multi conati sunt ordinare narrationem rerum“ und nicht „sententiam rerum“, vor „tradiderunt“ fehlt ein „sicut“, bei „usque ad praesens tempus“ hat sich der Schreiber verschrieben, und das Wort vor „principia“ müsste eigentlich „fuere“ lauten. Aber der Duktus seiner Handschrift ist deutlich und klar; man kann diese Schrift gut lesen und bis heute aus dem Evangeliar präzise vorlesen. Den Lesefluss aufhaltende 14 Vgl. zum Aufbau der Handschrift den Beitrag von Doris Oltrogge in diesem Band. 15 Die Abbildungen der einzelnen Seiten des Gerresheimer Evangeliars befinden sich im Farbteil dieses Bandes. 16 Vgl. hierzu den Beitrag von Annemarie Stauffer in diesem Band.

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Kürzungen sind selten, Schreibfehler und deren Verbesserungen begegnen nicht allzu häufig und wenn, dann in den Vorreden, weniger im Text der Evangelien selbst. Auf fol. 13v Zeile 10 ist „apolypsis“ in „apocalypsis“ verbessert, auf derselben Seite steht (Zeile 6 von unten) „aqila“, bereits aus „aqla“ verbessert anstelle von „aquila“. Bis dahin hat der Schreiber fünf Schriften verwendet: als Auszeichnungsschriften die Capitalis in roter Tinte (fol. 209r), die Capitalis rustica in goldener (fol. 8v) und in roter (fol. 14v) Tinte, dann eine goldene Majuskelschrift (fol. 9r u. 14r) sowie die Hauptschrift für den Text der vier Evangelien, die karolingische Minuskel. Die verwendete Tinte ist dunkelbraun bzw. manchmal schwarz; auf der aufgeschlagenen Doppelseite ergibt sich ein harmonischer Gesamteindruck des Schriftblocks, der ausgewogen auf den breitrandigen Seiten steht. Die Laufweite der Schrift ist ausgeglichen, weder zu weit auseinandergezogen – dieses Stilmittel wurde bei der Widmungsseite eigens herangezogen –, noch zu eng. Wenn nötig, wird aber enger geschrieben, um Text unterzubringen. Der Text des Evangeliars endet auf fol. 263r mit den letzten Versen des Johannes-Evangeliums und einer – so meine ich – für einen mittelalterlichen Schreiber beziehungsreichen Textstelle (Joh 21,24): „Sunt autem & alia multa quae fecit Jesus. Quae si scribantur per singula. Nec ipsium arbitror mundum capere eos qui scribendi sunt libros. Amen.“ „Es ist aber auch noch vieles andere, was Jesus getan hat. Wollte man dieses einzeln aufschreiben, so glaube ich, würde die Welt die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären.“ Soweit zum Hauptschreiber A. Der Schreiber B setzt auf fol. 176v ab der fünften Zeile ein, wie Hartmut Hoffmann in einer den Sachstand zusammenfassenden Email an Klaus Gereon Beuckers vom 5. Mai 2015 konstatiert: „Die Gerresheimer Hand B stammt vielleicht aus einer anderen Schule als A. Die Schrift ist breit, gewissermaßen flachgedrückt; das g besteht aus zwei gleichsam aneinander ,gebackenen‘ Kreisen (ohne ,Hals‘ zwischen dem oberen und dem unteren). Sie kommt damit einem Typ nahe, der auch sonst in Köln im 11. Jh. verbreitet war (gewisse spätere Indizien scheinen dafür zu sprechen, daß dies der Stil des Skriptoriums von St. Pantaleon war). Aus dem 10. Jh. ist mir nichts der Hand B Vergleichbares bekannt.“ Soweit Hartmut Hoffmann.17 Schreiber B mit seinen typischen „g“s verliert sich bald wieder, noch in Zeile 4 von fol. 176v und bereits auf den Folgeseiten, bei denen dieser Buchstabe wieder begegnet, hat das „g“ einen Hals. Jedenfalls sind die Schriften von A und B sehr ähnlich und einander angeglichen. Die Haupthand schreibt weiter bis fol. 263r. Auf fol. 264r beginnt das Capitulare evangeliorum, das Verzeichnis der zu lesenden Perikopen ab Heiligabend – „(I)n vigilia domini. Secundum Matheum. Capitulum III“; in den oberen 17 Zeilen von der Hand mehrerer Schreiber und dann, ab Zeile 18, bis zum 17 Eine dem Schreiber B sehr ähnliche Hand weist der zweite Band des Gundold-Evangeliars auf (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Bibl. 4° 2) – Vgl. hierzu auch den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in diesem Band.

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Abb. 9: Gerresheimer Evangeliar, fol. 245v mit Schreiberwechsel.

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Schluss des Capitulare (fol. 269v) wieder von einer Schreiberhand. Hier fallen die ausgreifenden Überlängen bei den stets wiederkehrenden Buchstaben „S(ecundum)“ und „U(sque)“ auf, die eine etwas spätere Entstehung dieses Teils des Codex als das Evangeliarium an sich nahelegen. Schließlich wurden einige wenige Seiten der Evangelientexte von anderer Hand geschrieben; am deutlichsten bemerkt man den Schreiberwechsel auf den fol. 131r, der bis fol. 135v weiterschreibt, und fol. 245v (Abb. 9). Welche Folgerungen lassen sich aus diesem Befund ziehen? Zum einen ist festzuhalten, dass in der Forschung bisher keine weitere Handschrift aus Kölner Produktion des beginnenden 11. Jahrhunderts benannt wird, die genau dieselbe Schreiberhand A (wenn wir diese als Hauptzeugen nehmen) aufweist. Der Schreiber A steht also bisher allein. Aber wie kann man seine Wirkungszeit datieren?

Das Gerresheimer Evangeliar in seinem Umfeld Es gibt mehrere Versuche, die Kölner illuminierten Handschriften chronologisch zu ordnen, wobei die reinen Texthandschriften oder solche, die lediglich gliedernde Initialen aufweisen, selten in die Betrachtungen einbezogen worden sind. Zuletzt hat Ulrich Kuder 2013 eine Chronologie der Kölner illuminierten Handschriften des 10. und 11. Jahrhunderts vorgelegt.18 Er zählt insgesamt 22 Handschriften auf, die „vor 969“ und „bis um 1100–1120“ entstanden seien. Die in seiner Liste früheste Handschrift ist das Gerresheimer Evangeliar mit einer Datierung „vor 969“, die späteste das Evangeliar aus St. Maria Lyskirchen in Köln (ehemals in St. Georg). Von dieser späten Datierung rückt er allerdings in Gesprächen nun doch ab, sich Argumenten anschließend, die Robert Suckale in seinem Beitrag zur Weltgerichtstafel aus S. Maria in Campo Marzio in Rom bereits im Jahr 2002 vorbrachte. Suckale datiert den Kölner Codex, der ihm zu methodischen und Vergleichszwecken dient, aus historischen Gründen „um bzw. vor 1067“ – dem Weihedatum des Stiftes.19 Aber kann man die Entstehungszeit des Gerresheimer Evangeliars wirklich „vor 969“ datieren? Ist die Schrift des Schreibers A tatsächlich eine des 10. Jahrhunderts oder nicht doch erst eine des 11. Jahrhunderts? Wie wäre es, wenn man die Datierung der Schreiberhand A parallel setzt zur üblichen Datierung des Gerresheimer Evangeliars mit kunsthistorischem Instrumentarium, also in die Zeitspanne „1020 bis 1040“? Bereits 1971 hat 18 Kuder 2013 (wie Anm. 1), S. 110 f. 19 Robert Suckale: Die Weltgerichtstafel aus dem römischen Frauenkonvent S. Maria in Campo Marzio als programmatisches Bild der einsetzenden Gregorianischen Kirchenreform, in: Robert Suckale: Das mittelalterliche Bild als Zeitzeuge. Sechs Studien, Berlin 2002, S. 12–122, hier S. 111 f.

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Carl Nordenfalk in seiner Rezension zu Bloch/Schnitzler konstatiert: „Anfang und Ende der Amtsjahre Hitdas, der Bestellerin des Darmstädter und wohl auch des Gerresheimer Evangeliars, sind nicht überliefert.“ 20 Gehen wir also auf die Suche nach genau bzw. wenigstens im Umfeld datierten Kölner Schriftbeispielen „vor 969“ bis in die Jahre um 1020–1040. Für die Zeit „vor 969“ – 969 ist das Jahr des Regierungsantritts Erzbischof Geros von Köln (amt. 969–976) – ist in Köln kein Skriptorium bekannt; benötigte man dennoch Codices, waren diese Importware anderer Schreibzentren. Dies zeigt das Evangelistar von Erzbischofs Gero, der sogenannte Gero-Codex (Darmstadt, Hess. ULB Hs. 1948), um 968/969 noch auf der Reichenau hergestellt. Die Handschrift ist das Werk des Reichenauer Buchkünstlers – so hat ihn Anton von Euw bezeichnet21 – Anno, und von Euw bekräftigt auch, „daß es in den siebziger und achtziger Jahren in Köln kein Skriptorium gab, das die an die Prachthandschriften gestellten Anforderungen hätte erfüllen können.“ 22 In die Jahre des Episkopats Erzbischof Evergers (amt. 985–999) verweist die Domhandschrift 143, ein Epistolar, das – üblicherweise als Everger-Lektionar bezeichnet – mit einem Dedikationsbild geschmückt ist, das den lang hingestreckten Geistlichen zu Füßen der Apostelfürsten Petrus und Paulus zeigt (fol. 3v/4r). Der Codex ist zwischen 985 und 999 entstanden.23 Um diesen Codex, so resümiert Carl Nordenfalk in seiner Rezension „hätte [...] man ebensogut eine besondere Frühgruppe bilden können.“ 24 Er gruppiert zum Everger-Lektionar noch Cod. 53 der Dombibliothek, einen Kommentar des hl. Hieronymus zu den zwölf Propheten, sowie Cod. 5, eine kommentierte Psalmenausgabe des Smaragdus von St. Mihiel, eine von nur zwei bekannten Handschriften des Textes übrigens.25 Codex 53 verweist an zwei Stellen auf seine Entstehungszeit, nämlich auf fol. 1v und fol. 195r. Dort heißt es in einer locker geschriebenen Capitalis rustica: „Liber Sancti Petri scriptus sub tempore [nur 1v: Domni] Evergeri archiepiscopi.“ Zu diesem Eintrag meldet Hartmut Hoffmann Bedenken an, die er an der eben zitierten Schreibernotiz festmacht: „Man hat daraus geschlossen, dass der Codex 53 in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts 20 Carl Nordenfalk: Rezension zu Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm.  2), in: Kunstchronik. Monatsschrift für Kunstwissenschaft, Museumswesen und Denkmalpflege 24 (1971), S. 292/298– 309, Zitat S. 301. 21 Anton von Euw: Der Darmstädter Gero-Codex und die künstlerisch verwandten Reichenauer Prachthandschriften, in: von Euw/Schreiner 1991 (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 191–225. 22 Anton von Euw: Die ottonische Kölner Malerschule. Synthese der künstlerischen Strömungen aus West und Ost, in: von Euw/Schreiner 1991 (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 251–280, Zitat S. 266. 23 Hartmut Hoffmann: Schreibschulen und Buchmalerei. Handschriften und Texte des 9.–11. Jahrhunderts (Monumenta Germaniae Historica Schriften, Bd. 65), Hannover 2012, S. 184. 24 Nordenfalk 1971 (wie Anm. 20), S. 303. 25 Staatsbibliothek Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin, Ms. lat. fol. 755.

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(genauer gesagt: 985–999) entstanden sei, doch es ist fraglich, ob die Einträge aus Evergers Zeit stammen. Es ist sehr wohl möglich, daß sie bloß eine Bibliothekstradition des 11. Jahrhunderts wiederspiegeln, die falsch ist. Wenn die Einträge den Sachverhalt richtig wiedergeben sollten, wäre [...] die Hand D des Codex 53 [...] in die Zeit um das Jahr 1000 zu datieren, und damit bekäme man dann ein kaum akzeptables frühes Datum für den Schreibstil der Strengen Gruppe. Wir brauchen das Problem nicht weiter zu verfolgen und halten nur fest, daß die Codices 53 und 191 jedenfalls nicht später als in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts angefertigt worden sein können.“ 26 Für Codex 5, den Psalmenkommentar des Smaragdus von Saint-Mihiel, äußert sich Ulrike Surmann differenzierter und unterscheidet die Zierinitialen einerseits und die Schrift andererseits. Das Rankenflechtwerk entspricht dem der übrigen Handschriften aus der Everger-Zeit. „Der Schriftduktus und das sich langsam zur rankenden Pflanze entfaltende Flechtwerk [...] legen jedoch eine Datierung zu Beginn des 11. Jahrhunderts nahe, etwa gleichzeitig mit dem vor 1021 wohl in Trier oder Echternach entstandenen Wolbordon-Psalter in Brüssel (Bibl. Royale, Ms. 9188–9189)“.27 Zeitlich noch vor der Everger-Gruppe liegen Handschriften, die mit der Person des Benediktinermönchs Froumund in Zusammenhang stehen. Er ist nicht nur für die Klosterpolitik des letzten Jahrzehnts des 10. Jahrhunderts von großer Bedeutung, sondern auch als Schreiber von Handschriften. Froumund wurde um 960 geboren und war „von unbekannter, gewiß bayerischer Herkunft“.28 Um das Jahr 990 finden wir ihn als Mönch im Kölner Kloster St. Pantaleon – und zwar mit dem erklärten Ziel, Handschriften aus der dortigen Bibliothek abzuschreiben. Von Köln wurde er 993 nach Feuchtwangen gesandt, um die dortige Benediktinerabtei neu auszurichten, blieb dort bis 995, kam dann nach Tegernsee und starb dort als Lehrer der Klosterschule zwischen 1006 und 1012; im Clm 19456 spricht er ausdrücklich von seinen Knaben, die er unterrichtet hat – „pueri mei quos docui“.29 Fünf Handschriften und acht Fragmente sind von seiner Hand bekannt;30 Froumund hat sie zumeist in Subskriptionen signiert. Eine der spannendsten Handschriften darunter 26 Hoffmann 2012 (wie Anm. 23), S. 190. 27 Glaube und Wissen im Mittelalter. Die Kölner Dombibliothek, Ausst. Kat. Erzbischöfliches Diözesanmuseum Köln, hg. v. Joachim M. Plotzek, München 1998, Kat. Nr. 41, S. 225 (Ulrike Surmann). 28 Karl Langosch: Art. ‚Froumund‘, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 1, Berlin 1933, Sp. 775–780, hier Sp. 775. – Gudrun Sporbeck: Froumund von Tegernsee (um 960– 1006/12) als Literat und Lehrer, in: von Euw/Schreiner 1991 (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 369–378. 29 Martin Steinmann: Handschriften im Mittelalter. Eine Quellensammlung, Basel 2013, Nr. 235. 30 Es sind von ihm noch folgende Handschriften bzw. Fragmente erhalten, die er meistens in Zusammenarbeit mit seinen Schülern herstellte: Melk, Stiftsbibl., cod. 228; München, clm 18466, 18764, 19412 (S. 1–136), 19437, 19440 (S. 2–70), 19456, 22307 (fol.  1–60) und die Fragmente in clm 18544a, 29061 und 29162; Wien, Cod. 114, Berlin, cod. lat. 4o 939 [jetzt in Krakau].

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Abb. 10: Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. 114, fol. 31r: Schreibervermerk von Froumund. Köln, um 993.

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ist der nunmehrige Codex 114 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Es ist ein Sammelcodex mit verschiedenen Texten, die zur Lektüre in der Schule geeignet waren, darunter auch eine griechische Grammatik. In diesem Codex lautet Froumunds Schreibervermerk auf fol. 31r, dem Schluss der Glossen zu Priscian (Abb. 10): „Expliciunt glosse meae libri Xmi. In monasterio phyuhtvuangensi a quinto libro usque huc conscripsi Ego Froumundus. Sed primum, secundum, tertium et quartum Colonie in monasterio Sancti Pantaleymonis. Deus addat et alios qui secuntur ut sibi placat.“ 31 Froumund hatte sich, wie gesagt, eigens nach Köln begeben, um dort Handschriften abzuschreiben. Im Boethius-Codex von seiner Hand mit dem Text De consolatione philosophiae, der über die Bibliothek in Augsburg-Maihingen (Cod. I. 2. (lat). 4°, 3) nach Berlin kam (Ms. Lat. 4° 939) und in Folge des Zweiten Weltkriegs nunmehr in Krakau liegt, steht der Schreibervermerk: „Hunc ego Froumundus librum ecce Colonie scripsi / Atque huc devexi, tibi, sancte Quirine, decrevi.“ 32 Der angesprochene hl. Quirinus, ein römischer Märtyrer, ist seit der Translation seiner Gebeine um 765 der Patron von Kloster Tegernsee. Lässt man die verschiedenen Schriften nur von dieser Seite des Krakauer Froumundus-Codex auf sich wirken, lassen sich wohl doch Ähnlichkeiten mit den Buchstabenformen im Gerresheimer Evangeliar feststellen. Aber das sind keine genuin Kölner Buchstabenformen, sondern die von Froumund, der sich des Buchstabenrepertoires bedient, wie es ihm in Köln St. Pantaleon vorgelegt wurde. Die fünf Zeilen im Wiener Codex zeigen aber auch, dass Froumund als Schreiber etwas unstet wirkt. Majuskeln und Minuskeln gemischt, Unterstreichungen, Hochstellungen – aber die Schlussschrift hat ja auch bei weitem nicht den Anspruch wie eine Zeile, eine Passage, eine Seite aus einer Evangeliums-Handschrift! Dankbar hat eine spätere Hand unter bzw. neben Froumunds Zeilen vermerkt: „Nota: locum et nomen scriptoris.“ Auf der Suche nach datierten Kölner Handschriften förderte Ernst Dümmler bereits 1876 ein Verzeichnis von Handschriften zutage, die ab dem zweiten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts aus der Kölner Dombibliothek entliehen worden sind (Abb. 11).33

31 Franz Unterkircher: Der Wiener Froumund-Codex (Cod. 114 der Österreichischen Nationalbibliothek), in: Codices manuscripti. Zeitschrift für Handschriftenkunde 12 (1986), S. 27–51, hier S. 39 mit Anm. 4. 32 Wilhelm Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter, 4. Aufl. Graz 1958 (OA 1871), S. 540. 33 Ernst Dümmler: Cölner Bücherkatalog, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 19 (1876), S. 466–467.

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Abb. 11: Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt, Cod. CA 2° 64, fol. 117v: Ausleihverzeichnis von Handschriften der Kölner Dombibliothek. Köln, zwischen 1010 und 1026.

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Die Auflistung steht auf dem Verso des letzten Blattes der Handschrift CA 2° 64 der Wissenschaftlichen Allgemeinbibliothek in Erfurt, fol. 117v. Sie ist eine Sammelhandschrift des 10. Jahrhunderts mit Texten unter anderem von Amalar von Metz, von Hrabanus Maurus sowie einem Glossar zu Büchern des Alten Testaments aus dem 15. Jahrhundert. Zu Beginn des 15.  Jahrhunderts befand sich die Handschrift in der Bibliothek von Amplonius Ratinck de Berka (gest. 1435), der zweimal Rektor der Universität zu Köln war und seine bedeutende Bibliothek, die Amploniana, 1415 dem von ihm gestifteten Collegium Amplonianum in Erfurt zur Verfügung stellte.34 Der Codex CA 2° 64 ging schon früh in den Besitz des Amplonius über; bereits in seinem ersten Bibliothekskatalog von 1412 ist er verzeichnet. Das Ausleihverzeichnis ist, nachdem der Schlusstext des Bandes in der letzten Zeile der linken Spalte mit einem Explicit endet, auf den freien spaltenbreiten Raum rechts auf der Seite eingetragen und umfasst 26 Zeilen.35 Der Text ist überschrieben mit: „Hi sunt libri praestiti de armario. sci petri“ „Dies sind die aus dem Bücherschrank der Bibliothek von St.  Peter entliehenen Bücher.“ Der erste Entleiher ist Abbas Elias, er hat bekommen  – „habet“ – „Augustinus super iohannem“ – einen Kommentar des Augustinus zum JohannesEvangelium, „novum ex toto bene scripto“ „neu und insgesamt gut geschrieben“. Hier wie in den anderen Fällen lassen sich übrigens die damals entliehenen Bücher mit heute in der Kölner Dombibliothek vorhandenen nur ungefähr  – vom Inhalt her  – identifizieren, nicht auf ein spezielles Exemplar hin. Die nächsten Einträge betreffen „Magister evezo. Magister scholarum de Sancto cvniberto“, der eine Teilausgabe des Hieronymuskommentars zum Propheten Ysaias entlieh; die „Abbatissa de sanctis virginibus“, also von St. Ursula, entlieh einen „Terentius cum servio“, einen Terenz mit Servius. Schließlich, und hier wird die Eintragung sowohl für die Datierung wie für die Geschichte der Skriptorien in Köln interessant, entlieh „Adelboldus episcopus“ ein Buch bzw. mehrere Bände. Gemeint ist der Utrechter Bischof Adalbold II. (amt. 1010–1026). Er entlieh „Librum super psalterium optime scriptum“ – also ein Buch über den Psalter, das von seiner Schrift her hervorragend geschrieben war, „ad manum Wanizonis de sancto Gereone scriptoris“ – zu Händen des Wanizo, einem Schreiber aus St. Gereon, der es wohl seinerseits abschreiben sollte. Dieser Eintrag belegt also ganz eindeutig, dass es im Kollegiatsstift von St. Gereon, wo bereits seit längerer Zeit eine Schule existierte, zu der Zeit also auch ein Skriptorium gab.

34 Zur Handschrift kurz Joachim M. Plotzek: Zur Geschichte der Kölner Dombibliothek, in: Kat. Köln 1998 (wie Anm. 27), S. 15–64, hier S. 31. 35 Vgl. dazu zuletzt Irmgard Jeffré: Handschriftliche Zeugnisse zur Geschichte der Kölner Domschule im 10. und 11. Jahrhundert, in: von Euw/Schreiner 1991 (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 165–171, hier S. 168–170 mit der nicht optimalen Abb. 1.

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St. Pantaleon oder St. Gereon? In welchem Skriptorium ist aber das Gerresheimer Evangeliar angefertigt worden? Mehrere Möglichkeiten lassen sich diskutieren. 1. St. Pantaleon: In der Kölner Kunstgeschichtsschreibung ist an sich communis opinio, dass in St. Pantaleon der Sitz der Malerschule war – und zwar zeitlich gesehen nach dem Episkopat Geros von Köln (amt. 969–976), dessen Evangelistar um 968/969 noch auf der Reichenau hergestellt wurde. Ab den 970er Jahren nahm das Skriptorium in St. Pantaleon, so wurde kunsthistorisch argumentiert, einen stetigen Aufschwung. Um das Jahr 1000 war es zum führenden Skriptorium der Domstadt aufgestiegen. So resümiert Christoph Winterer in seiner Untersuchung des Darmstädter Hitda-Codex: „Für das Benediktinerkloster St. Pantaleon [gegen St. Gereon] sprechen aber die meisten Argumente, wenn man nach einem geistlichen Institut sucht, in dem zur Jahrtausendwende das Herz der Kölner Buchmalerei schlug.“ 36 Aber das blieb nicht für die folgenden Jahrzehnte so. Einen großen Einschnitt für die Klostergeschichte bildete die Reform unter Erzbischof Anno von Köln (amt. 1056–1075), die zwar zeitlich außerhalb unseres Betrachtungszeitraumes liegt, aber wenigstens erwähnt werden soll, da sie exemplarisch zeigt, wie kirchenpolitische Ereignisse Auswirkungen auf das Kunstschaffen haben. „Als sich das Kölner Benediktinerkloster St. Pantaleon, das damals eines der größten Skriptorien mit angegliederter Buchmalerwerkstatt unterhielt, seinen [Erzbischof Annos] Reformwünschen nicht fügen wollte, wurden die Mönche mit Gewalt vertrieben und durch andere ersetzt.“ 37 2. St. Gereon: Dass es am Kollegiatsstift St. Gereon ein Skriptorium zumindest in der Amtszeit von Bischof Adalbold von Utrecht (amt. 1010–1026) gegeben hat, verdeutlicht das Ausleihverzeichnis in der Handschrift in Erfurt (s. o.). Dort ist ja sogar der Schreiber Wanizo genannt, für den der Bischof den kalligraphisch so herausragenden Psalmenkommentar – vielleicht den aus Chelles, Dom Hss. 63, 65 und 67 – auslieh.38 Das Skriptorium mag aber länger als die Regierungszeit des Bischofs gewirkt haben. Damit ist jedoch keineswegs gesichert, dass in dem Skriptorium von St. Gereon auch Prachthandschriften hergestellt worden sind. Zudem gab es in Köln – alleine schon innerhalb der Gruppe der Prachthandschriften – mindestens zwei Skriptorien.39 Um Einwänden zuvorzukommen, sei schließlich noch angemerkt, dass nicht nur die Handschriftenlage im uns interessierenden Zeitraum dünn ist, sondern auch die der urkundlichen Überlieferung. Natürlich sind die Schreiber der Handschriften oft auch diejeni36 37 38 39

Winterer 2010 (wie Anm. 11), S. 16. Suckale 2002 (wie Anm. 19), S. 114. Kat. Köln 1998 (wie Anm. 27), Kat. Nr. 3, S. 75–80 (Alexander Arweiler). Vgl. Nordenfalk 1971 (wie Anm. 19), S. 303. – Kuder 2013 (wie Anm. 1), S. 110 f.

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gen, die die Urkunden schrieben, und beide Überlieferungsstränge zusammenzusehen, ist geboten. Nicht zuletzt deshalb seufzte Bernhard Bischoff, dem wir die paläographischen Grundlagen so mancher auch Kölner Handschrift vor allem der Frühzeit verdanken: „Soll ich denn jetzt auch noch in die Archive gehen?“ In Köln ist die Urkundenüberlieferung spärlich. Hans Joachim Kracht resümiert für St. Pantaleon: „Nach den Gründungsprivilegien und den ersten Bestätigungen des neuen Klosterbesitzes ist die Urkundenüberlieferung etwa hundert Jahre in der Zeit von 976 bis 1081 unterbrochen.“ 40 Ähnlich sieht die Überlieferungslage für Urkunden anderer geistlicher Korporationen in Köln zu der Zeit aus.

Schluss Zusammenfassend und thesenartig überspitzt formuliert gilt es festzuhalten: 1. Das Gerresheimer Evangeliar weist keinen Datierungsvermerk auf. Setzt man die Stifterin Hidda mit der Äbtissin Hitda von Kloster Meschede gleich, hilft dies auch nicht weiter, denn für diese sind keine Amtsjahre bekannt. Die Datierungsvorschläge reichen von „vor 969“ bis „1020–1040“. 2. Das geschriebene Buch des Evangeliars ist hauptsächlich das Werk eines Schreibers, dem nur für wenige Blätter des Manuskripts andere Schreiber zur Seite stehen. 3. Von der Hand des Gerresheimer Schreibers A ist derzeit kein weiteres Werk bekannt. 4. Vergleicht man mit Blick auf die allgemeine Schriftentwicklung das Gerresheimer Evangeliar mit früher und auch später entstandenen Handschriften, kommt eine Datierung in die 970er Jahre, wie sie zuletzt Ulrich Kuder vorschlug, nicht infrage. 5. Im Vergleich zu zwei datierbaren Schrifterzeugnissen, den Froumund-Werken einerseits und dem Erfurter Ausleihregister andererseits, wird deutlich, dass die Schrift des Gerresheimer Evangeliars etwas fortschrittlicher, etwas weiter entwickelt ist als die beiden genannten Schriftzeugnisse. Eine Datierung in die Jahre 1020 bis 1040 ist folglich vertretbar. 6. In welchem Skriptorium der Schreiber des Gerresheimer Evangeliars ausgebildet wurde und welche ‚Schriftheimat‘ er demnach verkörperte, ist nicht festzustellen. 7. Es erscheint denkbar, dass das Gerresheimer Evangeliar ein Erzeugnis des Skriptoriums von St. Gereon in Köln ist. Schließen möchte ich mit einem Zitat aus dem Beitrag Anton von Euws zur ottonischen Kölner Malerschule: „Doch ist Wissenschaft nichts Abgeschlossenes und nie vollendet im Sinne des letzten Wortes.“ 41 40 Hans Joachim Kracht: Geschichte der Benediktinerabtei St. Pantaleon in Köln 965–1250 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 11), Siegburg 1975, S. 157. 41 von Euw 1991 (wie Anm. 21), S. 260.

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Jens Lieven

„vera mater nostra abbatissa Theophanu auxerit nostram vestituram“ Zum Schenkungseintrag der Äbtissin Theophanu im Gerresheimer Evangeliar

Im Folgenden soll es um jene Notiz im Gerresheimer Evangeliar gehen, die sich auf eine Schenkung der Äbtissin Theophanu bezieht und nach ihrem Tod in karolingischer Minuskel auf fol. 129r vor dem Argumentum zum Lukas-Evangelium nachgetragen wurde.1 Die Schenkungsnotiz umfasst 14 Zeilen und erinnert an Kontext und Eschatokoll eines Urkundenformulars, genauer an die Promulgatio, die Dispositio, Sanctio, Corroboratio und Aprecatio. Insofern hat es den Anschein, als habe dem Eintrag im Gerresheimer Evangeliar eine in der Originalausfertigung nicht mehr erhaltene Urkunde, die über die Schenkung der Äbtissin ausgestellt worden war, zugrunde gelegen. Dem Schenkungseintrag folgt nach dreizeiliger Überschrift eine neun Zeilen umfassende Eidesformel, die augenscheinlich erst in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts Eingang in den Codex fand und seither die bei der Anlage der Handschrift freigelassene Seite zusammen mit der wohl mehrere Jahrzehnte nach dem Tod Theophanus entstandenen Notiz über ihre Schenkung an den Gerresheimer Konvent vollständig ausfüllt.2 Ob auf fol. 129r anstelle der Eidesformel ursprünglich weitere Schenkungseinträge vorgesehen waren und der ungefähr bis 1370 noch zur Verfügung stehende Platz zunächst nicht weiter genutzt wurde, um gegebenenfalls weitere Schenkungsnotizen an dieser Stelle berücksichtigen zu können, ist ungewiss. Ebenso bleibt unklar, welchem Zweck der Schenkungseintrag diente und aus welchem Anlass er in den Codex eingetragen wurde, zumal inhaltlich vergleichbare Einträge fehlen, die in dieser Hinsicht weitere Hinweise liefern könnten. Schwierig gestaltet sich auch die zeitliche Einordnung des Nachtrags mithilfe paläographischer Kriterien. Bekanntlich war die karolingische Minuskel über 400 Jahre lang bis in die 1

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Zum Gerresheimer Evangeliar vgl. aus kunsthistorischer Perspektive insbesondere Peter Bloch u. Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, 2 Bde., Düsseldorf 1967/70. – Hatto Küffner: Das ottonische Evangeliar, in: Gerresheim 870–1970, hg. v. Hugo Weidenhaupt, Düsseldorf 1970, S. 149–156. – Hanns Peter Neuheuser: Das Gerresheimer Evangeliar (Rheinische Kleinkunstwerke, Bd. 2), Köln 1986. – Gerhard Weilandt: Wer stiftete den Hidta-Codex (Darmstadt Hess. Landes- und Hochschulbibliothek, Cod. 1640)? Ein Beitrag zur Entwicklung der ottonischen Kölner Buchmalerei, in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 190 (1987), S. 49–83 sowie den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in diesem Band. Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Bihrer in diesem Band.

„vera mater nostra abbatissa Theophanu auxerit nostram vestituram“ | 119

zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts hinein – teils sogar noch darüber hinaus – in Gebrauch; „die einzelnen Formen zeitlich und örtlich festzulegen, scheint aussichtslos.“ 3 Einige Anhaltspunkte – wie etwa der Verzicht auf e caudata (ę) oder die gabelartige Ausformung der Oberlängen (bei Buchstaben wie d, b oder l) statt ihrer keulenförmigen Verdickung – könnten aber für die Anlage des Eintrags an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert sprechen, wobei freilich weitere Untersuchungen zu seiner Datierung geboten sind.4 Wenn sich dieser zeitliche Ansatz bestätigt, dann wäre dies nicht ohne Brisanz. Die Aufnahme des Schenkungseintrags in das Evangeliar läge dann nämlich zeitlich und sachlich nahe an der Fälschung der Gerresheimer Gründungsurkunde,5 die mit ihrer Bestätigung des Gerresheimer Besitzes zum Unterhalt des Konvents ein Machwerk des früheren 12. Jahrhunderts sein dürfte.6 Zudem weist die Gerresheimer Gründungsurkunde inhaltliche Ähnlichkeiten zu der um 1090 entstandenen Fälschung der Essener Gründungsurkunde auf.7 Diese hebt unter anderem auf die Rechte des Konvents im Rahmen der Besitzverwaltung ab8 und dürfte damit – sicher ebenso wie die Gerresheimer Urkunde (und die Schenkungsnotiz im Gerresheimer Evangeliar?) – Ausdruck einer Krisensituation sein, in der sich beide Konvente in der Zeit um 1100 befanden, wenn man etwa erste Auflösungserscheinungen der vita communis in den Blick nimmt.9 3 4

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Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik, Bd. 24), 3. Aufl. Berlin 2004 (OA 1979), S. 164. Vgl. hierzu künftig die Ausführungen des Verfassers zur Kölner Synode des Jahres 870 und zu den gefälschten Gründungsurkunden von St. Kunibert in Köln, St. Cosmans und Damian in Essen und St. Hippolyt in Gerresheim (in Vorbereitung). Rheinisches Urkundenbuch. Ältere Urkunden bis 1100, Bd. 2: Elten – Köln, S. Ursula (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Bd. 57), bearb. v. Erich Wisplinghoff, Düsseldorf 1994, Nr. 178. Vgl. hierzu zusammenfassend Hugo Weidenhaupt: Das Kanonissenstift Gerresheim, in: Düsseldorfer Jahrbuch 46 (1954), S. 1–120, hier S. 28 f. Vgl. Erich Wisplinghoff: Beiträge zur Geschichte des Damenstifts Essen, in: Archiv für Diplomatik 13 (1967), S. 110–132. Rheinisches Urkundenbuch (wie Anm. 5), Bd. 2, Nr. 159: „Possessiones aecclesiae traditas sive tradendas interiores et exteriores tam nobiles quam immobiles cum consilio deum timentium summa cum diligentia abbatissa procuret reditusque earum tam in sua quam in sororum equabili distribuat utilitate id summopere cavens, utpote deo rationem redditura, ut de communibus earum rebus nec unam minimam praebaendam absque earum consilio utilitate alicui tradat, ne, quod absit, penuria familiaris rei urgente ruptis sanctimonie habenis liberius hac et illac absque dei timore vagentur.“ Vgl. hierzu mit Blick auf das Essener Frauenstift Thomas Schilp: Die Gründungsurkunde der Frauenkommunität Essen – eine Fälschung aus der Zeit um 1090, in: Studien zum Kanonissenstift (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 167), hg. v. Irene Crusius, Göttingen 2001, S. 155 und S. 169 f. – Der Inhalt der Gerresheimer Fälschung legt nahe, dass einige Probleme Gerresheims mit Essener Schwierigkeiten vergleichbar gewesen sind. Dies betrifft insbesondere die Angelegenheiten, die mit der Schaffung von Präbenden infolge der Auflösung des gemeinsamen Lebens zu tun hatten.

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Ähnlich wie in Essen ist jedoch aufgrund der schlechten Überlieferungslage über mehr oder weniger plausible Vermutungen auch in Gerresheim nicht hinauszukommen. Im Folgenden sei deshalb der Akzent auf die inhaltlich-sachliche Dimension des Schenkungseintrags gelegt: Das Gerresheimer Stift10 wird im Schenkungseintrag nicht eigens erwähnt. Dem Dedikationsvermerk auf fol. 210v zufolge ist das Evangeliar jedoch für den Gebrauch im Gerresheimer Stift St.  Hippolyt angefertigt worden.11 Soweit zu sehen ist, wurde der Codex außerdem ausschließlich hier verwendet, so dass sich die Schenkung letztlich nur auf die in Gerresheim ansässige Frauengemeinschaft beziehen kann, der Theophanu neben dem Essener Konvent vorstand. Im Einzelnen lautet der Text des Schenkungseintrags wie folgt:12 „Notum sit omnibus in Christum credentibus videlicet tam presentibus quam futuris, qualiter in / Clita et vera mater nostra abbatissa Theophanu auxerit nostram vestituram et sump-/serit de communi pecunia, quam sororibus ad censum persolverit III libras et fecerit nobis / ad vestituram dari octo sol., cum prius nil magis daretur quam VI sol. Et insuper, / Quia plurimum de eadem pecunia supererat, I libram adhuc ad comparandos / Pisces in dominicis tantum diebus per quadragesimum concesserit. Et quisquis / hoc pactum aut unquam fregerit aut fortuitu frangere temptaverit, / novissima illius peiora prioribus esse ipsamet petierit. Facta sunt hec / Coram clericis et laicis quam pluribus, quorum nomina hic subscripta sunt: / Anno Coloniensis archiepiscopus, Eberhardus prepositus, Megezo decanus, Wil-/ lehelmus, Hizzo, Helmerich, Herman, Sueuelin, Brunger, Eberwin, / Fridecho clerici. Adolfus advocatus, Adalbero, Aldoˇm, Salecho / Et alii complures, qui hec audierunt et viderunt, quorum nomina scrip-/ta sunt in libro vite. Amen.“ „Bekannt sei allen Christgläubigen, den gegenwärtigen wie auch den künftigen, dass unsere berühmte und wahre Mutter, Äbtissin Theophanu, unsere Kleidung vermehrt hat und dafür vom gemeinsamen Geld nahm, das sie in Höhe von 3 Pfund den Schwestern auszahlte; auch verfügte sie, dass uns davon acht Schillinge zur Bekleidung gegeben werden, da man früher nicht mehr als 6 Schillinge dafür ausgab. Weil aber das Meiste dieses Geldes übrig war, gestand sie uns darüber hinaus noch ein Pfund zum Kauf von Fischen an den Sonntagen der Fastenzeit zu. Wer diesen Beschluss jemals bricht oder zufällig zu brechen versucht, der bete, dass seine neuesten Schlechtigkeiten (bald) vergangen sein mögen. Geschehen ist dies vor Geistlichen, Laien und den Vielen, deren Namen hier geschrieben stehen: Anno, Erzbischof von Köln, Propst Eberhard, Dekan Megezo, Wilhelm, Hizzo, Helmrich, Hermann, Svevelin, Brunger, Eberwin, Fridecho, Kleriker; ferner Vogt Adolf, Adalbero, Milo, Aldom, Salecho und viele andere, die dieses gehört und gesehen haben und deren Namen im Buch des Lebens geschrieben stehen. Amen.“ 10 Vgl. Michael Buhlmann: Düsseldorf-Gerresheim – Stift Gerresheim, in: Nordrheinisches Klosterbuch. Lexikon der Stifte und Klöster bis 1815. Teil 2: Düsseldorf bis Kleve, hg. v. Manfred Groten, Georg Mölich, Gisela Muschiol u. Joachim Oepen (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 37,2), Siegburg 2012, S. 111–125. 11 Gerresheimer Evangeliar, fol. 210v: „Ista d(e)o vovit ac mox pia Hidda patravit ac simul Yppolito meritis sup(er) aethera divo.“ 12 Rheinisches Urkundenbuch (wie Anm. 5), Bd. 2, Nr. 184.

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Mithilfe der Zeugenreihe lässt sich die Schenkung Theophanus zeitlich recht gut einordnen. Im Jahr 1056 trat nämlich der an der Spitze der Zeugenreihe genannte Kölner Erzbischof Anno II. (amt. 1056–1075) sein Pontifikat an.13 Theophanu (amt. 1039–1058) starb vermutlich zwei Jahre später,14 so dass die Schenkung zwischen 1056 und 1058 erfolgt sein dürfte. Die Schenkungsnotiz im Gerresheimer Evangeliar hat in der historischen Forschung bislang relativ wenig Beachtung gefunden. Kurz erwähnt und inhaltlich zusammengefasst wurde sie zwar schon 1954 von Hugo Weidenhaupt,15 doch ist es dabei im Wesentlichen geblieben, obwohl sie inzwischen seit gut zwanzig Jahren als moderne Edition im Rheinischen Urkundenbuch zugänglich ist.16 In jüngerer Zeit zog sie eigentlich nur Klaus Gereon Beuckers mit Blick auf die Stiftungen der beiden Ezzonen-Schwestern Theophanu und Ida heran, um mit ihrer Hilfe Kriterien zur Datierung der Stiftungen zu entwickeln.17 Danach erwähnte sie – soweit zu sehen ist – explizit nur noch Torsten Fremer in seiner Dissertation zu Theophanu und zum Stift Essen. Über frühere Befunde gelangte Fremer allerdings nicht hinaus; auch sprach er die Schenkung nur beiläufig an, ohne sie weiter zu bewerten oder in größere historische Zusammenhänge einzuordnen.18 Unbeachtet ließ die Notiz Caroline Horch, die zuletzt das so genannte Testament Theophanus untersucht hat, aber trotz einer dort enthaltenen Gerresheim-Passage den Schenkungseintrag im Gerresheimer Evangeliar nicht hinzuzog.19 Ähnliches gilt auch für Thomas Schilp, der sich unlängst mit der Kleidung von Sanctimonialen auseinandergesetzt hat und bei seinen Überlegungen vom Essener Frauenstift der ottonisch-salischen Zeit ausging. Auch bei ihm fand die Schenkungsnotiz mit ihrem Bezug zur Kleidung der Gerresheimer Kanonikerinnen keine Berücksichtigung.20 13 Vgl. auch Friedrich Wilhelm Oediger: Geschichte des Erzbistums Köln, Bd. 1. Das Bistum Köln von den Anfängen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, Köln 1972, S. 114–128. 14 Vgl. Walther Zimmermann: Das Münster zu Essen (Die Kunstdenkmäler des Rheinlandes, Bd. 3), Essen 1956, S. 52. 15 Vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 6). 16 Vgl. oben Anm. 12. – Bemerkungen zum Gerresheimer Nachtrag auch bei Michael Buhlmann: Die (Essener und) Gerresheimer Äbtissin Theophanu, insb. S. 12 f. http://www.michael-buhlmann.de/ PDF_Texte/mbhp_bgg02_pdf.pdf (letzter Zugriff: 18.01.2016). 17 Klaus Gereon Beuckers: Die Ezzonen und ihre Stiftungen. Eine Untersuchung zur Stiftungstätigkeit im 11. Jahrhundert (Kunstgeschichte, Bd. 42), Münster 1993, S. 164–168. 18 Torsten Fremer: Äbtissin Theophanu. Gedächtnis und Individualität in ottonisch-salischer Zeit, Essen 2002, S. 122 f. 19 Caroline Horch: ... pro commemoratione animae meae distribuenda ... Die Memorial-Urkunde der Äbtissin Theophanu, in: Pro remedio et salute anime peragemus. Totengedenken am Essener Frauenstift im Mittelalter, hg. v. Thomas Schilp (Forschungen zum Essener Frauenstift, Bd. 6), Essen 2008, S. 191–212. 20 Thomas Schilp: Kleidung aus Seide in Frauengemeinschaften? Spannungsfelder zwischen Norm und Wirklichkeit, in: Seide im früh- und hochmittelalterlichen Frauenstift. Besitz – Bedeutung – Umnutzung, hg. v. Thomas Schilp u. Annemarie Stauffer (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 11), Essen 2013, S. 49–99.

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Obwohl kaum größere Überraschungen oder grundstürzende neue Erkenntnisse zu erwarten sind, erscheint es vor diesem Hintergrund gerechtfertigt, den Gerresheimer Schenkungseintrag aus historischer Perspektive nochmals genauer in den Blick zu nehmen und sich inhaltlich mit ihm auseinanderzusetzen. Geschehen soll dies in mehreren Schritten, und zwar, indem zunächst die historischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Schenkung zur Sprache kommen, das heißt, zu fragen ist zunächst nach der Situation des Gerresheimer Konvents um die Mitte des 11. Jahrhunderts. Im Anschluss daran ist das Verhältnis von Schenkerin und Beschenkten zu untersuchen, wobei insbesondere das so genannte Testament Theophanus eine wichtige Rolle spielen wird. Weiterhin sind sodann Kleidung und Fastenspeise sowie das Fastenmahl der Gerresheimer Sanctimonialen in den Blick zu nehmen, um schließlich diese Aspekte in größere historische Zusammenhänge einzuordnen, die Schenkung als solche zu erörtern und historisch zu bewerten.

Historische Voraussetzungen und Rahmenbedingungen Den Abbatiat der Theophanu Mitte des 11. Jahrhunderts wird man im Vergleich zur Situation des Gerresheimer Konvents rund einhundert Jahre zuvor als echte Blütezeit ansprechen können. Um 922 war die Frauengemeinschaft unter Äbtissin Lantswind vor den Ungarn, die das monasterium niedergebrannt hatten, nach Köln geflohen. Dort kamen die Gerresheimer Sanctimonialen außerhalb der Stadtmauern im Kloster der 11.000 Jungfrauen (später: St. Ursula) unter und lassen sich in Gerresheim erst wieder einige Jahrzehnte später nachweisen.21 Wenn erst im Jahr 970 die Weihe eines neuen Gotteshauses („templum, in quo divina agerent solempnia“) durch den Kölner Erzbischof Gero erfolgte und im gleichen Zusammenhang von Gerresheim als einem „monasterium ex antiquo noviter reaedificatum“ die Rede ist22, dann hat es den Anschein, als habe der Konvent fast ein halbes Jahrhundert im Exil zugebracht. In die gleiche Richtung weist auch eine im Jahr 977 erfolgte Zollbestätigung durch Kaiser Otto II. Wie es in dem entsprechenden Privileg heißt, gingen die Zolleinnahmen der Sanctimonialen auf eine Tradition der kaiserlichen Vorfahren zurück, die damit die Absicht verfolgten, den Lebensunterhalt der Frauengemeinschaft („ad victualia monialium“) zu sichern.23 Nach Otto II. konfirmierte mit fast identischem Wortlaut dann nochmals Heinrich II. die Zolleinnahmen im Jahr 1019.24 21 Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter. 1. Band: 313–1099, bearb. v. Friedrich Wilhelm Oediger, Bonn 1954/61 (ND Düsseldorf 1978), Nr. 311. 22 Rheinisches Urkundenbuch (wie Anm. 5), Bd. 2, Nr. 181. 23 Rheinisches Urkundenbuch (wie Anm. 5), Bd. 2, Nr. 182. 24 Rheinisches Urkundenbuch (wie Anm. 5), Bd. 2, Nr. 183.

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Als sich der Konvent Anfang des 10. Jahrhunderts nach Köln zurückzog, begab er sich vollständig in die Obhut des Kölner Erzbischofs („sub alas pastoris sanctae Coloniensis ecclesiae“), der damit die Funktion des Schutz- und Kirchenherrn übernahm.25 Als solcher bestätigte Erzbischof Hermann I. (amt. 889–924) den Stiftsbesitz, den er selbst noch vermehrte. Ferner gestand er dem Konvent das Recht zu, vorbehaltlich der erzbischöflichen Zustimmung die Äbtissin frei wählen zu dürfen, wobei er ausdrücklich versprach, dem Konvent nicht gegen dessen Willen eine seiner Verwandten aufzunötigen.26 Auch die Nachfolger Hermanns I. setzten sich weiter für den Gerresheimer Konvent ein. So etwa Wichfrid (amt. 924–953), der im Jahr 950 an die Kirche der 11.000 Jungfrauen und an die Kirche des heiligen Hippolyt Güter in Hubbelrath übertrug.27 Darüber hinaus tradierte auch Gero von Köln (amt. 969–976) dem Stift weitere Liegenschaften,28 während die Erzbischöfe Warin (amt. 976–985) und Heribert (amt. 999–1021) im Zusammenhang mit den Privilegienbestätigungen Ottos II. und Heinrichs II. als Intervenienten begegnen.29 An der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert dürfte der Gerresheimer Konvent also wieder einigermaßen intakt gewesen sein. Zu verdanken hatte er dies nicht zuletzt den Kölner Metropoliten, die sich für die Sanctimonialen beim Kaiser einsetzten und der Frauengemeinschaft aus eigenen Mitteln materiell wieder auf die Beine halfen. Rekonstruieren lässt sich diese Entwicklung freilich nur schemenhaft anhand des spärlich erhalten Quellenmaterials, das für die folgenden Jahrzehnte dann aber fast völlig fehlt. Heranziehen lässt sich einzig das Gerresheimer Necrolog. Zwar ist dieses erst im 14. Jahrhundert angelegt worden, doch enthält es auch Einträge, die vermutlich aus einer älteren Vorlage übernommen worden sind. Von Interesse ist zunächst, dass die Kölner Erzbischöfe des 10. und 11. Jahrhunderts im Necrolog (des 14. Jahrhunderts) nicht verzeichnet wurden, wenn man von der Ausnahme Erzbischof Wichfrids einmal absieht. Unklar bleibt somit, ob die Erzbischöfe zum Tag ihres Todes im älteren Gerresheimer Necrolog verzeichnet waren und die Gerresheimer Sanctimonialen der Kölner Metropoliten in Messe und Gebet gedachten. Sicher nachzuweisen sind hingegen die beiden Essener Äbtissinnen Mathilde (amt. 973–1011) und Theophanu (amt. 1039–1058) sowie Heilwig, die Schwester Theophanus, die Äbtissin von Neuß war.30 Im Gerresheimer Memorienverzeichnis 25 Vgl. hierzu und zum Folgenden Josef Semmler: Die Klosterreform von Siegburg. Ihre Ausbreitung und ihr Reformprogramm im 11. und 12. Jahrhundert (Rheinisches Archiv, Bd. 53), Bonn 1959, S. 183 f. 26 Regesten der Erzbischöfe von Köln (wie Anm. 21), Bd. 1, Nr. 311. 27 Regesten der Erzbischöfe von Köln (wie Anm. 21), Bd. 1, Nr. 343. 28 Regesten der Erzbischöfe von Köln (wie Anm. 21), Bd. 1, Nr. 501. 29 Vgl. hierzu oben Anm. 23 und Anm. 24. 30 Nekrologien des Stiftes Gerresheim und des Klosters Kentrop, in: Archiv für die Geschichte des Niederrheins 6 (1868), S. 85–110, hier S. 90–102.

