Die verborgenen Codes der Erben: Über die soziale Magie und das Spiel der Eliten 9783839463567

Gesellschaftliche Eliten funktionieren wie quasi-religiöse Zirkel: Glaubenssätze, Komplizenschaft und Korpsgeist bewahre

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Die verborgenen Codes der Erben: Über die soziale Magie und das Spiel der Eliten
 9783839463567

Table of contents :
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Inhalt
Das Naturtheater von Oklahoma
1 Einleitung
Passagen I
Erben‐ Hinterlassenschaften (I): Obdach – Los
Hinterlassenschaften (II): Das Erbe der Unteren
Hinterlassenschaften (III): Abgesicherter Modus
2 Die soziale Magie sozialer Unterschiede
2.1 Globale Vermögensungleichheit – Erben – Erbschaften
2.2 Das Geheimnis des Kapitals
2.3 American Psycho – Warenfetisch
2.4 Magische Wirkungen der Einteilung der Welt
2.5 Magische Grenzen – oder die Natur sozialer Unterschiede
2.6 Soziale Magie der Erben: quasi‐religiöse Zirkel – Glaubenssätze
2.7 Differentiale der Macht
Passagen II
»Du bist hier nicht erwünscht«
»Du musst jetzt gehen, meine Eltern kommen gleich…«
»Du musst gehen, die gucken schon…«
3 Erben und Aufsteiger
3.1 Succession – Erben, Nachfolge
3.2 Ähnlichkeit schlägt in eine Struktur sozialer Ungleichheit um
3.3 Die Magie der Macht: das Ensemble der Anordnungen
3.4 Subjekte als Dispositionsbündel
3.5 Dispositionen – Implantate machtgeladener Schemata
3.6 Aufsteiger als ambivalente Figuren der Moderne
3.7 Billions – Individualistische Überflieger
Passagen III
Bildungs‐Tagträume
Außenseiterin
Die Reihe hinter ihr – und danach
4 Die soziale Magie der Erben
4.1 Symbolische Macht: Verschaltung von Kapital, Worten und Körpern
4.2 Reichtum ist Geschmackssache
4.3 Symbolische Kämpfe – Vererbung von Kreditwürdigkeit und Anerkennungsprofiten
4.4 Fetisch(ismus): Korpsgeist – Personifikation einer sozialen Fiktion
4.5 Klassen‐Subjekte, Klassen‐Körper
4.6 Entgleisung. Verfehlung. Re‑Artikulation
4.7 Soziale Magie revisited – Verfestigung von Klassengrenzen durch Klischees
5 Fette Beute oder Reichtum to go
6 Fette Beute revisited
6.1 Plattformen und (Clip‑)Ästhetiken der (Selbst‑)Repräsentation
6.2 Refeudalisierung: Die Erben im Netz – ›Rich Kids of Instagram‹
6.3 Mehrwert – Surplus des eigenen Selbst im Imaginären
7 Happy End des amerikanischen Traums?
Passagen IV
Im Raum dazwischen
8 Ein einsamer Erbe – Anti‐Facebook
9 Schluss
Literatur

Citation preview

Hannelore Bublitz Die verborgenen Codes der Erben

Sozialtheorie

Hannelore Bublitz (Prof. Dr.), geb. 1947, ist emiritierte Professorin für Soziologie an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gegenwartsanalysen post- und spätmoderner Gesellschaften und Subjekte, Technologien des Körpers und des Geschlechts sowie Selbsttechnologien.

Hannelore Bublitz

Die verborgenen Codes der Erben Über die soziale Magie und das Spiel der Eliten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6356-3 PDF-ISBN 978-3-8394-6356-7 EPUB-ISBN 978-3-7328-6356-3 https://doi.org/10.14361/9783839463567 Buchreihen-ISSN: 2703-1691 Buchreihen-eISSN: 2747-3007 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/ vorschau-download

Inhalt

Das Naturtheater von Oklahoma Happy End in Amerika? ....................................................7 1

Einleitung ..........................................................9

Passagen I .............................................................. 31 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7

Die soziale Magie sozialer Unterschiede ........................ 35 Globale Vermögensungleichheit – Erben – Erbschaften.............. 35 Das Geheimnis des Kapitals ....................................... 38 American Psycho – Warenfetisch ................................... 44 Magische Wirkungen der Einteilung der Welt........................ 52 Magische Grenzen – oder die Natur sozialer Unterschiede........... 56 Soziale Magie der Erben: quasi-religiöse Zirkel – Glaubenssätze..... 59 Differentiale der Macht ............................................ 66

Passagen II ..............................................................77 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7

Erben und Aufsteiger.............................................. 81 Succession – Erben, Nachfolge ...................................... 81 Ähnlichkeit schlägt in eine Struktur sozialer Ungleichheit um ....... 88 Die Magie der Macht: das Ensemble der Anordnungen .............. 94 Subjekte als Dispositionsbündel.................................... 101 Dispositionen – Implantate machtgeladener Schemata .............104 Aufsteiger als ambivalente Figuren der Moderne ................... 114 Billions – Individualistische Überflieger ............................ 121

Passagen III ............................................................ 131 Die soziale Magie der Erben .....................................137 Symbolische Macht: Verschaltung von Kapital, Worten und Körpern .137 Reichtum ist Geschmackssache ...................................143 Symbolische Kämpfe – Vererbung von Kreditwürdigkeit und Anerkennungsprofiten........................147 4.4 Fetisch(ismus): Korpsgeist – Personifikation einer sozialen Fiktion.. 151 4.5 Klassen-Subjekte, Klassen-Körper..................................156 4.6 Entgleisung. Verfehlung. Re-Artikulation ...........................159 4.7 Soziale Magie revisited – Verfestigung von Klassengrenzen durch Klischees ................. 163 4 4.1 4.2 4.3

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Fette Beute oder Reichtum to go Refeudalisierung I ................................................. 171

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Fette Beute revisited Refeudalisierung II: der protzige Rahmen der Erben ................185 6.1 Plattformen und (Clip-)Ästhetiken der (Selbst-)Repräsentation ......185 6.2 Refeudalisierung: Die Erben im Netz – ›Rich Kids of Instagram‹ .....189 6.3 Mehrwert – Surplus des eigenen Selbst im Imaginären ..............194 7

Happy End des amerikanischen Traums? Das Aufstiegsversprechen .........................................197

Passagen IV ............................................................201 8

Ein einsamer Erbe – Anti-Facebook ............................. 203

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Schluss Zur sozialen Magie und De-mystifikation sozialer Ungleichheit .... 209

Literatur ............................................................... 217

Das Naturtheater von Oklahoma Happy End in Amerika?

Im Schlusskapitel des Romans von Franz Kafka, Amerika, Das Naturtheater von Oklahoma, beschreibt Kafka einen Ort, der für K. »eine große Verlockung« darstellt: »Jeder ist willkommen!« Allerdings »nur heute, nur einmal!« (Kafka 1998: S. 223) Es ist gewissermaßen die Gelegenheit, »ein Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort!« Auf einem Plakat wird versprochen, dass jeder die Chance hat »von sechs Uhr früh bis Mitternacht« in die Firma aufgenommen zu werden. Eine einmalige Gelegenheit, die K. Roßmann, »der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war« (ebd.: 9) sich nicht entgehen lassen durfte. Endlich eine »anständige Laufbahn«, so das Versprechen. Zwar gibt es ein Hindernis, Beruf und Name muss er schon angeben, aber er weiß nicht, was auf ihn zukommt und so lässt er sich etwas einfallen – und wird aufgenommen. »Da alles hier seinen ordentlichen Gang nahm, hätte es Karl nicht mehr so sehr bedauert, wenn auf der Tafel sein wirklicher Name zu lesen gewesen wäre« (ebd.: 237). Aber er hatte keine Wahl, und so versuchte er, mit dem Strom zu gehen, obwohl er nicht wusste, wohin die Reise führte. Es gab Bilder des Theaters von Oklahoma, die herumgereicht wurden, aber ihn erreichte nur eins und »nach diesem Bild zu schließen, mussten […] alle sehenswert sein« (ebd.: 238). Er wollte nicht herausfallen aus der – schwach beleuchteten – Zone der Normalität, von der man nie genau wusste, wie weit sie reicht, wo sie genau ist. Und so fügte er sich. Sie fuhren zwei Tage und zwei Nächte.

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Die verborgenen Codes der Erben

Die Freiheitsstatue, die K. gleich zu Beginn bei der Einfahrt in den Hafen von New York sieht, kündigt von einer Freiheit, die unerreichbar scheint. Der Weg durch ein Labyrinth von Gängen durch das Schiff, auf der Suche nach seinen Habseligkeiten, und dann durch das ganze Land, bis er im ›Naturtheater von Oklahoma‹ ankommt, könnte als Weg durch eine fremde, unzugängliche Welt gedeutet werden, deren Codes Roßmann nicht kennt. Den zugewiesenen Platz einnehmen – immer in Angst, abgewiesen zu werden, und in die Zone der Anormalität hineinzugleiten, ausgeschlossen – das zeigt sich hier, in diesem Roman. Das Herzstück dieses letzten Abschnitts des Romans ›Amerika. Der Verschollene‹, das Martin Kippenberger in seiner Ausstellung The Happy End of Kafkas Amerika in Anlehnung an diesen Roman in Szene gesetzt hat, ist das Bewerbungsspektakel, zu dem K. schließlich, nach einigen Hindernissen, die er überwindet, vordringt. Aufgrund des Massenandrangs findet es auf einer Rennbahn statt. Ob Roßmanns Hoffnung auf ein besseres Leben sich erfüllt, bleibt in Kafkas Roman unbeantwortet. Die Hoffnung auf ein besseres Leben endet im Ungewissen. Der ganze Roman lässt sich, quasi ›postmodern‹, als Parabel auf die globalisierte Gegenwartsgesellschaft lesen, in der Migranten, als prekäre Arbeitskräfte eingesetzt und verhandelt/verschoben, jeder, wenn überhaupt, an ›(s)einem‹ Ort eingesetzt wird. Eine nicht unwesentliche Frage ist in diesem Zusammenhang: Wird K. Roßmann in Amerika heimisch werden? Wird er sich sozial zugehörig fühlen? Und wo gehört er hin? Kann er sich neu erfinden? Das bleibt offen.

1 Einleitung

Kann man sich neu erfinden? Das suggeriert eine Gesellschaft, in der das individualisierte Subjekt zentrale Figur sozialer Praktiken und Prozesse ist; das suggerieren auch soziale Medien. Hier wird das eigene Selbst an den Erwartungen der anderen, den Märkten und ihrer Aufmerksamkeitsökonomie gespiegelt. Es scheint, als bestünde eine gemeinsame Oberfläche zwischen dem marktökonomischen System und subjektiven Praktiken; es scheint, als könnte das Selbst auf den neuen Meinungsmärkten mit Haut und Haaren bewertet werden. Nun geht es darum, durch ein »unternehmerisches Selbst« (Bröckling 2007) und ein »unternehmerisches Kreativsubjekt« (Reckwitz 2016) ein Surplus des eigenen Selbst zu erzielen, was bedeutet, dass auch das Selbst (s)einen Preis hat und Gewinn abwirft. Ist es angebracht, so zu tun, als hätten alle die gleichen Chancen, sich selbst gemäß den Bewertungskriterien einer new liberal economy im Modus der Selbstoptimierung zu präsentieren und am kulturellen Erbe teilzunehmen? Ökonomische Faktoren reichen nicht aus, um zu erklären, weshalb Mitglieder der unteren Gesellschaftsschichten aus dem Bildungssystem, dem Arbeitsmarkt, auch von anderen medial inszenierten Märkten fortgesetzt eliminiert werden. Reicht es aus, die ungleiche Vertretung verschiedener sozialer Klassen in den gesellschaftlichen Eliten, wenn überhaupt, immer wieder zu beklagen, wenn die Privilegien der Erben unangetastet bleiben? Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron machen in ihrer Schrift Die Erben (2007) schon vor langer Zeit deutlich, dass es bei der – humanistischen – Bildung um ein »Spiel der Privilegierten

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Die verborgenen Codes der Erben

[geht,] bei dem alle mitspielen müssen, weil es im Gewand universeller Werte auftritt« (ebd., S. 34), während es sich in Wirklichkeit um eine elitäre Kultur handelt, die einen ganzen Schatz an Wissen, Lektüre, »kulturellen Wallfahrten, anspielungsreiche Gespräche, die nur der schon Gebildete versteht« (ebd.), voraussetzt. Und sie fragen, ob sich daraus, dass die an schulischen Kriterien gemessenen Fähigkeiten als natürliche Begabung und persönliche Verdienste erscheinen, nicht eine fundamentale Ungleichheit ergibt, die die fast vollständige Eliminierung der »benachteiligten Klassen« (ebd., S. 11) und die Verwandlung des Bildungs- und Schulerfolgs in ›Gaben‹ für die Privilegierten bewirkt. Die Erben sind diejenigen, die von einer mehr oder weniger großen Affinität zwischen den Anforderungen des Bildungssystems und den kulturellen Gewohnheiten der Privilegierten, also ihrer sozialen Herkunftsklasse profitieren (vgl. ebd., S. 35).1 Bildung ist aus dieser Perspektive ein Mythos, der Probleme wie soziale Ungleichheit zu lösen scheint (vgl. El-Mafalaani 2020). Aber das ist ein Taschenspielertrick, ein fauler Zauber, der eine rationale

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Bourdieu/Passeron beziehen sich hier auf eine empirische Erhebung über Studienchancen und Studierende der sogenannten Geisteswissenschaften, die sie in Frankreich 1965 unter dem Titel Les héritiers. Les étudiants et la culture veröffentlicht haben und die in Deutschland erst 2004 übersetzt und veröffentlicht wurde. Bei der ›Auswahl der Auserwählten‹ geht es zum einen um Studierende, deren Väter entweder Unternehmer, leitende Angestellte und Freiberufliche/Selbstständige sind, zum anderen die ›benachteiligten Klassen‹ der Angestellten, (Industrie)Arbeiter und Bauern bzw. Landarbeiter. Sie betonen, dass ökonomische Faktoren nicht ausreichen, um zu erklären, »weshalb die ›Bildungsmortalität‹ in den verschiedenen sozialen Klassen so unterschiedlich ausfällt« (ebd., S. 19) und stellen fest, dass selbst an der Hochschule vor allem kulturelle Hürden zu überwinden sind und das, obwohl die Studierenden bereits fünfzehn bis zwanzig Jahre »demselben vereinheitlichenden Einfluss der Schule ausgesetzt waren« (ebd.) und gehen davon aus, dass es die »am stärksten Benachteiligten nur einer größeren Anpassungsfähigkeit oder einem vorteilhafteren familiären Umfeld verdanken konnten, ihrer erwartbaren Beseitigung entkommen zu sein« (ebd.).

1 Einleitung

Auswahl vorgaukelt. Bei näherer Betrachtung wird klar, dass Bildung keine Vision einer besseren Zukunft ist, die jedem offensteht, sondern vielmehr eine sorgsam gehütete Methode zur Aufnahme in die Gemeinschaft der ›Auserwählten‹, der Erben (vgl. dazu auch Willis 1979; Bublitz 1992). Was zählt, ist soziale Ähnlichkeit. Ausschlaggebend für den sozialen Erfolg sind frühe Weichenstellungen und unterschwellige Mechanismen, die signifikant von der sozialen Herkunft abhängen. Das Beherrschen eines ganz bestimmten Zeichensystems, Dinge, Haltungen und Fertigkeiten, sichern den gesellschaftlichen Eliten Macht. Exklusives kulturelles (Bildungs-)Kapital sichert die Reproduktion von kulturellen Privilegien. Es spielt denjenigen in die Hände, die die ›Magie‹ der Rekrutierung von Eliten und deren Codes beherrschen. Wer die falschen Codes besitzt und die der Privilegierten nicht de-codieren kann, ist automatisch draußen. Die notwendigen Voraussetzungen für gesellschaftlichen Aufstieg erwirbt man nach Bourdieu nicht in Bildungseinrichtungen; Bildung und Leistung eignen sich nicht – unbedingt – als Aufstiegsvehikel. Kehrseite der meritokratischen Gesellschaft ist vielmehr die ›soziale Magie‹ verdeckter Praktiken, die keiner sieht, auf die auch keiner achtet, weil sich der Blick woanders hinrichtet, dorthin nämlich, wo individualistische Überflieger und Selfmade-Millionäre »fette Beute« machen und medial präsentiert werden. Sie ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, wollen nachgeahmt werden, bilden zumindest die Objekte eines unstillbaren Begehrens nach – Reichtum, Sorglosigkeit, Glück. Dabei bleiben die verborgenen Codes der Erben und des kulturellen Erbes im Dunkeln. So werden, quasi magisch, wie von unsichtbarer Hand gesteuert, soziale Differenzen aufrechterhalten und verstärkt. Dabei sind sie überall offensichtlich; unsichtbar bleibt, wie man es soweit bringt, dass andere einen beneiden, bewundern, einem nacheifern – bevor sie aufgeben, weil es allzu sehr auf der Hand liegt, dass es unrealistisch ist. Das Kapital hat im 21. Jahrhundert kaum seine Bedeutung verloren, nur seine Form hat sich z.T. gewandelt. Dies interessiert in unserem Zusammenhang unter zwei Aspekten: Erstens. Kapital wird normalerweise auf das Feld des Ökonomischen bezogen. Bourdieu

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Die verborgenen Codes der Erben

erweitert den Begriff des Kapitals und verbindet ihn mit den Konstruktionsprinzipien des sozialen Raums. Die Konstruktionsmerkmale des sozialen Raums bilden die verschiedenen Kapitalsorten in ihrer materiellen oder inkorporierten Form. »Gleich Trümpfen in einem Kartenspiel, determiniert eine bestimmte Kartensorte die Profitchancen im entsprechenden Feld« (Bourdieu 1985, S. 10) führt er in seinen Vorlesungen aus. Und er nimmt an: »Sozialer Raum: das meint, dass man nicht jeden mit jedem zusammenbringen kann – unter Missachtung der grundlegenden ökonomischen und kulturellen Unterschiede« (ebd. S. 14). Bourdieu betont, wie unwahrscheinlich es ist, über die Grenzen des eigenen Feldes hinaus jemandem zu begegnen oder jemanden näher kennenzulernen. Und er geht davon aus, dass man, um in einer bestimmten Liga mitspielen zu können, deren Spielregeln kennen und beherrschen muss – was nicht so einfach ist, da die Regeln, nach denen Erfolg oder Misserfolg in der jeweiligen Gruppe oder im sozialen Feld zustande kommen, weder explizit ausgewiesen noch frei wählbar oder den Akteuren bewusst sind. Es kommt ein weiterer wichtiger Aspekt hinzu: Ökonomisches Kapital garantiert, für sich genommen, noch keine Machtposition, wenngleich es den Zugang erleichtert. Die Zugehörigkeit zu oberen, mittleren und unteren Gesellschaftsschichten wird also nicht primär und nicht ausschließlich durch ökonomisches Kapital bestimmt, sondern, fast genauso wichtig, durch kulturelles und soziales Kapital, vor allem aber deren Umwandlung in symbolisches Kapital, also das, was zählt und Gewicht verleiht, was Prestige hat und exklusiv als Trumpfkarte ausgespielt werden kann. »Kinder, die von ihren Eltern in Museen oder Opern ›geschleppt‹ werden, erhalten eine Menge an kulturellem Kapital, indem sie solche Gebäude schon einmal betreten haben und wissen, wie man sich in ihnen bewegt – selbst wenn sie sich für die jeweiligen bildlichen oder musikalischen Darstellungen nicht interessieren oder sie gar verabscheuen« (Treibel 2006, S. 230). Das heißt, das kulturelle Kapital wird größtenteils beiläufig familiär ›vererbt‹. Ganz wesentlich ist aber auch das symbolische Kapital, das Bourdieu »als wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien (gemeinhin als Prestige, Re-

1 Einleitung

nommee usw. bezeichnet)« (Bourdieu 1985, S. 11). Bourdieu geht davon aus, dass Kultur und Bildung gegen die unteren Klassen gerichtet sind. Wie kommt er darauf? Wie kann das sein? Gehen nicht alle von der Chancengleichheit von Bildung und Lebenschancen aus? Ist das nicht quasi ins Grundgesetz eingetragen? Ja und nein. Es gibt ein Grundrecht auf Bildung und Leben, aber alle wissen, dass das nicht wirklich gilt. Kultur und Bildung sorgen für die soziale Absicherung gesellschaftlicher Eliten, dafür, dass Reiche reich bleiben. Zweitens. Die Allianz von Finanzmärkten, Meinungsmärkten und Affektökonomie führt zu einer Rückkehr des Kapitals als Faktor, der die Hyperkonzentration und die Ungleichheit des Vermögens exponentiell befördert (vgl. Picketty 2014; 2020; vgl. auch Vogl 2021). Als Quelle von Wohlstand und Reichtum gilt nicht die Arbeit, sondern die Kapitalisierung von Daten. Sie bilden die kostenlosen Rohstoffe eines Überwachungs- und Plattformkapitalismus, der Daten, Informationen und Netzwerkkommunikation vermarktet (vgl. Zuboff 1989; 2018; 2019; Srnicek 2016). Damit verschärfen sich soziale Ungleichheiten. Während der Ertrag von Lohnarbeit abnimmt, kommt es zu einer Spreizung von niederen und hohen Einkommen, die auf globale Finanzgeschäfte und die Allianz von Digital- und Geldwirtschaft zurückzuführen ist (vgl. Vogl 2021). Die sozialen Netzwerke sind zu – technischen – Infrastrukturen geworden, in denen sich neue Macht-Wissensstrukturen materialisieren; »sie figurieren«, so argumentiert Ramon Reichert, nicht nur »als gigantische Datensammler für Beobachtungsanordnungen sozialstatistischen Wissens«, sondern auch »als Leitbild normalisierender Praktiken« (Reichert 2013, S. 46). Mittels intelligenter Systeme werden »polystrukturierte Datenmengen großer Kollektivitäten« und ganzer Bevölkerungen in komplexen Aufzeichnungs- und Speicherungsverfahren erfasst und »automatisiert in Relationierungstechniken verknüpft und schließlich in Echtzeit in Informationsvisualisierungen verarbeitet« (ebd., S. 52). Die Gegenwartsgesellschaft ist eine Kultur, in der Algorithmen Interaktionskreisläufe mit performativen Effekten hervorbringen und die Kultur verändern (vgl. dazu auch Seyfert/Roberge 2017). Aber diese

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Die verborgenen Codes der Erben

veränderten technischen Konstellationen delegitimieren nicht die schärfer werdenden sozialen Gegensätze – im Gegenteil. Und während bei Émile Durkheim Ende des 19. Jahrhunderts der unbegrenzte »Hunger der Industrie« mit seiner schier grenzenlosen Entfesselung der Begierden und fast unentrinnbaren Suggestion der schrankenlosen Verfügbarkeit aller möglichen Dinge noch als Ursache desintegrativer sozialer Zustände erscheint, auf die er den massenhaften Selbstmord zurückführt, bildet dies in neoliberalen Gesellschaften einen fortwährenden Anreiz für kompetitive Prozesse einer gesteigerten (Selbst-)Optimierung, die medial kommuniziert werden (vgl. Bublitz 2005; Duttweiler 2016; Houben 2018). Prinzipiell ist alles offen; so auch das Individuum. Das wird in der modernen Gesellschaft nicht als Unsicherheit problematisiert, sondern als Zugewinn von Freiheit, der allerdings auch zur Belastung werden kann und daher der marktorientierten Führung durch ›Influencer‹ bedarf (vgl. Nymoen/Schmitt 2021). »Bezugsgröße der modernen Kultur ist die Etablierung disponibler Realitäten und die Freisetzung subjektiver Freiheiten« (Bublitz 2019, S. 33; vgl. Makropoulos 1997; 2008). Selbstentfaltung und Selbststeigerung bilden den Rahmen des Bildes und des Eindrucks, den das Subjekt hinterlässt. Paradoxerweise gelingt das nicht flächendeckend. Die individualisierte Leistungsgesellschaft hat eine ›düstere Seite‹; es ist fraglich, ob es bei der Verteilung von Plätzen und sozialen Positionen in der Gesellschaft mit rechten Dingen zugeht. Wer es nicht schafft, fort- oder nach oben zu kommen, findet sich in einem Wust von Ressentiments wieder. Eine Refeudalisierung der Gesellschaft greift um sich, der Begriff verweist nicht nur auf die ständische »Verfestigung von Herkunft« (Neckel 2013, S. 49), sondern auch auf eine beispiellose ›Gabenökonomie‹, die den Erben in ihren symbolischen Kämpfen um Titel, Stelle und Macht zugutekommt. Hier kommen kulturelle Praktiken ins Spiel, die, vor Reflexion gewissermaßen geschützt, sich nicht auf das Subjekt als souveränen Protagonisten der Außen- und Innenwelt, sondern auf reflexiv uneinholbare Praktiken beziehen lassen. Soziale Wirklichkeit konstituiert sich demnach nicht durch ein reflexives Subjekt, das rings um sich herum die Dinge bewusst

1 Einleitung

kontrolliert, oder durch passive Materiepartikel, sondern sie ist, wie das Subjekt, Effekt von stummen Praktiken, »institutionell verfestigten, oft auch architektonisch verkörperten, rituell verdichteten Regulationen von Handlungsweisen und Gewohnheiten«, (Habermas 1986, S. 284; Bublitz 2019, S. 35). Diese Praktiken implizieren, wie Habermas zum Begriff der »Praktik« bei Foucault ausführt, »das Moment von gewaltsamer, asymmetrischer Einflussnahme auf die Bewegungsfreiheit anderer Interaktionsteilnehmer« (ebd., S. 284f). Dazu gehören u.a. »juristische Urteile, polizeiliche Maßnahmen, pädagogische Unterweisungen, Internierungen, Züchtigungen, Kontrollen, Formen des körperlichen und intellektuellen Drills« (ebd., S. 285; vgl. Bourdieu 2004, bes. Kap. I und II). Es handelt sich um habitualisiert eingeübte (Kultur-)Techniken, die komplexe soziale Situationen ›ökonomisch‹ regeln und das heißt durch Rückgriff auf Praktiken, die quasi automatisch unterhalb der Schwelle des Bewusstseins ablaufen und vollzogen werden. Sie sorgen für die Übertragung und permanente Zirkulation des Erbes, die durch unbewusste Übertragung von Automatismen, welche sich der Reflexion weitgehend entziehen und quasi als Reflexe in Körperschemata integriert sind, sichergestellt wird. Das Vermächtnis wird in das Gedächtnis des Körpers und unbewusster Körperschemata integriert. ›Gedankenlose‹, vom Subjekt nicht bewusst kontrollierte körperliche Praktiken erhalten hier den Status von zentralen Faktoren eines Übertragungsgeschehens, das spezifische Formen psychischer Dispositionen und psychischen Kapitals aufruft. »Hier gerät jene ›Tiefenschicht sozialer Macht‹ (Honneth) in den Blick, die auf unbewusste, wenn nicht geradezu gegen das Bewusstsein (handelnder Subjekte) gerichtete Vorgänge verweist, die sich eher körperlich-unbewusst als bewusst reflektiert vollziehen« (Bublitz 2019, S. 36). Optimale Vollzüge beziehen sich in der modernen Gesellschaft also nicht nur auf die Dynamik einer – am technisch und sozial Möglichen – ausgerichteten Selbstoptimierung, sondern auch auf die optimale Einfügung des Subjekts in komplexe Abläufe – und hier in die Reproduktion sozialer Ungleichheit, die gewissermaßen wie ›im Schlaf‹ erfolgt, wenngleich sie durchaus auf körperlichen Zwang rekurriert, der, gewissermaßen zwanglos eingesetzt und empfunden wird. Dabei

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Die verborgenen Codes der Erben

sind komplexe Prozesse und Vorgänge am Werk, in denen sich das Subjekt ›spiegelt‹ und unbewusst ›reflektiert‹. Theoretischer Ansatz meiner Überlegungen ist die ›soziale Magie‹ einer Praxis, die, wie Bourdieu annimmt, mit der ›Auswahl der Auserwählten‹ (Bourdieu 2004), die Rekrutierung der ökonomischen und kulturellen Eliten gewährleistet, andere hingegen abdrängt, ausschließt oder ›eliminiert‹. In symbolischen Kämpfen um soziale Positionen wird ein kulturelles Erbe übertragen, das fundamentale soziale Ungleichheiten bestätigt. Dabei werden – weitgehend unbewusst – Automatismen aufgerufen, Automatismen einer sich permanent ereignenden, täuschend natürlich wirkenden sozialen Distinktion. Permanent zirkuliert kulturelles und psychisches Kapital in der Gesellschaft, in und zwischen allen sozialen Schichten. Etwas wird immer vererbt, auch wenn es nur wenige Habseligkeiten sind. Und selbst wenn es – materiell – nur wenig ist, was bleibt und sich in Kopf und Körper einlagert, sind es (Lebens-)Haltungen, psychisches Kapital, Denkschemata, quasi in den Körper ›eingewachsene‹ Formen symbolischer Macht, die weitergegeben werden. Alle sind Erben – alle erben: Die einen erben ein Vermögen und Kapital jedweder Sorte, die sie für materielles Glück, quasi ein ›Grundrecht‹ in modernen Gesellschaften, ausstatten und welches eine Grundausstattung für ein erfolgreiches und gutes/schönes Leben ist – zumindest aber für den Weg dorthin. Die anderen, mittellos, erben materiell nichts, zumindest kein Vermögen, nichts, was sie dafür ausstatten würde, weiter oder nach oben zu kommen. Sie erben ein prekäres Leben, bestenfalls eine Ausstattung, die sie dort hält, wo sie sind, auch wenn sie anderes vorhaben. Aber es gibt auch das Andere in jeder sozialen Klasse und Schicht: Ein Erbe, eine Hinterlassenschaft, die zur Last werden, die einem am Hals hängt, wie ein Mühlstein und das eigene, ›freigewählte‹ Leben verunmöglicht oder es zumindest be- und verhindert. Oder ein Erbe, mit dem gerechnet wird, welches man aber nicht erhält, für das man nicht würdig erscheint. Was alle erben, sind Ressourcen, die sie in sozialen Auseinandersetzungen einsetzen. Durchschlagskraft haben die anerkannten

1 Einleitung

Kapitalsorten, Vermögen und Kultur (Bücher, Kunstwerke ebenso wie Bildungstitel, kulturelles Wissen und ›zivilisierte‹ Anstandsregeln); sie gelten als kostbarste Form eines Vermächtnisses, das alle Türen öffnet. Aber allem voran, wenn auch stillschweigend vorausgesetzt und im Bildungskanon nicht aufgeführt, rangiert das Vermächtnis, das dem Körper, sowohl Gedächtnisspeicher als auch Prozessor des (Bildungs-/Kultur-)Erbes wie auch der ›Seele‹ als Ort der (Selbst-)Ermächtigung des Subjekts, anvertraut wird. Es handelt sich um Körper-Kultur-Techniken und psychische Techniken, die einer inneren Ökonomie folgen und deren Einsatz, der bewussten Reflexion entzogen, ermöglicht, Dinge weitgehend ›gedankenlos‹ zu verrichten. Damit sind die handelnden Individuen davon entlastet, Normen, Regeln und soziale Konventionen zu hinterfragen oder zu reflektieren. Und während das Subjekt sich in der abendländischen Kulturgeschichte durch Reflexion auszeichnet, scheint es, dass gesellschaftliches Handeln zuverlässig dadurch gewährleistet wird, dass die Reflexion entfällt, kulturelle und soziale Regeln unreflektiert, nämlich fraglos befolgt werden. Dabei wird die Logik des Privilegs ebenso wie die der Benachteiligten spielerisch zum Einsatz gebracht. Demonstrative Klassifikationen von Kulturgütern in sozialen Distinktionskämpfen erzeugen auf ihrer Rückseite stumme Praktiken, Automatismen sozialen und körperlichen Zwangs. Allerdings: auch wenn es scheint, als wenn eine privilegierte soziale Herkunft der Erben diese automatisch begünstigt, treten sie ihr Erbe keineswegs einfach und unbedarft an. Auch sie werden als Erben eingesetzt und mit Gesten und Worten ›trainiert‹. Durch das Spiel der Anspielungen, durch unbewusste Übertragung von Gewohnheiten und Stil werden an die objektiven Strukturen angepasste Dispositionen erzeugt, die auf klassenkulturellen Gewohnheiten und unterschwelligen Übereinkünften beruhen. Vor allem aber wird performativ auf die Einhaltung der Klassengrenzen geachtet. Die praktische Übertragung des Erbes rekurriert auf eine Subjektivierungsform, die sich immer wieder in einem Ensemble von materiellen und immateriellen Anordnungen (Dispositiven) konstituiert. Was hier übertragen wird, ist ein ständig zirkulierendes Relationales: Macht als Netzwerk von Kräfteverhältnissen, das sich in sym-

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Die verborgenen Codes der Erben

bolischen Kämpfen stützt – oder auf- und zerbricht. Es findet eine permanente symbolische Kriegsführung um soziale Positionen zwischen gesellschaftlichen Eliten und sogenannten Aufsteigern wie auch innerhalb der jeweiligen sozialen Klassen/Gruppen und in den Köpfen und Körpern der einzelnen Individuen statt; was dabei zum Einsatz kommt, ist eine Art ›osmotisches Wissen‹, das, regelrecht körperlich ›einverleibt‹ und ›aufgesaugt‹, strategischen Interessen der In- oder Exklusion folgt, die sozialen Erfolg garantieren (vgl. Bublitz 1997: 670f.; Bourdieu 2004; Bourdieu/Passeron 2007); und ein soziokulturelles und psychisches Kapital, das den spielerischen Umgang mit Kultur und Bildung sowie mit Anforderungsstrukturen sozialer Situationen garantiert. Auf der anderen Seite spielen sich ganze Dramen in den Köpfen und Körpern der Subjekte ab. Hier verselbstständigen sich – traumatisierende – Ereignisse zu psychischen Belastungen und quälenden Formen der Selbstzerstörung. Zugleich ist hier der Ort für Formen der Selbstermächtigung. »In der Unterschicht hat man nichts weiterzugeben, keine Wertsachen, kein Vermögen«, schreibt Eribon in seinem Buch Rückkehr nach Reims (2016, S. 167); das stimmt, aber nur, insofern es auf ein materielles Erbe bezogen ist. Immaterielles, soziales und kulturelles Erbe gibt es immer und überall. Verborgene Codes sind an beiden Polen der sozialen Hierarchie wirksam, also auch dort, wo es an ökonomischem Kapital und Vermögen fehlt – und gerade dort ist ›mehr zu holen‹ als gemeinhin angenommen wird: ein Bildungsbegehren und -wille, die sich nicht in Abschlüssen und Bildungstiteln erschöpfen, Neugier und der Drang nach Wissen, die nicht unbedingt kenntnisreiche Spuren hinterlassen, Fragen, die in schulischen Kontexten oft abgewiegelt und abgewertet, wenn nicht gänzlich diskriminiert und ausgeschlossen werden. Soziale Herkunft und die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse sind kein statisches Phänomen, sondern fluide, einer Dynamik unterworfen, die nicht in rationalen Entscheidungen begründet ist, sondern irrationalen, unkontrollierten Prozessen unterliegt, sich reproduzieren und sich verändern. Im Zentrum meiner Betrachtungen stehen die »magischen Operationen« der Separation und Produktion einer »geweihten Elite« (Bourdieu 2004), Dispositionen, Haltungen und performative

1 Einleitung

Wiederholungen, die, am eigenen Leib vollzogen, unmittelbar körperlich gespürt werden, immer wieder aufgeführte, körperlichgestische Artikulationen, die Sicherheit und Souveränität zum Ausdruck bringen und gegen die gerichtet sind, die nicht dazu gehören und die dadurch ›eliminiert‹ werden, dass gegen sie verbale, gestische und mimische Ausdrucksformen in Anschlag gebracht werden. Die zentrale Annahme der nachfolgenden Ausführungen ist, dass die Rekrutierung sozialer Eliten und die Markierung sozialer Positionen keineswegs durch rationale Auswahl, sondern durch verborgene Codes der Reproduktion und Sicherung von (Macht-)Positionen erfolgt. Diese Praxis der Sicherung von sozialen Zugehörigkeiten erscheint als täuschend natürliche Praxis, konstituiert sich aber durch die Übertragung sozialer Ähnlichkeiten, die ein materielles und immaterielles Erbe erst konstituieren. Es hat den Vorzug der Einverleibung, wie Bourdieu »die performative Magie des Sozialen« (1987, S. 107) beschreibt. Das Ganze wirkt wie »menschgewordenes« Kapital, das gewissermaßen von den institutionellen Strukturen erzeugt und eingesetzt wird; »das Eigentum eignet sich seinen Eigner an, indem es sich in Form einer Struktur zur Erzeugung von Praktiken verkörpert, die vollkommen mit seiner Logik und seinen Erfordernissen übereinstimmen« (ebd.). Die Materialität des Erbes ist in unserem Zusammenhang quasi der Ausgangspunkt einer Umwandlung in immaterielles, symbolisches ›Erbe‹, das sich quasi auf magische Weise verkörpert. Auf diese Weise sind die Erben wie durch eine soziale Magie den Strukturen, die sie als solche (Erben) erst hervorbringen, angepasst. »Wenn man zu Recht mit Marx sagen kann, daß ›der Nutznießer des Majorats, der Erstgeborene, dem Boden gehört‹, daß letzterer ›ihn erbt‹ [also der Boden den Erben erbt] oder daß die ›Personen‹ der Kapitalisten ›personifiziertes‹ Kapital seien, so liegt dies daran, daß der durch den Akt der Ettikettierung (mit dem ein Individuum als Erstgeborener, Erbe, Nachfolger, Christ oder schlicht als Mann – im Gegensatz zur Frau – mit allen zugehörigen Vorrechten und Pflichten eingesetzt wird) eingeleitete rein soziale und sozusagen magische Sozialisationsprozeß, der durch Akte sozialer Be-

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handlung verlängert, verstärkt und bestätigt wird, die den institutionellen Unterschied in eine natürliche Unterscheidung zu verwandeln geeignet sind, sehr reale, weil auf Dauer auf den Leib geschrieben und im Glauben einbeschriebene Wirkungen erzeugt« (ebd., S. 107f.). Vererbt wird aber nicht nur ein kollektiver klassen- und geschlechtsspezifischer Habitus, eine kollektive Disposition im Sinne ›das steht uns selbstverständlich zu‹ oder ›das ist nichts für uns‹, sondern auch der Traum von einem anderen Leben, keineswegs also ein Sich-Begnügen mit dem einfachen Leben, sondern ein Darüber-hinaus-wollen, das sich in der konsum- und warenfetischistischen Gesellschaft meistenteils als Traum, konsumieren zu können und reich zu sein, herausstellt. Es vererbt sich ein psychisches Kapital, dem der Drang zur Überschreitung innewohnt, die gleichwohl andauernd ausgebremst wird. Weitermachen oder aufgeben. Verletzungen wegstecken und Widerstand leisten oder scheitern. Das ist die immer wiederkehrende Frage in den symbolischen Kämpfen, in denen ›Aufsteiger‹ nur als ›individualistische Überflieger‹ vorgesehen sind, gleichwohl aber bekämpft werden, ansonsten aber das Mittelmaß derer vorherrscht, die gar keine Fragen stellen, sondern nur – ihre – Position(en) sichern wollen. Automatismen der Statussicherung, Seilschaften treten an die Stelle wirklichen Wissens und rationaler Entscheidungen. Was fehlt, ist ein phantasmatischer Begriff von Bildung und Leben, ein Bildungs-Begehren, das traumhafte, imaginäre Elemente und Bilder beinhaltet. Deutlich wird, dass sich symbolische Kämpfe im alltäglichen Leben, sozialer Auf- oder Abstieg in symbolischen Ausdrucksformen oder unmittelbar dahingesagten (Halb-)Sätzen abspielen, die tiefe, lebenslang wirksame Wunden und Narben zufügen oder hinterlassen. Demütigungen verwandeln sich in Traumata derer, die sich aus beengten, ›einfachen‹ Verhältnissen durch Bildung befreien woll(t)en, und die, gewollt oder ungewollt, verletzt werden, durch Worte, hate speech, durch Bemerkungen, die kulturellen Bildungseliten und Erben ohne nachzudenken über die Lippen kommen. Dabei zeigt sich, dass sich der Traum von Bildung und von der Befreiung durch Bildung aus prekären Lebensver-

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hältnissen als Mythos erweist, der in eiserne Disziplin, quälende, harte, aber auch einsame Arbeit mündet und sich immer an den Hinterlassenschaften derer stößt, die schon voraus sind oder einen daran hindern, selbstbewusst sein Leben zu leben und ›sein Ding‹ zu machen. Zugleich aber die Einsicht, dass Lektüre, Schreiben und Diskussion die Art und Weise sind, in der man leben will, eine Möglichkeit, sein Leben zu leben, die bei aller Aufregung und Qual, Freiheit und Ruhe vermittelt. Die Frage ist (auch): Wo und wie drücken sich Ereignisse aus, in denen man vor Scham im Boden versinken möchte? Soziale Herkunft als Sprungbrett – oder als Fluch, dem man entkommen will, als Macht seit der Geburt oder als Last, von der man sich befreien will. Sich seiner Klasse und Herkunft bewusst sein, was heißt das? Sich assimilieren oder neu erfinden – geht das? Der Kern meiner Argumentation wird in einzelnen kurzen Kapiteln ausformuliert. Zwischen den theoretischen Ausführungen gibt es Passagen, die romanhaften fiktiven Charakter haben; sie sind unverbunden, bleiben bewusst fragmentarisch. Die Passagen sollen sich gewissermaßen ›von selbst‹ verbinden und Assoziationen Raum geben. Sie bilden Subtexte zu den theoretischen Analysen sozialer Ungleichheit und Herkunft sowie zum materiellen und immateriellen Erbe, zur symbolischen Macht und Magie. Warum diese Passagen? An und in ihnen zeigt sich die symbolische Gewalt, mit der die herrschende Sicht der sozialen Welt legitimiert wird, sowie die symbolischen Kämpfe und die soziale Komplizenschaft des Ausschlusses und der Selbstexklusion anschaulicher als in der Theorie, hier zeigen sich Kräfteverhältnisse zwischen den Erben (und NichtErben), die die symbolische Macht der Erben festigen. Die Frage ist, wohin mit dem Erbe einer Geschichte, die fast nicht oder nirgendwo vorkommt; sie ist in diesen Zwischentexten bestens aufgehoben. Die verborgenen Codes derjenigen, die in den ›Differenzialen der Macht‹ nicht oder kaum zu Wort kommen, erscheinen hier in den Passagen. Damit kommt zum Vorschein, was sich nicht unbedingt offen artikuliert, sondern unbewusst ins Spiel gebracht wird oder nicht zur Sprache kommt, gewissermaßen ›zwischen den Zeilen‹ steht. Die verborgenen Codes der Erben verweisen auf – scheinbar irrationale – unsichtbare Automatismen, die unterhalb

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der Schwelle des Bewusstseins durch quasi magische Prozesse entstehen und die Praktiken der Erben steuern. Diese performative Magie sozialer Praktiken soll nicht zuletzt auch in der Form der Darstellung zum Ausdruck kommen. Es geht darum, Unsichtbares sichtbar zu machen; Dinge in ihrer – leiblichen – Verkörperung aufzuspüren, und sie in ihrer spezifischen sprachlichen Artikulation zu zeigen. Das gelingt am ehesten, indem konkret deutlich gemacht wird, dass und wie sich materielles Erbe in symbolisches Kapital umsetzt. Und es gelingt durch Rückgriff auf diverse mediale Ausdrucksformen. Dem Ineinandergreifen verschiedener Strukturen und Praktiken entspricht das Ineinandergreifen verschiedener Textsorten. Was hier vorgestellt wird, ist ein Experimentieren mit verschiedenen Textgattungen. Passagen aus Romanen mischen sich mit autofiktiven kurzen Passagen und theoretischen Betrachtungen. Literarische und fiktive biografische Beschreibungen, Dokumente und Zeugnisse alltäglicher Praktiken, die zeigen (sollen), wie sich symbolische Kämpfe in den Köpfen und Körpern der handelnden Subjekte (zu Automatismen) verdichten, mischen sich mit popkulturellen Texten, die, als imaginärer Spiegel der Gesellschaft, zeigen, wie sich die ungleichen Einkommens- und Lebensverhältnisse niederschlagen und in den Subjekten artikulieren; außerwissenschaftliches Reales wird in romanhaft-fiktiver Form (als ›Passagen‹) in wissenschaftliche Ausführungen eingefügt. Die fiktiven – biografischen – Texte zeigen die Wirkung der performativen sozialen Magie, aber auch die subjektiven Effekte der sozialen Herkunft. Die Aneignung der Erben durch das ›Material‹ wird hier, in den Zwischentexten sichtbar. In der kulturellen und sozialen Praxis artikulieren sich die Dispositionen und Haltungen, die Art und Weise, wie man die Welt sieht und von ihr angeeignet wird; hier zeigt sich das materielle Erbe in seinen einverleibten, leiblichen Strukturen symbolisch. Man muss – mit der Theorie – in der Praxis ankommen, sonst versteht man sie nicht wirklich; man muss die – scheinbar magischen, natürlich wirkenden – Dispositionen sichtbar machen, zeigen, wie sie funktionieren. Texte, in denen sich die populäre Kulturproduktion gegenüber den kulturellen Hervorbringungen einer (Bildungs-)Elite als – ästhetisch und theoretisch – überlegen erweist, werden herangezogen, weil sie z.T. die theoretischen Hervor-

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bringungen der offiziellen akademischen Theorie übertreffen. Dabei geht es um anschauliche, beispielhafte Darstellungen symbolischer Kämpfe in und zwischen den sozialen Klassen, die sich nicht in ein kohärentes Muster fügen und auch keine erschöpfende Auskunft im Sinne theoretischer Reflexionen von Klassenverhältnissen und sozialer Ungleichheit geben (sollen). Vielmehr kann man in diesen Passagen einen eher flüchtigen Blick auf die ›soziale Magie‹ einer sich permanent ereignenden Übertragung von natürlich wirkenden Hinterlassenschaften und Vermächtnissen werfen, die sich in sozialen Distinktionen und Traumatisierungen artikulieren. Die Realität ist nur das Ausgangsmaterial, das sich mit der Form der Artikulation, der Sprache und den Texten verändert. Es geht bei den romanhaft-fiktiv eingestreuten Elementen nicht um das individualisierte Ich. Es geht auch nicht um eine Neuauflage bürgerlichen Bekenntnis- und Geständniszwangs, der das ›wahre ICH‹ zutage fördern soll. In der 3. Person Singular formuliert, sind sie nicht als subjektive Bekenntnisse zu verstehen, sondern als fiktive Passagen, die Phänomene der sozialen Herkunft und die sozialen symbolischen Kämpfe fragmentarisch verdichten. In den Passagen soll auch deutlich werden, dass Klasse, ebenso wie Geschlecht, kulturelle oder ethnische Herkunft kein in sich geschlossenes System oder eine eindeutige identitätspolitische Position, sondern ein differenziertes Gebilde darstellt. Im Folgenden geht es also darum, neben theoretischen Analysen, mithilfe von Fragmenten, fiktiven, verdichteten kurzen Erzählungen in einer Art ›Gegenwartsdiagnostik‹ die gesellschaftliche Logik und die ›Logik der sozialen Kräfte‹ zu beschreiben, die in den symbolischen Kämpfen der Erben wirksam sind. Sie sollen darüber Auskunft geben, wie sich kulturelle und individuelle Dispositionen vor allem in einer nicht-bewussten, quasi-körperlichen Komplizenschaft derart verschränken, dass Macht ausgeübt wird, ohne dass dies geplant oder unbedingt bewusst gewollt ist – und dennoch eine Dynamik von In- und Exklusion in Gang gesetzt wird. Die Theoriebezüge konzentrieren sich zum einen auf die kulturtheoretischen Analysen der Reproduktion von Eliten und sozialer Ungleichheit, hauptsächlich auf jene Ausführungen zu Macht und sozialer Ungleichheit, die Bourdieu in seiner Kulturtheorie formu-

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liert hat und die von Butler mit ihrem Ansatz der ›performativen Sprechakte‹ bzw. der ›Performativität‹ kritisch kommentiert werden. Während bei Bourdieu die Dispositionen als homologe Schemata der Positionen erscheinen, als vorgängige Muster, geht Butler davon aus, dass diese vielmehr im Prozess der Wiederholung entstehen und sedimentiert werden. Bourdieu fragt (sich), worin die Wirkungsweise von Macht besteht und was die sozialen Bedingungen sind, die die magische Wirksamkeit von Worten und Praktiken möglich machen. Und er nimmt an, dass »die Macht der Worte nur auf diejenigen [wirkt], die disponiert sind, sie zu verstehen und auf sie zu hören, kurz, ihnen Glauben zu schenken« (Bourdieu 1992b, S. 83). Eine zentrale Annahme ist in diesem Zusammenhang die geradezu körperliche Verbundenheit der Strukturen, die Macht ausüben und derer, auf die Macht ausgeübt wird; Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von Komplizenschaft. »Die sozialen Akteure und auch die Beherrschten selbst sind in der sozialen Welt (selbst der abstoßendsten und empörendsten) durch eine Beziehung hingenommener Komplizenschaft verbunden, die bewirkt, dass bestimmte Aspekte dieser Welt stets jenseits oder diesseits kritischer Infragestellung stehen. Vermittelt über diese verbogene Beziehung quasi-körperlichen Verwachsenseins übt die symbolische Macht ihre Wirkungen aus. Die politische Unterwerfung ist in die Haltung, die Falten des Körpers und die Automatismen des Gehirns eingegraben« (ebd., S. 82; Hervorhebg. H.B.) Das heißt: Es wird davon ausgegangen, dass es eine stillschweigende und materiale Funktionsweise der – symbolischen – Macht gibt, die sich in die sozial zugerichteten Köpfe und Körper der Subjekte einschreibt und die eine Komplizenschaft zwischen ›Führern‹ und ›Gefolgschaften‹, Wortführern und denen, die deren Anweisungen anerkennen und befolgen, bilden. Und während sich Bourdieus Analysen hier auf »die verborgenen Mechanismen der Macht« des Politischen und deren sprachlichen Habitus beziehen, beziehen sich die Ausführungen in diesem Buch auf die verborgenen Codes der Rekrutierung ökonomischer und kultureller Eliten sowie deren Ha-

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bitusformationen und Dispositionen, mit denen sie ihre Privilegien sichern und dafür sorgen, dass sozialer Aufstieg ausgeschlossen ist. Bourdieus Konzept der Inkorporation symbolischer Macht muss sich fragen lassen, wie sie genau funktioniert und wie die Übertragung des Erbes, jenseits von materiellen Hinterlassenschaften, vor sich geht. Komplizenhafte Gefolgschaft und Selbstexklusion der Aufsteiger erscheinen als zwei Seiten einer Medaille, die mit der Entfremdung vom Herkunftsmilieu und dem Zutrauen zum eigenen Denken bezahlt wird. Damit ist gewissermaßen das Programm umrissen, das in den folgenden Kapiteln aufgerollt wird: Zunächst wird im zweiten Kapitel die Magie sozialer Unterschiede auf der Ebene der objektiven, faktischen globalen Vermögensungleichheit und der Ökonomie der Erben enthüllt; das Rätsel des Kapitals wird mit irrationalen Prozessen des Kapitalismus, undurchschaubaren ökonomischen Abläufen und entsprechenden Dispositionen (der berechnende ›ökonomische Menschenschlag‹; die Personalisierung der Ware und des Vermögens; die Ressentiments gegenüber dem ›Anderen‹ etc.) konfrontiert. Es zeigt sich, dass es eine Korrespondenz oder zumindest Affinität von ökonomischen und triebökonomischen Prozessen, von marktökonomischem System und subjektiven Praktiken gibt, die einer Affektökonomie des permanenten Begehrens und des Ressentiments folgen, und die, metaphorisch gesprochen, auf die Magie einer ›unsichtbaren Hand‹ verweist, die beide, Ökonomie und Affektökonomie, verzahnt. Das »Gespenst des Kapitals« (Vogl 2010) erscheint so als Chiffre für irrationale Kräfte, die den Lauf der Dinge bestimmen, ohne dass man genauer wüsste, welche Kräfte dies sind. Im Geist des Kapitalismus verschränken sich spezifische Trieb- und Affektökonomien und kapitalistische Gewinn- und Profitsucht auf besondere Weise. Am Beispiel des Romans American Psycho wird deutlich, dass der Warenfetisch eine besondere Bedeutung in der Beziehung zu sich und anderen hat; hier zeigen sich die Warenoberflächen als ›Akteure‹ einer Sozialstruktur, die Ungleichheit und exklusiven Zugang erzeugt und verstärkt. Was zählt, sind kompetitive symbolische Kämpfe um Anerkennung und Zugehörigkeit, die sich in menschenverachtenden Praktiken äußern.

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Bourdieu führt die Affinität von ökonomischen Strukturen und triebökonomischen Dispositionen ja bekanntlich auf die Inkorporation dieser Strukturen und eine unbewusst operierende Komplizenschaft zurück. Die Erben haben gelernt, sich als Erben zu sehen und zu benehmen, die die Grenzen des Auserwähltseins und der Ausschließung (der Nicht-Erben, der Unbegabten, der Anderen) in ihren Praktiken nachvollziehen und ständig bestätigen. Es konstituiert sich eine Art ›Glaubensgemeinschaft‹, deren Magie sich aus Glaubenssätzen und liturgischen Bedingungen speist, wie die letzten Abschnitte des 2. Kapitels deutlich machen. Erben werden also gemacht, sie werden nicht einfach vorgefunden. Ihnen wird durch performative Beglaubigung ihrer kulturellen Affinität das Erbe und sie selbst als Erben bestätigt. Sie werden, wie Glaubensgemeinschaften, immer wieder als elitäre Zirkel beglaubigt. Das dritte Kapitel wendet sich dem Thema Erben und Aufsteiger zu; es thematisiert das Ineinandergreifen von soziokulturellen Praktiken und Subjektformen. An der Serie Succession kann man zeigen, wie es funktioniert, berechnende Kälte und kompetitive Beziehungen, anstelle von expressiver Wärme innerhalb der Familie einzusetzen. Ein wichtiger Faktor ist dabei die soziale Ähnlichkeit der Erben, der ›Auserwählten‹; sie ›sortiert‹, wie eine Maschine, so lange mithilfe von Ritualen und schließt soziale Zugehörigkeit ein, bis sie der Differenz, dem Anderen, begegnet, dann sortiert sie aus und errichtet ›magische‹, natürlich wirkende (Klassen-)Grenzen. Hier zeigt sich auch, wie soziale Ähnlichkeit in eine Struktur sozialer Ungleichheit umschlägt – und zwar durch ständige Wiederholung. Was daher auf jeden Fall von den Erben verhindert werden muss, ist das Überschreiten der (Klassen-)Grenzen und vor allem, die Differenz, die Begegnung mit den Anderen, den NichtErben. Darin besteht die zentrale Aufgabe und Funktionsweise der sozialen Magie; sie rekurriert, so erstaunlich das erscheinen mag, auf ein mythisches Weltverständnis, das durch Ähnlichkeits- und Kontrastbeziehungen strukturiert ist und dem ein magisch-imaginäres Konzept der Kontrolle entspricht. Aufzubrechen wäre das nur durch De-Mystifikation. Aber die soziale Magie rekurriert auf mehr als nur verdeckt operierende Codes, ein System von Regeln oder Übereinkünften, es handelt sich um eine komplexe Anordnung,

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ein Machtdispositiv, das Gesagtes und Ungesagtes ebenso wie ein ganzes Netz von Dingen und Praktiken umfasst, das, de-mystifiziert, als Machtanordnung sichtbar gemacht und entlarvt werden kann. Wie die Ähnlichkeit, verdichtet und stabilisiert es sich als Machtstruktur durch performative Wiederholung und es überträgt sich als gesamtes Ensemble und generative Struktur in subjektive – körperliche – Dispositionen. Die Entstehung dieser Strukturen, ihre Genesis, wird – in den Körper hinein – vergessen, der auf diese Weise wie ein technisch-mediales Medium zu verstehen ist; Körpertechniken übernehmen die Funktion der Sortierung von sozialen Individuen und deren sozialer Zugehörigkeit. Mit Bezug auf diverse Kulturtheorien wird deutlich, dass das Subjekt sich auf der Basis des Zusammenspiels von sozialen Praktiken, kulturellen Codes und Subjektmodellen konstituiert und im Zuge seiner Konstitution gewissermaßen ein Bündel an Dispositionen implantiert. Dispositionen erscheinen als – machtgeladene – Schemata, die das Subjekt inkorporiert oder ausschließt. Hier wird deutlich, dass sich das Subjekt über Ausschließungsverfahren und über die affektive Identifizierung mit einem spezifischen Subjektmodell erzeugt. Es gibt Subjektmodelle, die gesellschaftlich zählen, und andere, die nicht beliebt sind und daher nicht für die affektive Identifikation taugen, wobei es subjektiv ja keineswegs eine freie Wahl eines Modells gibt, vielmehr sind es soziale und klassenspezifische Modelle, die gewissermaßen vererbt werden. Der dritte Abschnitt zeigt, dass Aufsteiger ambivalente Figuren der Moderne sind, die sich zwischen (Selbst-)Exklusion und individualistischen Überfliegern bewegen; letzteres wird am Beispiel der Serie Billions veranschaulicht. Im vierten Kapitel geht es um die symbolische Macht der Erben, um tief vergrabene Verschaltungen von Kapital, Wörtern und Körpern. Hier wird der gesellschaftliche, soziale Raum skizziert, in dem das Kapital – und der sozial erzeugte Geschmack – einen ›Raum-Teiler‹ bildet, der sich in die Dispositionen der Subjekte hinein ›fortpflanzt‹. Was damit, neben den verschiedenen Kapitalsorten, auch vererbt wird, sind – folgt man Bourdieu – Geschmack, Kreditwürdigkeit und Anerkennungsprofite. Dabei geht es zunächst in aller Kürze um die Distinktion, das ästhetische

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Urteil der gebildeten und wohlhabenden und auf der anderen Seite das formlose, ästhetische Urteil der unteren Gesellschaftsklassen, wie sie bei Bourdieu in Die feinen Unterschiede (1984) holzschnittartig vorgestellt werden. Unter der Überschrift Reichtum ist Geschmackssache wird mit kritischem Bezug auf Bourdieu dessen Annahme vorgestellt, dass diejenigen, die reichhaltig mit allen möglichen Kapitalsorten ausgestattet sind, über jene ästhetische Distanz und Distinktion verfügen, die sie nicht nur zu allen Formen des Vulgären und zu allen möglichen expressiven, formlosen Ausdrucksformen, sondern vor allem auch zu allen Manifestationen der populären Ästhetik der unteren Schichten auf Abstand halten. Die Vererbung eines ästhetischen Urteils findet nach Bourdieu unbewusst statt. Er nimmt an, dass die entsprechenden Schemata innerhalb der jeweiligen sozialen Klasse(n) – obwohl unbewusst – streng überwacht und vererbt werden. Auch die symbolische Macht, soziale Anerkennung, Prestige, werden auf die Erben übertragen. Es gibt einen Glaubensvorschuss, dessen Grundstock in der Vergangenheit gelegt wurde. Bourdieu nimmt an, dass es sich bei der Macht der Erben, und der ›Wortführer‹ um die Personifikation einer sozialen Fiktion handelt, deren magische Wirkung auf die Komplizenschaft von (biologischem) Körper und Worten zurückgeht. Es handelt sich um eine – weitere – Form von Fetischismus und Korpsgeist. Soziale Eliten rekrutieren sich demnach über eine Form der symbolischen Gewalt, die sich verkörpert, die auf die Übertragung eines Erbes und verborgener Codes zurückgeht und tief im Unbewussten, in den Dispositionen verankert ist. Diese symbolische Macht ist nicht vorgängig immer schon vorhanden, sondern sie (re-)produziert sich durch andauernde Wiederholung und wird dadurch stabil, dass sie sich in den Körpern der Subjekte, der Erben, materialisiert. Mit Butler wird gefragt, ob fehlgeleitete performative Äußerungen die herrschenden Formen der Anrufung und Ausschließung sichtbar machen und durch Resignifikation, also durch Wiederaufnahme von Worten und Begriffen, die einen sich selbst entfremden und von denen man verletzt wird, zumindest verwirren können. Und in der Tat ist das eine Möglichkeit der Wiederaneignung von hate speech. Der Punkt ist nur, dass sich, wie man mit Rekurs auf die Theorie der Sprachzerstörung und Re-

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konstruktion von Alfred Lorenzer (1970) annehmen kann, Klischees verfestigen, die dem Bewusstsein nicht (mehr) zugänglich sind. Dadurch verfestigen sich die subjektiven, klischeehaften Dispositionen und die Klassengrenzen. An die Stelle der Reflexion treten Praktiken, die von sprachlich-symbolischer Artikulation abgespalten sind. Sie gehören als affirmative Muster zum Arsenal einer automatisierten, ›immateriellen Ausrüstung‹ einer Gesellschaft, die sich mit eingeübten Abläufen und unkontrollierten Prozessen in Gang hält und soziale Ungleichheit unreflektiert aufrechterhält. De-Mystifikation und Resignifikation sind gesellschaftlich nicht vorgesehen. Das fünfte Kapitel skizziert und diskutiert zentrale Aspekte der Refeudalisierung der kapitalistischen Verhältnisse, auf die u.a. Neckel hinweist: Hier zeigt sich, dass das – neue, alte – Spiel der Privilegierten auf die unkontrollierte Macht des Finanzkapitals und der Finanzmärkte rekurriert und die Einkommenssicherung aus geerbtem Vermögen, abgelöst von Arbeit, Leistung und Produktion, zu einer drastischen Verschärfung sozialer Ungleichheit geführt hat. So entspricht der ungebremsten Privilegiensicherung einer Reichtumsoligarchie die Prekarisierung weiter Bevölkerungsschichten. Im sechsten Kapitel wird diese »Refeudalisierung« auf die Erben und deren Präsentation in den sozialen Medien bezogen. In den ›Bildern einer Ausstellung‹, bezogen auf die ›Rich Kids of Instagram‹, wird die Aufmerksamkeitsökonomie, eingebettet in eine feudale Anerkennungsgeschichte (der barocke Rahmen, die exquisiten, teuren Marken) explizit sichtbar und ökonomisch verwertbar. In den sozialen Medien wird aber auch deutlich, dass und wie die unverhohlene Zurschaustellung von Reichtum in die medialen Selbsttechnologien singulärer Subjekte der neoliberalen Gesellschaft, die den Stil der rich youth in ihrer medialen Inszenierung imitieren, Eingang gefunden hat. Daran zeigt sich u.a. eine weitere Seite der sozialen Magie der Erben, die ihre exklusiven Symbole und Praktiken offen zeigen und sie zirkulieren lassen. Die Magie der Konsumobjekte färbt mit ihrem identifikatorischen Glanz auf ihre Besitzer und deren medial inszenierte Kopien ab. Es sind »Taxonomien des demonstrativen Konsums« (Titton 2014), die hier, am Bildmaterial, ablesbar sind und, die wie die über sie trans-

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portierten Codes und Klischees, zur Affirmation der ökonomischen und symbolischen Macht der Erben beitragen. Schließlich wird im siebten Kapitel das Aufstiegsversprechen der Influencer und deren verborgene Codes thematisiert, die den amerikanischen Traum, in die Gemeinschaft der Erfolgreichen aufgenommen zu werden, ad absurdum führen. Im achten Kapitel zeigt sich am Beispiel des Romans Serotonin (Houllebecq 2020) das Gegenbild eines Erben, der ›dazugehören‹ will. Zwischen den einzelnen Kapiteln gibt es immer wieder verstreut einzelne unverbundene, fiktive Passagen, in denen die verborgenen Codes und das Erbe derer zu Wort kommt, deren Erbe gesellschaftlich nicht oder wenig zählt. Was danach kommt, ist das Ende: Ein kurzer Schluss; hier rückt die soziale Magie von Glaubenssätzen in den Blick, die das Erbe bestimmter Theoriepositionen sichert.

Passagen I

Erben- Hinterlassenschaften (I): Obdach – Los Drei Zimmer für fünf Personen, sozialer Wohnungsbau der 1950er Jahre, sie war im elterlichen Schlafzimmer untergebracht. Die Brüder teilten sich das Kinderzimmer. Mit 12 oder 13 wich sie an den Sonntagen in die Kirche aus. Sie gewährte ihr zwei Stunden Aufenthalt, erst im Erwachsenengottesdienst, dann im Kindergottesdienst, immer in der eiskalten Kirche. Später fuhr sie mit den Rollschuhen unter den Augen des ganzen Wohnblocks die Straße auf und ab, hoch und runter. Raus aus der engen Wohnung, in der ein unberechenbarer Vater allen Raum einnahm und man nie wusste, was kam.

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Hinterlassenschaften (II): Das Erbe der Unteren Was hatte sie geerbt? Eine Saftpresse, inzwischen 30 Jahre alt, aber immer noch funktionstüchtig, eine Nähmaschine, die die Entrümplungsfirma mitnahm, ein paar alte und verschlissene Geschirrtücher, Bettwäsche, die im Schrank ›vergammelte‹, da sie nie benutzt und stattdessen als ›Notration‹ betrachtet wurde. Das einzige mit Wert waren ein paar Einzelteile des Silberbestecks, das ihr Vater billig aus der Fabrik, in der er zuletzt gearbeitet hatte, mit nach Hause gebracht hatte. Danach hatte er nachts wach in der Küche gesessen, mit billigem Rotwein und einer Schachtel Zigaretten. Manchmal, wenn sie zu Besuch war (was selten genug vorkam), erzählte er vom Krieg, fing an zu weinen, schließlich fing er auch tagsüber an zu trinken. Zwei Jahre nach seinem Tod starb auch ihre Mutter. Was die Mutter hinterlassen hatte, war ein überzogenes Konto und die Beerdigungskosten. Einer ihrer Brüder fragte, warum das alles so teuer sei. Der andere nahm es schweigend hin. Sie teilten die Kosten untereinander auf. Die Fotoalben nahm sie an sich, es war aber auch kein anderer interessiert.

Passagen I

Hinterlassenschaften (III): Abgesicherter Modus Im Gespräch mit einem Kollegen fragte sie sich und ihn: »Was hinterlässt man, wenn man nichts hat außer seinem alltäglichen Leben und ein paar Gebrauchsgegenständen? Was bleibt in Erinnerung?« Der Kollege meinte: »Die Bücher.« Sie winkte ab. Auf dem Weg zur Beerdigung ihres ältesten Bruders traf sie im Zug die Frau eines Kollegen. Sie deutete an, dass ihr Bruder gestorben sei und sie jetzt zu seiner Beerdigung fahre. Die Frau des Kollegen meinte, es gäbe doch sicherlich einen Nachlass. Da könne sie ja sehen, was er hinterlassen hatte, etwa eine Familiengeschichte, etwas Wertvolles, Vermögen. Sie dachte: »Wenn die wüsste!« Was denkt die sich, wer mein Bruder war und überhaupt, wer wir sind, aus welcher Familie ich komme! Dass die immer wie selbstverständlich davon ausgehen, dass man ihre Erfahrungen und Voraussetzungen teilt! Sie dachte: »Wie sicher die sind, dass es etwas zu vererben gibt, dass einer mehr hinterlässt als ein paar Habseligkeiten.« Die leben offenbar im abgesicherten Modus, dachte sie bei sich, das existenzielle Betriebssystem ist immer sicher. Keine physisch bedrohlichen Parolen, keine tägliche Existenzangst. Natürlich, so war es nicht. Und wie machen sie es, dass sie sich sicher fühlen, fragte sie sich. Woher kam dieses Gefühl, im Wahren und im Reinen, in Sicherheit zu sein? Die Antwort lag auf der Hand, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie fühlten sich nicht nur sicher, sondern sie waren es auch, bis zu einem gewissen Grad. Anders konnte es nicht sein, dachte sie. Die Voraussetzungen waren gesichertes Ein- und Auskommen, aber nicht nur das. Voraussetzung war auch ein ererbtes Vermögen an Bildung und auf dieser Grundlage bestimmen können, wie gedacht und gesprochen wird. Sicher sein, oder sich zumindest in Sicherheit wiegen, das kannte sie nicht oder kaum. Nach außen, auf andere, wirkte sie mutig, auf jeden Fall aber tapfer. Tapfer ist jemand, der eigentlich keine Chance hat, weil der andere überlegen ist, sich aber trotzdem traut, dachte sie.

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2 Die soziale Magie sozialer Unterschiede

2.1 Globale Vermögensungleichheit – Erben – Erbschaften Das Kapital hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum etwas von seiner Bedeutung verloren, die es seit dem 18. Jahrhundert hat, es hat nur seine Form gewandelt; anstelle von Landbesitz tritt heute das Immobilien-, Industrie- und Finanzkapital in den Vordergrund, das sich mit Kommunikationstechnologien verbindet, Daten und Informationen als attraktive Quelle der Wertschöpfung und neue Formen des (Überwachungs- und Plattform-)Kapitalismus etabliert. Aber »nach wie vor verfügt die ärmste Hälfte der Bevölkerung über praktisch nichts. Aber es gibt unterdessen eine vermögende Mittelschicht, die zwischen einem Viertel und einem Drittel des Vermögens besitzt« (Picketty 2014, S. 501), während den reichsten 10 % zwei Drittel des Vermögens gehören. Wie wir wissen, ist die Vermögenskonzentration sehr hoch. Es gibt im Wesentlichen zwei Arten und Weisen, Vermögen zu bilden und es zu Wohlstand zu bringen: Arbeit und/oder Erbschaft. »Die entscheidende Frage ist, welcher der beiden Faktoren verbreiteter ist – und die größten Chancen auf Zugang zu den oberen Dezilen und Perzentilen in der Hierarchie der Einkommen und Lebensstandards eröffnet« (ebd., S. 503). Das Gefälle zwischen den Arbeitseinkommen ist generiert; »Studium und Arbeit bieten keine Aussicht auf ein komfortables und elegantes Leben« (Picketty 2014, S. 503), schreibt Picketty in seinem viel beachteten Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert. Erfolgverspre-

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chende Faktoren der Vermögensbildung sind, so zeigen einige Studien, Erbschaften. Diese haben das Gewicht wiedergewonnen, das sie einst im 19. Jahrhundert hatten, nimmt Picketty an (vgl. ebd., S. 501ff.): »Die aus der Vergangenheit stammenden Reichtümer vermehren sich ohne Arbeit schneller als die Reichtümer, die durch Arbeit geschaffen und angespart werden können. Fast zwangsläufig verleiht das den in der Vergangenheit entstandenen Ungleichheiten und damit der Erbschaft ein dauerhaftes Übergewicht« (ebd., S. 502; vgl. ausführlich dazu Picketty 2014, S. 501-572). Er führt aus, dass die Abkoppelung der sehr großen Vermögen ein unübersehbares Phänomen ist; »der bei Weitem besorgniserregendste Mechanismus der Erzeugung von Ungleichheit ist jener, der sich aus der Ungleichheit der Kapitalrendite ergibt« (ebd., S. 575) und er zeigt, dass die Wachstumsrate großer Vermögen strukturell höher als die des Durchschnittseinkommens und -vermögens ist. Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, so könnte die sehr kleine Gruppe Vermögender bis zum Ende des 21. Jahrhunderts einen erheblichen Anteil am Weltvermögen besitzen. Die obersten zehn Prozent haben bereits jetzt 80–90 Prozent des Gesamtvermögens; die »reichsten 0,1 % der Erde, also ungefähr 4,5 Millionen aus der erwachsenen Bevölkerung von 4,5 Milliarden besitzen ein Nettovermögen von etwa 10 Millionen Euro, also fast das Zweihundertfache des globalen Durchschnittsvermögens […]. Die reichsten 1 %, also ungefähr 45 Millionen aus 4,5 Milliarden Erwachsenen, besitzen ein Durchschnittsvermögen von um die 3 Millionen […], also das Fünfzigfache des Durchschnittsvermögens, und daher einen Anteil am Gesamtvermögen von etwa 50 % […]. Die vom obersten Tausendstel gebildete gesellschaftliche Gruppe (4,5 Millionen Personen, die durchschnittlich etwa 10 Millionen Euro besitzen) besitzt etwa 20 % des Weltvermögens, was eine sehr viel substantiellere Größe ist als die von den Forbes-Milliardären gehaltenen 1,5 %« (ebd., S. 581ff; zur Struktur der Ungleichheit und globalen Vermögensungleichheit vgl. ebd., S. 573-624).

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Des Weiteren vertritt Picketty die These, dass Vermögen, jenseits einer bestimmten Grenze, unabhängig davon, ob jemand arbeitet oder nicht, wachsen. Am Beispiel von Bill Gates, der mit Microsoft globaler Marktführer von Betriebssystemen und Inbegriff unternehmerischen Reichtums wurde, zeigt er, wie dessen Vermögen zwischen 1990 und 2010 von vier Milliarden auf 50 Milliarden gestiegen ist und dies ebenso schnell in der Zeit, in der er sowohl in der Firma gearbeitet hat als auch, nachdem er seine berufliche Tätigkeit aufgegeben hatte. Um das noch stärker zu verdeutlichen, verweist er auf Liliane Bettencourt (Erbin von L’Oréal), die nie gearbeitet hat, sondern schlichtweg nur Erbin war. Auch ihr ererbtes Vermögen stieg exponentiell an, was, so Picketty, u.a. daran liegt, dass nahezu das gesamte Kapitalvermögen reinvestiert und rekapitalisiert werden konnte (vgl. ebd., S. 586f.). Entscheidend hierfür ist die Logik einer grenzenlos entfesselten Akkumulation des Kapitals (und dessen in Steueroasen lokalisierten Vermögenswerten) (ebd., S. 624). Ähnlich wie Picketty geht Andreas Reckwitz davon aus, dass das Gesellschaftsbild postmoderner Gesellschaften vor allem durch »eine Gleichzeitigkeit von sozialen Aufstiegs- und Abstiegsprozessen geprägt« (Reckwitz 2019, S. 72) ist. Er wendet sich aber gegen die Fixierung auf den zweifelsfreien Tatbestand einer kleinen Elite von »Superreichen«, die global maximal 1 % ausmachen, weil die Diagnose vom Aufstieg einer kleinen Gruppe von Milliardären, so nimmt er an, den Blick auf die Mehrheit der Bevölkerung verstellt. Wichtiger erscheint ihm die Entstehung einer neuen, hochqualifizierten Mittelschicht mit hohem kulturellen Kapital, die sich durch formales Bildungskapital, durch höhere Bildungsabschlüsse, vor allem aber auch durch informelle Kompetenzen und kulturelle Muster der Lebensführung (»erfolgreiche Selbstverwirklichung« und »urbaner Kosmopolitismus«, Imperative der Singularisierung und der Valorisierung im Sinne von »ich bin es mir wert«, nicht standardisierte, sondern einzigartige und authentische Lebensformen) von der ›alten‹ Mittelschicht (»Statusfragen sind hier im Kern weiterhin materielle Wohlstandsfragen«, es geht um geordnete Verhältnisse, Selbstdisziplin, räumliche und soziale Verwurzelung (vgl. Reckwitz 2019, S. 90ff und S. 97ff.)) und erst recht von der pre-

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kären Unterklasse unterscheidet, der es in strukturell unsicheren Lebensbedingungen vor allem darum geht, sich mit einem unterdurchschnittlichen Einkommen (»Mindestlohn«) durchzubeißen. Dem Bourdieu’schen Modell der Klassen und Lebensstile nicht unähnlich, siedelt Reckwitz hier, in den prekären Schichten, Prozesse der Deklassierung an; und beschreibt die »Kunst des Lebens in der prekären Klasse […] gewissermaßen im zähen Durchhalten und geschickten Weitermachen. Die Vorstellung, dass das Leben ein ›Kampf‹ ist, in dem das Standhalten selbst bereits als zentrale Leistung gilt, ist in dieser Klasse beheimatet« (ebd., S. 104), während die Oberklasse, der Ort der »Superreichen«, von ihrem (ererbten oder selbst verdienten) Vermögen lebt. Reckwitz hebt darauf ab, dass deren Differenz zur neuen Mittelklasse eindeutig der Umfang des ökonomischen, nicht der des kulturellen Kapitals ist (vgl. ebd., S. 107ff.).

2.2 Das Geheimnis des Kapitals Der Kapitalbegriff wird, wie der des Kapitalismus, sehr unterschiedlich verwendet: »Für die einen ist Kapital ein greifbares Objekt oder ›materieller Stoff‹, und bis heute beharren viele Ökonomen und Bilanzbuchhalter darauf, dass Kapital etwas Greifbares sein muss; wenn man es nicht anfassen kann, ist es kein Kapital. Für andere ist es einer der beiden Produktionsfaktoren […]. Und für Marxisten steht das Kapital im Zentrum des Spannungsverhältnisses zwischen den Arbeitern und ihren Ausbeutern, die die Produktionsmittel besitzen, was ihnen die Macht gibt, Mehrwert aus den Arbeitern zu ziehen« (Pistor 2020, S. 28). Das Kapital ist derjenige Anteil einer Geldsumme, der sich verzinsen lässt; nach Marx entsteht Kapital durch den Tausch von Waren und durch Mehrwertabschöpfung aus der Arbeit. Der Wert der Ware Arbeitskraft, dessen Gebrauchswert im Arbeits- und Produktionsprozess zum Einsatz kommt, wird bestimmt durch den Tauschwert und den darüber hinaus gehenden Mehrwert

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(Differenz zwischen den durchschnittlichen Reproduktionskosten der Arbeitskraft und der darüber hinaus gehenden Ausbeutung). Was die Begriffe des Kapitals und Kapitalismus so verwirrend macht, ist, dass sich die äußere Erscheinungsform des Kapitals im Laufe der Zeit drastisch verändert hat, genauso wie die sozialen Beziehungen, die ihm zugrunde liegen. »Zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass Kapital kein Ding ist […]. Marx stellte bereits fest, dass gewöhnliche Objekte eine bestimmte Transformation durchlaufen müssen, bevor sie im Austausch gegen Geld gehandelt werden können, um einen Prozess in Gang zu setzen, in dem Profite erzielt werden« (Pistor 2020, S. 29). Pistor argumentiert demgegenüber, dass nicht »der Tausch von Waren gegen Geld und die Abschöpfung des Mehrwerts aus der Arbeit«, sondern die – rechtliche – Codierung das Entscheidende ist. Unter dieser Annahme geht sie davon aus, dass »im Prinzip jedes Gut in Kapital verwandelt werden kann« (ebd, S. 32) und sie nimmt an, »anders als […] viele heutige Ökonomen glauben, können sogar Menschen als Kapital codiert werden« (ebd., S. 30). Das zeigt sich zweifellos u.a. am Beispiel von Menschen, die davon ausgehen, dass sich ihr Wert am ökonomischen und symbolischen Wert von Dingen ablesen lässt. Im Vordergrund stehen aber zunächst diejenigen ›unheimlichen‹ Kräfte des Kapitals und des Kapitalismus, die, ›wie von unsichtbarer Hand‹, die Zirkulation von Objekten und Zeichen und die Subjekte in ihren Praktiken steuern. Die Annahme, dass sowohl die ökonomische Strukturlogik als auch die Subjekte in ihren Affekten und Dispositionen ›wie von unsichtbarer Hand‹ im sozialen Raum gelenkt sind und unbewusst strategisch handeln, indem sie Dinge ausführen, die sich in gewisser Weise ›hinter dem Rücken der Subjekte‹ durchsetzen, wirft ein neues Licht darauf, wie sich objektive Strukturen jenseits bewusster Planung in subjektiven Praktiken – sozialer Markierung – durchsetzen. Damit kommen Automatismen ins Spiel und die Frage kommt auf, ob diese die Ausnahme oder nicht eher die Regel sind. Im Bereich der – ökonomischen – Zirkulation und des Tauschs hat sich die prominente Metapher der ›unsichtbaren Hand‹ seit dem 18. Jahrhundert

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in das ökonomische Wissen eingeschrieben (vgl. Bublitz u.a. et al. 2011). »Dies ist wohl einer gewissen Unheimlichkeit ökonomischer Prozesse geschuldet, in denen zirkulierende Objekte und Zeichen einen gespenstischen Eigensinn entwickeln« (Vogl 2010, S. 7), vermutet Joseph Vogl in seinen Überlegungen zur modernen (Finanz-)Ökonomie. »Der ökonomische Mensch ist zuverlässig durch Beschränktheit, sozial durch mangelnde Sozialität und wird dazu gebracht, durch seine Interessen und im Tausch einen ihm selbst äußerlichen Zweck hervorzubringen« (ebd., S. 40). Es sind die undurchsichtigen Dynamiken des Kapitals (auf den Finanzmärkten), die die Frage aufwerfen, ob der ›Geist des Kapitalismus‹ (Weber) eher rational und verlässlich oder eher irrational operiert. Auf diesem Hintergrund erscheint die politische Ökonomie insgesamt, so argumentiert Joseph Vogl in seiner Auseinandersetzung mit der transparenten Undurchsichtigkeit ökonomischer Prozesse und des Geschehens auf Finanzmärkten, die als Schauplätze des perfekten Wettbewerbs gelten, in gewisser Weise irrational; es sind die unerhörten, ›gespenstischen‹ Prozesse der politischen Ökonomie und des Kapitalismus, die in den Vordergrund des Interesses rücken und die Frage aufwerfen, ob Unberechenbares nicht die Regel in der – kapitalistischen – Ökonomie ist. Was für die – kapitalistische – Ökonomie gilt, bezieht sich erst recht auf die Subjekte und den Einsatz ihrer Affekte, ihrer Ressentiments und Dispositionen als ›Kapital‹, das die sozialen Praktiken im sozialen Raum strukturiert. Es scheint, als bestünde eine gemeinsame Oberfläche zwischen dem marktökonomischen System und den subjektiven Praktiken, mit denen der soziale Ort und die soziale Zugehörigkeit klassifiziert und markiert werden. Und wenn es so ist, dass es eine – unsichtbare – Korrespondenz zwischen ökonomischen und triebökonomischen Prozessen, zwischen den Positionen im sozialen Raum und den subjektiven Dispositionen gibt, dann garantiert diese Affinität, dass es ein unsichtbares Geflecht und eine intransparente ›soziale Magie‹ hinter den Ereignissen und unterhalb der Schwelle des Bewusstseins gibt, die die Praktiken der Akteure steuern. Die Frage ist, welchen Regeln und welcher Logik diese Steuerungsprozesse folgen: Welche Kräfte wirken,

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wenn Teilungspraktiken in weitgehend unbewusste Automatismen der sozialen Distinktion umgesetzt werden? Es ist nicht uninteressant, dass Vogl auf die Hauptfigur des Romans Cosmopolis von DeLillo (2003; dt. 2005) zurückgreift, um das Rätsel der Ökonomie zu erhellen; an dessen narrativen und argumentativen Figuren veranschaulicht er das »Rätsel der Finanzökonomie, ihres Personals und ihrer Operationen« (Vogl 2010, S. 10). Vogl geht davon aus, dass DeLillo mit der erzählerischen Fassung »der Tagesfahrt eines New Yorker Spekulanten zum Friseur […] eine Darstellungspraxis gewählt (hat), die eine Synopse von Wahrnehmungsweisen und Problemlagen dessen ergibt, was man immer noch Kapitalismus nennen muss« (ebd.). Die Hauptfigur verdichtet sich »zu einer Allegorie modernen Finanzkapitals« (ebd.), ja, er präsentiert sich »mit dem energischen Namen Eric Packer als Charaktermaske – oder besser noch: als Traum oder Vision – des aktuellsten Finanzkapitals« (ebd., S. 11), der nicht nur »schlaflos und überwach, exzessiv und manisch [agiert] er ist nicht nur überall und nirgends zuhause, ein Odysseus der Globalisierung und Weltbürger einer monetären Kosmopolis« (ebd.), sondern »ausgezeichnet wird er vielmehr durch das Begehren, die Schwerfälligkeit der materiellen Welt, das Reich der Körper- und Besitzzustände selbst hinter sich zu lassen. Er träumt vom Verlöschen der Gebrauchswerte, vom Schwinden der referenziellen Dimension, er träumt von der Auflösung der Welt in Datenströme und der Alleinherrschaft des binären Codes« (ebd.). Hier haben sich die Kräfte des Kapitals von der Sphäre der Produktion gelöst; die Kultur des Marktes ist ebenso total wie schwerelos geworden, »die Kapitalbewegung entgrenzt sich, befreit sich von den materiellen Erscheinungsformen des Reichtums und hat sich in einer ›Zeit jenseits von Geographie und greifbarem Geld‹ installiert« (ebd., S. 13). Das Rätsel undurchschaubarer ökonomischer Abläufe bezieht sich aber nicht nur auf die Finanzökonomie, deren Krisen und die durch sie ausgelösten Prozesse, sondern überhaupt auf ökonomische Abläufe. Das ›Gespenst des Kapitals‹ erscheint als Chiffre für jene irrationalen Kräfte, diejenigen Dynamiken, die den Lauf der

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Dinge bestimmen, ohne, dass man wüsste, warum und »nach welchen Regeln und mit welcher Logik sich hier Ereignisse mit Ereignissen verknüpfen« (Vogl 2010, S. 7). Und was für den ganzen ökonomischen Zusammenhang gilt, betrifft erst recht den »ökonomische[n] Menschenschlag« (Vogl 2021, S. 159), in dem sich Leidenschaften und buchhalterisch-ökonomisches Kalkül verbinden. Er »kommt nicht bloß mit rationalen und rechnerischen Talenten, sondern in Gestalt von besonders leidenschaftlichen Subjekten auf die Welt und kann noch die alten christlichen Laster in neue und profitable Aktivposten einwechseln« (ebd., S. 159). Hier verkoppeln sich Affekte und Ökonomie in dem, was Marx die »›abstrakte Genußsucht‹ des Kapitalisten nannte. Er meinte damit einen enthemmten Bereicherungstrieb, welcher das soziale Feld durchdringt und der Kapitalbewegung folgt, sich mit keinem konkreten Bedürfnis, mit keiner episodischen Befriedigung oder Erfüllung abgleichen lässt und als grenzenloses, unstillbares Vergnügen eine Einverseelung des Mangels in die Innenräume der ökonomischen Subjekte dokumentiert« (ebd., S. 159f.). Vogl führt an, dass sich parallel dazu seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein »enthemmtes ökonomisches Streben mit der Erbschaft des älteren [christlichen] Lasterkatalogs verschränkt« (ebd., S. 160). Hier siedelt er das Ressentiment an, dem man historisch einen wesentlichen Beitrag zur Ausbildung eines ›kapitalistischen Geistes‹ attestierte und »es zu einer ergiebigen Ressource für die Funktionsweise von Eigentums- und Konkurrenzgesellschaften erklärt« (ebd., S. 162). Das Ressentiment erscheint hier als eigentümliche Mixtur aus berechnender Vernunft und toxischen Empfindungen. Vogl sieht im Ressentiment mit seinen Strukturelementen einen wesentlichen Beitrag der Ausbildung des kapitalistischen Geistes. Mit der »eigentümlich gebrochene[n] Selbstaffirmation des Ressentiments-Subjekts, die sich nur als Resultat eines unbedingten Neins zu einem ›Außerhalb‹, zu einem ›Anders‹, zu einem ›Nicht-Selbst‹ vollzieht und also einer negativen Ableitung folgt« (ebd., S. 161), ist das Ressentiment, so Vogl, zu einem »allgemeinen sozialen und ökonomischen ›Mechanismus‹ geworden« (ebd., S. 162). Und er fügt hinzu, dass, neben

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einer verneinenden Selbstbejahung, weitere Strukturmerkmale hinzukommen, nämlich insbesondere die einer Verschiebung von Kräften in eine »passive Aktivität«, eine »Kultivierung von Ohnmacht«, die daraus resultiert, »dass die Objekte und Wesen der Außenwelt in unterschiedlichen Maßen mögliche Anlässe für eine gefühlte Kränkung und Verletzung, für einen Schmerz der Zurücksetzung werden können und sich mit einem Existenz- oder Lebensneid, mit einem brennenden Mangel an Sein spürbar machen, wobei das Gedächtnis als selbstverstärkender Mechanismus solcher Leiden funktioniert« (ebd., S. 161). Dem entspricht »ein punitives Verhältnis zu Objekten der Außenwelt«, eine gewisse ›Straffreudigkeit‹ und schließlich »eine Vorliebe für vermeintliche, unmittelbar greifbare Verkörperungen, mit der man Zurechnungen und Verantwortlichkeiten verteilt, eigene Nachteile mit fremden Vorteilen verrechnet, Schuldige identifiziert und selbst das, was womöglich ›den Verhältnissen‹ zukommt, noch personalisiert: ›Irgendjemand muss schuld daran sein, dass ich mich schlecht befinde‹« (ebd., S. 162). Der »Geist des Kapitalismus« ist demnach einer, in dem sich Affektökonomie und kapitalistische Gewinnund Profitsucht auf besondere Weise verzahnen. Es ist kein individuelles oder singuläres Subjektbefinden, kein Seelenzustand eines singulären Subjekts, sondern ein Beziehungsgefüge und eine Kommunikationsweise. Das Kapital liegt nun in einem »spezifischen Vergleichs- und Relationszwang, in einem Reflex zu Valorisierung und Bewertung, in einer wuchernden Urteilslust« (ebd., S. 163). Wie passen die objektiven Strukturen der globalen Vermögensungleichheit mit Anerkennungs- und Verteilungskämpfen, subjektiven, immateriellen Strukturen und Dispositionen etc. zusammen? Zentrale Fragen sind: Was verwandelt bloß materiellen Reichtum und materielles Kapital in ein Vermögen, das zirkuliert, übertragen und weitergegeben werden kann und sich – unangefochten – und quasi automatisch vermehrt? Ist die Akkumulation von Kapital eine rein ökonomische Angelegenheit? Oder setzt sich die Kapitalbewegung ins Subjekt hinein fort in triebökonomische Prozesse eines unerfüllbaren Mehr-Begehrens, das im Teufelskreis seiner phantasmatischen Struktur gefangen ist? Sind mentale Voraussetzungen im Spiel, die mindestens eine ebenso große Rolle

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spielen wie das Vermögen selbst? Wie wird aus Vermögen Kapital, das sich quasi automatisch vermehrt? Was treibt die Erben an, Kapital zu akkumulieren? Und wie machen sie es? Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein?

2.3 American Psycho – Warenfetisch Marx beginnt seine Ausführungen in ›Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie‹ mit der Darstellung von Ware und Geld und macht deutlich: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform« (1867; [1968], S. 49). Im Kapitel über den Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis überträgt Marx den Fetischbegriff sogenannter archaischer Gesellschaften und magisch-religiöser Zusammenhänge auf Erscheinungsformen der politischen Ökonomie und die bürgerlichkapitalistische Produktionsweise. Als Warenfetisch beschreibt Marx das quasi-religiöse dingliche Verhältnis zu den Produkten menschlicher Arbeit, die im Bewusstsein der Menschen nicht als solche, sondern als den Dingen eigentümliche Eigenschaften erscheinen. Mit der Metapher des Warenfetischs macht Marx Anleihen in der religiösen Welt: »Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebenregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist« (ebd., S. 86f.). Damit de-mystifiziert er die bürgerliche Ökonomie und Gesellschaft, die sich selbst als moderne, auf der Grundlage von Vernunft und Rationalität operierende beschreiben, indem er ihnen einen Spiegel vorhält, der zeigt, dass die Vernunft ein Mythos ist. Seine Analyse zum Fetischcharakter der Ware macht darauf aufmerk-

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sam, dass die Ware, die ja zunächst lediglich ein sinnlich-physischer Gebrauchsgegenstand ist, zugleich als Elementarform der bürgerlichen Ökonomie, etwas Rätselhaftes hat und dass dieses Rätselhafte der Warenform aus ihrer gesellschaftlichen Produktionsform, nämlich der Warenform selbst, herrührt, sich den Produzenten gegenüber aber verbirgt. »Der mystische Charakter der Ware entspringt also nicht aus ihrem Gebrauchswert. […] Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt« (Marx 1968, S. 86). Marx geht davon aus, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Produzenten zueinander eingehen, als solches nicht in den Blick geraten, sondern die Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses zwischen Dingen, zwischen ihren Arbeitsprodukten, erhalten. Und er fragt: »Woher entspringt also der rätselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es Warenform annimmt? Offenbar aus dieser Form selbst. Die Gleichheit der menschlichen Arbeiten erhält die sachliche Form der gleichen Wertgegenständlichkeit der Arbeitsprodukte, das Maß der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft durch ihre Zeitdauer erhält die Form der Wertgröße der Arbeitsprodukte, endlich die Verhältnisse der Produzenten, worin jene gesellschaftlichen Bestimmungen ihrer Arbeiten betätigt werden, erhalten die Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses der Arbeitsprodukte« (Marx 1968, S. 86). Dieser Fetischcharakter und die Mystifikation der Warenwelt entspringen nach Marx aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang der Warenproduktion. Sie zeigen sich nicht im Bewusstsein der Menschen, sondern erscheinen vielmehr als Eigenschaft der Waren selbst. Sie nehmen übersinnliche Gestalt an und verbergen, dass sie Produkte gesellschaftlicher Arbeit sind. Der Roman und Film American Psycho könnte als Illustration dieses Eingangsstatements von Marx und des Warenfetischs und

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seiner Verselbstständigung gegenüber menschlicher Arbeit gelesen werden: Hier erscheinen die ungeheure Warenansammlung und der Warenfetisch als gespenstisches Ambiente des Romans. Die Ware bildet hier – als Elementarform der Warengesellschaft – quasi den Hauptakteur der Ereignisse: Die Menschen, die damit beschäftigt sind, das Kapital zu vermehren und sich selbst von Kopf bis Fuß mit den edelsten Waren auszustaffieren, verschwinden gewissermaßen hinter den ästhetischen Oberflächen der Waren. Ihr Handel und Handeln wird vom Automatismus des Warenreichtums gesteuert, der jeden Atemzug bestimmt. Und während bei Marx die Ware, unter Absehung vom Warenkörper und allen seinen sinnlichen Eigenschaften, auf die – abstrakt menschliche – Arbeit zurückgeführt wird, wird hier von der in ihr steckenden Arbeit, vor allem aber vom Gebrauchswert der Waren, abgesehen; die sinnlichen Eigenschaften interessieren nur in der Verkörperung des Tauschwerts, in ihrer symbolischen Eigenschaft, Träger des Tauschwerts, der Ware, zu sein. Die Arbeit (zur Herstellung der Ware) rückt in den Hintergrund, sie gehört zu den Schattenseiten des Daseins. ›Arbeit ist Mist‹, sagen die Protagonisten, aber alle verrichten sie, um sich die Warenoberflächen und mit ihnen die Warenoberflächlichkeit leisten zu können. Sie identifizieren sich, besessen und exzessiv, mit der Ware als Ding, mit seinen sinnlichen Eigenschaften als Träger des symbolischen Werts; er spielt eine zentrale Rolle bei den sozialen und symbolischen Kämpfen der Wallstreet-Banker untereinander. Schon die Eingangsszene des Romans zeigt, wie dies gemeint ist: Timothy Price, der wie die anderen in Manhattan bei Pierce & Pierce arbeitet, schwadroniert auf sich selbst bedacht: »Ich bin einfallsreich, […] ich bin kreativ, ich bin jung, skrupellos, hoch motiviert, hoch qualifiziert. Will sagen, die Gesellschaft kann es sich nicht leisten, mich zu verlieren. Ich bin ein echter Aktivposten. […] Ich meine, Tatsache ist doch, dass sich niemand einen Dreck um seine Arbeit schert, jeder seinen Job hasst; ich hasse meinen Job, und du hasst deinen, hast Du mir erzählt. Also, was soll ich machen? Zurück nach Los Angeles? Keine Alternative. Dafür bin ich nicht von der UCLA nach Stanford gewechselt. […] Ich hab hier

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eine Eigentumswohnung. Ich hab ein Haus in den Hamptons, Herrgott nochmal« (Ellis 2010, S. 13f.). Worauf der – schwarze – Taxifahrer antwortet: »Nicht du, Junge. Deine Eltern« (ebd., S. 14). Erben. Was hier zählt, ist die Summe des Besitzes, an Waren, Immobilien, Kapital. Es zählt der Vergleich, die Bewertung, das Urteil. »Gerade die Kluft (oder genauer: der funktionale Zusammenhang) zwischen einer Gleichheit der Rechte und der Ungleichheit der Bedingungen, zwischen rechtlichen Gleichheitsversprechen und tatsächlichen Inkommensurabilitäten macht das dauerhaft erregte und dauerhaft enttäuschte Verlangen nach Abgleich und Vergleichbarkeit zu einer Quelle des Ressentiments [allerdings zu einer] die nicht diesen oder jenen kontingenten Umständen oder Empfindungen, sondern der ›Struktur‹ der liberalen Wirtschaftsgesellschaft selbst entspringt« (Vogl 2021, S. 163f.). Soziale und symbolische Kämpfe finden untereinander, mit den Waren- und Kapitalbesitzern der eigenen Klasse, auf dem ökonomischen und kulturellen Feld derer statt, die sich gleichermaßen ausweisen können. Mit Angehörigen anderer sozialer Klassen/Gesellschaftsschichten findet kein oder kaum sozialer Austausch statt; die ›anderen‹ rufen nur Ekelgefühle hervor, die es zu beseitigen gilt; ja, sie erscheinen als – menschlicher – Müll; (z.B. die 30 ›Penner‹, von denen später einer von Patrick Bateman umgebracht wird; der Künstler, der auf die Geburtstagsparty der Verlobten eingeladen ist und mindestens zehn Kilogramm zu viel auf den Rippen hat, also den Körpercodes und -normen der Crew nicht entspricht). »Ich hasse es – wirklich, ich hasse es –, mich immer wieder über diesen Dreck zu beschweren, über den Müll, den Aussatz, darüber, wie zutiefst verkommen diese Stadt ist […]«. Und während sein Blick auf das Outfit seines Kollegen fällt und er ihn beiläufig fragt, warum der nicht »den Blazer aus marineblauem Kammgarn zu der grauen Hose trägt« (ebd., S. 15) und sich fragt, wer wohl alles zu der Geburtstagsparty eingeladen ist, zählt er die Stadtstreicher auf den heruntergekommenen »Straßen da draußen« (ebd., S. 17) – und

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obwohl er feststellt, dass die Stadt da draußen voller verabscheuungswürdiger Existenzen »Achtundzwanzig, neunundzwanzig, heilige Scheiße, das ist ja ein verdammtes Nest von Pennern« (ebd.) ist, kommt er unvermittelt zu der Auffassung: »Ich bin moralisch gefestigt, tolerant, also ich bin mit meinem Leben wirklich hochzufrieden, ich blicke optimistisch in die Zukunft […] ich meine, du etwa nicht?« (ebd.). Der Protagonist und Erzähler Patrick Bateman arbeitet wie die anderen auch, vervielfältigt das Vermögen, in das er hineingeboren ist. Als seine Verlobte ihn fragt, warum er, da er die Arbeit doch hasst, nicht längst gekündigt hat, die Firma würde ja ohnehin ihm gehören, antwortet er: »Weil ich versuche, dazu zu gehören.« Wie ist das zu verstehen? Die Zugehörigkeit zur Elite, so wird im Roman wie im Film veranschaulicht, stellt sich über Besitzstände, Marken- und Körperbewusstsein sowie über Körperpflege, Ernährung und das Einhalten eines Fitnessprogramms, Tischreservierungen in angesagten Restaurants etc., her. Dazu modebewusste, stilvolle und elegante Kleidung sowie ein souveränes Auftreten. Es geht also um das Führen eines bestimmten Lebensstils. Neben der Konkurrenz um Aufträge und Abschlüsse werden die symbolischen Kämpfe deutlich; verschiedene Szenen veranschaulichen die – spielerischen – Kämpfe der Kollegen untereinander: es geht darum, wer die edelste, eleganteste Visitenkarte hat. Auch, wer es am Freitagabend geschafft hat, in einem angesagten teuren Restaurant einen Tisch zu reservieren. Die Feststellung, ›weil ich dazu gehören will‹, verweist auf Prozesse, die zunächst undurchsichtig sind, aber auf materielle Dinge, Praktiken des Konsums zurückzuführen sind. Soziale Zugehörigkeit wird, so scheint es, über Besitzstände und symbolische Kämpfe hergestellt. Der gebrochenen Selbstbejahung entspricht die negative Beziehung zu allem, was ›anders‹ und außen ist (»da draußen«, das ist die Straße, das sind diejenigen, die nicht so sind, wie man selbst, die nicht dieselbe Markenkleidung schätzen etc.). Das Selbst wird damit identifiziert, welche Markenwaren man besitzt, was man am Leib trägt, wie die Marken den Körper und das eigene Selbst präsentieren, und wie sie sich darstellen. Aber: Hier kommt das Ressentiment als Struktur ins Spiel, die affektive Interpreta-