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wird ferner eine gewisse Ida genannt, die mit einiger Wahrscheinlichkeit mit Äbtissin Ida von St. Maria im Kapitol (amt. um 1040–1060), einer weiteren Schwester Theophanus, zu identifizieren ist.31 In der Memoria des Gerresheimer Konvents sind also im Gegensatz zu den Kölner Erzbischöfen zwei Essener Äbtissinnen und drei Töchter des Pfalzgrafen Ezzo auszumachen.32 Hinzu kommt, dass Ida von einem Teil der Forschung als Auftraggeberin des Gerresheimer Evangeliars in Betracht gezogen wird.33 Andere Überlegungen beziehen auch die quellenmäßig nur schwer zu fassende Äbtissin gleichen Namens ein,34 die um 970 der Frauengemeinschaft von Essen vorstand und den etwa zeitgleich anzusetzenden Wiederaufbau des Stifts in Gerresheim gefördert haben könnte.35 Aus historischer Perspektive ist jedoch die Anlage der Handschrift in der Zeit Theophanus oder etwas früher gut denkbar,36 weisen doch neben der Kölner Malerschule des Evangeliars und der Schwester Theophanus als mögliche Stifterin der Handschrift noch weitere Spuren dieser Zeit in Richtung Köln. Dreh- und Angelpunkt sind in diesem Zusammenhang die Ezzonen. Stellt man nämlich in Rechnung, dass Gerresheim seit dem frühen 10. Jahrhundert als Kölner Eigenkirche betrachtet werden muss, dann war um die Mitte des 11. Jahrhunderts Erzbischof Hermann II. von Köln (amt. 1036–1056), der Bruder der in der Gerresheimer Memorialüberlieferung anzutreffenden Ezzonenschwestern Theophanu, Ida und Heilwig, Kirchenherr des Stifts St. Hippolyt. Zu den mächtigsten Adelsfamilien des Reiches waren die Ezzonen bekanntlich aufgestiegen, als Pfalzgraf Ezzo (verst. 1034) Mathilde, die Tochter Kaiser Ottos II., mit aus31 Arnold Dresen: Memorien des Stifts Gerreseheim, in: Düsseldorfer Jahrbuch 34 (1928), S. 155–179, hier S. 163. 32 Zu den Personen der ezzonischen Familie vgl. zusammenfassend Beuckers 1993 (wie Anm. 17), insb. S. 17–47. 33 Vgl. Weilandt 1987 (wie Anm. 1), S. 54–60. – Beuckers 1993 (wie Anm. 17), S. 168 hielt dies ebenfalls für denkbar. – Vgl. zuletzt noch einmal Gerhard Weilandt: Der Hidta-Codex und seine Stifterin Ida von St. Maria im Kapitol. Eine Wiederbegegnung nach einem Vierteljahrhundert, in: Äbtissin Hitda und der Hitda-Codex (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1640). Forschungen zu einem Hauptwerk der ottonischen Kölner Buchmalerei, hg. v. Klaus Gereon Beuckers, Darmstadt 2013, S. 57–74, zum Gerresheimer Codex S. 67, 70 f. u. 73. 34 Vgl. zusammenfassend Klaus Gereon Beuckers: Die Stiftungen der Ezzonen. Manifestationen politischer und geistlicher Stellung unter den späten Ottonen und frühen Saliern in Lothringen, in: Verortete Herrschaft. Königspfalzen, Adelsburgen und Herrschaftsbildung in Niederlothringen während des frühen und hohen Mittelalters, hg. v. Jens Lieven, Bert Thissen und Ronald Wientjes (Schriften der Heresbach-Stiftung, Bd. 16), Bielefeld 2014, S. 255–288, hier S. 277 f. 35 Vgl. zu dieser Birgitta Falk: Das Essener Ida-Kreuz, in: Frauen bauen Europa. Internationale Verflechtungen des Frauenstifts Essen (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 9), hg. v. Thomas Schilp, Essen 2011, S. 143–176, hier S. 154–163. 36 Bloch/Schnitzler 1967/70 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 68 datieren den Codex „aus stilistischen Gründen“ auf die Zeit „um 1020 –1040“.

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drücklicher Zustimmung der 991 verstorbenen Kaiserin-Witwe („matre volente“) geehelicht hatte37 und fortan als Sachwalter ottonischer Interessen in Lothringen auftrat,38 dessen Verbleib beim ostfränkisch-deutschen Reich gegen Ende des 10.  Jahrhunderts noch keineswegs gesichert war.39 Nach dem Tod Ottos III. stand Ezzo als „secundus in regno“ 40 zunächst nicht auf der Seite Heinrichs II.,41 der sich teils gewaltsam gegen seine Konkurrenten um die Königsherrschaft durchgesetzt hatte.42 Später söhnte sich der Pfalzgraf aber mit dem neuen König aus.43 Im Gegenzug übertrug dieser ihm am Niederrhein die bedeutenden Reichsgutkomplexe Duisburg und Kaiserswerth,44 die der Pfalzgraf nach Ausweis der Fundatio monasterii Brunwilarensis bis dahin „a maioribus suis“ besessen hatte, zu dauerndem freieigenem Erbgut für sich und die Seinen („sibi suisque liberis perpetua haereditate possidenda“).45 Ezzos Sohn Otto, der nach dem Tod seines Vaters die Pfalzgrafschaft übernommen hatte, übertrug sie jedoch 1045 wieder zurück an das Reich, um sich den schwäbischen Dukat zu sichern, an dessen Übertragung der Herrscher allem Anschein nach Bedingungen geknüpft hatte.46 Darüber hinaus waren die Ezzonen nördlich von Duisburg durch Ezzos Sohn Ludolf (verst. 1031), der mit der Tochter des Herrn von Zutphen vermählt war, zeitweise auch im Hamaland präsent.47 Im Süden nahm die bedeutendste Position mit Hermann der 37 Fundatio Monasterii Brunwilarensis, hg. v. Hermann Pabst, in: Neues Archiv 12 (1874), S. 147–192, hier S. 159 (cap. 6). 38 Vgl. hierzu im Einzelnen Beuckers 2014 (wie Anm. 34), S. 258 ff. 39 Vgl. Gerd Althoff: Die Rheinlande im 10. Jahrhundert – eine königsferne Landschaft?, in: Die Rheinlande und das Reich (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Vorträge, Bd. 34), hg. v. Manfred Groten, Düsseldorf 2007, S. 27–43. 40 Fundatio Monasterii Brunwilarensis (wie Anm. 37), S. 162 (cap. 10). 41 Vgl. hierzu Gunther Wolf: Die Heilige Lanze, Erzbischof Heribert von Köln und der „secundus in regno“ Pfalzgraf Ezzo, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 104 (1996), S. 23–27. 42 Vgl. hierzu zusammenfassend Stefan Weinfurter: Heinrich  II. Herrscher am Ende der Zeiten, Regensburg 2002 (OA 1999), S. 36–58. 43 Fundatio monasterii Brunwilarensis (wie Anm. 37), S. 167 f. (cap. 13). 44 Vgl. Urusla Lewald: Die Ezzonen. Das Schicksal eines rheinischen Adelsgeschlechts, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 43 (1979), S. 120–168, hier S. 128. – Hellmuth Kluger: Propter Claritatem Generis. Genealogisches zur Familie der Ezzonen, in: Köln. Stadt und Bistum in Kirche und Reich des Mittelalters. Festschrift für Odilo Engels zum 65. Geburtstag, hg. v. Hanna Vollrath und Stefan Weinfurter (Kölner Historische Abhandlungen, Bd. 39), Köln 1993, S. 223–258. 45 Fundatio Monasterii Brunwilarensis (wie Anm. 37), S. 167 f. (cap. 13). – Vgl. hierzu auch Beuckers 2014 (wie Anm. 34), S. 263, der annimmt, dass „die Reichsgüter in Kaiserswerth und Duisburg [...] Ezzo in den 980/990er Jahren verliehen worden sein [dürften].“ Die These erscheint durchaus erwägenswert, bleibt aber ohne Quellenbeleg; auch widerspricht sie der Fundatio, welche bereits die Vorfahren Ezzos (maiores) im Besitz des Reichsguts sein lässt. 46 Fundatio Monasterii Brunwilarensis (wie Anm. 37), S. 180 (cap. 27). 47 Vgl. Erich Wisplinghoff: Beiträge zur Geschichte Emmerichs, Eltens und der Herren von Zutphen im 11. Jahrhundert, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 50 (1986), S. 59–79.

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jüngste Sohn Ezzos ein. 1036 anvancierte der Protegé Konrads II. vom Kölner Dompropst zum Erzbischof, doch erst unter Heinrich III. kam seine Rolle als „vornehmster aller deutschen Bischöfe zur vollen Entfaltung“, indem er dem gleichnamigen Sohn und Nachfolger des Kaisers 1051 die Taufe spendete, ihn 1054 zum König salbte beziehungsweise krönte und der Kölner Kirche das Krönungsrecht durch ein Privileg des Papstes (vor den Erzbischöfen von Trier und Mainz) bestätigen ließ.48 In der ersten Häfte des 11.  Jahrhunderts gehörte das Frauenstift Gerresheim, das jeweils nur wenige Kilometer von Duisburg und Kaiserswerth entfernt lag, unzweifelhalft zur Interessensphäre der Ezzonen, die ab 1036 mit Erzbischof Hermann II. von Köln zugleich auch den Kirchenherrn der geistlichen Frauengemeinschaft stellten. Mit einiger Wahrscheinlichkeit lässt sich das Stift somit als ein Baustein des ezzonischen Herrschaftsgefüges im Rheinland ansprechen, das sich nicht zuletzt auf die Besitz- und Herrschaftsrechte der großen geistlichen Frauengemeinschaften wie Vilich, Dietkirchen, Neuss und Essen stützte.49 Aus diesem Grund ist es sicher kein Zufall, wenn zur Zeit des Pontifikats Hermanns  II. mit Theophanu eine Ezzonin den Gerresheimer Konvent leitete, zumal sie mit ihrem Bruder in bestem Einvernehmen stand, wie etwa die Intervention Hermanns bei Heinrich III. zugunsten der Verleihung eines Marktprivilegs für Essen50 und die von ihm auf Wunsch seiner Schwester vollzogene Weihe der Essener Krypta zu erkennen geben.51

48 Vgl. Rudolf Schieffer: Erzbischöfe und Bischofskirche von Köln, in: Die Salier und das Reich, Bd. 2: Die Reichskirche in der Salierzeit, hg. v. Stefan Weinfurter, Sigmaringen 1992, S. 5–8, Zitat: S. 5. – Vgl. auch Klaus Gereon Beuckers: Die päpstliche Privilegienbestätigung von 1052 und die Stiftungstätigkeit Erzbischof Hermanns II. im Kölner Dombereich, in: Für irdischen Ruhm und himmlischen Lohn. Stifter und Auftraggeber in der mittelalterlichen Kunst [Festschrift für Beat Brenk], hg. v. Hans-Rudolf Meier, Carola Jäggi und Philippe Büttner, Berlin 1995, S. 91–107. – Zu Hermann II. vgl. zuletzt Beuckers 2014 (wie Anm. 34), S. 278–283 mit weiterer Literatur. 49 Vgl. Helga Giersiepen: Das Kanonissenstift Vilich von seiner Gründung bis zum Ende des 15. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, Bd. 53), Bonn 1993, S. 50–52 u. S. 166. – Zuletzt zusammenfassend Beuckers 2014 (wie Anm. 34), S. 269–272 mit weiterer Literatur. 50 Rheinisches Urkundenbuch (wie Anm. 5), Bd. 2, Nr. 174. – Vgl. dazu demnächst auch Jens Lieven: Interventionen für das Essener Frauenstift in den Herrscherurkunden der Ottonen- und Salierzeit, in: Aus der Nähe betrachtet. Regionale Vernetzungen des Frauenstifts Essen in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Birgitta Falk u. Jens Lieven (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 14), Essen 2016 [im Druck]. 51 Die Inschriften der Stadt Essen, bearb. v. Sonja Hermann, Wiesbaden 2011, Nr. 13, S. 29–31. – Vgl. dazu auch Klaus Lange: Die Krypta der Essener Stiftskirche. Heuristische Überlegungen zu ihrer architektonisch-liturgischen Konzeption, in: Essen und die sächsischen Frauenstifte im Frühmittelalter, hg. v. Jan Gerchow u. Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 2), Essen 2003, S. 161–183, hier S. 162.  – sowie Beuckers 1993 (wie Anm.  17), S. 112 f.  – Fremer 2002 (wie Anm. 18), S. 84–89.

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Verhältnis von Schenkerin und Beschenkten Mitte der vierziger Jahre des 11. Jahrhunderts zeichnet sich freilich eine deutliche, in der Ezzonen-Forschung schon seit geraumer Zeit erkannte Zäsur ab. Bereits angesprochen wurde die Rückgabe der Reichsgutkomplexe um Duisburg und Kaiserswerth im Jahr 1045, die im Zusammenhang mit der Erhebung Pfalzgraf Ottos zum Herzog von Schwaben stand. Das frei gewordene Amt des lothringischen Pfalzgrafen vergab Heinrich III. an eine Seitenlinie der Ezzonen, die allerdings den Suprematieansprüchen der Nachfolger Hermanns II. auf dem Kölner Erzstuhl kaum etwas entgegensetzen konnte: Die Dominanz der Ezzonen vor anderen Adelsgeschlechtern im Rheinland geriet mehr und mehr ins Wanken.52 Hinzu kam, dass Herzog Otto von Schwaben bereits im Jahr 1047 starb. Die Kontinuität kaiserlichen Geblüts, die dieser als einziger im Laienstand verbliebene männliche Nachkomme Ezzos und Mathildes verkörperte, brach damit ab. Was blieb, waren die geistlichen Ämter und die damit verbundenen Möglichkeiten der Ezzonen, das eigene Seelenheil und das der Verwandten mithilfe frommer Stiftungen und Schenkungen zu sichern und damit zugleich das Wohl der Gemeinschaften zu verbinden, denen sie vorstanden. Zuletzt wurden insbesondere die Vorkehrungen Theophanus aufgearbeitet, die sie in Essen schon zu Lebzeiten für das Heil ihrer Seele im Jenseits traf. Im Mittelpunkt stand dabei ein Ensemble aus Prachtevangeliar, Vortragekreuz und Nagelreliquiar, das sie für die Osterliturgie in der Essener Stiftskirche anfertigen ließ.53 Die Maßstäbe, was dabei dem Amt der Essener Äbtissin als angemessen erscheinen konnte,54 waren jedoch schon eine 52 Vgl. hierzu ausführlich Jens Lieven: Adel, Herrschaft und Memoria. Studien zur Erinnerungskultur der Grafen von Kleve und Geldern im Hochmittelalter (1020 bis 1259) (Schriften der Heresbach Stiftung, Bd. 15), Bielefeld 2008, S. 28–37. 53 Vgl. Der Essener Domschatz, hg. v. Birgitta Falk, Essen 2009, Kat. Nr. 13 (Theophanu-Kreuz) u. 14 (Kreuznagelreliquiar) (Klaus Gereon Beuckers) sowie Kat. Nr. 15 (Buchdeckel Theophanu-Evangeliar) (Anna Pawlik). – Klaus Gereon Beuckers: Liturgische Ensembles in hochmittelalterlichen Kirchenschätzen. Bemerkungen anhand der Essener Ostergrabliturgie und ihrer Schatzstücke, in: „... das Heilige sichtbar machen“. Domschätze in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, hg. v. Ulrike Wendland (Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Arbeitsbericht  9), Regensburg 2010, S. 83–106. 54 Die Stiftungen Theophanus sind bislang unter diesem Gesichtspunkt nur in Ansätzen untersucht worden. Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Schatz und Stiftungen. Allgemeine Bemerkungen zu Stiftungsmotivationen im Früh- und Hochmittelalter, in: Der Gandersheimer Schatz im Vergleich. Zur Rekonstruktion und Präsentation von Kirchenschätzen, hg. v. Hedwig Röckelein (Studien zum Frauenstift Gandersheim und seinen Eigenklöstern, Bd. 4), Regensburg 2013, S. 21–34, insb. S. 31 f. – Dass es sich lohnen könnte, an diesem Punkt erneut anzusetzen und ihn vertiefend in den Blick zu nehmen, zeigen die Beobachtungen zur Stiftungsmotivation der Bischöfe in ottonisch-salischer Zeit von Ludger

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Generation zuvor unter Äbtissin Mathilde, einer Enkeltochter Kaiser Ottos I., gesetzt worden, als diese nach 982 das Otto-Mathilden-Kreuz in Auftrag gab und damit gewissermaßen den Grundstock der „so großartigen und kostbaren Werke der Goldschmiedekunst im Essener Kirchenschatz“ legte.55 Auf diese gut dokumentierten Stücke braucht hier im Einzelen nicht eingegangen zu werden. Hingewiesen sei lediglich auf die Inschrift des Theophanu-Kreuzes: „EDITA REGALE GENERE NOBILIS ABBATISSA THEOPHANU HOC SIGNUM DEDIT“ „Dieses Zeichen gab die edle Äbtissin Theophanu, die aus königlichem Gechlecht stammte“

Die Inschrift macht deutlich, dass Theophanu sich ihrer prominenten Abkunft, die zweifelsohne als wichtige Voraussetzung für ihr Amt gelten kann, durchaus bewusst war. Sichtbar wird das Selbstverständnis der Äbtissin auch in ihrer Grabinschrift, die sie als „Tochter Mathildes, die eine Tochter Ottos II. war“, bezeichnet,56 während ihr Vater, Pfalzgraf Ezzo, mit keiner Silbe erwähnt wird. Als Äbtissin von Essen stand Theophanu also in ottonischer Tradition und machte sich diese auch zu eigen, indem sie sich an den Stiftungen und Schenkungen Mathildes orientierte, wie etwa – bei allen Unterschieden (nicht nur) im Detail – schon die äußere, ausgesprochen aufwendige Beschaffenheit der von beiden Äbtissinnen geschenkten Vortragekreuze  – des Otto-Mathilden und des Jüngeren Mathildenkreuzes  – erkennen lässt.57 Sind Schenkungen solcher und ähnlicher Pretiosen, die für den Gebrauch in der Liturgie bestimmt waren, unter dem Begriff der Werkheiligkeit zu subsumieren, so gehören andere Zeugnisse eher in den Bereich der liturgischen Memoria und des Gebetsgedenkens für Verstorbene. Als prominentestes Beispiel kann in Zusammenhang mit Theophanu sicher ihr so genanntes Testament gelten. Es hebt an mit den Sätzen:

Körntgen: Königsherrschaft und Gottes Gnade. Zu Kontext und Funktion sakraler Vorstellungen in Historiographie und Bildzeugnissen der ottonisch-frühsalischen Zeit (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters, Bd. 2), Berlin 2001, S. 411–434. 55 Alfred Pothmann: Der Essener Kirchenschatz aus der Frühzeit der Stiftsgeschichte, in: Herrschaft, Bildung und Gebet. Gründung und Anfänge des Frauenstifts Essen, hg. v. Günter Berghaus, Thomas Schilp u. Michael Schlagheck, Essen 2000, S. 135. 56 Hermann 2011 (wie Anm. 51), Nr. 21, S. 41 f.: „III. NON(N). MART(II). OBIIT. THEOPHANV. ABBATISA. FILIA. MATHILDIS. FILIE. OTTONIS. S(E)C(UN)DI. IMPERATOR(IS).“ 57 Vgl. Falk 2009 (wie Anm. 53), Nr. 6 u. 16 (Klaus Gereon Beuckers). – Klaus Gereon Beuckers: Bildnisse des 10. und 11. Jahrhunderts als rhetorische Konstruktion memorialer Funktion. Bemerkungen zum Widmungsbild des Svanhild-Evangeliars und den Essener Stifteremails, in: Netzwerke der Memoria [Festschrift für Thomas Schilp], hg. v. Jens Lieven, Michael Schlagheck u. Barbara Welzel, Essen 2013, S. 85–106, insb. S. 101–106.

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„Weil es jedermann unbekannt und fremd ist, was künftig sein wird oder wann der Tag naht, sollten wir in Gottes Namen wachsam sein und die Frucht der uns anvertrauten Gaben mehren, damit wir nicht bis er selbst oder sein Tag kommen werden, wegen der Sünde und des Müßiggangs oder des Ungehorsams verdammt werden. Geschrieben steht nämlich: Der Tag des Herrn kommt so wie der Dieb in der Nacht“.58 Ihren eigenen Worten zufolge traf also die Äbtissin die im Anschluss an die einleitenden Sätze einzeln aufgeführten Vorkehrungen in Erwartung ihres Todes und des Jüngsten Gerichts. Unter dem Strich laufen sie hinaus auf Almosen für Arme, Fremde und Pilger, auf Geldzahlungen für Priester, die für das Seelenheil der Verstorbenen Messen lesen sollten sowie auf andere Gebetsleistungen im Kontext des liturgischen Totengedenkens. Erbracht werden sollten die einzelnen Leistungen bis zum ersten Jahrtag ihres Todes nach genau festgelegten Zeitintervallen, die minutiös vorgegeben werden.59 Abschließend mahnt die Ausstellerin eindringlich: „Wachet bitte, Brüder und Schwestern, und euer Gebet soll mir, die ich nicht tot sondern schlafende bin, helfen. Bedenkt gewissenhaft, wie willkommen und wie teuer es für euch ist, wenn irgendjemand für euch betet, wenn dasselbe Schicksal euch ereilen wird.“ 60 Damit spricht Theophanu ihren Konvent in Essen an,61 wo ihre Memoria in aufwendiger Weise begangen wurde.62 In einem anscheinend unabhängig davon, letztlich aber zeitgleichen verfassten Zusatz auf der Rückseite der Urkunde werden dann noch Zuwendungen an Rellinghausen und Gerresheim genannt. Außerdem wird darin bestimmt, wie diese zu verwenden seien: So soll etwa der Gerresheimer Konvent innerhalb des ersten Jahres nach Theophanus Tod am dreißigsten Tag eines jeden Monats 34 Denare erhalten, am siebten Tag eines jeden Monats fünf Denare sowie weitere 34 Denare zum Jahresgedächtnis. Zum Entzünden von Kerzen erhält die Gerresheimer Frauengemeinschaft ferner einen Denar. Addiert man alle im ‚Testament‘ genannten Beträge für Messstiftungen, Almosen, Ausgaben für die Beleuchtung usw., so kommt man auf die gewaltige Summe von 5262 Solidi, für die eigens ein Schrein mit einer Vielzahl von Schubladen und Fächern bestimmt wurde, um dort die Einzelbeträge für ihren jeweils bestimmten Zweck zu hinterlegen.63 58 Rheinisches Urkundenbuch (wie Anm. 5), Bd. 2, Nr. 176. 59 Vgl. Fremer 2002 (wie Anm. 18), S. 115–122 sowie zuletzt Horch 2008 (wie Anm. 19), S. 203– 212. 60 Rheinisches Urkundenbuch (wie Anm. 5), Bd. 2, Nr. 176. 61 Vgl. Horch 2008 (wie Anm. 19), S. 211. 62 Der Liber Ordinarius der Essener Stiftskirche, hg. v. Franz Arens, Paderborn 1908, S. 227: „Prima feria quinta mensis Martis, Theophanu abbatisse quatuor misse et commendatio cum duodecim luminibus et duodecim denariis, canonicis presbiteris in officiatione presentibus. Et ibidem commendatio legetur. Panis et cerevisia dabitur sub tilia officiatis omnibus. Ista fecit multa bona ecclesia.“ 63 Vgl. hierzu die Auflistung bei Fremer 2002 (wie Anm. 18), S. 120–122.

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Kleidung und Mahlstiftung Dagegen nehmen sich Theophanus Aufwendungen, die in der Gerresheimer Schenkungsnotiz genannt werden, nachgerade bescheiden aus, obwohl sie für sich genommen keineswegs gering ausgefallen sein dürften. Immerhin stockt die Äbtissin das Budget der Gerresheimer Kanonikerinnen für Bekleidung um zwei solidi auf, womit sie nicht weniger als ein Viertel des neuen Gesamtbudgets trägt. Darüber hinaus verschafft sie den Gerresheimer Sanctimonialen während der Fastenzeit allsonntäglich eine zusätzliche Portion Fisch. Anzunehmen ist, dass diese Leistungen – ähnlich wie die Verfügungen im so genannten Testament der Theophanu – von Seiten des Konvents mit einer Gegengabe in Form der Gebetshilfe abgegolten werden sollten. Als konkretes Beispiel, in dem genau so verfahren wurde, sei das Mahl der Imeza genannt, welches im zwischen 1044 und 1046 angelegten Xantener Necrolog verzeichnet ist und das der Stifterin über Jahrhunderte hinweg das liturgische Memento im Kreis der Xantener Kanoniker sicherte.64 Im Fall Gerresheims kommt freilich noch ein weiterer Aspekt hinzu: Anders als beim Mahl der Imeza handelt es sich nämlich bei der Stiftung Theophanus um die Aufwertung eines Fastenmahls. Allgemein stehen hinter dem Fasten für eine gewisse Zeit – für Stunden, Tage, Monate oder Jahre – Beschränkungen oder gänzliche Versagung von Speise und Trank.65 Dem Fasten kommt dabei eine vielfältige Bedeutung zu: Es kann begegnen als Bußübung, Sühneleistung, Bittstellung, Opferersatz oder auch als Vorbereitungsritus für kultische Handlungen. Bekannt ist zudem das Trauerfasten bei Todesfällen. Auch als Form der Buße hatte das Fasten seinen festen Platz im Leben der Kirche. Eine besondere Form des Bußfastens stellt schließlich das stellvertretende Fasten dar, bei dem das Fasten eines Büßers durch Mit- oder stellvertretendes Fasten unterstützt wurde.66 Die Parallelen vor allem des zuletzt genannten Bußfastens zur stellvertretenden Fürbitte und Sühneleistung im Kontext memorialer Gebetshilfe sind offenkundig. Fürbitte und Gebet halfen nach mittelalterlicher Auffassung den Verstorbenen, deren Seelen im Jenseits zwar weiterlebten, dort aber nach Auffassung der Theologen nicht mehr in der Lage waren, selbst Buße zu tun, um ihre Leuterungsqualen im Fegefeuer zu verkürzen und am Tag des jüngsten Gerichts in das Paradies einzugehen. Insofern waren die Verstorbenen angewiesen auf das Gebetsgedenken und andere stellvertretende Bußleistungen (wie das Fasten) – sie waren angewiesen auf die Solidargemeinschaft mit den Lebenden, wie es Jacques Le Goff treffend formuliert hat.67 64 Vgl. Caroline Horch: Mahl und Memoria mittelalterlicher Stiftungen (Xantener Vorträge zur Geschichte des Niederrheins, Bd. 50), Duisburg 2008. 65 Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 572 f. 66 Vgl. Art. Fasten, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 3, Freiburg 2009, Sp. 1187–1190 (Friedrich Diederich, Anselm Grün). 67 Jacques Le Goff: Die Erfindung des Fegefeuers, Stuttgart 1984, S. 22.

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In ähnlicher Weise dürfte es sich mit der Aufstockung des Bekleidungsbudgets verhalten haben, zumal „Textilien [...] zum kostbarsten Inventar“ gehörten, „das eine Kommunität um 1000 besitzen konnte.“ 68 Exemplarisch sei auf Kaiserin Kunigunde verwiesen, die sich nach dem Tod Heinrichs II. im Jahr 1024 als einfache Sanctimoniale in die von ihr gegründete Frauengemeinschaft Kaufungen zurückzog, wo sie im Jahr 1033 starb. Ausführlich geht die Vita Kunigundes auf ihre Geschenke für die Gemeinschaft ein: Sie nennt unter anderem für den Gottesdienst vor dem Hauptaltar ein Bildnis von Gold mit äußerst kostbaren Steinen, silberne und goldene Kelche, Schüsseln und Krüge sowie schließlich reich verzierte Gewänder, in die Gold(fäden) und wertvolle Gemmen eingewebt waren – „vela et cortinas, cappas auro et gemmis preciosis intextas“.69 Sicher ist zwischen Alltags- und Arbeitskleidung einerseits und Gewändern für das Chorgebet oder für festliche Messen andererseits zu unterscheiden. Man wird also nicht ohne weiteres ausschließlich kostbare, golddurchwirkte Seidenstoffe voraussetzen können, wenn man an die Kleidung der Sanctimonialen im 11. Jahrhundert denkt. Umgekehrt zeigen aber kostbare byzantinische und sogdische Seidengewebe des 8./9. Jahrhunderts aus dem Schrein des heiligen Hippolytus, dass Stoffe dieser Qualität in der Frühgeschichte der Gerresheimer Frauenkommunität durchaus anzutreffen sind.70 Bestätigt und ergänzt wird dieser Befund durch die Vita der Äbtissin Adelheid von Vilich, die für das 11. Jahrhundert zu erkennen gibt, dass in Gemeinschaften, die sich an Essen, Quedlinburg und Gandersheim orientierten, feine und exquisite Kleidung durchaus in Rechnung gestellt werden muss. Nach einer Episode in der 1056 aufgezeichneten Vita sollen die Eltern Adelheids, die den Konvent gegründet und dann an Kaiser Otto III. übertragen hatten,71 ihre Tochter gebeten haben, den Habit zu ändern und ein Leben nach klösterlichen Gepflogenheiten zu beginnen. Die junge Adelheid wollte aber bei den schmucken Kleidern bleiben, die ihrem Status – das heißt dem Leben nach der institutio sanctimonialium – und ihrem bisherigen Leben entsprächen. Gott selbst nämlich wolle keine erzwungenen Dienste und nur das, was das Herz willig darbringe, worauf die Eltern auf die Erfüllung ihres Wunsches verzichteten.72 68 Schilp 2013 (wie Anm. 20), S. 62. 69 Thietmari Merseburgensis episcopi chronicon, hg. v. Robert Holzmann (MGH SS rer. Germ. N.S., Bd. 9), Berlin 1935, S. 467 (lib. VIII, cap. 54). 70 Vgl. Tracy Niepold, Hedwig Röckelein: Frühmittelalterliche Seiden und Authentiken aus St. Ursula in Köln, in: Schilp/Stauffer 2013 (wie Anm. 20), S. 199–231, hier S. 202 f., wobei allerdings nicht ganz auszuschließen ist, dass die Stoffe erst „bei einer späteren Umbettung in diesen Zusammenhang geraten sind.“ (S. 219). 71 Vgl. hierzu Severin Corsten: Megingoz und Gerberga. Gründer des Stifts Vilich, in: Bonner Geschichtsblätter 30 (1978), S. 7–25. – Leta Böhringer: Der Kaiser und die Stiftsdamen. Die Gründung des Frauenstifts Vilich im Spannungsfeld von religiösem Leben und adliger Welt, in: Bonner Geschichtsblätter 53/54 (2004), S. 57–77. 72 Vita Adelheidis Abbatissae Vilicensis auctore Bertha, hg. v. Oswald Holder-Egger (MGH SS 15, 2), Stuttgart 1888, S. 754–763.

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Die Darstellung der Vita, die interessante Einblicke in den Reformdiskurs um die Mitte des 11.  Jahrhunderts gewährt, wird bestätigt durch das Stifteremail des OttoMathilden-Kreuzes. Wie unlängst Thomas Schilp deutlich gemacht hat, trägt Äbtissin Mathilde als Königstochter ebenso wie ihr Bruder Otto neben ihr königsgleiche, repräsentative Kleidung, die von den Zeitgenossen nicht als Widerspruch zu einer sancta monialis – zu einer heiligen Frau – zum geistlichen Amt und zur spirituellen Funktion als Äbtissin gesehen wurde. Im Gegenteil: Das Obergewand Mathildes war für alle sofort als byzantinische Seide und somit auch in Bedeutung und Wert identifizierbar. Auch wenn im Gerresheimer Schenkungseintrag unklar bleibt, was genau unter der vestitura zu verstehen ist, die Theophanu anheben ließ, so wird man angesichts der Vita Adelheids von Vilich und des Stifteremails auf dem Otto-Mathilden-Kreuz nicht ohne Weiteres von einfachen Wollgewändern ausgehen dürfen, wie sie in anderen Zusammenhängen mitunter vorausgesetzt werden.

Zusammenfassung Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die geistliche Frauengemeinschaft in Gerresheim unter dem Abbatiat Theophanus in voller Blüte stand. Nach der Rückkehr aus Köln, wohin der Konvent unter Äbtissin Lantswind um 920 vor den Ungarn geflohen war, gelang mit Unterstützung der Kölner Erzbischöfe, die fortan als Schutz- und Kirchenherren der Gemeinschaft fungierten, um 970 der Wiederaufbau. In der Folgezeit befand sich Gerresheim in der unmittelbaren Interessensphäre der Ezzonen, die in der Nähe über ausgedehnte und bedeutende Reichsgutbezirke verfügten, in Person Hermanns II. den Kölner Erzstuhl besetzt hielten, zeitweise bis weit nach Norden – bis nach Zutphen – ausgriffen und ihre Herrschaft nicht zuletzt auf die großen Frauenkonvente im Rheinland stützten, die zu einem nicht unerheblichen Teil von Töchtern Ezzos und Mathildes geleitet wurden. Zu diesen Konventen gehörte auch die geistliche Frauengemeinschaft in Gerresheim. Geleitet wurde sie um die Mitte des 11. Jahrhunderts von Theophanu, die daneben auch dem Frauenstift in Essen vorstand. Nach 1045 begann sich dann allerdings die Herrschaft der Ezzonen im Rheinland aufzulösen. Mit der Krise, in die die Ezzonenherrschaft geraten war, setzten die großen Schenkungen und Stiftungen der Pfalzgrafenfamilie ein, an denen Theophanu maßgeblich beteiligt war. Sie nutzte die Möglichkeiten, die sich ihr durch das hohe geistliche Amt eröffneten, die zugleich aber in gewisser Weise auch Verpflichtung waren. Hinter den Maßstäben, die ihre Vorgängerin und Verwandte Mathilde in Essen mit Blick auf ihre Bau- und Stiftungstätigkeit gesetzt hatte, konnte sie als Mitglied der alten Kaiserfamilie auch in salischer Zeit nicht zurückbleiben. Dass sie sich dieser Herausforderung stellte und den damit verbundenen Ansprüchen durchaus gerecht wurde, zeigen – um nur einige

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Beispiele zu nennen – das Theophanu-Evangeliar, das Theophanu-Kreuz und das Kreuznagelreliquiar aus Essen. Erhebt man die Stiftungen Theophanus in Essen zum Maßstab, dann scheint das Stift in Gerresheim für sie nicht die gleiche Bedeutung besessen zu haben. Schatzstücke wie in Essen haben sich aus ihrer Hand in Gerresheim jedenfalls nicht erhalten. Dessen ungeachtet scheint die Frauengemeinschaft in Gerresheim für Theophanu aber nicht unwichtig gewesen zu sein. Immerhin wies sie dem Konvent im Rahmen ihres Totengedenkens einen festen Platz und eine klar umrissene Funktion zu, indem sie ihn in ihrem ‚Testament‘ berücksichtigte und darüber hinaus weitere, im Gerresheimer Evangeliar festgehaltene Schenkungen verfügte, die allem Anschein nach ebenfalls auf ihre Memoria abzielten. Offensichtlich hatte dies zur Folge, dass man sie in Gerresheim aufgrund ihrer Wohltaten in besonderer Weise verehrte, wenn ihr im Schenkungseintrag des Gerresheimer Evangeliars der Ehrentitel „inclita et vera mater nostra“ zugebilligt wird. Wann und aus welchem Anlass der Schenkungseintrag in das Gerresheimer Evangeliar aufgenommen wurde, lässt sich derzeit nicht mit letzter Gewissheit sagen. Einige Indizien deuten jedoch auf das späte 11. oder das frühe 12. Jahrhundert hin. Insofern muss mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass die Motive zur Aufnahme des Nachtrags in den Codex (wenigstens teilweise) identisch sein könnten mit den Absichten, die hinter der Fälschung der Gerresheimer Gründungsurkunde standen, die nicht zuletzt das Recht des Konvents zur Kontrolle des Stiftsbesitzes stärkt und damit nach der Blüte der Gerresheimer Frauengemeinschaft Mitte des 11. Jahrhunderts auf eine Krisenzeit um 1100 verweist.

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Andreas Bihrer

Die Handschrift im Gebrauch Das Gerresheimer Evangeliar als Eid- und Sakristeibuch

Das Ablegen eines Eides ist selbst in der Moderne kein hohles Ritual, aber um wie viel bedeutsamer war ein solcher Akt in vormodernen Gesellschaften, als den Eiden eine zentrale Rolle bei der Herstellung und Stabilisierung von herrschaftlichen und sozialen Beziehungen zukam, um eine Formulierung der aktuellen, gleichwohl momentan besonders ritualfixierten Forschung aufzunehmen.1 Aus diesem Grund mag es im Folgenden lohnend sein, auch für das Gerresheimer Evangeliar einmal den Blick abzuwenden von den Illuminationen bzw. vom Evangelientext und stattdessen die späteren Nachträge vorzustellen, unter welchen die Eidesformeln einen großen Teil ausmachen. Doch dies sind nicht die einzigen Zusätze zum Evangelientext und zu dessen Vorreden, denn es wurden neben den beiden Stiftungseinträgen, die mit der Stifterin Hidda und Äbtissin Theo-

1

An neueren Sammelbänden zum mittelalterlichen Eid vgl. Ruth Schmidt-Wiegand: Eid und Gelöbnis. Formel und Formular im mittelalterlichen Recht, in: Recht und Schrift im Mittelalter, hg. v. Peter Classen (Vorträge und Forschungen, Bd. 23), Sigmaringen 1977, S. 55–90. – Paolo Prodi: Der Eid in der europäischen Verfassungsgeschichte, München 1992. – Glaube und Eid. Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit, hg. v. Paolo Prodi (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, Bd. 28), München 1993. – Eid und Wahrheitssuche. Studien zu rechtlichen Befragungspraktiken in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Stefan Esders u. Thomas Scharff (Gesellschaft, Kultur und Schrift, Bd. 7), Frankfurt am Main 1999. – André Holenstein: Rituale der Vergewisserung. Der Eid als Mittel der Wahrheitsfindung und Erwartungsstabilisierung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Riten, Gesten, Zeremonien. Gesellschaftliche Symbolik in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Edgar Bierende, Klaus Oschema u. Sven Bretfeld (Trends in Medieval Philology, Bd. 14), Berlin 2008. – Giorgio Agamben: Das Sakrament der Sprache. Eine Archäologie des Eides (Edition Suhrkamp, Bd. 2606), Berlin 2010. – Knappe und in erster Line rechtsgeschichtliche Übersichten zur Geschichte des weltlichen und geistlichen Eids in Mittelalter und Früher Neuzeit bieten die Lexikonartikel Manfred Gerwing u. a.: Eid. Lateinischer Westen, in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986), Sp. 1673–1689. – Dietlinde Munzel-Everling: Eid, in: Handwörterbuch der Rechtsgeschichte 2 (22008), Sp. 1249–1261. – Adrian Schenker u. a.: Eid, in: Lexikon für Theologie und Kirche 3 (31995), Sp. 521–525. – Hans-Werner Gensichen u. a.: Eid, in: Theologische Realenzyklopädie 9 (1982), S. 373–399, insbes. S. 383–388. – Gleichwohl fehlt eine umfassendere historisch-systematische Abhandlung zur Geschichte des Eids selbst in der Theologie oder der Rechtsgeschichte, vgl. Prodi 1992 (wie oben), S. 6.

Die Handschrift im Gebrauch | 135

phanu in Verbindung stehen, überdies zwei Schatz- oder besser Sakristeiverzeichnisse und ein Capitulare Evangeliorum hinzugefügt.2 Zunächst soll ein kurzer Überblick über die Nachträge und den Aufbau des Gerresheimer Evangeliars sowie über die Geschichte der Handschrift gegeben werden, darauf folgt die Analyse des ältesten Eides; im Anschluss werden die beiden Sakristeiverzeichnisse diskutiert, bevor abschließend einige Schlussfolgerungen zu Umgestaltung und Gebrauch der Handschrift gemacht werden. Eine nähere Beschäftigung mit dem Capitulare kann in diesem Rahmen nicht erfolgen. Es muss kaum eigens betont werden, dass abgesehen von den Hidda- und Theophanu-Einträgen die späteren Ergänzungen des Gerresheimer Evangeliars von der Forschung weitgehend unbeachtet geblieben sind, lediglich die beiden Schatzverzeichnisse fanden etwas Aufmerksamkeit.3

Die Nachträge des Gerresheimer Evangeliars Der Handschrift wurde frühestens im 16. Jahrhundert ein Doppelblatt aus Kalbspergament vorgebunden.4 Auf diesen vier Seiten (Ir–IIv) wurden von drei Händen insgesamt sieben Eidesformeln eingetragen, so von der Hand A die Formeln für Kanoniker, Vikare und Pastoren (Ir–Iv), von der Hand B für Kanonissen und Sekretäre (Iv–IIr) und von der 2 3

4

Die schriftliche Ausarbeitung meines Vortrags verdankt den Diskutandinnen und Diskutanden der Tagung viele wichtige Hinweise, für welche ich mich sehr herzlich bedanke. Zum Aufbau des Gerresheimer Evangeliars vgl. neben Hugo Weidenhaupt: Das Kanonissenstift Gerresheim. Von der Gründung bis zum Ende des 14. Jahrhunderts (vor 870–1400), in: Düsseldorfer Jahrbuch 46 (1954), S. 1–120, der jedoch die Handschrift nicht systematisch beschreibt, sondern nur einzelne Nachträge datiert, bislang nur Heinrich Ehl: Die Ottonische Kölner Buchmalerei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der frühmittelalterlichen Kunst in Westdeutschland (Forschungen zur Kunstgeschichte Westeuropas, Bd. 4), Bonn 1922, S. 151–157, der allerdings ausschließlich den ottonischen Teil des Gerresheimer Evangeliars zur Kenntnis nahm, die kunsthistorisch ausgerichtete Broschüre Hanns Peter Neuheuser: Das Gerresheimer Evangeliar (Rheinische Kleinkunstwerke, Bd. 2), Köln 1986, mit einer Übersicht über die inhaltliche Gliederung S. 4–6, die Handschriftenbeschreibung des Gerresheimer Evangeliars bei Peter Bloch, Hermann Schnitzler: Die Ottonische Kölner Malerschule, Bd. 1: Katalog und Tafeln, Düsseldorf 1967, S. 64–68, und zuletzt den Katalogeintrag in Handschriftencensus Rheinland. Erfassung mittelalterlicher Handschriften im rheinischen Landesteil von Nordrhein-Westfalen, hg. v. Günter Gattermann (Schriften der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, Bd. 18), Wiesbaden 1993, Bd. 1, S. 482–483. – Hatto Küfner: Das ottonische Evangeliar, in: Gerresheim und seine Basilika. Festschrift zum 750jährigen Bestehen der Gerresheimer Stiftskirche, hg. v. Karl Heinz Bott, Wuppertal 1986 [weitgehender Nachdruck mit einigen Ergänzungen und zusätzlichen Artikeln von: Gerresheim 870–1970. Beiträge zur Orts- und Kunstgeschichte, hg. v. Hugo Weidenhaupt, Düsseldorf 1970], S. 169–178, hier S. 177, beschränkt sich auf den Satz: „Das Gerresheimer Evangeliar war lange in Gebrauch.“ Bloch/Schnitzler 1967 (wie Anm. 3), S. 64, beschreiben den Vorsatz zu Unrecht als Binio.

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Hand C nochmals in humanistischer, ja neo-karolingischer Minuskel für Kanoniker und Vikare (IIv). Hand B datiert einen der Eide auf den 30. März 1669,5 und man muss die anderen Einträge ebenfalls in das 17. Jahrhundert setzen, auch wenn die bisherige Forschung zuletzt für das 18. und 19. Jahrhundert plädiert hat.6 In das ausgehende 17. Jahrhundert oder sogar eher in das 18. Jahrhundert gehört eine Eidesformel für Kanoniker oder den Pastor, die auf ein Zusatzblatt geschrieben wurde, das jedoch wohl von Beginn an in das Gerresheimer Evangeliar eingelegt worden war. Die Formel bietet eine abweichende Fassung des Kanoniker- bzw. Pastoreneids, in welche aber die meisten Formulierungen aus den Eiden auf den Vorsatzblättern übernommen wurden. Auf fol. 129r, also auf einer ehemals freien Seite nach dem Markus- und vor dem Lukas-Evangelium, wurde unterhalb des Schenkungsvermerks Theophanus eine Eidformel eingetragen. Die Überschrift „Forma iuramenti praestiti“ weist darauf hin, dass nun der Wortlaut bzw. das Formular eines Äbtissinneneides folgt, wie ihn am 30. Juni 1367 Rykardis von der Sleiden abgelegt hatte. Der Erzbischof, vor welchem der Eid geschworen wurde, wird nur als N. bezeichnet. Offen muss damit bleiben, ob der Eid vor dem altersschwachen Erzbischof Engelbert III. von der Mark oder vor dem Koadjutor Kuno II. von Falkenstein abgelegt wurde. Die fehlende Namensnennung einer aktuell amtierenden Person stellt bekanntlich keine Besonderheit in Urkunden und Formelsammlungen dar. Die Kanzleischrift passt, der bisherigen Forschung folgend, in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts, der Eid wurde also zeitnah nach dem 30. Juni 1367 eingetragen.7 Auf fol. 263v, also auf eine leere Rückseite direkt nach dem Ende des letzten Evangelientextes, wurden zwei Schatzverzeichnisse nachgetragen. Das untere Schatzverzeichnis wird in das Jahr 1335 datiert und mit Sophie von Gennep in Verbindung gebracht, die von 1320 bis 1343 als Kustodin belegt ist;8 die Lesung Bernhard Bischoffs, „1333“ 9, 5 6

7 8

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Vgl. hierzu den Beitrag von Julia von Ditfurth in diesem Band. Keine Datierung bieten Bloch/Schnitzler 1967 (wie Anm. 3), S. 64 oder Neuheuser 1986 (wie Anm. 3), S. 4, wohingegen bei Gattermann 1993 (wie Anm. 3), S. 482, die Eidesformeln in das 18. und 19. Jahrhundert datiert werden. Vgl. Bloch/Schnitzler 1967 (wie Anm. 3), S. 65. – Neuheuser 1986 (wie Anm. 3), S. 6. – Gattermann 1993 (wie Anm. 3), S. 482. Im nach 1350 angelegten und vor allem im 14. Jahrhundert fortgesetzten Nekrolog des Gerresheimer Stifts wurde von einer Nachtragshand zum 23. Oktober der Tod der Kustodin eingetragen: „O. Sophia de Geynpe thesauraria“. Vgl. Woldemar Harless: Necrologien des Stiftes Gerresheim und des Klosters Kentrop, in: Archiv für die Geschichte des Niederrheins 6 (1868), S. 85–110, hier S. 100. – Arnold Dresen: Memorien des Stiftes Gerresheim, in: Düsseldorfer Jahrbuch 34 (1928), S. 155–179, hier S. 176. – Zu den Belegen für Sophie von Gennep als Kustodin von 1320 bis 1343 vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 88. Bernhard Bischoff (Bearb.): Mittelalterliche Schatzverzeichnisse, Bd. 1: Von der Zeit Karls des Großen bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München, Bd. 4), München 1967, S. 39.

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ist nicht zutreffend. Auch mit Blick auf die Schrift ist es sehr wahrscheinlich, dass das Inventar zeitnah aufgezeichnet wurde. Das Schatzverzeichnis wurde an drei Stellen korrigiert: die Zahl der Kelche erhöhte sich, wohingegen eine Büchse gestrichen wurde. Der obere Text stammt von einer anderen Hand und könnte – wie auch die Forschung vermutet – ins 13. Jahrhundert zu datieren sein.10 Keinen Anhaltspunkt für die zeitliche Einordnung ist die Nennung der wohl zum Zeitpunkt der Niederschrift verstorbenen, zumindest nicht mehr amtierenden Dekanin und Kustodin Gertrud von Nister.11 Hugo Weidenhaupt liest hier fälschlicherweise „Gertrud von Rheineck“ 12 und ordnet die Kustodin damit einem Burggrafen- und nicht einem Herrengeschlecht zu. Gertrud, ob von Nister oder von Rheineck, ist ansonsten nicht nachweisbar.13 Eine Identifizierung mit der 1202 bis 1212 amtierenden Äbtissin Gertrud wurde von der Forschung vorsichtig in Erwägung gezogen, doch dürfte dieser Schlussfolgerung der fehlende Hinweis auf dieses Amt zu Beginn des Schatzverzeichnisses widersprechen.14 Nicht sicher ist allerdings, ob diese Schrift bereits der Zeit um 1200 zuzuordnen ist. Gemeinhin wird der Eintrag in das frühe 13. Jahrhundert datiert. Auffällig an diesem bereits von Bernhard Bischoff edierten Text15 sind – neben einer Verbesserung in der Überschrift – die insgesamt fünf Korrekturen bei der Aufzählung der Gegenstände: Viermal wurde die Zahl verändert, einmal ein Gegenstand völlig getilgt. Auf der nächsten Seite, fol. 264r, folgt ein Leseverzeichnis, das auf fol. 269v endet. Das Capitulare wird von Bloch/Schnitzler als „etwa gleichzeitig“ 16 mit dem Evangelientext und damit in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts eingeordnet. Nach Bloch/

10 Das ältere Schatzverzeichnis wurde von der Forschung durchweg ins 13. Jahrhundert datiert. Vgl. Bloch/Schnitzler 1967 (wie Anm. 3), S. 68. – Neuheuser 1986 (wie Anm. 3), S. 6. – Gattermann 1993 (wie Anm. 3), S. 482. 11 Die zwischen 1208 und 1365 belegte Gerresheimer Dekanin fungierte als Stellvertreterin der Äbtissin; meist bestand eine Personalunion von Kustodin und Kellnerin. Vgl. Weidenhaupt 1994 (wie Anm. 3), S. 64. 12 Vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 65. – Gertrud von Rheineck ist auch als Kanonissin des Gerresheimer Stifts ansonsten nicht nachweisbar, vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 65 u. 86 f. – Bischoff 1967 (wie Anm. 9), S. 39 liest „Gertrud von Nistere“, hält aber Weidenhaupts Lesung „Rinecke“ im kritischen Apparat fest. – In einer Studie zur Familiengeschichte der Nister im 12. und 13. Jahrhundert wird allerdings kein weibliches Mitglied der Familie als Kustodin in Gerresheim oder mit Namen Gertrud erwähnt. Vgl. Werner Bornheim gen. Schilling: Die von Nister und ihre Verwandten, in: Nassauische Annalen 70 (1959), S. 181–199. 13 Im Gerresheimer Nekrolog wird zum 31. Januar, 8. Mai und 5. November jeweils eine Gertrud genannt, der aber nie das Amt einer Kustodin zugesprochen wird. Vgl. Harless 1868 (wie Anm. 8), S. 92, 95 u. 100. – Dresen 1928 (wie Anm. 8), S. 163 u. 169. 14 Vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 83, mit einer Vita von Äbtissin Gertrud. 15 Vgl. Bischoff 1967 (wie Anm. 9), S. 39. 16 Bloch/Schnitzler 1967 (wie Anm. 3), S. 68.

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Schnitzler steht der Text auf einem Ternio und damit auf einer eigenen Lage,17 die überdies aus einem anderen Pergament als die Haupthandschrift gefertigt wurde.18 Die Haupthand dürfte eine Generation jünger sein als die Hände der Evangelientexte; das Capitulare kann also später oder von einem vom Alter her jüngeren Schreiber abgeschrieben worden sein.19 Dem Befund nach wurde das Leseverzeichnis jedenfalls nicht erst später eingebunden, könnte aber einer zweiten Schreibphase des Evangeliars entstammen, da ja andere Hände mit anderen Tinten auf einem anderen Pergament den Text niedergeschrieben haben. Überdies ist der Text des Capitulare nicht auf die Evangelientexte im Gerresheimer Evangeliar abgestimmt worden.20 Eine nähere Untersuchung dieser Seiten sei der Liturgiewissenschaft vorbehalten.21 Zurück zu den Eiden und damit zur letzten Lage, einem um eine Seite verkürzten Binio, der wohl sicher frühestens im 16.  Jahrhundert hinzugebunden wurde:22 Auf fol. 270r bis 271r ist ein Glaubensbekenntnis eingetragen, das der altgläubigen Version nach dem Konzil von Trient entspricht. Geschrieben wurde es von der Hand B der Vorsatzblätter und damit wohl um 1669, also nicht wie bislang angenommen im 18. Jahrhundert.23 Es gehört in den Zusammenhang der Kanonissinneneide, worauf neben der deutschen Sprache auch die traditionelle Schlussformel „So helff mir Gott und die Heilige Gottes Evangelia“ (fol. 271r) hinweist.24 Am Ende des Gerresheimer Evangeliars sind auf dem Nachsatz noch zwei weitere Eide eingetragen worden, so auf fol.  271v ein deutschsprachiger Adelseid, in welchem die Kanonissen die 8-Adelsprobe bzw. 8-Ahnenprobe ablegen mussten, also zu beschwören hatten, dass alle Urgroßeltern adelig gewesen waren. Auch wenn die neueste Forschung diesen und den nächsten Eintrag zum Teil in das 18. und 19. Jahrhundert eingeordnet

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Vgl. Bloch/Schnitzler 1967 (wie Anm. 3), S. 64. Mündlicher Hinweis von Doris Oltrogge. Mündlicher Hinweis von Hans-Walter Storck. Mündlicher Hinweis von Doris Oltrogge. Solche Abweichungen finden sich jedoch auch bei einheitlich entstandenen Codices häufiger, mündlicher Hinweis von Klaus Gereon Beuckers. Zu einem möglicherweise mit dem Capitulare in Verbindung stehenden liturgischen Ordo des Stifts Gerresheim, der aus dem 14. Jahrhundert überliefert ist, aber von der Forschung in das 12./13. Jahrhundert datiert wird vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 77. – Michael Buhlmann: Die geistlichen Gemeinschaften Gerresheim und Kaiserswerth im Mittelalter (Beiträge zur Geschichte Kaiserswerths: Reihe Mittelalter, Bd. 10), Düsseldorf 2010, S. 20–26. Zur Lagenzählung vgl. Bloch/Schnitzler 1967 (wie Anm. 3), S. 64. Die Einordnung als jüngerer Nachtrag bei Neuheuser 1986 (wie Anm. 3), S. 6. – Summarische Datierung der Einträge auf dem Nachsatz in das 16. und 17. Jahrhundert bei Bloch/Schnitzler 1967 (wie Anm. 3), S. 68 und Datierung des Glaubensbekenntnisses in das 18. Jahrhundert bei Gattermann 1993 (wie Anm. 3), S. 482. Vgl. hierzu den Beitrag von Julia von Ditfurth in diesem Band.

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hat,25 so spricht die Schrift für eine Datierung in das 16. Jahrhundert – nach dem Äbtissinneneid des Jahres 1367 sind dies die beiden zeitlich frühesten Einträge von Eiden im Gerresheimer Evangeliar. Im Jahr 1585 verlor das Stift Gerresheim seine hochadelige Exklusivität und stand nun desgleichen für niederadlige Kanonissinnen offen; möglicherweise steht der Eintrag der Adelsprobe mit den Konflikten wegen des Zugangs zu den Kanonikaten in Zusammenhang und wäre dann präziser um das Jahr 1585 zu datieren.26 Die lateinische Ergänzung des Adelseids um den Beginn des Johannes-Evangeliums stammt von derselben Hand wohl des ausgehenden 17. Jahrhunderts, die auch auf dem unteren Rand von fol. Ir einen Satz hinzufügte. Wie der Adelseid gehört der ebenfalls deutschsprachige Eid der Kustodin auf fol. 272v auch in das 16. Jahrhundert, stammt aber wohl von einer anderen Hand.

Die Geschichte des Gerresheimer Evangeliars Das Gerresheimer Evangeliar wurde im 11. Jahrhundert zusammen mit seinem Leseverzeichnis erstmals gebunden. Später wurden in die ottonische Handschrift – zeitlich auch nach der Hidda- und der Theophanu-Notiz – an das Ende des Evangelientextes im 13. und 14. Jahrhundert zwei Schatzverzeichnisse eingetragen. Wohl 1367 folgte der Eintrag der Eidesformel der Äbtissin Rykardis von der Sleiden, mitten im Evangeliar, aber unter der Theophanu-Notiz und nach dem Ende des Markus-Evangeliums an durchaus exponierter Stelle. Wahrscheinlich im 16. Jahrhundert wurde am Ende ein Binio hinzugebunden; erst nach 1500 wurde es üblicher, umfangreichere Vor- und Nachsätze in Handschriften einzubinden und Kalbspergament zu verwenden, weswegen eine Datierung in das Mittelalter eher unwahrscheinlich ist.27 Auf diesem Binio stehen der Adelseid und der Kustodinneneid wohl aus dem späten 16. Jahrhundert; davor wurde um 1669 das Credo eingetragen. Zeitgleich wurden die Vorsatzblätter mit den sieben Eidesformeln beschrieben, die sicher vor 1669 eingebunden wurden. Wahrscheinlich ist jedoch nur von einer Neubindung im 16. Jahrhundert auszugehen, bei welcher sowohl der Vor- als auch der Nachsatz aus Kalbs25 Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 60 datiert den Adelseid in das 15./16. Jahrhundert. – Neuheuser 1986 (wie Anm. 3), S. 6 zählt den Adels- und Kustodinneneid zu den jüngeren Nachträgen. – Bloch/Schnitzler 1967 (wie Anm. 3), S. 68 ordnen den Adelseid dem 16./17. Jahrhundert und den Kustodinneneid dem 18. Jahrhundert zu. – Bei Gattermann 1993 (wie Anm. 3), S. 482 werden beide Eidesformeln in das 18. und 19. Jahrhundert gesetzt. 26 Niederadelige Kanonissen wurden in Gerresheim ab 1585 aufgenommen. Vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 58. – Hugo Weidenhaupt: Stift und Stadt Gerresheim bis zur Säkularisation, in: Bott 1986 (wie Anm. 3), S. 7–30, hier S. 27. 27 Mündlicher Hinweis von Doris Oltrogge.

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pergament hinzugebunden wurde, auch wenn zunächst nur auf dem Nachsatz zwei Eidesformeln eingetragen wurden. Denkbar wäre es, dass zu dieser Zeit ebenfalls der Einband neu gestaltet wurde; da aber im frühen 19. Jahrhundert der oder die Buchdeckel verkauft wurden, kann nicht mehr rekonstruiert werden, ob dieser oder diese aus dem 11. oder 16. Jahrhundert stammten.28 Die so rekonstruierte Geschichte des Gerresheimer Evangeliars macht wahrscheinlich, dass die Handschrift wohl weitgehend kontinuierlich in Gebrauch war. Zudem gibt es keine Hinweise darauf, dass die Einträge nicht in Gerresheim zu lokalisieren sind, sodass eine durchgängige Benutzung des Evangeliars im Kanonissenstift plausibel ist. Die Textgattungen der Nachträge passen zu den Überlieferungsbefunden anderer zentraler Evangeliare in geistlichen Gemeinschaften in Mittelalter und Früher Neuzeit: Eidesformeln, Schatzverzeichnisse und liturgische Handreichungen finden sich auch in anderen Handschriften dieses Typus und dieser Funktion.29 Überraschend ist nur, dass Einträge zu Rechten oder Besitz des Stiftes fehlen, die man für das 13. und 14. Jahrhundert erwarten könnte. Dies dürfte damit zu erklären sein, dass bereits unter der 1212 bis 1232 amtierenden Äbtissin Guda ein bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts fortgeführtes Heberegister für den Stiftsbesitz angelegt worden war.30

Die Formel des Äbtissinneneides Äbtissin Rykardis von der Sleiden, die bis 1384 amtierte,31 verpflichtete sich der Eidesformel auf fol. 129r zufolge am 30. Juni 1367 zu Gehorsam und Treue gegenüber dem Erz-

28 Vgl. hierzu den Beitrag von Beate Johlen-Budnik in diesem Band. 29 Vgl. hierzu den Beitrag von Thorsten Henke in diesem Band. – Hans-Walter Storck machte mich dankenswerterweise auf die folgenden Parallelen aufmerksam: Anton von Euw: Die Textgeschichte des Lorscher Evangeliars, in: Das Lorscher Evangeliar. Biblioteca Documentara Batthyáneum, Alba Iulia, Ms. R II 1/Biblioteca Apostolica Vaticana, Codex Vaticanus Palatinus Latinus 50. Kommentar, hg. v. Hermann Schefers, Luzern 2000, S. 34: „Das von Kaiser Otto III. (996–1002) dem Aachener Münster gestiftete Reichenauer Evangeliar enthält auf den einst vom Schreiber leer gelassenen Seiten eine Reihe von Eidesformeln aus dem 15. und 16. Jahrhundert für den Aachener Stiftsklerus und den römischdeutschen König als Kanonikus des Aachener Stiftes, die auf Gebräuche schließen lassen, die vielleicht in die Karolingerzeit, zumindest aber in die Zeit der Ottonen zurückgehen könnten; zudem finden sich am Evangelistenbild des Johannes p. 380 deutlich Verwischungen, die als Spuren von Schwurfingern zu deuten sind. Das Gleiche ist u. a. am Johannesbild und am Bild des Ostermorgens fol. 74–75r im Codex BAV, BArb. lat. 711, Rom, zu beobachten, einem noch vor dem Jahrtausend in St. Gallen geschriebenen und illuminiertem Evangelistar, das ebenso Eidesformulare enthält.“ 30 Zum Heberegister mit Ergänzungen bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 106. – Zur Vita der 1212 bis 1232 amtierenden Äbtissin Guda 1212–1232 vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 83. 31 Zur Vita der Gerresheimer Äbtissin Rykardis von der Sleiden vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 85.

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bischof und dessen Nachfolgern:32 Die neue Äbtissin versprach, Besitztümer und Rechte des Stiftes zu wahren sowie verlorene nach bestem Vermögen zurückzugewinnen und diese nicht ohne des Erzbischofs und des Kapitels Zustimmung zu veräußern, außerdem die Statuten und Gewohnheiten des Stifts zu achten und für Disziplin zu sorgen.33 Der Eid endet mit der traditionellen christlichen, durch das kanonische Recht seit dem 13. Jahrhundert für den geistlichen Bereich weiter verfestigten Formel „Sic me Deus adiuvet et hec sancta Dei Evangelia“, die sich auch am Ende aller anderen Eide des Gerresheimer Evangeliars findet, so zum Beispiel in der Formulierung: „so hilff mit Gott und diß sein Heiliges Evangelium“ (fol. IIr). Trotz aller Formelhaftigkeit dieses Schlusspassus darf dennoch angenommen werden, dass das Gerresheimer Evangeliar als Eidbuch fungiert hat, zumindest ab dem 14. Jahrhundert: Der Evangelieneid hatte sich im Reich im Gegensatz zu anderen europäischen Regionen nur langsam durchgesetzt, aber ab dem 13. Jahrhundert trat er – nicht zuletzt aufgrund der nachhaltigen Förderung durch das Papsttum – neben den Reliquieneid.34 Zwar dürften in Gerresheim Eide ebenfalls auf Reliquien geschworen worden sein,35 allerdings 32 Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 61 weist zu Recht darauf hin, dass der Gerresheimer Äbtissinneneid auch in der Kölner Erzbischofschronik Konrad Isernhoffts von Ratingen aus dem frühen 16. Jahrhundert überliefert ist. Die vor 1529 entstandene ‚Chronica praesulum et archiepiscoporum Coloniensium‘, die heute im Historischen Archiv der Stadt Köln verwahrt wird, wird vorgestellt bei Hermann Keussen: Eine Handschrift der Chronica praesulum, in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv Köln 38 (1926), S. 226–230. – Markus Müller: Die spätmittelalterliche Bistumsgeschichtsschreibung. Überlieferung und Entwicklung (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 44), Köln 1998, S. 107 und 413–421. – Auf fol. 5r wurden nach dem Prolog und einer Aufstellung der Kölner Pfarrer in ihren Bruderschaften bzw. vor einer Übersicht über die Kölner Ratsämter von anderer Hand und vor dem eigentlichen Chroniktext sowohl die Theophanu-Notiz als auch der Rykardis-Eid eingetragen. Vgl. Keussen 1926 (wie oben), S. 226; der Abdruck des Eides nach der Kölner Handschrift S. 228. – Dass beide Nachträge von fol. 129r des Gerresheimer Evangeliars abgeschrieben wurden, weist darauf hin, dass der Schreiber die Handschrift gekannt und wahrscheinlich in Gerresheim eingesehen hatte. Bei einer Abschrift der Kölner Erzbischofschronik in einem Würzburger Codex wurde die Eidesformel nicht übernommen. Vgl. Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Bd. 13: Die Chroniken der niederrheinischen Städte. Köln. Zweiter Band, Leipzig 1876, S. 193–203. 33 Vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 61 f. 34 Vgl. umfassend zum Evangelieneid Philipp Hofmeister: Die christlichen Eidesformen. Eine liturgieund rechtsgeschichtliche Untersuchung, München 1957, S. 36–67; zu anderen Eidformen im Mittelalter S. 62; zu Gründen und Datierung der Durchsetzung des Evangelieneids nördlich der Alpen S. 51 f. – danach Jan Hubertus Schmidt: Der Eid auf Reliquien und Reliquiare im Mittelalter. Verbindung zwischen Gegenwart und Ewigkeit, in: Crossing Legal Cultures, hg. v. Laura Beck Varela (Yearbook of Young Legal History, Bd. 3), München 2009, S. 159–168, hier S. 160. 35 Darauf könnte nach Hinweis von Beate Johlen-Budnik ein Reliquiar der hl. Katharina von Alexandrien im Kirchenschatz von St. Margareta hinweisen, an dessen Nodus sich die Wappenschilder von Äbtissin Ida von Waldeck (amt. 1332–1367) und des Schultheißen Rainer von Landsberg befinden.

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erscheint es unwahrscheinlich, dass sich das Stift der Entwicklung im Reich verschlossen haben soll, zumal die Eidesformeln im Evangeliar ja wie vorgestellt enden. Solange aber historisch-systematische Abhandlungen, auch breitere theologische oder rechtsgeschichtliche Forschungen zum Eid in der Vormoderne fehlen und man weiterhin auf die knappe liturgie- und rechtsgeschichtliche Untersuchung des Benediktinermönchs Philipp Hofmeister zu den christlichen Eidesformen von 1957 zurückgreifen muss, können über die regionale Entwicklung nur Vermutungen angestellt werden.36 Es darf somit für sehr wahrscheinlich gehalten werden, dass das Gerresheimer Evangeliar als Eidbuch benutzt wurde; möglicherweise ist der Eintrag aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein Indiz dafür, dass sich der Evangelieneid in dieser Zeit am Rhein durchgesetzt hatte. Offen muss auch der exakte Ablauf des Ritus bleiben: Der Eid wurde meist in der Nähe eines Altars und kniend abgelegt.37 Möglicherweise lag das Evangeliar offen auf den Knien des Eidnehmenden.38 Die Handhaltung der Eidablegenden unterlag hingegen keinen festen Traditionen; es ist denkbar, dass das Evangeliar gar nicht, nur am Rand oder auf dem Text berührt wurde. Die Zahl der Schwurfinger und deren Haltung waren ebenfalls noch nicht eindeutig geregelt.39 Aufgeschlagen war vermutlich der Beginn des Johannes-Evangeliums, worauf auch der Schlusssatz von zwei Eiden des 17. Jahrhunderts hinweisen könnte, in welchem die ersten Worte dieses Evangeliums genannt sind. 40 Vor das Johannes-Evangelium war im Gerresheimer Evangeliar allerdings die Hidda-Notiz eingetragen worden, der Rykardis-Eid von 1367 steht hingegen vor dem Lukas-Evangelium, wo er fast exakt in der Mitte der Handschrift vielleicht leichter zu finden war und bequem unter der Theophanu-Notiz eingetragen werden konnte. Gebrauchsspuren von Eidesleistungen sind allerdings weder auf den Eingangsseiten des Lukas- noch des Johannes-Evangeliums zu entdecken. Die Formulierung in der Überschrift, dass Rykardis und zukünftige Äbtissinnen diesen Eid zu leisten haben, könnte auf den ersten Blick vermuten lassen, dass es vor 1367 keinen solchen Eid gegeben habe. Da aber schon im Jahr 922 überliefert ist, dass die Wahl der Gerresheimer Äbtissin vom Kölner Erzbischof bestätigt werden muss, darf als sicher gelten, dass es bereits zuvor einen solchen oder zumindest einen ähnlichen Eid gegeben

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Vgl. Besser als Silber und Gold, Ausgewählte Stücke aus dem Gerresheimer Kirchenschatz, hg. v. Beate Johlen-Budnik u. Andrea von Hülsen-Esch, Essen 2013, S. 36 (Sandra Woisch). Vgl. Hofmeister 1957 (wie Anm. 34), und den knappen Aufsatz aus rechts- und kunsthistorischer Perspektive vor allem zum Reliquieneid von Schmidt 2009 (wie Anm. 34). Vgl. Hofmeister 1957 (wie Anm. 34), S. 89 u. 93. Vgl. Hofmeister 1957 (wie Anm. 34), S. 58 u. 96. Vgl. Hofmeister 1957 (wie Anm. 34), S. 95–99, sowie umfassend zur Körper- und Handhaltung bei Beeidungen S. 93–122. Vgl. Hofmeister 1957 (wie Anm. 34), S. 59; oftmals wurde wie im Gerresheimer Evangeliar nach dem Schlusssatz der eigentlichen Eidesformel der Beginn des Johannes-Evangeliums angefügt, S. 59.

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haben muss.41 Die Formulierung, dass der Eid für zukünftige Äbtissinnen zu gelten habe, weist darauf hin, dass mit der Niederschrift im Gerresheimer Evangeliar eine irgendwie geartete Erinnerungsfunktion beabsichtigt war, sei es eine Selbstvergewisserung, dass der Eid in dieser Form auch zukünftig gelten sollte, sei es die Absicht, dass die zukünftig mit der Beeidung befassten Personen im Evangeliar den Wortlaut nachschlagen sollten. Überdies könnte das erste Wort „Forma“ ferner auf die Intention hinweisen, gleichsam im Evangeliar ein ‚Formelbuch‘ anzulegen. Gleichwohl würde man zu weit gehen, im Gerresheimer Evangeliar nun ein modernes Verwaltungsinstrument sehen zu wollen – noch blieb die Niederschrift eng an den einmaligen Rechtsakt gebunden. Ein spezifischer Anlass im Jahre 1367 für eine Fixierung des Verhältnisses von Stift und Erzbischof ist nicht auszumachen.42 Die Beziehungen zwischen Äbtissin bzw. Stift und Kölner Erzbischof unterscheiden sich für das 14. Jahrhundert kaum vom üblichen Stand, soweit dies aus der geringen Schriftlichkeit einer mittelalterlichen Frauenkommunität abgelesen werden kann: Die Erzbischöfe unterstützten im 14. Jahrhundert das Stift einerseits mehrfach durch ihre Zustimmung zu Inkorporationen, bestanden aber andererseits auf ihr Recht der ersten Bitten; 1338 konnte jedoch der Konvent durch eine Delegation vor dem Erzbischof erreichen, dass dieser auf die Einsetzung einer neuen Kanonisse verzichtete; gleichwohl bekräftigte er allerdings sein Recht der ersten Bitten.43 Schließlich lässt der Umstand, dass 1367 in Köln ein todkranker Erzbischof und ein Koadjutor regier41 Vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 61; vor dem 15. Jahrhundert sind aus dem Gerresheimer Stift keine Statuten überliefert, die notwendige Bestätigung durch den Kölner Erzbischof ist aber urkundlich belegt, S. 58 f. und 62. 42 Eine knappe Übersicht über die Stiftsgeschichte von 1200 bis 1400 bei Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 46 f., umfassender zur Verfassungsgeschichte und zu den Kapitelsämtern insbesondere im 14. Jahrhundert jedoch S. 58–77. – An weiteren Überblicksartikeln sind zu nennen Weidenhaupt 1986 (wie Anm. 26) und Hugo Weidenhaupt: Das Kanonissenstift Gerresheim von seiner Gründung bis zum Ende des 14. Jahrhunderts, in: Hugo Weidenhaupt: Aus Düsseldorfs Vergangenheit. Aufsätze aus vier Jahrzehnten, hg. v. Clemens von Looz-Corswarem, Düsseldorf 1988, S. 17–33. – zuletzt auch Ulrich Brzosa: Die Geschichte der katholischen Kirche in Düsseldorf. Von den Anfängen bis zur Säkularisation (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte, Bd. 24), Köln 2001, S. 61–77. – Knappe Lebensbeschreibungen aller Gerresheimer Äbtissinnen des 14. Jahrhunderts bieten Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 81–86 und knapper Josef Steinbach: Die Äbtissinnen des Hochadeligen Kanonissenstiftes St. Hippolytus in Gerresheim, in: Bott 1986 (wie Anm. 3), S. 269–273, hier S. 270. 43 So die Inkorporationen des Kölner Erzbischofs zugunsten Gerresheims von 1302, 1311 und 1318, vgl. Theodor Joseph Lacomblet (Hg.): Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins oder des Erzstifts Cöln, der Fürstenthümer Jülich und Berg, Geldern Meurs, Cleve und Mark, und der Reichsstifte Elten [...], Essen und Werden, 4 Bde., Aalen 1840–1858. [Neudr. 1966], hier Bd. 3, Nr. 18 u. 169. – Woldemar Harless: Urkunden des Stiftes und der Stadt Gerresheim, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 6 (1869), S. 77–96, Nr. 1 sowie die ersten Bitten des Erzbischofs für ein Kanonikat in Gerresheim von 1338 und 1364. Vgl. Friedrich Wilhelm Oediger, Richard Knipping, Wilhelm Kisky u. a. (Bearb.): Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, 12 Bde. (Publikationen

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ten, es sogar besonders unwahrscheinlich erscheinen, dass in diesem Jahr grundlegende Verwaltungsreformen im Erzbistum Köln oder eine Neugestaltung des Verhältnisses des Erzbischofs zu seinen geistlichen Gemeinschaften umgesetzt werden sollten. Oder lag es gerade im Interesse des Gerresheimer Stifts, in einer Phase der Bedrängnis von außen und der unklaren Lage im Erzbistum die vollzogene Eidesleistung zu fixieren, um gegenüber konkurrierenden Ansprüchen oder für spätere Nachfragen gewappnet zu sein? Größere Konflikte zwischen Stift und Erzbischof sind bis 1367 in den Quellen also nicht überliefert, ja möglicherweise war es den Kanonissen daran gelegen, die guten Beziehungen zum Kölner Erzbischof zu bewahren, da sich das Verhältnis zu den Stiftsvögten, den Grafen zu Berg, im 14. Jahrhundert entscheidend verschlechtert hatte: Die Grafen förderten die Gemeinde Gerresheim zuungunsten des Stifts; ein Jahr nach der Abfassung der Eidesformel stellten sie sogar ein Stadtprivileg für Gerresheim aus, mit welchem die Gewährung von Vorrechten zum Nachteil des Stifts einen neuen Höhepunkt erreichte.44 Des Weiteren war mit dem avignonesischen Papsttum ein neuer Akteur aufgetreten: Zwar hatte sich bereits im Jahr 1202 Papst Innocenz III. bei einer Doppelwahl in Gerresheim eingemischt,45 doch wurden die päpstlichen Eingriffe ab dem frühen 14. Jahrhundert wie auch anderswo in Europa größer: 1311 und 1327 beanspruchte der Papst das Besetzungsrecht für das Amt der Gerresheimer Äbtissin und konnte dieses zum Beispiel nach der zweiten Doppelwahl durchsetzen.46 Ein Zusammenhang des Eintrags des Äbtissinneneids mit diesen päpstlichen Eingriffen ist aber eher unwahrscheinlich. Innere Streitigkeiten, so um die weitere Trennung der Rechte und Güter zwischen Äbtissin und Konvent, sind auch für das 14. Jahrhundert belegt, diese besaßen allerdings nicht die Dimension, aufgrund welcher man eine grundlegende Neujustierung des Verhältnisses zwischen Stift und Erzbischof vermuten könnte. Allerdings könnten diese Auseinandersetzungen Anlass für eine Klärung der Beziehungen zwischen der Äbtissin und den Stiftsdamen in Gerresheim gewesen sein, deren Resultat sich dann in der Eidesformel niedergeschlagen hätte, zumal die Konflikte sich unter der Äbtissin Ida von Waldeck (amt.

der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 21), Bonn 1901–2001, hier Bd. 5, Nr. 514, und Bd. 7, Nr. 145. – Zu den ersten Bitten vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 69. 44 Das Stadtprivileg für Gerresheim von 1368 ist ediert bei Harless 1869 (wie Anm. 43), Nr. 4; zur Stadterhebung vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm.  3), S. 50–52.  – Weidenhaupt 1986 (wie Anm. 26), S. 18 f. – Weidenhaupt 1988 (wie Anm. 42), S. 31. – Michael Buhlmann: Gerresheim und Essen. Äbtissinnen und Stiftsfrauen an zwei Frauenstiften des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Vortragsmanuskript, Essen 2011, S. 29. – Zuletzt zu den älteren Grafen von Berg bis 1225 mit nur kurzer Erwähnung der Gerresheimer Vogtei im Besitz der Grafen Alexander Berner: Kreuzzug und regionale Herrschaft. Die älteren Grafen von Berg 1147–1225, Köln 2014, S. 122, 146 u. 151 f. 45 Vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 46–47. 46 Zu den beiden Doppelwahlen vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 60 f. u. 84 f. – Buhlmann 2011 (wie Anm. 44), S. 28–31.

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1332–1367) zugespitzt hatten.47 Die Formel hätte dann zumindest aus Sicht des Konvents gleichsam die Funktion einer Wahlkapitulation besessen. Einen vergleichbaren Fall bietet das Coburger Evangeliar, in welchem nachträglich Wahlkapitulationen eingetragen wurden.48 In jedem Fall zeugt die Niederschrift von der gesteigerten Schriftlichkeit sowie der fortschreitenden Jurifizierung und Professionalisierung geistlicher Verwaltungen im 14. Jahrhundert.49 Der Eintrag von 1367 in das Gerresheimer Evangeliar würde in diese allgemeine Entwicklung im Reich passen und bedürfte dann keines spezifischen Anlasses.

Die Sakristeiverzeichnisse Im älteren Verzeichnis, das nach dem Tod der Kustodin Gertrud von Nister niedergeschrieben wurde, werden aufgeführt: 13 Messgewänder, 5 Chorkappen, 15 Alben, 15 Stolen, 3  Dalmatiken, 3  Subdiakons-Tuniken, 1  Priestertunika, 6  Altartücher, 4  Subdiakonsumhänge, 1 goldener Kelch, 7 silberne Kelche, 3 Plenarien, 17 Samtgewänder.50 Unklar ist, ob die Formulierung „plenaria“ hier mit Wollgewänder, Reliquienbehälter oder Handschriften zu übersetzen ist. Für das Jahr 1335 wurden verzeichnet: 15 Kelche, 5 Gewänder für Subdiakon und Diakon mit Messgewändern, 19 Messgewänder, 28 Alben insgesamt, 7 Stolen, 25 Altartücher, 4 silberne Kannen, 5 Chorkappen, 1 Büchse mit Perlen besetzt; die Nennung einer weiteren Büchse aus Kristall für die Hostie wurde gestrichen.51 Die Zahl der Gewänder hatte sich zum Jahr 1335 also etwas verringert, die Anzahl der Gefäße und Altartücher zugenommen, aber daraus wird man keine größeren Schlüsse ziehen können. Die Aufnahme eines Schatzverzeichnisses in das wichtigste Evangeliar einer geistlichen Gemeinschaft, also in das Plenar bzw. in der Frühneuzeit in das Stiftsplenar, das als ideeller Mittelpunkt der liturgischen Geräte das Stift als solches repräsentierte, stellt keine 47 Zu den Kompetenzen der Gerresheimer Äbtissin vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 59–63, zu den Konflikten im 14. Jahrhundert S. 60 u. 68 f., zur Amtszeit von Äbtissin Ida von Waldeck S. 85. – Zu vergleichbaren Auseinandersetzungen im Kölner Stift St. Cäcilien im 14. Jahrhundert vgl. Nicolaus Michel: Das alte freiherrliche Kanonissenstift St. Cäcilien in Köln, Saarlouis 1914, S. 70–75. 48 Vgl. hierzu den Beitrag von Thorsten Henke in diesem Band. 49 Nach Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 61 besteht eine fast wörtliche Übereinstimmung der Gerresheimer Eidesformel mit dem Äbtissinneneid des Kölner Stifts St. Cäcilien, doch trifft dies in keiner Weise zu. Vgl. hierzu den Abdruck bei Michel 1914 (wie Anm. 47), S. 53 f. Auch weitere Eidesformeln aus St. Cäcilien finden keine Entsprechung mit den Gerresheimer Eiden, vgl. S. 58 f. u. 83 f. 50 Die deutsche Übersetzung des Verzeichnisses aus dem 13. Jahrhundert bei Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 65 ist unvollständig und anders gereiht. 51 Auch die deutsche Übersetzung des Inventars von 1335 bei Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 65 ist unvollständig und anders gereiht.

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Besonderheit dar.52 Folgt man den Auswertungen Bernhard Bischoffs, der 116 Schatzverzeichnisse von der Zeit Karls des Großen bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts ediert hat,53 dann waren es meist die kostbarsten und wichtigsten Bücher einer geistlichen Institution, in welche die Schatzverzeichnisse eingetragen wurden: Dies konnten Lektionare, Pontifikalien oder Psalterien sein, in 40 von 69 Fällen, in welchen die Verzeichnisse zeitnah eingetragen wurden, waren es aber Evangeliare.54 Bei einer genaueren Prüfung der Überlieferungslage kann man jedoch über die Schlussfolgerungen Bischoffs noch hinauskommen: 23 der 69 Schatzverzeichnisse wurden für Domschätze angelegt – und nur in einem einzigen Fall wurde der Bestand eines Domschatzes in ein Evangeliar eingetragen.55 Die Handschriftentypen, in welche die Schatzverzeichnisse in den Bistümern eingetragen wurden, sind dabei sehr unterschiedlich, es lässt sich kein klares Bild erkennen. Ganz anders in den Klöstern und Stiften: In 39 von 46 Fällen, also zu etwa 85 %, wurden die Schatzverzeichnisse in Evangeliare eintragen. Dieser Unterschied kann nicht mit der Größe der Bibliotheken oder des Handschriftenbestands erklärt werden, der sich bis ins 13. Jahrhundert zwischen Bistümern einerseits und Klöstern oder Stiften andererseits nicht wesentlich unterschieden haben dürfte. Vielmehr entsprach es somit dem Usus gerade in Klöstern und Stiften, die Verzeichnisse in das zentrale Evangeliar der Gemeinschaft einzutragen – Gerresheim passt hier also genau in das Bild. Das ältere Gerresheimer Schatzinventar könnte als Übergabeprotokoll nach dem Tod der Kustodin Gertrud von Nister niedergeschrieben worden sein; vielfach verdankt man ja solchen Konstellationen die Abfassung von Schatzverzeichnissen und anderen Inventaren.56 Möchte man mit der Forschung den Eintrag in das frühe 13. Jahrhundert datieren, dann wäre auch eine Beziehung zum Abschluss der Bautätigkeit an der Stiftskirche in Erwägung zu ziehen.57 Gleichwohl dürfte die Deutung der Niederschrift als Übergabeprotokoll nach dem Tod einer Kustodin aber wahrscheinlicher sein. 52 Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Das älteste Gandersheimer Schatzverzeichnis und der Gandersheimer Kirchenschatz des 10./11. Jahrhunderts, in: Gandersheim und Essen. Vergleichende Untersuchungen zu sächsischen Frauenstiften, hg. v. Martin Hoernes u. Hedwig Röckelein (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 4), Essen 2006, S. 97–130, hier S. 117 f. zum Gandersheimer Stiftsschatz. 53 Vgl. Bischoff 1967 (wie Anm. 9), S. 13–118. 54 Vgl. Bischoff 1967 (wie Anm. 9), S. 9 f. 55 Vgl. die Editionen bei Bischoff 1967 (wie Anm. 9) der Verzeichnisse von Augsburg (Nr. 4a, 4b u. 5), Bamberg (Nr.  6–8), Chur (Nr.  16 u. 17), Hildesheim (Nr.  31), Krakau (Nr.  37 u. 38); Lüttich (Nr. 43), Mainz (Nr. 45), Merseburg (Nr. 50–53), Paderborn (Nr. 61), Speyer (Nr. 84 u. 85), Straßburg (Nr. 87), Trier (Nr. 91) und Würzburg (Nr. 110), die nie in Evangeliaren eingetragen wurden. Lediglich eine Straßburger Notiz aus dem 11. Jahrhundert wurde in ein Evangelistar des 9. Jahrhunderts geschrieben (Nr. 86). 56 Vgl. Bischoff 1967 (wie Anm. 9), S. 8 f. 57 Zur Datierung des Neubaus der Stiftskirche vgl. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 48 f. – Irmingard Achter: Die Stiftskirche und ihre alte Ausstattung, in: Bott 1986 (wie Anm. 3), S. 85–167, hier S. 94 f.

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Im Fall des Schatzverzeichnisses von 1335 wurden die Aufzeichnungen allerdings während der Amtszeit der zwischen 1320 und 1343 belegten Kustodin Sophie von Gennep gemacht. Somit ist von einem anderen Schreibanlass auszugehen. Auch für dieses Inventar muss ein Bezug des Eintrags zu größeren Entwicklungen im Stift offenbleiben, da diese nicht exakt datierbar sind: Möglicherweise 1319 erhielt Gerresheim eine Heilig-BlutReliquie, was zeitlich deutlich vor dem Eintrag des Schatzverzeichnisses steht; überdies wird diese Reliquie nicht im Inventar erwähnt.58 Die Verlegung der Gebeine Gerrichs in die Stiftskirche kann bislang kaum näher datiert werden: Anhand der kunsthistorischen Datierung des Grabes wird das letzte Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts erwogen;59 zudem findet sich im Inventar kein Bezug zu Gerrichsreliquien. Überhaupt fällt auf, dass in den beiden Schatzverzeichnissen gerade nicht die zentralen Reliquienschätze erwähnt werden: Neben den fehlenden Hinweisen auf die Heilig-BlutReliquie werden auch drei Schatzobjekte nicht erwähnt, die sich heute noch im Kirchenschatz befinden und vor der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden sind, nämlich das um 1200 geschaffene Reliquienkästchen aus Limoges, das mit Seide überzogene und mit Wappenschilden geschmückte gotische Kästchen des 14. Jahrhunderts und das Katharinen-Turmreliquiar, das dem Stifterinnenwappen zufolge frühestens 1327 entstanden sein kann, aber vielleicht erst nach der Mitte des 14. Jahrhunderts, sicher vor 1367 gefertigt wurde.60 Das im Inventar von 1335 erwähnte perlenbesetzte Kästchen passt in jedem Fall auf keines der heute noch erhaltenen Schatzstücke. In den beiden Inventaren werden hingegen vor allem Kleidungsstücke und Altartücher erwähnt, dazu noch die Kelche und Plenarien sowie im Verzeichnis von 1335 silberne Kannen und das perlenbesetzte Hostienbehältnis. In erster Linie wurde also der Bestand der Kleiderkammer aufgezeichnet, zudem finden sich Verweise auf Gegenstände, die in oder bei den Altären aufbewahrt wurden; der Inhalt des Schatzschranks selbst wurde nicht 58 Zur Heilig-Blut-Verehrung in Gerresheim vgl. Achter 1986 (wie Anm. 57), S. 138. – Brzosa 2001 (wie Anm. 42), S. 577–582. – Die Heilig-Blut-Monstranz wurde um 1420 geschaffen. Vgl. Stadt und Stift Gerresheim, Ausst. Kat. Stadtgeschichtliches Museum Düsseldorf, red. Meta Patas, Düsseldorf 1970, Kat. Nr. 64. – Brzosa 2001 (wie Anm. 42), S. 579. 59 Mündlicher Hinweis von Klaus Gereon Beuckers. – Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 3), S. 55 und 1986 (wie Anm. 26), S. 15 sowie Brzosa 2001 (wie Anm. 42), S. 573 datierte die Translation der Reliquien nach älteren kunsthistorischen Einordnungen des Gerrichsgrabs in die Mitte des 14. Jahrhunderts. – Achter 1986 (wie Anm. 57), S. 88 brachte die Überführung der Gebeine mit einer Stiftungsnotiz in Verbindung und datierte sie vor 1287. – Zur Verehrung des hl. Gerrich im Mittelalter vgl. Brzosa 2001 (wie Anm. 42), S. 571–575. 60 Eine Übersicht über die wichtigsten Ausstattungsstücke der Gerresheimer Stiftskirche bietet Achter 1986 (wie Anm. 57), S. 123–167. – Zum Reliquienkästchen aus Limoges vgl. Achter 1986 (wie Anm. 57), S. 130–132 u. Kat. Düsseldorf 1970 (wie Anm. 58), Nr. 60. – Zum gotischen Kästchen vgl. Achter 1986 (wie Anm. 57), S. 135. u. Kat. Düsseldorf 1970 (wie Anm. 58), Nr. 62. – Zum Turmreliquiar vgl. Achter 1986 (wie Anm. 57), S. 136 u. Kat. Düsseldorf 1970 (wie Anm. 58), Nr. 61.

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beschrieben, da die Kelche, Kannen und der Hostienbehälter wohl für den täglichen Gottesdienst in der Sakristei bereitstanden.61 Beide Verzeichnisse besaßen somit nicht wie andere Schatzverzeichnisse die Funktion, gleichsam die Gesamtheit der Heiligen zu vergegenwärtigen, an die Stifter bzw. die Stiftungen zu erinnern oder den identitätsstiftenden Kern der geistlichen Gemeinschaft festzuhalten.62 Vielmehr sind die beiden Niederschriften Beleg für die zunehmende Verschriftlichung in der Verwaltung des Stifts; 63 auf die praktische Bedeutung und die Wiedernutzung der Einträge weisen auch die zahlreichen Korrekturen in beiden Einträgen hin, die als spätere Revisionsvermerke gedeutet werden könnten. In diesen Inventaren der Sakristei wurde also festgehalten, was beim häufigen alltäglichen Gebrauch einfacher und schneller verloren gehen konnte als der Inhalt eines Schatzschrankes. Eine Rekonstruktion des gesamten Gerresheimer Kirchenschatzes anhand der beiden Inventare ist somit nicht möglich,64 vielmehr erhält man Einblicke in den Bestand der Sakristei und den Alltag in der Stiftskirche. 61 Zu den unterschiedlichen Aufbewahrungsorten von Kirchenschätzen vgl. Beuckers 2006 (wie Anm. 52), S. 105. 62 Diese Funktionen hat Melanie Prange: Thesaurus Ecclesiae Constantiensis. Der mittelalterliche Domschatz von Konstanz. Rekonstruktion eines verlorenen Schatzensembles (Berichte aus der Kunstgeschichte), Aachen 2012, S. 267–271 in ihrem Kapitel zur „ideellen Bedeutung des Konstanzer Domschatzes für Bischof, Domkapitel und Stadt“ herausgearbeitet. Sie stützt sich dabei auf die kaum mehr überschaubare Schatzforschung, vgl. an übergreifenden Studien zum Beispiel Percy Ernst Schramm: Versuch einer Rekonstruktion des Hortes und des sonstigen beweglichen Herrscherbesitzes, in: Denkmale der deutschen Könige und Kaiser, Bd. 1: Von Karl dem Großen bis Friedrich II., 768–1250, hg. v. Percy Ernst Schramm u. Florentine Mütherich (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München, Bd. 2), München 1981, S. 15–112. – Matthias Hardt: Gold und Herrschaft. Die Schätze europäischer Könige und Fürsten im ersten Jahrtausend (Europa im Mittelalter, Bd. 6), Berlin 2004. – Lucas Burkart: Schatzinszenierungen. Die Verwendung mittelalterlicher Schätze in Ritual und Zeremonie, in: Bierende u. a. 2008 (wie Anm. 1), S. 253–288. – Treasure in the Medieval West, hg. v. Elizabeth M. Tyler, Woodbridge/York 2000. – Vom Umgang mit Schätzen. Internationaler Kongress Krems an der Donau, hg. v. Elisabeth Vavra, Kornelia Holzner-Tobisch u. Thomas Kühtreiber (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Bd. 20), Wien 2007. – Le trésor au moyen âge. Questions et perspectives de recherche, hg. v. Lucas Burkart, Philippe Cordez u. a. (L’atelier de Thesis, Bd. 1), Neuchâtel 2005. – Umfassend zu Genese, Bedeutung und Funktion mittelalterlicher Schätze Lucas Burkart: Das Blut der Märtyrer. Genese, Bedeutung und Funktion mittelalterlicher Schätze (Norm und Struktur, Bd. 31), Köln 2009 mit einer Übersicht über die mediävistische Forschung S. 13–20; die Funktion von Kirchenschätzen wird allerdings fast nur anhand der Aussagen spätantiker und frühmittelalterlicher Theologen dargestellt, S. 21–63. 63 Zum Konstanzer Domschatzverzeichnis von 1343, das als Zeugnis für eine zunehmende Schriftlichkeit und Professionalisierung in der Verwaltung des Domkapitels gedeutet werden kann, vgl. Andreas Bihrer: Der Konstanzer Bischofshof im 14. Jahrhundert. Herrschaftliche, soziale und kommunikative Aspekte (Residenzenforschung, Bd. 18), Ostfildern 2005, S. 215–219. 64 Eine Rekonstruktion des Gerresheimer Schatzes analog zum Vorgehen von Melanie Prange: Der Konstanzer Domschatz. Quellentexte zu einem verlorenen Schatzensemble des Mittelalters und der

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Der Gebrauch des Gerresheimer Evangeliars Datierung und Inhalt der Nachträge in das Gerresheimer Evangeliar lassen den Schluss zu, dass die geistliche Gemeinschaft diese Handschrift als ihr zentrales und wichtigstes materielles Dokument verstanden hat. Datierung und Lokalisierung der Nachträge lassen es zudem wahrscheinlich erscheinen, dass das Evangeliar über die Jahrhunderte hinweg kontinuierlich und relativ bruchlos im Gebrauch war und wahrscheinlich seine zentrale Stellung für den Konvent bis zur Aufhebung des Stifts nie verlor. Dem Gerresheimer Evangeliar wurden über die Jahrhunderte hinweg allerdings unterschiedliche Funktionen zugeschrieben: Aus der liturgischen Haupthandschrift für die Messe, große Kirchenfeste und Prozessionen wurde in bestimmten Situationen ein Eidbuch für die Amtsträgerinnen und Amtsträger sowie für die in die Gemeinschaft neu eintretenden Kanonikerinnen und Kanoniker; auch bei der jährlichen Erneuerung der Profess dürfte der Codex benutzt worden sein. Zugleich fungierte das Gerresheimer Evangeliar als Sakristeibuch und damit als ein Verwaltungsinstrument, in welchem der Bestand vor allem der Kleiderkammer eingetragen, überprüft und ggf. mit einem Revisionsvermerk korrigiert wurde. In der Frühen Neuzeit gerieten die Sakristeiverzeichnisse außer Gebrauch, nun konnte jedoch verstärkt der Wortlaut eines Eides nachgeschlagen werden. Zwar sind keine Inhaltsverzeichnisse oder andere Verweissysteme in die Handschrift aufgenommen worden, vielleicht aber auch verloren gegangen, doch die prominente Stellung der Nachträge anfangs am Ende, später zudem am Anfang der Handschrift lässt eine gewisse Praktikabilität erkennen, sodass man das Gesuchte mit einem Griff finden konnte. Der Eid von 1367 war nur auf den ersten Blick etwas versteckt platziert worden, denn er konnte zwischen zwei Evangelientexten, unter der wichtigen Schenkungsnotiz Theophanus und am Beginn einer neuen Lage, vor allem aber fast genau in der Mitte der Handschrift schnell aufgefunden werden. Insbesondere der im 14.  Jahrhundert und damit wahrscheinlich zeitgleich mit dem Eintrag des Äbtissinneneids angebrachte grüne Registerknopf erlaubte ein sofortiges Aufschlagen dieser Seite – ja der Eid wurde damit mit wichtigen Stellen in den Evangelientexten gleichgestellt, bei denen ebenfalls rote oder grüne Registerknöpfe im 15. Jahrhundert angebracht worden waren.65 Im Gedächtnis der Kustodinnen dürfen die Einträge von Eidesformeln und Sakristeiverzeichnissen zudem in jedem Fall präsent gewesen sein.

Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe A: Quellen, Bd. 57), Stuttgart 2012, und Prange 2012 (wie Anm. 62) ist somit nicht möglich. 65 Die Registerknöpfe stammen aus dem 15. Jahrhundert. Vgl. dazu den Beitrag von Annemarie Stauffer in diesem Band.

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Allerdings belegt die schriftliche Fixierung von Eidesformeln und Teilen des Kirchenschatzes eine neue Qualität gegenüber einer rein mündlichen Bewahrung von Recht, Besitz und Tradition, sodass sich in den Nachträgen zum Gerresheimer Evangeliar auch der spätmittelalterliche Professionalisierungsprozess in geistlichen Institutionen widerspiegelt. Praktischer Nutzen schloss symbolische Funktionen jedoch nicht aus, denn die zentrale Handschrift der Gerresheimer Gemeinschaft wurde über ihre liturgische Funktion hinaus insbesondere durch die Aufnahme der Eidesformeln zum Abbild des Stifts, seiner Gemeinschaft, seiner Verfassung und seiner Normen.66 Durch die Ergänzung der Evangelientexte ebenso wie durch das veränderte Handeln mit dem Codex, der nun auch als Eidbuch und Verwaltungsinstrument diente, wandelte sich im Zuge dieses Gebrauchs überdies die Handschrift selbst, da ihr der Konvent mit diesen sinnstiftenden Praktiken, also im Schreiben und Handeln, immer neue Funktionen zuschrieb: Aus dem Evangeliar konnte im Gebrauch je nach Anlass und Kontext ein Eidbuch oder ein Sakristeibuch, eine Zeremonialhandschrift oder ein Verwaltungsinstrument, ein Symbol für bestimmte Normen oder das Abbild des ganzen Stifts werden. Diese Bedeutungsverschiebungen ergaben sich nicht nur aus den Umcodierungen der Handschrift im Gebrauch, sondern diese neuen Semantiken wurden gleichsam in den Codex eingeschrieben. Der anfangs für sich allein stehende Evangelientext wurde im Lauf der Jahrhunderte mit immer wieder anderen Texten verbunden, die als Paratexte die Evangelien ergänzten, ihnen bestimmte Lesarten mitgaben oder Erwartungen steuerten, ja die als Metatexte und damit als explizite Kommentare zu den Evangelien verstanden werden konnten. Die Nutzung des Gerresheimer Evangeliars als Sakristeiverzeichnis blieb den Gebrauchspuren zufolge auf das 13. und 14. Jahrhundert beschränkt, doch die Eide wurden ab dem 14. Jahrhundert durchgehend eingetragen – und dies ab dem 16. Jahrhundert an den prominenten Stellen zu Beginn und am Ende der Handschrift: Die Eide hatten die Evangelientexte umfangen, sie bestimmten die Lesart der biblischen Texte beim Aufschlagen ebenso wie beim Zuschlagen der Handschrift: Das Evangeliar war zum Eidbuch geworden. Aber: Der Gerresheimer Konvent hatte kein eigenständiges Eid- oder Schwörbuch angelegt, die Wirksamkeit der Eide wurde vielmehr durch die Verbindung mit dem Evangelientext und durch die Eintragung in das ehrwürdige Buch der Gemeinschaft überhaupt erst sichergestellt. Überdies garantierte erst die Einheit von Evangeliar und Eidbuch die Wirkung der Eide, und diese Einheit wurde im Akt des Eides durch die Benutzung des Gerresheimer Evangeliars für den Konvent sichtbar und immer wieder aktualisiert. Der 66 Das Evangeliar wurde im 19. Jahrhundert zur Handelsware für Kunstliebhaber und im 20. Jahrhundert zum Identifikationsobjekt der Gerresheimer Pfarrei, der Handschrift wurden also auch noch nach der Säkularisierung immer neue Funktionen zugeschrieben. Vgl. dazu den Beitrag von Beate Johlen-Budnik in diesem Band.

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Evangelientext blieb wie eine wertvolle Reliquie unverändert, aber durch die Rahmung mit anderen Texten wurde diesem eine bestimmte Funktion zugeschrieben, so wie die Veränderung der Aufbewahrung und Präsentation einer Reliquie dieser neue Bedeutungen zuweisen konnte. Die Deutungs- und Veränderungskompetenz und damit die Autorschaft kam im Falle des Gerresheimer Evangeliars dem Konvent zu, dessen wechselnde Geschichte sich somit im veränderten Gebrauch seiner zentralen Handschrift zeigt. Für die moderne Forschung besaßen die Nachträge bisher kaum eine Bedeutung, vielmehr rekonstruierte man das Gerresheimer Evangeliar allein für seine Entstehungszeit: Das ottonische Evangeliar sollte unverändert, unangetastet, rein wiederhergestellt werden; spätere Nachträge wurden als Entwertung verstanden – nicht anders wurden ja auch lange romanische oder gotische Kirchen renoviert, die man von ihrem barocken, klassizistischen oder gar neo-romanischen bzw. neo-gotischen ‚Ballast‘ zu befreien versuchte. Damit nahm man ähnlich wie den Kirchen auch dem Gerresheimer Evangeliar seine Geschichte, die für den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Benutzer offensichtlich war, wurden doch durch die unterschiedlichen Schriftarten die Nachträge als Nachträge bewusst gemacht. Dies änderte sich erst mit den letzten Zusätzen wohl aus dem 17. Jahrhundert, in denen unter Verwendung der humanistischen bzw. neo-karolingischen Minuskel die Schrift der Evangelientexte imitiert wurde: Nun war keine Unterscheidung zwischen Evangelientext und Eidformel mehr sichtbar; beide waren in äußerlich kaum mehr unterscheidbarer, nun homogener Form miteinander verwoben – Nachträge waren nun keine Nachträge mehr.

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Philipp Frey und Friederike Szill

Die Nachträge des Gerresheimer Evangeliars Kommentierte Transkription und Übersetzung

Der nachfolgende Beitrag umfasst eine kommentierte Transkription der späteren Nachträge des Gerresheimer Evangeliars vom Spätmittelalter bis in das 18. Jahrhundert. Außerdem bietet er eine vollständige Übersetzung der lateinischen Quellen sowie gelegentlich Übersetzungsvorschläge für mittelhochdeutsche Begriffe. Insgesamt handelt es sich um elf Eidesformeln – sieben auf den ersten vier (fol. Ir–IIv), weitere drei auf den letzten sieben Blättern der Handschrift (fol. 270r–272r) sowie eine weitere aus dem 18. Jahrhundert, die als loses Blatt in dem Codex liegt –, ferner um einen unmittelbar auf das Markus-Evangelium folgenden Äbtissinneneid von Äbtissin Richardis von der Schleiden (amt. 1367– 1384) (fol.  129r)  – im unteren Abschnitt nach dem Eintrag einer Schenkung durch Äbtissin Theophanu von Essen (amt. 1039–1058)1 – sowie zwei Sakristeiverzeichnisse des 13. Jahrhunderts bzw. von 1335, die sich auf der Rückseite des letzten Evangelientextes befinden (fol. 263v).2 Die Nachträge werden in Anlehnung an die Editionsrichtlinien von Walter Heinemeyer transkribiert.3 Die Textwiedergabe erfolgt dabei buchstabengetreu und zeilengenau mit folgenden Ausnahmen: Lateinisches u und i werden rein vokalisch, v und j ausschließlich konsonantisch verwendet. Außerdem werden iy sowie y am Ende lateinischer Wörter als ii wiedergegeben. Übrige orthographische Aspekte folgen dagegen der modernen Rechtschreibung: So werden Majuskeln ausschließlich am Satzanfang, bei Eigennamen und Titeln sowie bei den Nomina Sacra als solche realisiert, ebenso alle amtlichen und institutionellen Bezeichnungen. Alle eindeutigen, im Text befindlichen Abbreviaturen werden kommentarlos aufgelöst, nicht eindeutige oder nicht auflösbare Kürzungen wie von Namen beibehalten und entsprechend (N.) gekennzeichnet. Worttrennung und Interpunktion erfolgen nach heutigem Sprachgebrauch. Römische Zahlen werden in arabischen Ziffern wiedergegeben und bis einschließlich zwölf ausgeschrieben. 1 2 3

Vgl. hierzu den Beitrag von Jens Lieven in diesem Band. Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Bihrer in diesem Band. Walter Heinemeyer: Richtlinien für die Edition landesgeschichtlicher Quellen, 2. Aufl. Neustadt an der Aisch 2000 (OA Marburg 1978).

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Emendationen seitens der Schreiber selbst – dazu zählen Rasuren, das Durch- oder Unterstreichen von Textpassagen, zeilenimmanente Freiräume und sowohl über der Zeile als auch am Rand befindliche Vermerke – werden als solche ausgewiesen und in das Transkript übernommen. Von Textveränderungen, insbesondere der Sprachnormalisierung in klassisches Latein, wurde ausnahmslos abgesehen. Sämtliche Schreibvarianten werden berücksichtigt, Textverzierungen – wie etwa aufwendig gestaltete Initialen, Einzüge und kleinere Schmuckornamente – sind dagegen nicht realisiert. Demgegenüber werden Zusätze, Ergänzungen und Auslassungen durch die Bearbeiter mit eckigen Klammern [ ], Hinweise auf unsichere Lesarten durch [?] gekennzeichnet. Für eine erleichterte Lesbarkeit werden bei der Übersetzung lange Sätze aus der Handschrift parataktisch aneinandergereiht; zum Erhalt der inhaltlichen Übersichtlichkeit werden insbesondere bei Aufzählungen Konjunktionen eingesetzt. Ferner sollen die Wiedergabe der lateinischen Formen des Futur  I als voluntatives Futur, die des Konjunktiv Präsens als erfüllbarer Optativ der Gegenwart das Textverständnis unterstützen. [fol. Ir]

IURAMENTUM CANONICORUM Ego, N., ex hac hora, nunc et inantea ero obe-/diens Dominae meae Dominae Sanctae Abbatissae et Capi-/tulo. Secreta Capituli mei non revelabo. Jura, / statuta Capituli mei nova et de cetero licita / et honesta hactenus observata observabo. Bona / Capituli mei non alienabo. Alienata pro posse / et nosse recuperare iuvabo. Constitutioni / suscepti regiminis renuncio. Sic me / Deus adiuvet et haec Sancta Evangelia.

Eidesformel der Kanoniker Ich, N., will von dieser Stunde an, nun und in Zukunft meiner Herrin, der heiligen Herrin Äbtissin, [und] dem Kapitel gehorsam sein. Die Geheimnisse meines Kapitels will ich nicht enthüllen. Die Gesetze, neuen Statuten meines Kapitels und in Zukunft Erlassenes und Ehrenhaftes, bisher Gewahrtes will ich bewahren. Die Güter meines Kapitels will ich nicht veräußern. Veräußertes will ich nach bestem Wissen und Können unterstützen wiederzuerlangen. Ich verzichte auf das Streitobjekt, dessen Verwaltung ich übernommen habe. So hilf mir Gott und dieses heilige Evangelium.

IURAMENTUM VICARIORUM Ego, N., ab hac hora et inantea ero obedi-/ens et fidelis in licitis et honestis venera-/bili Dominae meae Abbatissae et Capitulo / saecularis Ecclesiae Gerisheimensis. Sta-/tuta et consuetudines eiusdem Ecclesiae ob-/servabo. Bona beneficii mei inventa con-/servabo et deperdita recuperabo pro posse / et nosse. # Sic me Deus adiuvet et haec / Sancta Dei Evangelia. / # Cum aliis non permutabo nec unquem Vicariam meam, / resignabo nisi ad manus Dominae meae Abbatissae tanquam / collatricis verae.

Eidesformel der Vikare Ich, N., will von dieser Stunde an und in Zukunft gehorsam und treu gegenüber den Erlassen und ehrenhaften [Dingen] meiner verehrungswürdigen Herrin Äbtissin und dem Kapitel der ewigwährenden Kirche von Gerresheim sein. Die Statuten und Bräuche derselben Kirche will ich wahren. Die Güter meiner

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Pfründe will ich bewahren und Einbußen nach bestem Wissen und Können wiedererlangen. # So hilf mir Gott und dieses heilige Evangelium Gottes. # Mit anderen will ich niemals mein Vikariat eintauschen [und es] nur zu den Händen meiner Herrin Äbtissin, gleichsam als wahrhaftigen Stifterin, niederlegen. [fol. Iv]

IURAMENTUM PASTORUM Ego, N., ab hac hora et inantea ero fidelis et / obediens in licitis et honestis Reverendae Dominae / Abbatissae et Venerabili Capitulo collegiatae / Ecclesiae Gerisheimensis. Statuta et consuetudi-/nes laudabiles sive honestas Ecclesiae meae pastoralis / observabo. Bona curati beneficii mei inventa con-/ servabo et perdita recuperabo. Cultum Divinum / promovebo. Doctrinam et fidem catholicam praedi-/cabo, in cura animarum mihi commissarum me / sedulum exhibebo pro posse et nosse. Sic me / Deus adiuvet et haec Sancta Dei Evangelia.

Eidesformel der Pastoren Ich, N., will von dieser Stunde an und in Zukunft treu und gehorsam gegenüber den Erlassen und ehrenhaften [Dingen] der verehrungswürdigen Herrin Äbtissin und dem ehrwürdigen Kapitel der Stiftskirche [zu] Gerresheim sein. Die Statuten und lobenswerten und ehrenhaften Bräuche meiner Pfarrkirche will ich bewahren. Die erlangten Güter meiner Pfründe, für das ich Sorge trage, will ich bewahren und Einbußen wiedererlangen. Den heiligen Gottesdienst will ich unterstützen. Die Lehre und den katholischen Glauben will ich verkünden, bei der Sorge um mir anvertraute Seelen will ich mich emsig erweisen nach bestem Wissen und Können. So hilf mir Gott und dieses heilige Evangelium Gottes.

IURAMENTUM CANO-/NISSARUM Ich,4 N.N., Canonossin deß Freijadlich-/en, weltlichen Stiffts S. Hyppoliti zu Gerreßheim / g[e]lobe und verspreche, dießes Stiffts alle und jede Statuten, / Satzungen, wolherbrachten5 Gebräuch und Gewohnheiten hin-/furo6 vest[ig]lich und unverbrochen zu halten, zu dem auch der / würdiger Frawen Abdissinnen und dem Capittul nach / Außweisung vorberührten löblichen Stiffts Statuten und Ge-/wohnheiten, so lang ich präbendirt sein und pleiben werd, willigen / Gehorsamb zu leisten und zu erweisen, daß verheische, g[e]lobe undt / schwere Ich, N.N. So hilff mir Gott und dieße Heilige Gottes Evangelia. / Im Anfang war daß Wort und daß Wort war beij Gott und Gott war / daß Wort etc. [fol. IIr]

IURAMENTUM SECRETARII Ich, N.N., verheische, und g[e]lobe Gott, / der Allerseeligsten Jungfrawen MARIAE, allen Heiligen / Gottes S. Hyppolito Martyri dieser Stifftskirchen Pa-/tronen, daß der zeitlicher Fraw Abdissinnen und Capittul / gehorsamb und getreu sein wölle; auch, daß mir auffgetragenes / Ampt getreulich verrichten, alles, was im Capittul gehandelt / und beschlossen, in Geheimb halten und deß Capittuls Prothocollo / fleißig einzuschreiben und im Anfang eines jeden Capittuls, was / in letztgehaltenem Capitull abgehandlet, öffentlich in Gegenwarth / der sämbtlichen Capittularen zur frischer Gedächt4 5 6

30. Martii anno 1669.] links am Rand. wohlherbrachten] verwischt, wahrscheinlich getilgt. hinfuro] in Zukunft.

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nus und nach-/richtung auch bei nechstfolgendem Capitulo, vor allem und ehe / was anders proponirt wirdt7, ablesen wolle. Copiam Prothocolli8 / ohne Vorwissen und Beliebung deß Capittuls niemandten herauß / geben und ahm End eines jeden Jahrs dem Capittul einlieberen / solle und wolle, daß verheische, g[e]lob[e], und schwere Ich, N.N., so / hilff mir Gott und diß sein Heiliges Evangelium. / Im Anfang war daß Wort und daß Wort war bei Gott und / Gott war daß Wort etc. [fol. IIv]

Iuramentum Canonicorum Ego, N., ex hac hora, nunc et inantea ero obedi-/ens Dominae meae Abbatissae et Capitulo. Secreta / Capituli mei non revelabo. Jura, statuta Capituli / mei nova et de caetero licita et honesta hactenus / observata observabo. Bona Capituli mei non alie-/nabo, alienata pro posse9 et nosse recuperare iuvabo. / Canonicatum meum cum aliis non permutabo neque co-/ram Ordinario Apostolice aut etiam in mensibus col-/latorum unquam resignabo. Sic me Deus adiuvet et / haec Sancta Evangelia.

Eidesformel der Kanoniker Ich, N., will von dieser Stunde an, nun und in Zukunft meiner Herrin Äbtissin und dem Kapitel gehorsam sein. Die Geheimnisse meines Kapitels will ich nicht enthüllen. Die Rechte [und] neuen Statuten meines Kapitels sowie in Zukunft Erlassenes und Ehrenhaftes, bisher Gewahrtes will ich bewahren. Die Güter meines Kapitels werde ich nicht veräußern, [bereits] Veräußertes will ich nach bestem Wissen und Können unterstützen wiederzuerlangen. Mein Kanonikat will ich nicht mit anderen tauschen, auch nicht vor dem Apostolischen Bischof, und ich werde es selbst in Monaten, in denen beizusteuern ist, nicht niederlegen. So hilf mir Gott und dieses heilige Evangelium.

Iuramentum Vicariorum Ego, N., ab hac hora et inantea ero obediens et fi-/delis in licitis et honestis venerabili Dominae meae / Abbatissae et Capitulo Saecularis Ecclesiae Gerisheimen-/sis. Statuta et consuetudines eiusdem Ecclesiae obser-/vabo. Bona beneficii mei inventa conservabo et de-/perdita recuperabo pro posse et nosse. Cum aliis / non permutabo nec unquam vicariam meam resig-/nabo nisi ad manus Dominae meae Abbatissae tan-/quam collatricis verae. Sic me Deus adiuvet et / haec Sancta Dei Evangelia.

Eidesformel der Vikare Ich, N., will von dieser Stunde an und in Zukunft gehorsam und treu sein sowohl gegenüber den Erlassen und ehrenhaften [Dingen] meiner verehrungswürdigen Herrin Äbtissin als auch dem Kapitel der ewigwährenden Kirche von Gerresheim. Die Statuten und Gewohnheiten derselben Kirche will ich bewahren. Die erhaltenen Güter meiner Pfründe will ich bewahren und Einbußen nach bestem Wissen und Können zurück erlangen. Mit anderen will ich mein Vikariat niemals eintauschen und es nur zu den Händen meiner Herrin Äbtissin, gleichsam als wahrhaftiger Stifterin, niederlegen. So hilf mir Gott und dieses heilige Evangelium Gottes.

7 8 9

proponirt wirdt] beauftragt werden. copiam Prothocolli] die Kopien des Protokolls. posse] hochgestellt.

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[fol. 129r] Forma iuramenti praestiti per Dominam Richardim de Sleijda sub / anno Dominice Incarnationis millesimo trecentesimo sexagesimo septimo crastino beatorum apostolorum / Petri et Pauli10. Quod etiam praestabit et faciet quaelibet futura Abbatissa. / Ego, Rikardis de Sleijda, Abbatissa huius Ecclesiae, ab hac hora inantea ero obediens / et fidelis Domino meo, Domino N., Archiepiscopo Coloniensi et eius successoribus pro tempore existen-/tibus canonice11 intrantibus ipsi Ecclesie mee fidelis ero. Bona immobilia et mobilia12 / praetiosa et jura eiusdem Ecclesie inventa conservabo. Ac deperdita recuperabo pro / posse et nosse. Nec ea alienabo: Citra consensum dicti Domini mei Archiepiscopi / pro tempore existentis et Capittuli Ecclesie mee praedicte. Statuta et consuetudines / laudabiles et honestas ipsius Ecclesie observabo et observari faciam correctiones / disciplinares debitas. Faciam et tenebo pro posse et nosse. Sic me Deus / adiuvet et haec Sancta Dei Evangelia.

Eidesformel der Äbtissin [Dies ist] die Formel des vorher festgesetzten Eides, abgelegt durch die Herrin Rykardis von der S[ch]leiden,13 im Jahr der Menschwerdung des Herrn 1367 am folgenden Tag der gesegneten Apostel Petrus und Paulus. Diesen [Eid] wird auch jede beliebige, zukünftige Äbtissin leisten und ablegen. Ich, Rykarids von der S[ch]leiden, Äbtissin dieser Kirche, will von dieser Stunde an [und] in Zukunft meinem Herren, Herrn N., dem kölnischen Erzbischof und dessen Nachfolgern, die im Laufe der Zeit kommen [und] nach kanonischem Recht eingesetzt werden, gehorsam und treu sein. [Auch] meiner Kirche selbst will ich treu sein. Die wertvollen Güter – [sowohl] die unbeweglichen [als auch] beweglichen – und die erhaltenen Rechte derselben Kirche will ich bewahren. Auch will ich Einbußen nach bestem Wissen und Können wiedererlangen. Ich will auch dieses nicht veräußern: [Dies geschieht] In Übereinstimmung mit meinem besagten Herren Erzbischof, mit dem im Laufe der Zeit kommenden [Erzbischof ] und zu dem Kapitel meiner besagten Kirche. Die lobenswerten und ehrenhaften Statuten und Gewohnheiten der Kirche selbst will ich bewahren und dafür sorgen, dass notwendige Züchtigungen und Geißelungen befolgt werden. Ausführen und erhalten will ich [es] nach bestem Wissen und Können. So hilf mir Gott und dieses heilige Evangelium Gottes. [fol. 263v] Sub custodia Domine Gertrudis de Nistere14, que fuit decana et custos, / fuerunt hec ornamenta Gerinxheim in monasterio Sancti / [H]Ypolity15 XIII16 casule et V cappe et XV17 albe / et XV stole et tres 10 anno Dominice Incarnationis millesimo trecentesimo sexagesimo septimo crastino beatorum apostolorum Petri et Pauli] 30. Juni 1367. Das Fest der Apostelfürsten Petrus und Paulus wird am 29. Juni gefeiert. 11 canonice] ce hochgestellt. 12 mobilia] a hochgestellt. 13 Äbtissin Richardis von der Schleiden (amt. 1367–1384). 14 Nistere] Hugo Weidenhaupt: Das Kanonissenstift Gerresheim von der Gründung bis zum Ende des 14. Jahrhunderts, in: Düsseldorfer Jahrbuch 46 (1954), S. 1–120, hier S. 65 liest hier Rinecke. – Bernhard Bischoff: Mittelalterliche Schatzverzeichnisse. Erster Teil: Von der Zeit Karls des Großen bis zur Mitte des 13.  Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte, Bd.  4), München 1967, Nr. 29, S. 39 liest ebenfalls Nistere. 15 Ypolity] verwischt, aspiriert. 16 XIII] verbessert. Vgl. ebenso Bischoff 1967 (wie Anm. 13), S. 39, Anm. 3. 17 XV] hinter XV Rasur. Vgl. ebenso Bischoff 1967 (wie Anm. 13), S. 39, Anm. 4.

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dalmatice et tres subti-/les et una tunica sacerdotalis; et VI18 palle19 / exceptis cottidianis; et IIII20 fanones subdiacona-/les; *et unus aureus calix*21 et septem argentei / calices et III plenaria et XVII purpure. Sub custodia Sophie de Genepe custode fuerunt haec orna-/menta Gerisheijm in monasterio Sancti [H]Ypoliti22 et sub anno Domini / millesimo trecentesimo tricesimo quinto calices fuerunt / XV23. Item V parea subdyaconalea et dyaconalia cum casulis. / Item casule exceptis cum pareis praedictis XIX fuerunt. Item XXVIII / albae in universo; item stolas VII parea; item mapparum in uni-/verso fuerunt XXV; item IIII pullas argenteas; item V / cappas; item I24 pixis25 una cum dictis perlen circumposita[e] / et alia de cristallo ad corpus Christi. Während der Amtszeit [als Kustodin] der Gertrud von Nister, die Dekanin und Kustodin war, gab es folgende Schätze im Kloster des Heiligen Hyppolit zu Gerresheim: 13 Kaseln, 5 (Chor-)Kappen, 15 Alben, 15 Stolen, drei Dalmatiken, drei Subdiakonstuniken und eine Priestertunika, sechs Altartücher26, die vom täglichen Gebrauch ausgenommen sind; vier Subdiakonsfanone27; *ein goldener Kelch und sieben silberne Kelche*; drei Plenaria28 und 17 Purpurgewänder. Während der Amtszeit [als Kustodin] der Kustodin Sophie von Gennep gab es folgende Schätze im Kloster des Heiligen Hyppolit zu Gerresheim im Jahre des Herrn 1335: 15 Kelche, ebenso fünf gleiche Subdiakonsund Diakonsgewänder mit Kaseln. Es gab ebenso 19 Kaseln – die bereits genannten Gewänder ausgenommen;29 ebenso insgesamt 28 Alben; ebenso sieben Stolen; ebenso gab es insgesamt 25 Altartücher; ebenso vier silberne Kannen; ebenso fünf (Chor-)Kappen; ebenso eine zwei Büchsen, eine mit besagten Perlen besetzt und eine andere aus Kristall für die Hostie. [fol. 270r]

PROFESSIO FIDEI CATHOLICAE Ich, N.N., gelaub und bekenne mitt beständi-/gem Hertzen alle und jede Stück, so im christlichem Glauben, / den die Heilige Römische Kirch auff diese weiß gebrauchet, verfasset / seind. Nemblich: Ich glaub in einen Gott, Vatter, den Allmech-/tigen, Schöpffer des Himmels und Erden, aller sichtbarer undt / unsichtbarer Dingen. Und in einen Herren Jesum Christum, den / eingebohrnen Sohn Gottes, auß dem Vatter gebohren von Ewigkeit, / Gott von Gott, Liecht von Liecht, ein wahrer Gott VI] Rasur von VIII. Vgl. ebenso Bischoff 1967 (wie Anm. 13), S. 39, Anm. 5. palle] darüber dat sin dvelen. Vgl. ebenso Bischoff 1967 (wie Anm. 13), S. 39, Anm. 6. IIII] verbessert aus III. Vgl. ebenso Bischoff 1967 (wie Anm. 13), S. 39, Anm. 7. *-*] Rasur, Lesung nach Bischoff 1967 (wie Anm. 13), S. 39, Anm. 8. Ypoliti] aspiriert. XV] verbessert aus XIII. I] verbessert aus due. pixis] verbessert aus pixide. Dat sin dvelen] das sind Tücher. Fanone sind Schultertücher, die über den Kaseln getragen werden. Für Plenarium schlägt Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 13), S. 65 „Wollgewand“ vor. – Edwin Habel, Friedrich Gröbel: Mittellateinisches Glossar, 2. Aufl. Paderborn 1959 (OA 1931, ND 2008), Sp. 293 übersetzen hingegen mit „Behälter für kirchl. Gegenstände“. Daher wird an dieser Stelle Plenaria beibehalten. 29 Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 13), S. 65 übersetzt exceptis cum pareis praedictis irrtümlich mit „ohne die für den täglichen Gebrauch“. 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

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vom wahren Gott, / gebohren und nicht erschaffen, gleicher Substantz und Wesens mitt / dem Vatter, durch den alle Ding erschaffen seind, welcher umb uns Men-/schen und unsers Heils willen von Himmel herunder gestiegen und / durch den Heiligen Geist auß MARIA, der Jungfrawen, Fleisch an sich / genommen hatt, und ist Mensch worden. Er ist auch fur uns under Pon-/tio Pilato gecreutziget, hatt gelitten und ist begraben worden. Undt / am dritten Tag, laut der Heiligen Schrifft, widerumb aufferstanden von / den Todten: Er ist auffgefahren in den Himmell, sitzet zur Rech-/ten Gottes, deß Vatters, und wirdt widerumb kommen mit Herlich-/keit zu richten die Lebendigen und die Toten, welches Reichs kein / End wird seijn. Ich glaub auch in den H[eiligen] Geist, den lebendigmach-/ enden Herren, der vom Vatter und Sohn hergehet, welcher sampt / dem Vatter und Sohn zugleich angebettet und geehret wird, der da / geredt hatt durch die Propheten. Ich glaub auch [in] ein[e] einige, Heilige, / Allgemeine und Apostolische Kirchen. Ich bekenne eine Tauff, zu[r] Ver-/gebung der Sünden und wartte auff die Aufferstehung der Abge-/storbenen, und auff ein ewigs zukünfftiges Leben. Amen. / Alle Apostolische Geistliche Satzungen sambt allen anderen Ordnun-/gen und Gebräuchen der Catholischen Kirchen nemme mich ahn und halt / sie festiglich. / Die Heilige Schrifft verstehe ich und laß sie zu, in und nach dem Verstandt, / welchen unser H[eiligen] Mutter die Christliche Kirch bißher gehabt undt / noch helt: Sintemahl30 ihr zugehört, den wahren Verstand unndt / Außlegung der Heiligen Schrifft von den falschen zu underscheiden. [fol. 270v] Ich will auch gemelte H[eilige] Schrifft alzeit nach der einhelligen Außlegung / der H[eiligen] Vätter verstehen und annemmen und nicht anderst. / Ich glaub und bekenn das wahrlich und eigentlich siben Sacrament / deß neuen Testaments, von Christo unserem Herren selbst eingesetzt / und dem menschlichen Geschlecht sehr nutzlich, wiewoll nicht alle / einem jeden Menschen zur Seligkeit nothwendig seijndt: Als nemblich / der Tauff, Firmung, daß Sacrament deß Altars, die Buß, letzte / Oelung, die Priesterweijhe und die31 Ehe, und daß durch dieße Sacra-/ment dem Menschen Gnadt mitgetheilt werde. Auß welchen allen / der Tauff, Firmung und Priesterliche Weijhung, ohn Gottslästerung / und grosse Sündt nicht mögen widerholt und zum anderenmahl ge-/braucht werden. Ich neme auch an, und laß zu alle gewönliche und bewehrte Bräuch, / so in der Christlichen Catholischen Kirchen beij der öffentlichen herlichen / Darreichung hochgemelter dieser Sacramenten gebraucht werden. / Deßgleichen glaub ich auch, alles sambtlich und sonderlich, was von der / Erbsünd und Rechtfertigung des Sünders, im H[eiligen] algemeinen Concilio / zu Trient erklärt und beschlossen worden ist. / Ich beken auch und glaub, daß in dem hochheiligen Ampt der Meß / Gott dem Herren ein wahres, eigentliches und versöhnliches Opffer, / fur die Lebendige und die Todten aufgeopffert werde, daß auch in dem / allerheiligsten Sacrament deß Altars warhafftig, leiblich und wesent-/lich zugegen seij der Leib und daß Blut mit der Seel und Gottheit un-/sers Herren Jesu Christi, und daß die gantze Substantz des Brots in / den Leib und die Substantz deß Weins in daß Blut Christi verwandelt / werde, welche Wandlung die Christliche Catholische Kirch, Transub-/stantiation, daß ist eine Verwandlung einer Substantz in die an-/der, nennet. / Ich glaub auch und bekenn, daß under einerleij Gestalt der gantz unzer-/theilte Christus volkommentlich und daß wahre Sacrament seines / Fronleichnambs genossen und empfangen werde. / Ich glaub auch vestiglich, daß ein Fegfewr seij und daß die christgläubige / Seelen daselbsten durch daß Furbitt der gläubigen lebendigen Menschen / Trost und Hulff empfahen. / Item32, daß man

30 Sintemahl] weil. 31 die] übergeschrieben. 32 item] ebenso.

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auch die lieben Heiligen, so mit Christo regieren, / ehren und anrüffen soll und daß sie auch Gott fur uns bitten: darzu / auch, daß ihre Heylthumb in Ehren sollen gehalten werden. Ich halt33 [fol. 271r] Ich halt beständiglich darfur, daß man die Gebiltnußen Christi, der / Mutter Gottes und anderer lieben Heiligen haben und auffhalten, / auch denselbigen gebührende Ehr und Reverentz erzeigen soll. / Ich glaub auch für gewiß, daß Christus der Herr den Gewalt deß Ab-/laß der Kirchen gegeben habe, auch, daß desselbigen Ablaß Gebrauch / der Christenheit gar heilsam seij. / Ich bekenn auch die heilige algemeine und Apostolische Römische Kir-/chen fur ein Mutter und Meisterin aller anderen Kirchen. / Ich versprich auch und gelob mit dem Schwur wahre Gehorsamb / dem Römischen Bischoff als deß H[eiligen] Petri Obristen Apostels Nach-/kömbling und deß Herren Jesu Christi Statthalteren. / Dergleichen alle andere Stuck, so von den H[eiligen] Canonen und algemei-/nen Concilien, furnemblich aber von dem H[eiligen] Trientischen Concilio, / auffgesetzet, verordnet und beschlossen worden; dieselbigen bekenn / und nimb34 ich ungezweiffentlich an. / Hergegen aber alle Irrthumben, Lehr, Stuck und Ketzereijen, so / von gemelter35 Catholischer Kirchen bißher verdampt, verworffen / und verflucht seindt oder nachmals verdampt, verworffen und / verflucht sollen werden, die verdamme, verwerffe und verfluche / ich ebenmeßigh. / Diesen wahren Catholischen Glauben, ausserhalb welches / niemandt seelig kan werden, den ich da in Gegenwertigkeit / freijwillig bekenn und warhafftig halte, denselben will ich auch / |: mit Hulff Gottes :|36 biß ahn mein letztes End, gantz unwider-/sprechendtlich, unverwirrt und unverletzt halten und bekennen. / X337 Ich will auch, so viel mir mueglich, allen Fleiß fürwenden, daß / dieser Recht und warhafftig Glaub von meinen Underthanen / und allen denen, so mir under mein Sorg befohlen, soll gehalten, / gelehret und geprediget werden.] Daß verheische, gelobe undt / schwer ich, N.. So helff mir Gott und die Heilige Gottes Evan-/gelia. / Im Anfang war daß Wort und daß Wort war beij Gott und / Gott was daß Wort. Dasselbig war im Anfang beij Gott etc. / Jo[h]an[nes] I. [fol. 271v]

Den Eidt den man / schweren soll wann eher vom Adell / sein Acht Seijtten beweisen soll. Ich schwer beij Gott, unnd seinem Heilligen Evangelio mitt / uffgestreckttenn fingeren, daß die gegenwerttige Junffer auß einem / E[h]ebett geborenn, und vonn keiner Bastardijen hergesproßen und von / keiner Burgerschaftt, noch einiges Standes, der nicht recht dem Adell / gemaeß seij, unnd daß sie kein gelehentte Naaffen hatt, deme vonn / gutter altter Ritterschafft hergesproßenn. Ich schwere und g[e]lob / auch nhun38 hijnfurtter39, einem ehrwürdigen Capittell / alhie mitt Rhaett und Thatt getreuw und holtt zu sein, ihr bestes vor-/zuowenden unnd daß argst so vill moglich kheeren40 zu helffenn / alles getrewlich und ungefherlich alß mir Gott helff und sein hei-/liges Evangelium. In 33 34 35 36 37 38 39 40

Ich halt] Reklamat. nimb] verbessert aus nemb. gemelter] erwähnter. Wiederholungszeichen. X3] links am Rand. nhun] Tilgung vor nhun. hijnfurtter] entspricht hinfuro (wie Anm. 6). keehren] sich um etwas kümmern.

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principio erat verbum et verbum erat apud Deum41 / Diesenn Eidt sollen zweij Aedelichen Personen fur die Junffer schweren / So man42 anders befünde, soll die Junffer der Prebenden beraubtt / sein und43 verwirkt haben. [fol. 272v]

Iuramentum Custodis Ich, N.N., verheisse und gelobe Gott und seiner liber Mutter, / allen Heiligen und S. Hippolyto disser Stiffts Kirchen Patron, das / ich treulich alle kirchische ornamenta, Gutter und Sachen / wie auch die Schlüssel der Kirchen, solang ich am Ambt bin, / verwahren will, gelobe auch dieselbige wieder den Willen Meiner / Ehrwirdigen und gnedigen Frawen Abtissin und Capituls / niemand zu lieffern, ja meiner gnedigen Frawen und / Capitularen will ich in allen Dingen, so mein ambt an-/trifft und so lang ich das ambt habe, gehorsam sein und was44 der / Kirchen nützlich und zierlich sein wird, das will ich beförderen, / was aber dem Gottes dienst abbruchig, der Kirchen schädlich oder / unehrlich moge sein, nach meinem Vermogen umb Gottes / willen und meiner Seelenheil willen gern und fleißig allezeit / verhinderen. So hilffe mir Gott und alle seine Heiligen. Amen [lose eingelegtes Blatt]

Iuramentum Canonici aut Pastoris Gerresheimiensis Ego, N.N., ex hac hora, nunc et in antea ero obediens Dominae / meae Abbatissae et Capitulo. Secreta Capituli mei non revelabo. / Jura, statuta Capituli mei nova et de caetero licita et / honesta hactenus observabo. Bona Capituli mei non alienabo. / Alienata pro posse et nosse recuperare iurabo. Cultum Divinum / promovebo. Doctrinam et fidem catholicam praedicabo, in cura[tionibus?] / animarum mihi commissarum me sedulum exhibebo. Canonicatum / et Pastoratum meum cum aliis non permutabo neque coram / Ordinario Apostolice aut etiam in mensibus collatorum unquam / resignabo. Ita me Deus adiuvet et haec Sancta / Evangelia.

Eidesformel eines Kanonikers oder Pastors von Gerresheim Ich, N., will von dieser Stunde an, nun und in Zukunft meiner Herrin Äbtissin und dem Kapitel gehorsam sein. Die Geheimnisse meines Kapitels will ich nicht enthüllen. Die Gesetze, neuen Statuten meines Kapitels, in Zukunft Erlassenes und Ehrenhaftes sowie bisher Gewahrtes will ich bewahren. Die Güter meines Kapitels will ich nicht veräußern. [Bereits] Veräußertes schwöre ich nach bestem Wissen und Können wiederzuerlangen. Den heiligen Gottesdienst will ich unterstützen. Die Lehre und den katholischen Glauben will ich verkünden, bei der Sorge um mir anvertraute Seelen will ich mich emsig erweisen. Mein Kanonikat und Pastorat will ich nicht mit anderen tauschen und es weder in Anwesenheit des Apostolischen Bischofs noch jemals [sonst] – selbst in den Stiftermonaten – niederlegen. So hilf mir Gott und dieses heilige Evangelium.

41 In principio erat verbum et verbum erat apud Deum] Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott. (Joh 1,1). 42 man] Loch vor man. 43 und] dasselbe Loch wie eine Zeile zuvor vor und. 44 was] übergeschrieben.

Die Nachträge des Gerresheimer Evangeliars | 161

Thorsten Henke

Das Gandersheimer Plenar und seine Nachträge „Item omnes et singuli Canonici nostri futuri, ante receptionem ipsorum, de obseruatione Constitutionum et statutorum predictorum prestabunt iuramentum in manibus Decane, Capitulo presente, tactis digitis sacrosanctis scripturis.“ 1 (Statuten des Gandersheimer Reichsstifts von 1419)2

Das Gerresheimer Evangeliar ist nicht das einzige Prachtevangeliar eines Damenstiftes, das durch seine Nachträge im späten Mittelalter und der Neuzeit zu einem Identitätsobjekt der geistlichen Gemeinschaft wurde. Auch das aus dem Damenstift Gandersheim stammende Evangeliar, das sich heute auf der Veste Coburg befindet, ist ein besonders aussagekräftiges Beispiel für diese Selbstvergewisserung der geistlichen Institute über ihre altehrwürdigen liturgischen Leitstücke. Mit dem Gandersheimer Plenar hat sich ein Zeugnis der ottonischen Kultur erster Güte erhalten.3 Die beziehungsreichen Nachträge und Ergänzungen und seine Existenz in dem liudolfingischen Hausstift Gandersheim lassen es als ein ottonisches Monument par excellence erscheinen, das beispielsweise durch den „Aethelstan-Eadgifu“-Nachtrag des 10. Jahrhunderts ein Ausdruck der angelsächsisch-ottonischen Kulturbeziehungen ist.4 Der Quellenwert des Codex kann dabei gerade für das Gandersheimer Stift nicht hoch 1

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„Alle und jede von unser zukünftigen Canonicis, sollen ehe sie aufgenommen werden, in denen Händen der Decanissin in Gegenwart des Capituls, daß sie die Finger auf die Heilige Schrift legen, einen Eyd abstatten, daß sie die vorgemeldete Satzungen, und Statuta beobrichten wollen.“ Übersetzung zit. n. Niedersächsisches Landesarchiv – Staatsarchiv Wolfenbüttel (im Folgenden NLA Wolfenbüttel), Akten: 11 Alt Gand: Reichsstift Gandersheim, Fb. 1, II, Nr. 1, Copien von Stiftsstatuten u. Acten deren Enwurf u. Erlaß betr. 1419–1804 (...), fol. 55. Stiftsstatuten von 1419, zit. n. Johann Christoph Harenberg: Historia ecclesiae Gandershemensis cathedralis ac collegiatae diplomatica, Hannover 1734, S. 922.  – NLA Wolfenbüttel, Urkunden: 6 Urk: Reichsunmittelbares Kanonissenstift Gandersheim, Nr. 319 (18. November 1419). Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1. Der Schmuckeinband des Evangeliars durfte auf den großen Ottonen-Ausstellungen der letzten Jahre nicht fehlen. – Vgl. Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike zum Mittelalter, Ausst. Kat. Kulturhistorisches Museum Magdeburg, hg. v. Matthias Puhle u. Gabriele Köster, 2 Bde., Regensburg 2012, Bd. 2, Kat. Nr. V.1, S. 548 (Michael Peter). Vgl. Andreas Bihrer: Begegnungen zwischen dem ostfränkisch-deutschen Reich und England (850– 1100). Kontakte – Konstellationen – Funktionalisierungen – Wirkungen (Mittelalter-Forschungen, Bd. 39), Ostfildern 2012, bes. S. 269–272 mit weiterführender Literatur. – Zu den Gandersheimer Nachträgen vgl. auch Klaus Gereon Beuckers: Das älteste Gandersheimer Schatzverzeichnis und der Gandersheimer Kirchenschatz des 10./11. Jahrhunderts, in: Gandersheim und Essen. Vergleichende

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genug eingeschätzt werden, haben sich doch nur wenige weitere Handschriftenfragmente aus seiner Frühzeit erhalten, welche die Brände und andere Katastrophen der Jahrhunderte überstanden.5 Im Gegensatz zu den frühen Nachträgen lagen die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Nachträge, die seit dem 15. Jahrhundert eingetragen und seit dem 17. Jahrhundert eingebunden wurden, bislang weniger im Blick der Forschung.6 Sie sind von Ilona Hubay in ihrer Beschreibung der Handschrift einzeln benannt und an den entsprechenden Stellen von Hans Goetting in seine umfassende Arbeit zum Gandersheimer Reichsstift eingearbeitet worden.7 Eine zusammenfassende Darstellung des Textbestandes fehlt allerdings bisher. Im Folgenden soll daher zumindest ihr Inhalt betrachtet und damit der Umgang sowie die Bedeutung des Codex für die stiftische Gemeinschaft aufgezeigt werden.8 Bei dem Codex handelt es sich um eine dem Metzer Skriptorium entstammende Handschrift aus dem zweiten Drittel des 9. Jahrhunderts von insgesamt 168 Blättern.9 Sie beginnt mit dem Capitulare Evangeliorum (fol. 1v-9v), das keine Nachträge in Gandersheim erfahren hat. Ihm folgen reich gestaltete Kanontafeln aus der Metzer Hofwerkstatt.10 Sie sind als Quaternio geheftet, wobei die erste recto-, die vorletzte verso-Seite

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Untersuchungen zu sächsischen Frauenstiften (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 4), hg. v. Martin Hoernes u. Hedwig Röckelein, Essen 2006, S. 97–129. Vgl. Hartmut Hoffmann: Nonnenstudien, in: Hartmut Hoffmann: Schreibschulen und Buchmalerei. Handschriften und Texte des 9.–11. Jahrhunderts (Monumenta Germaniae Historica. Schriften, Bd. 65), Hannover 2012, S. 68–79 hat die wenigen Fragmente des Gandersheimer Skriptoriums des 9., 10. und frühen 11. Jahrhunderts zusammengestellt. Eine grundlegende Würdigung des Plenars und seiner Geschichte bei Johannes Zahlten: Äbtissin Therese Natalie zu Braunschweig-Wolfenbüttel, das Gandersheimer Stiftsplenar und die dortige Bibliothek, in: Braunschweig-Bevern. Ein Fürstenhaus als europäische Dynastie 1667–1884, hg. v. Christof Römer (Veröffentlichungen des Braunschweiger Landesmuseums, Bd. 84), Braunschweig 1997, S. 233–247. – Vgl. auch Macht des Wortes. Benediktinisches Mönchtum im Spiegel Europas, Ausst. Kat. Benediktinerstift St. Paul im Lavanttal u. Landesmuseum für Klosterkultur Dalheim, hg. v. Gerfried Sitar u. Martin Kroker, 2 Bde., Regensburg 2009, Bd. 2, Kat. Nr. 15.7, S. 243 f. (Klaus Gereon Beuckers). Ilona Hubay: Die Handschriften der Landesbibliothek Coburg, Coburg 1962, S. 9–16. – Hans Goetting: Das reichsunmittelbare Kanonissenstift Gandersheim (Germania Sacra, N.F. 7: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz. Das Bistum Hildesheim, Bd. 1), Berlin 1973, u. a. S. 66–68. – Vgl. auch Zahlten 1997 (wie Anm. 6), S. 242. Christian Popp, Göttingen, sei herzlich für die Unterstützung und Hinweise gedankt. Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diesen Codex. – Vgl. Hoffmann 2012 (wie Anm. 5), S. 71. – Das Lagenschema lautet (IV+1)+8, IV, III+6, IV, I+4, IV, (III+1). Vgl. Hubay 1962 (wie Anm. 7), S. 10. Zur Buchmalerei mit älterer Literatur vgl. Otto der Große, Magdeburg und Europa, Ausst. Kat. Kulturhistorisches Museum Magdeburg, hg. v. Matthias Puhle, 2 Bde., Mainz 2001, Bd. 2, Kat. Nr. III.2, S. 120 f. (Rainer Kahsnitz).