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tion von Machtverhältnissen, die Wahrnehmung von Divergenzen und Konkurrenzen. Anstelle von Empathie sind kompetitive Formen der Darstellung und des Wettbewerbs sowie Skrupellosigkeit und die Besessenheit von den Waren-Oberflächen im Spiel. Um mithalten zu können und »einigermaßen gleichzuziehen« zückt Patrick Bateman seine neue Visitenkarte. Er holt sie aus seiner »Brieftasche aus Gazellenleder (Barneys, 850 Dollar)«, und eröffnet so das Spiel: einer nach dem anderen zeigt seine – neue – Visitenkarte, eine edler als die andere, die Schrift, das Material; es ist wie beim Poker, einige haben ein Ass im Ärmel! »›Neue Karte‹. Ich versuche lässig zu sein, grinse aber stolz. ›Was haltet ihr davon?‹ ›Holla‹ sagt Mc Dermott ehrlich beeindruckt, nimmt sie in die Hand und befühlt sie. ›Sehr schön. Sieh mal‹. […] ›Coole Farbgebung‹, sagt Van Patten und betrachtet die Karte genau. ›Das ist elfenbein‹, erkläre ich ihm. […] ›Die ist sehr cool‹, sagt Van Patten zurückhaltend, der neidische Hund. ›Aber das ist noch garnichts…‹ Er zückt seine Brieftasche und klatscht eine Karte neben einen Aschenbecher. ›Sieh dir das an.‹ Wir beugen uns alle vor und alle inspizieren Davids Karte, und Price sagt leise: ›Die ist wirklich nett.‹ Kurz durchzuckt mich Eifersucht, als ich die Eleganz der Farbe und die noble Schrifttype sehe. Ich balle die Faust zusammen, als Van Patten selbstgefällig sagt: ›Eierschalenfarben, Romana…‹ […] ›Aber wartet…‹, sagt Price. ›Das ist überhaupt nichts…‹ Er holt seine Karte aus einer Jackettinnentasche, dreht sie langsam, dramatisch um, damit wir sie inspizieren können und sagt: ›Meine.‹

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Selbst ich muss eingestehen, dass sie grandios ist« (Ellis 2010, S. 68f.). Und schließlich geht der Wettbewerb beim Essen und den Getränken weiter. Immer weiter. Wie besessen vom symbolischen Wert der Dinge! Diese Gleichgültigkeit und die Sucht nach Zerstreuung müssen gelernt werden; oder sind sie nur die Kehrseite der Waren, die gegen die Gebrauchswerte gleichgültig sind, gegen die Menschen, die sie herstellen oder kaufen? Welche unbewussten Prozesse laufen da ab? Welche Ressentiments werden erzeugt? Welche Strukturelemente verbinden sich hier zu einer Affektökonomie, die sich in den Subjekten spiegelt und nach außen kehrt? Es geht um mehr als nur die metaphorische Erweiterung des Kapitalbegriffs um kulturelle und soziale Dimensionen; es geht um Affektökonomien, die als Kapital eingesetzt werden und sich mit dem ›kapitalistischen Geist‹ und mit einem Subjekt verbinden, dessen Begehren und Triebökonomie das immaterielle, psychische Kapital bildet. Die psychischen Dispositionen regeln und sichern nicht nur den Zugang zu sozialen Positionen, sondern bringen sowohl das materielle als auch das immaterielle Kapital und Erbe erst hervor. Dem »Geist des Kapitalismus« (Weber) entspricht eine affektökonomische Basis, die das Subjekt als Instrument eines marktökonomischen Systems einsetzt, das soziale Zugehörigkeit über Gewinne und Profite regelt und im Subjekt eine »Ökonomie des Ressentiments durch ein zirkulierendes Fehlen und die konsequente Produktion von Knappheit« (Vogl 2021, S. 165) installiert. Diese Knappheit, die subjektiv als Mangel erscheint und das Begehren immer wieder entfacht, setzt einen Teufelskreis in Gang, der den Besitz und die Konkurrenz mit dem Phantasma des Mangels verbindet: Der andere hat etwas, was immer schon weggeschnappt wurde, was auf ein Nicht-Haben und eine Entbehrung zurückgeführt wird: »jedes Zuviel ein Zuwenig und jeder Überfluss eine Entbehrung« (ebd.). Das Ressentiment kann, so führt Vogl weiter aus, auf den Mangel und dieses Gefühl der Entbehrung zurückgeführt werden, es »leidet am Diebstahl dessen, was nie besessen wurde, es laboriert an einer unzugänglichen, vermuteten und unterstellten Fülle im Anderen, die es nicht gibt und die gerade deshalb dazu führt,

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dass sich der eigene Mangel im Phantasma eines fremden Appetits oder Genießens spiegeln kann« (ebd.). Und es kommt ein wichtiger Aspekt hinzu: Im Ressentiment verzahnt sich »die Abstraktheit der Genusssucht mit einer ebenso abstrakten Vergeltungssucht« (ebd.), die im ständigen Vergleich und mit der Konkurrenz assoziiert, ökonomisch produktiv wird. Das Ressentiment setzt sich so, als ›negative‹ Leidenschaft, eingesetzt als Kapital, in eine subjektive Disposition um, die sich in der Konkurrenz als kapitalistische Wertschöpfung ausweist. Es verbindet sich, so Vogl weiter, mit der »inneren Grenzenlosigkeit« eines Triebs, der den Unterschied zwischen Begehren und Bewerten nicht kennt und im Grunde, auch im Überfluss, immer Knappheit und Neid produziert. Auf diese Weise gibt es zwischen Marktökonomie und Affektökonomie eine Korrespondenz. Neben dem materiellen Erbe sind es immaterielle, soziale und symbolische ›Lern- und Übertragungsprozesse‹, die das soziale Erbe und die soziale Position durch Abgrenzung, Klassifikationskämpfe und Unterscheidungsvermögen als komplexes Arrangement von Dispositiven ›erzeugen‹ und Dispositionen hervorbringen. Als Ausdruck einer differenziellen Position im sozialen Raum unterliegen sie einer quasi magischen Form der Beeinflussung und Besitzergreifung, wodurch sie materiellen Reichtum sichern und unbewusst die Rekrutierung und Sicherung sozialer Positionen gewährleisten – vorausgesetzt, dass neben dem materiellen, ökonomischen Kapital auch immaterielles Kapital, psychische Strukturen und die auf unbewussten Unterscheidungsund Schließungsmechanismen beruhenden Dispositionen, die permanent in der Gesellschaft und in den Bildungsinstitutionen zirkulieren, existieren. Bourdieu erweitert den klassischen ökonomischen Kapitalbegriff – sozusagen metaphorisch – um die Kategorien des kulturellen (Wissen, Bildungstitel etc.), sozialen (Beziehungsnetzwerke) und symbolischen Kapitals (soziale Anerkennung). Er nimmt an, dass die soziale Ordnung das Resultat von Anerkennungs- und Verteilungskämpfen zwischen den verschiedenen Klassen in sozialen Feldern ist, die nicht allein ökonomisch determiniert, sondern von historisch und kulturell erworbenen Macht(dis)positionen abhängig

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sind, die jeweils zum Einsatz kommen. Ressourcen dieser Verteilungskämpfe sind zum einen die verschiedenen Kapitalsorten, der Habitus, der Geschmack und der (Lebens-)Stil, zum anderen die entsprechenden Dispositionen, die in den symbolischen Kämpfen auf dem Spiel stehen. Hier treten materiell und immateriell ererbte, körperlich angeeignete und einverleibte Prinzipien sowie Haltungen, die dafür sorgen, dass die gesellschaftlichen Teilungspraktiken reproduziert werden, gegeneinander an.

2.4 Magische Wirkungen der Einteilung der Welt Die Soziologie setzt es sich zum Ziel, wie Bourdieu ausführt, »die verborgensten Strukturen der verschiedenen sozialen Welten, aus denen das soziale Universum besteht und letztlich die für deren Reproduktion verantwortlichen ›Mechanismen‹ zum Vorschein zu bringen« (Bourdieu 2004, S. 13). Er geht davon aus, dass eine Erforschung der objektiven Strukturen gleichsam automatisch auch immer die der kognitiven (und psychischen, mentalen) Strukturen impliziert, denn es »besteht ja eine Übereinstimmung zwischen den sozialen und den mentalen Strukturen, zwischen den objektiven Einteilungen der sozialen Welt – namentlich in Herrschende und Beherrschte – und den Visions- und Divisionsprinzipien, die die Akteure auf sie anwenden« (ebd.). Explikative Kraft hat die Analyse der – objektiven – Strukturen nach Bourdieu nur dadurch, dass sie die Wahrnehmungs-, Bewertungsund Handlungsschemata in die Analyse einbezieht, die die Akteure in ihren Urteilen und Praktiken verwenden. Es handelt sich bei dem, »worum es in der sozialen Welt geht, nicht um träge und austauschbare Materiepartikel, sondern um unterscheidbare und mit Unterscheidungsvermögen ausgestattete Akteure, die die unzähligen Ordinierungsoperationen durchführen, durch die die soziale Welt sich beständig reproduziert und verändert« (ebd., S. 14). Entscheidend für Bourdieu ist, dass die Akteure nicht in vollem Bewusstsein handeln, also

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»keine in voller Kenntnis der Sachlage handelnde Bewußtseine (sind). Das Unterscheiden […] ist nicht der geistige Akt eines Bewußtseins, das sich seine Ziele in einer wohlüberlegten Wahl zwischen als solchen durch einen Plan konstituierten Möglichkeiten explizit setzt. Es ist vielmehr die praktische Operation eines Habitus, das heißt generativer Schemata des Klassifizierens und klassifizierbarer Praktiken, die in der Praxis fungieren, ohne zur expliziten Vorstellung zu gelangen und die, in Form von Dispositionen das Produkt der Inkorporation einer differentiellen Position im sozialen Raum sind« (ebd., S. 14). Und da der Habitus genetisch wie strukturell mit einer Position im sozialen Raum verknüpft ist, tendiert er dazu, durch die Schemata (die im Grunde die inkorporierte soziale Position sind), die für den sozialen Raum konstitutiven Positionen (oder vielleicht besser: Polarisierungen von hoch/niedrig etc.) zum Ausdruck zu bringen (etwas wie »ich bin oben oder unten und habe mich daran zu halten« (ebd., S. 15). Laut Bourdieu dient dieses Verfahren dazu, eine Identität zu wahren, die auf der Differenz beruht: Der Habitus »liegt auch den Reproduktionsstrategien zugrunde, die auf eine Aufrechterhaltung der Abstände, der Abweichungen der Ordnungsrelationen zielen, womit er praktisch (und nicht bewußt und willentlich) zur Reproduktion des ganzen für die soziale Ordnung konstitutiven Systems von Unterschieden beiträgt« (ebd., S. 15). Damit geraten jene Machtformen in den Blick, die sich nur mit der aktiven Mitwirkung der Akteure, die sie ausüben oder ihnen unterworfen sind, entfalten können. Es ist eine Form der symbolischen Gewalt, die nur sichtbar wird, wenn man die Beziehungen zwischen den objektiven Strukturen (Institutionen, Vermögen, Kapitalsorten) und den gesellschaftlich vermittelten Dispositionen derer, gegen die sie ausgeübt wird, offenlegt und im Detail sichtbar macht. »Das Mirakel symbolischer Wirksamkeit löst sich auf, sobald man gewahr wird, daß dieser wahrhaft magischen Form der Beeinflussung oder […] Besitzergreifung nur in dem Maße Erfolg beschieden ist,

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wie derjenige, der ihr unterliegt, zu ihrer Wirksamkeit beiträgt; daß sie nur in dem Maße Zwang auf ihn ausüben kann, wie er durch einen vorangegangenen Lernprozeß prädisponiert ist, sie anzuerkennen. Das heißt, es ereignet sich nur dann wirklich, wenn die Wahrnehmungs- und Handlungskategorien, die in die dem Willen und der Macht der Institution erst Realität verleihenden individuellen Akte – […] – eingehen, sich mit den objektiven Strukturen in unmittelbarem Einklang befinden, weil sie das Produkt der Inkorporation dieser Strukturen sind« (ebd., S. 15f.). Bourdieu geht also von einer unmittelbaren Korrespondenz von objektiven und mentalen Strukturen aus, die Dispositionen hervorbringen, die zur Aufrechterhaltung von Macht und Herrschaft – und in unserem Fall, der Rekrutierung von Eliten und dem Ausschluss derer, die nicht zu den vermögenden und reichen Familien gehören, notwendig sind. Und er nimmt an, dass diese Korrespondenz zudem auf einem »stillschweigend gebilligten Zwang«, einer ›Komplizenschaft‹ zwischen den objektiven Strukturen und den Dispositionen derer, die ihnen unterworfen sind, beruht. Diese Unterwerfung erfolgt nicht aus freien Stücken, sie beruht auch nicht auf purer Gewalt, sondern sie ist Ausdruck und – inkorporierter – Effekt von Herrschaftsverhältnissen, denen, um mit Marx zu sprechen, die Herrschenden wie auch die Beherrschten unterworfen sind. Diese Unterwerfung entzieht sich der bewussten, freien Entscheidung des Subjekts. Es handelt sich, so Bourdieu, vielmehr um eine besondere Form von Zwang, eine symbolische Gewalt, »die nur mit der aktiven Komplizenschaft derer wirksam werden kann, die ihr unterworfen und doch nur in dem Maße determiniert sind, wie sie sich der Möglichkeit einer auf Bewußtwerdung beruhenden Freiheit begeben. Auf dieser ursprünglichen Komplizenschaft zwischen den kognitiven Strukturen und den objektiven Strukturen, deren Produkt erstere sind, basiert jene unmittelbare und unumschränkte Unterwerfung, die der doxischen Erfahrung der Welt zu eigen ist, in die man hineingeboren wurde, einer Welt ohne Unvorhergesehenes, in der alles als selbstverständlich gelten kann, weil die immanenten Tendenzen der bestehenden Ord-

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nung beständig Erwartungen entgegenkommen, die spontan dazu neigen, ihnen voraus zu eilen« (ebd., S. 17). Dem liegt die Annahme einer Homologie von objektiven und subjektiven Strukturen (des sozialen Raums) zugrunde. Bourdieu geht davon aus, dass die objektiven Strukturen auf mentale Strukturen treffen, die aus jenen hervorgegangen sind. Und nur dadurch, dass die mentalen Strukturen »objektiv auf die sozialen Strukturen des Mikrokosmos abgestimmt sind«, kann der »stillschweigend gebilligte Zwang« (ebd.) unweigerlich wirksam werden. Dadurch tragen sie zur Ausübung der symbolischen Gewalt und Herrschaft bei, die über sie und das heißt, über ihr Unbewusstes ausgeübt wird. Da die Praktiken, die die Prinzipien steuern, unbewusst bleiben, sorgen sie zum einen für die Verteilungsstruktur des ökonomischen und kulturellen Kapitals und zum anderen für die Wahrnehmungsund Bewertungsprinzipien, Dispositionen, die ja nur die umgewandelten Formen der Kapitalsorten sind. Diese Unterwerfung unter die objektiven Strukturen gilt für die ›Auserwählten‹, die Eliten und deren elitäre Praktiken wie auch für die, die ausgeschlossen sind aus diesem Kreislauf der Erbschaft (des Vermögens, des Reichtums an Kapital). Beide unterliegen mentalen Strukturen, die sie optimal ausstatten für ihre Position im sozialen Raum, indem sie ihnen das richtige Bewusstsein oder vielleicht besser, den Sinn oder noch besser, ein angemessen entwickeltes Gespür für den eigenen Platz im sozialen Raum vermitteln. Wie Kafka in seinem ›Amerika‹-Roman deutlich macht, ›jeder an seinem Platz‹, das ist die Botschaft dieser inkorporierten, quasi bis ins Knochenmark einverleibten Visions- und Divisionsprinzipien. Wo gehöre ich hin? Was kann ich erwarten? Was darf ich hoffen? Was ist mir – oder den anderen – verwehrt? Liegt hier ein Automatismus zugrunde? Geschieht es automatisch, die Zuteilung zu einem Platz – und die innere Bejahung dieser Verfügung? Oder muss etwas hinzukommen? Sind Prozesse wichtig, die unbewusst ablaufen, vom Subjekt akzeptiert und hingenommen werden oder wäre alles auch anders möglich? Aber wenn ja, warum unterwirft sich das Subjekt scheinbar fraglos objektiven Auswahlprozessen? Wenn es sich nicht um eine rationale Wahl und überlegte Entscheidung handelt, was bringt die Subjek-

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te, Erben und Nicht-Erben, dazu, die für sie vorgesehene Position einzunehmen? Welche Phantasmen oder irrationalen Prozesse liegen hier vor? Wie zirkuliert das Erbe? Welche Übertragungen finden hier statt?

2.5 Magische Grenzen – oder die Natur sozialer Unterschiede Die Auswahl der Auserwählten, der Erben, vollzieht sich, so Bourdieu, dadurch, dass sie, durch ökonomisches und kulturelles Kapital ausgestattet, die entsprechenden, den objektiven Strukturen angepassten Dispositionen ausbilden und diese, tief verankert in körperlichen und psychischen Haltungen, immer wieder reproduzieren – und damit auch die Reproduktion von Elitepositionen gewährleisten. Das kulturelle Kapital entscheidet über ihren Status als »Auserwählte«, es wird beiläufig vererbt und ›übertragen‹. Es ist die Frage, wie das konkret funktioniert, worin diese Form der Vererbung und Übertragung besteht, wenn man abbildtheoretisch oder korrespondenzanalytisch nicht dabei stehen bleiben will, dass die Dispositionen einfach ein strukturelles Abbild der Strukturen bilden oder eben einfach mit objektiven Strukturen korrespondieren. Ein wichtiges Element ist die symbolische Einschließung. Segregation und Einschließung konstituieren eine »Logik der magischen Teilhabe«, die die Funktion der Herstellung und Konzentration von symbolischem Kapital haben (vgl. Bourdieu 2004, S. 100). Die Logik der Absonderung und Einschließung beruht auf sozialer Ähnlichkeit. Es geht darum, Erben zu produzieren, die sich wie Erben verhalten. Die Herstellung des Adels erfordert spezifische Techniken, die gewährleisten, dass die herrschenden Positionen wieder von dessen Nachfolgern besetzt werden. Bourdieu spricht allerdings bewusst nicht nur von Techniken und technischen Effekten, sondern von einer Weihezeremonie, einem »Institutionsritus, der eine abgetrennte und geweihte Gruppe herstellen soll« (ebd., S. 93). Damit stellt er die scheinbar rationale Auswahl und Rechtfertigung der Ab- und Ausschließungen in Frage und zeigt, dass die techni-

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schen Effekte pädagogischer Handlungen (der Eliteschulen) darin bestehen, »ihre soziale Funktion der rituellen Ausschließung zu verdecken und eine anscheinend rationale Rechtfertigung für die Weihezeremonien zu liefern, mit denen die scheinbar rationalen Gesellschaften ihren Adel produzieren« (ebd., S. 93). Die Reproduktion der Eliten erfolgt demnach durch ›Mechanismen‹, die quasi ›magische‹ Grenzen zwischen denen errichten, die ausgewählt sind und die dazu gehören und denen, die ausgeschlossen und ausgestoßen werden. Es sind magische Operationen der Separation und Aggregation, die, wie Bourdieu ausführt, zur »Produktion einer geweihten Elite« (ebd., S. 125) führen. Dabei handelt es sich um eine Elite, »die nicht nur anders und abgesondert ist, sondern darin auch als solche anerkannt wird und diese Anerkennung für wohl berechtigt hält« (ebd.). »Die schulische Weihe muss dafür sorgen, dass die Grenzziehung der ›Elite‹ […] von denen, die sie ausschließt, genauso anerkannt werden, wie von denen, die sie einschließt« (ebd., S. 127). Dabei werden die elitären Operationen und Dispositionen mit symbolischer Anerkennung ausgestattet, als Besondere markiert und verstärkt. Es gibt gewissermaßen ›liturgische Bedingungen‹, die die Disposition zur Anerkennung produzieren: »das Ensemble der Vorschriften, die die Form der öffentlichen Autoritätsausübung regeln, die Etikette der Zeremonien, der Code der Gesten und die offizielle Abfolge der Riten« (Bourdieu 1990, S. 79). Aber das sind nur die sichtbarsten Elemente; die Anerkennung resultiert aus der Kollaboration derjenigen, die durch eine Logik der magischen Teilhabe auserwählt sind. Es sind verborgene soziale Mechanismen, die hier wirksam sind, die auf einem Ensemble der sorgfältigen (Vor-)Auswahl beruhen: »Das Vorrecht verwandelt sich dank der Anerkennung in Adel.« (Bourdieu 2004, S. 100) Dieser Effekt wird ständig bestätigt. Die ausgewählten Subjekte unterwerfen sich in einem andauernden Prozess der zirkulären Verstärkung der Anerkennung ihres Handelns und ihrer Dispositionen durch die ›Glaubensgemeinschaft‹ der Gruppe.

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Nach dem Muster »geweiht wird, wer sich hingibt« (ebd., S. 126), werden diejenigen als Begabteste bezeichnet, die sich schulischen Operationen unterordnen; sie werden durch Einziehen einer Grenze zu ›den anderen‹ einer ›weihenden Distinktion‹ unterzogen, die ihnen das Gefühl der Besonderheit und die Kraft einer kollektiven Vorstellung, wenn nicht Ideologie vermitteln. Wer von der Schule, dem Bildungssystem ›geweiht‹ wird, war bereits vorher, wie Bourdieu ausführt, »gleichgültig wie weit man zurückgeht, abgetrennt oder, wie es heißt, von seinesgleichen abgeschnitten« (ebd., S. 131). Es sind Einsetzungsakte, die sozialen Unterschieden erst magische Wirkung verleihen; durch Einsetzungs- und Institutionsriten, die Bourdieu als Akte sozialer Magie bezeichnet, erscheinen soziale Klassengrenzen als natürliche Differenzen. Die Rituale dienen dazu, die Unterschiede zu zementieren, die Erben als Erbberechtigte zu erzeugen und die anderen auszuschließen. »Werde, was Du bist. Dies ist die Formel, die der performativen Magie aller Einsetzungsakte zugrunde liegt« (Bourdieu 1990, S. 88). Es geht darum, dass Erben sich wie Erben verhalten und sich der Klassengrenzen und der eigenen Distinktion bewusst sind. Die durch eine Art ›Ernennung‹ Unterschiedenen und Eingeschlossenen sind sich ihres ›Schicksals‹ bewusst, um nicht zu sagen, sicher. »Alle sozialen Schicksale, ob positiv oder negativ, Sanktionierung oder Stigma, sind gleichermaßen fatal – ich meine: tödlich –, weil sie die dergestalt Unterschiedenen in die Grenzen einschließen, die ihnen zugewiesen sind und die sie anerkennen müssen. Der Erbe, der auf sich hält, wird sich als Erbe benehmen und vom Erbe geerbt werden, wie Marx sagt, das heißt, in die Dinge eingehen, von den Dingen appropriiert werden, die er appropriiert hat. Allerdings nur, wenn alles gut geht« (Bourdieu 1990, S. 88f.). Und dieser Zusatz »allerdings nur, wenn alles gut geht«, weist darauf hin, dass es auch anders laufen kann; »es gibt natürlich auch den unwürdigen Erben, den Priester, der den Rock an den Nagel hängt, den Adligen, der sich gemein macht oder den Bürger, der sich mit dem Pöbel einlässt. Da ist sie dann wieder, die heilige Grenze« (ebd., S. 89). Darin besteht die Funktion magischer Grenzen; »diejenigen,

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die innen sind, müssen daran gehindert werden, hinauszugehen, sich gemein zu machen« (ebd.). Dadurch verhindern die distinktiven Grenzen die Durchlässigkeit der Klassen, sie feien dauerhaft gegen die Versuchung, die Klassengrenzen zu überschreiten, »aus der Klasse zu fallen«, wie Bourdieu annimmt (ebd., S. 89). Einsetzungsrituale verleihen sozialen Unterschieden also erst die gravierende Wirkung und zwar, indem sie sie als natürliche erscheinen lassen und befestigen. Es sind Akte der Naturalisierung, die ein Wissen um ›natürliche‹ Grenzen errichten: »Die Einübungsarbeit, mit der die bleibende Festlegung der willkürlichen Grenze vollzogen wird, kann dazu dienen, die nach Gutdünken vorgenommenen Zäsuren, auf denen die kulturelle Willkür besteht – […] – in Gestalt eines Wissens um die Grenzen für natürlich zu erklären und dieses Wissen bringt dann die einen dazu, sich standesgemäß zu verhalten und Distanz zu wahren, und die anderen, an ihrem Platz zu bleiben und sich mit dem zu bescheiden, was sie sind, also zu sein, was sie sein sollen, sodaß sie auf diese Weise selbst noch des Gefühls der Entbehrung entbehren« (Bourdieu 1990, S. 90).

2.6 Soziale Magie der Erben: quasi-religiöse Zirkel – Glaubenssätze Es ist die Frage, ob das so funktioniert, dass die, die aus den Elitepositionen und den Möglichkeiten, diese zu erreichen, ausgeschlossen werden, sich mit dem, was ihnen zugewiesen wurde, auch innerlich begnügen. Bourdieu geht davon aus, dass die Wenigen »aus den beherrschten Regionen des sozialen Raums«, denen das Überschreiten der Grenze, welche die ›Masse‹ von der ›Elite‹ trennt, und die Aufnahme in diesen Zirkel von Weihe und Anerkennung gelingt, immer schon abgetrennt, ›abweichend‹ von der Masse waren; hier zählen außerordentliche ›Begabungen‹, Fähigkeiten und Auszeichnungen. Er spricht von einer »doppelten Isolierung des Parvenüs«, der sich einerseits durch die schulischen Weiheriten in der Realität und

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im Bewusstsein ausgewählt, andererseits nicht wirklich zugehörig fühlt. »Im Bewußtsein durch den aufgrund der Weihe eingeprägten naiv elitären Stolz, der das verdeckte Schuldgefühl des Überläufers verdeckt und die doppelte Isolierung des Parvenüs vergessen lässt, ohne allerdings die Sehnsucht nach einem Zurück in die ursprüngliche Gemeinschaft ganz zunichte machen zu können, die auch als Zufluchtsort gegen die Zurückweisungen wahrgenommen wird, die die angenommene Welt den Grenzgängern entgegenbringt« (ebd., S. 131). Nach Bourdieu sind die Haltung zur Welt und der Habitus Teil des Erbes, Teil einer Hinterlassenschaft, die, obwohl sozial vererbt und übertragen, natürlich wirken. Man hält diese Dinge nicht rechtlich abgesichert und verbürgt in einem Testament fest und unterschreibt ihre Weitergabe auch nicht als Bestandteil eines materiellen Erbes, sondern sie sind Teil eines Erbes, das man unbewusst in die nächste(n) Generation(en) überträgt, es fortschreibt und dafür sorgt, dass diese es aufnehmen, speichern und sich ›einverleiben‹. Dieses kulturelle und soziale Erbe wird den Erben als Vermächtnis gewissermaßen ›eingeflößt‹, ob sie es wollen oder nicht. Die Übertragung findet statt, ohne dass jemand das bewusst geplant hat. Es werden Dispositionen vererbt, die, ungeplant und scheinbar wie von unsichtbarer Hand gesteuert, Individuen hervorbringen, deren Entscheidungen und Verhalten eingeschliffenen Mustern folgen. Nach dem ideologischen Muster »Du kannst es/alles schaffen, wenn Du nur willst« folgen diese Muster dem Bekenntnis individueller Anstrengung und Leistung, ein Bekenntnis, das auf der Folie bürgerlicher Disziplin vielleicht noch Sinn macht und vom Ethos einer prinzipiengeleiteten Lebensweise bestimmt wird, wobei fraglich bleibt, ob dies je funktioniert hat. Sicherheitsdenken (natürlich für die eigene Familie und Klasse) steht an erster Stelle oder, wie Trump gesagt hätte, security first! Für die anderen erweisen sich diese Muster und diese Strategien als bedeutend unsicherer. Hier wird das Vertrauen auf Sicherheit und die eigene Arbeit fast täglich enttäuscht: in Krisenzeiten gehen Tausende Arbeitskräfte, bestenfalls mit einer ›Abfindung‹ (die für Manager und professionelle

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Fußballtrainer in die Millionen geht, die Arbeiter und Angestellte aber höchst unzureichend absichert), aber immer ohne langfristige Unterstützung in die Arbeitslosigkeit. Daraus ergeben sich natürlich auch ein anderes Auftreten, eine andere (Selbst-)Darstellung, andere Dispositionen. Beide Dispositionen unterliegen der performativen Wiederholung, ja, gewissermaßen einem Wiederholungszwang, der aber nicht individuell, sondern gesellschaftlich begründet ist. Sie dienen als Rechtfertigung sozialer Ungleichheit, erscheinen sie doch als gewissermaßen ›natürliche‹ Ausstattung der Individuen und sozialer Klassen. Was vererbt wird, ist zum einen eine Haltung der Absicherung von Privilegien, gepaart mit einer gewissen Arroganz gegenüber den ›Abgehängten‹, zum anderen eine Haltung der Unterwerfung und Bescheidenheit, man könnte auch sagen, der Demut, die sich mit dem abzufinden scheint, was einem zugedacht oder zugeteilt wurde. Wenn man mit Bourdieu von einer Korrespondenz bzw. Homologie von sozialen und mentalen Strukturen ausgeht, erscheinen Denk- und Wahrnehmungsformen gewissermaßen ›objektiv‹ erzwungen; sie erscheinen als »ensemble von dauerhaften und übertragbaren Dispositionen« (Wacquant 1996, S. 32; vgl. Bublitz 1998, S. 84). Es findet eine Übertragung eines kollektiven Unbewussten statt, ohne dass die Subjekte sich ausdrücklich dazu bekennen, so nimmt Bourdieu an. Dieses Unbewusste bildet »den geometrischen Ort aller symbolischen Ausdrucksformen« (ebd. 1970, S. 125), die sich sowohl in den Denkweisen als auch in den Praktiken, der Architektur, den Künsten etc. finden. Die Korrespondenz von objektiven und mentalen Strukturen und die Übertragung von Dispositionen an die Erben bildet einen der solidesten Garanten sozialer Macht und Herrschaft. Aber wie diese Übertragung konkret stattfindet, scheint mir nicht hinreichend geklärt. Handelt es sich um einen Automatismus, der unterhalb der Schwelle des Bewusstseins abläuft? Welche Rolle spielen die Subjekte bei diesen Übertragungsprozessen? Findet Übertragung auf triebökonomische Art und Weise oder, wie Bourdieu immer wieder nahelegt, quasi-automatisch, ›wie von selbst‹, wenn nicht, von ›unsichtbaren Händen gesteuert‹ statt? Übertragung könnte auch ›osmotisch‹

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gedacht werden: immer wieder weist er auf ein quasi-osmotisches Wissen hin. Das würde ja voraussetzen, dass die Grenzen der Materie, der objektiven und subjektiven Strukturen durchlässig sind. Auch die ›Einkörperung von Gewohnheiten‹ weist darauf hin, dass es keine festen Grenzen zwischen dem Körper, den Dingen der Umwelt und den verkörperten Praktiken gibt. Zudem sind die Ausdrucksformen, Praktiken und Dispositionen Gegenstand permanenter symbolischer Kämpfe, in die das Subjekt, ungewollt oder bewusst, verstrickt ist und bei denen – klassenspezifisch und individuell verfügbare – Einsätze gemacht werden. Die Einsätze sind, so Bourdieu, abhängig von den in vorangegangenen Kämpfen errungenen Erfolgen oder Niederlagen; Ressourcen bilden die diversen Kapitalsorten, es geht um den Erwerb sozialer Positionen und symbolische Anerkennung, schließlich, so Bourdieu in seiner Auseinandersetzung mit neoliberalen Diskursen, Finanzmärkten und ihrer Logik, um das ›worldmaking‹, darum, wer – im weltweiten Globalisierungsprozess – das ›Sagen‹ hat, den Ton angibt. Das Modell des Kampfes, des Spiels und des Marktes, an dem sich der mit den besten Karten durchsetzt, bildet in diesem Konzept die Folie für die Struktur der Gesellschaft und die entsprechenden Subjektivierungsformen. Interessant ist in unserem Zusammenhang, dass Bourdieu, sowohl in seiner Auseinandersetzung mit dem elitären Bildungssystem als auch mit neoliberalen ökonomischen Diskursen auf religiös-theologische Metaphern zurückgreift. So spricht er vom »Konzil der Buchhalter« und bezeichnet neoliberale Diskurse als Theologie; es geht, wenn es um Anerkennungskämpfe und die soziale Magie performativer Sprechakte ebenso wie um die Produktion des ›Staatsadels‹ geht, immer um »kollektive Glaubensgemeinschaften«, die an die institutionalisierten, quasimagischen Einsetzungsrituale und die eigene soziale Gruppe, schließlich, im Falle der neoliberalen Ökonomie, an die »Herrschaft der Finanzmärkte« glauben. Der Globalisierungsdiskurs erscheint gewissermaßen als neue Form der Religion. Als Begriffe dieser neuen Verkündung nennt Bourdieu »Globalisierung«, »Flexibilität« und »Deregulierung«, die sich in eine »Botschaft von Freiheit und Befreiung« einfügen. Er spricht von einer Art neuer »Befreiungs-

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theologie« und bezieht dies auf die Logik der Finanzmärkte und die Philosophie multinationaler Konzerne und ihrer Berater aus der Hochfinanz; ja, er geht davon aus, dass es sich bei dieser Finanzwelt um ein neues »Evangelium« handelt, das überall in der Welt angebetet wird (vgl. Bublitz 1998, S. 90f.). In einer Welt, die, wie Joseph Vogl annimmt, unlesbar und deren Zusammenhang ebenso undeutlich wie der Lauf der – ökonomischen – Dinge richtungslos und damit unkontrollierbar geworden ist, fügen sich die Dinge nicht unbedingt zu einem kulturell entzifferbaren Muster zusammen; allenfalls ergeben sich auf dem Bildschirm algorithmisch programmierte Muster, die ständig wechseln. Der Markt als das Vernünftige schlechthin, das von einer ›unsichtbaren Hand‹ regiert wird, wird durch die Irrationalität des Spekulationsgeschäfts, das sich von allen Gesetzmäßigkeiten der Warenproduktion und den Prinzipien ökonomischer Rationalität getrennt hat, abgelöst. Dabei geht es nicht nur um die Glaubwürdigkeit der kapitalistischen Ökonomie, die ja theoretisch den Eigennutz durch die Wohltat für die Vielen legitimiert, es geht um die »Konsistenz jener ökonomischen Glaubenssätze, für welche die Zweckwidrigkeiten, Übel und Pannen im System mit dessen weiser Einrichtung vereinbar erscheinen; oder eben nicht« (Vogl 2010, S. 29). Interessant sind für Bourdieu aber nicht nur die Effekte dieses neuen Finanz-Evangeliums, nämlich Massenarbeitslosigkeit, Leben am Rande des Existenzminiums und andauernde Unsicherheit, prekäre Lebensbedingungen sogar in der Mittelschicht, sondern im Grunde geht Bourdieu, indem er auf kollektive Glaubensgemeinschaften (der Politischen Ökonomie und ökonomischer, unternehmerischer Subjekte) abhebt, davon aus, dass in den politischen, ökonomischen und auch kulturellen Eliten symbolische Wirkungen vorliegen, die dafür sorgen, dass sich neoliberale Diskurse durch Akte sozialer Magie, die ihrerseits sozial beglaubigt werden, materialisieren und stabilisieren. Das erinnert an Vogls Diktum: »Politische Ökonomie hat seit jeher eine Neigung zur Geisterkunde gehegt und sich mit unsichtbaren Händen und anderem Spuk den Gang des Wirtschaftsgeschehens erklärt. Dies ist wohl einer

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gewissen Unheimlichkeit ökonomischer Prozesse geschuldet, in denen zirkulierende Objekte und Zeichen einen gespenstischen Eigensinn entwickeln« (Vogl 2010, S. 7). Aber es geht nicht primär um die Funktionsweise ökonomischer Prozesse und deren ›Unheimlichkeit‹, sondern was Bourdieu meint ist, dass die Wirkung von – ökonomischen – Diskursen wie z.B. dem neoliberalen Diskurs auf Glauben und entsprechenden Dispositionen basiert; sie bilden die Bedingungen seiner Wirkung. »Gepredigt wird nur bereits Bekehrten« (Bourdieu 1990, S. 92). Was er kritisiert ist, dass sich die Ökonomie als Weltanschauung durchsetzt und das – kulturelle – Leben nach dem Muster buchhalterischen Denkens, das Soll und Haben bilanziert, einem berechnenden Kalkül unterstellt. Es existiert ein im kollektiven Unbewussten verankerter Glaube an die Selbststeuerung ökonomischer Prozesse, auf dem tief verankerte Dispositionen beruhen. Dem entspricht Vogls Annahme, dass der neue, ökonomisch interessengeleitete Mensch sich »gerade deshalb so sicher in der unübersichtlichen Welt [bewegt,] weil er selbst blind und beschränkt bleibt und mit den ›blöden Maulwurfsaugen der Selbstsucht‹ auch keinerlei Übersicht anstrebt.« (Vogl 2010, S. 38) Dennoch wenden sich, so legt die Metapher der ›unsichtbaren Hand‹ nahe, »gerade diese unbeabsichtigten Effekte […] herkommend aus Interessen und selbstsüchtigen Neigungen […] ungewollt zum Wohl des Ganzen« (ebd., S. 39). Es herrscht eine »transparente Intransparenz« (ebd., S. 40). Nicht das einzelne Individuum ist wohltätig, das wäre auch gar nicht möglich angesichts der kapitalistischen Profitlogik. Nicht Mildtätigkeit und Hilfsbereitschaft bilden das Zentrum der sozialen Ordnung, sondern Verhandlung, Tausch und Kauf; die Tauschbeziehung wird zum Inbegriff gesellschaftlicher Vernunft. Das bedeutet für Subjektivierungspraktiken: »Der ökonomische Mensch ist zuverlässig durch Beschränktheit, sozial durch mangelnde Sozialität« (ebd.). Dass sich das Ganze über verborgene Eingriffe (der ›unsichtbaren‹ Hand) zum Besten wendet, »dass sich Unregelmäßigkeiten in Ordnung übersetzen und dass diffuse Kräfte und Bewegungen auf die unsichtbare Macht ihres Zusammenhangs verweisen: dieses Konzept unsichtbarer Hände

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erinnert daran, dass versteckte Manipulationen – im wörtlichsten Sinn – in den Gang der Naturdinge wie in die Dynamik des sozialen Verkehrs gleichermaßen intervenieren« (ebd., S. 42). Was so tief im Irrationalen verankert ist und quasi magisch funktioniert, kann nicht durch Nachvollziehen der Regeln und rationale Logik(en) aus den Angeln gehoben werden; es funktioniert, ohne dass man genau sagen kann, warum. Eingespielten Abläufen sieht man die Regeln, nach denen sie eingespielt sind und die zugrundeliegenden Glaubensbekenntnisse, nicht an. Sie können nicht einfach kopiert oder nachgeahmt werden. Und: was sich an diesem Beispiel auch zeigt, ist: In diese Ökonomie sind Täuschungsmanöver bereits eingebaut. Sie sind es, die ökonomische Prozesse und Praktiken stabilisieren – und die sie gegen Nachahmung durch jene absichern, die nicht zur Glaubensgemeinschaft gehören. Diese Täuschungen sind eingebaut in die tief verankerten Dispositionen der Subjekte; sie sorgen dafür, dass man in der eigenen Gruppe Gehör findet, dass man sozial erfolgreich ist. So rekrutiert sich, nach Bourdieu, der Staatsadel – und nicht nur der. Die augenscheinlichen Akte sozialer Magie können nur gelingen, wenn sie im – kollektiven – Glauben einer Gruppe verankert sind. Es gibt gewissermaßen liturgische Bedingungen für die Materialisierung solcher Glaubenssätze. »Das Wunder der symbolischen Wirkung ist keines mehr, wenn man sieht, daß die Magie der Wörter nur Hebel in Bewegung setzt – die Dispositionen – die schon vorher gespannt waren« (Bourdieu 1990, S. 92). Die Frage, warum Bourdieu religiös-theologische Metaphern zur Bezeichnung der neoliberalen ökonomischen Marktlogik benutzt, ist damit aber noch nicht hinreichend beantwortet. Und warum stellt er immer wieder Bezüge zur Magie her, wenn es um Macht geht? Inwiefern ist die Wirkung performativer Sprechakte und deren Rückführung auf soziale (Macht-)Positionen an magisches Handeln gebunden? Worin besteht die soziale Magie? Welche Tricks müssen eingeübt sein und wie müssen sie ausgeführt werden, um vom falschen Zauber abzulenken? Worin bestehen Zauber und Magie überhaupt? Üben die Ablenkungsmanöver, die den Blick auf den

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Erwerb eines Könnens lenken, um das es gar nicht geht, magische Wirkung aus? Inwiefern? Warum richtet sich der Blick auf die Darstellung und das Dargestellte, aber nicht auf den gesamten Rahmen, in dem die Darstellung erfolgt? Es scheint, als wendet sich der Blick auf die Regeln der Aneignung anstatt auf den gesamten Inszenierungsapparat und die unsichtbaren Codes, die in diese Anordnung eingehen.

2.7 Differentiale der Macht Es gibt, wie schon ausgeführt, gewissermaßen liturgische Bedingungen für die Rekrutierung gesellschaftlicher Eliten. Bourdieu verortet die Subjekte auf einer gesellschaftlichen (Land-)Karte gesellschaftlicher (Macht-)Positionen, die zwar dynamisch ist, aber situativ in Bezug auf bestimmte Positionen und Felder die Spielregeln des sozialen Erfolgs und Misserfolgs festlegt. Auf der Folie dieser Positionen geht Bourdieu von der sozialen Magie performativer Sprechakte insofern aus, als er annimmt, dass die institutionell abgesicherten rituellen Ein- und Ausschließungen dafür sorgen, dass sie Wirkung haben – oder wirkungslos bleiben. Qua Position, Kapital und entsprechenden Dispositionen zum Einsatz der verschiedenen Ressourcen sind die subjektiven Akte und Praktiken ausgestattet mit Macht. Es gibt demnach Dispositionen, die symbolisches Kapital und folglich Anerkennung produzieren und solche, die versagen. Das Ganze funktioniert wie in religiösen Glaubensgemeinschaften (vgl. dazu Bublitz 1998, S. 89-93; 2018, S. 31-33; vgl. auch Bourdieu 1982; 2009, 92–224). Bourdieu nimmt im Grunde an, dass es sich bei den gesellschaftlichen Eliten quasi um religiöse Zirkel handelt, die diejenigen auswählen, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft – aus Elitefamilien – schon ausgewählt sind und die den Glauben an eine natürliche Auswahl teilen, während die anderen es nur einer »größeren Anpassungsfähigkeit oder einem vorteilhafteren familiären Umfeld verdanken […], ihrer erwartbaren Beseitigung entkommen zu sein« (Bourdieu 1985; 2007, S. 19). Wie funktioniert die Auswahl? Ist es nur die soziale Herkunft oder lassen sich darüber hinaus spezi-

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fische Codes benennen, deren Erwerb, abhängig von der sozialen Herkunft, vorausgesetzt wird? Was genau hält die, die oben sind, oben? Und welche Codes müssen die Wenigen, die nicht vorzeitig aus dem Prozess der Auswahl eliminiert werden, aneignen oder durchdringen? In der Untersuchung Die Erben gehen Bourdieu und Passeron davon aus, dass der »Dilettantismus insbesondere das Studierverhalten bürgerlicher Studenten kennzeichnet«, weil sie sich ihres – wenn auch fiktiven – Platzes sicher sind, und es sich leisten (können), »ohne wirkliches Risiko eben jene Gleichgültigkeit zur Schau [zu stellen,] für die eine größere Sicherheit Voraussetzung ist: Sie lesen weniger Bücher, die zum Lehrplan gehören, und weniger lehrbuchartige Abhandlungen; […] es sind immer diejenigen, die in ihrer Selbsteinschätzung die größte Nachsicht zeigen und diese ausgeprägte Selbstgefälligkeit […] sichert ihnen in vielen Situationen […] einen beträchtlichen Vorteil« (Bourdieu 1985; 2007, S. 27-29). Ebenso macht Bourdieu in seiner Analyse des kirchlichen Feldes der Macht Die Heilige Familie. Der französische Episkopat im Feld der Macht deutlich, dass es auch hier zwei Pole bzw. zwei Populationen gibt, nämlich die »Oblaten« und die »Erben«. Die »Oblaten« sind diejenigen, die, aus traditionsverhafteten bäuerlichen Familien und Gemeinden, ganz für den Dienst an und in der Kirche ausersehen, genau diejenigen sind, »die der Kirche schon seit ihrer frühen Kindheit geweiht sind; sie sind voll und ganz der Institution ergeben, der sie praktisch alles zu verdanken haben; sie sind bereit, alles einer Institution zu geben, die ihnen alles gegeben hat, ohne die und außerhalb derer sie nichts wären« (Bourdieu 1982; 2009, S. 98), die ihnen »den einzig möglichen Zugang zu höherer Bildung sowie den einzigen Ausstieg aus den beherrschten Klassen« (ebd.) gewährt hat. Auf der anderen Seite befinden sich die »Erben«, die »schon vor ihrem Eintritt in die Kirche ein umfangreiches schulisches Kapital besaßen und daher ein eher distanziertes […] Verhältnis zur Institution […] unterhalten« (ebd.). Sie spielen, so Bourdieu, innerhalb des Episkopats eine zentrale, wenn auch unscheinbare Rolle. »Die Oblaten scheinen eher der Rolle von aufopferungsbereiten, eifrigen

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Verwaltern und Hütern der Institution zuzuneigen« (ebd., S. 100). Die Repräsentation der Institution nach außen, die intellektuellen Posten übernehmen hingegen die »Erben«: »Den Gegensatz zu den Oblaten, die der Kirche alles verdanken und bereit sind, ihr alles zu geben, bilden die ›Erben‹, die ihrer familialen Herkunft und damit einhergehenden Ausbildung ein ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital verdanken, das ihnen eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber der Institution gewährt« (ebd.). Sie stammen »zum überwiegenden Teil aus dem mittleren Provinzbürgertum, bisweilen sogar aus dem Adel: Als Söhne von Industriellen, Handelsunternehmern, Ingenieuren, Führungskräften im öffentlichen Dienst oder der Privatwirtschaft […]. Häufig sind sie auch mit einem beachtlichen sozialen Kapital ausgestattet […] und haben von ihren Familien […] die nötigen Mittel erhalten, um ein kostspieliges Studium (in einer privaten Einrichtung) absolvieren und später eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den von der Kirche gewährten Zuweisungen wahren zu können« (ebd., S. 101). Es scheint, so folgert Bourdieu, »dass ihre Kompetenzen und Dispositionen sie geradezu dafür prädestinieren, in der profanen Welt Stellung zu beziehen« (ebd., S. 102); hier finden sich auch die meisten Intellektuellen und Erneuerer. Die Dispositionen sind, neben der sozialen Herkunft und den entsprechenden Ressourcen, gewissermaßen diejenigen Hebel, die die soziale Positionierung der »Erben«‹ und der ›»Oblaten«‹ regeln; einmal gebildet und in Bewegung gesetzt, können sie im Kampf um soziale Anerkennung immer wieder aufgerufen werden. Sie regeln die Rekrutierung sozialer Positionen, wenngleich Bourdieu immer wieder zurecht betont, dass es keinen mechanischen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft, dem Werdegang, sowie den eingenommenen Posten und Positionen gibt (vgl. Bourdieu 1982; 2009, S. 106). Symbolische Kämpfe haben, folgt man dieser Theorie, quasireligiösen Rückhalt in Glaubensgemeinschaften, die verdecken, dass es um (ökonomische und politische) Machtpositionen geht. Die

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Nachfolge regelt sich also über Ablenkungs- und Täuschungsmanöver, die unsichtbar machen, dass soziale Macht im Spiel ist und verhindern, dass jeder Zugang zu dieser fordert oder erhält. Wer befugt ist, an der Glaubensgemeinschaft teilzunehmen, ist immer schon ausgewählt und geweiht; so Bourdieu. Aber die subjektiven Dispositionen gehen darin keineswegs auf: sie gehen darüber hinaus. Und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens. Subjektive Dispositionen und Haltungen schließen ein unbewusstes Wissen ein, das gewissermaßen als ›psychisches Kapital‹ fungiert, das, in spielerische Abläufe ›investiert‹, soziale Gewinne abwirft. Es garantiert nicht nur die spielerische Steuerung von Abläufen und Objekten, sondern darüber hinaus Exklusivität im Umgang mit Dingen. Damit steuert es aber auch (Selbst-)Exklusion und Inklusion. Mit den ererbten Haltungen verbindet sich also nicht – nur – ein kollektives Schicksal, ein kollektiver klassenund geschlechtsspezifischer Habitus, sondern ein subjektives unbewusstes Wissen, ein – individuelles – psychisches Kapital, das spielerisch eingesetzt werden kann. Es regelt also die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und Klassen und deren ausschließende Funktion. In symbolischen Kämpfen – unbewusst – eingesetzt, setzt es eine Dynamik der Exklusion und Selbstexklusion in Gang, die vom Subjekt nicht bewusst kontrolliert wird, aber Wirkungen zeitigt, die auf der einen Seite Erfolg gewährleisten, und Ausschluss, wenn es nicht geteilt wird. Es handelt sich dabei um ein individuelles Können und Vermögen, das strukturell hervorgebracht, weit über die bloße Unterwerfung und Anpassung an vorgegebene Strukturen darüber hinausgeht, obwohl die sozialen Umstände und die objektive Wirklichkeit psychisch quasi körperlich ›aufgesaugt‹ werden. Es entsteht quasi ein spielerisches Kapital, ein – unbewusstes – Wissen, das, fast wie durch Osmose, einen unbewussten Austausch mit der Wirklichkeit herstellt und jederzeit spielerisch, größtenteils unbewusst, abgerufen werden kann und eingesetzt wird. So schreiben Bourdieu/Passeron diesem ›osmotischen‹ Wissen quasi eine eigene Qualität zu, die als (Bildungs-)Kapital eingesetzt wird, während die »reine Schulbildung« ihrer Auffassung nach eine »unvollständige Bildung […] eine minderwertige Bildung« ist, zu der diejenigen verurteilt sind, »die aufgrund ihrer sozialen Her-

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kunft zu eben dieser Bildung verurteilt sind« (Bourdieu/Passeron 2007: 31). Und zugleich ist diese Bildung »unvollständige Bildung«, weil sie darüber hinwegtäuscht, dass sie bereits die Reproduktion der sozialen Ungleichheiten impliziert. »Für Angehörige der untersten Schicht ist die Schule der einzige Weg eines Zugangs zur Kultur, und das auf allen Stufen der Bildungslaufbahn, und sie könnte der Königsweg zur Demokratisierung der Bildung sein, würde sie nicht die ursprünglichen kulturellen Ungleichheiten bestätigen, indem sie ihnen keine Beachtung schenkt« (ebd.: S. 33). Hinzu kommt, dass das Bildungssystem auf einen kulturellen Hintergrund rekurriert, den sie nicht teilen. Benachteiligung besteht in diesem Fall in einer kulturellen Benachteiligung. Bildungsinstitutionen gehören zur ihnen fremden Kultur. Aber Bourdieu/Passeron setzen noch einen drauf: »Und schließlich ist es dann auch die individuelle Art des Umgangs mit den Bildungsinstitutionen, die ihnen ihre eigentliche Qualität verleiht: Ironische Lässigkeit, vorgestellte Eleganz und selbstbewusstes Auftreten, die Gewandtheit oder zumindest den Anschein von Gewandtheit verleihen, sind fast immer bei Studenten aus der Oberschicht anzutreffen, wo solche Verhaltensweisen die Zugehörigkeit zu einer Elite kennzeichnen« (Bourdieu/Passeron, S. 31.) Das heißt: Der spielerische, lässige Umgang mit Kultur befähigt die einen zu einer ›Logik des Privilegs‹, während die anderen ernsthaft auf der Strecke bleiben und zwar nicht nur auf dieser Ebene, sondern auch auf der Ebene schulischen Wissens, wobei es bei der Verteilung von Positionen nicht primär um schulisches Wissen geht, sondern um die Art und Weise, wie es eingesetzt wird. Zweitens. Zum anderen generiert die Macht, die auf das Subjekt einwirkt, ein Subjekt, das, obwohl es durch die äußere Macht, die gesellschaftlichen Umstände und die entsprechenden objektiven Strukturen, als solches erst hervorgebracht wird, sich in einer Wendung auf sich selbst gegen die – äußere – Macht wendet; das heißt die Macht wirkt nicht einseitig auf ein – passives – Subjekt ein, sondern sie generiert in der sozialen Anrufung (Interpellation)

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einen »psychischen Exzeß, den sie nicht kontrollieren kann« (Butler 2001: 184; vgl. auch ebd., S. 8f.). Es finden Prozesse statt, die eine Ambivalenz erzeugen: »Die Macht, die einem aufgezwungen wird, ist die Macht, der man sein eigenes Erscheinen zu verdanken hat« und sie evoziert zugleich eine Wendung gegen diese Macht, die »zum verlorenen Objekt« (Butler 2001: 184) wird und verschwindet. In diesem Vorgang der Subjektivierung konstituiert sich also ein Subjekt, dessen psychische Wirklichkeit nicht mit den Strukturen der objektiven Wirklichkeit deckungsgleich ist; das Subjekt ist nicht bloßes Abbild der Strukturen. Die subjektiven Dispositionen und psychischen Strukturen erzeugen ein Mehr-Begehren, das über das Gegebene hinausgeht. Auch hier setzt sich ein unbewusstes Wissen, eine unbewusste und ambivalente ›Psyche der Macht‹ durch, die nicht verhindern kann, dass das Subjekt sich gegen die Macht wendet, die es als Subjekt erst begründet. »In jedem Fall nimmt die Macht, die zunächst von außen zu kommen und dem Subjekt aufgezwungen und es in die Unterwerfung zu treiben schien, eine psychische Form an, die die Selbstidentität des Subjekts ausmacht« (Butler 2001: S. 9). Die kollektiven Dispositionen und eingeschriebenen Haltungen statten die Individuen mit einem Potential zur Überschreitung dessen aus, was sie vorfinden und was sie in die Welt gesetzt hat. Hinzu kommen Ressourcen, die eine solche Überschreitung ermöglichen. Dazu müssen allerdings gesellschaftliche Strukturen gegeben sein oder entstehen bzw. sich bilden. Es konstituiert sich ein Mehr-Begehren, ein phantasmatischer Raum, der sich u.a. auch in Bildungsträumen artikuliert Das Subjekt wird durch Anrufung und durch Bedingungen ins Leben gerufen, die es sich nicht selbst ausgesucht hat, nimmt Butler im Anschluss an Foucault und Althusser an. Das Subjekt bildet und formt sich in Auseinandersetzung mit machtförmigen Prozessen, die es immer wieder bedrohen, aber auch ermächtigen, und ohne die es gar nicht existieren würde. Subjektbildung und Unterwerfung sind ein und derselbe Vorgang, die ein Subjekt dazu befähigen, sich auf sich zu berufen, sich gegen Bevormundung zu wehren und sich durchzusetzen… Was bedeutet das? Wie soll das gehen?