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und das folgende siebzehnte Blatt (fol. 17) der Lage in der ursprünglichen Anlage ohne Gestaltung geblieben ist.11 Erst mit der nächsten Lage, ebenfalls ein Quaternio, beginnen mit Novum opus facere me cogis (fol. 18r) und Plures fuisse (fol. 19r) zwei Vorreden des heiligen Hieronymus. Darauf folgen mit dem Incipit breviarium eiusdem (fol. 20v) die Evangelien. Sie sind mit einzelnen Initialen aus goldenem und farbigem Rankenwerk ausgestaltet, die Initien und das Explicit der Evangelien beginnen mit großen goldenen Capital- und Unzialbuchstaben.12 Der Schluss des Lukas-Evangeliums ist dabei auf die erste verso-Seite (fol. 128v) eines einzelnen Unios geschrieben worden, worauf die zweite Seite (fol. 129) des Unio vor dem Johannes-Evangelium leer geblieben ist.13 Bereits im 9. Jahrhunderts wurde ein Nachsatzblatt eingeheftet. Auf ihm ist in England Ende des 9. Jahrhunderts der Besitzvermerk von Aethelstan und Eadgifu eingetragen worden.14 Er verweist auf die Vorbesitzer, Königin Eadgifu, Gemahlin König Karls des Einfältigen, und ihren Halbbruder Aethelstan (amt. 925–939), König der Angelsachsen und Mercier. Die Handschrift ist danach erst im 10. Jahrhundert mit den Ottonen nach Gandersheim gelangt, vermutlich in der Zeit von Äbtissin Gerberga II. (amt. 949–1001), der Schwester Herzog Heinrichs II. von Bayern, genannt der Zänker (verst. 995).15 Der Codex kann mit guten Gründen als liturgisches Hauptevangeliar des Stifts bezeichnet werden.16 Die frühesten Gandersheimer Einträge sind die Ende des 10. Jahrhunderts an verschiedenen Stellen in den Evangelien angefertigten Korrekturen.17 Danach folgt chronologisch die Zehntbestätigung durch Bischof Bernward von Hildesheim Anfang des 11 Die leeren Seiten sind erst ab dem 15. und 16. Jahrhundert beschrieben worden, vgl. dazu unten. 12 So das Argumentum des Markus-Evangeliums fol. 55v und die Incipit-Seiten des Markus- und Lukas-Evangeliums fol. 57v u. 84r. Das Incipit des Markus- und das des Johannes-Evangeliums sind mit kleineren Versalien und einer farbig gestalteten I-Initiale ausgestaltet, fol. 58r u. 132r. Die Explicit-Seiten der Evangelien sind wiederum in kleineren Versalien in Gold verfasst, fol. 55r, 79v, 131v u. 167r. 13 Unklar bleibt, ob das Blatt mit Malerei ausgestaltet werden sollte. Die Seiten sind zumindest mit Blindlinierung als Textseite vorbereitet. Das Johannes-Evangelium verteilt sich auf vier Quaterionen und einem Terzio. 14 Vgl. Bihrer 2012 (wie Anm. 4), S. 269–272. 15 Grundlegend zu Gandersheim in ottonischer Zeit vgl. Klaus Gereon Beuckers: Kaiserliche Äbtissinnen. Bemerkungen zur familiären Positionierung der ottonischen Äbtissinnen in Quedlinburg, Gandersheim und Essen, in: Frauen bauen Europa. Internationale Verflechtungen des Frauenstifts Essen, hg. v. Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 9), Essen 2011, S. 65–88, zu Gerberga II. bes. S. 76 f. – Christian Popp: Der Schatz der Kanonissen. Heilige und Reliquien im Frauenstift Gandersheim (Studien zum Frauenstift Gandersheim und seinen Eigenklöstern, Bd. 3), Regensburg 2010, S. 61–67. – Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 81–93. 16 Vgl. Beuckers 2006 (wie Anm. 4), S. 117–121. 17 Hoffmann 2012 (wie Anm. 5), S. 71 identifiziert die maßgebliche Korrekturhand mit einer der Hände des Münchner Hrotsvitcodex aus St. Emmeram (Hrotsvit von Gandersheim: Opera, Staatsbibliothek München, Clm 14485, Gandersheim um 1000).

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11. Jahrhunderts, die auf dem Nachsatzblatt eingetragen wurde.18 Auf der verso-Seite des Explicit des Johannes-Evangeliums findet sich zudem das älteste Schatzverzeichnis der Gandersheimer Stiftskirche aus dem frühen 12. Jahrhundert. In ihm sind insgesamt zehn Plenarien verzeichnet, vier davon werden als „metallo ornata“ beschrieben.19 Der Einband des Gandersheimer Plenars verweist mit der Elfenbeinplatte des Vorderdeckels ebenfalls auf eine Metzer Werkstatt des dritten Viertels des 9. Jahrhunderts.20 Die Tafel zeigt die Himmelfahrt Christi und gehörte vermutlich ursprünglich zur Gestaltung des Rückdeckels, während der Vorderdeckel mit der Kreuzigung Christi, heute in London aufbewahrt, geschmückt war.21 Im Jahr 1555 wurde der Vordeckel neu gestaltet.22 Dabei wurde die Elfenbeinplatte von einem vergoldeten Messingrahmen eingefasst, der neben der Kreuzigung in der Mitte der oberen Leiste, links, rechts und unten stilisierte Herrscherköpfe zeigt. Sie werden spätestens im 18. Jahrhundert mit den Stiftsgründern Liudolf und seinen beiden Söhnen Brun und Otto dem Erlauchten sowie ihren Nachkommen, den ottonischen Königen Heinrich I. und Otto I., identifiziert.23 Die Umgestaltung des Vorderdeckels fällt in eine Phase der Rekatholisierung des Stiftes,24 nachdem es im Zuge der Schmalkaldischen Besetzung 1543 zu einem Bildersturm in der Stiftskirche 18 Hoffmann 2012 (wie Anm.  5), S. 71.  – Zum sog. Gandersheimer Streit vgl. Hans Goetting: Bernward und der große Gandersheimer Streit, in: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, Ausst. Kat. Dom- und Diözesanmuseum Hildesheim und Roemer-Pelizaeus-Museum, hg. v. Michael Brandt und Arne Eggebrecht, 2  Bde., Hildesheim 1993, Bd.  1, S. 275–282.  – Amalie Fössel: Ottonische Äbtissinnen im Spiegel der Urkunden. Einflussmöglichkeiten der Sophia von Gandersheim und Essen auf die Politik Ottos III., in: Schilp 2011 (wie Anm. 15), S. 89–106. 19 Vgl. Bernhard Bischoff: Mittelalterliche Schatzverzeichnisse. 1. Teil: Von der Zeit Karls des Großen bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte München, Bd. 4), München 1967, Nr. 26, S. 35 f. – Zuletzt ediert bei Beuckers 2006 (wie Anm. 4), S. 129. 20 Der Buchdeckel wird von der Handschrift getrennt in den Kunstsammlungen der Veste Coburg aufbewahrt, vgl. Kat. St. Paul im Lavanttal 2009 (wie Anm. 6), Kat. Nr. 15.7, S. 244 (Klaus Gereon Beuckers). 21 Zur ursprünglichen Gestaltung des Einbandes vgl. Zahlten 1997 (wie Anm. 6), S. 240 f. 22 Bei dieser Umarbeitung wurde die Himmelfahrt des Rückdeckels anscheinend für den Vorderdeckel verwendet, die dortige Kreuzigung wurde auf dem Einband nicht mehr verwendet. Thorman beschreibt im 18. Jahrhundert den Rückdeckel: „Auf der hintersten Decke dieses Plenarii, welche von hellrothem Leder ist, finden sich eingedrücket als ovale Sigilla mit Köpfen, oben 2. und unter ebenso vier, zu jeder Seite aber 7. also zusammen 20. Stück, deren doch wenige mehr deutlich zu erkennen, doch kann man aus deren Hüten und Mützen annehmen, daß es weder Kayser oder Könige, oder auch Kriegs Leüthe, sondern andere Primores darstellen sollen.“ Zit. n. Zahlten 1997 (wie Anm. 6), S. 239 f. 23 Die Beschreibung von Thorman benennt die beiden Figuren der vom Betrachter aus gesehenen linken Seite als Liudolf und Brun (mit Helm), die beiden der rechten Seite als Otto den Erlauchten und Otto I. und unten in der Mitte Heinrich I. Vgl. Zahlten 1997 (wie Anm. 6), S. 237. – Beuckers 2006 (wie Anm. 4), S. 122. 24 Vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 122–124.

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Abb. 12: Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 10r: Liturgische Nachträge. Gandersheim, 14. Jahrhundert.

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gekommen war.25 Das Schmalkaldische Interim 1542 bis 1547 wurde mit der Rückkehr des katholischen Herzogs Heinrich dem Jüngeren in sein Territorium beendet. In der Stiftskirche wurde ein Teil der Altäre wieder errichtet und am 24. November 1550 von dem Halberstädter Suffragan Johannes von Tripolis geweiht.26 Der Umgang mit dem Plenar ist im Registrum Chori, einem liber ordinarius, der in einer Abschrift aus dem Jahr 1538 erhalten ist, ausgeführt.27 So wurde das Evangeliar etwa während eines Umgangs zu Weihnachten innerhalb der Stiftskirche zusammen mit einer Räucherpfanne, cum turribulo, auf den Kanonissenchor gebracht.28 Als Zeremonial-Handschrift wurde es aber vermutlich auch auf Prozessionen außerhalb der Stiftskirche mitgeführt.29 Bei der großen Reliquienprozession des Stifts wurde am Tage nach Fronleichnam auf dem Markt aus dem Evangelium gelesen.30 Möglicherweise diente hierfür auch das Plenar, das zusammen mit den heiligen Reliquien des Stifts bei der Prozession umhergetragen wurde. Ein Hinweis auf diese Verwendung findet sich unter Umständen in dem von Hubay als „Gebet für die in Gandersheim verweilenden Pilger“ bezeichneten Responsorien und Orationen aus dem 14. Jahrhundert (Abb. 12).31 Sie sind auf der leeren Seite zu Beginn der Kanontafeln (fol. 10r) zum Teil mit Notationen eingetragen.32 Die hier verwendeten Texte waren ebenso Teil der Liturgie der großen Reliquienprozession, wie sie im Registrum Chori überliefert ist.33 Da mit den Kanontafeln der 25 Vgl. Birgit Heilmann: Aus Heiltum wird Geschichte. Der Gandersheimer Kirchenschatz in nachreformatorischer Zeit (Studien zum Frauenstift Gandersheim und seinen Eigenklöstern, Bd. 1), Regensburg 2009, S. 27–30. 26 Vgl. Heilmann 2009 (wie Anm. 25), S. 30. 27 Zum Registrum Chori vgl. Popp 2010 (wie Anm. 15) mit Edition. 28 Zit. n. Popp 2010 (wie Anm. 15), S. 197 f. u. S. 16 . – NLA Wolfenbüttel, 7 B Hs 48, fol. 40r. 29 Vgl. Christian Popp: Reliquienkult und Heiligenverehrung im Frauenstift Gandersheim im Spiegel der liturgischen Quellen, in: Heilige – Liturgie – Raum, hg. v. Dieter R. Bauer, Klaus Herbers, Hedwig Röckelein u. Felicitas Schmieder (Beiträge zur Hagiographie, Bd. 8), Stuttgart 2010, S. 99–118. 30 „et descendit ad forum, tunc rector incipit Ecce Panis Angelorum. Finita sequentia levita legit ewangelium“, zit. n. Popp 2010 (wie Anm. 15), S. 187. – Zu den Prozessionen vgl. Popp 2010 (wie Anm. 29), S. 105–107. 31 Hubay 1962 (wie Anm. 7), S. 12 datiert anhand der Schrift. 32 „Versus Ostende nobis Domine misericordiam tuam: Et: Oremus / Pretende Domne fidelibus tuis in hoc oppido commorantes / dexteram celestis auxilii. ut te toto corde perquirant et diligant: / et que digne postulant consequi mereantur per christum Dominum nostrum [...] / Te ergo quesumus tuis famulis subueni quos precioso sangui/ ne redemisti: Saluum fac populum tuum domine et / benedic hereditati tue:“. Die Teile des Te Deum sind ab Te ergo neumiert, Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1., fol. 10r. 33 Hubay 1962 (wie Anm. 7), S. 12 f. verweist durch den Zusatz in der Oration in hoc oppido commemorantes auf die Pilger als Adressaten. Dagegen sind das Te ergo quesumus, das Ostende nobis Domine und das Te Deum Bestandteile der Prozessionsliturgie der großen Reliquienprozession und im Registrum Chori enthalten: „Et sacerdos portans sacrum sanguinem canta versum Te ergo Quesumus [...] Finito Te Deum sacerdos legit versum cum collecta Ostende nobis Domine, oremus famulis et famulabus tuis“, zit. n. Popp 2010 (wie Anm. 15), S. 188.

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Handschrift eine neue Lage beginnt, wäre es durchaus vorstellbar, dass diese Textfragmente die Reste eines ursprünglich vorgehefteten, heute verlorenen Ordinarius darstellen.34 Seit dem 15. Jahrhundert wurden Nachträge in das Gandersheimer Plenar eingetragen, die einem anderen Nutzungszweck zugeordnet werden können als seiner bisherigen Rolle als Zeremonial-Handschrift in der Stiftsliturgie. Denn nun treten Eidformeln für die Stiftsangehörigen hinzu, die beim Antritt für Äbtissinnen, Kanonissen, Kanoniker und Vikare geleistet werden mussten.35 Der älteste überlieferte Eid der Gandersheimer Stiftsgemeinschaft ist der der Kanoniker. Er ist in den Statuten des Gandersheimer Stifts vom 18. November 1419 enthalten.36 Die Kodifizierung der Stiftsstatuten muss vor dem Hintergrund der Situation des Stiftes zu Beginn des 15. Jahrhunderts betrachtet werden. Nach dem Tod der Äbtissin Sophia III. (amt. 1402–1412) gelang es dem welfischen Herzog Erich I. von Grubenhagen-Salzderhelden nur unter Zugeständnissen gegenüber dem Kapitel, seine sechsjährige Tochter als neue Äbtissin durch das Gesamtkapitel wählen zu lassen. Zugleich wurde die Dekanin, Beata von Steinre, zur Vormünderin (commendataria) der minderjährigen Äbtissin bestimmt.37 Unter ihrer Führung sind die „bisherigen gewohnheitsrechtlichen Bestimmungen über die Stiftsgeistlichkeit erstmals in Form schriftlicher Statuten mit dauernder Geltung“ aufgestellt und vom Gesamtkapitel bestätigt worden.38 Ein Jahr später konnten die Statuten zur Bestätigung Papst Martin V. vorgelegt werden und wurden am 4. August 1421 von Probst Ludolf des Braunschweiger Stiftes St. Blasius im päpstlichen Auftrag bestätigt.39 Die Statuten tragen vor allem der veränderten Zusammensetzung des Gesamtkapitels Rechnung. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts war die Größe des Kanonissenkapitels stark zurückgegangen, wohingegen die Kanonikergemeinschaft in ihrer Besetzung konstant blieb.40 Zusammen mit den Kanonissen bildeten die Kanoniker nun das ghemeyne capitel.41 Die Möglichkeiten der Einflussnahme durch die Kanoniker wurden mit dem Gesamtkapitelsbeschluss vom 5.  Januar 1406 deutlich. Die Pröpstin konnte demzufolge künftig nur im Namen des Stiftskapitels siegeln, wenn ein Mehrheitsbeschluss des 34 Bislang sind keine vergleichbaren liturgischen Fragmente aus dem Gandersheimer Stift bekannt. 35 Zur Eidleistung beim Eintritt in ein Frauenstift vgl. Sabine Klapp: Das Äbtissinnenamt in den unterelsässischen Frauenstiften vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Umkämpft, verhandelt, normiert (Studien zur Germania Sacra, N.F. 3), Berlin 2012, S. 110–116, 205–211 u. 261–280. – Einen Forschungsüberblick zum Element der Stiftsstatuten dort S. 142–161. 36 NLA Wolfenbüttel, 6 Urk 319 (18. November 1419). 37 Vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 110. 38 Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 110. – NLA Wolfenbüttel, 6 Urk 319 (18. November 1419). 39 Vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 110. – NLA Wolfenbüttel, 6 Urk 323 (8. November 1420), 326 (4. August 1421). 40 Die Kanoniker schlossen sich nach Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 195 bereits im 13. Jahrhundert als Kapitel zusammen. 41 NLA Wolfenbüttel, 41 Urk 8 (1. Februar 1350), zit. n. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 151.

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Abb. 13: Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 16v: Eidesformeln für Kanonissen, Kanoniker und Vikare. Gandersheim, 15. und 17. Jahrhundert.

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Gesamtkapitels gefasst wurde.42 Zugleich wurde die Hierarchie innerhalb der Stiftsgemeinschaft durch den Eid definiert, den die Kanoniker abzulegen hatten. Die Vereidigung fand vor dem Gesamtkapitel statt. Der Schwur war in die Hände der Dekanin abzuleisten und die Finger sollten die Heilige Schrift berühren, „iuramentum in manibus Decane, Capitulo presente, tactis digitis sacrosanctis scripturis“.43 Der Äbtissin war darauf Gehorsam zu schwören, „obediencia debita et consueta“.44 Zusammen mit dem Eid der Vikare, Juramentum vicariorum, ist der Kanonikereid der früheste Nachtrag im Plenar, der sich auf seine Verwendung als Eidbuch beziehen lässt. Beide Eide wurden auf der zur Quaternio der Kanontafeln gehörenden leeren Seite (fol. 16v) nachgetragen, vermutlich erst nach 1419 (Abb. 13). Der Vikarseid ist hier zum ersten Mal überliefert.45 Die Formel orientiert sich inhaltlich an dem Kanonikereid und wird zeitgleich mit diesem entstanden sein.46 Während die Stiftsstatuten von 1419 den Vikaren eine Eidesleistung vor dem Gesamtkapitel in manibus abbatissae vorschrieben, sollte der Schwur nach den Statuta secundaria von 1462 in die Hände der Pröpstin, Dekanin oder jemand anderes des Gesamtkapitels zu leisten sein.47 Diese Ergänzungen zu den Statuten des Stiftes wurden von dem Gesamtkapitel unter Führung der Dekanin während des so genannten Papenkrieges 1452 bis 1467 aufgestellt.48 Sie umfassten neben Bestimmungen für die Kanoniker vor allem weitere Bestimmungen zum Status der Vikare und Altaristen.49 42 Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 151. 43 Zit. n. Harenberg 1734 (wie Anm. 2), S. 922. – So erfolgte auch etwa im Stift Hohenburg der Eid auf das Statutenbuch, vgl. Klapp 2012 (wie Anm. 35), S. 255 f. – Allgemein zur Handhaltung beim Eid vgl. Philipp Hofmeister: Die christlichen Eidesformeln. Eine liturgie- und rechtsgeschichtliche Untersuchung, München 1957, S. 95–122. 44 Zit. n. Harenberg 1734 (wie Anm. 2), S. 923. – Vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 186. 45 Dieser Eid findet sich nicht wortwörtlich in den Stiftsstatuten: „Ego N iuro quod in antea fidelis ero abbatisse, capittulo, et prebendatis ecclesie in Gandersem, ac bona, libertates, et iura altaris. N. et eiusdem ecclesie, pro meo posse, una et cum aliis, sine omni dolo et fraude defendam. Et recuperem alienata, statuta, consuetudines et obseruantias dicte ecclesie licitas et honestas, diligenter obseruabo, sic me deus adiuuet, et hec sancta ewangelia.“ Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 16v. 46 Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 195 nimmt zwar hier an, dass der Wortlaut sich auf eine frühere Überlieferung zurückführen lasse, er ist jedoch in den wesentlichen Teilen mit dem der Kanoniker identisch. 47 „Iurabuntque in manibus Prepositisse, Decanisse aut alterius in Capitulo Presidentis“, zit. n. Harenberg 1734 (wie Anm. 2), S. 924. 48 Eine ausführliche Interpretation der Statuta secundaria kann hier nicht erfolgen. Sicherlich versuchte sich das Gesamtkapitel aber durch sie einer Vergabe der Präbenden ausschließlich durch die Äbtissin und zu ihren Gunsten zu erwehren. Äbtissin Elisabeth I. von Grubenhagen-Salzderhelden etwa belehnte im Jahr 1452 immerhin sechzehn presbyteri. Vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 196. Ihrem Tod folgte der so genannte Papenkrieg um die Besetzung des Gandersheimer Äbtissinnenstuhls. Zu den Konflikten des Kapitels mit der Äbtissin und den so genannten Papenkrieg vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 112–116. – Zu den Statuten vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 151–153. 49 Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 153.

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Abb. 14: Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 17r: Äbtissinneneid. Gandersheim, 15. und 16. Jahrhundert.

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Der Eid der Kanoniker endete 1419 auf die Formel „sic me deus adiuvet“.50 Zugleich sollte er auf die Heilige Schrift, also das Evangelium, abgelegt werden.51 Daher war es nur folgerichtig, wenn in dem Eintrag des Juramentum canonicorum im Plenar die Eidformel um „et haec sancta evangelia“ erweitert wurde.52 Der Schwur wurde dadurch mit dem Zeremonialbuch der Stiftsgemeinschaft untrennbar verbunden. Tatsächlich wurde der Eid aber auch für die Kanonissen bindend. Eine vielleicht spätere Hand des 15. Jahrhunderts ergänzte in der Überschrift Juramentum canonicorum ein et canonissarum.53 Dieser Seite ursprünglich gegenüber befand sich der Äbtissinneneid auf der letzten leeren Seite der Lage der Kanontafeln (fol. 17r) (Abb. 14). In einer späteren Hand des 15. Jahrhunderts ist dort der deutschsprachige Äbtissinneneid als Juramentum Abbatissae niedergeschrieben.54 Dieser Eid war von der durch das Gesamtkapitel gewählten Äbtissin vor diesem abzulegen. Auch er endet auf der Formel „so helpe

50 Zit. n. Harenberg 1734 (wie Anm. 2), S. 922. 51 Harenberg 1734 (wie Anm. 2), S. 923. 52 „Ego N. iuro (et promitto), quod inantea fidelis ero abbatisse, capittulo et comprebendatis ecclesie in Gandersem ac bona, libertates et iura ipsius ecclesie pro meo posse una cum aliis (personis) sine omni dolo et fraude defendam et alienata recuperabo, statuta, consuetudines et observantias dicte ecclesie licitas et honestas diligenter observabo tractatusque capitulares (seu non capitulares) quoscumque per dominas et (com) prebendatos de commodo et utilitate ecclesie in Gandersem habendos in dampnum et preiudicium eiusdem ecclesie nemini revelabo, sic deus adiuvet et haec sancta evangelia“, Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 16v, zit. n. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 175. 53 Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 16v. 54 „Eck N. uon goddes gnaden Ebdische des frien unnd wertliken stichtes to Gandersem hildensemches biscopdomes der romeschen kerken ane myddel underdanich loue unnd swere dat ick van dusser stunde nu mer so lange eck leue wille truwe unnd underdanich wesen sunte peter unnd der hillgen gemenen romeschen kerken unnd dem pawese de to tyden in der hilgen christenheyt van gotliker vorsichtigeit is – unnd synen nakomende in dem paweszdom redeliken in gande Eck wil nicht weszen in dem rade filborde unnd geschichte dat sze or leuent edder eyn leth vorlesen. edder boszer fencknisse gegreppen werden. Sunder des rades des se merk loueden synt vormildest seck effte oren boden effte breuen eck nemande wyl openbaren to oren scaden mit witscop. unnd wil on weszen eyn hulpe to beholdende unnd to vordegedingende des paweszdom to rome. unnd de konnichliken dingk sunte peters bliuende mynen orden wedder alle mynschen unnd ore ere unnd oren stad alse des in inerk is bewaren will. unnd wil one to hangen unnd na myner mogelicheit gunnen. unnd wil nicht vorkopen besittinge der vorgenanten kerken to behorich noch vorgenen noch vorpenden noch von nigest vorlenen noch ichtewelke wiß aff bringen unberande mit dem romeschen biscuppe unnd dem pawese. unnd ok alle wonheit, friheit unnd rechticheit der vorgenannten kerken holden unnd de personen der suluen kerken by friheyt wonheit (ausradiert) unnd by aller rechticheit laten unnd beholden unde ock solcke breue de myne vorfaren dem Captitele dusses stichtes to Gandersem entsampt unnd besunderen unnd allen anderen personem dar enbuthen mit orer unnd des capittelsz ingesegelen vorsegelt gegeuen hebben So seck dat in dem rechten beherth truweliken holden unde der eck noch plichtich byn to geuende geuen unnd de holden na myner mogelicheit So helpe meck godt unnd dat hilge euangelium.“ Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 17r.

Das Gandersheimer Plenar und seine Nachträge | 173

meck godt unnd dat hilge evangelium“.55 In derselben Hand wie der Äbtissinneneid sind auf der verso-Seite desselben Blattes erneut der lateinische Eid der Kanonissen und Kanoniker sowie der Eid der Vikare im gleichen Wortlaut wie auf fol. 16v eingetragen (Abb. 15).56 Die weiteren Dignitäten des Kapitels, etwa die Pröpstin oder die Dekanin, wurden nicht mit einer besonderen Eidformel bedacht.57 Der Äbtissinneneid des 15. Jahrhunderts erhielt im Zuge der Eidleistung der ersten protestantischen Äbtissin, Anna Erika von Waldeck, am 22. April 1589, eine Veränderung. Der Treueschwur gegenüber dem Hildesheimer Bischof und dem Papst wurde ersatzlos gestrichen und damit der Eid allein gegenüber Gott abgeleistet und zugleich auf die Stiftsgemeinschaft konzentriert.58 Auch die reformatorische Formel endet auf den Evangelieneid, so dass das Plenar weiterhin als Eidbuch Verwendung fand. Die Eide der Kanonissen, Kanoniker und Vikare wurden trotz der religiösen Umwälzungen unverändert beibehalten. Über die Reformation hinaus blieb das Plenar zunächst vielleicht sogar weiterhin Teil des liturgischen Handelns. Dies wird durch seinen für das 16. und 17. Jahrhundert nachgewiesenen Aufbewahrungsort deutlich. Denn im Gegensatz zur Aussage Goettings, das Plenar sei zusammen mit den Siegeln und den Stiftskleinodien auf der ,Vision‘, dem südlichen Raum im Obergeschoss des Westbaues, aufbewahrt worden,59 sprechen die Sakristeiinventare eine andere Sprache. So ist das Plenar in dem 1583 aufgestellten Inventar des Gerhauses zusammen mit den Paramenten und Vasa sacra als ein plenarium daruf die

55 Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 17r. 56 Das Juramentum canonicorum et canonissarum kam hierbei ohne Verbesserungen aus, Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 17v. 57 Möglicherweise wurden diese erneuten Eintragungen in einer Phase der Konsolidierung der Stiftsgemeinschaft, vielleicht nach dem Papenkrieg im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, vorgenommen, um die neu gefundene Ordnung in dem Eidbuch zu verdeutlichen. 58 „Ich von Gottes Gnaden N. Abbatissin des freien weltlichen Stiftes Gandersheim lobe und schwere, daß ich von dieser Stunde numher, so lange ich lebe, gemeltem Stift und Capitul treuwe und hold sein, desselben Bestes nach Vermögen wissen und schaffen, von Besitzung desselben Stiffts und Kirchen Zugehörung nichts verkeuffen, vergeben, verpfenden noch von neuwe verlhenen oder sonst einigerlei ander weiß darvon abbringen ohne Furwissen des Capituls, und alle löbliche, christliche Gewonheit, Freyheit und Gerechtigkeit der furgenanten Kirchen halten, die Personen derselben bey löblichen christlichen Gewonheiten, Frey- und Gerechtigkeiten allerdings lassen und verthetigen, auch solche Brieffe, die meine Vorfahren dem Capitul dieses Stiffts sambt und sonders und allen anderen Personen mit ihren und des Capituls Ingesigelen versiegelt [...] haben und die ich noch zu geben pflichtig bin, geben und die allerseitz nach meiner Möglichkeit und wie sich das in den Rechten gebüret, treulich halten wil, so whar als mir Gott helffe und sein heiliges Evangelium“, zit. n. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 156 f. – Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 17v. 59 Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 57 gibt für diese Behauptung weder eine Quelle an, noch konkretisiert er die Aussage zeitlich.

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Abb. 15: Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 17v: Eidesformeln für Kanonissen, Kanoniker und Vikare. Gandersheim, 15. und 17. Jahrhundert.

Das Gandersheimer Plenar und seine Nachträge | 175

Ascensio domini erwähnt.60 Auch gut vierzig Jahre später, im Jahre 1627, wurde das Plenar in der Sakristei aufbewahrt und an erster Stelle der Aufzählung genannt: „1) Novum Testamentum lateinisch in Pergament darauf die Stiffts Persohnen den Eid ablegen“.61 Möglicherweise wurde aber ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein neuer Aufbewahrungsort für das Plenar im Zuge der Erweiterung der Nachträge gefunden.62 Am 16. November 1649 ist das Plenar durch eine vom Gesamtkapitel verabschiedete Capitulatio perpetua erweitert worden.63 Diese wurde als notwendig erachtet, da die am 11. September 1649 verstorbene Äbtissin Catharina Elisabeth von Oldenburg lange Jahre keine Residenz in der Gandersheimer Abtei genommen hatte.64 Um diesem Missstand und weiteren während des Dreißigjährigen Krieges aufgetretenen Problemen abzuhelfen, sollte fortan jede neue Äbtissin, aber auch jede Kanonisse und jeder Kanoniker diese Capitulatio durch die eigenhändige Unterschrift anerkennen.65 Da das Plenar als Eidbuch im Ritual der Aufnahmeregularien bereits eingebunden war, schien es angeraten, auch die Capitulatio in den Codex mit aufzunehmen.66 Sie wurde dabei zwischen die Seiten 16 und 17 eingebunden.67 Die Unterschriften unter die Capitulatio perpetua vom 16. November 1649 erfolgten bis in das Jahr 1764 (Abb. 16).68

60 NLA Wolfenbüttel, 11 Alt Gand. Fb. 1, X, Nr.  9, unfol. (Blatt  4), zit. n. Heilmann 2009 (wie Anm. 25), S. 123. 61 NLA Wolfenbüttel, 11 Alt Gand, Fb. 1, III, Nr. 26, unfol. (Blatt 1), zit. n. Heilmann 2009 (wie Anm. 25), S. 125. 62 Thorman nennt in seiner beglaubigten Beschreibung des Plenars vom 21. April 1731 leider keinen Aufbewahrungsort, NLA Wolfenbüttel, 11 Alt Gand. Fb. 1, I, Nr. 22, fol. 16v. – Im Corpus bonorum der Stiftskirche, aufgestellt durch den Primariatspfarrer Johann Heinrich Christian Breymann am 29. September 1763, wird bei der Aufzählung der Paramente und Vasa Sacra das Plenar nicht mehr genannt, NLA Wolfenbüttel, 11 Alt Gand Fb. 1, X, Nr. 4., S. 2 f. 63 Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 157. 64 Zu Catharina Elisabeth von Oldenburg vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 136 sowie S. 348 f. 65 Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 136. 66 Sicherlich wurde die Capitulatio nicht sofort in den Codex eingebunden. So ist auf der dritten Unterschriftenseite der bei jetziger Bindung auf dem Kopf stehende Titel Capitulatio ejusdem Declaratio, sub dato Gandersheim, 16. Novemb 1649 zu finden. Anscheinend diente diese Seite zunächst als Umschlag, Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 16.z10a.verso. 67 Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 16.z1a.recto-16.z10a.verso. 68 Als letzter Kanoniker unter dieser Capitulatio trug sich der Kanoniker und Meiningische Geheime Regierungsrat Ernst Georg Stoll am 5. Oktober 1764 ein, Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 16.z10a.verso. – Zu Stoll vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 481. Goetting verzeichnet im Personenkatalog, welche Stiftsangehörige sich in den Unterschriften finden lassen. Es fehlen nur wenige Kanonissen. Sofern sie fehlten, residierten sie entweder nur kurze Zeit im Stift oder sind vor Antritt der Residenz bereits wieder ausgetreten, so etwa Augusta Philippina Landgräfin zu Hessen-Darmstadt, Einführung am 26. November 1670, absent ab Juni 1671, vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 386.

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Abb. 16: Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 16z9av: Capitulatio perpetua von 1649 mit Unterschriften des Gesamtkapitels. Gandersheim, 17. Jahrhundert (1649–1697).

Das Gandersheimer Plenar und seine Nachträge | 177

Vermutlich zur gleichen Zeit sind eine deutsche Version des Kanonikereids unterhalb der lateinischen Eide des 15. Jahrhunderts (fol. 16v)69 sowie ein ebensolcher Kanonisseneid (fol. 17v) auf den entsprechenden Seiten nachgetragen worden. Während beim Kanonikereid die Anerkennung der Äbtissin als „meiner gnedigen Fürstin und Frauen“ ausgesprochen wird,70 geht der Eid der Kanonissen von hochadligen Prinzessinnen aus, die dem Gandersheimer Kapitel angehören, einen „löblichen Ayd zu Gott und seinem heiligen wort das ich hinführ getrew sein will, und der Abbatißin, dem Capitul und denen mit prabendaten, der Kirchen zu Gandersheim [zu dienen]“ schwören.71 Im Kanonisseneid wurde dabei der Name der Anwärterin mit „Maria Sabina Gräfin und Fraulein zu Solms“ gefüllt, der Kanonisse also, die am 22. Januar 1650 zur Äbtissin gewählt wurde.72 Neben der Capitulatio wurden aber auch die 1649 durch das Gesamtkapitel festgeschriebenen Gelder für die jeweilige Aufnahme (fol. 17.z31a.r f.) sowie eine Series Canonissarum unter dem Abbatiat Maria Sabina zu Solms eingebunden.73 Die konstitutive Bedeutung des Stiftsplenars für das Gesamtkapitel im 18. Jahrhundert wird in dem Kapitelsbeschluss vom 9. März 1768 deutlich. Er ist einer neuen Capitulatio perpetua aus dem Jahr 1767 vorangestellt. Die neue Wahlkapitulation kam durch Einlassungen des regierenden Herzogs Carl I. zu Braunschweig-Wolfenbüttel zustande, die bereits seit Juni 1748 mit dem Stift verhandelt wurden. Der Braunschweiger Hof bestand darauf, dass die Welfen durch ihre seit dem Mittelalter konstruierte genealogische Bindung an die Liudolfinger als fundatores zu gelten hatten und daher keine Statutengelder von 2000 Thalern zu entrichten hatten.74 Die Schwester Carls I., Therese Nathalie, wurde zunächst am 5. November 1750 als Kanonisse in Gandersheim eingeführt.75 Nach

69 Im 18. Jahrhundert wurde der Eid der Kanoniker in lateinischer Sprache abgestattet, NLA Wolfenbüttel, 11 Alt Gand. Fb. 1, II, Nr. 1, fol. 101v. 70 Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 16v. 71 Das Gandersheimer Kanonissenkapitel setzte sich bereits seit der Frühzeit aus Angehörigen des Hochadels zusammen. Im 17. und 18. Jahrhundert wird dies unter anderem durch die auf Gesamtkapitelbeschluss vom 23. Juni 1696 gestifteten Orden ex recordatione dominicae passionis und die damit einhergehende Verschärfung der Ahnenprobe verstärkt. Vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 140, 152 f. u. 180. 72 Der Namenseintrag erscheint hier retrospektiv. Maria Sabina zu Solms wurde am 13. August 1645 in absentia eingeführt. Vermutlich sollte der nachträgliche, auf ihren Namen lautende Eid die Rechtmäßigkeit ihrer Stellung als Kanonisse des Gandersheimer Reichsstifts untermauern. Zu Maria Sabina zu Solms vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 349 f. 73 Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 17.z32a.recto–z35a.verso. 74 Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 143. In dieser genealogischen Beziehung muss auch der Einbezug des Plenars auf dem offiziellen Porträt der Äbtissin Therese Nathalie von Braunschweig-Wolfenbüttel gesehen werden, dass 1773 von Anna Rosina de Gasc gemalt wurde und für den Kaiserhof in Wien bestimmt war. Vgl. zum Porträt Zahlten 1997 (wie Anm. 6). 75 Zu Therese Nathalie vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 357 f.

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dem Tod Elisabeth Ernestine Antonies von Sachsen-Meiningen am Heiligen Abend 1766 verhandelten das Stift und die herzogliche Verwaltung eine neue Capitulatio perpetua, die vor der Wahl Therese Nathalies am 4. Juni 1767 vom Generalkapitel verabschiedet wurde.76 Diese Wahlkapitulation, die Therese Nathalie anscheinend erst zu ihrer Inthronisation am 3. Dezember 1767 siegelte und unterschrieb, findet sich hinter der von 1649. In dem ihr vorangestellten Kapitelsbeschluss ist ausdrücklich darauf verwiesen, dass „bis hierher eine jegliche Stifts-Person, sowohl das Oberhaupt, als auch die Glieder desselben, Ihre Nahmen in das Plenarium, und damit die Capitulationem perpetuam von 1649 unterschrieben, und darüber zu halten vermöge Ihres Eides angelobet hätten“.77 Da nun aber die Capitulatio perpetuam als nicht mehr gültig anerkannt wurde, verfügte das Generalkapitel auch die neue Wahlkapitulation in das Plenar einzuheften. Unter dieser waren nun, wie bereits zuvor, die Unterschriften des Gesamtkapitels und ihrer neuen Mitglieder zu setzen und somit „doch die löbliche Gewohnheit, daß eine jede Stiftsperson bey persönlicher Ablegung Ihres Stifts-Eides Sich in dieses Buch einschriebe, beybehalten“.78 Ausdrücklich wird darauf verwiesen, dass „die bisher gewöhnliche Einschreibung zwo Ursachen habe; die eine: damit über die Capitulationem perpetuam zu halten, versprochen wurde; die andere: damit ein solches Einschreiben in dieses Stiftsbuch zu einem feyerlichen Verzeichniß aller Stifts-Personen, so Häupt, als Glieder, dienen könne“.79 Demzufolge verblieb auch die vorhergehende Capitulatio mit ihrer Unterschriftenliste im Plenar. Allerdings erfolgten die Unterschriften zum ausgehenden 18. Jahrhundert immer seltener, häufige Einführungen per procura vor allem bei den Kanonikern sorgten dafür. Auch wenn für das 15. und 16. Jahrhundert unklar bleibt, ob die den Schwur ableistenden Stiftsangehörigen ihn mit dem Auflegen der Finger in die geöffnete Handschrift bezeugten, so lässt sich dies nach 1649/50 zumindest vermuten. Der rechte untere Rand von fol. 17r, auf der die Äbtissinneneide eingetragen sind, ist deutlich nachgedunkelt und die Schrift stark abgerieben. Nur eine Seite hat eine ähnliche Schwärzung der unteren rechten Ecke, der Beginn der Vorreden auf der fol. 18r. Die nachgetragenen Papierseiten sind genauso breit geschnitten, dass eben jener Rand der folgenden Pergamentseiten (fol. 17r, 18r) im aufgeschlagenen Zustand zu sehen ist. Möglicherweise war das Plenar also beim Schwur genau an der Stelle aufgeschlagen, wo die entsprechende Eidformel eingetragen war. So hätten die Kanoniker, Vikare und die Äbtissin ihre Finger auf fol. 17r, die Kanonissen auf fol. 18r zum Schwur legen können.

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Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 143. Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 016.z10a.recto f. Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 016.z11a.verso f. Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol. 016.z12a.recto.

Das Gandersheimer Plenar und seine Nachträge | 179

Zumindest für das 18. Jahrhundert sind genaue Schilderungen über den Verlauf eines Eintritts in das Stift für eine Kanonisse belegt.80 Die Zeremonie fand im Obergeschoss des Westbaues der Stiftskirche statt. Zunächst legte die Kanonisse im mittleren Raum, dem Fräuleinchor,81 einen Treueid gegenüber der Äbtissin ab. Von dieser erhielt sie ihren Lehnsbrief und den Stiftsorden. Danach wurde sie in den nördlich angrenzenden Raum, dem Kapitelhaus, geführt, um dort durch den Stiftssenior vor dem Gesamtkapitel präsentiert zu werden. Von der Dekanin erhielt sie ihr Chorhemd. Danach „setzen sich die Frau Dechantin im Capitul Hause auf einen Stuhl und legt der Senior das Plenarium aufgeschlagen auf ihren Schoße, in welches vorhero die Kanonisse [...] ihren Nahmen nebst dem Tag ihrer Introduction einschreibt, hiervor tritt die neue Kanonisse [...] knied nieder und schwört einen Eyd auf das Plenarium“.82 Der Eid selbst wurde der Kanonisse vorgelesen und nur folgende Worte mussten von ihr selbst gesprochen werden: „Das mir ist fürgehalten, und ich woll Verstanden habe, dem will ich also nach Kommen, so wahr mir Gott helfe und sein heiliges wort“.83 Darauf nahm die neue Kanonisse Possession im Kanonissenkapitel und im Gesamtkapitel.84 Mit der Auflösung des Reichsstifts Gandersheim 1810 gelangte das Plenar während der französischen Besetzung mit der Dekanin Caroline Ulrike Amalie von Sachsen-Coburg-Saalfeld nach Coburg.85 Zuvor wurde das freiweltliche Reichsstift Gandersheim im 80 „Folgende Ceremonien müssen bey Einführunge einer Chanoinessen beobachtet werden“, NLA Wolfenbüttel, 11 Alt Gand. Fb. 1, III, Nr. 89, fol. 112–115. 81 Zur Nutzung des Fräuleinchors vgl. Thorsten Henke: Die Ausstattung der Gandersheimer Stiftskirche zwischen Reformation und Säkularisation, in: Neue Räume – neue Strukturen. Barockisierung mittelalterlicher Frauenstifte, hg. v. Klaus Gereon Beuckers u. Birgitta Falk (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 12), Essen 2013, S. 207–225, bes. 221–224. – Diese Nutzung entsprach vermutlich keiner mittelalterlichen Tradition. Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Die Westbauten ottonischer Damenstifte und ihre liturgische Funktion. Eine Skizze, in: Kunst und Kultur in ottonischer Zeit. Forschungen zum Frühmittelalter, hg. v. Andreas Ranft und Wolfgang Schenkluhn (More Romano. Schriften des Europäischen Romanik Zentrums, Bd. 3), Regensburg 2013, S. 73–118, insb. S. 98–104. 82 NLA Wolfenbüttel, 11 Alt Gand. Fb. 1, III, Nr. 89, fol. 113r. 83 NLA Wolfenbüttel, 11 Alt Gand. Fb. 1, II, Nr. 1, fol. 103. 84 Die Possession im Kanonissenkapitel wird durch das Handauflegen auf den Altar im Fräuleinchor, das Gebet des Vater Unser vor dem Altar und das Hinsetzen auf ihren zugewiesenen Stuhl im Gestühl, im Gesamtkapitel durch das Hinsetzen auf einen bereitgestellten Stuhl sowie das Handauflegen auf einen Tisch im Kapitelhaus erlangt, vgl. NLA Wolfenbüttel, 11 Alt Gand. Fb. 1, III, Nr. 89, fol. 113 f. 85 In der Landesbibliothek Coburg wird es zusammen mit weiteren Gandersheimensia als Ms. 1 der Bibliothek geführt. Im Einband ist es wie folgt beschrieben: „Plenarium aus dem Kloster Gandersheim |: Pergament, Codex m. eingehefteten Aktenstücken :| Der werthvolle Einband-Deckel mit Elfenbein, Relief u. steinbesetzer Metalleinfassung befindet sich in der Herzogl. Kunst- und Alterthümer-Sammlung der Veste Coburg.“ sowie „Dieser Cod. stammt aus den Beständen der [Stempel der ‚Kunst- und Alterthümersammlung der Veste Coburg‘] u. ist katalogisiert unter ‚Kupferstichsammlung Band XIII. Seite 368‘“, Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, Vorderdeckel.

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Zuge der drohenden Säkularisation als Landstift dem Herzog unterstellt, dem der Erbhuldigungseid gebührte.86 Zumindest für die Kanonissen blieb anscheinend die Unterschrift unter die Capitulatio jedoch verbindlich.87 Auch die letzte, am 17. Mai 1804 durch persönliche Eidesleistung in das Stift eintretende Prinzessin Caroline Friederike Jakobine Louise zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg unterschrieb im Plenar.88 Mit dem Tod der Äbtissin Auguste Dorothea von Braunschweig-Wolfenbüttel am 10. März 1810 wurde das Stift unter die Leitung der Generaldirektion der Domänen im Königreich Westphalen gestellt. Durch das königliche Dekret vom 5. Dezember 1810 ist das Gandersheimer Stift aufgehoben und seine Besitzungen der Krondomäne einverleibt worden. Die Stiftsangehörigen, darunter auch die Dekanin, wurden aus dem Stiftsvermögen abgefunden. In dem Schriftverkehr der Dekanin mit den westfälischen Behörden ist das Plenar allerdings nicht in der Abfindungsmasse genannt.89 Möglicherweise hatte sie bereits nach dem Tod der Äbtissin als ihre Rechtsnachfolgerin im Stift die Handschrift in ihren Besitz genommen.90 Das Gandersheimer Plenar war neben seiner Funktion als Zeremonial-Handschrift seit frühester Zeit ein Medium, das der Stiftsgemeinschaft zur Selbstversicherung diente. In Krisenzeiten wurden Verträge und Kompromisse in die Handschrift eingeschrieben und eingebunden. Das Alter des Codex und sein tradiertes Herkommen von den Anfängen des Stifts galten als Garant für die unverbrüchliche Beständigkeit. Die seit dem 17. Jahrhundert durch ihre Unterschrift in die Handschrift eingetragenen Stiftsangehörigen waren dadurch mit ihren Vorgängerinnen und Vorgängern eng verbunden. Das Plenar ist somit eine der zentralen Quellen der Gandersheimer Stiftsgeschichte von seinen Anfängen bis zu seiner Auflösung. Für die Geschichte des Gebrauchs der Evangeliare ist das Gandersheimer Evangeliar wie das Gerresheimer Evangeliar eine wichtige Quelle. Ihre Nachträge dokumentieren nicht nur historische Ereignisse und Eidesformeln als juristische Texte, sondern zeugen in ihrer Summe von dem Selbstverständnis der geistlichen Institute. In Gandersheim wurde durch die eigenhändige Unterschrift unter den Eiden zudem die persönliche Anwesenheit im Stift dokumentiert, die sonst angesichts der Mehrfachpräbenden und der Auflösung 86 Vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 144. 87 Der einzige Kanoniker, der nach 1802 neu eingeführt wurde, nämlich der Hofprediger und Primatiatspfarrer Johann Christian Klügel, unterschrieb nicht mehr im Plenar. Vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 488. 88 Vgl. Goetting 1973 (wie Anm. 7), S. 394. – Gandersheimer Plenar, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Ms. 1, fol.16.z23a.recto. 89 Vgl. z. B. Landesarchiv Coburg, LA A 5867. 90 Vermutlich spielt auch die kaum ausreichend einzuschätzende Lage bei Auflösung des Stiftes eine Rolle. Sicherlich schwer zu kalkulieren war das Verhalten der französischen Regierung des Königreichs Westphalen. Die Dekanin brachte somit vielleicht das Plenar vor einem Zugriff der westfälischen Behörden in Sicherheit.

Das Gandersheimer Plenar und seine Nachträge | 181

der Lebens- und Gebetgemeinschaft an den Damenstiften spätestens seit der Frühen Neuzeit nicht mehr per se gegeben war. Dadurch wurden dem Evangeliar sukzessive Amtslisten der Dignitäre eingefügt, die in der Summe – von Eintrag zu Eintrag in der Bedeutung steigend – für die Stiftsgemeinschaft und ihre Geschichte stehen konnten. Die dadurch den Handschriften zukommende Bedeutung war nicht mehr primär an ihre liturgische Verwendung gekoppelt, sondern wurde vor allem zu einem Dokument der Institution. Ein Eid, der auf ein solches Evangeliar geschworen wurde, band sich nicht nur an Christus und seine Kirche, sondern ebenso an das Stift und seine Tradition. Deshalb ist das Gandersheimer Evangeliar so lange im Gebrauch geblieben und nicht wie die anderen im Schatzverzeichnis des 12. Jahrhunderts genannten Plenarien untergegangen. Auch der Gerresheimer Codex dürfte seinen Nachträgen seine Erhaltung verdanken.

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Julia von Ditfurth

Die neuzeitlichen Nachträge im Gerresheimer Evangeliar und die Ausstattungsgeschichte der Damenstiftskirche im 17. und 18. Jahrhundert

Die fortwährende Nutzung des Gerresheimer Evangeliars im Zeitalter des Barock belegen verschiedene Eidesformeln sowie ein Glaubensbekenntnis, die im 16. und 17. Jahrhundert darin eingetragen worden sind.1 Von der Forschung wurden diese Nachträge bisher nicht berücksichtigt.2 Eine der Eidesformeln ist mit dem Datum des 30.  März 1669 versehen und steht damit im Zusammenhang mit einer Visitation des Damenstifts in diesem Jahr, deren Akten im Landesarchiv in Duisburg erhalten sind.3 Durch diesen bisher in der Forschung nicht erkannten Zusammenhang bilden die Nachträge eine Brücke zwischen dem Evangeliar und der damals verfügten Renovierung der Stiftskirche. Im Folgenden werden die Nachträge zu der Visitation in Bezug gesetzt und die Barockisierungsphasen der ehemaligen Stiftskirche St. Hippolyt sowie die Renovierung der damaligen Pfarrkirche St. Margareta anhand der schriftlichen Quellen und der in Gerresheim erhaltenen Ausstattungsstücke des 17. und 18. Jahrhunderts in den Blick genommen.