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Das ist ein Rätsel. Es sind rätselhafte Prozesse, die einen Menschen zu dem machen, der er ist. Kann es – nicht – zu viel Unterwerfung geben, so dass ein Mensch an dem zerbricht, was ihn ausmacht und formt? Und was eine quälende Macht ihm antut? Wann zerbricht er an der Macht? Was tut eine Macht ihm an, wie weit kann das gehen und wann ist der Punkt erreicht, dass er aufgibt? Welche Metamorphosen muss jemand durchlaufen, um dem zu entgehen? Was bedeutet es, wenn Butler im Anschluss an Foucault davon ausgeht, dass das Subjekt sich paradoxerweise in Auseinandersetzung mit der Macht bildet, derselben Macht, die es ins Leben ruft? Sicher ist ›Macht‹ hier auf die Gesellschaft bezogen, aber die Gesellschaft wird ja nicht abstrakt erlebt, sondern zunächst in Gestalt derjenigen, die das Subjekt führen und fördern, es auf seinem Weg in die Gesellschaft begleiten, ermuntern oder überfordern und ihm Steine in den Weg legen. Wenn Macht nicht nur das ist, was Druck auf das Subjekt ausübt und es zur Unterordnung zwingt oder Macht damit nur z.T. angemessen beschrieben ist, wie Butler annimmt, sondern auch die-/dasjenige ist, die es »allererst bildet oder formt«, sondern »was dem Subjekt erst seine schiere Daseinsbedingung und die Richtung seines Begehrens gibt, dann ist Macht nicht einfach etwas, gegen das wir uns wehren, sondern zugleich im strengen Sinne das, wovon unsere Existenz abhängt und was wir in uns selbst hegen und pflegen« (Butler 2001, S. 7f.). Was heißt es, unter extremen Bedingungen aufzuwachsen, ständig in Angst zu leben, nie zu wissen, was im nächsten Moment passiert und der Unsicherheit von Lebensbedingungen ausgeliefert zu sein? Wie entgeht man einer Macht, die übermächtig ist und von der doch die eigene Existenz abhängt? Wie entgeht man den Drohungen, die man im Ohr, im Kopf hat, wenn es darauf ankommt, selbst zu bestimmen, was aus einem wird? Weggehen scheint die einzige Möglichkeit zu sein. Aber was nimmt man mit? Geht nicht alles, was von außen auf das Subjekt einwirkt und es unter Druck setzt, in das Subjekt als paradoxe Form der Unterwerfung, aber auch der Inauguration und damit Ermächtigung des Subjekts ein? Macht ist, folgt man Butlers Ausführungen, dasjenige, wovon Subjekte in ihrer

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Entstehung und Existenz abhängig sind, und was sie folglich auch in ihrem Inneren bewahren. Und sie hat darauf hingewiesen, dass der Begriff ›des Menschen‹ einem ›Differential der Macht‹ unterliegt, das festlegt, wer als menschliches Subjekt anerkannt ist und wer nicht; das Menschliche wird demnach zugewiesen oder entzogen. Prekäre Lebensbedingungen konstituieren demnach nicht nur ein Leben, das immer gefährdet ist, sondern auch eines, das in einem normativen Bezugsrahmen die Abweichung, wenn nicht die – nicht betrauerbare – Ausnahme ist (vgl. Butler 2005; 2010; vgl. auch Bublitz 2021, S. 128-136). In einem Aufsatz zur Ethik der Fotografie reflektiert Butler die Abhängigkeit der Darstellung vom vorgegebenen Rahmen und kommt zu der Auffassung, dass der Rahmen im Grunde die gesellschaftlichen Normen des Darstellbaren und Dargestellten ›reflektiert‹; das aus dem Bild Ausgeschlossene bleibt auch gesellschaftlich unsichtbar. Und nicht nur das, die gesamte Anordnung (des Fotos) ist, so Butler, Teil einer operativen Macht, die nicht als Unterdrückung erscheint und selbst unsichtbar bleibt. Daraus folgt, dass der gesamte Inszenierungsapparat sichtbar gemacht werden sollte, damit die Machtverhältnisse und die unsichtbaren Codes, die in die Anordnung eingehen, deutlich werden (vgl. Butler 2009, S. 73f.). Nur so können die verborgenen Codes der Privilegierten und die traumatischen Lebensbedingungen derjenigen in prekären Lebensverhältnissen in Umrissen erkannt werden. »Die Derealisierung des ›Anderen‹ bedeutet, daß er weder lebendig noch tot ist, sondern auf ewig gespenstisch«, schreibt Judith Butler in Gefährdetes Leben (2005, S. 51) und bezieht sich hier auf das gefährdete Leben derer, die in die Fallstricke des Krieges (gegen den Terror) geraten. Das Gespenstische daran ist, dass sie zunächst auf der Ebene des Diskurses ›ausgesondert‹ werden, »daß sie menschlich nicht näher gebracht werden […] in kein gängiges Raster für das Menschliche passen« (ebd.). Und die Frage ist, ob dies nicht auch für Menschen in prekären Lebensbedingungen gilt. Und sie macht deutlich, dass es nicht »um eine einfache Aufnahme der Ausgeschlossenen in eine etablierte Ontologie, sondern um einen Aufstand auf der Ebene der Ontologie, eine kritische Eröffnung der Fragen geht: Was ist real? Wessen Leben ist real? Wie ließe sich die Realität neugestalten?« (Ebd., S. 50) Während es bei Butler

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um »Gewalt im Namen einer normativen Vorstellung des Menschlichen« (ebd.) geht, geht es in unserem Zusammenhang darum, den zwanghaften Charakter einer Norm zu entlarven, der stillschweigend zugrundgelegt wird, wenn einem Menschen im Bildungssystem suggeriert wird, dass er falsch liegt und aus ihm/ihr nichts werden kann, wenn er sich den vorgegebenen Normen nicht beugt, was er/sie aufgrund seiner Position gar nicht kann – und weil er nicht den richtigen Sprachduktus, die richtigen Codes und den passenden Habitus hat. Klasse gerät bei Butler – leider – nicht in den Blick, race und gender halten die Stellung, wenn es um die Bedeutung sozialer Diskriminierung durch den Zwangscharakter einer heretosexuellen Matrix und hate speech gegen die, die nicht ins Raster vorgegebener sozialer Normen passen, geht. Die Forderung nach Diversität bezieht sich aktuell überwiegend auf die kulturelle und ethnische Herkunft, die soziale Herkunft gerät dabei, obwohl die soziale Ungleichheit gerade in den letzten Jahren stark zugenommen hat, aus dem Blick. Aber die ›nivellierte Mittelstandsgesellschaft‹ (Schelsky 1954) ist ein Aberglaube, war es immer schon. Diese Floskel spiegelt den Mythos der klassenlosen Gesellschaft, der bis heute in westlichen Industriegesellschaften grassiert. Die ›feinen Unterschiede‹ (Bourdieu), die verborgenen Codes der Erben und die soziale Magie performativer (Sprech-)Akte, mit denen sich die Erben als Nachfolger qualifizieren, wenn sie ihre ökonomischen Einsätze und ihre (Sprech-)Einsätze in einem Theaterstück, das ihnen ihre privilegierte Position sichert, machen, sind dann wirksam, wenn es darum geht, sich für die Nachfolge zu qualifizieren, und im gleichen Atemzug Lebens- und Bildungschancen derer zu verhindern, die aus der ›Modernisierungsmaschine‹ des Kapitalismus und dem Wohlstand ausgeschlossen werden. Eine berechtigte Frage ist in diesem Zusammenhang: Wie viele Leute aus armen und/oder nicht-akademischem Elternhaus sitzen denn in den Macht- und Entscheidungspositionen der Konzerne, des Kulturbetriebs, und sind in politischen Führungspositionenen? (vgl. dazu u.a. Baron/Barankow 2021 Hartmann 1996; Friedrichs 2015; 2016) Was bei der Sicherung der Erbfolge zählt, sind, neben dem ökonomischen Kapital, Ressentiments und die Arroganz der

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Macht derer, die sich als Erben ›würdig erweisen‹ müssen, indem sie möglichst viele ›andere‹ aus dem Spiel um Machtpositionen eliminieren. Und schließlich geht es gar nicht darum, qualifiziert zu sein, Leistung zu bringen oder gar Visionen zu entwickeln; es geht darum, die ›richtige‹ soziale Herkunft vorzuweisen, den ›richtigen Stallgeruch‹ zu haben; darauf beruht letztlich die soziale Magie. Nicht das Vertrauen in Diplome und Zeugnisse schiebt Menschen nach oben, wie die offizielle Darstellung es will. Diese Dinge halten vielmehr diejenigen, die bereits an der Spitze sind, oben. Diejenigen, die von vornherein die falsche (Klassen-)Kultur, die falschen Codes und das falsche De-Codierungswissen mitbringen, müssen den ihnen angelegten Nachteil überwinden, dass sie die falschen Hebel in Bewegung setzen, die falschen Dispositionen und die falsche Sprache zur Anwendung bringen; es ist keine Bildungsbenachteiligung, sondern vor allem eine Benachteiligung, die auf kulturellen ›Defiziten‹ beruht, und zwar nicht solchen, die die Aneignung von Bildung und Wissen betreffen, sondern solche, die sich auf die verborgenen Codes der Kommunikation und des Austauschs beziehen. Denn die Herstellung des Adels bzw. der Erben erfordert spezifische ›magische‹ Praktiken und Techniken, die gewährleisten, dass aus Erben wirkliche Erben werden, die den Nachlass nicht nur verwalten, sondern ihn vermehren. Erben werden also gemacht, sie werden nicht einfach vorgefunden. Ihnen wird durch performative Beglaubigung ihrer kulturellen Affinität das Erbe und sie selbst als Erben bestätigt. Sie werden, wie bei archaischen Völkern durch Rückgriff auf Einsetzungs- und Initiationsriten, durch permanente, zirkuläre Formen der symbolischen Anerkennung ihres Handelns, ihrer Einstellungen und Haltungen im Namen einer quasi-religiösen Glaubensgemeinschaft produziert, die performative Wirkungen zeigt, die Wirkung nämlich, auserwählt zu sein. So, durch die performative Wiederholung magischer Akte, erscheinen Klassengrenzen quasi als magische Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen; ja, sie erscheinen als natürliche Grenzen, beglaubigt durch die Glaubensgemeinschaft elitärer Zirkel. Gesellschaftliche Eliten erscheinen aus dieser Perspektive als quasi-religiöse Zirkel.

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Passagen II

»Du bist hier nicht erwünscht« Ein paar Jungen standen zusammen. Sie trugen Anzughosen. Er trat hinzu, er trug Knickerbocker, vielleicht waren es auch kurze Hosen. Später erinnerte er sich nicht mehr. Die da zusammen standen, sagten und teilten es ihm mit Blicken mit: »Du bist hier nicht erwünscht.« Der so Angesprochene wäre vor Scham am liebsten in den Boden versunken. Der Volksschullehrer hatte den Besuch des Gymnasiums empfohlen. Das Schulgeld konnten seine Eltern nicht aufbringen. Sein Vater ging zum Schulleiter und fragte, was man da machen könne. Auf Antrag erließen sie seinem Sohn das Schulgeld. Er hatte immer ein sehr gutes Zeugnis. Latein, Griechisch, Mathematik, Physik, alles sehr gut. Er bekam Auszeichnungen für sehr gute Leistungen. Beliebt machte er sich damit nicht gerade. Aber das erklärt nicht, dass er schließlich im Studium scheiterte und alles abbrach – auch seinen Kontakt zum Elternhaus. Er ließ alles hinter sich. * * *   Sie saß mit ihren beiden Söhnen in einem italienischen Restaurant, mit Blick auf das vierhundert Jahre alte altsprachige Gymnasium. Neben der theologischen Fakultät war es die älteste Bildungsinstitution im Ort. Wer etwas auf sich hielt, schickte seine Söhne und Töchter hier hin. Die Sonne schien. Es war ihr Lieblingsplatz in der Stadt, mediterranes Flair. Hier saßen sie öfter, hier fühlten sie sich wohl. Ein paar Jungen überquerten den Platz. Als ihre Söhne sie sahen, waren sie sich sicher: »Guck dir die an, sieht man doch sofort, dass das die Söhne von Bonzen sind!« »Woran seht ihr das?«, fragte sie. »An allem, der Blick, die Frisur, sieht man doch!«

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Die verborgenen Codes der Erben

»Du musst jetzt gehen, meine Eltern kommen gleich…« Sie hatten sich in der Schule angefreundet. Ihre Eltern hatten zwei Blumengeschäfte in der Stadt. Sie verabredeten sich. Das Haus lag in einer Gegend, in die sie sonst nie kam. Es war eine gute Wohngegend. Einzelne Häuser standen nebeneinander, mit Garten hinter dem Haus. Stilvoll. Eine Haushälterin bereitete das Mittagessen zu. Sie war eingeschüchtert. Sie beobachtete, wie ihre Freundin sich am Tisch bediente. Dann nahm sie sich etwas. Alles war ihr fremd. Die Haushälterin, die Möbel, die Musiktruhe, die klassische Musik, das Essen, alles, die ganze Situation. Es war ein Abenteuer. Sie verstanden sich gut. Manchmal ging ihre Freundin abends ins Konzert, in die Stadthalle. Dann frisierte sie sie vorher. Sie mochte das. Nie kam ihre Freundin auf die Idee, sie zu fragen, ob sie mitkommen wolle. Ihr selbst fiel es auch nie ein zu fragen. Im Gegenteil. Gegen 17 Uhr sagte die Freundin: »Du musst jetzt gehen, meine Eltern kommen gleich.« Sie ging – nach Hause, die Straßen entlang, zum Wohnblock, der an einer viel befahrenen Straße lag.

Passagen II

»Du musst gehen, die gucken schon…« Ihre Mutter arbeitete als Verkäuferin im Kaufhaus. An manchen Nachmittagen ging sie ins Kaufhaus und strich dort herum, bis die Mutter fertig war um 18:30 Uhr. Immer wieder drehte sie ihre Kreise in den verschiedenen Abteilungen, bis ihre Mutter sagte: »Du musst gehen, die gucken schon.« Dann verschwand sie und wartete draußen vor der Tür. Das ging so lange, bis ihr Vater es herausfand. Dann musste die Mutter aufhören, in ihrem gelernten Beruf als Verkäuferin zu arbeiten. Das wiederholte sich mit der Fabrikarbeit. Wieder wartete sie vor der Tür. Bis er es herausfand, dann musste sie aufhören. »Meine Frau geht nicht arbeiten«, sagte er dann. Später putzte ihre Mutter in privaten Haushalten. Oft holte sie sie ab. Wenn sie noch nicht fertig war, half sie ihr. Beim Abwasch in der Küche, beim Aufräumen. Es waren Leute mit Geld. Ehefrauen und Töchter, die in die Firma gingen oder zu Hause Kunden empfingen. Eine Zeit lang waren es Architekten, die fast täglich Kunden zum Mittagessen hatten. Ein Berg von Geschirr wartete darauf, dass ihre Mutter – und sie – ihn wegräumte. Es trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht, wenn sie sah, wie ihre Mutter sich für einen geringen Lohn mit niedriger Arbeit abrackerte. Und nicht nur das, sie spürte deren Anstrengung, aber auch die herablassende Art ihrer Behandlung am eigenen Leib durch andere. Verschwitzt zog ihre Mutter den Mantel an. Sie liefen nach Hause, aßen, sie räumte auf und machte Hausaufgaben. Von finanziellen Sorgen getrieben, ging die Mutter heimlich arbeiten. Das Haushaltsgeld reichte dennoch vorne und hinten nicht. Wann immer sie sah, wie jemand als Putzkraft arbeitete, schämte sie sich dafür. Dafür, dass jemand sich bedienen ließ und jemand anderes die Drecksarbeit verrichtete.

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3 Erben und Aufsteiger

3.1 Succession – Erben, Nachfolge Filme und Romane wie American Psycho, aber auch Serien wie Succession oder Billions zeigen den Konkurrenz- und Machtkampf zwischen den Erben untereinander, aber auch zwischen ihnen und der älteren Generation. Sie spiegeln die kompetitive Struktur der Ähnlichkeit, in der die Erben sich bewegen, aber auch die Praktiken, die bei Abweichungen von dem, was übertragen werden sollte, zum Einsatz kommen; und sie zeigen auch, wie wenig es hier auf wirkliche Kenntnisse oder Titel ankommt, sondern vielmehr auf learning by doing, aber doing in nahtloser Übereinstimmung mit dem Erbe, dem ›Nachlass‹. Und sie zeigen die Brutalität des Sortiments der Ähnlichkeit, dessen, was als anerkannt und als zugehörig durchgeht und dessen, was gnadenlos aussortiert wird und gewissermaßen als ›Verräter‹ oder gar ›Abfall‹ gilt. Die Serie Succession beginnt mit dem 80. Geburtstag des Firmenmoguls Logan Roy und thematisiert dessen Nachfolge: Als diese keineswegs im Sinne der Erben geregelt wird – Logan Roy verkündet, dass er gar nicht daran denkt, zurückzutreten, geschweige denn, die Firma in die Hand seines Sohnes Kendall zu übergeben – brechen die Machtkämpfe aus. Alle machen ihre Einsätze. Kendall, der schon seit Jahren in der Firma seines Vaters arbeitet, legt sich mächtig ins Zeug und verhandelt mit möglichen Investoren. Der zukünftige Schwiegersohn Tom fragt seine Freundin Shiv, Logans Tochter: »Was kann ich kaufen, das er lieben wird?« Sie antwortet: »Keine Ahnung, mein Dad mag Dinge eigentlich nicht« – »Er mag Dinge nicht?«, fragt ihr Verlobter. »Nein, nicht wirklich.«

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Tom hakt nach: »Es soll ausdrücken, dass ich ihn respektiere, aber nicht überwältigt bin von ihm – und dass ich ihn schätze, aber er mich auch schätzen muss, bevor ich ihn lieben kann.« Darauf Shiv: »Hör zu, alles was Du ihm kaufen kannst, bedeutet ihm gleichermaßen nichts; also Hauptsache es sieht nach zehn bis fünfzehn Riesen aus!« Später, als alle mit dem Hubschrauber zum Baseballspiel aufbrechen und um den Nachlass ›buhlen‹, überreicht er Logan Roy eine Armbanduhr von Patek Philippe mit den Worten: »Ich wollte Dir das persönlich überreichen, so als kleine Aufmerksamkeit… Eine Patek Philippe.« Darauf antwortet Logan süffisant: »Ja, das steht hier, das kann ich lesen.« Eigentlich ist es ein ›Home-Run‹; alle gehen davon aus, dass einer das Rennen machen wird, nämlich der älteste Sohn Kendall. Er geht davon aus, dass er als CEO die Firma zukünftig führen wird und sein Vater in den Hintergrund tritt. Aber als klar wird, dass dieser gar nicht daran denkt abzutreten, fragt er seinen Vater: »Wie lange? Wann wirst Du bereit sein abzutreten?« »Fünf, zehn […] Jahre«, antwortet Logan. Als sein Sohn ihn entgeistert ansieht, fragt Logan ihn: »Willst Du mich schlagen?!« und setzt drohend nach: »Fängst Du etwa an zu heulen? Heulst Du jetzt etwa?!« Als Kendall ihm vorwirft, er habe ihn verarscht, antwortet Logan: »Vor drei Jahren warst Du noch in der Irrenanstalt.« »Entzugsanstalt, das nennt man Entzugsanstalt…« – worauf Logan die wirklichen Gründe nennt: »Ich mach’ mir nur ein wenig Sorgen, dass Du noch ein wenig weich sein könntest« – »Weich?! Soll das ein Witz sein?!« – »Ich hörte, Du wirktest schwach. Konfliktscheu. Ich hörte, Du hast Dich gebückt und er hat dich gefickt […]. Es geht manchmal eben doch nur um Schwanzlängenmessen.« Der Macht- und Konkurrenzkampf ist eröffnet: Als feststeht, dass es nichts zu erben gibt, vielmehr Stimmrechte an die derzeitige Frau des Firmeninhabers übertragen werden sollen, verweigern die Erben ihre Unterschrift. Logan bekommt einen Hirnschlag. Ihm platzt, so könnte man sagen, bei so viel Widerstand der Schädel. Rückzug. Für Wochen ist er außer Gefecht. Die Aktie stürzt ab, Kredite werden gekündigt. Krise. Nun entbrennt der Machtkampf um die Nachfolge unter den Geschwistern, den Erben. Irgendwann er-

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scheint Logan, völlig unangekündigt, wieder in der Firma und übernimmt das Ruder. Kendall wird gezwungen, im Sinne des Vaters zu handeln; es geht um Unregelmäßigkeiten in der Firma, die publik geworden sind: »Du wirst zugeben, dass Du von allem Kenntnis hattest und dass Du die Vertuschungen gesteuert hast und dass keiner davon wusste.« Kendall übernimmt, so scheint es wenigstens, die ihm zugedachte Rolle. Und als er seinen Vater fragt: »Hey, Dad, nur so interessenhalber, hast Du jemals gedacht, ich hätte es drauf?«, antwortet dieser ausweichend: »Den obersten Posten? Ich weiß es einfach nicht… Du warst nie ein Killer – und dafür musst Du ein Killer sein – aber heutzutage vielleicht nicht, keine Ahnung. Du bist der Beste!« Hier wird deutlich, was es heißt, Erbe zu sein und Nachfolger zu werden. Die Anforderungen werden nicht explizit ausgesprochen, aber auf jeden Fall gehört die Fähigkeit dazu, ›über Leichen zu gehen‹, um im Unternehmen des Vaters erfolgreich zu sein und als Nachfolger in Betracht gezogen zu werden. Nur auf Nachfrage erhält Kendall die Auskunft, dass er eigentlich nicht in Frage kommt. Die Tochter Shiv verhält sich geschickt, sie hat einen Job in der Politik (worüber sich ihr Vater abfällig äußert). Sie bietet sich nicht direkt für einen Posten im Unternehmen an, aber da sie vom Vater geschätzt wird (sein ›Liebling‹), hat sie Erfolg. Sie erarbeitet sich ganz allmählich, gewissermaßen ›hintenherum‹, die Position, die sich eigentlich ihr Partner Tom ausrechnet, ohne dass sie diesem reinen Wein einschenkt und sagt: »Dad, ich kann das.« Sie hält sich, wenn es sein muss, zurück und sieht über den Missbrauch hinweg, den ihr Vater verübt, als er nach seinem Hirnschlag ihre Hand in seine Hose einführt, indem sie sie abrupt wegzieht, kurz irritiert reagiert und das Zimmer verlässt, ihn aber keineswegs zur Rechenschaft zieht. Am Ende der zweiten Staffel verkündet Kendall, der sich selbst als einzig legitimen Nachfolger seines Vaters im Mediengeschäft sieht, auf einer Pressekonferenz auf der er seine Zustimmung für die Transaktionen des Vaters/der Firma zum Ausdruck bringen soll, für alle völlig überraschend:

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»Ich wurde dazu aufgefordert, und es wurde mir vermittelt, ich wäre die geeignete Person, um die Wut und die Schuld auf mich zu vereinen. Aber die Wahrheit ist, dass mein Vater ein bösartiger Mensch ist, ein Tyrann und ein Lügner, er war sich der Geschehnisse in vollem Umfang jahrelang bewusst und er versuchte, sie geheim zu halten. […] Und er missachtete die Sicherheit von Gastarbeitern, gewerkschaftlich und nicht organisierten Arbeitern. Mein Vater behält jeden Winkel seines Unternehmens genauestens im Auge und der Gedanke, dass er es zugelassen haben könnte, dass ohne sein Wissen Millionen an Kompensations- oder Schadensersatzleistungen gezahlt worden wären, ist vollkommen absurd. Ich habe heute Unterlagenkopien bei mir, die beweisen, dass er all dies persönlich genehmigt hat. […] Aber ich denke, heute ist der Tag, an dem seine Herrschaft endet.« Aber es zeigt sich, dass Kendall die Rechnung ohne den Medienpatriarchen gemacht hat: Medienmogul und Familienoberhaupt Roy Logan lotet seine Optionen ohne Beteiligung seiner Kinder aus und verkauft die Firma hinter ihrem Rücken. Und stimmt damit zu, dass seine Erben in der neuen Firma bewertet werden. Die sehen ihre Felle wegschwimmen. Als sie mitbekommen, dass ein Deal zustande gekommen ist, bei dem die Firma, ohne sie einzubeziehen, verkauft werden soll, reagieren sie mit Aufruhr und Gegenwehr. Obwohl sie bisher als Einzelkämpfer vorgingen, schließen sie sich jetzt gegen ihren Vater zusammen, worauf Logan sinngemäß sagt: »Verdient Euch Euren eigenen verfluchten Berg […]. Ich muss agieren, um mich und Euch für die Zukunft abzusichern. Er [der neue Chef] wird Euch bewerten, das ist eine Chance für Euch, eine Lektion in Sachen wahres Leben.« Hier zeigt sich, wie das Erbe bisher funktioniert hat: nämlich durch stille Teilhabe am Vermögen, weniger am strategischen Handeln in der Firma – und schließlich versucht Logan, eines seiner Kinder, Roman, auf seine Seite zu bringen: »Vergessen wir diese Jakobiner. Ich kümmere mich um Dich.« Aber Roman ist verunsichert und hört auf seine Schwester Shiv, die sagt: »Du kannst ihm nicht vertrauen«, worauf er sich an Logan wendet: »Wir sind hier, um Dir zu sagen, Dich aufzufordern, das nicht zu tun.« Und er droht ihm,

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auf dem Hintergrund der Annahme, dass sie ihn im Vorstand überstimmen können: »Wir können dich aufhalten.« Was nicht stimmt, da seine Mutter, Logans Exfrau, deren zweiter Hochzeit sie alle beiwohnen, ihrem Exmann Logan inzwischen alle Vollmachten für den Verkauf der Firma erteilt hat. Nachdem Logan seine Exfrau für seine Erben hörbar noch einmal telefonisch zuschaltet, sie ihre Zustimmung zu dem Deal wiederholen lässt, und er fragt: »Was haltet ihr in der Hand?«, fragt ihn Roman, der Jüngste: »Dad, wieso?« – »Wieso?« fragt dieser zurück. »Weil es funktioniert« und als Roman von Liebe spricht, antwortet ihm sein Vater höhnisch: »Liebe?« Schließlich nur noch: »Na los, verpisst Euch, ihr scheiß naives Fußvolk!« Und: »Was für ein gottverdammter Zwergenaufstand! Na los! Verpisst Euch! Ihr seid längst besiegt! Ihr Versager!« So funktioniert das Erbe. Das Kapital besitzt die Erben. Sie sind die Personifikation des Kapitals. Und wer zum rechenhaften Handeln und Profitstreben nicht taugt, wird gnadenlos aussortiert. Es geht um Gewinn, knallharte Geschäfte, ›Killerinstinkt‹, wie der Medienboss Logan Roy sich ausdrückt: »Gewinn, das ist auch schon alles, worum es hier geht.« Jedes der Kinder wird vom ›Alten‹ in die Nachfolge eingesetzt, das geschieht nicht von selbst und auch nicht durch besonders kluge Praktiken, sondern überwiegend durch Unterwerfung unter einen patriarchalen Habitus, der besonders gnadenlos daherkommt, Anpassung an das Vorgegebene, ökonomisches Kalkül zum eigenen Vorteil – und dem der Firma. Insofern verwundert es, wenn Bourdieu ausschließlich den unteren Gesellschaftsklassen Konformität zuordnet. Erbe ist man nicht, sondern man wird es. Zum Erben und Nachfolger wird man gemacht. Es setzt die Personifizierung des Kapitals, der buchhalterischen Logik und der Profitsucht voraus. Der ökonomische Menschenschlag, von dem Vogl in Kapital und Ressentiment (2021) spricht, ist das menschgewordene Kapital, das sich im Gerangel um Machtpositionen auf die Seite der Kapitallogik schlägt. Die Erben sind nicht automatisch Nachfolger, sie werden nicht als solche quasi automatisch durch die Strukturen hervorgebracht, im Sinne einer strukturalen Korrespondenz, sondern sie müssen sich durch – menschenverachtende – Akte sozialer Magie, Prakti-

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ken und Dispositionen einer – kalten – Ökonomie qualifizieren und als würdig erweisen. Sich gegen die Konkurrenz im Wettbewerb um Positionen durchsetzen und (Distinktions-)Gewinne vorweisen, gehört zweifellos dazu. Und es ist möglich, das Erbe auszuschlagen bzw. die Nachfolge anders als vorgesehen zu interpretieren und zu gestalten. Wie es ausgeht, wer das Erbe antritt und wer nicht, hängt nicht nur von der Struktur, vom ökonomischen und kulturellen Vermögen ab, sondern auch vom Subjekt, das zwar den Strukturen unterworfen ist, wie Butler im Anschluss an Foucault annimmt, aber als solches auch als Subjekt handlungsmächtig ist. Die Erben in der Serie sind, soviel ist bis hierher zu erfahren, keine angemessenen Nachfolger des Medienmoguls; sie haben sich nicht als Erben erwiesen, die eine Medienfirma ökonomisch führen und marktstrategisch handeln können. Ihre unbewussten Kompetenzen, ihr osmotisches Wissen, beschränkt sich auf Herrschaftsattitüden, arrogantes Auftreten und geschäftsmäßiges Getue. Sie sind nicht geeignet, den Konzern weiterzuführen. Kendall, der seinen Vater auf der Pressekonferenz anklagt und öffentlich so bloßstellt, dass die Investoren sich zurückziehen, ist ein jahrelanger Drogenkonsument und macht einen Entzug in einer Klinik, bis er schließlich, absichtlich oder unabsichtlich, sich nach seiner Geburtstagsparty alkoholisiert das Leben nehmen will, auf jeden Fall ›absäuft‹, aber gerettet wird. Als Firmenchef steht er immer im Schatten seines Vaters, wird aber auch massiv von seinem Vater in seine Schranken gewiesen. Auch die anderen Geschwister Roman und Shiv haben von der Firmenführung keine Ahnung, würden es aber machen, weil ihr ›Dad‹ es ihnen als Verbündete eher zutraut als Kendall, mit dem er um die Macht im Unternehmen konkurriert. Und ein weiterer Sohn hat andere Neigungen. Das heißt hier werden keine magischen Formeln und liturgischen Bedingungen geschaffen. Der patriarchale Firmenmogul verhindert, dass sein Erbe angetreten werden kann, er entscheidet sich für die Option ›verkaufen‹. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Erzählung, die der zukünftige Firmenbesitzer bei einem geheimen Treffen unter Berufung auf Marc Zuckerberg erzählt, es handelt sich um eine an-

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tike Erzählung über Sklaven, die nicht alle das gleiche tragen sollten, denn dann würden sie sehen, wie viele es von ihnen gibt und sie würden sich erheben und hätten die Macht, die Machthaber zu stürzen. Sprich: Individualität ist das Mittel, um die Macht der Mächtigen zu sichern: »Wir brauchen einen Haufen Untergebene, die uns mit ihren Daten zuscheißen.« Wie passt das, was in der Serie das Verhalten und die Dispositionen der Erben bestimmt, mit dem Sinn für Distinktion und der Form-Ästhetik, die Bourdieu den oberen Gesellschaftsklassen zuordnet, zusammen? Was hat die Abstraktion von der Substanz, vom Inhalt, die Vorliebe für die – ästhetische – Form, die Bourdieu empirisch als Stilelement des Geschmacks der oberen Gesellschaftsklassen ermittelt, mit dem buchhalterischen Kalkül als Erfordernis ökonomischen Handelns zu tun? Ist es der Primat der Form, der dem Stil (der Darstellung, der Präsentation) den Vorrang vor dem Dargestellten gibt, der gewährleistet, dass derjenige, der sich gegen die anderen durchsetzt im Kampf um die obersten Positionen und die damit verbundenen ökonomischen Dispositive, auch erfolgreich ist im Wettbewerb der Kapitalakkumulation und der Gewinne? Ist die Präferenz der – abstrakten – Form gewissermaßen dasjenige Element der Ästhetik, das, insofern es vom Inhalt abstrahiert, auch die Abstraktion vom Menschen, von menschlicher Arbeitskraft und menschlichen Bedürfnissen gewährleistet? Der Sinn für Distinktion, dem in der empirischen Untersuchung bei Bourdieu der Sinn für Abstraktion entspricht, korrespondiert mit der Abgrenzung vom Anderen, vor allem vom konkreten Menschen. In der Serie Succession wird die Beziehung zum Eigenen wie zum Anderen durch gnadenloses Machtstreben, Konkurrenz und Wettbewerb strukturiert. Was man hier im Kampf zwischen Vater und Sohn sieht, ist, dass der geforderte ›Killerinstinkt‹ sich letztlich gegen das Eigene wendet: das Erbe des Vaters wird zerschlagen. Die eigene Position wird aufs Spiel gesetzt. Das Wichtigste ist der soziale und ökonomische Erfolg; ›aus allem Gewinn ziehen‹ und den maximalen Profit erzielen, ist die maßgebliche Strategie. Der Raum der Möglichkeiten wird durch Investitionen, Übernahmen, Firmenkredite, Zusammenführungen permanent ausgeweitet. Wenn das nicht möglich ist, wird der Gegner vernichtet. Distinktionsgewinne spielen hier keine zen-

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trale Rolle, da sich die Familie ohnehin nur mit ihresgleichen umgibt. Der exzessiven Kapitalakkumulation entspricht der exzessive Konsum (von Alkohol, Drogen etc.), jedenfalls bei den Geschwistern; Personal, das für die Dekoration zuständig ist, ist selbstverständlich. Ihm überlässt der Firmenboss es denn auch, als er seine Familie in ein neu erstandenes Haus beordert, u.a. den Hummer unangetastet in die Mülltonnen zu entsorgen und stattdessen Pizza zu ordern.

3.2 Ähnlichkeit schlägt in eine Struktur sozialer Ungleichheit um Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Produktion von Erben, die sich wie Erben verhalten, auf der Logik sozialer Ähnlichkeit beruht. Orientierung erfolgt hier, indem eine Vielzahl heterogener Einzelfälle auf wenige, übersichtliche Schemata reduziert werden und symbolisches Kapital, Anerkennung und soziales Prestige in der Gruppe akkumuliert wird. Die Logik der Ähnlichkeit kann mit Schemabildung in Verbindung gebracht werden; sie ist als kulturelles Strukturmuster und als Muster sozialer Kämpfe allgegenwärtig. Schemata verdichten sich – durch Wiederholung gewinnen sie Stabilität. »Wiederholung schlägt in Strukturbildung um« (Winkler 2021, S. 170). Die Frage ist, wie sie sich als Schemata und Muster herausbilden. Eine Möglichkeit ist, dass sich Einzelereignisse zu Mustern aufschichten und sich verdichten. Schemata verfestigen sich in einer großen Zahl von Wiederholungszyklen. Sie erscheinen, wie Stereotype, als vorgängige Muster, entstehen aber im Prozess der Wiederholung: »Als vorgängig erscheinen sie, wenn man nur ein einzelnes Ereignis, einen einzelnen Wiederholungszyklus betrachtet. Nimmt man dagegen die Kette der Wiederholungen insgesamt in den Blick, tritt hervor, dass die Wiederholung selbst das Schema hervorbringt« (ebd.).

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Winkler bezeichnet Ähnlichkeit als »Sortiermaschine«, die je nachdem, ob ein Ereignis in das Muster der Ähnlichkeit passt oder nicht, gewissermaßen ›Entscheidungen‹ trifft: »Reicht die Ähnlichkeit aus, geht das Einzelereignis via Verdichtung in das fragliche Schema ein; gibt es ein konkurrierendes Schema, dem das Einzelereignis ähnlicher ist, geht das Einzelereignis in den Zyklus des konkurrierenden Schemas über« (ebd., S. 171). Es muss hinzugefügt werden, dass konkurrierende Muster nur dann konkurrieren (können), wenn soziale Hierarchien und verfestigte Machtstrukturen, also Herrschaftsverhältnisse, nicht im Spiel sind. Denn dann tritt an die Stelle der Konkurrenz der Rekurs auf vorgängige, auf quasi-magische Weise tradierte Muster – und die Ausgrenzung der Differenz. Und ein weiterer Aspekt ist zu berücksichtigen: Die – konkurrierenden – Schemata sind nicht bewusst, sie liegen nicht – unbedingt – offen zutage, sondern treten nur selten als solches an die Oberfläche; in den meisten Fällen treten sie unbewusst und verkleidet in Erscheinung. Das macht sie unverfügbar. Der Preis der Schemabildung durch gehäufte Ähnlichkeiten ist die Generalisierung, die Abstraktion vom konkreten Einzelereignis: »Mit jedem Durchlauf, mit jedem neuen Einzelereignis, jedem neuen Fall von Ähnlichkeit, jeder einzelnen Wiederholung, rückt das Schema von den Einzelereignissen weiter weg; es wird abstrakter. Und gleichzeitig gewinnt es an Eigenständigkeit und Stabilität« (ebd., S. 173). Die Generalisierung verhindert, dass das Einzelereignis als solches konkret wahrgenommen wird. Jede Differenz zum Schema stellt dieses in Frage; und muss deshalb vermieden, ausgeschlossen werden, um die Ähnlichkeit und damit das Schema – und in unserem Fall die soziale Struktur der Ungleichheit – aufrechtzuerhalten. Die Differenz auszuschließen – und die Wahrnehmungsmuster des Ähnlichen zu priorisieren – darauf bereiten die Einsetzungsakte und Initiationsriten vor, so zeigen die Analysen von Bourdieu.

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Sie zeigen, dass ein zentraler Mechanismus der Reproduktion sozialer Strukturmuster in den Wahrnehmungs- und Handlungsschemata der Subjekte begründet ist, die ihrerseits von den zugrundeliegenden objektiven Strukturen hervorgebracht werden, und, indem sie auf sie zurückwirken, diese stabilisieren. Kulturelle Ähnlichkeiten bilden also ein wesentliches Merkmal sozialer Räume und Positionen; sie verweisen auf Wahrscheinlichkeiten des sozialen Austauschs und der Begegnung. Letztlich wird aber nicht deutlich, wie diese Schemata wirklich entstehen, der Habitus als Disposition, der aus einer sozialen Position hervorgeht, genau zustande kommt, was ihn in die Welt bringt und wie dies geschieht. Schemata sind hier auf zwei Ebenen am Werk: Zum einen auf der Ebene der Homologie oder Korrespondenz von objektiver Struktur und subjektiver Disposition, zum anderen als Ähnlichkeit des kollektiven Habitus, also der kollektiven Schemata, mithilfe derer die Welt beobachtet und interpretiert wird. Vorausgesetzt wird hier ein Automatismus der Homologie (Ähnlichkeit) von objektiver Struktur und subjektivem bzw. kollektivem Habitus. Aber wie dieser Automatismus hervorgebracht wird und funktioniert, ist nicht hinreichend geklärt; wie die Homologie von objektiver Struktur und subjektiven Dispositionen und Schemata konkret ausbuchstabiert wird, erhellt sich aus Bourdieus Kulturtheorie nicht. Auffällig ist, dass Bourdieu (und Passeron) nicht nur immer wieder auf religiöse Metaphern zur Beschreibung der Auswahl der Eliten zurückgreifen, sondern auch die Funktionsweise der Reproduktion sozialer Eliten und Klassen in Analogie zu magischmythischen Formen der Konstitution sozialer Wirklichkeit beschreiben: Sie zeigen, dass sich Privilegien quasi auf magische Weise als Sinn für Distinktion artikulieren und dafür sorgen, dass die Logik des Auserwähltseins sich mit der magischen Teilhabe an gruppen- und klassenspezifischen Prozessen, gestiftet durch kulturelle Ähnlichkeit und die entsprechenden Wahrnehmungsschemata, verbindet und damit gleichsam automatisch die Durchlässigkeit von Klassen(grenzen) verhindert. Und dies auch vonseiten derjenigen, die ausgeschlossen sind aus dem Teilen distinktiver Lebensstile und ausgewählter kultureller Codes.

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Jürgen Habermas charakterisiert in seiner Theorie des kommunikativen Handelns das mythische Weltverständnis, indem er auf die Ergebnisse der strukturalistischen Untersuchungen von LéviStrauss zurückgreift und nutzt sie als Folie, um die Umrisse des modernen Denkens zu umreißen. Eine Annäherung kann durch das Modell des mythischen, ›wilden‹ Denkens erfolgen, das LéviStrauss entwickelt und das Jürgen Habermas gewissermaßen als Kontrastfolie moderner Rationalität aufgreift; hier bilden Ähnlichkeits- und Kontrastbeziehungen zentrales Element einer Perspektive auf die Welt, die »in Mythen reichhaltige und genaue Informationen über die natürliche und soziale Umwelt« verarbeiten und einer doppelten Illusion über die Welt verhaftet sind: »eine Illusion über sich selbst und eine Illusion über die Welt« (Habermas 1981, S. 78). Dem entspricht eine Praxis, die sich der Welt auf imaginäre, nicht technische, reale Weise bemächtigt. »Eine solche Weltdeutung, derzufolge jede Erscheinung durch das Wirken mythischer Mächte mit allen übrigen Erscheinungen korrespondiert, ermöglicht nicht nur eine Theorie, die Welt narrativ erklärt und plausibel macht, sondern zugleich eine Praxis, mit der die Welt auf imaginäre Weise kontrolliert werden kann. Die Technik der magischen Einwirkung auf die Welt ist eine logische Folgerung aus der mythischen Wechselbeziehung der Perspektiven zwischen Mensch und Welt, zwischen Kultur und Natur« (79; Hervorhebg. H.B.). Anstelle von Differenzierungen wird die komplexe Heterogenität auf übersichtliche Schemata reduziert – Ähnlichkeit und Kontrast bilden das Schema mythischer Weltbilder. Habermas sieht die Differenz des mythischen Weltverständnisses zum modernen, rationalen Denken nicht auf der Ebene der logischen Operationen, sondern auf der Ebene der Begriffe, die den Subjekten zur Verfügung stehen, den »›Ontologien‹, die in die Weltbildstrukturen eingebaut sind [und die den] Bezug zur sozialen und zur subjektiven Welt ebenso einbezieht wie den zur objektiven Welt« (ebd., S. 75).

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Dem entspricht gewissermaßen das magische Konzept der Kontrolle und der ›Beschwörung‹ der sozialen Wirklichkeit, mit der die Klassenpositionen gesichert werden. Das ›richtige‹ Einschreiben und Lesen der Codes wird durch die Ähnlichkeit der strukturierenden Schemata, durch ähnliche Dispositionen, gewährleistet; magische Operationen der Separation und Aggregation markieren, mit symbolischer Anerkennung ausgestattet, die privilegierte oder untergeordnete Position. Die Beschreibungen der sozialen Magie, mit deren Hilfe sich soziale Eliten nach Bourdieu rekrutieren und reproduzieren, erinnern an die ›Geschlossenheit‹ mythischer Weltbilder mit ihren beiden Aspekten der mangelnden Differenzierung und der fehlenden Reflexivität von magischen Praktiken und Ritualen. Sie basiert demnach auf mythischen Denkfiguren archaischer Gesellschaften, die Identität(en) an »die Details des mythisch festgeschriebenen kollektiven Wissens und an die formellen Einzelheiten der rituellen Vorschriften binden« (Habermas 1981, S. 83). Die klare Abgrenzung eines Bereichs der Subjektivität fehlt hier genauso wie Absichten und Motive des Handelns ebenso wie Gefühle von stereotypisierten Äußerungen nicht getrennt werden; so Habermas. Wenn die Zugangsbedingungen (Bourdieu spricht von ›liturgischen‹ Bedingungen!) zu gesellschaftlichen Eliten auf diese Weise mit magisch-mythischen Denkmustern, exklusiven ästhetischen, expressiven und kognitiven Schemata beschrieben werden können, die an ritualisierte Artikulationsformen gebunden sind, dann wird der Zugang zu höheren gesellschaftlichen Positionen eben nicht durch rationale Formen des Wissens eröffnet, sondern Rationalität bildet dann selbst einen Mythos. Nicht von ungefähr stellt Bourdieu die Frage, ob »die Besetzung herrschender Positionen nicht […] ein Institutionsritus ist, der eine abgetrennte und geweihte Gruppe herstellen soll« und er fragt weiter, ob »die Funktion der Eliteschulen nicht darin besteht, ihre soziale Funktion der rituellen Ausschließung zu verdecken, und eine anscheinend rationale Rechtfertigung für die Weihezeremonien

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zu liefern, mit denen die angeblich rationalen Gesellschaften ihren Adel produzieren« (Bourdieu ; 2004, S. 93).1 Die Übertragung des Erbes geschieht, wie dargestellt, auf magische Weise. Das geschieht in denjenigen sozialen Klassen, in denen das materielle und kulturelle Erbe für die Fortsetzung und Akkumulation des ökonomischen und kulturellen Kapitals zählt. Soziale und kulturelle Affinität (Ähnlichkeit und deren Anziehungskraft) sichern die Position des Oben oder Unten, nicht die Differenz. Das gilt sowohl für die kulturellen Eliten als auch für die, die ausgeschlossen werden. Auch bei ihnen sorgt die Reproduktion des Ähnlichen oder Gleichen dafür, dass alles bleibt, wie es ist; in jedem Fall trägt das mythisch-magische Konzept der Ähnlichkeitsbeziehungen dazu bei, dass soziale Ungleichheit sich fortsetzt – und die Klasse nicht verlassen werden kann. Die Durchlässigkeit von Klassen-Grenzen wird sowohl von den Erben als auch von denen, die aus dem Kreis der Auserwählten ausgeschlossen sind, verhindert. Gewährleistet wird dies durch den magischen Herrschaftseffekt inkorporierter Dispositionen und die symbolische Gewalt einer unbewussten Komplizenschaft der Erben und derer, die ihr unterworfen sind. Es handelt sich, wie Bourdieu über die Komplizenschaft objektiver und mental-kognitiver Strukturen ausführt, um eine verborgene Beziehung und einen stillschweigend gebilligten Zwang (vgl. Bourdieu 2004, S. 17). Die Überschreitung der Klassengrenzen würde das Durchbrechen der magischen Grenzen durch De-Mystifikation und De-Codierung der unsichtbaren Klassencodes und realen Machtverhältnisse voraussetzen.

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»Bourdieu und Passeron argumentieren, dass die Bedeutung von institutionalisiertem Wissen und Qualifikationen im gesellschaftlichen Ausschluß und nicht im technischen oder menschlichen Fortschritt liege. Sie legitimieren und reproduzieren eine Klassengesellschaft« (Willis 1979, S. 199). Willis weist darauf hin, dass, insofern Wissen immer klassenspezifische Bedeutungen impliziert und transportiert, der aus der Arbeiterklasse stammende Schüler »den in ihm angelegten Nachteil überwinden (muss), der darin besteht, daß er von vornherein die falsche Klassenkultur und die falschen, durch die Erziehung vermittelten De-Coder besitzt« (ebd.).

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Das magische Denken, die soziale Magie und der gemeinsame Glaube an die Magie des symbolischen Kapitals der Glaubensgemeinschaft sorgen für die Reproduktion der sozialen Ungleichheit. Sie sorgen dafür, dass nur die Auserwählten, die ohnehin Geweihten gesegnet werden. Es sind gewissermaßen ›archaische‹ Muster, die darüber wachen, wer oben ist und wer unten. Ein ›messianischer‹ Automatismus regelt die sozialen Hierarchien – und das im 21. Jahrhundert! Die realen Machtverhältnisse werden mithilfe ökonomischen Kapitals und symbolischer Codes, die geteilt werden, kontrolliert. In den unteren Gesellschaftsklassen ist mit der kulturellen Affinität die Aufgabe jeden Anspruchs, die Dinge zu kontrollieren, verbunden (vgl. dazu Willis 1979; Bublitz 1992). Das institutionalisierte Wissen und die Regeln seiner Aneignung sind mit Klassenbedeutungen befrachtet, die nur jenen zugänglich sind, die mit ihnen aufwachsen und sie gewissermaßen osmotisch aufnehmen. Die hier vertretene These geht davon aus, dass soziale Eliten sich mit magischen Praktiken, nicht mit rationalen und modernen Methoden an die Spitze der Gesellschaft bringen und sich aufgrund von sozialer Magie oben halten. Eliten rekrutieren sich mithilfe eines magisch-mythischen Wissens, nicht mit Logik, Rationalität und reflektiertem Bewusstsein. Dem entspricht ein geschlossenes Weltbild, das die (Aus-)Wahl für natürlich hält.

3.3 Die Magie der Macht: das Ensemble der Anordnungen Aber die soziale Magie ist mehr als nur ein Code oder ritualisierte Akte, es handelt sich vielmehr um komplexe Anordnungen. Die soziale Magie löst sich bei näherer Betrachtung in ein Arrangement auf, in die Inszenierung eines Machtapparats, ein Machtdispositiv. Es sind nicht nur die performativen Sprechakte, die Wirkung zeigen: ›how to do things with words‹ (Austin) bezieht diskurstheoretisch auch jene Elemente ein, die sich durchaus heterogen zu einem homogenen Bild zusammenfügen. Nicht umsonst rekurriert Bourdieu immer wieder auf religiöse Metaphern, also Formen der Übertragung von Wörtern und deren Sinn in ein anderes Gebiet,

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um zu verdeutlichen, dass sich hier rituelle Praktiken, institutionelle Formen der Einschließung und symbolische Kämpfe (um Macht) zu einem ›Dispositiv‹ zusammenschließen. Darunter ist nicht nur ein »heterogenes Ensemble, Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, […] kurz: Gesagtes ebenso wie […] Ungesagtes« zu verstehen, sondern ein ganzes »Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann« und »die Natur der Verbindung« zwischen den einzelnen Elementen«; hinzukommt, dass ein Dispositiv, so nimmt Foucault an, eine Strategie darstellt, die auf einen Notstand antwortet. »Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion« (Foucault 1978, S. 119f.). Die strategische Funktion, von der hier die Rede ist, ist das Erbe, die Nachfolge zu sichern. Offensichtlich ist sie immer wieder in Frage gestellt.2 Daraus folgt, wie Butler zurecht im Zusammenhang mit dem medialen ›Raster‹ fordert, das Dinge (un)sichtbar macht, dass der gesamte Inszenierungsapparat sichtbar gemacht werden sollte, damit die Machtverhältnisse und die unsichtbaren Codes, die in die Anordnung eingehen, deutlich werden. Hier geht es um die Macht der sozialen Herkunft, die verschleiert und intransparent wird, wenn es um soziale Positionen und die Rekrutierung sozialer Eliten geht. Siegfried und Margarete Jäger haben an der ›Sprache des Dritten Reichs‹ mit Bezug auf Viktor Klemperer (›Lingua Tertii Imperii‹) deutlich gemacht, was gemeint ist, wenn sie auf das ›Gesamt2

Das zeigt ja u.a. auch die Serie Succession: Hier geht es um die Auswahl und Bewertung der Erben als taugliche Nachfolger für ein Firmenimperium. Was ›die Erben‹ zeigen, ist die Arroganz der Macht, worauf sie vorbereitet sind, ist, das Differente draußen zu halten, sich als ›Auserwählte‹ zu präsentieren, sie treten als ›Glaubensgemeinschaft‹ auf, die sich gegenseitig ihre Zugehörigkeit und ihren berechtigten Anspruch auf die Nachfolge beglaubigen – oder auch streitig machen. Worauf sie nicht vorbereitet sind, sind Kompetenzen der Unternehmensführung und argumentative Durchsetzungskraft in der Firma und im Vorstand – dort verhalten sie sich wie Analphabeten.

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kunstwerk‹ der Praktiken hinweisen, in denen sich »die Sprache der Schaufenster, der Plakate, der braunen Uniformen, der zum Hitlergruß gestreckten Arme, der zurechtgestutzten Hitlerbärtchen« (Jäger/Jäger 1999, S. 60) hinweisen; sie bilden Bestandteil von MachtDispositiven, in denen sich Macht als komplexe strategische Situation konfiguriert und die einzelnen Elemente sozusagen als ›Körper‹ und physische Umgebung der Diskurse inszeniert: »In gewissem Sinn kann man den festlich geschmückten Markt oder die mit Bannern und Spruchbändern hergerichtete Halle oder Arena, in der zur Menge gesprochen wird, als einen Bestandteil der Rede selber, als ihren Körper ansehen; die Rede ist in solchem Rahmen inkrustiert und inszeniert, sie ist ein Gesamtkunstwerk, das sich gleichzeitig an Ohr und Augen wendet, und doppelt an das Ohr, denn das Brausen der Menge, ihr Applaus, ihr Ablehnen wirkt auf den Einzelhörer mindestens gleich stark, mindestens gleich stark wie die Rede an sich« (ebd.). Auf diese Weise wirkt Macht im Sinne einer komplexen strategischen Situation, eines Macht-Dispositivs. Seine Wirkung ist die einer sozialen Magie; die verborgenen Codes, die in seine Anordnung eingehen, sind unsichtbare Elemente, die erst sichtbar werden, wenn man den Blick auf die Heterogenität des Dispositivs richtet; es ist die komplexe soziale Anordnung, die hier wirksam wird und die Bourdieu meint, wenn er von liturgischen Bedingungen, von Ritualen und Sprechakten spricht, die in ein komplexes Arrangement eingebettet sind. Zentrales Element bildet die Glaubensgemeinschaft und die Beglaubigung der magischen Praktiken durch diese. Die Form-Ästhetik, die er dem ›Sinn für Distinktion‹ der oberen Gesellschaftsklassen zuordnet, findet hier, in dieser Machtanordnung, ihren distinktiven Ausdruck. Sie geht zweifellos über eine distinktive Formästhetik hinaus; möglicherweise finden sich auch hier spannungsreiche Subjektformen, in der sich ästhetische und ökonomisch-marktförmige Praktiken verbinden (wie Reckwitz sie für das postmoderne Subjekt der creative class annimmt; vgl. Reckwitz 2016). Die Wirkung des Dispositivs wird durch performative Wiederholung und durch Übertragung der heterogenen Elemente in

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Dispositionen gesichert, also auch hier eine Form der Verdichtung und Verfestigung von Schemata. Rede und Bild, Körpertechniken und Sprachpraktiken, Taktiken und strategische Manöver greifen sodann in einem ›geheimnisvoll‹ codierten ›Gesamtkunstwerk‹ ineinander (vgl. dazu auch Bublitz 1999, S. 283-286; und Bublitz 2003, S. 163). Dazu passt, was Bourdieu zur Einverleibung der Strukturen und zur körperhaften Gestalt von Dispositionen schreibt: die Haltungs- und Handlungsschemata des – kollektiven – Subjekts korrespondieren dem ›Gesamtkunstwerk‹ des Dispositivs. Nach Bourdieu ›übersetzen‹ sich soziale Phänomene, Positionen und Hierarchien in körperliche Schemata, die die objektiven Strukturen, so nimmt er an, regelrecht einverleiben und verkörpern. Höchste Aufmerksamkeit kommt, wie auch Marcel Mauss herausgestellt hat, spezifischen Arten zu gehen, den Kopf zu halten, die Stimme zu erheben, der Gestik und Mimik etc. zu (vgl. Mauss 1975; Bourdieu 1979). Begriffe wie die körperliche Hexis und der Habitus korrespondieren, so meine ich, durchaus den Codes, die ›vererbt‹ und als ›Techniken‹ in sozialen Situationen angewendet werden. In dem Roman Zum Paradies von Hanya Yanagihara (2022) wird dies deutlich, hier wird im ersten Teil des Romans ein sonntäglicher Abend geschildert, an dem sich alle bei ihrem Großvater zum Essen versammeln und der seinen Enkeln offenlegt, was er jedem von ihnen nach seinem Ableben vermachen würde, worauf sie bereits seit Monaten gewartet hatten, was sie aber selbst nie angesprochen hätten. »Es sollte euch nicht überraschen, zu erfahren, dass ich beabsichtige, meinen Besitz zwischen euch dreien gleichmäßig aufzuteilen. […] Für eure zukünftigen Kinder wurde Geld zur Seite gelegt. Für die, die es schon gibt, habe ich Treuhandschaften arrangiert […]. Bingham Brothers wird weiterhin von seinem Vorstand geleitet und die Anteile werden unter euch dreien aufgeteilt werden. Ihr werdet alle euren Platz im Aufsichtsrat behalten […]. ›Eden‹, verkündete er, ›du wirst Frog’s Pond Way und die Wohnung in der Fifth Avenue bekommen. John, du wirst das Anwesen in Larkspur und das Haus in Newport bekommen‹. Und an dieser Stelle schien

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sich die Luft zu verdichten und zu schimmern, denn sie begriffen alle, was das bedeutete: dass David das Haus am Washington Square bekommen würde. ›Und du, David‹, sagte Großvater langsam, ›Washington Square. Und das Landhaus am Hudson.‹ Er sah nun müde aus und lehnte sich noch weiter zurück, offenbar aus echter Erschöpfung, nicht nur als Teil seiner Darbietung, und das Schweigen hielt noch immer an. ›Und das war es, das ist meine Entscheidung‹, erklärte Großvater. ›Ich will, dass ihr jetzt alle deutlich hörbar eure Zustimmung bekundet‹. ›Ja, Großvater‹, murmelten sie alle. […] Danach und ohne dass irgendjemand etwas sagen musste, endete der Abend abrupt. […] Und dann wurden Hände geschüttelt und Küsse getauscht, und die Verabschiedung, bei der alle zur Tür gingen und seine Geschwister und ihre Ehegatten sich in Umhänge und Schals hüllten und in Tücher wickelten, für gewöhnlich eine seltsam lärmende und langwierige Angelegenheit voller Ausrufe über das Essen und Ankündigungen und verstreuter, vergessener Informationen über ihr Alltagsleben, verlief stumm und rasch, Peter und Eliza hatten bereits die abwartenden, nachsichtigen und mitfühlenden Mienen aufgesetzt, die sich jeder, der in den Kreis der Binghams einheiratete, früh in seiner Laufbahn anzueignen lernte« (Yanigahara 2022, S. 16ff.). Bourdieu geht davon aus, dass es sich hier um homogene ›innere‹ (äußere) Strukturen handelt, die sich homolog zu den objektiven Strukturen des sozialen Raums ausbilden und im Inneren des Subjekts, seinen körperlichen Haltungen und Techniken ›abbilden‹; bei ihm steht der Habitusbegriff für dauerhaft erworbene körperlichen Dispositionen und Schemata, die, wie die Grammatik der Sprache, erlernt und in der Praxis aktualisiert werden, ohne dass die Akteure die Regeln, nach denen sie sich richten, angeben könnten oder sie ihnen auch nur bewusst wären. Bourdieus Konzept der Inkorporierung kann, im Gegensatz zum psychoanalytischen Konzept der Internalisierung, als materiell-leiblicher Aspekt der sozialen Verortung der Subjekte aufgefasst werden, die, folgt man diesem Ansatz, immer mit anderen, kollektiv geteilte Dispositionen sind und die gewissermaßen, in Fleisch und Blut übergegangen, dem Subjekt unverfügbar, als unbewusste Strukturen verstanden werden müs-

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sen und wirken. Ihre Entstehungsgeschichte entgeht dem Subjekt; sie kann allenfalls ex post rekonstruiert, selten aber korrigiert werden. Dass die Strukturen des Subjekts diesem nicht bewusst sind und sich im Körper materialisieren, heißt aber nicht, dass sie nicht verfügbar sind; sie sind nur als reflektierte unverfügbar, funktionieren aber gerade dadurch zuverlässig. Denn der Habitus, »dieses durch geregelte Improvisationen dauerhaft begründete Erzeugungsprinzip« (Bourdieu 1979, S. 170), lässt sich gerade dadurch beschreiben, »als Operator zu funktionieren«, indem er, »zu Natur gewordene Geschichte«, ebendiese ›in den Körper hinein‹ vergisst, und sie als solche zu negieren, weil »sie als zweite Natur realisiert wird« (ebd., S. 171). Der Habitus als das »Vergessen der Genesis« und die Ausbildung unbewusster Schemata, die den Körper wie eine »Gedächtnisstütze« (ebd., S. 199) behandeln, gehören zusammen. »Daß freilich die Schemata über praktische Handlungen verlaufen, ohne im Bewußtsein thematisiert oder erklärt werden zu müssen, heißt nicht, daß sich der Erwerb des Habitus auf ein mechanisches, durch trial and error korrigiertes Lernen beschränkte. Gegenüber einer inkohärenten Folge von Zahlen, die nur schrittweise durch wiederholte Versuche und gemäß voraussehbarer Progression gelernt werden können, läßt sich eine Serie deshalb viel leichter aneignen, weil sie eine Struktur aufweist, die davon befreit, mechanisch die Gesamtheit der einzeln genommenen Zahlen im Gedächtnis zu speichern: Seien es Diskurse wie sprichwörtliche Redewendungen, Sprichwörter, Spruchdichtungen, Lieder, Rätsel oder Spiele, seien es Objekte wie Werkzeuge, wie das Haus oder das Dorf, oder schließlich Praktiken wie Ehrenduelle, Riten oder der Gabentausch, stets ist das Material […] das Produkt einer systematischen Applikation einer kleinen Anzahl zusammenhängender praktischer Prinzipien« (ebd., S. 190). Was auf diese Weise angeeignet wird, ist ein generatives Prinzip von Praktiken, deren Performanz ›wie im Schlaf‹ erfolgt und deshalb gar nicht ins Bewusstsein dringt. Dennoch ist Bourdieu sich sicher: »Der Körper denkt immer« (ebd., S. 199); auch im Schlaf. Es ist die »Vergesellschaftung der Physiologie, indem physiologische Ereignisse in symbolische verwandelt werden«, mit der nach Bour-

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dieu dem Körper »Strukturen der kulturellen Willkür« so eingeprägt werden, dass diese Form der ›Einverleibung‹ »die Möglichkeit ungewöhnlicher Abkürzungen bereitstellt« (ebd., S. 200): »Pars totalis, ist jede Körpertechnik dazu prädisponiert, entsprechend dem Paralogismus des pars pro toto zu fungieren, also das gesamte System, dessen Teil sie bildet, zu evozieren. Messen alle Gesellschaften […] den augenblicklich unbedeutendsten Einzelheiten, der Haltung, des Auftretens, der körperlichen und verbalen Darstellungsweisen einen so großen Wert bei, so darum, weil sie, indem sie den Körper wie ein Gedächtnis behandeln, ihm in gedrängter und praktischer, d.h. mnemotechnischer Form die fundamentalen Prinzipien der kulturellen Willkür zuzuweisen. Das derart Einverleibte findet sich jenseits des Bewusstseinsprozesses angesiedelt, also geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen, geschützt selbst noch davor, explizit gemacht zu werden: Nichts erscheint unaussprechlicher, unkommunizierbarer, unersetzlicher, unnachahmlicher und dadurch kostbarer als die einverleibten, zu Körpern gemachten Werte« (ebd., S. 200). Bourdieu nimmt nicht von ungefähr an, dass jede Gesellschaft gewissermaßen »Strukturübungen« vorsieht, mit denen »diese oder jene praktische Meisterschaft übertragen werden dürfte« (Bourdieu 1987, S. 138). Dabei werden die in Dingen und Personen materialisierten gesellschaftlichen Verhältnisse ›unmerklich‹ inkorporiert und zu einem Ensemble dauerhafter Körperhaltungen und -techniken entwickelt. Durch wiederholtes performatives Ausführen und mimetisches Lesen der Körper, Dinge, Personen, Räume und Situationen werden automatisierte Handlungsvollzüge entwickelt, werden Einstellungen und Haltungen verstärkt oder abgeschwächt, wenn nicht sogar durchgestrichen. Dadurch – und durch die Beglaubigung und den Rückhalt der Dispositionen in der Gruppe/im Kollektiv, durch die unterschwelligen Übereinkünfte – sedimentieren sich relativ kohärente Schemata, die in der körperlichen Hexis »eine ständige, unauslöschliche Gedächtnisstütze finden« (Bourdieu 1997b, S. 197). Es ist das, was von den Erben gelernt werden muss, um zu werden, was sie sind: Erben. Die Übertragung des Erbes geschieht

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unbewusst, durch unbewusste Sedimentierung und soziale Beglaubigung, nicht durch amtliche Zeugnisse und auch nicht durch bewusste Lernprozesse. Hier greifen soziokulturelle Praktiken und Subjektformen ineinander.

3.4 Subjekte als Dispositionsbündel Nur auf der Basis einer Theorie, die das Subjekt als »kontingentes Produkt symbolischer Ordnungen, welche auf sehr spezifische Weise modellieren, was ein Subjekt ist, als was es sich versteht, wie es zu handeln, zu reden, sich zu bewegen hat, was es wollen kann« (Reckwitz 2006, S. 34) kann man verstehen, wie ins Subjekt eingelagerte Dispositionen, Schemata und verborgene Codes, vom Subjekt größtenteils unbewusst und dem Subjekt unverfügbar funktionieren und unterhalb der Schwelle des subjektiven Bewusstseins operieren. Denn die soziale Magie der Auswahl oder Eliminierung von Subjekten beruht nicht auf den psychischen Intentionen oder souveränen Entscheidungen willentlich handelnder Subjekte. Subjekte sind keine autonomen psychischen Systeme, die mit Willen und Bewusstsein agieren und, mit einem Wesenskern, immer und zu jeder Zeit wissen, was sie tun, das hat Freuds Theorie gezeigt. Darauf haben aber auch poststrukturalistische Theorien hingewiesen, die den Dualismus von Subjekt- und Gesellschaftstheorie, Individuum und Gesellschaft ebenso wie die Trennung einer Sphäre des Sozialen, Kulturellen und des Psychischen und damit auch »das Subjekt als eine Art ›ghost in the machine‹« (ebd.) hinter sich lässt. Stattdessen wird hier ein Bezugsrahmen gewählt, der von einem konstitutiven Zusammenspiel sozialer Praktiken, kultureller Codes und Subjektmodelle ausgeht. Die Rekonstruktion von Subjektkulturen erfolgt aus einer – praxeologischen – Perspektive, die es nicht dabei belässt, das Subjekt mit seinen mentalen Innenwelten vorauszusetzen, es also von der sozialen Außenwelt in gewisser Weise getrennt anzunehmen und seine ›Bewusstseinsstruktur‹ zu rekonstruieren. Das Augenmerk richtet sich vielmehr auf spezifische ›Techniken‹ und Praktiken, vermittels derer Subjekte sich »nicht als eine vorgängige Synthese, sondern als ein potentiell heterogenes Arrange-

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ment von Dispositionen, als eine ›Dispersion‹« (ebd., S. 40) generieren. Subjekte sind demnach nicht mit einer »transzendentalen Reflexionsfähigkeit« (ebd.) ausgestattet. »Subjekte (sind) […] keine psychisch-mentalen Systeme, nicht der ›innere Kern‹ von Individuen oder individuelle Bewusstseinsströme«, sondern sie sind als sozial-kulturelle Formen zu verstehen, deren Subjektpositionen und -kulturen sich im Rahmen kollektiver symbolischer Ordnungen bilden. Aus praxeologischer Perspektive stellt sich das Subjekt »als ein Bündel von Dispositionen dar« (ebd., S. 39f.), das »im Vollzug hochspezifischer kultureller Praktiken« Haltungen und Umgangsformen produziert und reproduziert, die »sich auch als ein praktisches Schemawissen begreifen« (ebd., S. 40; Hervorhebg. H.B.) lässt. Reckwitz geht davon aus, dass Subjekte aus kulturellen Praktiken, sozial geregelten, routinierten Formen des körperlichen Verhaltens, in einem Geflecht von kulturellen Codes, Unterscheidungen, und Klassifikationen entstehen. Sie umfassen spezifische Formen des Wissens, der Regeln und Codes; diese bilden Elemente sozialer Praktiken, in denen sie ihre Wirkung entfalten und denen sie, wie den Subjekten, ihre Form geben. Das heißt kulturelle Praktiken sind nicht identisch mit intentionalen Akten subjektiv sinnhafter Handlungen, sondern es sind wiederholte, performativ hervorgebrachte Komplexe von Dispositionen, in denen sich kulturelle Codes ausdrücken und die mit einer gewissen Regelmäßigkeit stattfinden. Die soziale Wirklichkeit besteht demnach aus heterogenen Komplexen und Netzwerken sozialer Praktiken, in denen sich spezifische Subjektmodelle artikulieren. »Indem es nichts anderes ist als ein Träger routinisierter Praktiken […], lässt es sich als eine Agglomeration von Kompetenzen begreifen, als ein Set inkorporierter und interiorisierter Kriterien und Schemata, mit denen es in den Vollzug bestimmter Praktiken ›einrückt‹« (ebd., S. 40). Das Subjekt hat also, wie schon deutlich gemacht wurde, keine in sich konsistente Struktur, die über Zeit und Raum hinweg homogen ist, sondern wird verstanden als »potentiell heterogenes Arrangement von Dispositionen«, die verschiedene Arten schematisierten Wissens, routinierte Deutungsschemata und kulturell sedi-

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mentierte Begehrens- und Wunschstrukturen umfassen. Reckwitz geht davon aus, dass das Subjekt Dispositionen »in der Partizipation an der sozialen Praxis in sich implantiert« (ebd., S. 41; Hervorhebg. H.B.).In Anlehnung an Bourdieu ließen sich darunter Systeme von Mustern und Strukturierungsprinzipien von Praxisformen verstehen, die dazu tendieren, kollektive Regelmäßigkeiten und Anpassungsformen zu erzeugen, die nicht auf rationales Handeln zurückzuführen sind (vgl. Bourdieu 1979, S. 165). Bourdieu umschreibt sie auch als eine Art generative Grammatik der Wahrnehmungsund Handlungsmuster, die über Lern- und Konditionierungsprozesse unbewusst und angepasst an die Strukturen – klassenspezifische, kollektive – Klassifikationsmuster, Einstellungen und Haltungen erzeugt – und auf diese Weise dafür sorgt, dass soziale Positionen gewissermaßen als Dispositionen verinnerlicht werden und mit diesen fundamentalen Prinzipien der Konstruktion und Bewertung der sozialen Wirklichkeit inkorporiert. Reckwitz verweist zurecht auf die nicht unproblematische Tendenz zur Homogenisierung in Bourdieus Begriff des Habitus von Subjekten als ein »›System der organischen oder mentalen Dispositionen und der unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, das die Erzeugung (von) Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen« (ebd.) umschreibt. Er geht davon aus, dass »eine Subjektstruktur, die das Subjekt in allen seinen Praktiken durchgängig und widerspruchsfrei reproduziert« (ebd., S. 42, Anm. 13) nicht umstandslos vorausgesetzt werden kann. Zwar liefern allgemeine Codes den Rahmen für die Praktiken des Subjekts, für das, »was praktizierbar erscheint und was nicht, wie die Gegenstände und das Selbst routiniert interpretiert werden können, welche Wünsche und welche Abneigungen als selbstverständlich vorausgesetzt werden« (ebd., S. 42). Aber diese Codes sind weder in sich kohärent noch kann davon ausgegangen werden, dass sie im Subjekt und im Kollektiv kohärente Muster bilden. Innerhalb dieser allgemeinen Codes konstituieren sich vielmehr spezifische Subjektcodes, die das Subjekt inkorporiert und die bestimmen, »was das Subjekt ist und sein soll« (ebd., S. 42). Das Subjekt konstituiert sich in soziokulturellen Praktiken offenbar, so nimmt Reckwitz an, durch Implantation als ein Innen. Dabei bilden

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sich verschiedene Schemata aus, nämlich ein Wissen angemessener Praktiken und »Schemata gekonnten Verhaltens«, »Deutungsund Perzeptionsschemata«, schließlich »ein Komplex motivationalaffektiver Schemata, kulturell sedimentierter Wunschstrukturen, Formen des Begehrens und der schematisierten affektiven – negativen oder positiven – Aufladung von Gegenständen« (ebd., S. 41). Der Vorgang der Implantation selbst bleibt im Dunkeln; deutlich wird nur, dass das Subjekt eingespannt ist in einen Rahmen von kulturellen Codes, die es im Vollzug sozialer Praktiken als spezifische Subjektform und Dispositionskomplex produzieren (vgl. ebd., S. 42).

3.5 Dispositionen – Implantate machtgeladener Schemata Dieser Ansatz sieht, ähnlich wie der von Judith Butler, die Strukturen und Praktiken, die das Subjekt hervorbringen und formen, weniger als Zwang, sondern als Macht, die zwar Druck ausübt, die das Subjekt aber »allererst bildet oder formt, was dem Subjekt seine schiere Daseinsbedingung und die Richtung seines Begehrens gibt« (Butler 2001, S. 7f.). Auch Butler argumentiert gegen die Auffassung eines kohärenten Subjektentwurfs, der auf Ausschließungen und Verwerfungen gründet, das heißt, der über den Begriff der Identität strukturiert, alles Nicht-Identische, Differente, Andere ausschließt und verwirft. Ihr Interesse richtet sich vielmehr, im Anschluss an Foucaults Machtbegriff und seine subjekttheoretischen Analysen, auf die Bildungsprozesse eines Subjekts, aber auch unter Rückgriff auf Hegels Phänomenologie des Geistes und dessen Herr-Knecht-Dialektik, auf Subjektivierung als machtfömige Paradoxie, nämlich als ambivalenten »Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung« (ebd., S. 8). Es handelt sich um einen Prozess, in dem die Macht, die das Subjekt generiert, zugleich eine psychische Form annimmt, die Butler durch »eine Figur der Wendung«, einer Rückwendung des – in der Bildung begriffenen – Subjekts auf sich selbst beschreibt. Diese machtförmige Subjektbildung installiert, so argumentiert Butler, am »Schauplatz

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der Subjektentstehung« von Anfang an eine Ambivalenz, nämlich das Streben nach Autonomie und Unterwerfung unter soziale Normen der Gesellschaft. Unterordnung und Abhängigkeit werden, wie Butler annimmt, rigoros ins Unbewusste verdrängt. Mit dieser Annahme integriert Butler die psychoanalytische Perspektive auf das Subjekt, nämlich die Sphäre des Psychischen, in die Subjekttheorie; aber sie tut dies, im Unterschied zu Freud, indem sie – poststrukturalistisch – davon ausgeht, dass das Soziale und die Sphäre des Psychischen gleichursprünglich, beide konstitutiv für das Subjekt sind, das ohne diese Ambivalenz und ohne die Spur der Gesellschaft, die sich reflexiv ins Subjekt hinein verlängert, nicht existieren würde. Macht bildet »den Ort, an dem das Soziale das Psychische impliziert und an dem sich die Macht, instituiert über Sprechakte, als innere Stimme etabliert, ›topographisch dargestellt als psychische Werkzeuge und Institutionen innerhalb einer psychischen Landschaft‹« (Bublitz 2021, S. 89; Hervorhebg. H.B.; zit. n. Butler 201, S. 183). Butler nimmt an, dass das Subjekt sich als Produkt, ja, als »Modalität der sich auf sich selbst zurückwendenden Macht« (Butler 2001, S. 12; Hervorhebg. H.B.) etabliert, »die die Errichtung einer innerpsychischen Machtinstanz, des Gewissens, vorsieht« (Bublitz 2021, S. 89) und als »machtgeladenes Schema der Produktion und Verwirklichung des Körpers« (Butler 2001, S. 87; Hervorhebg. H.B.) agiert. Diese Praktiken und Prozesse geben dem Subjekt erst seine soziale Existenz, sind dem Bewusstsein des Subjekts aber entzogen. Die Integration sozialer Normen ins Subjekt erfolgt, so Butler, unbewusst, ja, das Subjekt entsteht erst »zusammen mit dem Unbewußten« (ebd., S. 12). Damit wirkt die gesellschaftliche Macht nicht einseitig auf ein Subjekt ein, sondern sie bildet ein Element – der Psyche – des Subjekts und seiner Reflexivität. Das bedeutet: Die gesellschaftlichen Bedingungen, die das Subjekt hervorbringen, werden vom Subjekt nicht einfach akzeptiert oder verinnerlicht, sondern sie werden in der Inauguration des Subjekts in seiner sozialen Existenz zu psychischen Instanzen, zur ›inneren‹ Stimme des Subjekts. Folgt man Butlers Ausführungen, dann geschieht dies dadurch, dass sie ›gewendet‹ werden, also eine Wendung des Subjekts auf sich selbst erfahren – und als äußere Macht verloren gehen. »Die Sprechakte der Macht […] werden topographisch dargestellt als psychische Werkzeuge und Institu-

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tionen innerhalb einer psychischen Landschaft« (ebd., S. 183; Hervorhebg. H.B.). Durch diese ›Wendung‹ wird die Macht zu einem »verlorenen Objekt«; die Reglementierungsmacht, wird »›innerlich‹ nur durch die melancholische Hervorbringung der Figur des inneren Raums« (ebd., S. 183), zur ›inneren‹ Stimme des Subjekts dadurch, dass die Bedingungen seiner Entstehung vom Subjekt ›verborgen‹ und ›gewendet‹ werden. Durch »die melancholische Einverleibung […] wirkt die Macht nicht mehr einseitig auf ihr Subjekt ein. Vielmehr wird das Subjekt paradoxerweise durch diesen Entzug der Macht hervorgebracht, durch ihre Verbergung und Erfindung der Psyche als eines sprechenden Topos. Die gesellschaftliche Macht verschwindet […], wird zum verlorenen Objekt […]. Sie ruft somit eine Melancholie hervor, die die Macht als psychische Stimme des an uns selbst gerichteten (gegen uns selbst gewendeten) Urteils reproduziert und damit die Reflexivität nach dem Modell der Subjektivation formt« (ebd., S. 184). Die Denkfigur der reflexiven (Rück-)Wendung des Subjekts auf sich selbst impliziert mit dem Vorgang der Subjektkonstitution zugleich auch die machtförmige Installation der Psyche des Subjekts. Butler macht, Foucaults Vorschläge zur Subjektivierung aufgreifend, deutlich, was unter Macht und Subjekt zu verstehen ist: Macht ist der Ort, an dem das Subjekt entsteht, sich bildet und unsichtbar wird, also sich gewissermaßen ins Subjekt ›auflöst‹: »Die Macht ist dem Subjekt äußerlich, und sie ist zugleich der Ort des Subjekts selbst. Dieser offensichtliche Widerspruch wird sinnvoll, wenn wir uns klarmachen, daß kein Subjekt ohne Macht entsteht, daß aber die Subjektwerdung zugleich eine Verschleierung der Macht impliziert. [….] Das heißt nun nicht, das Subjekt ließe sich auf die Macht zurückführen, der es seine Entstehung verdankt, genauso wenig, wie sich die Macht auf das Subjekt reduzieren läßt. Macht ist niemals bloß eine äußerliche oder dem Subjekt vorhergehende Bedingung, noch kann sie ausschließlich mit dem Subjekt identifiziert werden. Die Bedingungen der Macht müssen ständig wiederholt werden, um fortzubestehen, und das Subjekt

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ist der Ort dieser Wiederholung, einer Wiederholung, die niemals bloß mechanischer Art ist« (Butler 2001, S. 20). Macht wird unsichtbar, bleibt – dem Subjekt – verborgen, weil und indem sie, in der performativen Wiederholung, die Psyche des Subjekts bildet – und hier offenbar ihre Gestalt, ihre Modalität verändert. Die Wirkung der Wiederholung(en) geht zurück auf wiederholte Sprechakte und diese auf die zitatförmige Wiederholung von Konventionen; hier wird deutlich, dass die Macht nicht ursprünglich auf den subjektiven Willen zurückgeht, sondern, so Butler mit Bezug auf Derrida, »immer abgeleitet ist« (Butler 1995, S. 36); abgeleitet aus einer symbolischen Ordnung und ihren Codes. Und sie nimmt an, dass performative Sprechakte ihre Wirkung ›kodierten‹, wiederholbaren Äußerungen verdanken und die ausgesprochenen Formeln als Zitat eines wiederholbaren Modells erkennbar sind (vgl. dazu u.a. Butler 1995, S. 35-40; Bublitz 2021, S. 31-33). Die Unterwerfung des Subjekts unter die gesellschaftliche Existenz wird nach Butler durch das Subjekt selbst vollzogen und vollendet, was allerdings nicht ohne weitreichende Gewalt dem psychischen Selbst gegenüber möglich ist. »Das Subjekt ist«, so schreibt Butler, »zur Wiederholung der gesellschaftlichen Normen gezwungen, durch die es hervorgebracht wurde«, und, so stellt sie fest, »wenn es einem nicht gelingt, die Norm ›richtig‹ wiederherzustellen, wird man weiteren Sanktionen unterworfen und findet die vorherrschenden Existenzbedingungen bedroht« (Butler 2001, S. 32; vgl. zum gesamten Prozess der Subjektivation ebd., S. 7-34; vgl. auch Bublitz 2021, S. 79-98). An dieser Stelle kommt Sozialität als gewaltförmige Konstitutionsbedingung des Subjekts ins Spiel: Butler deutet an, dass das Subjekt, da es Bedingungen ausgesetzt ist, die es nicht selbst geschaffen hat, bereits im Akt seiner Hervorbringung entfremdet ist, weil es immer wieder auf Kategorien, Begriffe und Klassifikationen zurückgreifen muss, »die eine primäre und inaugurative Entfremdung im Sozialen markieren« und sie schlussfolgert: »Wenn solche Bedingungen eine primäre Unterordnung, ja, Gewalt bedeuten, dann entsteht ein Subjekt, um für sich selbst zu sein, paradoxerweise gegen sich selbst« (Butler 2001, S. 32; Hervorhebg. H.B.). Und es entsteht,

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ähnlich wie bei Lacan, als ein anderer. »Von Anfang an ist dieses Ich anders als es selbst« (ebd., S. 182); soll heißen: es ist »in einen Autonomieverlust verstrickt, der vom sprachlichen und sozialen Leben vorgegeben wird« (ebd.). Aus dieser Ambivalenz, die das Subjekt bildet und formt, gibt es, so Butler, keinen Ausweg. Sozialität als diejenige, die eine soziale Existenz des Subjekts erst generiert, erweist sich dann, ähnlich wie bei Bourdieu und Foucault, zugleich als objektiver Zwang, der sich allerdings als die Bedingung der Möglichkeit des sozialen Subjekts erweist. Sozialität nimmt hier letztlich gewaltfömige Formen an, die das Subjekt letztlich selbst (er)tragen muss. Mit anderen Worten: Der Vorgang der Vergesellschaftung und Subjektivierung erfolgt, wie Nietzsche in der Genealogie der Moral deutlich macht, durch Formen der Unterwerfung, die im Subjekt psychische Formen annimmt. Auch bei Émile Durkheim erscheint ›die Gesellschaft‹ als überindividueller Zwangszusammenhang, der sich dem einzelnen Subjekt aufdrängt; auch er geht davon aus, dass soziale Tatsachen »mit einer gebieterischen Macht ausgestattet [sind], kraft deren sie sich einem jeden aufdrängen, er mag wollen oder nicht« (Durkheim 1965, S. 106). Durkheim bewegt sich auf der Linie der Argumentation von Butler, wenn er davon ausgeht, dass sich soziale Normen quasi ›hinter dem Rücken der Subjekte‹ und unter Zwang vollziehen, also nicht auf das intentional und willentlich handelnde Subjekt zurückgeführt werden können; »denn wenn eine Art des Verhaltens, die außerhalb des Einzelbewusstseins existiert, allgemein wird, kann es nicht anders geschehen als durch Zwang« (ebd., S. 112). Soziale Phänomene nehmen hier den Charakter von Dingen an und sind, so Durkheim, wie Dinge zu behandeln. Hier kommt bereits jene »Tiefenschicht sozialer Macht« (Honneth 2003, S. 20) in den Blick, die auf die Tatsache verweist, dass soziale Regeln so Honneth mit Bezug auf Foucaults machttheoretischen Ausführungen zur Mikrophysik der Macht »nur durch die wiederholte Aufzwingung von geradezu körperlichen Verhaltensweisen eingeübt werden können« (Honneth 2003, S. 20). Honneth spricht in diesem Zusammenhang vom Versuch einer materialistischen Transformation der Vorstellungen über soziale Lebensformen, die in den

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»›kognitiven Instrumenten, der Architektur unserer Räume, der Regelaufzwingung und der Technik unserer Kommunikationsmedien ebenso materielle Gestalt angenommen hat‹ wie sie sich im psychischen Druck und im Selbstverhältnis niederschlägt« (Honneth 2003, S. 29). Damit sind wir wieder bei den Macht-Dispositiven und den Dispositionen der Subjekte: Die Macht, der das Subjekt ausgesetzt ist und die es als solches erst hervorbringt, bleibt unsichtbar; durch gewissermaßen verborgene und dem Bewusstsein entzogene Vorgänge implantiert sich die Macht oder implantiert das Subjekt selbst die Macht im Subjekt. Das Subjekt bildet in komplexen (An-)Ordnungen der Macht, Dispositionen aus, die aus den Strukturen der Macht hervorgehen. Das ist auch die Antwort auf die im Verlauf dieser Ausführungen immer wieder gestellte Frage, wie sich ›das Erbe‹ überträgt. Die Übertragung geschieht nicht durch ein Testament, durch Schriftstücke oder ein Vermächtnis, sondern durch wiederholte Sprechakte, abgeleitete Zitate, durch Einverleibung und Implantation von Praktiken, die im ›Inneren‹ des Subjekts als Dispositionen und machtgeladene Schemata repräsentiert werden. Es sind verborgene Beziehungen und Schemata, die das Subjekt in seinen Praktiken reglementieren und steuern, gleichwohl aber seinem Bewusstsein entzogen sind. Die Erben werden durch einen Habitus, eine Subjektstruktur gesteuert, die aus magischen Praktiken und der symbolischen Macht der Distinktion, der Ab- und Ausgrenzung hervorgeht. Sie repräsentieren eine Subjektform, die in der Verfügung über ökonomisches und kulturelles Kapital zwangsläufig eine Abstraktion des Distinktiven im Sinne eines ›social character‹ darstellt. Es gilt gesellschaftlich als ideales Muster gelungener Subjekthaftigkeit. Sie entsteht durch performative Markierung von ›magischen‹ Grenzen zu anderen negativ konnotierten Subjektmodellen und entsprechenden Praktiken, die sich als ein »kulturelles ›Anderes‹« darstellen: »Positive Subjektmodelle hängen von einer Differenzmarkierung, einer ›Distinktion‹ gegenüber einem negativen Subjektmodell, einem Anti-Subjekt […] ab. Das Subjekt positioniert und bildet

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sich über Ausschließungsverfahren gegenüber unerwünschten Eigenschaften« (Reckwitz 206, S. 45). Subjektbildung nimmt eine machtförmige Form an, die das soziale Leben, die soziale Existenz des Subjekts um den Preis sichert, dass das Leben der anderen, die der Norm und den kulturellen Codes nicht genügen, mit Ausschluss und Verwerfung bedroht wird. Es gibt, wie Reckwitz u.a. auch mit Rekurs auf post-koloniale Kulturtheorien annimmt, »keine selbstgenügsame Subjektform ohne ein solches Außen; das Außen der abgelehnten Eigenschaften eines Anti-Subjekts stellt sich als Bedingung der Konstitution des Innen einer kulturell etablierten Subjektform dar« (ebd.). Diese Differenzmarkierung kann implizit oder explizit betrieben werden. Es ist dann immer wieder wichtig, die Frage zu stellen, was ihr kulturell Anderes, ihr Objekt der Differenzmarkierung ist und welche Eigenschaften diesem zugeschrieben werden. Das Deutungswissen als Teil eines Dispositionsbündels, von dem vorher die Rede war, bezieht sich immer auch auf das Selbst, nicht nur auf äußere Objekte des Begehrens. Und, Reckwitz mahnt zurecht einen wichtigen Punkt an, es gibt im Rahmen einer routinisierten Selbsthermeneutik immer auch eine »affektive Identifizierung« mit einem Subjektmodell, wie auch Butler deutlich macht. Reckwitz führt dazu aus, und dies könnte als Kritik an Bourdieus ›Ökonomie der Praxisformen‹ formuliert sein, ohne dass Reckwitz dies explizit zum Ausdruck bringt: »Es ist keineswegs so, dass dem Einzelnen mit der Subjektform lediglich eine sozial-kulturelle Struktur ›aufgezwungen‹ wird, der er/sie sich fügt. Stattdessen stellt sich innerhalb einer Subjektkultur das jeweilige Modell des Subjekts als ein attraktives, begehrenswertes Objekt dar, als ein Ideal-Ich gelungener Subjektivität, in dem der Einzelne sich spiegeln und bestätigen kann und dessen Repräsentation das Handeln motiviert. Die kulturelle Subjektform hält damit ›Identitätsverlockungen‹ bereit, die über eine psychisch neutrale Einverleibung von Dispositionen hinausgehen: Die Subjektmodelle müssen als begehrenswerte Bilder eines idealen, mit sich selbst identischen, glücklichen Wesens begriffen werden« (ebd.: S. 46).

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Wobei dies durchaus nicht nur, wie Reckwitz annimmt, für die gesellschaftlich dominanten Subjektmodelle (des bürgerlichen Subjekts, des Angestelltensubjekts wie auch des kreativ-unternehmerischen Selbst der Postmoderne) angenommen werden kann, sondern ebenso für die klassenspezifischen Formen der Subjektivierung gilt, auch wenn diese, aus der Perspektive der jeweils anderen, gewissermaßen als ›Anti-Subjekte‹ gelten. Was Reckwitz hier vernachlässigt ist, dass das attraktive, begehrenswerte Subjektmodell keineswegs als Spiegel und Identifikationsfolie für alle gesellschaftlichen Klassen gilt und herhalten kann, sondern nur für jeweils spezifische Klassenpositionen realisierbar ist, während es für andere unattraktiv oder geradezu unerreichbar erscheint. Während Bourdieu den legitimen Geschmack der oberen Gesellschaftsschichten als legitimen Geschmack, als ›Sinn für Distinktion‹ verabsolutiert, was aus der Warte der gesellschaftlich dominanten Position im sozialen Raum seine Berechtigung haben mag, erscheint mir dies aus klassenspezifischer Sicht nicht zulässig. Innerhalb der klassenspezifischen Praktiken und kulturellen Codes gibt es durchaus ein leidenschaftliches Verhaftetsein an die jeweiligen Subjektmodelle, was nicht nur für die oberen, sozial anerkannten und erfolgreichen Subjektmodelle gilt. Schließlich gibt es permanente Klassen-Kämpfe um soziale Machtpositionen und Kämpfe um symbolische Anerkennung. Subjektformen und ihre dispositionale Subjektstruktur haben, wie Reckwitz m.A.n. zurecht herausstellt, nicht per se eine homogene Struktur; ihre Homogenisierung kann vorübergehend historisch erfolgen; nicht zuletzt auch, um ihre Position in symbolischen Kämpfen zu verbessern bzw. zu stärken; aber das kann nicht ein für allemal vorausgesetzt werden. »Die Reproduktion einer Praktik, eines Praktikenkomplexes oder eines Diskurses ist nicht durch einen fixen, eindeutigen Code in eine unendliche Zukunft prädeterminiert; die Codes - und mit ihnen die Formen praktischen Wissens – sind selbst mit Polysemien durchsetzt, so dass sie potentiell ständig neue Sinnbezüge herzustellen vermögen. Wenn dies für die Praktiken und Praktikenkomplexe gilt, dann auch für die Subjektformen, die sich in

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ihnen produzieren und in beständiger Produktion begriffen sind. Einerseits erlangen Subjektformen durch die Inkorporierung und die Sedimentierung impliziten Wissens eine gewisse Beharrungskraft, die Reproduktion befördert. Andererseits sind sie als Bündel von Dispositionen und Träger unterschiedlicher Praktiken heterogene Gebilde und in ihren Subjektcodes werden diverse, unter Umständen einander widersprechende kulturelle Vokabulare verarbeitet; dies steigert die Wahrscheinlichkeit schleichender oder sprunghafter Verschiebungen und Modifikationen« (Reckwitz 2016, S. 448). Reckwitz nimmt an, dass Subjektmodelle Spielräume für individuelle Nuancierungen [enthält] und kontingente Ausfüllungen lassen und die scheinbare bloße Reproduktion kultureller Subjektformen »das beständige Potential des unintendierten Misslingens und jener Neuinterpretation, Neukombinationen und unintendierten Nuancierungen, welche bereits als Abweichungen von der Form interpretiert werden können: Subjektformen müssen vom einzelnen Subjekt in jedem Moment seiner temporalen Existenz in seinen Akten erneut hervorgebracht werden, was ein Moment der Unberechenbarkeit einschließt« (ebd., S. 49). Was, wenn die Normen sich verändern und die Codes gänzlich fremd, unbekannt und unzugänglich verborgen sind, wie dies bei Aufsteigern der Fall ist? Woher nehmen sie Kenntnisse über die im Aufstiegsmilieu gängigen Codes und das implizite Wissen? Und wie gehen sie mit den verschiedenen kulturellen Subjektmodellen, denen des Herkunftsmilieus und denen des Aufstiegsmilieus um? Was wird aus der affektiven Identifizierung und dem leidenschaftlichen Verhaftetsein an eine Subjektform, wenn soziale Abwertung und Scham dies verhindern? Auch wenn Reckwitz dafür plädiert, dass Subjektmodelle und die entsprechenden Dispositionen immer als heterogen und dynamisch betrachtet werden müssen, so wird doch immer wieder vorausgesetzt, diese seien mehr oder weniger attraktiv und homogen, worauf nicht zuletzt auch Didier Eribon mit Blick auf bürgerliche Kreise oder das Milieu der Mittelschicht hinweist, »dass man ihre

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kulturellen und existenziellen Erfahrungen notwendigerweise teilt« oder so getan wird, als »habe (man) immer schon ›dazugehört‹« (Eribon 2016, S. 166). Was man einerseits als integrativen Gestus interpretieren könnte, erweist sich andererseits als vereinnahmender Zwang, gegen den sich Aufsteiger u.a. auch durch eine Dynamik der Selbstexklusion wehren (vgl. ebd., S. 151ff.). Soziale Scham hindert sie daran, spielerisch mit Bildung und anderen Elementen von Subjektformen umzugehen – sie bildet ein wichtiges Element der symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Aufsteiger müssen anders werden, sich ändern; damit verbunden ist der Verlust ihrer kulturellen Codes und ihrer geliebten Objekte: Während die Oberen sein können, wie sie sind und ihre Praktiken und Subjektcodes, ihr Lebensstil und Geschmack die scheinbar universelle Norm bilden, müssen Aufsteiger sich elementar verändern. Und dieser Verlust ist, ebenso wie der Verlust gleichgeschlechtlicher Liebesobjekte, aber auch prekärer Lebensumstände und verworfener Subjektformen, die Butler anvisiert, nicht betrauerbar, und zwar dann, wenn sie beim sozialen Aufstieg, gesellschaftlich aus dem Bereich der normativen Grenzen des Menschlichen ausgeschlossen werden. Ähnlich zerstörerisch wirkt die soziale Scham und die Exkommunikation dessen, was man beim sozialen Aufstieg aufgeben muss und verloren hat. In ihren politischen Essays, die 2005 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Gefährdetes Leben erschienen sind, schreibt sie: »Wenn ein Leben nicht betrauernswert ist, ist es gar kein rechtes Leben; es erfüllt die Kriterien eines Lebens nicht und ist nicht der Rede wert« (ebd., S. 52). Sie spricht in diesem Zusammenhang von einer gesellschaftlichen »Anordnung einer allgemeinen Melancholie« und einer »Derealisierung des Verlusts« (ebd., S. 55; vgl. zum gesamten Zusammenhang ausführlich Bublitz 2021, S. 79-103). Butler kritisiert Foucaults Rekonstruktion der Psyche (»die Seele als Gefängnis des Körpers«) ausschließlich als »Werkzeug der Macht, durch welches der Körper herangezogen und geformt wird« (Butler 2001, S. 87) und seine Auffassung, die Seele sei ein »machtgeladenes Schema der Produktion und Verwirklichung des Körpers« (ebd.). Nach Foucaults Auffassung wird ›die Seele‹ zum »normativen und normalisierenden Ideal, nach dem der Körper

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geschult, geformt, gezüchtet und ausgestattet wird; sie ist ein historisch spezifiziertes Ideal, unter welchem dem Körper Gestalt gegeben wird« (ebd.): Diese ›Unterwerfung‹ und Unterordnung des Subjekts unter gesellschaftliche Normen ist, so Butler, zugleich seine soziale Sicherstellung und Verortung; sie gibt ihm erst sein soziales Dasein. Das Subjekt materialisiert sich bei Foucault, »indem es mit Macht besetzt« (ebd.: 88) und normalisiert wird. In der performativen Erzeugung des Subjekts und seines Körpers sieht Butler die Möglichkeit angelegt, die Kraft der Normalisierung zu untergraben. Der Widerstand gegen Normalisierung und Reglementierung kommt nicht vom Ort einer imaginären Identität, sondern liegt in der – symbolischen – Macht selbst (vgl. S. 94; vgl. auch S. 97). Butler kritisiert Foucaults Auffassung, dass die Psychoanalyse »von einer Äußerlichkeit des Gesetzes gegenüber dem Begehren ausgeht«, denn, so nimmt sie an, ohne das Gesetz gäbe es gar kein Begehren. Widerstand äußert sich also immer auf der Ebene des Symbolischen. Das heißt Butler reklamiert die Möglichkeit der Reartikulation des Subjekts auf der Ebene der symbolischen Sprechakte, denn dieselbe Macht, die das Subjekt konstituiert, wird zwar performativ vom Subjekt erzeugt, sieht aber die Möglichkeit der – sprachlich artikulierten – Verfehlung und Verschiebung der Norm vor. Wie ist das im Fall des sozialen Aufstiegs möglich?