Die neuzeitlichen Einträge im Überblick Im Evangeliar sind die neuzeitlichen Nachträge an zwei Stellen zu finden: Vor den Kanontafeln sind zwei Doppelblätter vorgebunden, von denen vier Seiten mit verschiedenen

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Düsseldorf-Gerresheim, Schatzkammer St. Margareta, Codex, fol. Iv–IIv u. 270r–272v. Lediglich ihre Existenz ist dokumentiert und unbegründet mit Datierungen versehen, die zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert schwanken. Summarisch erwähnt sind die Nachträge u. a. bei Peter Bloch, Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, 2 Bde., Düsseldorf 1967/70, hier Bd. 1, S. 64 u. 68 mit der Datierung von fol. 270r–271v in das 16. und 17. Jahrhundert sowie von fol. 272v ins 18. Jahrhundert. – Hugo Weidenhaupt: Das Kanonissenstift Gerresheim, in: Düsseldorfer Jahrbuch. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins 46 (1954), S. 1–120, hier S. 63 f. ohne Datierung. – Auf der Internetseite des Projektes Codices Electronici Ecclesiae Coloniensis (CEEC) der Uni Köln, wo das Gerresheimer Evangeliar digitalisiert und katalogisiert ist, werden die Eidesformeln und das Credo bei der Normalanzeige sowie der ausführlichen Anzeige ins 18. und 19. Jahrhundert datiert. Vgl. http://www.ceec.uni-koeln.de/ (letzter Zugriff: 19.01.2016). LA NRW, Abt. Rheinland, Gerresheim, Stift, Akten 98.

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Eidesformeln beschrieben sind (fol. Ir–IIv).4 Am Ende der Handschrift stehen dann, im Anschluss an das Capitulum, auf zwei weiteren Doppelblättern ein Glaubensbekenntnis und ein Eid, den man schwören soll, wenn es die adelige Herkunft zu bezeugen gilt, sowie ein Eid der Kustodin (fol. 270r–272v). Diese insgesamt vier Doppelblätter sind der hochmittelalterlichen Kernhandschrift wohl erst im 16. Jahrhundert vor- bzw. nachgebunden worden.5 Die vorgesetzten Eidesformeln lassen sich anhand des Schriftbildes in drei Gruppen teilen: Gruppe 1 umfasst die Eidesformel für die Kanoniker, die Vikare und die Pastoren. Die Überschriften sind in kapitalen Lettern sauber geschrieben, wohingegen der Fließtext flüchtig erscheint. Der Eid der Vikare wurde in der vorletzten Zeile durch einen Einschub ergänzt. Gruppe 2 umfasst die Eide für die Kanonissen und den Sekretär. Beide Einträge sind von einer Hand sehr sorgfältig geschrieben und beginnen nach der Überschrift in Majuskeln mit einer Silhouetten-Initiale. Die erste Zeile ist durch Größe und Stärke der Buchstaben gegenüber dem folgenden Text hervorgehoben. Den Abschluss des Absatzes bildet jeweils eine liegende S-Form. Etwa auf Höhe des Zwischenraumes zwischen den zwei Zeilen der Überschrift des Kanonisseneides ist am linken Rand ein Datum eingetragen: „30. Martij Ao. 1669“.6 Gruppe 3 wiederholt fast wortgetreu noch einmal den Eid der Kanoniker und der Vikare aus der Gruppe 1. Dabei wurde der erste Text im vorletzten Satz verändert.7 Bei dem zweiten Text wurde die zuvor nur eingeschobene Ergänzung nun in den Fließtext aufgenommen.8 Dies lässt darauf schließen, dass es sich bei der dritten Textgruppe um eine saubere Abschrift von zweien der drei Eide aus der ersten, flüchtiger niedergeschriebenen Gruppe 1 handelt. Auffällig ist, dass im Kreise der neuzeitlichen Nachträge nur hier eine Humanistische Minuskel verwendet wurde. Die Reihenfolge der Einträge vor den Kanontafeln belegt den Zeitpunkt ihrer Niederschrift. Demnach wurde Gruppe 1 kurz vor dem 30. März 1669 eingetragen, die Gruppe 2 an diesem Datum selbst und die Gruppe 3 kurz danach.9 4

5 6 7

8 9

Von der Binio ist die erste Seite als Spiegel mit dem Buchdeckel verbunden, die zweite ist herausgeschnitten. – Für die vollständigen Transkriptionen der Texte vgl. den Beitrag von Philipp Frey und Friederike Szill in diesem Band. Vgl. dazu die Beiträge von Doris Oltrogge und Andreas Bihrer in diesem Band. Düsseldorf-Gerresheim, Schatzkammer St. Margareta, Codex, fol. Iv. Düsseldorf-Gerresheim, Schatzkammer St. Margareta, Codex, fol. IIv: „Canonicatum meum cum aliis non permutabo neque co-/ram Ordinario Apostolice aut etiam in mensibus col-/latorum unquam resignabo.“ statt fol. Ir: „Constitutioni / suscepti regiminis renuncio“. Düsseldorf-Gerresheim, Pfarrarchiv St. Margareta, Codex, fol. IIv: „Cum aliis / non permutabo nec unquam vicariam meam resig-/nabo nisi ad manus Dominae meae Abbatissae tan-/quam collatricis verae.“ Darauf lässt auch das direkte Anschließen des Kanonisseneides an den Pastoreneid auf fol. Iv schließen.

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Die drei Texte, die hinter dem Capitulum nachträglich eingebunden sind, bilden keine neuen Gruppen, sondern stehen im Falle der beiden Eide separat. Der Eid der Kustodin wurde bisher stets als jüngster Eintrag im Codex angesehen und soll erst im 18. oder 19. Jahrhundert hinzugekommen sein.10 Letzteres erscheint im Hinblick auf die Auflösung des Stiftes im Jahre 1803 unwahrscheinlich.11 Nach Andreas Bihrer stammt der Eintrag aus dem 16. Jahrhundert,12 womit er der älteste der neuzeitlichen Nachträge wäre und einen terminus ante quem für die Neubindung des Evangeliars darstellen würde. Das Glaubensbekenntnis auf fol. 270r–271r ist hingegen eindeutig der Gruppe 2 zuzuordnen. Es beginnt ebenfalls mit einer Überschrift in Majuskeln, einer Silhouetten-Initiale und einer hervorgehobenen ersten Zeile. Das Schriftbild des etwa dreiseitigen Haupttextes entspricht gleichermaßen dem der Gruppe 2. Beide Eide dort und das Credo sind trotz ihrer getrennten Anordnung im Evangeliar der Schrift und Auszeichnung nach zweifellos zeitgleich entstanden. Das mit einer kurzen Einleitung versehene Apostolische Glaubensbekenntnis ist – ebenfalls wie die Eide – in deutscher Sprache abgefasst. Daran schließen sich Zusätze an, die das Bekennen nicht nur des Credos sondern gleichfalls aller anderen Ordnungen der katholischen Kirche enthalten, wie auch beispielsweise die sieben Sakramente, die Beschlüsse des Trienter Konzils bezüglich der Erbsünde und der Rechtfertigung der Sünder sowie die Transsubstantiationslehre. Im Ganzen gelobt der oder die Bekennende die „Apostolische Römische Kirchen fur ein Mutter und Meisterin aller anderen Kirchen“ anzuerkennen und „Diesen wahren Catholischen Glauben, ausserhalb welches niemandt seelig kan werden“ 13 zu folgen. Damit wurde dezidiert Stellung gegen die protestantische Konfession bezogen, was angesichts der Stiftsgeschichte – erinnert sei an die Heirat der Gerresheimer Stiftsdame Agnes von Mansfeld (1551–1637) mit dem Kölner Erzbischof Gebhard Truchsess von Waldburg (amt. 1577–1583) im Jahre 1583 und den damit verbundenen Konfessionswechsel beider – nicht verwunderlich ist.14 Das Glaubensbekenntnis und beinahe alle im Evangeliar nachträglich eingefügten neuzeitlichen Eidesformeln enden mit der Bitte: „So hilff mir Gott, und diß sein Heiliges Evangelium.“ 15

10 Bloch/Schnitzler 1967 (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 68: 18. Jahrhundert. – Katalog des CEEC-Projektes (wie Anm. 2): 19. Jahrhundert. 11 Zur Auflösung des Stifts vgl. Arnold Dresen: Die Säkularisation des Stiftes Gerresheim und ihre Auswirkung, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere das alte Erzbistum Köln 123 (1933), S. 98–135. 12 Vgl. den Beitrag von Andres Bihrer in diesem Band. 13 Beide Zitate sind Auszüge aus Düsseldorf-Gerresheim, Schatzkammer St. Margareta, Codex, fol. 271r. 14 Vgl. u. a. Hansgeorg Molitor: Das Erzbistum Köln im Zeitalter der Glaubenskämpfe 1515–1688 (Geschichte des Erzbistums Köln, Bd. 3), Köln 2008, S. 217 f. u. 223–225. 15 Hier zit. n. Düsseldorf-Gerresheim, Schatzkammer St. Margareta, Codex, fol. IIr. – Zwei Ausnahmen sind der Adelseid fol. 271v und der Eid der Kustodin fol. 272v.

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Am Schluss des Credos rekurrieren drei exponierte Zeilen zudem auf den Beginn des Johannes-Evangeliums. Offenkundig war der Codex beim Schwören der Eide und beim Bekenntnis des Glaubens zugegen – sei es, dass man aus ihm las oder zum Schwur die Hand auf das geschlossene Buch oder auch das Johannes-Evangelium auflegte.16

Die Eide vom 30. März 1669 und die Visitation der Gerresheimer Kirchen Mehrfach wird in der Literatur zu Gerresheim knapp auf eine erzbischöfliche Visitation im Jahre 1669 hingewiesen.17 Herzog Philipp Wilhelm von der Pfalz (amt. 1653–1690) hatte von Streitigkeiten der Äbtissin Clara Franziska von Spieß mit den Kanonikern des Stifts über die Finanzen erfahren und beim Kölner Erzbischof um eine Visitation in Gerresheim gebeten.18 Sie wurde angeordnet und dauerte vom 26. März bis zum 1. April 1669, insgesamt also eine Woche. In diesem Zeitraum wurden sowohl die Stiftskirche St. Hippolyt als auch die benachbarte Pfarrkirche St. Margareta visitiert. In der heute in Duisburg aufbewahrten Akte befinden sich mehrere Dokumente: das Visitationsdekret selbst, die vorausgegangene Zustandsbeschreibung der Stiftskirche, die Visitationsinterrogatorien sowie eine Zustandsbeschreibung der Pfarrkirche. Zum Ab16 Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 2), S. 63 gibt an, die Eidesformeln würden sinngemäß dem Eid der Äbtissin entsprechen, nennt hierfür aber keinen Beleg. – Arnold Dresen: Eine Äbtissinnenwahl im Stift zu Gerresheim (1728), in: Monatsschrift für Düsseldorf, Niederrhein und Bergisches Land 3 (1928), S. 257–260 beschreibt die Wahl der Äbtissin im Jahr 1728. Im Laufe der Zeremonie seien Kanoniker, die Äbtissin und die Stiftsdamen nach alter Gewohnheit vom Kapitelsaal in die Stiftskirche gezogen, wo die neue Äbtissin von dem ältesten Kanoniker zum Hochaltar geleitet wurde. Dort habe „das alte Evangelienbuch, aus dem die Neuerwählte den Eid wiederholen mußte“ gelegen (S. 259). Einen schriftlichen Beleg in den Unterlagen zur Wahl 1728 nennt er dafür nicht. 17 Vgl. Johann Hubert Kessel: Der selige Gerrich. Stifter der Abtei Gerresheim. Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte des Christentums im Bergischen Lande, Düsseldorf 1877, S. 156 f. – Ferner Paul Clemen: Die Kunstdenkmäler der Stadt und des Kreises Düsseldorf (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd. 3.1), Düsseldorf 1894, S. 94 u. 102. – Arnold Dresen: Das Abteihaus in Gerresheim und seine Einrichtung (1685), in: Düsseldorfer Jahrbuch. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins 35 (1929), S. 1–23, hier, S. 5. – Arnold Dresen: Grab und Kapelle des seligen Gerrikus in Gerresheim, in: Bergisch-Jülichsche Geschichtsblätter 6 (1929), S. 9–10, hier S. 9.  – Ulrich Brzosa: Die Geschichte der katholischen Kirche in Düsseldorf. Von den Anfängen bis zur Säkularisation (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte, Bd. 24), Köln 2001, S. 71 f. 18 Zu den historischen Hintergründen vgl. Ernst von Schaumburg: Zur Geschichte des Stiftes Gerresheim, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 15 (1897), S. 29–69, hier S. 54. – Die Visitation wurde vor Ort von dem Kölner Generalvikar Paul von Aussem (amt. 1662–1679), dem Geistlichen Rat Thomas Wendelen aus dem Kollegiatstift St. Lambertus in Düsseldorf sowie dem Freiherrn von Hochkirchen, Amtmann von Wessenberg durchgeführt. Als Kölner Erzbischof amtierte Maximilian Heinrich von Bayern (amt. 1650–1688).

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schluss daran fasst ein Dokument den Fortgang der Visitation am 30. und 31. März sowie am 1. April kurz zusammen.19 Auf insgesamt drei Seiten sind darunter auch die Konzepte für die Eide der Kanonissen und des Sekretärs niedergeschrieben, die wortwörtlich mit denen übereinstimmen, die unter dem Datum vom 30.  März 1669 im Gerresheimer Evangeliar nachgetragen worden sind.20 Offenbar wurde bei der Visitation beschlossen, die Eide im alten Evangeliar niederzuschreiben. Das Anfertigen von Konzepten vor der Eintragung in die Handschrift lässt darauf schließen, dass die Texte bis dahin nicht in Schriftform in Gerresheim vorlagen; sonst wären sie vermutlich direkt von einer solchen Vorlage abgeschrieben und nicht erst ein Konzept in die Visitationsakten aufgenommen worden. Entweder waren die Eide bisher mündlich überliefert und sollten nun schriftlich fixiert werden oder es gab bisher keine einheitlichen Eide in Gerresheim oder ältere Eide sollten nun durch die 1669 neu notierten Formulierungen abgelöst werden. Egal, welche dieser Möglichkeiten favorisiert werden soll, alle zeugen von einer Tendenz zur juristischen Kodifikation, wie sie für den Barock typisch ist.

Die erste Barockisierungsphase der Stiftskirche und ihr Vorbild Die Erneuerungen betrafen in Gerresheim im 17. Jahrhundert nicht nur den mittelalterlichen Codex, dem umfassend die Eide der verschiedenen Dignitärsämter sowie das Credo einbeschrieben wurden, sondern gleichermaßen wurde 1669 der Entschluss gefasst, die Stiftskirche St. Hippolyt zu renovieren. Im Visitationsdekret sind unter der Überschrift „Ehr und Zierde der Kirchen“ die Pläne für die Umbauten dokumentiert.21 Ausgangspunkt war die ehemalige Stiftskirche als eine dreischiffige, kreuzförmige Pfeilerbasilika (Abb. 17), deren Bau wohl zu dem überlieferten Weihedatum 1236 vollendet war.22 19 LA NRW, Abt. Rheinland, Gerresheim, Stift, Akten 98, Bl. 5–35. Die hier genannten Blattangaben beziehen sich auf die vorhandene Bleistiftpaginierung. – Vgl. zum Quellenwert von Visitationsakten Mareike Menne: Was bergen Visitationsakten? Kritische Überlegung anhand der Visitationen im Fürstbistum Paderborn in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Bekenntnis, soziale Ordnung und rituelle Praxis. Neue Forschungen zu Reformation und Konfessionalisierung in Westfalen, hg. v. Werner Freitag u. Christian Helbich (Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte, Bd. 4), Münster 2009, S. 175–187. 20 LA NRW, Abt. Rheinland, Gerresheim, Stift, Akten 98, Bl. 27v–28v. 21 LA NRW, Abt. Rheinland, Gerresheim, Stift, Akten 98, Bl. 7v. 22 Zur Stiftskirche vgl. grundsätzlich Clemen 1894 (wie Anm. 17), S. 94–101. – Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 2), S. 48. – Hans Erich Kubach, Albert Verbeek: Romanische Baukunst an Rhein und Maas. Katalog der vorromanischen und romanischen Denkmäler, 3 Bde., Berlin 1976, Bd. 1, S. 316– 320. – Irmingard Achter: Die Stiftskirche und ihre alte Ausstattung, in: Gerresheim und seine Basilika. Festschrift zum 750jährigen Bestehen der Gerresheimer Stiftskirche, hg. v. Ernst Termeer, Wuppertal 1986, S. 85–167, hier insb. S. 85–122. – Anna Skriver: Die Taufkapelle von St. Gereon in

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Abb. 17: St. Margareta in Gerresheim: Innenansicht nach Osten. Köln. Untersuchungen zur Wechselwirkung zwischen Architektur und Farbfassung spätstaufischer Sakralräume im Rheinland (mediaevalis. Beiträge zur Kunst des Mittelalters, Bd.  2), Köln 2001, S. 146–161. – Michael Buhlmann: Düsseldorf-Gerresheim – Stift Gerresheim, in: Nordrheinisches Klosterbuch. Lexikon der Stifte und Klöster bis 1815, Teil 2: Düsseldorf bis Kleve, hg. v. Manfred Groten u.a, Siegburg 2012, S. 111–125, hier S. 121. – Leider nicht veröffentlicht und von der Verfasserin nicht freigegeben ist die Diplomarbeit von Angela Gfrerer: Das ehemalige Damenstift Gerresheim. Unter Einbeziehung der Quellen zur Rekonstruktion, liturgischen Nutzung und Ausstattung des Gründungsbaus, Wien 2013.

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Im Norden schlossen sich die Konventsgebäude des Frauenstifts an, von denen heute nur noch der Ostflügel mit dem Dormitorium der Frauen erhalten ist. Aus der Lage der Konventsgebäude erklärt sich die Position der Damenempore im Inneren der Kirche, die sich bis vor 1810 im Nordquerhausarm befand.23 Dort ist in der Ostwand die Nische für den Altar auf dem Damenchor noch zu erkennen, neben dem der Durchgang zu den Konventsgebäuden lag. Im Süden der Kirche stand bis 1892 die ehemalige Pfarrkirche St. Margareta, im Westen schloss sich, vermutlich bis 1605, eine dem Erzengel Michael geweihte Kapelle an.24 1669 nun „soll[te] mit erster Gelegenheit in der Collegiat Kirchen der ohnzierlicher holzerne abhang vor der Fräwlein Canonaßen Chor, auch daß Toxal mitten im Chor also abgebrochen werden, daß der altar ahn seines orth gelaßen und der prospect zum Hohen Altar darüber unhinderlich bleibe, nach form deßen in der gräflichen Stiftskirchen S. Ursula binnen Cöllen, in der mittem stehenden Altars, ebenfalß das Predigstuel an gegen uberstehende seine [vermutlich: Seite] versezt werden, damit so wol sambtliche fräwle Canonißsen auf ihrem Chor, als auch andere unten in der Kirchen stehende daß göttliche Wort desto besser[?] und leichter verstehen mögen.“ 25 Mit dem unzierlichen hölzernen Abhang ist vermutlich eine Treppenanlage gemeint, die von der Damenempore im Nordquerhausarm in die Kirche und den Chor hinab führte. Das Toxal ist als eine Lettner- oder Schrankenkonstruktion vor dem Hohen Chor zwischen den westlichen Vierungspfeilern zu verstehen.26 Beides sollte bei nächster Gelegenheit abgebrochen werden. Der Altar, der sich augenscheinlich in räumlichem Zusammenhang damit befand, sollte hingegen an seinem Ort belassen werden. Er behinderte die freie Sicht auf den Hohen Altar, die der Quelle zufolge ausdrücklich beibehalten werden 23 Vgl. zur Damenempore in Gerresheim Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 2), S. 69, Anm. 88. – Irmingard Achter: Querschiff-Emporen in mittelalterlichen Damenstiftskirchen, in: Jahrbuch der Rheinischen Denkmalpflege 30/31 (1985), S. 39–54. – Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 115–116. 24 Zur ehem. Pfarrkirche vgl. Heinrich Stemmer: Die alte Pfarrkirche St. Margareta, in: Rund um den Quadenhof. Heimatzeitschrift des Bürger- und Heimatvereins Düsseldorf-Gerresheim 3 (1952), S. 7–10. – Hannelore Schubert: Die ersten Kirchen in Gerresheim, in: Düsseldorfer Jahrbuch 49 (1959), S. 143–175, hier S. 166–175. – Zur Michaelskapelle vgl. Schubert 1959 (wie oben), S. 154–158. –Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 117 f. – Brzosa 2001 (wie Anm. 17), S. 70. – Buhlmann 2012 (wie Anm. 22), S. 121. 25 LA NRW, Abt. Rheinland, Gerresheim, Stift, Akten 98, Bl. 7v. 26 Zum Begriff Toxal vgl. Monika Schmelzer: Der mittelalterliche Lettner im deutschsprachigen Raum. Typologie und Funktion (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, Bd. 33), Petersberg 2004, S. 11 f. – Reste der Fundamente von Chorschranken oder eines Lettners wurden 1954 bei Grabungen aufgedeckt; vgl. Schubert 1959 (wie Anm. 24), S. 152 f. Sie beschreibt einen Fundamentzug aus flachen, hellen, mit einem grau-gelblichen kleinkörnigen Mörtel gebundenen Steinen, der sich in Nordsüd-Richtung zwischen den westlichen Vierungspfeilern durchzieht. Möglicherweise zur gleichen Bauperiode gehören Fundamente zwischen den westlichen Vierungspfeilern und der nördlichen bzw. südlichen Außenmauer, die um einige Zentimeter nach Osten verschoben sind. Eine Zusammengehörigkeit mit Chorschrankenfundamenten zwischen den westlichen und östlichen Vierungspfeilern hält Schubert 1959 (wie Anm. 24), S. 153 für fraglich.

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sollte, offenbar nicht. Darüber hinaus sollte die Kanzel an die gegenüberliegende Seite versetzt werden, damit die Stiftsdamen und auch die anderen unten in der Kirche das dort verkündete Wort Gottes akustisch leichter verstehen konnten. Damit dürfte die dem Damenchor gegenüber gelegene Südseite der Kirche gemeint gewesen sein. In der Quelle wird ganz unmissverständlich ein Vorbild für die Barockisierung der Gerresheimer Stiftskirche benannt: Die Damenstiftskirche St. Ursula in Köln. Dort war die dreischiffige Emporenbasilika aus dem zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts am Ende des 13.  Jahrhunderts durch einen gotischen Langchor nach Osten sowie durch eine Marienkapelle, die einem zweiten Seitenschiff gleicht, nach Süden erweitert worden.27 Zwischen 1640 und 1644 fanden ein einschneidender Umbau und eine Neuausstattung statt.28 Bei diesem wurden unter anderem in den östlichen Langhausjochen die mittelalterlichen Emporen abgebrochen und so ein Querhaus erstellt, das ein nachmittelalterliches Sterngewölbe erhielt. Die Stirnwände bekamen zur besseren Belichtung gotisierende Maßwerkfenster, die Chorhalsfenster wurden durch weiße Verglasung ersetzt. Im Jahre 1640 wurde ein neues Hochaltarretabel gestiftet und von Jeremias Geisselbrunn entworfen. Der Lettner, der ehemals den Chor abgeschrankt hatte, war vorher abgebrochen und durch ein barockes Gitter ersetzt worden. Damit hatte die mittelalterliche Kirche eine starke Akzentuierung ihrer Ostteile erhalten, die in reicher Belichtung auf den neuen, raumfüllenden Hochaltarprospekt ausgerichtet war. Der Kreuzaltar hatte in St. Ursula zuletzt nicht in der Mittelachse gestanden, sondern an der Nordseite des Choraufganges und wurde jetzt im Zuge der Barockisierung 1642 wieder mittig vor den Chor versetzt. Dadurch ergab sich eine Staffelung vom kleineren Kreuzaltar zu dem in der Tiefe des gotischen Langchores stehenden Hochaltar Geisselbrunns. Ebenfalls hatte man um 1640 eine neue Kanzel an dem nordöstlichen Vierungspfeiler aufgestellt, die auf das Langhaus bezogen war. Hier erfolgte 1767 eine weitere, einschneidende Veränderung durch das Vermauern der Seitenschiffemporen. 27 Vgl. zur Baugeschichte Klaus Gereon Beuckers: Köln: Die Kirchen in gotischer Zeit. Zur spätmittelalterlichen Sakralbautätigkeit an den Kloster-, Stifts- und Pfarrkirchen in Köln (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 24), Köln 1998, S. 312–316 mit Nennung der älteren Literatur. 28 Vgl. hierzu maßgeblich Marion Opitz: St. Ursula. Kirche des Damenstifts (seit 1804 Pfarrkirche), in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanischer Kirchen Köln 20 (2005), S. 408–434, hier bes. S. 408–416 mit zahlreichen Verweisen auf ältere Literatur. Dort sind die Veränderungen in der Stiftskirche vom 16. bis zum 19. Jahrhundert ausführlich dargestellt, während hier nur auf die Veränderungen Bezug genommen wird, die mit der Barockisierung in Gerresheim um 1669 in Verbindung zu bringen sind. – Vgl. ferner Reimund Haas: Das Recht, die ‚goldene Cammer‘ zu verwalten. Ein Vergleich zwischen der Äbtissin von St. Ursula und dem hochgräflichen Kapitel 1764–1766, in: Neue Räume – neue Strukturen. Barockisierung mittelalterlicher Frauenstifte, hg. v. Klaus Gereon Beuckers u. Birgitta Falk (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 12), Essen 2014, S. 273–290, hier S. 281 f., der die barocken Umbauten im Zusammenhang mit dem Neubau der Goldenen Kammer 1643 skizziert.

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Die barockisierte Gestalt von St. Ursula ist im Zuge der historisierenden Rückbauten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und des anschließenden purifizierenden Wiederaufbaus untergegangen. Eine Vorstellung von der Gesamtdisposition mögen jedoch die unter dem Kölner Stadtbaumeister Johann Peter Weyer (1794–1864) angefertigten Aquarelle aus dem Jahr 1838 geben. Die Gesamtansicht (Abb. 18) zeigt das Innere der Kirche mit Blick nach Südosten zum barocken Hochaltar im Chorhaupt. Der barocke Kreuzaltar, der „unmittelbar vor dem Chor errichtet“ 29 worden ist, sowie das Gitter, das um 1640 den ehemaligen Lettner ersetzte, waren 1838 schon nicht mehr vorhanden.30 Am nordöstlichen Vierungspfeiler ist der Treppenaufgang zur Kanzel angelehnt sowie der Kanzelkorpus und der in weitem Abstand darüber hängende Schalldeckel angebracht. Das Aquarell zeigt eine – vielleicht romantisch aufgeladene – dramaturgische Lichtführung: Der Langchor ist in beinahe gleißend helles Tageslicht getaucht, wohingegen Vierung und Langhaus im Dunkeln liegen. Die Barockisierung von St. Ursula wurde 1669 – also etwa 25 Jahre nach Abschluss der Arbeiten – bei der Visitation als Vorbild für die Renovierung der Gerresheimer Stiftskirche festgelegt. Die Ausgangslage dafür war günstig, weil die Gerresheimer Stiftskirche bereits über ein Querhaus verfügte und der Chor auch nicht die Tiefe von St. Ursula hatte. Um ein vergleichbares Gefüge zu erhalten, musste nur der Gerresheimer Lettner abgebrochen werden. Den davor stehenden Kreuzaltar beließ man in der Mittelachse vor dem Chor, wo er in St. Ursula (vermutlich wegen seiner traditionellen Bedeutung in der Karfreitagsliturgie) gerade erst wieder aufgestellt worden war. In Gerresheim musste er nach dem Verlust des ihn architektonisch fassenden Lettners jedoch wohl neu ausgestaltet werden und korrespondierte so topographisch mit der im östlichen Langhaus gegenüber von der Damenempore angebrachten Kanzel. Das Abbrechen von Chorschranken oder Lettnern war bei Barockisierungen mittelalterlicher Kirchen ein gängiges Mittel, um eine freie Sichtachse zum Allerheiligsten im Hochchor zu schaffen, auf das der gesamte Kirchenraum ausgerichtet wurde. Umso ungewöhnlicher ist es, einen Altar in der Mittelachse zu belassen, da dieser – je nach Größe und Form – die Sicht oder auch die Wegeführung einschränkt. Für Gerresheim lässt sich das Bestehen eines Altares an dieser Stelle noch bis ins ausgehende 18. Jahrhundert sicher

29 Opitz 2005 (wie Anm. 28), S. 414. – Zudem vermutet sie (S. 413 f.), dass ein erhaltenes Gemälde, welches die Auffindung des Grabes der hl. Ursula durch den hl. Kunibert zeigt, das ehemalige Mittelbild des barocken Kreuzaltares sei. 30 Vgl. die Hinweise auf den Abbau des Kreuzaltares 1810 bei Sybille Fraquelli: Die romanischen Kirchen im Historismus, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanischer Kirchen Köln 26 (2011), S. 8–176, hier S. 160.

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Abb. 18: Ehem. Stiftskirche St. Ursula in Köln: Innenansicht nach Osten. Aquarell aus der Sammlung von Johannes Peter Weyer (1838).

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nachweisen.31 Somit behielt man sowohl in dieser als auch der folgenden Barockisierungsphase, in der unter anderem ein neuer Hochaltar entstand, die mittelalterliche Sakraltopographie bei. Eine uneingeschränkte Raumachse zum Hochaltar wurde hingegen wohl erst nach dem Barock, im 19. Jahrhundert, geschaffen, als auch der Sarkophag des Stiftsgründers Gerricus aus der Achse geräumt wurde. Somit hat man durch den Abbruch des Toxals zwar die ästhetische Raumstruktur erheblich verändert und axial ausgerichtet, dabei aber die sakrale Raumstruktur weitgehend unverändert belassen.32 Dies war den Visitatoren so wichtig, dass sie dafür das Kölner Beispiel als Vorlage heranzogen.

Die Sakraltopographie der Stiftskirche Auch über den Kreuzaltar hinaus blieb die Sakraltopographie in Gerresheim weitgehend unverändert. Signifikant dafür sind die Standorte der Altäre und das Gerricus-Stiftergrab im Chor.33 Drei Standorte von Altären der staufischen Erbauungszeit der Kirche sind durch ihre heute noch in situ befindlichen romanischen Altarmensen gesichert: der Hochaltar sowie die beiden Altäre in den Untergeschossen der Querhausarme.34 Bereits seit der 31 Das Testament der Äbtissin Klara Franziska Freiin von Spies zu Schimberen (amt. 1663–1685) vom 10. März 1685 legte fest, dass die Äbtissin nach ihrem Tod vor dem Frühmessaltar bestattet werden solle. Nach Dresen 1929, Abteihaus (wie Anm. 17), S. 1 Anm. 4 stand dieser in der Mittelachse der Kirche vor dem Hohen Chor. – Noch mindestens bis 1790 muss sich die Altarstelle dort befunden haben, denn als in diesem Jahr der Vorschlag gemacht wurde, die Stiftskirche als Pfarrkirche umzunutzen, wurde dem Prim- bzw. Frühmessaltar die Funktion des Pfarraltars für die Gemeinde zugedacht. Vgl. dazu die Angaben bei Dresen 1933 (wie Anm. 11), S. 120. 32 Die ästhetische und die sakrale Struktur sind zwei Ebenen eines Modells zur Feststellung und Analyse von Veränderungen der Topographie eines Kirchenraumes durch dessen Renovierung oder Modifikationen. Vgl. dazu grundlegend Julia von Ditfurth: Wandel der Strukturen. Barockisierungsprozesse in Damenstifts- und Frauenklosterkirchen in Westfalen, Diss. Kiel 2015, S. 36–38 [in Druckvorbereitung]. 33 Zur Systematik mittelalterlicher Sakraltopographie vgl. grundlegend Clemens Kosch: Zum Projekt einer zeichnerischen Veranschaulichung der sakralen ‚Binnentopographie‘ des Hochmittelalters in ehemaligen Konventkirchen Kölns. Methodische Überlegungen am Beispiel von St. Andreas, in: Kölnische Liturgie und ihre Geschichte. Studien zur interdisziplinären Erforschung des Gottesdienstes im Erzbistum Köln, hg. v. Albert Gerhards u. Andreas Odenthal (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, Bd. 87), Münster 2000, S. 127–142. – Clemens Kosch: Kölns Romanische Kirchen. Architektur und Liturgie im Hochmittelalter (Schnell & Steiner Große Kunstführer, Bd. 207), 2. Aufl. Regensburg 2005 (OA 2000). – zuletzt auch Hanns Peter Neuheuser: Liturgische Raumerschließung und Heiligenverehrung, in: Heilige – Liturgie – Raum, hg. v. Dieter R. Bauer u. a. (Beiträge zur Hagiographie, Bd. 8), Stuttgart 2010, S. 183–216. 34 Vgl. zu den romanischen Mensen Clemen 1894 (wie Anm. 17), S. 101. – Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 120, 123 u. 129. – Buhlmann 2012 (wie Anm. 22), S. 122.

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Abb. 19: Ehem. Stiftskirche St. Hippolyt (heute St. Margareta) in Gerresheim: Schematische Rekonstruktion der Altardisposition von 1669: (A) Damenempore, (G) Gerricus-Sarkophag, (1) Hochaltar, (2) Altar der hl. Jungfrauen unter dem Damenchor, (3) Petrusaltar, (4) Johannes Baptist- und Maria Magdalena-Altar auf dem Damenchor, (5) Kreuzaltar, (6) Kreuz- und Johannes EvangelistAltar, (7) Annenaltar, (8) Johannes Evangelist-Altar in der Sakristei (um 1500), (9) Marienaltar (um 1500), (10) Pankratiusaltar (um 1500), (11) Severinaltar (um 1500), (12) Michaelaltar (?).

zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sind die Patrozinien dieser und weiterer Altäre durch verschiedene Stiftungen bezeugt.35 Die Visitationsakten von 1669 ermöglichen eine Rekonstruktion der Altardisposition und damit der Sakraltopographie der Stiftskirche (Abb. 19):36 35 Auflistungen, die leider nicht immer scharf zwischen benanntem Altar und benannter Vikarie unterscheiden, finden sich bei Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 2), S. 54–55 u. 74 f. – Brzosa 2001 (wie Anm. 17), S. 65 f. – Buhlmann 2012 (wie Anm. 22), S. 122. – Eine genaue Rekonstruktion der mittelalterlichen Sakraltopographie ist daraus nicht zu rekonstruieren. Den frühen Hinweis von Kessel 1877 (wie Anm. 17), S. 191 auf einen Altar von Johannes Baptist und Maria Magdalena auf dem Damenchor, der aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bezeugt sei, bringen die vorgenannten Autoren nicht. Vgl. Arnold Dresen: Die Feier der Hochfeste in der Stiftskirche zu Gerresheim, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere das alte Erzbistum Köln 115 (1929), S. 205–219, hier S. 209 und folgend Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 115 f. 36 LA NRW, Abt. Rheinland, Gerresheim, Stift, Akten 98, Bl. 11r–11v: „In medio Chor(i) iacet Corpus B. Gerici Ducis Lotharingiae – Fundatoris Ecclesiae. [...] in Altari Capella ad Cornu Ep(isto)la Altare S(anc)ti.

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So wird dort der Hochaltar genannt, ohne sein Patrozinium oder seine Lage näher zu spezifizieren. In der Mitte des Chores lägen die Gebeine des seligen Gerricus, heißt es weiter. In einer Kapelle auf der Epistelseite, also der Südseite, sei der Altar des hl. Petrus errichtet; auf der Evangelienseite im Norden unter dem Chor der Jungfrauen (also der Kanonissen) ein Altar zu Ehren der heiligen Jungfrauen.37 Im Damenchor (oben auf der Empore) stünde ein Johannes Baptist- und Maria Magdalena-Altar sowie vor dem Chor in der Mitte der Kreuzaltar. Darüber hinaus seien noch ein Altar zu Ehren des Heiligen Kreuzes und des Evangelisten Johannes an der Epistelseite der Kirche und ein Altar zu Ehren der hl. Anna an der Evangelienseite.38 Insgesamt bestanden in der Stiftskirche 1669 also sieben Altarstellen.39 Dies lässt sich durch ein um 1500 entstandenes, bisher von der Forschung kaum beachtetes Antiphonar in Gerresheim bestätigen, das die Altarstellen der Stiftskirche in summa aufführt.40 Es verzeichnet zu Beginn der Gesänge die Orte, an denen dafür Station

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Petri q(uo)d erectum in titulum vicaria. / Specifient ornamenta Eccl(es)ia / In Cornu Evangelij infra chorum virginum Altare annuntiata virgines fundatum sub sacro hebdomedari / In choro virgin. altare in honorem B. Jo(hann)is Baptistae et S(anc)tae Mariae Magdalenae Comprehendit Reliquias multas de societate St. Ursulae in Sumis Festis Celebratu sacerum in eodem. / D(omi)na Abbatissa [...] sedem particularem fiat ei Debita / Retro Chorum virgin. ad grad(us) Loc(us) in quo solent Coniones audire, tollat. Suggestus pro Concione transferatus ac Colum nam exo[...]stantem, ut[?] tanto magiy vox penetrat Ecclesiam qua iam extra Ecclesiam sonat. / Ante chorum in media Altare S. Crucis fit in eo conventuale sacrum quotidianum suadentum ut tollat et hoc ipsum petit. / It(em) Altare S. Crucis et Jo(hann)is Evangelistae ad lat(us) Ep(isto)lae in Ecclesia / anteriore D(omi)nicis et festivis feri. O. Dieb(us) Mercurij et veneris ferialib(us) Celebrat(us) in eodem a vicario Altaris. ht. Compretentiam sufficientem et requirit(us) esse residentia eiusdem vicarij in eod(em). loco. / It(em) Altare S. Anna ad lat(us) Evangelij [...] oppositio et S. Michaelis archangl. unum sacrum hebdomedariae Requirit.“ Nach Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 2), S. 54 wurde unter dem Damenchor 1325 ein Marien- und Ursula-Altar gestiftet, der hier wohl gemeint ist. Nach der Nennung des Annenaltars heißt es weiter: „[...] oppositio et S. Michaelis archangel. unum sacrum hebdomedarie Requirit.“ – Nach Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 118 wurde der Michaelsaltar aus der Michaelskapelle nach deren Abbruch in die Stiftskirche verlegt. Eine Altarstelle zu Ehren des Erzengels ist jedoch im Visitationsbericht nicht genannt. Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 2), S. 76 gibt hingegen explizit an, der Visitationsbericht nenne zehn Altäre für die Stiftskirche, wenn auch nur sieben Vikarien. – 1803 sollen es laut Dresen 1933 (wie Anm. 11), S. 102 und Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 157 ebenfalls zehn Altäre gewesen sein. Buhlmann 2012 (wie Anm. 22), S. 122 nennt für das Jahr 1808 noch fünf, wobei das Servatiuspatrozinium vermutlich mit der Altarstelle in der Kapelle der Äbtissin in Verbindung zu bringen ist; vgl. dazu Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 2), S. 54 nach LA NRW, Abt. Rheinland, Gerresheim, Stift, Akten 98, Bl. 35r. Düsseldorf-Gerresheim, Pfarrarchiv St. Margareta Gerresheim 1533. – Beate Johlen-Budnik: Das Responsorium der Comtesse de Hochsteden, in: Rund um den Quadenhof. Halbjahreszeitschrift des Bürger- und Heimatvereins Gerresheim 151 (2014), S. 65–66. – Vielen Dank an Frau Beate Johlen-Budnik und Herrn Dechant Karl-Heinz Sülzenfuss für den Hinweis auf das Antiphonar sowie die Zusendung von Fotografien der für diese Untersuchung relevanten Seiten. – Herzlich gedankt sei auch Vivien Bienert und Klaus Gereon Beuckers für die anregenden und aufschlussreichen Gespräche zu dieser Handschrift.

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gemacht werden soll: „Feria quinta in Cœna D(omi)ni quando lauantur altaria. // ante Summu(m) altare de Sa(n)cto Hippolyto: Sancte Hippolyte martir [...] // In Sacella S. Petri ante Sacristia(m): Simon Bariona tu [...] // De S. Johan. Eua(n)g. in Sacristia: Valde honorandus est [...] // Sub choro Virginum De Beatiss. V. Maria: Ecce tu pulchra [...] // In choro Virgin. de sa(n)cto Johan. Bap.: Inter natos mulie [...] // hoc respo. can. ad uersum [...] // ante primum altare de S. Cruce: O crux gloria / quere fol / ante altare B.M.V.: Ista est specio [...] // ante altare S. Pancratij: Bone in dolis [...] // ante altare S. Seuerini: Beatus Seuerinus Coloniensis [...] // i. Sacello S. Cleme(n)tis: Dedisti Domine habitaculum [...] // ante altare S. Matris Annae: O rosa vernalis [...] // ante Altare S. Joan. Siue Cruce: Joannes Apostolus et [...] // In Parochiali ante Summu(m) altare: Beatissima Christi [...]“ Damit gab es zur Entstehungszeit des Antiphonars inklusive des Hochaltars, der dem hl. Hippolyt geweiht war, ebenfalls sieben Altäre: den Primaltar für die Frühmessen zu Ehren des Heiligen Kreuzes sowie je einen Altar zu Ehren der Jungfrau Maria, des hl. Pankratius, des hl. Severinus, der hl. Mutter Anna und des hl. Johannes oder hl. Kreuzes. Darüber hinaus werden eine Petrus- und eine Clemenskapelle genannt sowie die Sakristei und der Damenchor bzw. der Bereich darunter. Auch wenn dabei nicht explizit Altarstellen erwähnt sind, so legt doch der Blick auf den späteren Visitationsbericht und die erhaltenen romanischen Mensen nahe, dass sich der Petrusaltar vor der Sakristei befunden hat, der Jungfrauenaltar im Untergeschoss der Damenempore sowie der Johannes-Baptist-Altar oben auf der Damenempore. Auf einen Johannes-Evangelist-Altar in der Sakristei, der heutigen Schatzkammer, weist – neben dem Antiphonar– auch eine Sammelhandschrift aus dem 13. und 15. Jahrhundert im Bestand der Düsseldorfer Universitäts- und Landesbibliothek hin.41 Darin wird ein Johannes Evangelist-Altar im Armarium genannt.42 Um 1500 gab es somit in der Stiftskirche sicher sieben, vermutlich aber zehn oder elf Altäre. Keiner dieser Altäre wird jedoch eindeutig im Kirchenraum verortet; nur für den Hoch- bzw. Hippolytusaltar kann der Chor als gesicherter Standort gelten. Allein aus der Reihenfolge der Nennung lassen sich ohne die Hinzunahme weitere Quellen keine Standorte ableiten. 1669 werden der Marien-, der Pankratius- und der Severinusaltar nicht mehr genannt.43 Vermutlich wurden sie in der Zwischenzeit aufgegeben. Ihr Platz in der Reihenfolge der Altarnennungen im Antiphonar legt einen Standort zwischen dem sicher verorteten Kreuzaltar und dem wahrscheinlich an den östlichen Mittelschiffspfeilern aufgestellten Kreuz- und Jo41 Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek, Msc. C 50. 42 Vielen Dank an Frau Doris Oltrogge für diesen Hinweis. 43 Frühere Nennungen dieser beiden Altarstellen 1429 bzw. 1420 bei Brzosa 2001 (wie Anm. 17), S. 66 mit Hinweisen auf die Quellen. – Allgemein zur Auflistung der Altarstellen und Vikarien seit dem 13. Jahrhundert Brzosa 2001 (wie Anm. 17), S. 65 f. – Buhlmann 2012 (wie Anm. 22), S. 122. – Bei Kessel 1877 (wie Anm. 17), S. 204 ist eine „ianuam sancti seuerini“ genannt, also eine Tür des hl. Severin, die Kessel in Anm. 1 damit erklärt, dass sich in der Nähe der Severinusaltar befunden habe. – Vgl. ebenso Weidenhaupt 1954 (wie Anm. 2), S. 54.

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hannesaltar im Norden und dem Annenaltar im Süden nahe. Vermutlich standen der Marien-, der Pankratius- und der Severinusaltar in Verbindung mit dem Lettner und wurden 1669 mit ihm niedergelegt. Während die beiden Heiligenaltäre vermutlich seitlich des Lettners an den Vierungspfeilern standen, dürfte der Marienaltar östlich des Lettners angeordnet gewesen sein. Zwei seitliche Eingänge hätten auf der Westseite den Kreuzaltar flankiert, wie dies vergleichbar für den um 1300 entstandenen Lettner der Bonner Stiftskirche bezeugt ist.44 Von einer Clemenskapelle ist im Visitationsprotokoll nicht mehr die Rede. Die übrigen Altarpatrozinien sind gleichgeblieben. Mag damit zwar eine Veränderung der sakralen Raumstruktur durch die Versetzung von Altarstellen theoretisch nicht ausgeschlossen sein, so wäre dies ungewöhnlich und zu belegen. Jedenfalls kamen zwischen 1500 und 1669 keine neuen Altarpatrone hinzu und auch die Zusammenlegung von Patrozinien zur Reduzierung von Altarstellen, wie sie vielerorts vorkommt,45 scheint nicht stattgefunden zu haben. Vielmehr zeigen beide Quellen an vielen Stellen Deckungsgleichheit, zum einen in Bezug auf die Bezeichnungen der Altäre und Räume, zum anderen in Bezug auf deren Anordnung, was einen ähnlichen systematischen Laufweg bei der Prozession bzw. der Visitation nahelegt. Insbesondere für die Lage der Petruskapelle, in der sich der 1669 an der Südseite der Kirche lokalisierte Petrusaltar befand, ist der Hinweis aus dem Antiphonar, die Petrikapelle habe sich vor der Sakristei befunden, wertvoll. Zur Position der Gebeine des Stiftsgründers Gerricus im Chor gab es in der Forschung – nicht zuletzt wegen einer falschen Deutung des Visitationsberichtes – einige Verwirrungen. Arnold Dresen hat bereits 1929 die Aussagen von Johann Hubert Kessel und Paul Clemen korrigiert und klargestellt, dass es im 17. Jahrhundert zwei Denkmäler gegeben haben muss, die an den seligen Gerricus erinnerten.46 Das Visitationsdekret be44 Vgl. Monika Schmelzer: ‚ubi evangelium legitur‘? Zu Gestalt und Funktion des ehemaligen Lettners der Bonner Münsterkirche, in: Märtyrergrab, Kirchenraum, Gottesdienst II. Interdisziplinäre Studien zum Bonner Cassiusstift, hg. v. Andreas Odenthal u. Albert Gerhards (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 36), Siegburg 2008, S. 83–101. 45 Vgl. beispielsweise Andrea Wegener: Zur räumlichen und liturgischen Neustrukturierung der Essener Frauenstiftskirche im 18.  Jahrhundert. Ein Forschungsbericht, in: Beuckers/Falk 2014 (wie Anm. 28), S. 79–98. – von Ditfurth 2015 (wie Anm. 32), passim. 46 Vgl. Dresen 1929, Grab (wie Anm. 17) mit Bezug auf Kessel 1877 (wie Anm. 17), S. 156 f. und Clemen 1894 (wie Anm. 17), S. 94 u. 102. – Dresen korrigierte 1929 die Angaben von Kessel, es habe sich eine Kapelle des Gerricus inmitten des Chores der Stiftskirche befunden und auch Clemens Deutung, man habe sich diese Kapelle als eine Art Baldachin über dem Altar vorzustellen, ähnlich wie er sich in Maria Laach befände. Kessels Deutung widerspricht schon seine eigene Transkription des Liber Ordinarius, aus dem an verschiedenen Stellen hervorgeht, dass es sich bei der Kapelle/Kirche des seligen Gerricus um einen Raum handelt, der außerhalb der Stiftskirche liegt, da der Konvent bei Prozessionen das monasterium, also die Stiftskirche, verlässt und in die capella/ecclessia s. Gerrici hineingeht. Vgl. dazu Kessel 1877 (wie Anm. 17), S. 204 u. 208 f. – Ohne Korrektur folgten Kessel trotzdem Otto Schell: Die ehemalige Stiftskirche (jetzige katholische Pfarrkirche) zu Gerresheim, in: Mo-

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handelt in zwei Abschnitten zunächst die Veränderungen, die in der Stiftskirche vorgenommen werden sollen und im Anschluss diejenigen, die in der Pfarrkirche zu machen seien. In dieser zweiten Passage heißt es, der Pastor solle in seiner Pfarrkirche dafür sorgen, „daß der veralte und ledige Monumentum B. Gerici Hertogen vom Chor ab- und gegen den Altar S. Nicolai et Anthonij zur Kirchen Mauren“ 47 gestellt werde. In einem weiteren Dokument aus der Visitationsakte wird dies noch einmal thematisiert: „Sepulchrum S. Gerici tollatus et transferat ad sacellum Nicolai et Antonij“.48 Das Grab des seligen Gerricus solle erhoben und zur Nikolaus- und Antoniuskapelle49 verlegt werden. Etwa zwei Jahre später ist belegt, dass diese Veränderung bereits vollzogen worden ist.50 Das genaue Aussehen des hier genannten Monumentum bzw. Sepulchrum, das im Chor der Pfarrkirche stand, bleibt spekulativ. Es war zwar alt und ledig (im Sinne von frei) und damit wohl ohne Inhalt, also ohne Gebeine,51 sollte aber nicht einfach abgebrochen, sondern versetzt werden. Das spricht für eine gewisse Wertschätzung und vielleicht Weiterverwendung. Für die Stiftskirche ist 1669 dokumentiert: „In medio Chor(i) iacet Corpus B. Gerici Ducis Lotharingiae – Fundatoris Ecclesiae“ 52. Ob mit Corpus nur die Gebeine des seligen Gerricus gemeint sind oder auch der Sarkophag, der sich bis ins 19. Jahrhundert im Chor vor dem Hochaltar befand,53 geht hieraus nicht eindeutig hervor, ist aber sehr wahrscheinlich, da der Sarkophag etwa aus der Zeit um 1270/80 datiert, zu der die Gebeine Gerrichs erst-

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natsschrift des Bergischen Geschichtsvereins 19 (1912), S. 61–62, hier S. 62 und noch – wenn auch offenbar skeptisch – Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 134. Erst in dem Nachtrag zu Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 135 ist die Korrektur aufgenommen. LA NRW, Abt. Rheinland, Gerresheim, Stift, Akten 98, Bl. 7v. – Vgl. zur Transkription bereits Kessel 1877 (wie Anm. 17), S. 156 f. und Dresen 1929, Grab (wie Anm. 17), S. 9 u. 10. – Vgl. zudem Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 135, die darüber hinaus das alte Monument in der Pfarrkirche in Zusammenhang bringt mit einer Kerzenstiftung aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts durch Äbtissin Guda – ohne die Quelle jedoch näher zu benennen. LA NRW, Abt. Rheinland, Gerresheim, Stift, Akten 98, Bl. 26v. Laut Dresen 1929 (wie Anm. 35), S. 211 machten zwei Kanonissen während der Osterliturgie Halt „beim Eintritt ins Münster unter dem Nikolauschörchen“. Inwiefern hier ein Zusammenhang besteht oder eine Verwechslung vorliegt, bleibt anhand der Quellen unter Berücksichtigung der jüngeren Forschung zu überprüfen. Dresen 1929, Grab (wie Anm. 17), S. 10 mit Verweis auf einen Bericht an den Generalvikar vom 4. März 1671. Zur Wortherkunft und Verwendung von ledig vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Erarbeitet im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft, Berlin unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer, Berlin 2 1993, S. 778. LA NRW, Abt. Rheinland, Gerresheim, Stift, Akten 98, Bl. 11r. Vgl. zum Sarkophag von 1270/80 maßgeblich Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 134 f. – Klaus Hardering: Rheinische Reliquientumben, in: Kölner Domblatt. Jahrbuch des Zentral-Dombau-Vereins 64 (1999), S. 55–88, hier S. 80 u. 88 mit Nennung der verschiedenen Standorte im 19. und 20. Jahrhundert sowie einer Eingliederung in den Typus der sogenannten Rheinischen Reliquientumben.