3.6 Aufsteiger als ambivalente Figuren der Moderne Die Idee, dass die soziale Stellung in der Gesellschaft veränderbar ist, ist historisch mit der modernen Gesellschaft verbunden: Aufsteiger sind, so Alheit/Schömer, ein ambivalentes Produkt der Moderne, denn »die Idee, dass diese Stellung nach Belieben verlassen und durch eine höhere und bessere ersetzt werden könnte, die meritokratisch legitimierte Hoffnung, dass jemand seinen Leistungen und nicht seinem vom Schicksal zugewiesenen Stand entsprechend im gesellschaftlichen Ganzen platziert werden müsse, ist […] bis

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heute […] nicht angemessen verwirklicht« (Alheit/Schömer 2009, S. 11). In der ständischen Gesellschaft war jedem, qua Abstammung und Geburt, sein sozialer Ort zugewiesen (Alheit/Schömer 2009, ebd.); er war gottgewollt und unveränderlich. Das ändert sich in der modernen Gesellschaft. »Die Idee, dass man mit geringem sozialen Kapital, wenngleich mit Mühen, Talent und Fleiß, durch eigene Leistung vorankommen und schließlich zu denen gehören könne, die bedeutend, materiell abgesichert, womöglich sogar bewundert und anerkennt sind, ist ein subtiler Traum der Moderne« (ebd.). ›Aufstrebende‹ aus einfachen Verhältnissen, was so viel bedeutet wie, aus ›bildungsfernem Elternhaus‹, stellen, wenn überhaupt, allenfalls eine exotische Figur einer ›Aufsteigergesellschaft‹ dar, die einerseits von der – weitreichenden – Partizipation der unteren Schichten in der Individualisierungsgesellschaft ausgeht, in der andererseits aber die herkunftsbezogene Benachteiligung bestimmter Gesellschaftsschichten unübersehbar ist. Während die soziologische Bildungs- und Mobilitätsforschung seit den 1960er Jahren darauf hingewiesen hat, dass (Schul-)Erfolg und soziale Herkunft (des Elternhauses) zusammenhängen und auf die herkunftsbedingte Bildungsbenachteiligung lange Zeit nicht explizit hingewiesen wurde, möglicherweise, »weil sie für jeden halbwegs interessierten Zeitgenossen unübersehbar geworden sind« (ebd., S. 18), verschwand soziologische Forschung zur Genese sozialer Ungleichheitsstrukturen lange Zeit, bis auf vereinzelte Untersuchungen, aus dem Fokus wissenschaftlicher Forschung, um gegenwärtig im Zuge polarisierter Ungleichheitsstrukturen wieder ein Thema zu sein. Strukturelle Blockaden und objektive wie subjektive Begrenzungen sozialen Aufstiegs rücken zunehmend ebenso ins Blickfeld wissenschaftlicher Untersuchungen wie die soziale Polarisierung und Ungleichheit, die Reichtumskonzentration und prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse, ebenso wie die Refeudalisierung der Gesellschaft und zentrale Merkmale der sogenannten ›Abstiegsgesellschaft‹ (vgl. Nachtwey 2016). So konstatiert er:

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»Der Reichtum verteilt sich vornehmlich nach dem aus der Bibel bekannten Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird gegeben. Während die obersten 10 Prozent der Haushalte 1970 bereits 44 Prozent des Nettogeldvermögens auf sich vereinten, kontrollierten sie 2010 mehr als 66 Prozent. Das seit der Occupy-Bewegung berühmte […] reichste ›1 Prozent‹ verfügte über 35,8 Prozent des Nettogeldvermögens. […] Im Jahr 2008 besaß die ärmere Hälfte der Bevölkerung hingegen gerade mal ein Prozent aller Vermögen« (Ebd., S. 134). Auf der anderen Seite werden soziale Privilegien in persönliche Verdienste, Leistungen und ›Gaben‹ verwandelt; hinter ökonomischen Ungleichheiten lässt sich die Rolle des kulturellen Erbes zeigen, dabei geht es um ein subtiles – kulturelles – Kapital von Kenntnissen des Verhaltens und Sprechens, welches Kinder aus gehobenen Kreisen ihrer familiären Umgebung verdanken und das einen umso einträglicheren Besitzstand bezeichnet, je weniger es als sozial produziertes wahrgenommen wird. Aus dieser Perspektive zeigt sich, was Angehörigen der Unterschicht den Weg nach oben verstellt: Nicht etwa, dass sie weniger wissen oder leisten, als ihre Konkurrenten bürgerlicher oder aristokratischer Abstammung, sondern es ist das in Elitezirkeln geforderte Auftreten. Karriere und soziale Positionen erwirbt man demnach qua Geburt. Es ist das Beherrschen eines bestimmten Zeichensystems, das den Platz an der Macht sichert (vgl. Bourdieu/Passeron). Pierre Bourdieu hinterlässt einen »soziologischen Selbstversuch« (2002), in dem er seinen eigenen Aufstiegsweg »vom Provinzkind zum Wissenschaftsfürsten«, wie Eckart Liebau ihn (2006) bezeichnet hat, beschreibt. Er macht deutlich, dass sein Auftreten und sein ganzer Habitus, »Tonfall, Stimme, Gebärden, Gesichtsausdruck […] sich von der kühlen Selbstsicherheit der hochgeborenen Pariser so deutlich unterschieden, daß sie immer Gefahr liefen, angesichts solch unwillkürlicher oder manchmal fast gewohnheitsmäßiger Verstöße gegen die guten universitären und intellektuellen Sitten ihrerseits unkontrollierte und zänkische Verhaltensweisen hervorzurufen« (Bourdieu 2002, S. 101).

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Und er schildert die Augenblicke der Einsamkeit, in denen er, »in einer Art Teufelskreis« auf die Strafen, die er auf sich zog, mit »Wut und Gegenwehr« auf die erneuten Strafen wieder mit Vergeltungsmaßnahmen reagierte und »die Enttäuschung über die Schonung der Mitläufer, die aus Angst den in seinem Stolz gefangenen ›Rädelsführer‹ aufforderten, sich zu stellen« (ebd., S. 107) und fragt sich, ob es an ihm und seinem ›schlechten‹ Charakter lag, dass er sich immer wieder auf die zwischen »Einpaukern und Aufsehern ausgetauschte Liste der Starrköpfe brachte, denen man beim ersten Anzeichen der Widerborstigkeit mit Strafen beizukommen versuchte« (ebd.). Auch Didier Eribon schildert diese »Dynamik der Selbstexklusion«: »Ich war für jeden Blödsinn zu haben, gab auf alles Widerworte, war frech und respektlos zu meinen Lehrern. Mein Auftreten und meine Ausdrucksweise dürften eher die eines zwanghaften Querulanten gewesen sein als die eines aufstiegswilligen, fleißigen Kindes« (Eribon 2016, S. 151). Paul Willis, dem theoretischen Ansatz der britischen Cultural Studies verhaftet, beschreibt diese Haltung in seinem Buch Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule (1979) als Opposition, Widerstand und kulturelle Durchdringung, die zugleich eine Form der Selbstunterwerfung darstellt, die die Arbeiterjugendlichen dort hält, wo sie sind: nämlich unten (vgl. Wills 1979, S. 176). Willis gibt damit eine Antwort auf die Frage ›how working class kids get working class jobs‹ – und auch auf die Frage, ›wieso Kinder der Mittelklasse Mittelklassen-Jobs kriegen‹ – und er antwortet mit der Frage, »warum die anderen es ihnen erlauben« und schreibt »Die Schwierigkeit zu erklären, wieso Arbeiterkinder Arbeiter-Jobs kriegen, liegt in der Frage, warum sie’s sich selbst erlauben« (ebd., S. 11). Für Willis hat dies nichts mit beruflichen und Bildungsbegabungen der Arbeiterjugendlichen zu tun, auch nicht so sehr mit dem von der Schule ausgeübten Zwang, sondern vielmehr mit deren im Widerstand gegen die Zumutungen der Institution der Schule ausgebildeten Gegenkultur. Willis weist darauf hin, dass die Arbeiterjugendlichen in ihrer kreativen, kulturellen Art des Umgangs »eine Ab-

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weichung vom herrschenden Signifikationsmodus – der Sprache – in antagonistischen Ausdrucksformen des Verhaltens, der visuellen Auffassung und des Stils haben« (ebd., S. 193) und macht deutlich, dass die »Wörter, die unter bourgeoisem Einfluß unter bestimmten Bedingungen kreirt sind«, nicht ausdrücken können, was die Jugendlichen ›sagen‹ wollen und meinen; für sie »ist das Kulturelle im realen Sinn ein Kampf mit der Sprache« (ebd.). Willis geht davon aus, dass in dieser nonkonformistischen Sprache der Arbeiterjugendlichen »eine Weltauffassung zum ›Ausdruck‹ kommt, die […] das Funktionieren der größeren Ideologien, Institutionen und strukturellen Beziehungen der ganzen Gesellschaft« aufdeckt und in Zweifel zieht, ohne die begrifflichen Abstraktionen der konformistischen, überkommenen Sprache zu benutzen. Und er fügt hinzu: »Dies wird ohne notwendige Führung, Intention oder Zielrichtung erreicht. Es geschieht beinah nebenbei, als Nebenprodukt der unmittelbaren Belange der alltäglichen Kultur« (ebd., S. 194; vgl. dazu ausführlicher auch S. 184- 214; vgl. dazu auch Bublitz 1992; Butler 2001; 2005). Interessant ist in diesem Zusammenhang Eribons Frage: »Wie und warum siegte der Aufstiegswille über die Unangepasstheit? [….]. Wie hat er [Bourdieu] es geschafft, diese Schwierigkeiten zu überwinden und sich selbst in einem Universum zu halten, das er voll und ganz ablehnte und das er doch auf keinen Fall verlassen wollte« (ebd., S. 153f.). Ob Bourdieus Antwort, er sei zwischen »zwei Welten und ihren unversöhnlichen Werten gefangen« (Bourdieu 2002, S. 112) gewesen, eine Antwort auf die Frage ist, warum er geblieben ist und den Aufstieg, jedenfalls äußerlich, geschafft hat, sei dahin gestellt; ein Hinweis auf einen gespaltenen, in sich widersprüchlichen Habitus, der eine Mischung aus Auflehnung und Unterwerfung spiegelt (vgl. ebd., S. 13) und zur »Ortlosigkeit des sozialen Aufsteigers, [….] in gewisser Weise der ›erzwungenen Heimatlosigkeit‹« passt (RiegerLadich 2006, S. 275f. zit.n. Alheit/Schömer 2009, S. 24, Anm. 49), ist es sicher. Der Hinweis von Willis auf den abweichenden Signifikationsmodus der kulturellen ›Eigenart‹ der Arbeiterjugendlichen erklärt

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zumindest, warum Formen der Selbstbehauptung, wie Bourdieu und Eribon sie für die Schule schildern, die ja nur aus einer konformistischen Aufsteigerperspektive als Selbstexklusion erscheinen, für eine in sich widersprüchliche Subjektposition von Aufsteigern im Grunde unerlässlich ist, weil sie nur so an ihrem Leben festhalten können und es lebenswert machen. Die Frage von Eribon stellt sich für Aufsteiger nicht, deshalb wundert es mich, dass er sie stellt. Hatte Bourdieu überhaupt eine Wahl? ›Die Rückkehr nach Reims‹ wäre für Bourdieu ebenso wenig möglich gewesen wie für Eribon. Wer seine Familie, sein Dorf, seine Klasse verlässt und diesen Weg einschlägt, der kehrt nicht mehr zurück. Eine Rückkehr wäre subjektiv unerträglich gewesen, psychisch, physisch, mental… in jeder Hinsicht. Aber auch von der anderen Seite, undenkbar. Es wäre das Eingeständnis des Scheiterns und Versagens. ›Der Aufsteiger‹ scheint, als »Prototyp der Moderne« (Alheit/ Schömer 2009) das Erfolgsmodell per se zu sein; es sind vor allem demokratische Gesellschaften, die Wohlstand garantieren und sozialen Aufstieg suggerieren. Aber der soziale Aufstieg und der Erfolg scheinen aktuell nicht von meritokratischen Leistungen des Einzelnen und demokratischen Institutionen abhängig zu sein; »rasante Karrieren zum ökonomischen Tycoon gibt es«, so Alheit/ Schömer, »auch unter zeitgenössischen russischen Oligarchen. Roman Arkadjewitsch Abramowitsch, bekannt geworden als Besitzer des FC Chelsea London, gehört dazu. Und die chinesische Wirtschaftsmacht, die längst dabei ist, den USA den Weltrang streitig zu machen, hat ebenfalls eine Reihe von Superreichen hervorgebracht (vgl. exemplarisch Shum 2022). Demokratische Institutionen dürften dabei eher keine große Rolle gespielt haben« (Alheit/ Schömer 2014, S. 62). Wirtschaftlicher und sozialer Erfolg scheinen gegenwärtig prinzipiell von rationalen Maßstäben abgekoppelt zu sein. »Was Fußball- oder Medienstars ›verdienen‹, und was vor allem wirtschaftliche Eliten in kürzester Frist an schierem Kapitaleinkommen anhäufen können, hat mit benennbaren Relationen zu

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den Einkommensverhältnissen der Normalbevölkerung nichts mehr zu tun« (ebd., S. 62f.). Erfolg mit Leistung zu assoziieren ist sinnlos geworden; so geht Sighart Neckel davon aus: »Erfolg mutiert zu einer reinen Wettbewerbskategorie, bei der es auch in ökonomischer Hinsicht nicht auf Wertverwirklichung ankam, wenn nur die Bilanzen im persönlichen Geltungskampf fortwährend nach oben getrieben werden konnten. Maßstäbe hierfür waren allein die nackte Summe des Geldes, der Statuswert des eigenen demonstrativen Konsums und die prestigeträchtige Stellung an der Spitze der globalen VIP-Lounge. Die Sucht nach Erfolg, vermessen in reinen Geld- und Statusbegriffen, wurde zum mentalen Pendant des Finanzmarktkapitalismus, zur Subjektivierung einer Wettbewerbsgesellschaft, in der sich das Ranking auf vorderen Plätzen zu einer Art Privatreligion aufrichten konnte« (Neckel 2010, S. 6, zit.n. Alheit/Schömer 2014, S. 63). Soziale Aufstiege sind demnach, so Alheit/Schömer, »Anpassungsprozesse an sich im Laufe der Moderne diskursiv verschiebende dominante Codierungen des Subjektiven, die in den für das Subjekt relevantesten sozialen Feldern und Praktiken – der Arbeit, der Intimität und der Selbsttechniken – wechselnde Homologien bilden und die Pfade sozialen Aufstiegs symbolisch präfigurieren« (ebd.; vgl. dazu Reckwitz 2006). Hier geht es um subdominante und hegemoniale historische Subjekt-Erfolgskulturen, die Muster sozialen Aufstiegs vorgeben. So macht Andreas Reckwitz den Vorschlag, im Laufe der Moderne drei Subjektformen zu unterscheiden: das »bürgerliche Subjekt«, das »Angestelltensubjekt« und das »postmoderne, ›unternehmerische Kreativsubjekt«, das sich, wie er annimmt, aus der »kulturrevolutionären Gegenkultur der Avantgarden entwickelt hat (vgl. dazu Reckwitz 2006, S. 500ff. und zum ›konsumtorischen Kreativsubjekt als ästhetisch-ökonomisches Doppel‹ des postmodernen Subjektmodells S. 588ff.). Alheit/Schömer führen als Prototyp dieser Subjektform der creative class das Beispiel Dieter Bohlens als »Mega-

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star der Medienindustrie« (2014, S. 72) an. Reckwitz schildert dieses ›postmoderne Subjekt‹ der creative class »in Differenzmarkierung zum nun konventionalistisch und unauthentisch erscheinenden Angestelltensubjekt« (Reckwitz 2007, S. 110) als eines, das ökonomische und ästhetische, körperorientierte und digitale Praktiken marktförmig organisiert, beides, ästhetische und ökonomische Codes in latenter Spannung zueinander hält und traditionelle Statushürden überwindet, während die Erfolgskultur im Bürgertum des 19. Jahrhunderts gewissermaßen klassenimmanent blieb und die Angestelltenkultur des 20. Jahrhunderts Aufstiegserfolge in ausgewählten sozialen Feldern ermöglichte. Das postmoderne Subjekt scheint Aufstiegserfolge, so machen Alheit/Schömer deutlich, am problemlosesten zu ermöglichen, wenngleich die soziale Herkunft als Ausgrenzungsfaktor nach wie vor, wenn nicht stärker denn je, funktioniert: »Der Fall Bohlen zeigt zumindest, dass der Aufstieg aus dem Kleinbürgertum zum medienpräsenten Multimillionär keine Ausnahme darstellen muss. Im Sport, beim Film, in der IT-Branche und im Finanzsektor gibt es eine Fülle vergleichbarer Beispiele. Andererseits ist statistisch belegbar, dass in kaum einem anderen westlichen Land Bildungs- und Berufskarrieren derart von der sozialen Herkunft abhängen wie in Deutschland« (Alheit/Schömer, S. 74).

3.7 Billions – Individualistische Überflieger Die Führungseliten sind nicht nur durch die Ablösung ihres – ökonomischen und sozialen Erfolgs – von rationalen Leistungskriterien charakterisiert, sondern sie bilden die Folie für die These, dass jeder es schaffen kann. Streaming-TV-Serien, wie u.a. die Serie Billions, zeigen fast ausnahmslos individuelle Überflieger, die als Ausnahmen die Regeln nur bestätigen. An ihnen spiegelt sich die Sehnsucht ›Du kannst es auch schaffen‹, wohlwissend, dass es Blendwerk ist und einen umso mehr verdammt, bei dem zu bleiben, was man hat. Die Realität sieht eben anders aus, hier sind diejenigen, die es geschafft

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haben, die, bei denen man konsumiert und sein Geld ausgibt: die ALDI-Brüder, die Familie Schwarz, die Fielmanns und Rossmanns und wie sie alle heißen. Deren Kinder besuchen, meistens die Söhne, ab und zu auch ein paar Töchter, private Eliteschulen, Internate (»Salem«), exklusive Hochschulen (London School of Economics) usw., dann durchlaufen sie ein paar Durchgangsadressen und andere Firmen, bis sie schließlich, wenn sie sich als würdig und ökonomisch klug (sprich: rabiat genug erwiesen haben) in die elterliche/väterliche Firma einsteigen oder sie schließlich leiten (Succession, Fielmann). Anders in Billions, in der der Hedgefonds-Manager Bobby Axelroad, kein Erbe, sondern ein ›Emporkömmling‹ ist, der mit 9/11 einen rasanten Aufstieg macht und erfolgreich als Selfmade-Milliardär auftritt: Die Serie zeigt den permanenten Kampf und die menschenverachtenden Praktiken, um sich im Finanzhandel durchzusetzen. Gnadenlos werden die Mitarbeiter angetrieben, Profit zu machen. Koste es, was es wolle! Axelroad wird wie ein Held präsentiert. In einer Ansprache an seine Mitarbeiter wird deutlich, dass die Firma Axe Capital mit dem 11. September groß geworden ist. Gönnerhaft beschwört Axelroad die Leistungen der Firma; seine Leistungen. »Ich habe den Vater von jedem von Euch in liebevoller Erinnerung. 26 von Euch haben ihren Collegeabschluss mithilfe der Memorial Foundation erreicht und deshalb lassen wir Euch hochleben. Das ist das Wichtigste bei dieser Sache, nicht nur, dass die Firma den 11. September überlebt hat, dass niemand aufgegeben hat, dass unser Zusammenhalt uns hilft und unseren Familien, sondern jedesmal, wenn ich sehe, wie erfolgreich wir sind.« Eine Mitarbeiterin wirft ein: »Manche sind erfolgreicher als andere.« Als Axelroad erstaunt zur Seite schaut, fährt sie fort: »Es ist einfach nicht richtig, dass Du der bist, der da steht.« Ihr Mann ist am 11. September beim Angriff auf die Türme umgekommen. Worauf Axelroad verständnisvoll tut:

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»June, ich habe dasselbe Gefühl, ich kenne den Gedanken, ›warum,‹ denkst Du, ›wurde er damals verschont?‹ ›Warum ist mein Mann nicht mehr da?‹ Für Monate war das mein einziger Gedanke, nachdem die Türme zusammengestürzt sind. Warum war ich der einzige Überlebende der Firma? Wieso war ich nicht da? Hätte ich etwas verhindern können? Warum war ich der einzige, der an diesem Tag ein Meeting außerhalb hatte? Wir werden es nie wissen. Ich hab’ meine eigene Antwort darauf gefunden. Ich bin euretwegen da… Bin ich der tollste Typ der Welt? Ganz sicher nicht. Auch Dein Mann hätte das getan, Judy. Und dass es mir leid tut, weißt Du…« Später entschuldigt sich die Mitarbeiterin bei Axelroads Frau Lara. Diese belehrt sie: »In einer irischen Großfamilie ist man bescheiden. Und hält zusammen. Feuerwehrmänner, Polizisten, Krankenschwestern. Und auf einmal bin ich aufgestiegen. In diese Welt. Und da konnte ich all die Blicke spüren.« Die Mitarbeiterin wirft ein: »Ich hab dich nie so angesehn«, darauf Axelroads Frau Lara: »Natürlich nicht… Also hab’ ich mich daran gewöhnt. Und ich fühl’ mich wohl, auf diese Art zu leben. Aber Grundsätze, die du in Ingwood lernst, vergisst du nicht. Dazu gehört, auch wenn Du ein Problem mit jemandem hast, sprich ihn persönlich an. Dann wird man sich sicher einigen. Aber, wenn du’s in der Öffentlichkeit machst, fällst du in ein tiefes Loch, da, wo ich herkomme. Und da drin hilft Dir keiner weiter.« Worauf die Mitarbeiterin June sie fragt: »Ist das ’ne Drohung oder was?« Und Lara ihr lakonisch antwortet: »Das hast Du gut erkannt. So ist das bei uns.« Hier wird die soziale Herkunft als ›Waffe‹ eingesetzt. Die Moral des Zusammenhalts der Familie und Klassengemeinschaft wird gegen das Konkurrenzverhalten und die individuellen Ansprüche derer gewendet, die sich – öffentlich – selbst ausschließen oder Neid ar-

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tikulieren. Sind das die verborgenen Codes der Klasse(nherkunft)? Werden hier die Codes der Erben kopiert? Der Einsatz sozialer Beziehungen, ökonomisches Kapital als Ressource für den Erwerb kulturellen Kapitals? Oder sind hier hochambitionierte Aufsteiger am Werk, die ihr Machtbegehren realisieren? Die Geschichte geht weiter: In einem Manuskript ›9/12 – The day after‹, das ihr eine Freundin zuspielt, werden von der Mitarbeiterin bei Axe Capital, June, Details erwähnt, die Axelroad nicht in einem guten Licht stehen lassen. Schließlich berät sie sich mit einem Anwalt (Lara: »Ja, er hat nach dem 11. September getrickst, hat sich durchgesetzt«) u.a. dass er in Stanford eine Ehrendoktorwürde erworben hat (Kommentar der Ehefrau »ja, wir haben verdammt viel gespendet«). Lara lässt ihren Einfluss spielen, damit June im Golfclub (»keine Termine mehr«), und ihr Sohn in Stanford, wo er sich für einen Studienplatz beworben hat (»leider sind keine Plätze mehr frei«) ausgeschlossen wird. June sitzt im Auto, schreit und weint. Szenenwechsel: Mit dem Manuskript unter ihrem Arm klingelt sie an Laras Tür: »Es ist ein wenig überarbeitet worden.« Und schließlich bietet sie ihr an, eine Verschwiegenheitserklärung über die Teile zu unterschreiben, die sie aus dem Manuskript herausgenommen hat. Axelroads Frau Lara zeigt sich erfreut und teilt ihr mit, dass die in Stanford zuständigen Personen die Kriterien bei der Bewerbung ihres Sohnes falsch gewichtet hätten und er nun ganz sicher dort angenommen werde. Die Verbindung von ökonomischem und kulturellem Kapital wird auch an folgendem Beispiel deutlich: Das Konzerthaus trägt den Namen einer – ehemals – reichen Familie. »So’n scheiß Name, für so’n schönes Gebäude, das macht alles kaputt […]. Da müsste ein bedeutender Name hin, der zum Glanz des Gebäudes beiträgt«, meint Bobby Axelroad zu seiner Frau, als sie abends vor dem Gebäude stehen. Was es ihm wert ist, den Namen ändern zu lassen? »25 Millionen Dollar, um dieses Gebäude in Zukunft nach mir zu benennen. Erst dann werde ich die 100 Millionen spenden und damit können Sie dann das Gebäude renovieren.« Bei einem Treffen mit der namengebenden Familie wird klar, worum es bei der Namensgebung für das Gebäude geht:

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»Ich war Caddy in Ihrem Golfclub früher. Der perfekte Sommerjob. Und die Golftasche von ihrem Großvater hab’ ich auch rumgeschleppt. Ihre übrigens auch, vor der Highschool […]. Viele Zahlen sind durch den Raum geschwebt. 25 Millionen dafür, dass Ihr Name verschwindet. Aber es gibt eine Zahl, die viel bedeutsamer für mich ist: Sechzehn. Sechzehn Dollar bekam ein Golfjunge für eine Runde auf dem Golfplatz. Vier Stunden schleppt man die Taschen, atmet Zigarrenrauch ein und darf zuhören wie Sie sich anlügen. Bei 35 Grad Hitze. Aber ich war froh über die Flocken. Ich hab’ zwei Schichten gemacht. Und nach dem Wochenende hatte ich 64 Dollar bar auf der Kralle, macht 1024 Dollar. Doch dann hat er mich gefeuert. Ich musste den Club verlassen. Aber das war ihm egal… Ich habe Ihrer Familie daher einen Scheck ausgestellt über 25 Millionen Dollar minus 16. Sie brauchen diese 9 Millionen Dollar, weil niemand von ihnen auch nur einen Tag gearbeitet hat.« Die Schrift wird abmontiert, »bis der nächste mit noch mehr Geld kommt und sein Name dransteht.« Eine weitere wichtige Figur in den – symbolischen – Kämpfen der Protagonisten der Serie ist Wendy, die als Psychologin in der Firma Axe Capital arbeitet, und dort die Manager, wenn sie Versagensängste haben, auf ›Vordermann‹ bringt. Sie spielt eine widersprüchliche Rolle: Einerseits hoch dotierte Psychologin mit Firmenanteilen, ist sie anderseits die Frau des Staatsanwalts Chuck, der wegen Insiderhandel hinter Axelroad her ist, und ihn zur Strecke bringen will. Die Konflikte zwischen Gesetz und Finanzhandel kulminieren hier in der Rolle der Ehefrau von Chuck, die ihren Ehemann gewissermaßen mithilfe von Sadomaso-Sexpraktiken wieder ›auf Spur bringt‹ und zugleich, da sie als Psychologin in der Firma von Axelrod arbeitet, diesen und andere Manager psychologisch berät. Axelrod braucht Distinktionsgewinne geradezu wie Lebensmittel, er kauft sie ›spontan‹, so eine Villa in den Hamptons für 65 Millionen Dollar in bar, und greift auch sonst exzessiv zu, was Finanzgeschäfte betrifft. Er kauft sich in die oberen Kreise ein. Und er ist sich sicher, dass er weiß, worauf es ankommt:

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»Wenn man Milliardär ist, […] und du betrittst einen Raum, dann fühlst du dich wie eine Frau mit perfekten Titten und einem Wahnsinnshintern und Augen wie Deinen. Du weißt genau, wo die Leute hinsehen und was sie wollen.« Sein Machtstreben ist, wie das des Medienmoguls in der Serie Succession, unersättlich. Kaufen ist bei Axelrod, wie die Psychologin sagt, eine Ersatzhandlung für Macht. Distinktionsgewinne werden, wenn möglich, erkauft. So eine Ehrendoktorwürde, der Name der Schule, der ›Palast‹ in den Hamptons, dessen Kaufpreis Axelroad in Höhe von 65 Millionen Dollar ›cash‹ anbietet. Investitionen erfolgen mit dem ›richtigen‹ Gespür für die kapitalistische Logik – investiert wird ›impulsiv‹, ›an Land gezogen‹ wird nichts, was man braucht, sondern nur das, was man braucht – um Macht zu haben und auszuüben. In einem Gespräch mit einem Medienvertreter fragt er sich – und ihn: »Wann wurde es zu einem Verbrechen, Erfolg zu haben?« Erfolg heißt, sich ökonomisch durchzusetzen und erfolgreich auch an der Spitze der Selbstverwirklicher zu stehen; darin trifft sich die reiche Oberklasse mit der neuen Mittelklasse, mit dem Unterschied, dass hier, in der Klasse der Erben und Spitzenverdiener und führenden Unternehmern Erwerbsarbeit, strenggenommen, gar nicht mehr nötig wäre, was aber trotzdem erfolgt. Sie sitzen in den Aufsichtsräten von Spitzenunternehmen ebenso wie in den führenden Firmen der Digitalökonomie. Was hier von dem ›individualistischen Überflieger‹ bis ins Extrem praktiziert wird, ist zweifellos eingebettet in eine Steigerungslogik, in der sich Qualitatives und Quantitatives, ökonomisches und kulturelles Kapital in einem symbolischen Mehrwert zusammenschließen. Mehrwert wird aus ökonomischer Perspektive zunächst dadurch erzielt, dass man Dinge oder Personen, auch sich selbst, einer kapitalistischen Verwertungslogik unterwirft. Das ist hier ganz offensichtlich der Fall. Es gilt herauszuholen, was möglich ist und das ist ja, so scheint es – fast – grenzenlos, die Steigerung des eigenen Selbst eingeschlossen. Auch sie unterliegt der unbegrenzten Kapitalakkumulation, die sich symbolisch in einer Akkumulation der Aufmerksamkeit anderer ›auszahlt‹. Darin bestehen die Distinktionsgewinne der Erben wie der sozialen

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Aufsteiger. ›Selbstfindung‹ und ›Selbstverwirklichung‹ laufen über symbolische Selbstoptimierung, die sich an den eigenen Maßstäben, aber auch an dem Begehren nach Aufmerksamkeit und Be(ob)achtung ausrichtet. Der Name an dem Gebäude ist ja nur deshalb so reizvoll, weil er, symbolisch optimal, die Blicke der anderen und deren Wertschätzung, der Öffentlichkeit auf sich zieht. Und jeder weiß, wie bedeutsam der Namensgeber, nicht zuletzt auch ökonomisch, ist. Dieses akkumulierte Selbstoptimierungskapital kann in der Konkurrenz um Marktpositionen wieder in die Waagschale geworfen werden; es vermehrt den Stapel der Einsätze und Einsatzmöglichkeiten, und es steigert das soziale Kapital in seinem immer wieder einsetzbaren Mehrwert. Der Überflieger-Selfmade-Milliardär ist derjenige, der im Spektrum der Normalverteilung ganz oben, als extreme Ausnahme verortet ist; darin zeigt sich die Selbstüberbietung und die Überbietung aller anderen. Und das zeigt eine Steigerung seiner Individualität: »An die Stelle eines perfekten Selbst, das sich am Ideal einer gelungenen Lebensführung ausrichtet, tritt eine – ins Fiktionale – gesteigerte Subjektivität optimierter Selbstentfaltung und Lebensführung, die sich dabei immer zu anderen relationiert, sich des Blickwinkels der anderen versichert« (Bublitz 2010, S. 187). Reputation ist – im flexiblen Normalismus – an Selbstoptimierung und diese an den Vergleich, an Rankinglisten und Skalierungsverfahren gebunden. Voraussetzung ist die permanente Selbstbeobachtung und Wahrnehmung der anderen, mithalten und -bieten können, ökonomisch und symbolisch. Es geht letztlich um die permanente performative Hervorbringung eines beeindruckenden Subjekts, das alle anderen aussticht, wenn es optimal läuft. Im Grunde unterliegt der Protagonist hier einer kapitalistischen Zwangslogik, die individuellen Freiheiten letztlich keinen oder wenig Spielraum lässt, es sei denn, die subjektive Ökonomie des Begehrens fällt mit der Ökonomie des Kapitals zusammen, was hier der Fall ist. Allerdings gelingt es – nicht nur – hier keineswegs durch Top-Leistung den Gipfel der Normalverteilung, die Topscores der Ranking-Listen zu erreichen, sondern, wie in vielen vergleichbaren Beispielen, durch intransparente Finanzgeschäfte,

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Die verborgenen Codes der Erben

die durch Kaufpraktiken überdeckt werden (sollen). Hier kommen ›Automatismen‹ eines, wie die Psychologin zu Axelroad sagt, ›pubertären Größenwahns‹ zum Zug, der das Gegenstück zum ökonomischen Profitstreben und zum zwanghaften »Schlag-aufSchlag«-Aktivismus bildet. Was zählt ist impression management, das über Selbstoptimierung im Rahmen normalistischer Kurvenlandschaften läuft – und den fiktiven Raum des Möglichen, der für die allermeisten Menschen unerreichbar, aber oder gerade darum beneidenswert erscheint, in der Gegenwart realisiert. Es ist ein maßloser Raum, der singulär strukturiert ist, der hier von dem Überflieger – bei Musil ist es der ›Möglichkeitsmensch‹ – transportiert wird und der prinzipiell nicht überschaubar strukturiert ist. Selbstadjustierung und die Ausrichtung des eigenen Handelns an dem der anderen erfolgt hier nicht an vorgegebenen Mustern, die Orientierung geben, sondern an der andauernden Risikobereitschaft eines unternehmerischen Selbst, das berechenbare Muster außer Kraft setzt und sich, auf Kosten der Berechenbarkeit, Zugang zur Maßlosigkeit des Möglichen verschafft. Es hat den Anschein, als müsste, obgleich der Reichtum der Wenigen den Raum des Möglichen schon obszön ausleuchtet, immer wieder noch eine Überbietung her, die nicht nur die ›Masse‹ der Konsumenten vor Neid erblassen lässt, sondern selbst die pompöse Welt der Mitstreiter. Nach dem Motto: ›Es geht immer noch höher‹; so lassen Medienberichte verlautbaren, dass der »Herr der Dinge«, Jeff Bezos, nicht nur als CEO des größten Online-Händlers zurücktritt, sondern sich mit dem Verkauf einiger Aktien eine der größten Segeljachten aller Zeiten leistet: Jeff Bezos lässt sich Medienberichten zufolge derzeit eine Jacht bauen, die ihresgleichen sucht. Kostenpunkt: schlappe 500 Millionen Dollar (bei einem Vermögen von ca. 200 Milliarden Dollar in der Tat ein ›Schnäppchen!‹ und ein schickes Spielzeug, für dessen Durchfahrt der Multimilliardär Bezos notfalls eine historische Brücke in Rotterdam ab- und wieder aufbauen lassen will; vgl. manager magazin 07.02.2022); auch der medienwirksam inszenierte Flug ins Weltall gehört zu dieser Steigerungslogik, die womöglich als Öffnung eines neuen Konsumraums (und -rauschs) geplant ist.

3 Erben und Aufsteiger

Entsprechende Subjektivierungspraktiken sind hier dynamisches Selbstmanagement und individuelle Risikobereitschaft, die nie enden. Wer Bestleistungen und Top-Positionen vorweisen kann, zieht in die Ruhmeshalle ein, wo das ökonomische und kulturelle Kapital sich symbolisch ›auszahlen‹ (vgl. ausführlich dazu Bublitz 2010, S. 207-217; Link 1997). Für den sozialen Aufstieg bedeutet das, dass nicht nur sämtliche Potentiale mobilisiert werden müssen, sondern dass die erreichbaren Ziele in keinem Verhältnis zum Aufwand stehen. Denn die Akkumulation von ökonomischem und psychophysischem Kapital basiert auf Codes, die den unternehmerischen Kreativsubjekten gewissermaßen unsichtbar, ›eingepflanzt‹ sind und sich immer an den fiktionalen Möglichkeiten, von den Erben und individualistischen Überfliegern aber zumindest teilweise erschlossenen und realisierten Möglichkeiten, singulärer Formen der Selbststeigerung brechen. Die Frage, welche Möglichkeiten soziale Aufsteiger in einem System kompetitiver Praktiken (der Subjekte) und in einem System der permanenten Überbietung haben, in dem der soziale Vergleich und der soziale Sinn für den Platz, den andere im sozialen Raum einnehmen, zentral für den sense of one’s place ist, lässt sich nicht leicht beantworten. Es fragt sich, ob Butlers Ansatz einer Re-Artikulation des Subjekts hier anwendbar ist, wenn sie davon ausgeht, dass es immer die Möglichkeit der Reartikulation des Subjekts auf der Ebene der symbolischen Sprechakte gibt und annimmt, dass die Macht, die das Subjekt konstituiert, zwar, indem es das Subjekt erzeugt, performativ reproduziert wird, aber die Möglichkeit der – sprachlich artikulierten – Verfehlung und Verschiebung der Norm vorsieht. Sind soziale Aufsteiger nicht – per se – die Verfehlung der – bürgerlichen – Norm? Und wie sieht das Dasein eines Subjekts aus, dass immer ›daneben‹ liegt? Welche Macht erwächst ihm? Welche Chancen zur Verschiebung der Norm(en) bestehen in diesem Fall? Welches kulturelle Kapital können sie in die Waagschale werfen? Und welchen Zugang haben sie zum symbolischen Kapital und den verborgenen Mechanismen der Macht, deren Codes und Klassifikationsschemata ihnen ja aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Lauf-

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bahn nicht zugänglich sind? Worin bestehen die sozialen Bedingungen der Möglichkeit, sich selbst und die Praktiken der anderen zu klassifizieren? Wenn der Habitus ein »System von Schemata der Produktion von Praktiken und ein System der Wahrnehmung und Bewertung der Praktiken ist« (Bourdieu 1992a, S. 144), in dem jeweils die soziale Position zum Ausdruck kommt, dann produziert der Habitus, diese Haltung zur Welt, symbolische Praktiken des Kennens und Erkennens, die gleichsam in »die Falten des Körpers und die Automatismen des Gehirns« (Bourdieu 1992b, S. 82) eingegraben sind und durch das System der Klassifikationsschemata zu Erkennungsmerkmalen der sozialen Position in einem strukturierten sozialen Raum geworden sind. Und dieser Habitus regelt mit seinen ›erkennungsdienstlichen‹ Schemata den Zugang zu symbolischem Kapital, das heißt zu jener Form von Kapital, die – soziale – Anerkennung regelt und reguliert (vgl. Bourdieu 1992a und 1992b). Wie sind Verschiebungen symbolischer Macht aus einer Aufstiegsposition möglich und welche? Es geht nur über soziale Kämpfe.

Passagen III

Bildungs-Tagträume ›Normal‹ wäre es gewesen nach der Mittleren Reife – oder dem Abitur – ›zur Stadt‹, also zu einem der städtischen Ämter zu gehen und im Büro zu arbeiten. Stattdessen wollte sie studieren. Der Bruder hatte es vorgemacht. Sie ging auf das Mädchengymnasium. Die meisten wollten nach dem Abitur ein Lehramtsstudium aufnehmen. Das vertrug sich seit langem am besten mit der Frauenrolle. Familie, Kinder und Lehrerin sein – das galt als machbar und ›normal‹. Aber sie wollte Philosophie studieren. Als sie das im Klassenraum sagte, hielten einige in der Reihe hinter ihr die Luft an. Sie spürte das. Sie hatte es erlebt, hatte mit dem Bruder in dessen Studentenbude gesessen, bei heißem Tee, der ihr ›die Schuhe auszog‹, so stark war er; er las aus der ›Phänomenologie des Geistes‹ von Hegel vor und obwohl sie kein Wort verstand, nickte sie. Und das war der Anfang von allem. Da war er aber schon am Ende. Sie merkte es, wusste es nur – noch – nicht. Und er selbst vielleicht auch nicht. Nach dem Abitur arbeitete sie ein halbes Jahr als Stationshilfe im Krankenhaus. Ein Stipendium gab es erst nach dem ersten Semester. In dicken Blecheimern das Essen aus der Küche im ›Keller‹ holen, mit einem unhandlichen metallenen Wagen, der sich schwer lenken ließ, lange, dunkle Gänge entlang gehen, die Böden wischen, abwaschen, in der Küche alles aufräumen, jeden Morgen, jeden Mittag, jeden Abend. Die Kübel, in denen das Essen vom häufigen Aufwärmen angebrannt war, schrubben. Ab und zu schaute sie aus dem Fenster, auf den Schrubber gestützt. Was sie da sah, waren Bücher, hitzige Diskussionen über schwierige Texte, alle begierig, die Probleme (der Gesellschaft) zu lösen, in der Runde sitzen, Tagträume vom

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Die verborgenen Codes der Erben

Studium… Dann ging es weiter mit dem Putzen, der Arbeit vor dem Studium. Wenn sie Glück hatte, lief alles gut. Nur manchmal drangsalierte eine Stationsschwester sie. Auf der Privatstation kam es darauf an. »Sie müssen auch in den Ecken putzen!«, sagte sie laut vor den Patienten. Der Alltag bestand daraus, morgens um 6 Uhr aufzustehen, bis 14 Uhr die Zimmer zu wischen, Essen zu holen und auszuteilen, in der Küche zu stehen und alles auf- und wegräumen. Dann bis 16 Uhr Pause. Danach wieder Essen und Abwaschen. Jeden Tag. Es dauerte ein halbes Jahr. Kurz bevor sie das Geld bekam und zum Studium aufbrechen wollte, hatte ihre Mutter einen Teil des Geldes genommen und verbraucht. Was für ihr Studium gedacht war, war für den Einkauf und Dinge, die zu bezahlen waren, draufgegangen. Dennoch fing sie mit dem Studium an, enttäuscht von den Belanglosigkeiten, die in den Seminaren ausgetauscht wurden, fragte sie sich, wie sie auf die Idee gekommen war, zu studieren... Das änderte sich erst mit der Studentenbewegung.

Passagen III

Außenseiterin Niemand rechnete mit ihr. Als sie immer weitermachte, und erfolgreich das Studium abschloss, verstummten die einen, die anderen wunderten sich nur. Die Eltern freuten sich, doch jetzt war es aber auch genug. Nur die Mutter meinte: »Wenn es jemand schafft, dann Du! Du schaffst das!« Danach wurde es für die älteren Brüder offenbar unangenehm. Die kleine Schwester machte ihnen ihren überlegenen Status streitig. Konkurrenz, Neid und Unverständnis waren die Folge. Nach jahrelangen Bewerbungsschreiben und -gesprächen auf der Suche nach einer Professur, sagte sie ihrem Bruder am Telefon, dass ihr jetzt nur noch eine Professur fehle, worauf er antwortete: »Das fehlte ja noch!« Der andere Bruder, ›löste‹ das Problem ähnlich, aber ganz anders. Er meinte, dass sie froh sein könne, wenn sie die Mittlere Reife schaffte. Alles, was danach kam, waren herabsetzende Kommentare. Ihrem Vater kamen die Tränen, als sie ankündigte, weiterzumachen, das Abitur zu machen und erst recht, als sie sagte, sie wolle studieren… Gleichzeitig kamen immer auch Drohungen wie: »Wenn du das nicht schaffst, gehst du ab!« Das machte ihr Angst. Aber es war auch der Antrieb, die Armut und die Tobsuchtsanfälle wie auch die Unterwürfigkeit der Mutter zu überwinden. Mit ihrem Bruder zu konkurrieren, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dazu war der Altersabstand zu groß und er war auch, was die Noten betraf, mit Abstand besser als sie, in allem, in Mathe und Physik, in den Sprachen. Nachdem er das Philosophiestudium abgebrochen hatte und sie immer weitermachte, das Studium abschloss und später promovierte, dann die Habilitation abschloss und schließlich eine Professur bekam, war der Kontakt, war die Beziehung zum Bruder zerbrochen. Als Arbeitersohn, der aufgrund seiner sehr guten Leistungen vom Lehrer für das Gymnasium vorgeschlagen wurde, war er die Ausnahme; es war Anfang der 1950er Jahre. Der Besuch des Gymnasiums kostete Schulgeld; es wurde ihm erlassen. Von nun an rechneten alle mit ihm. Alle erwarteten, dass er es schaffte. Zunächst gelang das auch. Hervorragende Zeugnisse mit sehr guten Noten. In der Oberstufe gelang das nur noch mit haufenweise Spickzetteln. Er gewöhnte sich eine ganz kleine Schrift an. Wahnsinn, was alles auf ein kleines Stück Papier passte! Das Abitur war dann schon nicht

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Die verborgenen Codes der Erben

mehr so einfach, er ging arbeiten, bis in den späten Abend Kegel aufheben in den Militärbaracken der amerikanischen Besatzer. Dadurch fehlte ihm die Zeit zum Lernen. Dann verließ er das Elternhaus. Es war wie ein endgültiger Abschied. Wenn es hochkam, kam er zu Beginn des Studiums noch zwei, dreimal nach Hause zurück. Wochenlang saß er in der Bibliothek und exzerpierte systematisch Fremdwörter wie Vokabeln aus dem philosophischen Wörterbuch. Aber das war ganz offensichtlich der falsche Weg. Ein spielerischer Umgang mit Wissen sah anders aus.

Passagen III

Die Reihe hinter ihr – und danach Es war in der Oberstufe des Gymnasiums: Sie saßen hinter ihr. Ihre Väter waren Handelsvertreter, Besitzer eines Geschäfts, Unternehmer, Stadträte, Lehrer… Es genügte, dass sie untereinander immer Blicke austauschten. Sie hatte das Gefühl, dass sie andauernd über sie redeten, flüsterten, irgendetwas kommentierten. Und obwohl sie vor ihnen saß, ihnen also mit dem Rücken zugewandt war, ›sah sie es‹, nein, sie spürte ihre Blicke, ja, ihre Gedanken, im Rücken. Es war unerträglich. Sie fühlte sich eingeschüchtert. Vom Klassenlehrer danach gefragt, was sie nach dem Abitur vorhätten, antwortete sie nach kurzem Zögern: »Studieren.« Und auf die Frage »Was?« mit »Philosophie« antwortete. Sie hörte, wie sie die Luft anhielten, glucksten. Selbst L., die Klassenbeste in Deutsch, Mathe, Chemie, eigentlich überall, strebte nach dem Abi ein Kurzstudium, wie sie es nannte, als technischchemische Assistentin an. Als sie sich nach zwanzig Jahren wieder trafen, waren L. und sie die einzigen, die ›weitergemacht‹ und den Doktortitel erworben hatten. Sie war die einzige, die habilitiert hatte. Eine aus der Klasse, die von vielen belächelt, wenn nicht verachtet wurde, weil sie im Zeichenunterricht immer so pingelig detaillierte Bilder malte und wochenlang Verlängerung bekam, um sie fertigzustellen, während alle anderen rigoros abgeben mussten, kam zu ihr und sagte voller Bewunderung: »Finde ich gut, dass du weitergemacht hast« und erzählte offen, dass keine Kunsthochschule sie annehmen wollte. Sie regte sich über die ehemalige Kunstlehrerin auf, die ihr immer eine ›eins‹ gab und ihr damit das Gefühl vermittelte, Kunst zu können. »Diese mittelmäßigen Lehrer!«, schimpfte sie. Ihr ehemaliger Klassenlehrer bemerkte, als er vor ihr stand, einigermaßen bewundernd, dass sie jetzt ja ganz ›würdig‹ aussehe und auf ihre Frage, wie sie denn früher war und ausgesehen habe, antwortete er »ärgerlich« (früher hatte sie blondierte lange Haare, schlug vor, Kafka anstelle von Goethe zu lesen). Die alte Clique, die in den letzten beiden Schuljahren hinter ihr gesessen hatte, pflichtete ihm bei. Zu dem, was sie geschafft hatte, sagten sie nichts. Später im Hotel kamen ihr die Tränen.

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4 Die soziale Magie der Erben

4.1 Symbolische Macht: Verschaltung von Kapital, Worten und Körpern Bourdieu wendet sich mit seiner »relationalen Denkweise« gegen eine »substantialistische Denkweise«, die die unmittelbare Anschauung der Alltagserfahrung als einzige Realität verabsolutiert; demgegenüber plädiert er dafür, »Reales nicht mit Substanzen« zu identifizieren, sondern, wie in der modernen Mathematik und Physik, die Relationen in den Vordergrund der analytischen Betrachtung zu rücken. »Die ›soziale Wirklichkeit‹, von der Durkheim sprach, ist ein Ensemble unsichtbarer Beziehungen, die einen Raum wechselseitig sich äußerlicher Positionen bilden, Positionen, die sich wechselseitig zueinander definieren, durch Nähe, Nachbarschaft oder Ferne sowie durch ihre relative Position« (Bourdieu 1992a, S. 138; Hervorhebg. H.B.). Diese relationale Denkweise bildet den Ausgangspunkt – es geht um Positionen innerhalb des sozialen Raums, die aufgrund der Verfügung über das Volumen und die Zusammensetzung verschiedener Kapitalsorten sowie die – in symbolischen Kämpfen – errungenen Siege oder Verluste, zustande gekommen sind und verändern (können). Der soziale Raum hat also eine historische Dimension, die auf den ersten Blick nicht sichtbar ist. Die Kapitalsorten und historischen Erfahrungen bilden gewissermaßen die ›Raum-Teiler‹ des sozialen Raums. Diese ›bilden‹ sich im Bewusstsein oder eher im Unbewussten und im Körper der Akteure ›ab‹, ohne dass sie es wis-

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Die verborgenen Codes der Erben

sen. Die sozialen Verhältnisse reproduzieren sich, weil die Strukturprinzipien der sozialen Welt und die objektiven Gegebenheiten sich im Bewusstsein, vor allem aber im Unbewussten der Akteure ›abbilden‹, was nicht heißt, dass sie sich spiegelbildlich oder mechanisch ›widerspiegeln‹, aber doch den Handlungsraum der Akteure bestimmen. Es gibt also eine subjektive ›Spiegelung‹ der objektiven Verhältnisse. Zum anderen sind die Wahrnehmungskategorien, die Dispositionen und die Haltung zur Welt, die Art und Weise, wie man die Dinge angeht, Ergebnis der Auseinandersetzung mit den objektiven Existenzbedingungen. Entscheidend für die Machtposition im sozialen Raum und die Ressourcen, die in die symbolischen Kämpfe eingehen, sind also nicht nur die objektiven Strukturen, die Verfügung über ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital, sondern auch die gemachten und gesammelten Erfahrungen in den Kämpfen um Anerkennung und Macht. Der Lebenslauf eines Menschen und die in ihm akkumulierten Erfolge oder Misserfolge, Zugehörigkeiten oder Ausschließungen prägen das ›Gesicht‹ der Akteure; sie gehen in ihren gesellschaftlichen Charakter ein, sie bestimmen ihr Unbewusstes. Auf dieser Grundlage, der Verteilungsstruktur von Kapital und Kapitalvolumen bildet sich ein System von Klassifikationen, Schemata und Dispositionen, das dem individuellen und klassenspezifischen Bewusstsein kaum oder nur bruchstückhaft zugänglich ist. Es ist daher keineswegs eine Frage des persönlichen, sondern des sozial erzeugten Geschmacks, wie man ›sich bettet‹ und in der Welt einrichtet, mit wem man sich umgibt, welche Vorlieben und Abneigungen man entwickelt etc. Durch ihn findet die Umwandlung des objektiv Gegebenen in ein System von Präferenzen und Strategien, der materiellen Dinge in distinkte und distinktive Zeichen statt. Durch ihn geraten Dinge aus einer physischen Ordnung in die symbolische Ordnung von Unterscheidungen und Bedeutung. Diese Ordnung wird, so Bourdieu, als System von Dispositionen, als Habitus, vererbt, der sich auf allen Ebenen der alltäglichen Praxis findet und reproduziert. Und mit dieser Erbschaft ›vererben‹ sich auch die im sozialen Raum eingenommenen räumlichen Distanzen. Der Tendenz zur räumlichen Segregation im sozialen Raum entsprechen die sozialen Distanzen, die, so nimmt Bourdieu an, dem Körper eingeschrieben sind (vgl. Bourdieu 1992,

4 Die soziale Magie der Erben

S. 141). Aus diesen sozialen Distanzen im sozialen Raum leiten sich gewissermaßen Wahrscheinlichkeiten der realen Begegnung ab – woraus aber nicht folgt, so schränkt Bourdieu ein, dass sich sozial fernstehende Personen nie oder kaum treffen oder, was noch wichtiger ist, dass aus der sozialen Nähe und den entsprechenden Dispositionen notwendigerweise ein gemeinsames soziales Bewusstsein, ein Klassenbewusstsein entsteht. Im sozialen Raum werden strukturelle Zwänge wirksam, die sich ohne Zweifel auch auf der Ebene der mentalen, subjektiven Strukturen zeigen. Aber diese bilden, obwohl sie sozial strukturiert sind und einer sozialen Genese unterliegen, nicht automatisch ein bloßes ›Abbild‹ der Strukturen, die sie hervorbringen. Vielmehr werden Klassifikationssysteme und -Schemata produziert, die zwar an ihre soziale Genese und Herkunft angepasst sind, die als solche aber Gegenstand symbolischer Kämpfe sind. Daher unterliegen auch die Beziehungen im sozialen Raum einer Dynamik, sie sind nicht statisch, liegen nicht ein für allemal fest. Dennoch gibt es, so nimmt Bourdieu an, so etwas wie ein ›Gesetz der Schwerkraft‹ auch im sozialen Raum: So ist die Annäherung des/der Fernsten zwar niemals unmöglich, aber es bestehen größere Aussichten der Zusammenkunft, je näher sich die Akteure im sozialen Raum stehen, je größer die Affinitäten des Habitus. Bourdieu wird nicht müde, immer wieder zu betonen, dass eine »Annäherung der Nächsten niemals zwingend notwendig (direkte Konkurrenz kann als Hemmnis wirken) – wie auch die Annäherung der Fernsten niemals unmöglich« (Bourdieu 1985, S. 13) ist. Was so viel bedeutet wie: Im Prinzip geht alles, aber wahrscheinlicher sind Begegnung, Gruppenbildung und Zusammenhalt dann, wenn sie »in der Struktur des ausgehend von der Kapitalverteilung konstruierten Raums begründet sind« (ebd., S. 14). Alle anderen Formen des Zusammenschlusses sind demnach fortwährend »von den aus den räumlichen Distanzen erwachsenden Spaltungen und Gegensätzen bedroht« (ebd.). Denn der soziale Raum ist durch Differenzen strukturiert, die regeln, wer mit wem – und mit wem nicht kann. Soziale Macht erwächst also nicht aus der bloßen Homologie (Ähnlichkeit) der objektiven sozialen Positionen im sozialen Raum und den entsprechenden Dispositionen und Schemata (der Wahrnehmung und Klassifikation); der Habitus bildet die soziale Posi-

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tion nicht einfach ab, wie Bourdieu selbst sagt: »Selbstverständlich sind mentale Strukturen nicht einfach ein Spiegelbild gesellschaftlicher Strukturen« (Bourdieu 1997, S. 657); vielmehr gibt es für jedes Feld einen »charakteristischen Raum der Möglichkeiten«, der »wie ein strukturiertes Bündel von Zulässigkeiten und Aufforderungen, aber auch Verboten« (ebd.) strukturiert ist. Und er konzediert: »Eine echte Soziogenese der konstitutiven Dispositionen des Habitus müsste versuchen zu begreifen, wie die gesellschaftliche Ordnung psychologische Prozesse abfängt, kanalisiert und verstärkt oder ihnen entgegenwirkt, je nachdem, ob zwischen beiden Logiken Homologie, Redundanz und Verstärkung herrscht oder im Gegenteil Widerspruch und Spannung« (ebd.). Dennoch geht Bourdieu an vielen Stellen seines Werks davon aus, dass die Dispositionen eine Anpassung an die Position im sozialen Raum implizieren und er nimmt an, dass »sie stets die objektiven Strukturen zu reproduzieren trachten, aus denen sie hervorgegangen sind, durch die früheren Produktionsbedingungen ihrer Erzeugungsgrundlage determiniert« (Bourdieu 2004, S. 114) werden. Aber wie sich aus den Strukturen Schemata in den Körper und in die Köpfe der Subjekte ›einschreiben‹, bleibt weiterhin schleierhaft. Wenn Bourdieu vermutet, dass die mentalen Strukturen des Subjekts »wesentlich aus der Inkorporierung der objektiven Strukturen des sozialen Raums« (Bourdieu 1985, S. 17) resultieren, bleibt offen, was das genau heißt. Die Frage ist also: Wie werden aus objektiven Strukturen subjektive Geschmackspräferenzen, also etwa die Vorliebe für Rotwein oder das Geschmacksurteil, dass etwas als ›kleinbürgerlich‹ empfunden wird? Wie kommt Bourdieu zu der Auffassung, dass Bier zu einer bestimmten Menge an ökonomischem und kulturellem Kapital nicht so – gut – passt wie Rot- oder Weißwein oder Whiskey? Woraus ergeben sich diese Geschmackspräferenzen, woraus ergibt sich diese Vorliebe? Bourdieu bemüht zur Beantwortung dieser Frage die Wahrscheinlichkeitsrechnung: »Die Wahrnehmung der sozialen Welt ist somit Produkt einer doppelten Strukturierung: Von objektiver Seite ist sie sozial strukturiert, weil die den Akteuren zugewiesenen Eigenschaften sich

4 Die soziale Magie der Erben

in Kombinationen darbieten, die ungleiche Wahrscheinlichkeiten aufweisen: So wie Federtiere mit größerer Wahrscheinlichkeit Flügel besitzen als Pelztiere, so werden Personen, die über eine verfeinerte Sprachbeherrschung verfügen, mit größerer Wahrscheinlichkeit in einem Museum gesehen als Personen ohne eine derartige Sprachbeherrschung. Von subjektiver Seite ist sie strukturiert, weil die Wahrnehmung und Urteilsschemata, zumal die in der Sprache liegenden, den Zustand der symbolischen Machtbeziehungen zum Ausdruck bringen« (ebd., S. 146f.).1 Mal abgesehen von den fast naturalistisch anmutenden Begründungen (Museumsbesuch und Sprachbeherrschung bzw. kulturelles Kapital in Analogie zu Federvieh und Flügel!): Die Koinzidenz der sozialen Distanzen im sozialen Raum mit den entsprechenden Dispositionen kann nicht einfach als Automatismus vorausgesetzt werden, sondern sie wird erworben und ererbt. Es finden permanente Auseinandersetzungen und Kämpfe um symbolische und soziale Anerkennung statt. So bilden die subjektiven, kollektiv mit einer bestimmten Gruppe geteilten Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die man einer sozialen Position im sozialen Raum zuteilen kann, das Ergebnis vorausgegangener sozialer Kämpfe und symbolischer Kräfteverhältnisse, das heißt was sozial als legitim anerkannt wird, wird zum Bestandteil der eigenen, positionalen Identität im sozialen Raum. Das heißt der Sinn für die eigene Position im sozialen Raum stellt, folgt man Bourdieu, unbewusst (»einem Klassen-Unbewußten näher als einem ›Klassenbewußtsein‹ im marxistischen Sinne« (Bourdieu 1985, S. 17)) über die »Inkorporierung der objektiven Strukturen des sozialen Raums« (ebd.) ein ›Wissen‹ oder sollte man sagen, ein ›Gefühl‹ oder einen ›Sinn‹ (wie Goffmann es ausdrückt) für den eigenen Platz, die eigene soziale Stellung her, die sich in den subjektiven Wahrnehmungskategorien spiegelt. In der weiteren Argumentation kommt die ›Inkorporierung‹ dann als

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Vgl. auch Bourdieu 1985, S. 16, wo Bourdieu die zweifache Strukturierung der mentalen Strukturen und Dispositionen ähnlich sieht, aber anstelle der ›verfeinerten Sprachbeherrschung‹ auf die Ausstattung von »Menschen mit einem höheren kulturellen Kapital« hinweist.

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Anpassungsleistung des Körpers an die soziale Umwelt zum Vorschein, denn anders ist es kaum zu verstehen, wenn Bourdieu davon ausgeht, dass die so erzeugten Wahrnehmungskategorien »die Akteure dazu bringen, die soziale Welt, so wie sie ist, hinzunehmen, als fraglos gegebene, statt sich gegen sie aufzulehnen und ihr andere, wenn nicht sogar vollkommen konträre Möglichkeiten entgegenzusetzen: Der Sinn für die eigene soziale Stellung als Gespür dafür, was man ›sich erlauben‹ darf und was nicht, schließt ein das stillschweigende Akzeptieren der Stellung, einen Sinn für Grenzen (›das ist nichts für uns‹) oder, in anderen Worten, aber das gleiche meinend: einen Sinn für Distanz, für Nähe und Ferne, die es zu signalisieren, selber wie von Seiten der anderen einzuhalten und zu respektieren gilt – und dies umso stärker, je rigider die Lebensbedingungen sind und je rigider das Realitätsprinzip vorherrscht (von daher der geschärfte Realitätssinn, der die Beherrschten und deren Weltsicht kennzeichnet, gleichsam ein gesellschaftlich konstituierter Selbsterhaltungstrieb, der als konservativ nur einer von außen herangetragenen, also normativen Vorstellung von den ›objektiven Interessen‹ derer, denen er zu leben oder zu überleben hilft, erscheinen kann)« (ebd., S. 18). Dem Sinn für die eigene soziale Stellung entspricht also, wie Bourdieu annimmt, »ein gesellschaftlich konstituierter Selbsterhaltungstrieb«, der dafür sorgt, dass die sozialen Abstände eingehalten werden. Ihm entsprechen verborgene Mechanismen einer symbolischen Macht, die dafür sorgt, dass die bestehenden sozialen Unterschiede durch eine quasi-körperliche Komplizenschaft akzeptiert und anerkannt werden: »Die symbolische Macht ist eine Macht, die in dem Maße existiert, wie es ihr gelingt, sich anerkennen zu lassen, sich Anerkennung zu verschaffen; d.h. eine (ökonomische, politische, kulturelle oder andere) Macht, die die Macht hat, sich in ihrer Wahrheit als Macht, als Gewalt, als Willkür verkennen zu lassen. Die eigentliche Wirksamkeit dieser Macht entfaltet sich nicht auf der Ebene physischer Kraft, sondern auf der Ebene von Sinn und Erkennen. […] Nun implizieren aber Sinn und Erkennen keineswegs Bewußt-

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heit; man muß in einer völlig entgegengesetzten Richtung suchen […]: Die sozialen Akteure und auch die Beherrschten selbst sind in der sozialen Welt […] durch eine Beziehung hingenommener Komplizenschaft verbunden, die bewirkt, daß bestimmte Aspekte dieser Welt stets jenseits oder diesseits kritischer Infragestellung stehen. Vermittelt über diese verborgene Beziehung quasi-körperlichen Verwachsenseins übt die symbolische Macht ihre Wirkungen aus« (Bourdieu 1992b, S. 82.). Symbolische Macht wird über die Wörter und deren magische Wirksamkeit erzeugt, die auf einer verborgenen Disposition, einer Komplizenschaft zwischen den Worten und sozial zugerichteten Körpern beruhen. »Die politische Herrschaft ist in die Haltung, die Falten des Körpers und die Automatismen des Gehirns eingegraben. Das Vokabular der Herrschaft ist voll von Körpermetaphern […]. Die Worte bringen die politische Gymnastik der Herrschaft bzw. der Unterwerfung nur deshalb so gut zum Ausdruck, weil sie, zusammen mit dem Körper, die Stütze der tief vergrabenen Schaltungen sind, in denen sich eine gesellschaftliche Ordnung dauerhaft verankert« (ebd., S. 82f). Körpermetaphern und Automatismen spielen deshalb eine zentrale Rolle im Spiel der Macht, weil sie unbewusst funktionieren und deshalb die soziale Ordnung und soziale Ungleichheit auf Dauer stabilisieren, ohne in Frage gestellt zu werden. Auf diese Weise werden soziale Hierarchien wie Leibesübungen in die Bewegungen und Haltungen des Körpers eingeschrieben.

4.2 Reichtum ist Geschmackssache Bourdieu geht davon aus, dass es ein kollektives Unbewusstes gibt. Schemata eines Ethos, die die Alltagswahrnehmung strukturieren, ordnet er dem »barbarischen Geschmack« derjenigen unteren Schichten zu, deren Galerie, wie Bourdieu annimmt, das Warenhaus darstellt, und zwar nicht nur, »weil seine Waren Teil

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der vertrauten Welt sind, deren Verwendungszweck man kennt und die problemlos in den alltäglichen Rahmen eingefügt werden könnte«, sondern auch und vor allem deshalb, weil »man sich in ihm nicht an transzendenten Normen gemessen fühlt, das heißt an Regeln des savoir-vivre einer vorgeblich höheren Klasse« (Bourdieu 1984, Anm. 28, S. 66), während die ästhetische Distanzierung und die Abstraktion denjenigen Klassen entspricht, die den »Abstand als Maß« ihrer »Distanz schaffenden Distinktion« (Bourdieu 1984, S. 68) dadurch einführen, dass sie ihr Interesse vom ›Inhalt‹, »von den Personen und spannenden Momenten der Handlung etc. auf die Form« (ebd.) verlagern. »Seine volle Autonomie gegenüber aller Inhaltsbezogenheit gewinnt das Form-Urteil jedoch nur bei den Angehörigen der herrschenden Klasse, die denn auch am häufigsten das Dargestellte identifizieren […] und die Darstellung für sich, ohne weiteren Bezug als auf sich selbst, auf kategorial verwandte Realitäten etwa […] erfassen« (ebd., Anm. 41, S. 89). Dies erscheint aus der Perspektive derer, die nicht dazu gehören, als Symptom für das, was Angehörige der unteren Schichten als Absicht empfinden, die Nicht-Eingeweihten auf Distanz zu halten oder als »Wille, mit anderen Eingeweihten ›über die Köpfe des Publikums hinweg‹ zu sprechen« (ebd., S. 66). Die Formgebung wird u.a. als »Zensur« des expressiven Gehalts (der Expressivität des Sprechers ›von der Straße‹, der gleichsam explodiert) und als Distanzierung von jedweder Form der Vertraulichkeit wie auch der kollektiven Popularität verstanden. Während die soziale Magie der Erben auf den in der ästhetischen Distinktion und im exklusivem Geschmack verborgenen Codes, nämlich der »Ablehnung jeder Art von Involviertsein, von naiver Verhaftung und ›vulgärer Verfallenheit‹ an leichte Verführung und kollektive Begeisterung« (ebd., S. 69) beruht und eine Distanz Bestandteil bürgerlicher Höflichkeitsrituale wie auch des makellosen Formalismus jedes Formexperiments ist, geht es bei den kollektiven Manifestationen der populären Ästhetik der unteren Schichten offensichtlich darum, genau davon zu befreien. Einbezogen sein, individuell und kollektiv teilzunehmen, »die soziale Welt

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auf den Kopf stellen, indem sie die Konventionen, Anstand und Sitte, für Momente außer Kraft setzen« (ebd., S. 67). Bourdieu führt die sozialen Klassen vor; in den unteren Schichten dominiert die systematische ›Reduktion‹ von Kunst auf das Leben, findet das Ausklammern der Form »zugunsten des ›menschlichen‹ Gehalts und Inhalts« statt; »angesichts eines Photos, auf dem die Hände einer alten Frau zu sehen sind, zeigen die Ungeschultesten«, so Bourdieu, »entweder mehr oder weniger konventionelle Gefühlsregungen«, oder am ehesten noch »ethisch motivierte Teilnahme, nie jedoch ein an sich ästhetisches Urteil« (ebd., S. 86). Und »mit höherem Rang auf der sozialen Stufenleiter werden die Antworten fortschreitend abstrakter« (ebd., S. 87). »Die Praktiken der unteren Klassen lassen sich scheinbar aus den objektiven Bedingungen direkt ableiten […], haben tatsächlich jedoch ihren Ursprung in der Entscheidung für das Notwendige (›das ist nichts für uns‹), d.h. für das, was technisch notwendig, ›praktisch‹ (oder in einer anderen Sprache: funktional) ist (was ›halt sein muß‹), und für das, was aus ökonomischem und sozialem Zwang die ›einfachen‹ und ›bescheidenen‹ Leute zu einem ›einfachen‹ und ›bescheidenen‹ Geschmack verurteilt« (ebd., S. 594). Inbegriff des Konventionellen und Trivialen ist für Bourdieu die Ansammlung von Nippes und Kitsch in den Haushalten der unteren Gesellschaftsklassen. Es entspricht der Absicht, so nimmt er an, mit dem geringsten Einsatz an – ökonomischen – Mitteln die größte Wirkung zu erzielen – und widerspricht jeder ästhetischen Haltung zu den Dingen, auch denen des Alltags, wie sie für die oberen, bürgerlichen Klassen typisch ist, nämlich die Kunst (des Dekorierens) in den Alltag zu integrieren. Ästhetik und Kunst sind aus dem Alltag der unteren Klassen, der vom Realismus und vom Konformitätsprinzip beherrscht wird, ausgeschlossen. Bourdieu argumentiert, dass letzteres den gesamten Lebensstil – und mit ihm die Beziehungen zu Möbel, Essen, Trinken, Reisen, zum Körper, zu Männlichkeit und Weiblichkeit – prägt; Abweichung und Abgrenzung sind, wie Extravaganz und Distinktion in diesem Universum ebenso ausgeschlos-

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sen wie letzteres notwendig zum Bestandteil der bürgerlichen Kultur der oberen Gesellschaftsklassen gehört. »Die Ritualisierung der Praktiken und Äußerungen, die bis zu ihrer Stereotypisierung fortschreiten kann, ist teilweise der sehr strengen Anwendung des Konformitätsprinzips zuzuschreiben […]. Während die großen Differenzen zwischen den Klassen kaum wahrgenommen und jedenfalls voll akzeptiert werden (›das ist ein Sonderling‹, ›der ist nicht so wie wir‹), weil sie in natürlichen Unterschieden begründet zu sein scheinen (die Frau des Arztes ›ist geschaffen dafür, elegante Kleider zu tragen‹), lässt man nicht die geringste Abweichung, die mindeste Extravaganz bei Angehörigen (oder Abkömmlingen) der unteren Klassen durchgehen, weil die Differenz hier nur dem Wunsch entspringen kann, anders zu sein, sich der Zugehörigkeit zur Gruppe zu entziehen oder diese zu leugnen (Man nimmt auch eher zustimmend zur Kenntnis, daß der Sohn aus bürgerlichem Hause mit seiner Familie bricht, verurteilt jedoch den Arbeitersohn, der das gleiche tut)« (ebd., S. 597). Im Unbewussten verankert, sorgt das Konformitätsprinzip dafür, dass Dispositionen auf die Erben übertragen werden, die das Erbe sichern. Diese mentale, unbewusste Anpassung an die objektive Stellung im sozialen Raum verhindert in der Abwesenheit von Luxuskonsum, dass die Revolte bereits im alltäglichen Leben Form annimmt; in den serienmäßig produzierten, repetitiven Produkten der Massenkultur sieht Bourdieu, darin der Argumentation Adornos nicht unähnlich, die Gewähr dafür, dass jede Intention auf Selbstbestimmung der unteren Klassen unterlaufen wird (vgl. ebd., S. 602). Zur ökonomischen Enteignung kommt, so Bourdieu, die kulturelle hinzu, die der ökonomischen den Anschein einer Rechtfertigung verleiht (vgl. ebd., S. 604).

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4.3 Symbolische Kämpfe – Vererbung von Kreditwürdigkeit und Anerkennungsprofiten Und hier setzen sie an: die symbolischen Kämpfe um Anerkennung des Eigenen als legitimem Allgemeinen, »die Kämpfe um die Durchsetzung des legitimen Prinzips von Vision und Division« (Bourdieu 1992a, S. 148). Bourdieus Position setzt sich von der Auffassung ab, dass die Legitimation der sozialen Ordnung das Produkt einer intentionalen politischen Propaganda sei und setzt demgegenüber auf die Komplizenschaft der Akteure mit den Machtstrukturen. Die objektiven Kräfteverhältnisse reproduzieren sich demnach in den diversen Sichten der sozialen Welt, weil diese in den objektiven Strukturen der sozialen Welt wurzeln und die Kräfteverhältnisse, die sich in den symbolischen Kämpfen artikulieren, auch in den Wahrnehmungskategorien stecken, die wiederum aus den objektiven Strukturen hervorgegangen sind; so argumentiert Bourdieu zirkulär. Dem Subjekt kommt eigentlich, obwohl es Dispositionen inkorporiert hat, die durchaus auf ein den Positionen entsprechendes Handeln hindeuten, keine besonders aktive und schon gar nicht widerständige Rolle zu. Es tut, was es aufgrund der objektiven Strukturen tun muss; es ist identisch mit den an es gestellten Erwartungen. Das erinnert an die strukturfunktionalistische Theorie des Talcott Parsons, da gab es auch keine Differenz zwischen Rolle und Identität/Subjekt. Das Ich ist deckungsgleich mit der Gesellschaft bzw. Struktur und Subjekt sind untrennbar miteinander verbunden. Die Struktur ist das Subjekt und umgekehrt. Die Praxis dient eigentlich nur der Reproduktion und Stabilisierung der Struktur. In den symbolischen Kämpfen zeigt sich dann die soziale Ungleichheit der ›Kombattanten‹, die einen sind auf ihren Platz im sozialen Raum verwiesen, die anderen auch, aber er gestattet ihnen, die – symbolische – Macht, ihre Ansprüche über ihre soziale Position hinaus auszuweiten und zu verallgemeinern: »Die Wahrheit über die soziale Welt ist in den Kämpfen im Spiel, die zwischen Akteuren ausgetragen werden, die über ungleiche Mittel verfügen […]. Durch die Legalisierung des symbolischen Ka-

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pitals gewinnt eine bestimmte Perspektive absoluten, universellen Wert und wird damit jener Relativität entzogen, die per definitionem jedem Standpunkt als einer bestimmten Sicht von einem partikularen Punkt des sozialen Raums immanent ist« (ebd., S. 150). Hier werden von denen mit dem entsprechenden kulturellen, vor allem aber symbolischen Kapital Ansprüche auf »Anerkennungsprofite« geltend gemacht, sie haben, da sie ein faktisches Monopol über den sozialen Rang haben, Gewicht; die anderen, deren ›Vermögen‹ nicht oben auf der gesellschaftlichen Rangliste steht, haben das Nachsehen. »Die objektiven Machtbeziehungen reproduzieren sich ihrer Tendenz nach in den symbolischen Machtbeziehungen. In die symbolischen Kämpfe um die Schaffung des Alltagsverstandes oder genauer, um das Monopol auf legitime Benennung setzen die Akteure das symbolische Kapital ein, das sie in den vergangenen Kämpfen errungen haben und das gegebenenfalls juridisch abgesichert wurde« (ebd., S. 149). Bourdieu bezieht sich auf Kafkas Der Prozeß, wenn er davon ausgeht, dass in den symbolischen Kämpfen aller gegen alle letztlich die offizielle Klassifizierung durch den Staat, z.B. durch Bildungstitel, zählt und sich gesellschaftlich durchsetzt. »Der die offizielle Klassifizierung leistende Staat ist gewissermaßen das oberste Gericht, auf das K. in Kafkas Prozeß sich bezieht, so wenn Block in bezug auf den Notar, der einer der ›großen Anwälte‹ zu sein beansprucht, sagt: ›Das ist falsch. Es kann sich natürlich jeder ›groß‹ nennen, wenn es ihm beliebt, in diesem Fall aber entscheidet doch nur der Gerichtsgebrauch« (ebd., S. 150; vgl. auch Bourdieu 1985, S. 23ff.). Der Staat erscheint so gleichsam, so Bourdieu, »als die alle Zertifikate garantierende Zentralbank. Von ihm ist zu sagen, was Leibniz von Gott sagte: er sei der geometrische Ort aller Perspektiven« (Bourdieu 1992a, S. 151).

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Symbolische Macht ist in diesem Sinne ein Vermögen des worldmaking, das entscheidend an der Konstruktion der Welt beteiligt ist; sie organisiert die sozialen Klassifizierungen, sie trennt und vereint, löst auf oder fügt zusammen, sie konstituiert oder verhindert; sie ist eine »Konstitutionsmacht« (ebd. S. 152); daher nimmt Bourdieu an: »Will man die Welt verändern, muß man die Art und Weise, wie die Welt ›gemacht‹ wird, verändern« (ebd.). Das heißt man muss diejenige Macht und diejenigen praktischen Operationen ändern, die die Macht zur Bewahrung oder Änderung von Klassifikationen (in Bezug auf Sozialstatus, Geschlecht etc.) und die Macht zur Schaffung von Gruppen mit symbolischem Kapital begründet, das in vergangenen symbolischen Kämpfen erworben wurde. »Das symbolische Kapital bildet«, wie Bourdieu annimmt, einen Kredit, es ist die Macht, die denjenigen übertragen wird, die hinreichend Anerkennung bekommen haben, um nun selbst Anerkennung durchsetzen zu können« (ebd.). Das heißt, dass die Autorität der oberen Machtpositionen auf einem Glaubensvorschuss beruht, dessen Grundstock, also die Kreditwürdigkeit, in der Vergangenheit gelegt wurde; dieser ist das Fundament für die zirkuläre Weitergabe, um nicht zu sagen, ›Vererbung‹ von Anerkennung. Nach dem Muster ›wer hat, dem wird gegeben‹ ist die Vererbung symbolischen Kapitals garantiert, wenn Affinitäten des Habitus vorliegen; und gleichzeitig ist die Vererbung symbolischen Kapitals die Voraussetzung für dessen weitere Akkumulation. Hier kommt wieder die Wahrscheinlichkeitsrechnung ins Spiel: Die Anerkennung – von Wortführern, Mandatsträgern etc. – ist umso wahrscheinlicher, je mehr symbolisches Kapital in Vergangenheit und Gegenwart akkumuliert wurde. Damit tragen symbolische Strategien, mit denen die Akteure ihre Auffassung von der Gliederung der sozialen Welt anderen aufzwingen, dazu bei, dass sich die objektiven Kräfteverhältnisse in den symbolischen Kräfteverhältnissen, im symbolischen Kapital reproduzieren. Distinktion wird hier zur Münze, die sich auszahlt, weil man weiß und hat, was zählt. »Symbolisches Kapital – anderer Name für Distinktion – ist nichts anderes als Kapital (gleich welcher Art), wahrgenommen durch einen Akteur, dessen Wahrnehmungskategorien sich herleiten aus

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der Inkorporierung der spezifischen Verteilungsstruktur des Kapitals, mit anderen Worten: ist Kapital, das als selbstverständliches erkannt und anerkannt ist. Distinktionen, als symbolische Transfigurationen faktischer Unterschiede, und genereller alle Ränge, Ordnungen, Grade und sonstigen symbolischen Hierarchien, erwachsen aus der Anwendung von Konstruktionsschemata, die […] aus der Inkorporierung der Strukturen hervorgehen, auf die sie Anwendung finden« (Bourdieu 1985, S. 22). Es bleibt weiterhin offen, wie die Inkorporierung von Strukturen ins Subjekt vor sich geht, durch performative Diskurse oder Sprechakte, durch unbewusste Verkörperung, strukturelle und strukturierte, materielle und immaterielle Übertragung von Merkmalen? Und wie entscheidet sich, was übertragen und inkorporiert wird und was nicht? Oder liegt gar keine Entscheidung und Auswahl zugrunde, sondern wird die Auswahl nicht vielmehr unbewusst, wie inkorporierte Körpertechniken den Strukturen angepasst, getroffen? Ist dabei ein Automatismus am Werk, der sich – und damit die Struktur, vom Subjekt gänzlich unkontrolliert –, im Subjekt als Struktur durchsetzt, die alle Alltagsstrategien durchzieht und von situativen Entscheidungen und Wahlen entlastet? Es scheint, als wäre, ganz nach strukturalistischer Manier, die Struktur das ›Subjekt‹ der ganzen Aktion, wobei es den Anschein hat, dass hier die Struktur in die Stelle einrückt, die in der abendländischen Kulturtradition das souveräne Subjekt einnimmt. Handelt es sich also um eine ›souveräne Struktur?‹ Ist die Struktur der Dirigent, der durch sein bloßes Dasein wie ein programmierter Ablauf als Steuerungsinstrument unsichtbarer Beziehungen wirkt, die dafür sorgen, dass Anerkennung und Erfolg das symbolische Kapital vermehren? Operiert hier die Struktur wie ein Automat, der, einmal programmiert, von selbst die Abläufe vornimmt und so die soziale (Ungleichheits-)Ordnung aufrechterhält und reproduziert? Die soziale Magie – des Erfolgs, der Anerkennung – löst sich, so ist zu vermuten, auf in Automatismen und in die Magie der Symbole, aus der im wahrsten Sinne des Wortes Kapital geschlagen wird und zwar dann, wenn die Symbole und die performative Macht der Bezeichnung anerkannt werden. Und wie geht das? Bourdieu fragt

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sich, wie es kommt, dass jemand im Namen der Gruppe spricht und von ihr anerkannt wird. »Wie kommt es dazu, daß der Wortführer die Vollmacht erhält, im Namen der Gruppe zu handeln und zu sprechen, die er kraft der Magie der Losung, der Parole, des Ordnungsworts und durch seine bloße Existenz als Verkörperung der Gruppe schafft?« (Bourdieu 1992a, S. 153f.) Bourdieus Antwort lautet: Wie der König der archaischen Gesellschaften bilden die Wortführer »Personifikationen einer sozialen Fiktion, der sie durch ihr bloßes Sein und in ihm Existenz verleihen und deren Macht sie als Gegenleistung erhalten. Der Wortführer ist das Substitut der Gruppe, die nur vermittels dieser Delegierung existiert und über und durch ihn agiert und spricht. Er ist die Mensch gewordene Gruppe« (ebd., S. 154). Das heißt, hier werden Worte, performative Diskurse und Sprechakte auf soziale Bedingungen zurückgeführt, die die magische Wirkung der Worte möglich machen. Und sie entfalten ihre Wirkung in Gestalt einer fiktiven Person, »diese Art mystischen Körper, den eine Gruppe bildet« (Bourdieu 1992b, S. 85).

4.4 Fetisch(ismus): Korpsgeist – Personifikation einer sozialen Fiktion Die Macht der Worte geht also gewissermaßen auf einen Kollektivkörper zurück, der das Produkt der Logik der Repräsentation ist; sie gestattet es einem biologischen Individuum oder einer kleinen Zahl biologischer Individuen, mit einer Stimme zu sprechen. Worum es in unserem Zusammenhang geht ist, dass hier gewissermaßen postuliert wird, dass die gesellschaftliche Führungselite – nach Bourdieu – ausgestattet mit in symbolischen Kämpfen erworbener symbolischer Macht und symbolischem Kapital, Macht auf eine Weise repräsentiert, indem sie wie ein ›Führer‹ spricht und ausgestattet mit einem ›mystischen Körper‹, dem Körper einer ›Glaubensge-

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meinschaft‹, wie an früherer Stelle schon deutlich wurde, glaubhaft als zur Elite zugehörig erscheint. Der Erwerb des symbolischen Kapitals vollzieht sich gewissermaßen durch Automatismen und quasi selbstgesteuerte Gefolgschaften. Dazu führt Bourdieu aus: »Die Grundlage der Macht der Worte wird durch die Komplizenschaft gebildet, die mittels der Worte zwischen einem in einem biologischen Körper Fleisch gewordenen sozialen Körper, dem des Wortführers und den biologischen Körpern sich herstellt, die sozial zugerichtet sind, seine Anweisungen anzuerkennen, aber auch seine Ermahnungen, seine Anspielungen oder Befehle und die die ›gesprochenen Subjekte‹ sind, die Getreuen, Gläubigen« (ebd., S. 83f.). Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang nicht zufällig von Korpsgeist. Und er spricht von einer »Logik der Politik«, die »die der Magie oder, wenn man das vorzieht, die des Fetischismus« (ebd., S. 85), also der Glaube an magische Kräfte, ist. Demnach liegt der symbolischen Macht eine Form der Magie zugrunde, die dem biologischen Körper eine sozial zugerichtete Stimme verleiht und das auf dem Hintergrund der Glaubensgemeinschaft einer sozialen Gruppe oder Klasse. Die soziale Magie gesellschaftlicher Eliten ist Ergebnis symbolischer Kämpfe, in denen auf der Basis symbolischer Macht Anerkennungsprofite ›eingefahren‹ wurden. Oder anders ausgedrückt: Eliten rekrutieren sich über archaische Muster, zu denen die Personifikation einer sozialen Fiktion gehört, die im Kern die Macht der eigenen Gruppe dokumentiert. Die Distinktion, symbolische Macht, ist also nicht nur der Name für exklusiven Geschmack der oberen Gesellschaftsschichten, sondern sie ist ein Werkzeug, eine Waffe in den symbolischen Kämpfen um Macht. Sie ist in die körperlichen Haltungen und Automatismen eingeschrieben und dient dazu, die, die oben sind, oben zu halten und die anderen zu eliminieren. Diese Eliminierung erfolgt nicht – unbedingt – durch bewussten Ausschluss, durch bewussten Zwang oder Glaubensbekenntnisse, sondern durch die in den Dispositionen angelegten Haltungen und verborgenen Codes. So geht Bourdieu denn auch davon aus,

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dass symbolische Gewalt und Herrschaft oft geradezu stumm und unterschwellig ausgeübt werden, und »dass die Einschüchterung – als symbolische Gewalt, die (da sie nicht unbedingt einen Einschüchterungsakt voraussetzt) als solche nicht erkannt wird – nur auf Menschen wirken kann, die (von ihrem Habitus her) für sie empfänglich sind, während andere sie gar nicht bemerken« (Bourdieu 1990, S. 28). Er nimmt daher nicht zu Unrecht an, dass die für die Konstruktion des Habitus entscheidenden Anweisungen gar nicht über Sprache und Bewusstsein, sondern »über scheinbar ganz bedeutungslose Aspekte der Vorgänge, Situationen oder Praktiken des Alltagslebens vermittelt werden«: Es sind die »Begleitumstände dieser Praktiken, die Art und Weise wie jemand blickt, sich verhält, schweigt oder auch redet«, die »geladen sind mit Anordnungen, die nur deshalb so beherrschend werden und so schwer rückgängig zu machen sind, weil sie stumm und unterschwellig, nachdrücklich und eindringlich sind (eben jener verborgene Code)« (ebd., S. 28), die symbolische Gewalt ausüben. Aus der Suggestivkraft der von »dieser lautlos-unsichtbaren Gewalt erpressten Anerkennung« (ebd., S. 29) leitet Bourdieu die Wirkung der symbolischen Macht ab. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass jemand nachhaltig dazu gebracht wird, das zu werden, was er werden soll und empfänglich zu sein für alle Arten symbolischer Macht. Diese über Dinge und Personen wirkende Suggestivkraft macht aus dem materiellen Erbe gleichzeitig ein kulturelles Erbe; aus dem bloß sachlichen Erbe werden moralisch-geistige Werte, »die die legitime Zugehörigkeit zu den bürgerlichen Dynastien begründen« und zwar durch den alltäglichen Umgang mit Dingen und Personen, durch regelmäßige Besuch von Galerien und Antiquitätenläden oder »durch das Eingebundensein in einer Sphäre vertrauter und intimer Gegenstände […] wird offenkundig ein bestimmter ›Geschmack‹ erworben, der nichts weiter ist als unmittelbare Vertrautheit mit geschmackvollen Dingen; erworben wird da-

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mit auch das Gefühl, einer höflicheren und gesitteteren Welt anzugehören, einer Welt, deren Daseinsberechtigung in ihrer Vollkommenheit, Harmonie und Schönheit beruht […]; was sich derart einstellt, ist ein unmittelbares Verhaftetsein bis hinein in die Tiefen des Habitus, bis hinein ins Innerste des Geschmacks und des Ekels, der Sympathien und Antipathien, der Phantasmen und Phobien, welche weitaus nachdrücklicher als die erklärten Meinungen und Ansichten im Unbewußten die Einheit einer Klasse begründen« (Bourdieu 1984, S. 137; Hervorhebg. H.B.). Hier wird noch einmal deutlich, dass die mentalen Strukturen mehr sind als ein ›Abbild‹ oder ›Spiegelbild‹ gesellschaftlicher Strukturen, sie sind mit Suggestivkraft erzeugte Beziehungen zu den Dingen und Personen, die tief im Unbewussten verankert sind. Alles funktioniert unterhalb der Schwelle des Bewusstseins; und die gesellschaftlichen Verhältnisse sind deshalb so tief verankert im Unbewussten, weil sie »in diesen vertrauten Dingen gegenständliche Gestalt gewinnen – in deren Luxus wie Ärmlichkeit, deren ›Ausgesuchtheit‹ wie ›Gewöhnlichkeit‹, ›Schönheit‹ wie ›Häßlichkeit‹ – sich vermittels zutiefst unbewußter körperlicher Empfindungen und Erfahrungen aufzwingen« (ebd., S. 137). So funktioniert die Inkorporierung, von der Bourdieu immer wieder spricht; sie meint etwas anderes als der psychoanalytische Terminus der Verinnerlichung. Was hier von jedem unmerklich inkorporiert wird, sind »die in Dingen und natürlich auch Personen objektivierten gesellschaftlichen Verhältnisse […], um am Ende in Intoleranzschwellen gegenüber natürlicher und sozialer Umwelt, gegenüber Lärm, Enge, physischer wie verbaler Gewalt sich niederzuschlagen –, eine Dimension dieser Beziehung stellt der Aneignungsmodus kultureller Güter dar« (ebd., S. 138). Es ist diese Logik der Prozesse, die in der Inkorporierung der in den Dingen und Personen objektivierten gesellschaftlichen Verhältnisse vor sich gehen, die »eine Psychoanalyse des Gesellschaftlichen« (ebd., S. 138) aufzuklären hätte. Hier hat es den Anschein, als verdingliche sich die Haltung zur Welt: Die Klassifikation und Auswahl der Dinge wohnt den Dingen

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gewissermaßen inne. Die Exklusivität der Luxusgüter ist, so scheint es, den Dingen auf die Stirn geschrieben, aber in Wirklichkeit bedarf sie der distinktiven Praxis, die auf den sozialen Ort der Distinguierenden verweist. Und paradoxerweise reproduziert sie auf diese Weise eine ›Ordnung der Dinge‹, die den Dingen selbst einen distinguierenden Zeichencharakter zuweist. Es bleibt unklar, was ›Inkorporierung‹ eigentlich genau bedeutet und wie sie vor sich geht, das haben wir nun mehrfach festgestellt. Bourdieu nimmt einerseits an, dass der symbolische Wert der Dinge diesen gewissermaßen ›auf die Stirn geschrieben‹ ist. Zugleich geht der Sinn für den exklusiven Geschmack aus einem klassenspezifisch erworbenen ›Gespür‹ für die ›feinen Unterschiede‹ hervor. Distinktion ist ein symbolisches Kapital, das man erwerben kann und akkumulieren muss, um den Wert der Dinge ›lesen‹, also decodieren zu können. Es bedarf also einer kulturellen Kompetenz, die auf die familiäre Herkunft verweist und in familiärer Sozialisation erworben wird. In der Distinktion zeigt der, der die Dinge einschätzt und klassifiziert, dann auch seine Herkunft und seine Ressourcen; hier geht es nicht nur um erworbene kulturelle Kompetenz, sondern immer auch um die anderen Kapitalsorten, allem voran ökonomisches und kulturelles Kapital. In jeder Distinktion wird nicht nur die Beziehung zu den Dingen, sondern auch die Beziehung zu den anderen Positionen im sozialen Raum sichtbar. Denn genau darum geht es ja: Die Distinktion zeigt die soziale Nähe und Distanz im sozialen Raum; sie reproduziert die sozialen Unterschiede. Daran zeigt sich die Schwierigkeit, die Konstitution einer eigenständigen symbolischen Realität, die diskursiv hergestellt wird, zuzulassen. Bourdieu bindet mit seiner Habitustheorie die Ordnung der Dinge, den Lebensstil und die – ästhetischen – Geschmackspräferenzen an die Positionen von Kollektiven im sozialen Raum, die, obwohl sie der Dynamik von symbolischen Kämpfen unterliegen, relativ homogen und unveränderlich erscheinen. Bourdieu erklärt die Distinktion vorrangig aus den sozialen Positionen, so, als gäbe es einen Automatismus der Korrespondenz von objektiven und subjektiven Strukturen, von sozialer Position, Habitus und Distinktion.

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Die Diskurstheorie (Foucaults) und die Sprechakttheorie (Butlers) setzt dieser ›Ableitungslogik‹ dagegen eine eigene Realität und Prozesshaftigkeit, vor allem aber auch, eine materialisierende Wirkmächtigkeit von Diskursen entgegen.

4.5 Klassen-Subjekte, Klassen-Körper Was ich an dieser Stelle vorschlagen möchte, ist eine kritische Erweiterung des Bourdieu’schen Konzepts, zum einen durch die diskurs- und sprechakttheoretische Position diskursiver Praktiken, die davon ausgeht, dass die Inkorporierung von (klassen-)spezifischen Mustern durch performative Wiederholung und Zitate gesichert werden. Dadurch eröffnet sich eine Perspektive auf den – körperlichen – Habitus, die zwar auch, wie bei Bourdieu, durch eine gesellschaftliche – und hier – klassenspezifische regulatorische Praxis erzwungen ist, aber sie erklärt konkreter, wie es durch ›performative Materialisierung‹ zur Inkorporierung oder, wie Butler annimmt, zur »Assimilation« von Mustern kommt, die das Subjekt allererst als »körperliches Ich«, wie Freud annimmt und dieses als »die Projektion einer Oberfläche«, die als »imaginäre Morphologie« (Butler 1995, S. 37) beschreibbar ist, konstituiert. Demnach konstituieren sich Klassen-Subjekte, Klassen-Körper und ihr Habitus als System generativer Schemata durch identifikatorische Praktiken, die, wie Butler in Bezug auf den Geschlechtskörper und die Geschlechtsidentität annimmt, durch symbolische, regulierende Schemata orchestriert werden. »Es ist ein historisch spezifisches imaginäres Ideal, durch das der Körper wirksam materialisiert wird« (Butler 1995, S. 58). Ich greife hier auf Butlers Konzept der performativen Materialisierung zurück, die im Rekurs auf Foucaults Diskurs- und Machtbegriff davon ausgeht, dass der Körper sich im Prozess der Materialisierung bildet, Diskurse sich im zitierenden Prozess ständiger Wiederholung im Körper materialisieren und erklärt, wie regulierende Schemata auf der Ebene der körperlichen Morphogenese eingeschärft werden. Butler schlägt vor, Materie nicht als Ort oder Oberfläche, sondern als »Prozeß der Materialisierung, der im Lau-

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fe der Zeit stabil wird, so daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, den wir Materie nennen« (Butler 1995, S. 31) zu sehen. Damit kommen die regulierenden Schemata in den Blick, mit dem Diskurse sich körperlich als Dispositionen ›einschreiben‹. Es geht um die diskursive Konstruktion eines körperlichen Habitus, körperlicher Dispositionen und Schemata, die die Inkorporierung der objektiven Strukturen in die körperliche Morphologie integrieren. Diskurse vermitteln zwischen objektiven (Klassen-)Positionen im sozialen Raum, Geschmackspräferenzen und sozial produzierten Dispositionen, also körperlich-mentalen Strukturen des Subjekts. Diese entstehen nicht quasi-automatisch als ›Abbild‹ der objektiven Strukturen, sondern sie werden diskursiv hervorgebracht und gewissermaßen suggestiv bzw. assimilatorisch in die Materialität und Morphologie des Körper-Subjekts eingelagert, das nicht vorgängig bereits existiert, sondern performativ in diesem Prozess erst entsteht. Die Konfiguration der Materie durch Diskurse erfolgt durch wiederholte Sprechakte, durch ein endloses Zitieren von Diskursen und Normen. Butler kommt daher zu der Auffassung: »Materie ist vollständig erfüllt mit abgelagerten Diskursen« (ebd., S. 53). Der Prozess der Materialisierung erscheint als Prozess der Sedimentierung, in dem sich Diskurse gewissermaßen durch »eine Art Zitatförmigkeit« im Körper ablagern, die das »Erlangen des Daseins durch das Zitieren von Macht« (Butler 1995, S. 38) bewirken. Die körperliche Materialisierung spezifischer, keineswegs zeitloser, sondern historischer und klassenspezifischer Schemata ist also der Effekt einer zitierenden Praxis, die in der ständigen Wiederholung dafür sorgt, dass Körper und Subjekte überhaupt erst in Erscheinung treten. In der Wiederholung liegt die Macht der Norm, die sich, so instabil sie ist, über unbewusstes, wiederholtes Zitieren stabilisiert – und dennoch immer gefährdet ist. Die Macht liegt in den verborgenen Codes, die sich, vom Subjekt unbemerkt und unreflektiert, körperlich materialisieren. »Die Performativität ist demzufolge kein einmaliger ›Akt‹, denn sie ist immer die Wiederholung einer oder mehrerer Normen; und in dem Ausmaß, indem sie in der Gegenwart einen handlungsähn-

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lichen Status erlangt, verschleiert oder verbirgt sie die Konvention, deren Wiederholung sie ist« (ebd., S. 235). Es sind machtgeladene Schemata, die den Körper und die – unbewussten, körperlich eingeschärften – Dispositionen produzieren. Dabei bildet sich ein Subjekt, das von Anfang an Komplize der Macht ist, die es als solches erst einsetzt. Die Performativität des Zitierens einer – klassenspezifischen – Norm ist der Prozess des Herstellens des Körpers und der in ihm eingelagerten Dispositionen. Sie materialisieren sich körperlich – und zwar niemals unabhängig von der zwangsweisen und wiederholenden Praxis; sie sind, wie Butler annimmt, Effekte einer regulierenden Macht im Foucault’schen Sinne, die mit Verwerfungen und Ausschlüssen arbeitet. Diese Macht ist immer eine – aus den gesellschaftlichen, klassen- und geschlechtsspezifischen – Konventionen und Normen abgeleitete Macht; sie geht nicht auf ein willentlich handelndes Subjekt zurück, sondern auf Zitate – von Diskursen, Konventionen, eingeschliffenen Mustern. So geht Butler davon aus, dass Diskurse gewissermaßen Autorität gewinnen, indem sie unablässig aufgerufen werden – und dabei verbergen, dass es sich um diskursive Zitate handelt. Die – klassen- und geschlechtsspezifische – Norm wird gewissermaßen unsichtbar zitiert. Diskurse vermitteln also zwischen objektiven Strukturen und (Klassen-)Positionen des sozialen Raums und subjektiven Dispositionen, die keine genuin subjektiven Dispositionen des Subjekts sind, sondern gesellschaftlich erzeugte, körperlich-mentale Schemata, die das Subjekt, das mit ihnen operiert und Dinge symbolisch klassifiziert, erst hervorbringen. Hier wird der Habitus nicht in ein schon vorhandenes Subjekt ›inkorporiert‹, sondern beides, Subjekt und Habitus, konstituieren sich erst durch Zitieren von Diskursen. Wie kann/soll ein solch suggestiver Aneignungsmodus und eine solchermaßen in den Beziehungen zu den Dingen und Personen tief verankerte Haltung, die letztlich das Subjekt mit seinen körperlich-mentalen Dispositionen erst hervorbringt, aufgebrochen werden? Wenn Zugangsbedingungen zu höheren Positionen und gesellschaftlichen Eliten abhängig sind von einer symbolischen Macht, die auf dem Fetischismus, der sozialen Magie archaischer Perso-

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nifikationen und suggestiv inkorporierten Haltungen beruht, wie sollen soziale Aufsteiger sich dieses symbolische Kapital aneignen? Sollen sie es sich aneignen? Oder geht es aus ihrer Perspektive nicht vielmehr darum, der Sache eine Kehrtwendung zu geben und die Machtverhältnisse zu erschüttern, wenn nicht umzuwenden? Die Paradoxie besteht darin, dass das Subjekt, das sich den eingeschliffenen Normen und unbewussten Mustern widersetzt, selbst von diesen Mustern hervorgebracht wurde – und sich damit gegen sich selbst wenden muss. Der Widerstand gegen hegemoniale Muster erfolgt also nicht von außen, sondern aus dem Inneren einer sich ständig wiederholenden Praxis.