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mals für die Stiftskirche belegt sind.54 Sicher ist nur, dass der Corpus B. Gerici in dem Visitationsdekret nicht an der Stelle erwähnt wird, an der es um die geplanten Umbauten in der Stiftskirche geht.55 Wertete man dies als argumentum ex silentio, so wurde er in diesem Zusammenhang nicht verlegt oder anders gestaltet. Nimmt man diese Ergebnisse zu den Altären und dem Sarkophag zusammen, so behielten die signifikanten Hauptelemente der Sakraltopographie ihre seit dem ausgehenden Mittelalter belegten Positionen offenbar bei. Die Sakralstruktur der Kirche wurde auch durch die Barockisierung nach 1669 nicht verändert; wesentlich modifiziert wurde jedoch die ästhetische Struktur des Raumes durch den Abbruch des Lettners und die Neuausstattung der Altäre, von denen der Hauptaltar sicher der wichtigste war. Eine solche Entkopplung von sakraler und ästhetischer Disposition ist für Barockisierungen sehr ungewöhnlich und bemerkenswert.56 Hierin dürfte die Vorbildlichkeit von St.  Ursula für Gerresheim gelegen haben, die die Visitatoren zu ihrer Vorgabe bewegt zu haben scheint. Ausstattungsstücke aus der Zeit nach 1669 sind in Gerresheim nicht erhalten.57 Nur durch eine beiläufige Bemerkung von Paul Clemen ist der barocke Petrusaltar von 1677 überliefert: „An der Ostwand des südlichen Querarmes ist das Triforium geschickt in den Aufbau eines barocken Altares hineingezogen“.58 Weiter führte er aus: „Südlicher Seitenaltar, die ganze Ostwand des südlichen Kreuzarmes einnehmend, grosser barocker Aufbau, mit Benutzung des Triforiums errichtet, dessen drei Bögen drei tiefere entsprechen, die Scenen aus der Lebensgeschichte des h. Petrus, in stumpfen Farben auf Holz gemalt, als Einrahmung dienen; in der Mitte der Tod des h. Petrus. Im Aufsatz eine barocke vergoldete Figur des Heiligen.“ 59 Die Inschrift wies den Gerresheimer Kanoniker Bernhard Schulte als Stifter des 1677 errichteten und 1730 sowie 1846 restaurierten Altares aus.60 Weitere Stücke der 1669 ver54 Vgl. dazu Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 135, die die Frühdatierung des Gerrich-Sarkophags um 1270/80 überzeugend mit einer Quelle von 1287 zusammenbringt, welche im Zusammenhang mit der Neuerrichtung des Sarkophags in der Stiftskirche verfasst worden sein könnte. 55 LA NRW, Abt. Rheinland, Gerresheim, Stift, Akten 98, Bl. 7v. 56 Vgl. von Ditfurth 2015 (wie Anm. 32). 57 Der Visitation von 1669 steht zeitlich lediglich ein Ziborium aus dem Jahr 1670 nahe. Es wurde in einer Augsburger Werkstatt, entweder von Franz Schwab oder Friedrich Straub gefertigt, und ist durch seine Inschrift eindeutig dem Stift zuzuweisen. Vgl. Frommer Reichtum in Düsseldorf. Kirchenschätze aus zehn Jahrhunderten, Ausst. Kat. Stadtgeschichtliches Museum Düsseldorf, hg. v. Meta Patas, Düsseldorf 1978, Kat. Nr. 71, S. 281 (Karl Bernd Heppe). – Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 162 f. 58 Clemen 1894 (wie Anm. 17), S. 100. 59 Clemen 1894 (wie Anm. 17), S. 101. 60 Vgl. Clemen 1894 (wie Anm. 17), S. 101 für die Inschrift: „D. O. M. ET S. PETRO R. D. BERNARDUS SCHULTES RATINGENSIS NOSTRAE PRAENOB. ECCLESIAE SENIOR CANONICUS PIO ZELO POSUIT A. 1677. Restauriert 1730 und 1846.“ – Vgl. auch Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 157. – Nach Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 157 und Buhlmann 2012 (wie Anm. 22), S. 122 wurde er 1899 abgebrochen.

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ordneten Renovierung der Stiftskirche, die dem Petrus-Altar von 1677 nach auch zum Anlass für weitere Veränderungen der Kirche im Sinne einer ersten Barockisierungsphase genommen worden ist, sind nicht bekannt.

Zur Barockisierung der Stiftskirche im 18. Jahrhundert Die in der Inschrift für das Jahr 1730 genannte Erneuerung des Petrusaltares und die heute noch erhaltenen Ausstattungsstücke des 18. Jahrhunderts belegen, dass es weitere Barockisierungsphasen in der Stiftskirche gegeben haben muss. So stehen zwei Reihen eines fünfsitzigen Chorgestühls heute nebeneinander an der Stirnwand des Nordquerarmes (Abb. 20).61 Beide Kartuschen, die die Rückwand der mittleren Sitze zieren, tragen in römischen bzw. in arabischen Ziffern die Jahreszahl 1707. Irmingard Achter hat das Gestühl bereits kunsthistorisch gewürdigt und der Werkstatt des Klever Bildschnitzers Niclaes Alberts zugewiesen.62 Dabei ging sie davon aus, dass der Standort, an dem das Chorgestühl auf einer historischen Fotografie von 1877 im Hochchor zu sehen ist (Abb. 21), der ursprüngliche sei. Sie sah in ihm ein Kanonikergestühl, das im Zusammenhang mit dem barocken Hochaltar als einheitliche Chorausstattung gefertigt worden sei.63 Allerdings ist im Hochchor aufgrund des Sakramentshauses und der Reliquiennische auf der Nordseite kaum Platz, um das barocke Gestühl angemessen aufzustellen. Schon auf der Fotografie steht es schräg im Raum und verdeckt die mittelalterlichen Einbauten teilweise. Womöglich wurde es 1707 deshalb nicht für den Chorhals geschaffen, wobei dann die ursprüngliche Aufstellung zu diskutieren ist. Für den Damenchor auf der Empore sind die Gestühlsreihen bei einer Aufstellung in zwei Reihen gegenüber in Ost-West-Ausrichtung zu groß. Ob es sich um die in einem Inventar von 1803 (neben einem Chorgestühl der Kanoniker) genannten „Zwei Chorbänke für die Damen“ 64 handelt, die vermutlich auf dem Damenchor im Nordquerhausarm standen, ist deshalb eher nicht wahrscheinlich. Eine andere denkbare Aufstellung des barocken Chorgestühls ist im Vierungsbereich vor dem Chor, wo sich baulichen Spuren nach zu den Querarmen Abschrankungen

61 Zum Chorgestühl vgl. Clemen 1894 (wie Anm. 17), S. 102. – Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 152– 154. 62 Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 152. – Clemen 1894 (wie Anm. 17), S. 102 hatte zuvor auf die Ähnlichkeit zum Chorgestühl in Essen-Werden hingewiesen. 63 Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 132, 152 u. 154. 64 Auszug aus dem Inventar vom 23.  September 1803, hier zit. n. Dresen 1933 (wie Anm.  11), S. 102.

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Abb. 20: St. Margareta in Gerresheim: Barockes Chorgestühl von 1707.

befunden haben. Aus einer liturgischen Quelle, die Dresen 1929 zitiert, geht folgende Aufstellung hervor: „Die subsellia maiora standen auf dem hohen Chore zu seiten des Hauptaltares, die subsellia minora zu seiten des Primeß- oder Kreuzaltares vor dem hohen Chore.“ 65 Er bezieht sich hier auf die Situation im 14. Jahrhundert, vermerkt aber keinen Unterschied zum 17. Jahrhundert, wie er es sonst in seiner Untersuchung tut. Es spricht deshalb vieles dafür, dass die heute noch erhaltenen beiden Gestühlsreihen aus dem Vierungsbereich stammen. Hauptobjekt der Barockisierung des 18. Jahrhunderts war jedoch der barocke Hochaltar. Mit einem zweigeschossigen Aufbau nahm er zusammen mit den seitlichen Durchgängen die gesamte Apsis ein. Als einzige bisher bekannte Abbildung gibt das historische Foto von 1877 Hinweise zu seinem Aussehen (Abb. 21).

65 Dresen 1929 (wie Anm. 35), S. 218, Anm. 41 u. S. 209: „Der Priester inzensiert zuerst den Hochaltar, dann die Reliquien zur rechten, linken Seite und bei den Chorstühlen, darauf das Grab des seligen Gerrich.“

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Abb. 21: St. Margareta in Gerresheim: Historische Ansicht des Chores mit barocker Ausstattung (1877).

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Abb. 22: St. Margareta in Gerresheim: Skulpturen des ehemaligen Hochaltars.

Nach seinem Abbruch 1896 blieben nur wenige Reste erhalten:66 So stammen die Skulpturen der Heiligen Hippolyt und Margareta in der Kirche vom Hochaltar (Abb. 22). Zudem sind einige Fragmente, die heute in konservatorisch höchst bedenklichem Zustand auf dem Dachboden der Kirche lagern, Stücke der einstigen Seitenwangen sowie der applizierten Fruchtgirlanden und einiger Engel erhalten (Abb. 23).67 An ihnen sind noch weiße und goldene Farbreste zu erkennen. Das ebenfalls noch erhaltene barocke Kruzifix, das sich auf der historischen Abbildung mittig in einer Nische zwischen zwei Säulenpaaren befindet, könnte Achter zufolge ein ursprünglich gemaltes Mittelbild ersetzt haben.68 Clemen, der den Hochaltar 1894 noch in situ sah, bezeichnete ihn – entsprechend der historistischen Vorliebe seiner Zeit abfällig wertend – als „hässliche[n] Rokokoaufbau.“ 69 Stilistisch ist der Altarprospekt eindeutig in das beginnende 18. Jahrhundert zu datieren 66 Zum Hochaltar vgl. Clemen 1894 (wie Anm. 17), S. 101. – Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 120 u. 154 f. – Buhlmann 2012 (wie Anm. 22), S. 122. 67 Vielen Dank an Frau Beate Johlen-Budnik für den Hinweis und die Fotos. 68 Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 155. 69 Clemen 1894 (wie Anm. 17), S. 101. – Vgl. mit einem ähnlich abwertenden Urteil Schell 1912 (wie Anm. 46). S. 62: „Der Hochaltar ist kein hervorragendes Kunstwerk, wie überhaupt die innere Ausstattung und der Kirchenschatz nichts Besonderes aufweisen (man vgl. die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz).“ – Die Datierung bei Clemen 1894 (wie Anm. 17), S. 101 „vom Anfang des 19. Jh.“, ist vermutlich ein Druckfehler.

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Abb. 23: St. Margareta in Gerresheim: Fragmente des barocken Hochaltars.

und damit etwa in die Zeit, in die auch das Chorgestühl von 1707 datiert. Offenbar handelt es sich um eine zweite Barockisierungsphase nach der ersten ab 1669. Zugehörig dürfte auch die inschriftlich überlieferte Renovierung des Petrusaltares im Südquerhausarm um 1730 gewesen sein, die etwa zeitgleich mit der – teilweise durch die Forschung mit um 1740 zu spät datierten – Entstehung der Kanzel erfolgt sein dürfte.70 In einem Atemzug mit der Kanzel, die sich heute an der Nordseite des Mittelschiffs befindet, nannte Clemen noch eine barocke Kommunionbank.71 Diese stand mindestens bis in die

70 Zur Kanzel vgl. Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 157 mit einer Datierung um/nach 1740. – Vera Henkelmann wies zuletzt auf die Parallelen zwischen den Kanzeln in Gerresheim und Essen-Werden hin, schlug mit Verweis auf die Kanzel in St. Maximilian in Düsseldorf eine Datierung um 1737 vor. Vielen Dank an Frau Henkelmann für den Auszug ihres Manuskriptes zum Inventar Essen-Werden. 71 Clemen 1894 (wie Anm. 17), S. 102. – Vgl. auch Achter 1986 (wie Anm. 22), S. 157.

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Abb. 24: Gerresheimer Evangeliar, lose eingelegtes Blatt mit Eid des 18. Jahrhunderts.

1980er Jahre in St. Cäcilia in Hubbelrath.72 Offenbar wurde sie im Zuge der Restaurierung der Stiftskirche nach 1894 dorthin verbracht. Auch diese zweite Barockisierungsphase hat in den Nachträgen im Evangeliar eine Entsprechung. So liegt auf einem losen Blatt ein Eid aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts für die Kanoniker und Pastoren von Gerresheim dem Codex bei (Abb. 24).73 72 Nach Auskünften der Küsterin in Hubbelrath kam die Kommunionbank in den 1980er Jahren nach Gerresheim zurück. Dort befindet sie sich allerdings heute nicht. 73 Düsseldorf-Gerresheim, Schatzkammer St. Margareta, Codex, lose eingelegtes Blatt. Transkription im Beitrag von Philipp Frey und Friederike Szill in diesem Band.

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Er basiert textlich auf den im Evangeliar nachgetragenen Eiden von fol. Iv und IIv. Ob das zeitliche Zusammentreffen hier zufällig ist oder wiederum als ein Hinweis auf eine Zusammengehörigkeit von inneren Reformen, wie sie in der Abfassung neuer Eide Niederschlag finden, und äußerer Renovierungen der Kirche dienen kann, ist aus dem Gerresheimer Befund allein heraus kaum zu entscheiden.

Schluss Ohne Zweifel gehören die Nachträge in das Evangeliar in den Zusammenhang mit der Visitation von 1669, die ihrerseits wiederum den Anstoß zur Barockisierung der Stiftskirche gegeben hat. Die Barockisierung änderte das Gesicht der Kirche, ihre ästhetische Raumwirkung, erheblich, behielt aber die Sakraltopographie, den sakralen Raum, in bemerkenswerter Weise bei. Dafür wurde sogar mit St. Ursula in Köln ein externes Vorbild verbindlich gemacht. Diese Fortsetzung der mittelalterlichen Tradition ist für die Barockisierung genauso programmatisch wie die Einschreibung der neuen Eidtexte in das mittelalterliche Evangeliar, dessen Funktion sich sicherlich gegenüber der mittelalterlichen Tradition erheblich gewandelt hatte. Mit der Eintragung der Eide bekam das altehrwürdige Evangeliar eine neue Funktion; Legitimation und Autorität der barocken Veränderungen knüpften aber dezidiert an der Historizität der Handschrift und der in ihr vertretenen Tradition des Stifts an. Vor dem Hintergrund dieses Rückbezugs auf die eigene Geschichte, auf die Historizität des Ortes und seiner Objekte, ist auch die Barockisierung zu sehen. Die mittelalterliche Kirche sollte gemäß einem neuen, barockzeitlichen Raumverständnis renoviert werden, das unter anderem den ungehinderten Prospect auf den Hohen Altar verlangte. Auf einen barocken Neubau wurde hingegen verzichtet. Dies war keine Verlegenheitslösung aus Geldmangel, sondern – ganz im Sinne der Barockisierungsforschung der letzten zehn Jahre74 – ein bewusst gewähltes, reflektiertes Konzept von Historizität. Die sonst nur in wenigen Fällen gegebene und bisher offenbar noch nie untersuchte Analogie zwischen barocken Nachträgen in einem mittelalterlichen Prachtevangeliar und der zugehörigen Barockisierung der Konventskirche in Gerresheim belegt dies in idealer Weise.

74 Vgl. unter den jüngeren Studien maßgeblich Meinrad von Engelberg: Renovatio Ecclesiae. Die „Barockisierung“ mittelalterlicher Kirchen (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, Bd. 23), Petersberg 2005. – Klaus Gereon Beuckers: Barockisierung mittelalterlicher Frauenstifte. Bemerkungen zu einem neuen Forschungsfeld, in: Beuckers/Falk 2014 (wie Anm. 28), S. 11–38 und weitere Beiträge. – von Ditfurth 2015 (wie Anm. 32).

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Beate Johlen-Budnik

Zur Objektbiographie des Gerresheimer Evangeliars Praktiken der Buchnutzung im 19. Jahrhundert

Dinge müssen nicht unbedingt unversehrt erhalten bleiben, um eine Menge an Informationen preiszugeben.1 Auch das Gerresheimer Evangeliar berichtet auf verstörend materielle Weise von wechselnden Loyalitäten und gescheiterten Strukturen. Ein Charakteristikum ist dabei, dass sich der Codex lange nachdem er gefertigt wurde, veränderte – oder verändert wurde – und Bedeutungen annahm, die man sich am Anfang niemals hätte vorstellen können. Die Objektbiographie2 des Gerresheimer Evangeliars hat für das 19. Jahrhundert viel mit einem Kunstkrimi gemein. Seine Geschichte weist Parallelen zum aktuellen Geschehen auf dem Kunstmarkt auf. Im Rahmen dieser Untersuchung wird das Gerresheimer Evangeliar erstmalig zu einer Fallstudie zum Kunstmarkt und seiner Akteure. Der ottonische Codex als Handelsware, Wirtschaftsgut und historisch verwertbares Muster mit Nutzen für die Gegenwart ist ein bisher für das Gerresheimer Objekt noch nicht untersuchter Aspekt seiner Geschichte. Dem liegen die Fragen zugrunde, was zu einer Veräußerung führte, warum der Codex in liturgischer Verwendung verzichtbar war und warum Konventionen nicht mehr beachtet wurden. Welche institutionelle Krise ist als Auslöser auszumachen? Nach Gerd Althoff hat die Mittelalterrezeption, die im Gerresheimer Fall nur zur Selektion bestimmter exemplarisch ausgewählter mittelalterlicher Traditionen führte, in aller Regel eine Funktion. Sie ist vor dem Hintergrund der jeweiligen Zeit, ihrer Probleme und Anforderungen, zu sehen und zu verstehen.3 Bis zur Säkularisation diente die Handschrift von Gerresheim dazu, die Vorstellung von Identität inhaltlich zu füllen. Die kollektive Identität der Stiftsgemeinschaft bildete sich nicht unwesentlich durch den Zugriff auf ihre Geschichte, die – als eigene Tradition interpretiert – als Erbe, Auftrag oder Vermächtnis eine appellative Funktion bekam. Die

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Vgl. Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten, 3. Aufl. München 2015 (OA 2011), S. 13–27. Vgl. Igor Kopytoff: The Cultural Biographie of Things. Commodities as Process, in: The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspectives, hg. v. Arjun Appadurai, Cambridge 1986, S. 64–91. Gerd Althoff: Sinnstiftung und Instrumentalisierung. Zugriffe auf das Mittelalter. Eine Einleitung, in: Die Deutschen und ihr Mittelalter, hg. v. Gerd Althoff, Darmstadt 1992, S. 1–6.

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Aufgabe, sich dieses Erbes würdig zu erweisen, verpflichtete, einte und spornte an. Nach Klaus Gereon Beuckers kam dem Gründungsbestand einer geistlichen Institution oder dem Bestand aus der ersten Blütephase eine besondere, identitätsstiftende Prominenz zu, die vor allem bei den bis in das frühe Mittelalter zurückreichenden Gemeinschaften unterstrichen wurde.4 Der besonders verehrungswürdige Inhalt des Evangelienbuches bildete den Grund zur Ablegung von Gelübden, Schwüren und Eiden.5 Im Codex wurde Christus objektgebunden anwesend gedacht und gleichsam zum Haupt der Versammlung erhoben.6 Für Frauke Steenbook erhielt das Evangelienbuch seine gesteigerte Bedeutung dadurch, dass es mit dem Buch des Lebens in der Offenbarung des Johannes gleichgesetzt wurde.7 Damit gab es für das Evangelienbuch einen engen Zusammenhang mit dem Jüngsten Gericht. Vor diesem Hintergrund wurde in der Gerresheimer Handschrift der Stifterinnenvermerk auch vor dem Johannes-Evangelium eingefügt. Im Ausblick auf das Jüngste Gericht sicherte sich die Stifterin Hidda ihre Memoria.8 Schon den Anweisungen des oströmischen Kaisers Justinian im Corpus Iuris nach war der geheimnisvolle Hinweis auf Christi Gericht der Anlass, das Evangeliar bei Gerichtsverhandlungen vor den Richtertisch zu legen.9 In Gegenwart Christi, des höchsten Richters, wurde Recht gesprochen und in Gerresheim schworen mit der Berührung dieses Gegenstandes sozusagen in unmittelbarer Verbindung mit Christus geistliche Herren und weltliche Damen ihre Amtseide. Mit der Auflösung des Damenstiftes St.  Hippolytus kam es ab 1803 zum großen Bruch.10 Dieser führte auch in der Verwendung des Codex zu einer Identitätskrise. Das Erbe wurde für die Kirche vor Ort zu einer Hypothek, die die Vergangenheit belastete; die Identitätsstiftung mittels Vergangenheit wurde zum Problem. Die Geschichte konnte nicht mehr als Kette der Erfolge präsentiert werden. Die Identitätsbildung in Gerresheim war gestört, da Identitätsbildung meist durch Sachverhalte erfolgt, die als positiv empfunden werden. 4 Klaus Gereon Beuckers: Liturgische Ensembles in hochmittelalterlichen Kirchenschätzen. Bemerkungen anhand der Essener Ostergrabliturgie und ihrer Schatzstücke, in: „... das Heilige sichtbar machen“. Domschätze in Vergangenheit und Zukunft, hg. v. Ulrike Wendland (Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Arbeitsbericht 9), Regensburg 2010, S. 83–106, hier S. 84. 5 Vgl. den Beitrag von Andreas Bihrer in diesem Band. 6 Vgl. Anton von Euw: Früh- und hochmittelalterliche Evangelienbücher im Gebrauch, in: Der Codex im Gebrauch. Akten des Internationalen Kolloquiums 11.–13. Juni 1992, hg. v. Christel Meier, Dagmar Hüpper u. Hagen Keller (Münstersche Mittelalterschriften, Bd. 70), München 1996, S. 21–30. 7 Frauke Steenbock: Der kirchliche Prachteinband im frühen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Beginn der Gotik, Berlin 1965, S. 53. 8 Vgl. den Beitrag von Klaus Gereon Beuckers in diesem Band. 9 Vgl. Steenbock 1965 (wie Anm. 7), S. 53. 10 Vgl. Arnold Dresen: Die Säkularisation des Stiftes Gerresheim und ihre Auswirkungen, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 123 (1933), S. 100–137.

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Die Rechtsakte, für die der Codex Verwendung fand, waren obsolet, da das Stift nicht mehr in alter Weise bestand. Das Gerresheimer Evangeliar hatte für rechtliche Handlungen keinen Nutzen mehr. Interessant ist, dass sich mitten in dieser Abstinenz von Tradition ein neues Interesse auswärtiger Kräfte an der mittelalterlichen Handschrift bemerkbar machte. Will man den Grund dieser Aufmerksamkeit benennen, scheint der Begriff der ‚Anders- und Einzigartigkeit‘ sowie ‚nationaler Eigentümlichkeit‘ des Gerresheimer Evangelienbuches angebracht. Der Codex von Gerresheim entfaltete seinen Reiz für auswärtige Interessenten durch seine Ästhetik als Artefakt des bewunderten Mittelalters, nicht mehr als liturgisch genutzte Handschrift. Die gespaltene Wahrnehmung der mittelalterlichen Handschrift von Gerresheim ist mit Otto Gerhard Oexle für das 19. Jahrhundert dem Sachverhalt des „entzweiten Mittelalters“ zuzuordnen.11

Vorgehen und Quellen Die Art und Weise dieser Untersuchung richtet sich nach der Zusammensetzung der jeweiligen Archivbestände. So gibt das Pfarrarchiv von St. Margareta in Gerresheim und das Landesarchiv NRW Hinweise auf die Ausstattung und Aufbewahrung von Ensembleteilen des Evangeliars am Beginn des 19. Jahrhunderts sowie auf das Geschick, mit dem die Verantwortlichen für das Gerresheimer Evangeliar bisweilen agierten. Das Staatsarchiv Sigmaringen sowie das Archiv des Kölner Diözesanmuseums Kolumba enthalten Bestände, die Aufschluss über den Kunstmarkt und die betriebsame Veräußerungspraxis im 19. Jahrhundert geben. Auch hier zeigt sich im Vorgehen eine starke Ambivalenz. Mobile Güter des Mittelalters, wie der Codex, wurden vor Ort nur im Hinblick auf materielle Verwertbarkeit geschätzt und waren seit den 1810er Jahren beliebte Handelsware. Mit der Öffnung des Stifter-Sarkophags in Gerresheim zur Erhebung der Gerricus-Gebeine im Jahre 1873 erlebte die Rückbesinnung auf eine lokale Identität einen ersten Höhepunkt.12 Zeitnah wurden jedoch auch Objekte – wie der angeblich aus dem Grab stammende sogenannte Gerricus-Dolch, den ein Verzeichnis des Stiftssekretärs Muttone vom 29. Oktober 1804 noch dem Heiligen Hippolytus zuordnet13 – trotz ihres engen Zusammenhangs mit dem Stifter oder Patron, Sammlern zum Kauf angeboten.14 Der Nachlass des Düsseldorfer Kunstberaters Professor Andreas Müller im Kölner Diözesan11 Otto Gerhard Oexle: Das entzweite Mittelalter, in: Althoff 1992 (wie Anm. 3), S. 7–28. 12 Vgl. Protokoll über die Öffnung des Gerricus-Sarkophages in der alten Pfarrkirche von Gerresheim am 24. Juni 1873 und über die genauere Untersuchung der enthaltenen Gebeine des seligen Gerricus am 8. Oktober 1873, Pfarrarchiv St. Margareta [im folgenden PfA], Nr. 507. 13 Vgl. Anm. 20. 14 Vgl. Johann Hubert Kessel: Der selige Gerrich. Stifter der Abtei Gerresheim. Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte des Christentums im Bergischen Land, Düsseldorf 1877.

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museum Kolumba zeugt von einem funktionierenden Netzwerk aus Sammlern, frühem Wissenschaftsbetrieb, Kunstberatern, Auftraggebern und Lieferanten.15 Diese gilt es nachzuzeichnen und im letzten Teil der Untersuchung der Ausstellungspraxis des Jahres 1876 und der Rolle der kirchlichen Aufsichtsbehörde nachzugehen.

Der Buchdeckel des Evangeliars Der Reichdeputationshauptschluss 1803 setzte den Prozess in Gang, bei dem das Damenstift St. Hippolytus in Gerresheim aufgelöst wurde. Auch das Evangeliar war von diesen Vorgängen unmittelbar betroffen. Per kurfüstlichem Dekret vom 21. Oktober 1803 wurde der Mettmanner Richter von Prange als „Local-Commissar“ und der Stiftsrepräsentarius Kanonikus Loeven als Lokalverwalter für Gerresheim eingesetzt.16 Das Protokoll, das Richter von Prange bereits am 23. August 1803 über die in hiesiger Stiftskirche vorgefundenen „Effecten“ anlegte, erwähnt das Evangelienbuch nicht.17 Im Buchbestand sind 15 Nachlass Andreas Müller, Kolumba, Diözesanmuseum Köln, Nr.  XXI 2003–2032; XXII 2051– 2078. – Abrechnungen über Ankäufe für Sigmaringen, Nr. 2054, Gutachten und Auskünfte XIIa SMS, Nr. 937–1005, A-L; XIIb SMS, Nr. 1000–1048 M–Z, Hohenzollern Sigmaringen XIII SMS, Nr. 1049–1117. 16 Dresen 1933 (wie Anm. 10), S.108. – Vgl. Beate Johlen-Budnik: Sammlungsgeschichte der Gerresheimer Ornamenta Ecclesiae, in: Besser als Silber und Gold, Ausgewählte Stücke aus dem Gerresheimer Kirchenschatz, hg. v. Beate Johlen-Budnik u. Andrea von Hülsen-Esch, Essen 2013, S. 15. 17 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Bestand Großherzogtum Berg, Rentei, Nr. 13385: Vorblatt: „Protocollum vom 23ten August 1803, Die Aufzeichnung der in hiesiger Stiftskirche vorgefundenen Effecten betf. v. P., hierab vhe. Küster copi zum Einsenden zugestellt 25ig August 22½, diese eingeschickt am 4. Oktober 1804, N. 1., 4–30½, 4–30½ [addiert zu der Summe] 9–28.“ Inventar: „Zur Befolgung des erhaltenen Auftrages hat man sich heute im Zustand des Administrators Stiftsherr Loeven in hiesiges Stiftskirche begeben, um die zu derselben gehörigen g Kircheneffecten auf zu zeichnen. Man hat von diesem Termin den Pfarrer Herr Schmitz benachrichtigt und damit derselbe die nötige Anweisungen geben könne. Derselbe fand sich auch ein und hat so an bei der Aufzeichnung folgende Sachen gefunden, N. 1 eine silbern übergoldete sehr große Monstranz 6 Pfund Gewicht, N. 2 ein kleineres von genehmlicher Art, in welchem das Hl. Blut aufbewahrt wird 1 Pfund 31 Loth Gewicht, N. 3 ein großes silbern übergoldetes Ciborium 2 Pfund 3 Loth Gewicht, N. 4 drei silbern vergoldete Vasen, worin Gebeine aufbewahrt werden 4 Pfund 9 Loth Gewicht von verschiedener Art und eine kupferne zum nemlichen Entzweck, N. 5 fünf silberen vergoldete Kelchen mit Paten und Löffelcher 6 Pfund 8 Loth Gewicht, N.6 fünf gelbkupferne Altar Leuchtern, N. 7 vier kleinere dito, N. 8 eine große gelbkupferne Gotteslamp, N. 9 fünf gelbkupferne Armoder Wandleuchter, N. 10 fünf eisern große Lichtstöck, N. 11 drei gelbkupferne Weihkesselen , N. 12 ein gelbkupfernes Weirauchfaß mit Dose, N. 13 vier paar zinnern Pöllen [Messkännchen] mit zwei Tellern, N. 14 ein dito Becher, N. 15 ein Chorkappa von weißem Moar [Dresen liest hier „Moirseide“ – Moare frz. ist eine Textiltechnik mit matt schimmerndem Muster, meist aus einfarbigem Rips oder Taft] mit Silber durcharbeitet, samt Kasel und Lewitten[gewänder] und antependium, N. 16 ein dito weiße und gold drauf gearbeitete samt Kasel und Lewitten, N. 17 eine weiß gelb seiden Chorkappa mit antependium, Kasel

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unter der Nummer 34 zwölf Messbücher und unter der Nummer 35 sechs Chorbücher gelistet. Das Verzeichnis wurde unter vorheriger Benachrichtigung des leitenden Pfarrers Johann Arnold Schmitz – eines ehemaligen Kanonikers, der von 1762 bis 1811 Pfarrer an der Gerresheimer Pfarrkirche St. Margareta war – ausgefertigt.18 Schmitz galt den Behörden als äußerst unkooperativ.19 Das Evangeliar wurde dem Kommissariat vorenthalten und anderweitig aufbewahrt: Zum Zeitpunkt der Aufnahme durch Lokalkommissar von Prange lag es zusammen mit dem Silberschatz der Kirche auf dem Speicher des Stiftskanonikers Sontzen in Essen und kehrte erst 1804 nach Gerresheim zurück.20 und Lewitten, N. 18 ein weiße Chorkappa mit grünem Blumen, samt äsolchen antependio Kasel und Lewitten, N. 19 ein blausammete Chorkappa, N. 20 und dito von schwarzwollentuch, mit Kasel, Lewitten und antependim, N. 21 ein alte damastenes grüne Chorkappa, N. 22 ein dito weiße Chorkappa, N. 23 eines so wozu moaren Korkappa mit zwei Kaselnen, wovon eine mit Silber besetzt, N. 24 eine dunkelrothe sammete Chorkappa, N. 25 eine rothseidene geblümte Chorkappa mit antependium, Kasel und Lewitten, N. 26 ein weisses antependium mit blauen Streiffen und Blumen, samt Kasel und Lewitten, N. 27 ein weißseidenes antependium mit gestickten Blumen, samt Kasel, N. 28 21 Kaselen, N. 29 24 Alben mit Humeralen [Schultertuch unter der Albe] und Zingulen, N. 30 30 ober- und unter Altarspreiden, N. 31 Handtücher, N.  32 10  Röcklein für Messendiener, N.  33 ein gelbkupfern messingern Hand[wasch]Messkessel, N. 34. 12 Messbücher, N. 35 6 Chorbücher, N. 36 zwei kleine seidene Fahnen, N. 37 ein Ofen samt Rohr vom Sturz, N. 38 einige kleine Bänk und sonstige unbedeutende Altarverziehrungen, N. 39 einige alte Kirchengemälde, N. 40 ein blechenes Prozessions und einige sonstige Kreuzer von unbedeutendem Wert, N.  41 ein klein und weißseidenes Leichentuch Mundetur Protocollum zur Einsendung, N.  42 57 Bänke, N. 43 4 Beichtstühle, N. 44 zwei Chorbänke für die Frauen, N. 45 zwei dito für die Herrn Canonicus und Vicarien, N. 46 10 Altäre, N. 47 drei Schränke zum Aufbewahren von den Kirchensachen. Mundetur Protocollum zur Einsendung in Fidem Loevens.“ 18 Vgl. Heinrich Stemmer, Josef Steinebach: Die Geschichte der Pfarrkirche St. Margareta seit Aufhebung des Stiftes, in: Gerresheim und seine Basilika. Festschrift zum 750jährigen Bestehen der Gerresheimer Stiftskirche, hg. v. Karl Heinz Bott, Düsseldorf 1986, S. 229–234, hier S. 229. 19 Vgl. Dresen 1933 (wie Anm. 10), S. 109. 20 Vgl. Dresen 1933 (wie Anm. 10), S. 109. – Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Bestand Großherzogtum Berg, Rentei, Nr. 13385: „Mittwoch den 26ten März 1802 Gemäß dem vom 10ten dieses vom Stift erhaltenen Auftrags, das zu St. Sebastiansbruderschaft gehörige Silber abzuholen, verfügten wir der Stift Herr Can: Loeven und Stiftssecretario Muttone und noch Excellensens, wo wir das in der Behausung des St. Can: Sontzen oben im Hauß auf einem kleinen Speicher wohl conditionirt vorfanden A) ein mit Eisen stark beschlagene Verschlag, worin die Archiv der Abtis B) zwei mit C. G. bezeichnete Verschläg, worin das Stiftsarchiv verwahrt sein soll. C) ein lange alte Kist mit drei Schlösser, worin das Stiftssilber verwahret wird, der und die Schlüßeln fehlten, auch solche vermutlich durch den docet des St. Secretarius Tillwein verlohren geworden, leisten wir solche durch einen Flößer aus Eßeen, wir entsiegelten dies selbe und fanden 1. das große Kreuz, 2. die Gotteslamp, 3. das Weihrauchfaß 4. das Schiffgen 5. zwei Wandleuchter 6. zwei silbern Arm 7. ein Kron und Zepter von der Muttergottes samt einem kleinen Kröngen 8. eine kleine Krone 9. der Degen von St. Hippolyti 10. ein paar Pollen mit der Schüssel 11. ein paar kleinere Pollen 12. ein vergoldeter Becher 13. drei kastne Rahmen 14. das Evangelienbuch 15. ein vergoldeter Becher Kelch 16. das Messbuch 17. ein paar sehr große Leuchter 18. ein paar kleinere Leuchter 19. ein paar noch kleinere 20. ein paar kleinste das Silber der St. Sebastianusbruderschaft haben wir her-

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Anlässlich der Rückkehr listete am 29. Oktober 1804 der Stiftssekretär Lothar Muttone den Silberschatz mit Gewichten auf. Unter Punkt 16 wurde das Evangelienbuch mit einem Gewicht von etwa 10½ Pfund gelistet, Punkt 17 führt ein Messbuch mit einem Gewicht von etwa 11½  Pfund an.21 Der Silberschatz hatte ein Gesamtgewicht von 122 Pfund. Legt man das ältere Kölner Pfund mit 467,7 Gramm einer Umrechnung zugrunde, wog das Evangelienbuch im Ganzen 4911 Gramm, das Messbuch 5379 Gramm. Der gesamte Silberschatz hatte ein beachtliches Gewicht von in etwa 57 Kilogramm. Am 23. Juni 1808 kam es im Rahmen der Beschlagnahmung von Silberwerk aus dem Stiftsvermögen zu einem erneuten Treffen.22 Im Beisein des Munizipalitätsdirektors und (seit 1806) Gerresheimer Bürgermeisters Josef Dominik Freiherr von Reiner, des Munizipalrates Beinen und des Gerichtsschöffen Höltgen fertigte der Notar und ehemalige Kapiteldiener Johannes Valentin Birnbach in Abwesenheit des erkrankten Pfarrers Schmitz ein Protokoll an. Hierin wurde nicht mehr vom Evangelienbuch als ein Ganzes, sondern nur noch von der Platte des Evangelienbuches geschrieben, die mit anderem Silberzeug – da-

ausgenommen und versiegelt dem Kapitelsdiener übergeben, um solches der Stiftfrau Äbtißin zu überbringen. Diesem nach legten wir obige Stücker wiederum in die Kist ein, darauf die Flößer neue Schlüßeln machen, und versiegelten die Silberkiste wie wir sie vorgefunden haben, actum Ehßen ut supscra in fidem Muttone.“ 21 Dresen 1933 (wie Anm. 10), S. 102 f. verwechselt das Verzeichnis vom 26. März 1802, welches von der Auslagerung bzw. Entnahme des Stiftssilbers in Essen berichtet, mit einem Verzeichnis, das der Stiftssekretär Muttone am 29. Oktober 1804 anlässlich der Rückführung des Stiftssilbers nach Gerresheim inklusive der Gewichte anfertigte. – Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Bestand Großherzogtum Berg, Rentei, Nr. 13385: „Montag, den 29. Oktober 1804 Coram Tit. Herrn Localcommisar von Pranghe und Herrn Verwalter Can: Loeven Da das Silberwerk von Ehßen wieder zurückeingetroffen ist, so hat man sich umgehend in die Stiftssakristei begeben nachzusehen ob die Siegelen mit welcher der Kasten versehen ward, noch unverletzt sejen und da man solche noch in dem besten Zustand befand, die Kist eröffnet und sich mit der Abwiegung beschäftigt. Bei dem Ausbarken hat man gemeß Protocoll zur Hand genommenen, welches vom 20ten März 1802 zu Eßen bei der angestellten Nachsicht abgehalten worden ist. Die in diesem verzeichneten Gegenstände haben sich alle richtig vorgefunden und folgendes Gewicht: // a) ein großes Cruzifix wiegt circa 22 Pfund, b) zwei große Leuchter circa 13½ Pfund c) drei dito circa 12¼ Pfund d) zwei kleine dito circa 6½ Pfund e) zwei dito 6 Pfund ¼ Loth f ) zwei silberne Arme 10 Pfund g) ein vergoldeter Kelch 1¼ Pfund h) ein vergoldeter Becher ¾ Pfund i) ein paar silberne Pollen mit der Schüssel 2¾ Pfund j) ein paar kleinere Pollen 15 Loth k) zwei klein und ein großen Rahmen. Gewicht 4 Pf. m. ein Weihrauchfaß mit dem Schiffchen 5½ Pf. N. zwei Wandleuchter 2¾ Pf . ein Gotteslampe circa 6½ Pf. p) der Degen des hl. Hippolytus ¾ Pf. q) das Evangelienbuch 10½ Pf. R) Messbuch 11½ Pf. s) zwei große und ein kleine Krone mit 1 Zepter 1⅛ Pf. und 19 Loth nach gehaltener Abwiegung hat man die abgewogenen Stücke hingesetzt, wo sie in der Zeit aufbehalten worden sind actum ut supsc. in Fidem Muttone.“ 22 PfA, Reklamation, Nr. 778, Blätter 1–3.

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runter auch den Beschlägen eines Messbuches – in einen Behälter gelegt worden war. Der Behälter hatte eine doppelte Tür und drei Schlösser.23 Wahrscheinlich handelte es sich bei dem hölzernen Behälter um die bis heute in der Ausstattung der Pfarrgemeinde erhaltene Eichentruhe des 15. Jahrhunderts (Abb. 25). Die gotische Truhe hat eine Länge von 240 cm, eine Tiefe von 88 cm und eine Höhe von 64 cm. Ihr einziger Schmuck sind umlaufende Eisenbänder. Der Verschluss erfolgt durch drei Vorhängeschlösser. Die Bretter der Seitenwandungen laufen waagerecht und sind in einer Schwalbenschwanz-Verbindung miteinander verbunden.24 Am 17. Juli 1808 wurde das Gerresheimer Silber in die Düsseldorfer Münzstätte eingeliefert und am 18.  Juli 1808 das Evangelienbuch von F.  Teichmann mit „3  Mark 19½ Loth“ aufgewogen.25 Ein undatiertes Inventar, das vermutlich im Zusammenhang mit dieser Maßnahme aufgestellt worden war, listet „die in der Stiftskirche zu Gerresheim

23 PfA Verkauf von altem Silber und Kunstgegenständen, Reklamation des entwendeten Silber, Aktenbestand I 144, Nr. 778, 23. Juni 1808, Blatt 2: „Auf Ersuchen des Krankheit halber verhinderten hiesigen Herrn Pfarrer Schmitz hab ich unterzeichnender Notar der Hinterlegung des von Seiner Exellenz dem Herrn Minister des Innern, der hiesigen Pfarrkirche zugewiesenen Silberwerk beigewohnt. – das Silber bestand gemäß dem Provinzräthlichen Schreiben vom 20ten d. J. in zwei Leuchtern, zwei silbernen Armen, einem vergoldeten Kelch nebst Paten und Löffelgen, einem Paar silberner Pöllen, zwei kleinen und einem großen Rahmen, der Platte des Evangelienbuchs, und in dem Beschlag eines Messbuchs, wurde im Beisein des Munizipialrathesdirektors Herrn von Reiner, des Munizipialrathes Beinen und Gerichstschöffen Höltgen in der Sakristei der hiesiegen Stiftskirche, in einen mit doppelter Thür und drei Schlössern versehenen Behälter eindargesetzt, welcher sodann geschlossen und einen Schlüssel der Herr Munizipialdirektor, einen der Munizipialrath Beinen und der dritte der Gerichtsschöffe Höltgen zu sich genommen hat. Zur Urkunde hab ich hierüber gegenwärtigen Etit [Edikt] angefertigt deso geschehen zu Gerresheim 23ten Junis 1808.“ 24 Vgl. Irmgard Achter: Die Stiftskirche und ihre alte Ausstattung, in: Bott 1986 (wie Anm. 18), S. 85–167, hier S. 148, Abb. 99. 25 Das wäre für die Platte des Evangelienbuches umgerechnet ein Gewicht von etwa 986,7 Gramm. – Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Bestand Großherzogtum Berg, Rentei, Nr. 13385: „Das von Gerresheim den 17ten Juli 1808 eingeschickte und den 18ten juidem in der Munzstätte gewogene Silber: 1) ein großes Cruzifix wiegt 21 Mark und 13 Loth, 2) zwei große Leuchter 19 Mark 7½ Loth 3) zwei dito 19 Mark 10 Loth, 4) zwei kleine Leuchter 10 Mark 12 Loth, 5) zwei dito 11 Mark 8 Loth, 6) zwei silberne Arm 16 Mark 7 Loth 7) ein vergoldeter Kelch nebst paten und Löffelgen 2 Mark 9½ Loth, 8) ein vergolderter Becher 1 Mark 4¼ Loth 9) ein paar silbern Pollen samt der Schüssel 3 Mark 7½ Loth, 10) ein paar kleine Pollen 3 Mark 14¼ Loth, 11) zwei kleine und ein großer Rahmen 3 Mark 8  Loth, 12)  ein Weihrauchfaß samt dem Schiffgen 11  Mark 4  Loth, 13)  zwei Handleuchter 5  Mark ¾ Loth, 14) ein Gotteslamp 13 Mark 7¾ Loth, [15 fehlt] 16) das Evangelien Buch 3 Mark 19½ Loth, 17) Messbuch 1 Mark 15½ Loth Summe 149 Mark ¾ Daß obrige Kirchensilber in der Munze gewogen und nach abgeschlagenem Holz und Eisenwerk obbemerkte Gewicht, jedoch ohne Hebzug für den Sturz gewogen hat wird hier mit bescheinigt v. F. Teichmann.“

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Abb. 25: St. Margareta in Gerresheim: Eichentruhe des 15. Jahrhunderts im Kirchenschatz.

befindliche silbernen und goldenen Effecten“. Darunter befand sich ein Evangelienbuch mit Beschlag von „20 Loth 1 Pfund ½“.26 In einem Schreiben des Provinzialrates an den Pfarrer zu Gerresheim vom 20. August 1808 sind die Gewichte der Silberobjekte nochmals überliefert. Auch dort ist die Platte 26 Das sind umgerechnet in etwa 993,55 Gramm. – Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abtei-

lung Rheinland, Bestand Großherzogtum Berg, Rentei, Nr. 13385: „Verzeichnis das in der Stiftskirche zu Gerresheim befindlichen silbernen und goldenen effecten: Ein paar große silberne Leuchter 12 l Pf.28 L., ein paar kleinere dito 12 l. Pf. 22 Loth, ein paar noch kleinere 5 Pf. 12. Loth, Ein große Gotteslamp 13 l Pf. 6 Pf 20 Loth, zwei Arm zu Reliquien 12 l Pf. 14 L., Weihrauchfaß mit Henkel und Patte 12 l. 4 Pf., Schiffgen mit Löffel und Patte # 12 Loth 28 L. 21 Loth, zwei Wandleuchter 2 Pf. 18 L. 12 l erstes 12 und letztes 13 löttig, 3 Tafelrahmen 3 Pf. ohne Holz 12 l, Pollen mit Teller 12 l 2 Pf. 24 L., ein paar alte dito ohne Teller, ein Communions-Leuchter, ein vergoldeter Kelch 12 l. 1 Pf. 9 L., ein beschlagenes Meßbuch 20 Loth, ein Evangelienbuch mit Beschlag » 1½ Pf. ungefähr, drei vergoldete Kelche mit Zubehör 3 Pf. 19 L., vier Canonical Kelche, ein Cruzifix 10   Pf. 27  L. 12  l., Degen des h.  Hippolytus 12¾  L. 14 Löth, ein silber vergoldetes Monstranz 5 Pf. 13 l, ein kleineres dito zum h. Blut = Ciborium 1 Pf. 20½ L. 19 l, drei silber vergoldete Monstranzen zum Aufbewahren von Reliquien 12 l, ein größeres 13 l, 4 Pf. 9 Lots für Kupfer, tarin und Glas 3 Pf. Loth Abzug , 12 l Silber 44½ 8 Pf. Loth, 13 – 48½ – 14 – 52 noch 3 Kronen und ein Zepter“. Auf der Rückseite : „Kirchensilber“.

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des Evangeliars unter Punkt 6 mit einem Gewicht von „3 Mark 15 und einem halben Loth“ aufgeführt (Abb. 26).27 Legt man als Umrechnung das Kölner Mark mit 234 Gramm zugrunde, hatte die Platte des Evangeliars ein Gewicht von in etwa 928 bis 993 Gramm. Der Beschlag des Messbuches wog „1 Mark 15½ Loth“, das sind umgerechnet in etwa 460 Gramm. Den Archivalien lässt sich demnach entnehmen, dass es – wie beispielsweise beim Essener Theophanu Evangeliar28 – einen Schmuckdeckel zum Gerresheimer Codex gab, der 1808 separat zum Evangeliar aufbewahrt wurde. Über seine Gestalt und die Möglichkeit der Datierung schweigen die Quellen. Die Herstellung aus Silber wird durch die Verwahrung und Wertermittlung zusammen mit anderem Silberzeug belegt. Für die Niederlegung der Schriftstücke zählte hingegen nur das Gewicht als materieller Wert. Ein undatiertes Inventar, welches unter Punkt  6 die Platte des Evangeliars nennt und mit der Unterschrift durch Pastor Huintges – einem Priester des 1834 aufgelösten Gerresheimer Katharinenbergklosters – ausgezeichnet ist, überliefert, dass das Silber in die Verwaltung des Kirchenrates von Gerresheim übergegangen ist.29 Am 25. Oktober 1812 schrieb der Mettmanner Landrat und Rentmeister Deichs als Präsident des Kirchenrates an den Beigeordneten und Gerichtsschöffen Christian Höltgen. Er verlangte die Herausgabe des Schlüssels. Höltgen sei unzuverlässig im Hinblick auf die Truhe mit dem Silber, die sich im Besitz des Kirchenrates befinde.30 Um diese Vorgänge herum scheint der Silbereinband verloren gegangen zu sein. Möglicherweise nutzte man seinen Wert zur Tilgung von Schulden. Als jedenfalls am 22. Januar 1818 der Kölner Generalvikar Caspar von Weiß der Gemeinde den Verkauf von Silber zur Tilgung von Schulden genehmigte, war unter dem zu verkaufenden Inventar die Platte des Evan-

27 PfA, Urkunde des Provinzialrathes, Nr. 778, Blatt 5: „Herzogtum Berg, Bezirk Düsseldorf, Düsseldorf, den 20. August 1808, Der Provinzialrath an den Herrn Pfarrer zu Gerresheim: Von dem Kirchensilber des Stiftes haben Seine Exellenz der Minister des Innern der Pfarrkirche zu Gerresheim folgende Stücke zugewiesen: // 1) zwei Leuchter vongrund elf Mark und acht Loht 2) zwei silberne Arm von achtzehn Mark sieben Loht, 3) ein vergoldeter Kelch nebst Patén und Löffelgen von zwei Mark und einem halben Loht, 4) ein paar silberne Pollen somit Schlüssel von drei Mark sieben einhalb Loht, 5) zwei klein und ein groß Rahmen von drei Mark acht Loht ,6) die Platte des Evangelienbuchs von drei Mark fünfzehn und halben Loht, 7) das Beschlag eines Meßbuchs von einer Mark fünfzehn und ein halb Loht. gez. vür Grinthen Chruberg.“ 28 Vgl. Steenbock 1965 (wie Anm. 7), Nr. 62, S. 152–154, mit Abb. 86 f. – Gold vor Schwarz. Der Essener Domschatz auf Zollverein, Ausst. Kat. Ruhr Museum Essen, hg. v. Birgitta Falk, Essen 2008, Kat. Nr. 15, S. 82–85 (Anna Pawlik) u. Kat. Nr. 86, S. 182 f. (Katrinette Bodarwé). – Goldene Pracht. Mittelalterliche Schatzkunst in Westfalen, Ausst. Kat. Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster u. Domkammer der Kathedralkirche St. Paulus Münster, hg. v. Gerd Althoff, Hermann Arnhold u. Udo Grote, München 2012, Kat. Nr. 26, S. 144–146 (Gerd Althoff ). 29 PfA, Inventar, Nr. 778, Blatt 7. 30 PfA, Nr. 778, Blatt 15.

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Abb. 26: St. Margareta in DüsseldorfGerresheim, Pfarrarchiv Inv. Nr. 778, Blatt 5: Protokoll des Provinzialrates vom 20. August 1808 an den Pfarrer von Gerresheim.

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gelienbuches bereits nicht mehr aufgeführt.31 Auch am 20. April 1823 gibt eine notarielle Kopie durch Bürgermeister Leven Kenntnis über die Veräußerung von zwei Armen, Polen und Silberwerk aus dem Stiftvermögen; die Platte des Evangelienbuches findet jedoch keine ausdrückliche Erwähnung mehr.32 Im Folgenden ist zu untersuchen, inwieweit die archivalischen Quellen mit dem Befund des 21. Jahrhunderts übereinstimmen.33 Das Gewicht des Evangelienbuches wurde 1802 mit „10½ Pfd.“ verzeichnet. Die Quelle des Provinzialrathes von 1808 gibt für die Platte des Evangelienbuches ein Gewicht von „3 Mark 15 und ½ Loth“ (etwa 928 Gramm), die Düsseldorfer Münze ein Gewicht von „20 Loth 1 Pfund ½“ (= 993 Gramm) an. Subtrahiert man von dem Gesamtgewicht das Gewicht der Silberplatte, ergäbe sich für den Codex ein Gewicht von in etwa 3966 bis 3901 Gramm. Im Dezember 2015 ergab eine Gewichtsmessung des Gerresheimer Evangeliars ein Gesamtgewicht von 3858 Gramm. Unter Berücksichtigung von Messfehlern und klimatischen Bedingungen hat sich das Gewicht des Evangelienbuches ohne Silberplatte und Stehkantenbeschläge nicht grundlegend verändert. Im März 2013 wurde im Rahmen von Restaurierungsmaßnahmen durch das Atelier für Papierrestaurierung von Herrn Diplom-Restaurator Dirk Ferlmann in Köln ein brauner Gewebeeinband – der mit Zeitungsmakulatur hinterklebt war und aus einer Restaurierungsmaßnahme in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts datierte – vom Holzdeckel abgenommen.34 Mit Doris Oltrogge ist anzunehmen, dass die dabei zutage getretenen Holzdeckel – aufgrund der Bundkanäle, welche relativ passgenau für die heutige Verpflockung wirken – nicht zu einem Holzdeckel der ottonischen Erstbindung gehören.35 Somit scheint die Rekonstruktion eines romanischen Schmuckdeckels für das Gerresheimer Evangeliar ausgeschlossen. Die gerade zugeschnittenen, wenig vom Buchblock überstehenden Eichenholzdeckel weisen auf eine Fertigung, die bereits im Hochmittelalter gebräuchlich war.36 Am rückwärtigen Bund befinden sich in Höhe der Kapitale an allen vier Ecken der Holzdeckel Ausbrüche. Die Ausbrüche an den ungeschützten Kanten können durch übliche Gebrauchsspuren erklärt werden.37 (Abb. 27) Am Vorderschnitt sind zwei größere Fehlstellen, die eine Buchschließe nahelegen. Auf dem Rückdeckel sind am Vorderschnitt vier Nagellöcher zu erkennen, die einen Beschlag vermuten lassen. Da der Vorderdeckel mit Ausnahme von zwei Nagellöchern in der 31 32 33 34

PfA, Nr. 778, Blatt 23. PfA, Nr. 778, Blatt 24. Vgl. den Beitrag von Doris Oltrogge in diesem Band. Vgl. Dirk Ferlmann: Dokumentation (12-20-S) der Restaurierung des Evangeliars, März 2013, Köln o. J. [2013], S. 9. 35 Vgl. den Beitrag von Doris Oltrogge in diesem Band. 36 Vgl. den Beitrag von Doris Oltrogge in diesem Band. 37 Schriftliche Mitteilung von Doris Oltrogge an Beate Johlen-Budnik im Dezember 2015.

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Abb. 27: Gerresheimer Evangeliar: Ausbruch am Holzdeckel während der Restaurierung 2013.

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Abb. 28: Gerresheimer Evangeliar: Detail des vorderen Buchdeckels mit Eindrücken eines Beschlages in den roten Samt.

Mitte – die zur Befestigung von zwei im Samtabdruck erhaltenen Fischblasenbeschlägen gehören – keine weiteren Nagelungen in der Fläche aufweist, erscheint es möglich, dass er von einer seitlich befestigten Platte geschützt war oder der ursprüngliche Rückdeckel zum Vorderdeckel getauscht wurde. Ob und wann ein solcher Tausch der hochmittelalterlichen Holzdeckel geschah, ist nicht zu klären. Die Stehkanten beider Holzdeckel weisen zudem an Vorder-, Kopf-, Fuß- und Rückenschnitt eine umlaufende Nagelung auf. Dies macht einen umseitigen Stehkantenbeschlag rekonstruierbar. Da diese Nagellöcher die Fehlstellen an den Ecken und die Ausbrücke an der Vorderseite nicht wesentlich stören, ist anzunehmen, dass der Metallbeschlag der Stehkanten nach dem Verlust von Buchschließe und Ecken und längerem Gebrauch erfolgte. Durch die Metallbeschläge hätte eine ganzflächige Silberarbeit fixiert werden können.38 Auf den Holzdeckeln hätte der – heute nur als Fragment erhaltene – Samt aufgebracht sein können. (Abb. 28) 38 Vgl. den Beitrag von Doris Oltrogge in diesem Band.

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Dieser Samt datiert frühestens nach dem 15. Jahrhundert.39 Möglicherweise diente der Samt als textile Unterlage für eine ganzflächige Silberplatte. Auf dem Samtfragment ist eine Nagelspur wohl zur Fixierung von Metall am Umschlag der vorderen Stehkante nachzuweisen. Setzt man die Art der spärlichen Anbringung mit wenigen Nägeln in Beziehung zum aufwendigen Pergamentvorsatz mit den Eidesformeln und dem Credoeintrag von 1669,40 so kommen für das Gerresheimer Evangeliar als Platte des Evangelienbuches Silbertreibarbeiten des 17. Jahrhunderts, wie sie die Platten des Codex 269 oder Codex 270 der Dombibliothek Köln beispielhaft zeigen, infrage (Abb. 29).41 Beide Arbeiten sind ganzflächige, materialintensive, silberne Deckel des Kölner Meisters Franz Weißweiler (1682–1703). Der Codex 269 zeigt eine Kreuzigung im Spiegel und vier Medaillons der Evangelisten als Brustbilder inmitten von reichem Bandel- und Laubwerk an den vier Ecken. Er ist ein Evangelistar aus dem 12. Jahrhundert, in das im 15. Jahrhundert Eidesformeln nachgetragen wurden. Mit Codex 269 wurden die Kaiser, die nach Aachen zur Krönung zogen, im Kölner Dom als Kanoniker eingeführt.42 Vor diesem Hintergrund ist für das Gerresheimer Evangeliar eine Silberplatte des Barock durchaus denkbar. Gewissheit ist nach dem Verlust jedoch nicht zu gewinnen. Dagegen scheinen die Abdrücke von zwei kreisrunden Beschlägen mit Fischblasenmotiv auf dem Samteinband, die seit 1876 auf dem Vorderdeckel des Gerresheimer Evangeliars bezeugt sind43 und seitdem in das 15. Jahrhundert datiert werden, zu sprechen. Jedoch ist ihre Anbringung erst im 19. Jahrhundert gut denkbar: Jedenfalls sind diese Beschläge, die die Abdrücke mit Fischblasenmotiven hervorgerufen haben, keine Reste eines spätgotischen Beschlages des Gerresheimer Evangeliars. Eine frühere Position auf dem hochmittelalterlichen Rück-

39 Schriftliche Mitteilung von Viola Beier (Restauratorinnen-Partnerschaft Beier, Freund und Kühler, Köln) an Beate Johlen-Budnik vom November 2015. – Vgl. Frances Bartzok-Busch: Drei textile Reliquienmontagen antropomopher Gestalt aus einem Reliquienfund der Munsterkerk in Roermond. Technologischer Befund, kulturhistorische Einordnung und Überlegung zur künftigen Aufbewahrung, Masterarbeit FH-Köln, 2014, S. 144. 40 Vgl. dazu den Beitrag von Julia von Ditfurth in diesem Band. 41 Schriftliche Mitteilung von Doris Oltrogge an Beate Johlen-Budnik vom Dezember 2015. 42 Vgl. Paul Clemen: Der Dom zu Köln (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd. 6.3; Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln 1.3), Köln 1937, S. 361 f. mit Fig. 298. – Fritz Witte: Die Schatzkammer des Domes zu Köln, Augsburg 1927, S. 24–30. – Paul Heusgen: Der Gesamtkatalog der Handschriften der Kölner Dombibliothek, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 15 (1933), S. 1–78, hier S. 25 f. 43 Vgl. Kunsthistorische Ausstellung zu Cöln. Ehrenpräsident seine Königliche Hoheit dem Fürsten Anton von Hohenzollern in tiefster Ehrfurcht gewidmet. Geschäftsführender Ausschuss, Thewald, Beigeordneter, Bürgermeister, Vorsitzender, Ausst. Kat. Köln, o.  O. [Köln] 1876, S. 62, Nr.  401 (Evangeliar).

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Abb. 29: Dom- und Diözesanbibliothek Köln, Cod. 269: Barocker Prachteinband.

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deckel wäre zwar möglich, jedoch macht ihre für die Spätgotik unübliche Anordnung in der Mitte des Vorderdeckels eine Herkunft aus anderem Zusammenhang wahrscheinlicher. Vermutlich wurden die Beschläge erst nach Abnahme der silbernen Platte des Evangelienbuches Anfang des 19. Jahrhunderts mit Nägeln auf dem Samt des Holzkerns befestigt. Im Inventar von 1808 waren neben der Platte des Evangelienbuches auch die Beschläge eines Messbuches mit einem Gewicht von „1 Mark 15½ Loth“ genannt. Diese 1808 vom Messbuch nachweislich getrennten Beschläge kommen für eine spätere Montage auf dem vorderen Deckel des Evangeliars durchaus infrage. Eine solche Maßnahme ist vermutlich durchgeführt worden, um den Verlust der silbernen Platte des Evangelienbuches in den 1820er Jahren zu relativieren und die Zeichen der Objektverwahrlosung nach Auflösung des Stiftes zu sublimieren. Nach David Ganz zogen Prachteinbände eine Grenze der Heiligkeit um ein bestimmtes Segment von Büchern.44 Die Bücher traten in eine eigene Sphäre ritueller Aufführungen ein. Mit dem geschmückten Evangelienbuch wurden Handlungen vollzogen, die seinen Status als Repräsentation Christi betonten. Der Buchdeckel betonte auch das Moment der Montage von Objekten unterschiedlicher Herkunft zu einem Ensemble. Der Codex und sein Einband bildeten eine zusammengefügte Einheit.45 Durch wechselnde Hüllen und Ornate konnte das Evangeliar für neue Zusammenhänge gebraucht werden. Dabei war der Vorderdeckel meist kostbarer gestaltet als der flache Rückdeckel, was mit der Nutzung des geschlossenen Buches zusammenhing, das in den Händen des Geistlichen oder einer Repräsentantin der Stiftsdamen umhergetragen oder beispielsweise in Gerresheim auf den Altar gelegt wurde.46 Durch den Schmuckdeckel wurde zwischen Schauseite und Kontaktseite unterschieden. In Gerresheim war der kostbare Zierdeckel, der als Platte mit konkretisiert wird, 1808 nicht mehr mit der Handschrift verbunden. Auch für das im 11. Jahrhundert entstandene Theophanu- Evangeliar in Essen47 und das Gandersheimer Plenar ist für die Neuzeit eine getrennte Aufbewahrung von Buchdeckel und Handschrift nachzuweisen.48

44 David Ganz: Buch-Gewänder. Prachteinbände im Mittelalter, Berlin 2015, S. 23. 45 Vgl. Ganz 2015 (wie Anm. 44), S. 48. 46 Vgl. Arnold Dresen: Äbtissinnenwahl im Stift Gerresheim, in: Jan Wellem. Zeitschrift für Kultur und Tradition der Alde Düsseldorfer 3 (1928), S. 257–260, hier S. 259. – Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Statuten, Äbtissinnenwahlen, Wahlkapitulationen 1565–1759, Gerresheim, Stift, Akten Nr. 82 b. 47 Vgl. Steenbock 1965 (wie Anm. 7), Nr. 62, S. 152–154. – Kat. Essen 2008 (wie in Anm. 28), S. 183 (Katrinette Bodarwé). – In Essen wurde der Zierdeckel bereits etwas früher als in Gerresheim von der Äbtissin Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach (amt. 1726–1776) von der Handschrift getrennt. Er schützte seit dem 18.  Jahrhundert einige Blätter mit Evangelien-Perikopen, die für Festtage benutzt wurden und ein Verzeichnis der Essener Äbtissinnen. 48 Vgl. den Beitrag von Thorsten Henke in diesem Band.

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Der Übergang der Eigentumsrechte vom Stift auf die Pfarrgemeinde als Nachfolger des Rechtsträgers hatte die ideelle Bedeutung des Evangeliars und seines abgelösten Einbandes verändert. Der Handschrift kam keine hervorragende liturgische Bedeutung mehr zu. Daher war die allzu aufwendige materielle Auszeichnung mit dem Prachteinband nicht mehr sinnstiftend. Wie auch der Verlust der beiden auf den Samt montierten Beschläge zeigt, besaß der Codex jetzt einen vornehmlich säkularen Wert – die Handschrift als historisch-künstlerisches Zeugnis, das Silberwerk des Einbandes als fiskalisches Gut.

Veräußerungsbestrebungen des Evangeliars vor dem Hintergrund des Kulturkampfes Mit dem § 50 Nr. 2 des Gesetzes vom 20. Juni 1875 regelte der Preußische Staat die Vermögensverwaltung in den katholischen Kirchengemeinden.49 Das Aufsichtsrecht des Staates bei Veräußerung von Kirchenvermögen schränkte die Autonomie der Kirche entscheidend ein. Im Vorfeld dieser Gesetzgebung und der Einführung von Genehmigungsverfahren zur Veräußerung von Kirchengut durch Dritte kam es in St. Margareta zu vermehrten Veräußerungsaktivitäten. So führt das Protokoll des Kirchenvorstandes vom 7. März 1875 Verkaufspläne mehrerer Antiquitäten auf, unter denen sich auch das Gerresheimer Evangeliar befand: „ein Buch im Quat mit Pergamentblättern, worauf vier Evangelien abgeschrieben sind mit gemalten Initialen, die aber keine Originale sind, sondern Copien und ein altes Jagdmesser mit silbernem Knauf durch die Vermittlung des Ex. Prof. Andreas Müller in Düsseldorf, der die zwei letzteren Stücke dem Exzellenz Fürst von Hohenzollern zugeschickt und behalten hat, wurden dafür Reichsmark 550 bezahlt, der Kirchenvorstand ist mit dem Verkauf sehr einverstanden, da das Buch nach Urteil von Herrn Canonicus Dr. Bock in Aachen etwa 40 Thaler Wert hat. Die Genehmigung der geistlichen Behörde bleibt vorbehalten. Die Hofverwaltung zu Sigmaringen ist mit Zahlungsanweisung versehen, der Fürst bittet auch um das Buch über den seligen Gerricus und die Kirche des Hl. Hippolyt.“ 50

49 Vgl. Paul Majunke: Geschichte des Kulturkampfes in Preußen, Paderborn 1886. – Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4: Strukturen und Krisen im Kaiserreich, 2. Auflage Stuttgart u. a. 1969, S. 738–740. – Preußisches Gesetz über die Verwaltung des katholischen Kirchengemeinden vom 20. Juni 1875, in: Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, Dokumente zur Geschichte des Deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 2: Staat und Kirche im Zeitalter des Hochkonstitutialismus und des Kulturkampfes 1848–1890, hg. v. Ernst Rudolf Huber u. Wolfgang Huber, Berlin 1976, Nr. 313, S. 662–668. 50 PfA, Kirchenvorstand Protokolle, 7. März 1875, Nr. 238.

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Mit Daten vom 16. März, 23. April und 14. Mai 1875 finden sich im Pfarrarchiv St. Margareta jeweils ein Einspruch des Generalvikars, das Evangeliar zu verkaufen.51 Offenbar hatte man die bischöfliche Aufsichtsbehörde erst im Nachgang von dem Verkauf informiert, nachdem die Gegenstände dem Fürst von Hohenzollern persönlich und eigenmächtig mit Boten übersandt worden waren. Am 29. Mai forderte das Generalvikariat vom Pastor die Rückstellung des Evangeliars binnen acht Tagen. Ein Vermerk des Pastors Hahn bestätigte die Rückstellung am 16. Juli 1875.52 Im Staatsarchiv in Sigmaringen befindet sich die Empfangsbestätigung zum Gerresheimer Evangeliar vom 26. Februar 1875 durch Kabinettsrat Friedrich von Werne.53 Er führt gegenüber Andreas Müller aus, dass der Codex sowie der übersandte Dolch Beifall bei Fürst Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen, bei dem Hofkavalier der regierenden Fürstin, Karl Freiherr von Mayenfisch, und bei Konservator Dr. Friedrich August Lehner gefunden habe und bittet um die Übersendung des Buches des Aachener Kanonikus Kessel über Gerresheim.54 In der Sigmaringer Akte folgt hierauf das auf den 31. Mai 1875 datierte Rückforderungsschreiben von Pastor Alois Hahn. Er führt aus, dass der Verkauf des Buches „zum Wohlwollen des Fürsten und zum Vorteil der Gemeinde“ habe geschehen sollen, nun aber der Codex trotz Bitte um Aufhebung dieser Entscheidung unter kirchliche Jurisdiktion gestellt worden sei.55 Der Verkauf war jedoch nicht nur „zum Wohlwollen des Fürsten und zum Vorteil der Gemeinde“, sondern auch zum Vorteil Müllers. So enthalten die Sigmaringer Akten die Quittung des Hofkassenamtes vom 18. Juni 1875 über 550 Reichsmark, die an Professor Andreas Müller für „Alterthümer“ ausgezahlt worden seien.56 Sechs Monate befand sich der Codex in Sigmaringen. Dem Nachlass von Andreas Müller im Kölner Diözesanmuseum Kolumba nach, wurden Handschriften im Haus Hohenzollern durchaus dem Zeitempfinden entsprechend verändert. So wurden im Auftrag des Fürsten mittelalterliche Handschriften unter anderem durch den Düsseldorfer Hofbuchbinder J. W. Wenker neu gebunden und hierfür teilweise auch zusammengeführt.57 Auch der Einband des Gerresheimer Evangeliars hat nach den Ausführungen 51 PfA, Nr. 778, Vorgang 2755, 3522, 4519 u. Kirchenvorstand Protokoll, 27. April und 6. Juni 1875, PfA, Nr. 238. 52 PfA, Nr. 778, Vorgang 5283. 53 Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Sigmaringen (im folgenden StA Sigmaringen), Briefe des Malers Andreas Müller, FAS Sa 1001. 54 StA Sigmaringen, FAS Sa 1001. 55 Kunst- und Altertumssammlung im allgemeinen: Schriftverkehr, Kaufangebote und Ankäufe 1840– 1905 enthält u. a.: A. Hahn betreffs Rückgabe erworbener Gegenstände aus dem Gerresheimer Kirchenschatz 31.05.1875. StA Sigmaringen, FAS DS 169 T1, Nr. 257, Blatt 171. 56 StA Sigmaringen, FAS DS 169 T1, Nr. 257, Blatt 192. 57 Nachlass Müller (wie Anm. 15), Liste von Handschriften und Büchern, die Andreas Müller zur Durchsicht erhalten hat v. 2.III.1855, Hohenzollern Sigmaringen, XIII SMS Nr. 1095.

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oben noch im 19. Jahrhundert Veränderungen erfahren. Das Gerresheimer Evangeliar wurde nachweislich nicht im unmittelbaren Vorfeld des Verkaufes neu bearbeitet. Müller hielt als Lieferant des Fürsten von Hohenzollern vertrauten Kontakt mit dem fürstlichen Hause und war eng mit dem Kunstmarkt verbunden. Bereits am 2. Februar 1855 erhielt er vom Fürsten den Auftrag, ein erstes Inventar nach wissenschaftlichen Grundsätzen für dessen Handschriftensammlung anzulegen.58 Seine ungedruckten Beschreibungen und Notizen sind in der Fürstlich Hohenzollernschen Hofbibliothek und in Notizen in Köln erhalten. Hier finden sich auch Abrechnungen über Ankäufe, die Müller regelmäßig für die Fürstliche Sammlung getätigt hat.59 Aus dieser Zeit kannte Müller den Kaplan und späteren Aachener Kanoniker Franz Bock, Konservator des Erzbischöflichen Museums in Köln. Bock war auf Schloss Sigmaringen der Bearbeiter für den catalogue raisonné für Elfenbein- und Holzschnitzwerke, mittelalterliche Kreuzformen, Wasserbecken sowie Bronze- und Schmelzarbeiten.60 Er war Träger des Ehrenkreuzes des Hohenzollernschen Hausordens61 und seit 1868 Numerar-Kanonikus am Hohen Dom zu Aachen.62 Die im Protokoll des Kirchenvorstands vom 7. März 187563 indirekt erschließbare, abwertende Expertise des Aachener Kanonikers Franz Bock zum Gerresheimer Evangeliar ist weniger als Aussage über das mittelalterliche Objekt, sondern eher über seine Nutzbarkeit für die Gegenwart zu verstehen. Franz Bocks Interesse an mittelalterlicher Kunst wurzelte in der um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Rheinland entstehenden Reformbewegung, die mit der Vollendung des Kölner Doms auf eine Wiederbelebung mittelalterlicher Traditionen für das Handwerk gerichtet war.64 Zugleich mit der Religiosität des Mittelalters sollte auch eine Wiederbelebung seiner Handwerkstradition er-

58 Vgl. Walter Kaufhold: Fürstenhaus und Kunstbesitz. Hundert Jahre Fürstlich Hohenzollernsches Museum in Sigmaringen, in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte 3 (1967), S. 133–222. – Walter Kaufhold: Fürstenhaus und Kunstbesitz. 100 Jahre Fürstlich Hohenzollernsches Museum. Beginn der wissenschaftlichen Auswertung, Sigmaringen 1969, S. 31. 59 Vgl. Kaufhold 1969 (wie Anm. 58), S. 31. – Nachlass Müller (wie Anm. 15), Nr. SMS 1110– 1115. 60 Kaufhold 1969 (wie Anm. 58), S. 31. 61 Vgl. Birgitt Borkopp-Restle: Der Aachener Kanoniker Franz Bock und seine Textilsammlung. Ein Beitrag zur Geschichte der Kunstgewebe im 19. Jahrhundert, Neuss 2008, S. 143. 62 Vgl. R. Huppertz: Nachruf an Dr. Franz Bock, in: Aachener Volksfreund vom 11. Juni 1899. – Wolfgang Cortjaens: Bock, Franz Johann Joseph, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 12, Herzberg 1997, Sp. 128–135. – Birgitt Borkopp: Franz Bock 1823–1899. Kanonikus, in: Christen zwischen Niederrhein und Eifel. Lebensbilder aus zwei Jahrhunderten, hg. v. Karl Schein, Aachen 1993, S. 25–36, insb. S. 33. 63 PfA, Kirchenvorstand Protokolle, 7. März 1875, Nr. 238. 64 Vgl. Borkopp-Restle 2008 (wie Anm. 61), S. 13–19.

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folgen.65 Seine Forschungen zu überlieferten Monumenten zielten auf eine Verwertbarkeit für eine neue, am Mittelalter orientierte und möglichst stilreine Kunst. Er sammelte, um sein Sammelgut als Vorbild für Arbeiten zeitgenössischer Produktion zur Verfügung zu stellen. Sein erklärtes Ziel war es, die mittelalterliche Kunst wieder für das Schaffen und Erfinden seiner eigenen Zeit fruchtbar zu machen.66 Ungeklärt bleibt, wie Franz Bock und der Düsseldorfer Historienmaler Andreas Müller auf das Gerresheimer Evangeliar als Spekulationsobjekt für den Kunsthandel aufmerksam geworden sind. Vermutlich spielte hier Bocks Mitbruder in Aachen, der Kanoniker Johann Hubert Kessel, eine wichtige Rolle. Kessel kam gebürtig aus Hubbelrath, einem Sprengel von Stift Gerresheim.67 Er hatte 1873, zwei Jahre vor der gescheiterten Veräußerung des Evangeliars nach Sigmaringen, die Öffnung des Stiftergrabes initiiert und hierzu eine umfassende Schrift über die Verehrung des seligen Gerricus und seiner Gründung Gerresheim verfasst, die als erste größere Untersuchung zu Gerresheim gelten kann. 68 Möglicherweise kam es über ihn zu der ersten, im Kirchenvorstandsprotokoll vom 7. März 1875 erwähnten Expertise von Franz Bock zum Evangeliar. Mit seiner missverständlichen Einschätzung der Initialen im Codex als „Copien“ dürfte der mit mittelalterlicher Kunst recht gut vertraute Bock seinem Originalitätsverständnis gemäß vermutlich der Handschrift eher den Charakter origineller, also innovativer Initialen abgesprochen haben, als sie einer nachträglichen Veränderung zuzuweisen. Es ist aber auch möglich, dass Bock die Zeichnungen aufgrund der mit Metallstift und Gallustinte angelegten Konstruktionszeichnung, die zum Beispiel auf der Kreuzigungsseite durchschlägt, als nachkolorierte Blätter einer älteren Vorzeichnung interpretierte.69 Franz Bock kannte Andreas Müller seit den 1855er Jahren als Bearbeiter und Lieferanten für den Fürsten von Hohenzollern. So mag das Angebot nach Sigmaringen entstanden sein, dessen Realisierung Bock durch die geringe Taxierung des Wertes der Handschrift auf 40 Taler noch unterstützte. In Gerresheim erschien die zu erzielende Summe von 550 Reichsmark als ein sehr gutes Geschäft.

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Vgl. Borkopp 1993 (wie Anm. 62), S. 27. Borkopp 1993 (wie Anm. 62), S. 30. PfA, Totenbriefe, Johann Hubert Kessel, Nr. 144. Kessel 1877 (wie Anm. 14). Vgl. Doris Oltrogge, Robert Fuchs (CICS, Fachhochschule Köln): Gerresheimer Evangeliar. Zwischenbericht zu den material- und maltechnischen Untersuchungen, Köln 2013, S. 10, Abb. 13. – Vgl. auch den Beitrag von Doris Oltrogge in diesem Band.

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Ausstellungsaktivitäten Nach seiner glücklichen Rückkehr 1875 wurde das Evangeliar von Gerresheim 1876 im Zuge der großen Kunsthistorischen Ausstellung zu Cöln, die unter der Ehrenpräsidentschaft des Fürsten Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen stand, erneut zum Kauf angeboten.70 Diese Ausstellung fand die Aufmerksamkeit eines kunstinteressierten Publikums und die Gerresheimer Akteure erreichten mit der Ausstellung ihrer Antiquitäten in der Kölner Metropole einen größeren Absatzmarkt für mittelalterliche Kunst. Der Ausstellungskatalog führte zum Evangeliar von Gerresheim unter der Nummer 401 aus: „Evangelienbuch auf Pergament mit den durch ornamentierte Bandstreifen eingefassten roh erneuerten Miniaturen der Evangelisten und ebenso eingerahmten Initialen und Inschriften auf Purpurfonds, 10. Jh., mit Sammet überzogen, Holzdeckeln, welche Eindrücke von Metallverzierungen des 15. Jh. bewahrt haben. Stiftskirche Gerresheim.“ 71 Erneut wurde der Vorwurf einer Überarbeitung der Miniaturen formuliert, was vermutlich auf die Unterzeichnungen der Kreuzigungsminiatur zurückgeht, die Doris Oltrogge noch 2013 als skizzenhaft und suchend charakterisiert hat.72 Das genannte Bildprogramm aus den vier Evangelisten, Initialen und Tituli auf purpurfarbenem Grund deckt sich mit der heute noch erhaltenen Ausstattung des Codex. Möglicherweise fehlende Miniaturen vor dem Hieronymusprolog und dem Kreuzigungsbild, auf die erstmals Doris Oltrogge aufmerksam gemacht hat, werden auch 1876 nicht mehr erwähnt und waren demnach bereits entfernt. Im Zusammenhang mit dieser Ausstellung bot der Kirchenvorstand das Evangeliar erneut zum Kauf an. Abnehmer der Handschrift und des Gerricus-Jagdmessers – das im Verzeichnis von 1802 noch als das Messer des hl. Hippolytus bezeichnet worden war – sollte der Beigeordnete Karl Thewalt sein,73 der das Jagdmesser auch erstand.74 Ob Thewalt für das Evangeliar als Strohmann des Fürsten von Hohenzollern fungieren sollte, ist nicht nachvollziehbar. Das Jagdmesser kann durchaus auch in seine eigene, 1903 bei Lempertz in Köln versteigerte Waffensammlung eingegangen sein.75 Über den Käufer des Jagdmessers sollte Verschwiegenheit gewahrt bleiben.76 Das Geschäft mit dem Evangeliar kam jedoch nicht zustande; es wurde durch den Kölner Weihbischof Johann Anton Fried-

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PfA, Große Kunstausstellung Köln, Nr. 778, Blatt 25–34. Kat. Köln 1876 (wie Anm. 43), S. 62, Nr. 401 (Evangeliar) u. S. 117, Nr. 1085 (Jagdmesser). Oltrogge/Fuchs 2013 (wie Anm. 69), S. 10. PfA, Große Kunstausstellung Köln, Nr. 778, Blatt 28–34. PfA, Große Kunstausstellung Köln, Nr. 778, Blatt 30 –34. Auktionskatalog 4.–14.11.1903, Lempertz, Köln, Katalog der reichhaltigen, nachgelassenen KunstSammlung des Herrn Karl Thewald in Köln, Bürgermeister a. D., Versteigerung in Köln. 76 PfA, Große Kunstausstellung Köln, Jagdmesser des Gerricus, Nr. 778, Blatt 29.

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rich Baudri vereitelt.77 Baudri war ein Bewunderer des Handschriften-Sammlers Johannes Kardinal von Geissel,78 in dessen Besitz sich bis nach seinem Tod 1865 auch das HitdaEvangeliar aus Meschede (heute in Darmstadt) befand. Als Gegenspieler zu Franz Bock machte Baudri sich für die christliche Kunst im kirchlichen Kontext stark.79 Sein Bruder Peter Ludwig Friedrich Baudri, mit dem der Weihbischof engen Kontakt pflegte, war ausgebildeter Kunstmaler, der in den 1840er Jahren zur gleichen Zeit wie Andreas Müller an der Düsseldorfer Kunstakademie immatrikuliert gewesen war und 1851 Mitbegründer der Zeitschrift ,Organ für christliche Kunst‘ wurde.80 Durch das Eingreifen der kirchlichen Aufsichtsbehörde wurde somit zwei Mal innerhalb kurzer Zeit ein Verkauf des Gerresheimer Evangeliars verhindert. Der Pfarrgemeinde wurde von Baudri klar der Auftrag als Gedächtnisinstitution für das Stift zugewiesen. Das Objekt blieb hierdurch an dem Ort, für den es im 11. Jahrhundert gefertigt worden war, beheimatet.

Schluss Das Evangeliar von Gerresheim war nach der Säkularisation vor Ort in seinem Gebrauchswert für die Gemeinde als Nachfolgerin des Damenstiftes St. Hippolytus nur von eingeschränktem Wert. Es war nach dem erfolgten Identitätsbruch der Säkularisation für liturgische Zeremonien mit Rechtscharakter nicht zu nutzen und konnte lokal keinen Sinn mehr stiften. Dieser Umstand führte zu Nachlässigkeiten im Umgang und zu schwerwiegenden Substanzverlusten. Sachzwänge machten die Handschrift zum bloßen Artefakt, zur Handelsware, die aus Interesse an materieller Gewinnmaximierung auf dem Kunstmarkt angeboten wurde. Die Sammelleidenschaft und die Freude am Besitz eigentümlicher Zeugen des Mittelalters bewegten den Romantiker Karl Anton Fürst von Hohenzollern-Sigmaringen, den Codex zu erwerben. Für Karl Anton, charakteristischer 77 PfA, Große Kunstausstellung Köln, Nr. 778, Blatt 25–27. 78 Vgl. Auktionskatalog Kölner Buchauktion vom 3.  Juli bis 15.  August 1865. Katalog der Firma J. M. Heberle, Katalog der nachgelassenen Bibliothek seiner Eminenz des Hochwürdigen Herrn Johannes von Geissel, Kardinal-Priester und Erzbischof von Cöln etc., welcher nebst der von Herrn Notar Stindeck nachgelassenen Sammlung von Pergament-Manusscripten und der wertvoll hinterlassenen Bibliothek, Los Nr. 102. 79 Vgl. Johann Baudri: Der Erzbischof von Köln Johannes Cardinal von Geissel und seine Zeit, Köln 1881. – Joachim Oepen: Das katholische Köln. Eine Glückwunschadresse für den Kölner Weihbischof Baudri 1877, in: Ortskirche und Weltkirche in der Geschichte. Kölnische Kirchengeschichte zwischen Mittelalter und Zweitem Vatikanum. Festschrift für Norbert Trippen, hg. v. Heinz Finger, Reimund Haas u. Hermann-Josef Scheidgen, Köln 2011, S. 437–464. 80 Vgl. Heinrich Linn: Ultramontanismus in Köln. Domkapitular Baudri an der Seite Erzbischof Geissels während des Vormärz, Siegburg 1987, S. 141, 189 u. 288.

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und durchaus einflussreicher katholischer Repräsentant seiner Zeit, war das Mittelalter das einzig akzeptable Bezugssystem für die Kunst. Er ließ sich von dem Düsseldorfer Kunstmaler Andreas Müller und dem Aachener Kanoniker Franz Bock beraten und beliefern. Für den Kirchenvorstand von St.  Margareta war der Codex zu dieser Zeit ein Spekulationsobjekt. Die abwertende Expertise des für die erste wissenschaftliche Aufnahme wichtigen Kunstberaters Franz Bock, der in seinem Fortschrittsdenken auf das Originelle und die Vorbildlichkeit aus war, ist bis heute eine Grundlage der Geringschätzung der Gerresheimer Miniaturen. Das umsichtige Wirken der geistlichen Aufsichtsbehörde verhinderte den Verkauf in Privatbesitz und wies der Pfarrgemeinde die Aufgabe als Gedächtnisinstitution für das Stift zu. Die Debatte darum, was das Gerresheimer Evangeliar im 21. Jahrhundert bedeutet, führte dazu, dass der Codex im Zuge der Einrichtung einer Schatzkammer in der Basilika St. Margareta der Liturgie erneut zugeführt wurde. Er ist nun an dem Ort ausgestellt, für den er geschaffen wurde. Seinem ursprünglichen Verständnis als Repräsentant Christi folgend ist die Handschrift trotz ihrer Verluste und Wunden, die ihr das 19. Jahrhundert zufügte, ins Zentrum der kleinen ,Heiltumsschau‘ gestellt.

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Abbildungsnachweis

Abb. 1 u. 26: © Atelier für Papierrestaurierung Dirk Ferlmann, Köln. Abb. 2–6, Farbabb. 3–21: © Robert Fuchs, CICS Köln. Abb. 7, Farbabb. 1 u. 2: © Annemarie Stauffer, CICS Köln. Abb. 8: © Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt. Abb. 9, 24, 28 u. 29, Farbabb. 1–80: © Pfarrgemeinde St. Margareta, Düsseldorf-Gerresheim/Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln. Abb. 10: © Österreichische Nationalbibliothek Wien. Abb. 11: © Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt. Abb. 12–16: © Kunstsammlungen der Veste Coburg. Abb. 17, 20, 22 u. 23: © Julia von Ditfurth, Kiel (2015). Abb. 18: Aus: Johann Peter Weyer: Kölner Alterthümer, hg. v. Werner Schäfke, Köln 1993, Tafel II,5. Abb. 19: © Julia und Heiko von Ditfurth, Kiel (2015). Abb. 21: Aus: Johann Hubert Kessel: Der selige Gerrich. Stifter der Abtei Gerresheim. Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte des Christentums im Bergischen Lande, Düsseldorf 1877, S. II. Abb. 25: © Pfarrarchiv St. Margareta, Düsseldorf-Gerresheim/Beate Johlen-Budnik (2015). Abb. 27: © Beate Johlen-Budnik (2015). Für die Einwerbung der Bildrechte zeichnen die Autoren der jeweiligen Beiträge verantwortlich. Sollten bestehende Rechte irrtümlich nicht angemessen berücksichtigt worden sein, so bitten wir um freundlichen Hinweis.

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Farbtafeln Die folgenden Farbtafeln 1–78 zeigen alle Seiten des Gerresheimer Evangeliars, die Bilder, Zierinitialen, Zierschriften sowie Nachträge enthalten. Ebenfalls abgebildet wurden die Seiten, auf denen Schreiberwechsel erfolgten. Um einen angemessenen Eindruck der Handschrift zu vermitteln wurden immer die jeweiligen Doppelseiten abgebildet. Die Größe der Seiten ist im Druck gegenüber dem Original etwas verkleinert. Der Buchblock des Gerresheimer Evangeliars misst etwa 27, 2 x 20 cm. Das Gerresheimer Evangeliar liegt heute in der Schatzkammer der Pfarrkirche St. Margareta in Düsseldorf-Gerresheim, der ehemaligen Damenstiftskirche St. Hippolyt. Ein Besuch der Schatzkammer ist nach vorheriger Anmeldung möglich.

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Farbabb. 1: Gerresheimer Evangeliar: Vorderer Buchschnitt mit ursprünglich zwölf Textreitern. Farbabb. 2: Gerresheimer Evangeliar: Textiler Textreiter vom vorderen Buchschnitt an fol. 39. Der Knopf ist mit einem Goldfaden radial umwickelt und mit farbiger Seide überfangen. Farbabb. 3: Gerresheimer Evangeliar, fol. 1r: Blindrillenzeichnung einer Kanontafel, Aufnahme im UV-Licht (320–400 nm).

Farbabb. 4: Gerresheimer Evangeliar, fol. 211r: Entwurfszeichnung mit Blindgriffel; Aufnahme im UV-Licht. Erkennbar ist das als Konstruktionshilfe angelegte allseitige Rahmengerüst sowie die der Anordnung der Architekturelemente dienenden horizontalen Hilfslinien, ferner der niedrige, breit ausladende Giebel. Farbabbildungen 5–8 (rechte Seite): Gerresheimer Evangeliar, fol. 136r (oben links), Evangelist Lukas, gespiegelt. Durchschlagende Unterzeichnung und grüne Malschicht; Aufnahme im UV-Licht. Erkennbar ist eine eher dünne Unterzeichnung z.B. am rechten Ärmel des Evangelisten oder am skizzenhaft entworfenen Fuß. Bei den breiteren Konturen an Kopf und Armen dürfte es sich um korrodierte Eisengallustinte handeln, mit der vielleicht auch laviert wurde. Fol. 20r (oben rechts): Evangelist Matthäus,

gespiegelt. Durchschlagende Unterzeichnung und grüne Malschicht, Aufnahme bei 800 nm. Deutlich erkennbar sind die flächigen grünen Bereiche der Malerei. Der Mantel bedeckte den linken Arm bis zur Hand, dies ist nur noch im Durchschlag auf der Rückseite erkennbar, da der Bereich übermalt wurde. Unter dem Buch sowie zwischen rechtem Arm und Oberschenkel zeichnen sich schwach zwei spitzovale Elemente ab, die wohl zu einem Schreibpult gehören. Gut erkennbar ist auch die Unterzeichnung im Ärmel. Fol. 87r (unten links): Evangelist Markus, gespiegelt. Durchschlagende Unterzeichnung und grüne Malschicht, Aufnahme im UV-Licht. Deutlich zeichnen sich das grüne Tintenfass und Spitze des Pultschaftes ab, die in der Miniatur durch die vergrößerte Schreibpultplatte übermalt wurden. Fol. 87v (unten rechts): Evangelist Markus. Unter der pastosen Malschicht von Buch und mennigrotem Rand der Schreibpultplatte schimmert noch schwach das übermalte grüne Tintenfass durch.

Farbabb. 9–10: Gerresheimer Evangeliar, fol. 87v und 136v: Evangelisten Markus und Lukas. Details der vergrößerten Schreibpultplatte.

Farbabb. 11: Gerresheimer Evangeliar, fol. 20v: Evangelist Matthäus, Detail. Der linke Unterarm war ursprünglich mit einem Mantel bedeckt, die Partie wurde mit dem Inkarnat übermalt. Farbabb. 12: Gerresheimer Evangeliar, fol. 211v: Kreuzigung, Detail Adlerkopf. Der Nimbus ist mit Goldtusche gemalt, die mit Silberpulver gestreckt wurde. Dieses ist in Form der schwarzen Partikel erkennbar. Am Schnabel ist nur noch weißliches Bindemittel erhalten, das einzelne gelbe Auripigmentkorn auf der Spitze ist der letzte Rest der ursprünglich leuchtend gelben Malschicht.

Farbabb. 13: Gerresheimer Evangeliar, fol. 8v: Zierschrift mit Goldtusche auf roter Mennige-Unterlegung; die schwärzlichen Punkte sind eingemischte Silberpartikel. Farbabb. 14: Gerresheimer Evangeliar, fol. 211v: Detail der Kreuzigung. Die mit Metallstift und Eisengallustinte angelegte Konstruktionszeichnung für das Kreuz ist auf die Vorderseite der Malschicht durchkorrodiert.

Farbabb. 15: Gerresheimer Evangeliar, fol. 20v: Kopf des Evangelisten Matthäus. Modellierung des Inkarnats mit den typischen blauen Schatten. Farbabb. 16: Gerresheimer Evangeliar, fol. 136v: Evangelist Lukas, Detail. Das leuchtende Rot ist Mennige; für das Rosa wurde Mennige mit Bleiweiß und etwas Rotocker gemischt; die Nischen sind mit violettem Flechtenfarbstoff gemalt.

Farbabb. 17: Gerresheimer Evangeliar, fol. 3r: Giebel einer Kanontafel. Die Gelbhöhungen auf dem dumpfen, grünlichen Indigogrund sind hier noch sehr gut erhalten. Farbabb. 18: Gerresheimer Evangeliar, fol. 87v: Detail des Rahmens. Das für die Gelbhöhungen verwendete Auripigment hat sich weitgehend zu braunen Verbindungen umgewandelt. Ursprünglich kontrastierte das Grün mit dunklem Indigo und strahlend gelbem Auripigment.

Farbabb. 19: Gerresheimer Evangeliar, fol. 211v: Kreuzigung, Detail des Lendenschurzes Christi. Farbabb. 20: Gerresheimer Evangeliar, fol. 87v: Evangelist Markus. Detail der Gewandmodellierung.

Farbabb. 21: Gerresheimer Evangeliar, fol. 87v: Kopf des Evangelisten Lukas. Modellierung des Inkarnats mit den typischen blauen Schatten.