4.6 Entgleisung. Verfehlung. Re-Artikulation Judith Butler wendet in ihrer Auseinandersetzung mit Bourdieus Theorie des Körperwissens ein, dass »die stillschweigende und materiale Funktionsweise von Performativität« ihrerseits »eine soziale Magie performativ herstellt« (Butler 1998, S. 217). Mit anderen Worten, die soziale Magie geht nach Butler nicht auf die gesellschaftliche – und symbolische – Macht dessen zurück, der spricht bzw. sich artikuliert. Vielmehr gehen die Machtpositionen ja selbst auf diese stillschweigende Performativität zurück, die außer Kraft gesetzt werden kann. Bourdieu vernachlässigt demnach, dass sowohl die soziale Magie der Einsetzungsakte und Institutionsrituale, der Beglaubigung durch eine Gruppe (Glaubensgemeinschaft) als auch die Personifikation sozialer Fiktionen Ergebnis performativer Praktiken sind, die historisch entstanden und folglich veränderbar sind. Zudem ist der Körper nicht – nur – der Ort der Reproduktion von Konventionen und Praktiken, er ist nicht nur eine Sedimentierung von – sozial autorisierten – Sprechakten, wie Bourdieu annimmt, sondern er überschreitet Anrufungen gegebenenfalls und setzt sie außer Kraft. Zwar ist es richtig, dass der Körper »nicht nur in Übereinstimmung mit bestimmten geregelten oder ritualisierten Praktiken handelt, er ist selbst diese sedimentierte

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rituelle Aktivität; sein Handeln ist in diesem Sinn eine Form von verkörpertem Gedächtnis« (Butler 1998, S. 218). Er handelt, auf der Grundlage dieses gespeicherten Wissens, nicht vorsätzlich, sondern bis zu einem gewissen Grad improvisatorisch, mimetisch an die Regeln und Konventionen, die der Körper ganz buchstäblich verkörpert, angepasst. Hier bringt Butler ein wichtiges Argument ein, das die Trennung von Gesellschaft und Individuum, von körperlichem Habitus und sozialen Regeln aufhebt: »Der Körper ist damit kein rein subjektives Phänomen, das Erinnerungen an die Partizipation an den konventionalen Spielen des gesellschaftlichen Feldes beherbergt; seine Kompetenz zur Partizipation hängt selbst von der Verkörperung dieses kulturellen Gedächtnisses und seines Wissens ab« (ebd., S. 219). Das habitualisierte und sedimentierte Wissen des Körpers ist Voraussetzung für seine unbewusste Funktionsweise; körperliche Vorgänge und Denkvorgänge sind untrennbar eins. So wie der Körper durch gesellschaftliche Regeln und Konventionen geformt wird, formt er auch; der Habitus ist bei Bourdieu »strukturierte und strukturierende Struktur«; er stellt eine »Zitatenkette dar, die auf der Ebene des Körpers gelebt und geglaubt wird« (Butler 1998, S. 219). Aber der Habitus »ist nicht nur ein Ort der Reproduktion des Glaubens an die Wirklichkeit eines gegebenen gesellschaftlichen Feldes – er generiert auch Dispositionen, die das gesellschaftliche Subjekt dazu ›neigen‹ lassen, in relativer Übereinstimmung mit den scheinbar objektiven Anforderungen dieses Feldes zu handeln« (ebd.). Und er ist nicht nur Automat, wie Bourdieu im Anschluss an Leibniz vermutet (»… daß wir Menschen, laut Leibniz, ›in Dreiviertel aller unserer Handlungen Automaten sind‹« (Bourdieu 1984, S. 740), sondern er scheitert auch, ist Ort von Ausbrüchen und Widerständigkeiten; er verfehlt das, was von ihm verlangt wird, er überschreitet die Regeln. »Dieses Überschreiten fehlt in Bourdieus Erklärung oder unterdrückt es: die beständige Inkongruenz des sprechenden Körpers, die Art, wie er über seine Anrufung hinausgeht« (Butler 1998, S. 220).

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Butler nimmt an, dass der Körper sich durch Wiederholung performativ bildet und unbewusst das verkörpert, was ihn ausmacht. Damit wird das, was kontingent ist, kohärent; aber der Bildungsprozess des Körpers ist nach Butler genauso wenig eindeutig und kohärent wie seine Funktionsweise. »Nicht erklärt wird, was bei einer Anrufung zusammenbricht und eine Entgleisung von innen her ermöglicht« (ebd., S. 220). Es stellt sich die Frage, ob fehlgeleitete performative Äußerungen die herrschenden Formen der Anrufung und deren Ausschließungen sichtbar machen und verwirren können. Performative Äußerungen sind keine Handlungen eines schon fertigen Subjekts und seines Körpers, sondern eine Form, in der beide ins – gesellschaftliche – Leben gerufen werden; nach Butler setzen performative Sprechakte den Körper ebenso wie das Subjekt erst in Kraft; der Vorgang ist aber nie abgeschlossen und er ist »nie von vornherein vollständig determiniert« (ebd., S. 228; vgl. dazu auch Bublitz 2018, S. 32f.). Vielmehr kann der Sprechakt eine nichtkonventionale Bedeutung annehmen und in einem Kontext funktionieren, zu dem er nicht gehört. Butler geht davon aus, dass darin das politische Versprechen der performativen Äußerung liegt. Bourdieu verortet das Subjekt und seinen Habitus auf einer Karte der gesellschaftlichen Macht, auf der nur der die Chance hat, wahrgenommen und ›gehört‹ zu werden, der aufgrund seiner distinktiven Position mit akkumuliertem Kapital ausgestattet ist und aufgrund seiner Machtposition autorisiert ist, seine performativen Äußerungen und sein Auftreten im Sinne der ›sozialen Magie‹ seiner Äußerungen wirkungsvoll einzusetzen. Was Bourdieu aber übersieht, ist, so Butler, die Dynamik des sozialen Raums und des Habitus, der über autorisierte, konventionelle und ritualisierte sprachliche Praktiken hinausgeht; und es ist die Frage, ob die soziale Magie von Praktiken und Sprechakten notwendigerweise auf autorisierten Positionen beruht oder ob sie nicht subversiv durchbrochen werden kann. Bei Bourdieu spiegeln sprachliche Praktiken gesellschaftliche Positionen wider; sie spiegeln das System der sozialen Unterschiede (vgl. Bourdieu 1990, S. 31). Butler fragt, ob der autorisierte Diskurs nicht in Frage gestellt und enteignet werden kann, ja, sie behauptet, dass gerade darin,

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dass Bourdieu das »Zum-Sprechen-Autorisiert-Werden« mit einem »Sprechen-mit-Autorität« gleichsetzt, die Möglichkeit der subversiven Resignifikation ausschließt. »Was passiert zum Beispiel, wenn denjenigen, die nicht die gesellschaftliche Macht haben, ›Freiheit‹ oder ›demokratische Rechte‹ für sich in Anspruch zu nehmen, sich diese eifersüchtig gehüteten Begriffe aus dem herrschenden Diskurs aneignen, sie für eine neue politische Bewegung umarbeiten und resignifizieren?« (Butler 1998, S. 222f.) Und sie verweist u.a. auf die performative Macht, die darin liegt, »dass man sich die Begriffe aneignet, von denen man verletzt wurde, um ihnen ihre degradierende Bedeutung zu nehmen oder aus dieser degradierenden Bedeutung eine Affirmation abzuleiten« (ebd., S. 223). Die Wiederaneignung von hate speech eröffnet demnach die Möglichkeit, die verbale Erniedrigung der Unterworfenen und Eliminierten sowie die Autorisierung der hasserfüllten, abwertenden und beleidigenden Sprache nach dem Muster ›Du bist hier nicht erwünscht‹ oder ›so wollen wir hier nicht sprechen‹ aufzubrechen und umzukehren; »das Wort, das verwundet, wird in der neuen Anwendung, die sein früheres Wirkungsgebiet zerstört, zum Instrument des Widerstands. Bei einer solchen neuen Anwendung werden Worte ohne vorgängige Autorisierung ausgesprochen und setzen damit die Sicherheit des sprachlichen Lebens aufs Spiel, das Gefühl des eigenen Platzes in der Sprache, das Gefühl, daß die Worte tun, was man sagt« (ebd., S. 230). Symbolische Kämpfe gegen Klassengrenzen und gegen alle Formen des Ausschlusses führen schließlich zu einer Wiederaneignung der Begriffe der Moderne, wie Freiheit und Gleichheit. »Die Aufgabe liegt wohl darin, diejenigen gesellschaftlichen Gruppen in die Begriffe der Moderne einzubeziehen, die diese traditionell ausgeschlossen haben und dabei zu wissen, daß solches Einbeziehen nicht einfach ist – sein Prozeß müßte die Politik

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erschüttern und beschädigen, die ihn leistet. Es geht nicht einfach um eine einfache Assimilierung und Eingliederung dessen, was aus den bestehenden Begriffen ausgeschlossen ist, sondern vielmehr darum, eine Vorstellung von Differenz und Zukünftigkeit in die Moderne einzubringen, die eine unbekannte Zukunft entwirft, eine, die jenen Angst macht, die deren konventionelle Grenzen verteidigen wollen« (ebd., S. 227). Das aber würde bedeuten, die Gesellschaft strukturell zu verändern; die Frage ist, ob das durch sprachliche Re-Artikulation gelingt oder ob hierfür nicht tief greifende Veränderungen, die unbewusste Prozesse einbeziehen, notwendig wären. Wenn Butler – sprachtheoretisch angeleitet – davon ausgeht, dass man soziale Wirklichkeit durch Worte umstrukturieren kann, dann nimmt sie an, dass das Subjekt sich gegen die Macht, die es ›anruft‹, und es dabei unterwirft und erniedrigt, wenden kann und seine Position durch Selbstermächtigung ändern kann. Das aber setzt voraus, dass es über Ressourcen verfügt, die von den gesellschaftlichen Eliten, mit Privilegien verwaltet und künstlich verknappt werden. Stattdessen wird soziale Ungleichheit, werden Klassengrenzen und der Ausschluss der Eliminierten aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängt; es wird zum Bestandteil von Klischees, die die symbolischen Kämpfe unbewusst steuern.

4.7 Soziale Magie revisited – Verfestigung von Klassengrenzen durch Klischees Die soziale Magie der Erben geht, so zeigen die vorangegangenen Ausführungen, auf symbolisches Kapital, erworben in symbolischen Kämpfen, in denen sich zeigt, wer die Macht hat, symbolische Macht und Kapital zu akkumulieren, zurück. Es geht um »Distinktionen als symbolische Transfigurationen faktischer Unterschiede und genereller Ränge, Ordnungen, Grade und sonstigen symbolischen Hierarchien«, erwachsen aus der Anwendung von Konstruktionsschemata, die aus der Inkorporierung der Strukturen hervorgehen, auf die sie angewendet werden und die wie im

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Schlaf funktionieren, ohne bewusste Planung und ohne Dirigenten, der die Automatismen ihrer Anwendung orchestriert, wie Bourdieu zurecht annimmt (vgl. Bourdieu 1985, S. 22). Distinktionen beruhen auf der Inkorporierung derjenigen Verteilungsstrukturen des Kapitals, die anerkannt sind und ihre fraglose Legitimation aus dem Zusammenfallen objektiver und inkorporierter Strukturen erhalten. Es ist die Magie der Symbole, aus denen – immer wieder – Kapital geschlagen wird, anerkannt und durchgesetzt in symbolischen (Klassen-)Kämpfen. Und es sind die stummen Praktiken, Haltungen und Gesten, aus denen sie hervorgehen und in denen sie immer wieder mit der Suggestivkraft des alltäglichen Umgangs und des Verhaftetseins mit Dingen und Personen gefestigt werden. Verstärkt und bestätigt durch die Personifikation einer sozialen Fiktion und deren Anerkennung von Glaubensgemeinschaften, die, ganz im Sinne archaischer Gesellschaften, eine Art ›mystischen Körper‹ konfigurieren, den sie in allen ihren Praktiken ›verehren‹ – derart, dass sie die objektiven Kräfteverhältnisse und Hierarchien in den symbolischen Kräfteverhältnissen bestätigen und reproduzieren. Distinktion setzt Sicherheit und Abstand, distanziertes und selbstsicheres Verhalten voraus; sie ist Ausdruck einer privilegierten Stellung im sozialen Raum – und, damit verbunden, die Ablehnung anderer Geschmacksäußerungen (als der eigenen); diese verursachen Ekel und Widerwille (vgl. Bourdieu 1984, S. 104ff.). Was hier verabscheut wird, ist die Nähe und Gleichheit der anderen, es wird die Verschiedenheit, die Differenz verabsolutiert, die Abgrenzung zu den sozial und ökonomisch schwächeren Klassen(-positionen) ist elementar. In dieses Spiel der Ablehnung sind vor allem diejenigen involviert, die, hinreichend ausgestattet mit kulturellem Kapital, das eigene Leben zur Kunstform erheben könn(t)en. Die anderen, vor allem die unteren Gesellschaftsschichten, bilden nur die negative Kontrastfolie dieses Spiels der Ablehnungen. Der legitime Geschmack ist nicht käuflich, sondern muss kulturell erworben werden. Bourdieu stellt fest, dass Kulturkonsum die Grenzen zwischen den Milieus und Klassenfraktionen aufrechterhält und so maßgeblich zur Stabilität der Klassenstruktur beiträgt. Den Willen zur Distinktion, nach Abgrenzung von anderen,

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konnte er jedoch nur bei den Angehörigen des aufsteigenden Kleinbürgertums und bei den Mitgliedern des Bürgertums und der Aristokratie feststellen (vgl. Bourdieu 1984, S. 405ff.; vgl. auch Titton 2014, S. 192). Die Übertragung des – materiellen und immateriellen – Erbes erfolgt, so haben die bisherigen Ausführungen gezeigt, vor allem durch die Umwandlung von ökonomischem in kulturelles und symbolisches Kapital. In symbolischen Kämpfen erworbene Gewinne werden in (Anerkennungs-)Profite umgewandelt. Dabei geht es um mehr als bloß ökonomische Gewinne und soziales Prestige. In symbolischen Kämpfen steht mehr auf dem Spiel als der Einsatz von – ökonomischem, kulturellem und sozialem – Kapital. Es geht darum, soziale Abstände zu markieren und zu wahren und damit Ansehen und Prestige abzusichern. Hier kommt eine zweite Variante des Kapitals ins Spiel: Das eingesetzte Kapital tritt in eine Triebdynamik ein, die den Vorgang der Distinktion auf eine dem Subjekt unverfügbare, unbewusste Triebökonomie begründet. Dieser Vorgang der Verwandlung von Kapital in symbolisches Kapital wird dem Bewusstsein und der Reflexion entzogen. An die Stelle der Reflexion tritt »klischeebestimmtes, blindes Agieren und Regieren« (Lorenzer 1970, S. 86), so beschreibt der Psychoanalytiker Alfred Lorenzer die Verwandlung von Symbolen in Klischees, in sprachlich exkommunizierte Repräsentanzen, die durch Verdrängung erfolgt. »Sie auf bloße Dispositionen zu reduzieren, geht nicht an« (ebd., S. 78); vielmehr handelt es sich um ein »Spiel, über den Kopf der Individuen hinweg« (ebd., S. 91). Hier ist das Kapital eingebettet in eine Triebdynamik, die komplexe Situationen ›ökonomisch‹ regelt: Die Übertragung des materiellen und kulturellen Erbes und die Sicherung sozialer Zugehörigkeiten, vollzieht sich weniger durch rationale als vielmehr durch irrationale, unbewusste Prozesse. Hier verwandelt sich das Kapital in ein szenisches, psychisches Arrangement, das abgespalten ist vom Symbolischen-Sprachlichen; es erscheint auf der Ebene der unbewussten psychischen Repräsentanzen äußerer Objekte und Interaktionen im doppelten Sinne als ›ökonomisches‹ Kapital: Zum einen als Ressource für die Symbole (der Macht, des Reichtums, der Distinktion); zum anderen als ›triebökonomisches‹ Kapital, das,

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aus symbolischer Kommunikation und Reflexion ausgeschlossen, als ›Klischee‹ die Umwandlung von Symbolen in Distinktionsmerkmale steuert, ohne, dass dies dem subjektiven Bewusstsein bewusst und zugänglich wäre. Diese unbewussten Repräsentanzen nennt Alfred Lorenzer in seiner Schrift Sprachzerstörung und Rekonstruktion (1970) in Anlehnung an eine Freud’sche Formulierung »Klischees« und betont, dass sie entstehen, indem symbolische Repräsentanzen im Vorgang eines Abwehrmechanismus, dem der Verdrängung, zwar ›exkommuniziert‹, das heißt aus der Kommunikation in Sprache und Handeln ausgeschlossen werden, aber ihre Bedeutung, »ihre dynamisch-energetische Relevanz nicht verloren« (ebd., S. 79) haben. Als Eigentümlichkeit der Klischees zählt Lorenzer ihre Abhängigkeit von szenischen Arrangements und Anordnungen, situativen Auslösern und Reizen sowie ihre fehlende Fähigkeit zur Verzögerung eines Impulses auf. »Klischeebezogene Triebabläufe sind strikt determiniert. Sie sind mit so strenger Folgerichtigkeit an den szenischen Auslösereiz gebunden, daß vom Wiederholungszwang gesprochen wird« (ebd., S. 82). Klischees entziehen sich der Beobachtung und erst recht der Selbstbeobachtung. Damit teilt es die Eigenschaften unbewusster Automatismen, wie sie die Anthropologie, etwa die Arnold Gehlens, als unbewusste, schematische Muster sozialen Verhaltens anführt: »Als Sozialperson handeln wir sehr oft ›schematisch‹, d.h. in habituell gewordenen, eingeschliffenen Verhaltensfiguren, die ›von selbst ablaufen‹. Dies aber versteht sich nicht nur von dem im engeren Sinne praktischen, äußeren Handeln, sondern vor allem auch von dessen inneren Bestandstücken: Gedanken- und Urteilsgängen, Wertgefühlen und Entscheidungsakten; auch sind sie meist weitgehend automatisiert. Man kann sie daher nie zureichend von dem Individuellen einer Person aus verstehen, sondern im Gegenteil, nur von deren Rolle im sozialen Zusammenhang her, also gerade, sofern ihr Träger ›austauschbar‹ ist« (Gehlen 1957, S. 104). Und Alfred Lorenzer führt zum Klischee, das ja zweifellos stereotype und automatenhafte Eigenschaften hat, weiter aus:

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»An die Stelle der in der Reflexion begriffenen Situation tritt die unbegriffene Szene – das innerpsychische Muster eines reizstimulierten und schemageleiteten Umweltbezuges« (ebd., S. 87). Da klischeebestimmtes Verhalten als »Ausschluss aus der Sprachkommunikation« zu kennzeichnen ist, bezieht sich das Verhalten auf unbewusstes zwangsläufiges Agieren. »Verdrängung bedeutet demnach zweierlei, nämlich einerseits: ein Prozeß, der als Desymbolisierung, als qualitativer Sprung zu verstehen ist. Verdrängung meint andererseits aber auch: Dominieren des ›situativen‹ (bzw. richtiger gesagt) ›szenischen‹ Charakters (von Objekt und Selbstrepräsentanz), Auftreten eines zwanghaften szenischen Zusammenspiels von Triebrepräsentanz und Schema (als innerer Repräsentanz eines umweltgebundenen Auslösemechanismus« (ebd., S. 87f.). Damit rücken diese zwanghaften, reiz- und schemageleiteten, vor Reflexion gewissermaßen geschützten Automatismen sowohl in die Nähe der Funktionsweise technischer Objekte wie der des Automaten, des Maschinenhaft-Technischen und damit des technisch bloß Antrainierten oder Programmierten. Als Gegenstück zur bewussten Reflexion intentional handelnder Subjekte bewegen sich diese Automatismen aber auch in unmittelbarer Nähe zum Instinktiven und Reflexhaften tierischen Verhaltens, wie auch Alfred Lorenzer annimmt; er zieht Parallelen zu tierischen Auslöseschemata, die »Trieb-Dressur-Verschränkung« (Lorenzer 1970, S. 82). Es zeigt sich, dass de-symbolisierte psychische Automatismen sowohl der tierischen – und menschlichen – Natur entsprechen, aber auf bloße Reflexe oder eingeübte Abläufe nicht reduziert werden können. Sie gehen darüber hinaus. Und bilden durch dieses ›Darüberhinausgehende‹ strukturbildende Vorgänge, wie Bourdieu es für den Habitus als strukturbildende Disposition und Strukturen reproduzierendes Schema annimmt (vgl. dazu ausführlicher Bublitz 2014, S. 19-40, bes. S. 20). Vor Reflexion geschützte Automatismen bilden, wie die von Lorenzer im Anschluss an Freud angenommenen, aus der Verdrängung entstehenden Klischees, ein wesentliches Element kultureller Praktiken, deren Funktion zweifellos, so

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betont auch Gehlen, die Entlastung sozialer Abläufe ist, die durch Habitualisierung und ein, wie Gehlen sich ausdrückt, »gezüchtetes« Können, man könnte auch sagen, implizites Wissen, zustande kommt: »Man muß nun die ungemeine Entlastungsleistung eines solchen sozial orientierten Automatismus beachten. Es sind nämlich auch die zur Arbeit notwendigen Bewußtseinsfunktionen habitualisiert, einschließlich der Aufmerksamkeit, die unter diesen Bedingungen selbst habituell wird und ihre Eigenschaft, rasch zu ermüden, in hohem Grade verliert. Im Normalfall gibt es keinen Entschlussaufwand, keine Affektbremsung, keine Konfliktquellen und keine Interferenz von Problemen. Dafür entwickelt sich auf dieser Basis spezialisierter Gewohnheiten gesetzmäßig eine immer höhere Reizschwelle, ein sich verfeinernder optischer und taktiler Sinn für Qualitätsunterschiede, ein Plus an motorischen Feinreaktionen und eine differenzierte Skala verfügbarer Denkschemata – kurz, ein hohes gezüchtetes Können. Man kann es mit Veblen eine ›immaterielle Ausrüstung‹ – immaterial equipment – nennen und zugeben, ›daß sie notwendig ein Produkt der Gesellschaft ist, der immaterielle Rückstand der vergangenen und gegenwärtigen Erfahrung der Gesellschaft, der keine Existenz abgesondert vom Leben der Gesellschaft hat‹« (Gehlen 1957, S. 105). Distinktion, so folgern wir jetzt im Anschluss an die Ausführungen von Freud und Lorenzer zur Verdrängung und zum de-symbolisierten Klischee, erfolgt unreflektiert, ja, zwanghaft. Sie folgt einer Ökonomie, die wir mit Joseph Vogl an anderer Stelle als ›dunkle‹ Seite der Ökonomie, als ›Unheimlichkeit ökonomischer Prozesse‹ bezeichnet haben, die sich aus Prozessen einer ›unsichtbaren Hand‹ speist. Die Übertragung des Erbes erfolgt demnach weitgehend unreflektiert, wenngleich sie, so widersprüchlich das scheinen mag, durchaus bewussten Interessen und Strategien folgt. Dennoch gehorchen diese in ihrer manifesten Durchsetzung einer unbewussten Logik und einer innerpsychischen Triebökonomie, in der undurchschaubare Affekte und von Bewusstsein und Sprache abgespalte-

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ne Klischees die Schablone für die Sicherung von sozialer Distanz, Macht und sozialer Ungleichheit bilden. Diese triebökonomisch fundierte Reproduktion sozialer Ungleichheit, die, wie die Ökonomie überhaupt, einen fast gespenstischen Eigensinn entwickelt, entzieht sich der bewussten Wahrnehmung. Damit gerät aber auch die soziale Ungleichheit aus dem Blick. Sie wird verdrängt. Was sich der Beobachtung entzieht, wirkt lautlos und unsichtbar. Die Entlastung durch stereotype Schemata wirkt affirmativ im Sinne einer Ideologie, die als stumme Ordnung mithilfe unbewusster Praktiken soziale Ungleichheit wortlos affirmiert. Klischees sind affirmative Muster der Verfestigung sozialer Ungleichheit. Soziale Herkunft wird verdrängt. Diese Verdrängung hat entlastende Funktion, sie reduziert gesellschaftliche Komplexität. Aber sie verfestigt auch die Klassengrenzen durch klischeehafte, automatisierte Praktiken. Dabei werden nicht nur die Grenzen der sozialen Herkunft, sondern auch die symbolischen Kämpfe verdrängt. Sie werden, de-symbolisiert, ins Unbewusste der Gesellschaft und Kultur verdrängt. Der ›Wille zur Distinktion‹ ist mithin Ausdruck einer Verdrängung ganzer Gesellschaftspopulationen, deren soziale und symbolische Verluste in Klischees zum Ausdruck kommen, deren historische Entstehung aber in Vergessenheit geraten ist. Die szenischen Arrangements und damit die Entstehungsgeschichte der klassenspezifischen Muster – von Geschmack, Konsum und Lebensstil – unterliegen der ›Sprachzerstörung‹; sie müsste, wie Lorenzer durchaus mit psychoanalytischem Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in der sie produziert werden, konstatiert, rekonstruiert werden, um ihre Entstehung ans Licht zu bringen und Kritik an den Verhältnissen, die sie hervorbringen, zu üben. Stattdessen wird die Verdrängung gesellschaftlicher Ungleichheit(en) fortgeschrieben, soziale Ungleichheit bleibt, de-symbolisiert, sprachlos und setzt sich klischeehaft fort.

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5 Fette Beute oder Reichtum to go Refeudalisierung I

Gehörte vor der französischen Revolution alles dem Adel, so hat sich daran seitdem ja herzlich wenig geändert: denn auch gegenwärtig weist die Sozialstruktur in ihrer extremen Polarisierung Anzeichen einer Feudalstruktur auf. »Mit der Entfesselung des Kapitals beginnt […] die Tragik des Siegers. Nicht lange, und das System zeigt erste Risse, die Mittelschicht gerät unter Druck, die Armen bleiben arm – und im Jahr 2008 wäre der Casino-Kapitalismus beinahe vollständig zusammengebrochen: Millionen Bürger verlieren ihre Arbeit und müssen die Zeche zahlen, während die Schuldigen mit Boni-Millionen gefüttert werden. Leistung muss sich wieder lohnen […]. In etlichen Ländern […] besitzt ein Prozent der Superreichen siebzig Prozent des Vermögens, das war schon im Jahr 2014 so. In diesem Neo-Feudalismus wird der Reichtum vornehmlich vererbt, Geld heiratet Geld, und eine ständisch organisierte Managerklasse schanzt sich Privilegien zu. Dass sie wie die Made im Speck leben, mag man obszön finden. Doch dass sich die Milliardenfürsten Macht, Medien und Einfluss kaufen und so die Änderung der Verhältnisse verhindern können – das ist […] das eigentlich Beunruhigende« (Thomas Assheuer über den Dokumentarfilm: »Das Kapital im 21. Jahrhundert«, in: Die ZEIT, 25.10.2019; Hervorhebg. H.B.).

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Sighart Neckel geht im Anschluss an Jürgen Habermas1 davon aus, dass sich gegenwärtig ein sozialer Wandel vollzieht, den er mit dem Begriff »Refeudalisierung« bezeichnet. Kennzeichen dieser Refeudalisierung ist eine drastische Vermögensungleichheit, die dazu geführt hat, dass sich für vermögende Kreise in zahlreichen, nicht nur westlichen Ländern, »neofeudale Privilegien« etabliert haben, »während die unteren Schichten vielfach mit prekarisierter Arbeit und sozialem Ausschluss konfrontiert sind« (Neckel 2016, S. 20) und sich mit der unkontrollierten Macht des Finanzkapitals und »der Explosion des Reichtums auf den Finanzmärkten bei gleichzeitiger öffentlicher Verarmung« (Neckel 2013, S. 40) eine dramatische Vertiefung sozialer Ungleichheit eingestellt hat. Neckel konstatiert mit Paul Krugman, dass sich »die sozialen Protagonisten des modernen Kapitalismus – Bürgertum, Mittelschicht, Arbeiterschaft – […] gemeinsam […] von einer leistungslosen Eigentümerklasse, die auf Kosten der Mehrheit von ihren Besitztiteln lebt« (ebd., S. 41) ausgebeutet sehen. Der Finanzmarktkapitalismus hat demnach gesellschaftliche Muster der Verteilung von ökonomischem Kapital, Investitionen, Wohlstand und Lebenschancen mit sich gebracht, die dem bürgerlich-kapitalistischen »Geist des Kapitalismus«, der auf marktgesteuerter Konkurrenz, Tausch- und Profitlogik basiert, offenbar die Tränen in die Augen treiben. Es scheint, als sei der feudalistische Geist, der Privilegien qua Geburt und Herkunft vergibt, in veränderter Form wieder auferstanden. Dabei war dieser feudale kapitalistische Geist nie tot. Die kapitalistische Logik ist im Prinzip unverändert, sie hat sich nur gesteigert. Und die Klassenstruktur hat sich so verändert, dass sie sich auf die beiden Pole: Kapital1

Habermas nimmt ja in seiner 1962 veröffentlichten Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit an, dass sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Erstarken des Konsumkapitalismus und der Massenmedien ein »Zerfall« der bürgerlichen Öffentlichkeit einstellt und zwar insofern, als durch diese Entwicklung das literarisch gebildete kulturräsonierende Publikum durch ein kulturkonsumierendes Publikum ›ersetzt‹ wird, das Kultur – unkritisch – konsumiert. Der Begriff der ›Refeudalisierung‹ bezieht sich hier auf den Zerfall der bürgerlichen – kritischen – Öffentlichkeit.

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und Arbeit(slosigkeit) zu bewegt, aber während sich am Pol des Kapitals die Akkumulation ins Unermessliche gesteigert hat, wird das Kapital am Pol der Arbeit dünn; viel Arbeit für wenig Geld. Und die Arbeit selbst geht aus; digitalisierte Arbeit und Kapitalisierung von Daten sind an die Stelle nicht nur körperlicher Arbeit getreten: »Heute schaffen Arbeiter nicht mehr unter Tage, nur selten in der Fabrik am Fließband. Sie reinigen, sie unterrichten, sie schleppen Pakete die Treppe hinauf und Schmutzwäsche wieder hinunter, sie sitzen an der Supermarktkasse oder füllen Regale. Sie verlegen schnelles Internet und antworten an der Hotline. Sie pflegen Opa oder uns, wenn wir krank sind. Die Working Class ist vielfältig geworden, weiblicher, migrantischer, eher in Dienstleistungsberufen angestellt, aber noch immer gilt: Es sind Menschen, die arbeiten, um Geld zum Leben zu haben. Menschen, die keine Unternehmensanteile halten, über keine Mietshäuser verfügen, keine Erbschaften erwarten. Menschen, für die es heißt: Nettoeinkommen gleich Monatsbudget« (Friedrichs 2022, S. 4). Die Mittelschicht ist geschrumpft und tut dies weiterhin, von Jahr zu Jahr (vgl. die Studie zur Lage der Mittelschicht der Bertelsmann Stiftung/OECD 2021); die Einkommenssicherung stagniert für viele Haushalte, ganz zu schweigen vom Aufstiegsversprechen für ganze Generationen (vgl. Friedrichs 2021; 2022). Wohlstand für alle war und ist eine Illusion, sie hat sich aufgelöst in den Alltag prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse. Geringe Chancengleichheit und soziale Mobilität sind keine neuen Kennzeichen der sogenannten ›Wohlstandsgesellschaft‹, im Gegenteil, die Kluft zwischen den Klassen, ihren Kindern und Jugendlichen, die mit kulturellem Kapital ausgestattet sind und denen, die mit ihrer bloßen Arbeitskraft ihr Leben bestreiten (müssen), ist nicht kleiner, sondern größer geworden, aber erst jetzt fällt das ins Auge. »1969 fingen drei Prozent der Arbeiterkinder ein Studium an, 2000 waren es sieben Prozent, mehr als doppelt so viele. Bei den Kindern von Beamten stieg der Anteil von 27 Prozent im Jahr 1969 auf 53 Prozent im Jahr 2000. Danach wurde die Zählweise geändert, so dass die Statistiken nicht mehr vergleichbar sind. Der Befund aber

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bleibt: Die Quote derer, die studieren, stieg in allen Schichten an. Gleichzeitig aber wuchs der Abstand zuungunsten der Kinder der Working Class« (Friedrichs 2022, S. 7f.). Obwohl mehr Kinder und Jugendliche gegenwärtig das Abitur machen und studieren, ist der Aufstieg durch mehr Bildung ebenso wenig sicher wie Erwerbsarbeit kein Sicherheitsversprechen; allerdings stimme ich auch hier den Analysen und Diagnosen nicht zu, die davon ausgehen, dass es nicht mehr möglich ist, mit einem Einkommen durch den Monat zu kommen und einen bestimmten Lebensstandard zu sichern; das war den unteren Gesellschaftsschichten, erst recht, der Arbeiterklasse entgegen der Auffassung ihrer ›Verbürgerlichung‹, noch nie, schon gar nicht in der sogenannten ›Wohlstandsgesellschaft‹ möglich; Verbürgerlichung konnte hier immer nur bedeuten, dass sie sich mit einem Doppel- und Dreifacheinkommen sowie Krediten evtl. einen gewissen Lebensstandard, einen Billig-Urlaub im Massentourismus oder die (Weiter-)Bildung ihrer Kinder leisten konnten, während der immer wieder angeführte ›Fahrstuhleffekt‹ die mittleren und oberen Gesellschaftsklassen in exklusive(re) Zonen des Lebensstils führte. Die neue Arbeiterklasse zeigt sich in allen Dienstleistungsbereichen; der feudale kapitalistische Geist begleitet die Kuriere, die mit ihren Waren auf dem Buckel oder im Elektro-Auto von Amazon und Co. oder DHL durch die Straßen flitzen und von Haus zu Haus hasten, um in kürzester Zeit so viel auszuliefern, dass ihnen wenigstens das Notwendigste zum Leben bleibt, während die Oberschichten nicht nur über ein »historisch einmaliges Vermögen«, sondern auch über politischen Einfluss und Macht verfügen. Davon abgesehen, bleibt die Frage unbeantwortet, wie es sein kann, was Neckel konstatiert, nämlich, dass sich die Profite und Vermögen ins Unermessliche steigern und Topmanager, Unternehmer u.a., sich den Reichtum quasi zu schachern, während tausende von Mitarbeitern – ins Prekariat – entlassen werden. Sie entziehen den Unternehmen wesentlich mehr Einkünfte als irgendeine Spitzenkraft als eigenen Leistungsbeitrag seiner Firma hinzufügen kann; ungeklärt bleibt aber, wie es funktioniert. Ist da wieder die

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›Glaubensgemeinschaft‹ am Werk? Gibt es auch für diese neofeudalen Praktiken unsichtbare Codes? Der Befund ist einstimmig: Die – neuen – Reichen verdanken ihren Reichtum nicht etwa erbrachten Leistungen, Wettbewerbs- oder Markterfolg, was man ihnen – merkwürdigerweise – durchgehen lassen würde, denn das wären ja »bürgerlich-kapitalistische Prinzipien wie Leistung und Wettbewerb« (Neckel 2016a, S. 22); als wären diese ökonomischen Prinzipien Garanten sozialer Chancengleichheit. Und wird nicht dieser wettbewerbs- und leistungsorientierte »Geist des Kapitalismus« gegen die Privilegien der oberen Statusgruppen beschworen? Dabei vernachlässigt diese Position, dass der Markt die Benachteiligung der unteren Schichten doch keineswegs ausgleicht; vielmehr ist die Ungleichheit in die Marktlogik bereits eingeschrieben, wie u.a. Marx deutlich gemacht hat (vgl. Marx 1867, 1968; Vogl 2010, 2021). Dabei hat Marx in seiner Kritik der Politischen Ökonomie diese Konkurrenz- und Tauschprinzipien einer umfassenden Kritik unterzogen, indem er gezeigt hat, dass gerade hier, in der Sphäre der Marktlogik, die Ungleichheit, die in feudalen Zeiten qua Abstammung und Herkunft besiegelt war, ökonomisch auf die Spitze getrieben wird: Während nämlich der eine das – aus dem Mehrwert der Arbeit – erwirtschaftete Kapital zu Markte trägt, trägt der andere nur seine Haut zu Markte, weil er nicht mehr als seine bloße Arbeitskraft hat, die er im Tausch Kapital gegen Arbeit bzw. Arbeit gegen Lohn tauschen könnte. So schreibt Marx über die Verwandlung von Geld in Kapital: »Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei« (Marx 1867; 1968, S. 191). Empörend ist nun aber offenbar, dass es »Strategien der Privilegiensicherung« (Neckel 2016a, S. 20) sind, die den Reichtum der Vermögenden sichern. Dabei ist das nichts Neues! Die Marktgesetze haben doch für die oberen Schichten noch nie gegolten! Hier ging es schon immer darum, die eigenen Privilegien und soziales Kapital

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einzusetzen, Menschen profitabel zu nutzen und das hieß immer: Herauszuholen was gewinnbringend nur möglich ist. Und sie abzustoßen, wenn sie nicht effektiv genug und das heißt rund um die Uhr nutzbar waren oder ihre Arbeitskraft im Vergleich mit technischen Möglichkeiten zu langsam oder zu teuer war oder Maschinen ihre Arbeit besser und/oder schneller erledigten. Es ging immer nur um Privilegien, nicht um gerechten Lohn für Leistung. Der Lohn bestimmte sich, bis die organisierte Arbeiterbewegung und die organisierte Arbeitnehmerschafts- bzw. Gewerkschaftsbewegung ihre Teilhabe am ›collective bargaining‹ erkämpfte, nur aus dem, was die Kapitalisten – und das auf dem Rücken der Arbeitskräfte – zu geben bereit waren, ganz ähnlich, wie sie gegenwärtig verfahren. Immer nur gerade so viel ab- und zugegeben, wie die sozialen Kämpfe erzwangen, und sobald die wirtschaftliche und politische Situation die Position der Arbeiterklasse schwächte, wieder abwärts mit denen im Fahrstuhl, auf Knopfdruck der Oberen! Davon war natürlich vor allem die Masse der ungelernten Arbeitskräfte betroffen, während mit zunehmender Qualifizierung Zugeständnisse gemacht wurden und gemacht werden mussten. Mit dem Einsatz von Technologien und Rationalisierungsverfahren änderte sich das jeweils zuungunsten der (wegrationalisierten) Arbeitskräfte. Dass das jetzt aus dem Ruder läuft und der »patrimoniale Kapitalismus« die dynastischen Strukturen derart befördert, liegt u.a. daran, dass die Gesetze des Marktes und der Tauschökonomie vor allem durch Privilegien- und Statussicherung außer Kraft gesetzt werden, die Produktion der Dinge und deren Zirkulation zunehmend technisch-digital organisiert wird und an der schwindenden Macht der Demokratie, der sogenannten »Postdemokratie« (vgl. Crouch 2008), was sich besonders an den beiden Polen der Arbeit bzw. der Ökonomie zeigt: die Arbeitskräfte stehen dem Konkurrenzdruck der Arbeitsmärkte und der Durchsetzungskraft einer globalen Wirtschaftselite aufgrund des dramatischen Abbaus von Teilhaberechten zum größten Teil ungeschützt in prekari-

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sierten Arbeitsverhältnissen gegenüber; das ist die Rückkehr zum Konkurrenzkapitalismus des 19. Jahrhunderts.2 Allerdings geht es gegenwärtig theoretisch darum, dass man die drastischen Formen sozialer Ungleichheit nicht aus den Regeln und Gesetzen des Marktes und auch nicht oder zumindest nicht primär auf der Ausbeutung der Lohnarbeit erklären kann; denn »würde allein der Mechanismus von Angebot und Nachfrage auf den globalen Arbeitsmärkten die Verteilungsordnung des Einkommens bestimmen, müsste man annehmen, dass jene am stärksten vom Wohlstandszuwachs profitieren, die auf diesen Arbeitsmärkten die besten Qualifikationen anzubieten haben« (Neckel 2013, S. 44). Das ist aber nicht der Fall. »Statt dessen gehören die hochqualifizierten Wissensarbeiter jedoch häufig genug selbst zu den 99 %, an denen der weitaus größte Zuwachs des Wohlstands vorbeigezogen ist« (ebd.).3 Ist das das eigentliche Skandalon? Dass die Qualifizierten auf der Strecke bleiben? Also haben wir es, so Neckel, mit »einer Verteilungsordnung zu tun, in der eine Reichtumsoligarchie […] nicht von Marktchancen, sondern allein von monetären Anspruchstiteln und daraus erwachsender Macht profitiert und damit eine gesellschaftliche Rangordnung begründet, die aus

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Neckel verweist mit seiner These der »Refeudalisierung« u.a. auch auf Colin Crouchs These der Postdemokratie, die besagt, dass »der demokratische Prozess den vorläufigen Endpunkt einer ›parabelförmigen Entwicklung‹ erreicht, an deren Beginn der Kampf um gleichberechtigte Teilhabe steht, deren Scheitelpunkt der organisierte Wohlfahrtsstaat darstellt und deren Niedergang durch einen ›Substanzverlust der Demokratie‹ gekennzeichnet ist, der schließlich in einem Rückfall in vordemokratische Zeiten endet« (Neckel 2013, S. 41).

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Neckel bezieht sich hier bei den 99 % auf das politische Statement der weltweiten Occupy-Wallstreet-Bewegung mit dem Slogan ›We are the 99 Percent‹, mit der sie sich gegen die 1 % der US-amerikanischen Haushalte, die über mehr als eine Million Dollar Jahreseinkommen verfügen, richtet.

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den Regeln einer bürgerlichen Wettbewerbsordnung nicht mehr erklärbar ist« (ebd.). Es ist die Frage, ob Neckel richtig liegt, wenn er davon ausgeht, dass »Refeudalisierung« gänzlich dem widerspricht, was für moderne Gesellschaften als charakteristisch gilt, nämlich u.a. soziale Durchlässigkeit und Aufstiegsmöglichkeiten, während gegenwärtig offensichtlich gilt: »[D]ichotome Sozialgruppen, die untereinander keine Statuswettbewerbe mehr kennen, sondern nur gegenseitige Abschottung in untereinander vollkommen unvergleichbaren Lebenslagen – eine statische Sozialstruktur mit ständischer Beharrung, im Unterschied zu den dynamischen Prozessen sozialer Mobilität, wie sie für moderne Gesellschaften als charakteristisch gelten« (ebd.). Denn: Es darf bezweifelt werden, ob das, bis auf einen kurzen Zeitraum von einem drei Jahrzehnten währenden Trend zur stärkeren sozialen Durchlässigkeit, wie Neckel selbst annimmt, je wirklich existiert hat; dass sich dieser Trend mittlerweile dauerhaft umgekehrt hat, steht aus meiner Sicht außer Frage. Sicher verweist »Refeudalisierung« nicht auf die Wiedergeburt der feudalen Gesellschaft mit ihren unverrückbaren ständischen Strukturen, sondern auf eine »prozessierende Selbstwidersprüchlichkeit« der kapitalistischen Logik, die offenbar in einer (selbst-)zerstörerischen Gier (nach Geld) gipfelt; allerdings beschreibt dies meiner Ansicht nach die ihr innewohnende Prozesslogik nur unzureichend. Die Sache ist komplexer. So geht Neckel mit Rekurs auf Habermas’ Analyse des Verfalls der bürgerlichen Öffentlichkeit davon aus, dass »derselbe gesellschaftliche Prozess, der die Ökonomie zur Struktur eines Finanzmarktkapitalismus modernisiert hat, […] soziale Formen der Verteilung von Einkommen, Anerkennung und Macht (etabliert), die in zeitgemäßen Erscheinungsweisen vormoderne Muster der sozialen Ordnung aktualisieren. Derselbe ökonomische Entwicklungsprozess, der immense materielle Zugewinne in Aussicht stellt, sorgt zugleich dafür, dass immer größere Bevölkerungsteile von ihnen ausgeschlossen werden« (ebd., S. 49).

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Neckel beschreibt Prozesse der Refeudalisierung der Gegenwartsgesellschaft in den Dimensionen der Sozialstruktur und der Verwandlung sozialer Ungleichheit, die in ihrer Polarisierung und ständischen Verfestigung der Herkunft, wie er annimmt, deutliche Anzeichen von Feudalisierung aufweist. Zudem verweist er auf die Refeudalisierung der Organisation wirtschaftlicher Prozesse und bezieht sich auf den neofeudalen Status der auf den Finanzmärkten vorherrschenden ökonomischen Führungsgruppen, die Refeudalisierung der Werte und die Rechtfertigungsordnung des Finanzkapitalismus sowie die damit verbundene »Erosion des Leistungsprinzips durch leistungslose Einkommen aus ererbten Positionen, Vermögen und Eigentumstitel sowie jene Refeudalisierung von Anerkennung, die sich bei den Celebrities des Medienzeitalters durch die Wirkungsweise von Prominenz vollzieht« (Neckel 2013, S. 49f.) und schließlich die Veränderung des Wohlfahrtsstaates durch die Reprivatisierung – und damit die Refeudalisierung – des Spendenwesens, das »sozialstaatliche Anrechte in Abhängigkeit von privater Mildtätigkeit verwandelt« (ebd.). Dem kann man sich anschließen. Fraglich bleibt nur, ob der Begriff der Bürgerlichkeit, den Neckel – gegen die Wiedererrichtung aristokratischer, feudaler Privilegien – in Anschlag bringt (oder sollte man sagen, dessen Verlust er betrauert oder zumindest bedauert – »Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft bedingen sich nicht mehr – sie sind vielmehr Gegensätze geworden« (ebd., S. 54)) – geeignet ist, den globalen Siegeszug Kapitalismus mit seinen feudalen Privilegien »ohne Bürgerlichkeit« kritisch zu sehen; denn: der Begriff des Bürgers/der Bürgerlichkeit setzt den des NichtBürgers/der Nicht-Bürgerlichkeit voraus; er konstituiert sich über den Ausschluss derer, die nicht bürgerlich sind und diesen Status auch nicht erlangen können. Ob das so gewollt ist? Wäre Bürgerlichkeit ein Garant für einen ›leistungsgerechten‹ Kapitalismus? Und verbürgt die Koalition von Bürgerlichkeit und Kapitalismus eine gerechtere, weil markt- und leistungsorientierte Gesellschaft? Die historische Verbindung, deren Ende Neckel beklagt, spricht, ganz abgesehen davon, dass das Bürgertum im 19. Jahrhundert den

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luxurierenden Adel durchaus als Folie des eigenen Lebensstils sah, nicht gerade dafür, dass soziale Ungleichheit durch die Koppelung von Leistung und Erfolg außer Kraft gesetzt oder ›gerechter‹ fundiert würde. Es fragt sich, welche normativen Grundlagen Neckel meint, wenn er kritisch anmerkt, dass die »Refeudalisierung von Wirtschaft und Sozialstruktur, von Werten wie dem Leistungsprinzip und von staatlichen Einrichtungen wie der Sozialpolitik dokumentiert, in welchem Ausmaße sich die Organisationsprinzipien und die Kultur des Kapitalismus der Gegenwart von ihren einstigen normativen Grundlagen entbunden haben« (ebd., S. 54). Denn: die unteren Gesellschaftsschichten waren in der bürgerlichen Gesellschaft von Anfang an nicht gemeint, wenn es darum ging, sich aus den Zwängen der – feudalen – Existenz zu befreien und den modernen Kapitalismus in der bürgerlichen Gesellschaft zu etablieren. So schreibt Marx in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte: »Die bürgerliche Republik siegte. Auf ihrer Seite stand die Finanzaristokratie, die industrielle Bourgeoisie, der Mittelstand, die Kleinbürger, die Armee, das als Mobilgarde organisierte Lumpenproletariat, die geistigen Kapazitäten, die Pfaffen und die Landbevölkerung. Auf der Seite des Proletariats stand niemand als es selbst« (Marx 1852 [1966], S. 40). Das Bürgertum und die Bürgerlichkeit waren kein Garant für soziale Gleichheit und leistungsgerechte Entlohnung; der Kapitalismus und das Kapital gingen hart gegen diejenigen zu Werke, die nichts hatten außer ihrer Arbeitskraft. Neckel nimmt dagegen an, dass die »Unbürgerlichkeit« im 21. Jahrhundert »eine kulturelle Voraussetzung dafür ist, dass der Kapitalismus einen globalen Siegeszug angetreten hat« (ebd.). Sicher ist das liberale Modell des Äquivalententauschs von Anfang an ein ›schräges‹ Modell, dass die Besitzer an Kapital bevorzugt; und angesichts der unglaublichen Konzentration von Kapital und Macht in den Händen Weniger wird es zunehmend unglaubwürdiger, aber das kapitalistische Modell sieht von Anfang an die Kapital- und Wareneigentümer im Vorteil; das hat Marx deutlich gemacht. Darüber hinaus sind ganz wesentlich die technologischen Rationalisierungsschübe zu berücksichtigen,

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die gegenwärtig die Arbeit(swelt) fundamental verändern. Rationalisierung bedeutet aus der Perspektive der Unternehmer die Außerkraftsetzung des Werts der lebendigen Arbeit und damit eine steigende Profitrate, deren Grundlage die Zirkulation digitaler Zeichen und Spekulation ist. Habermas sah bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert, vor allem aber im 20. Jahrhundert, Anzeichen eines Zerfalls der bürgerlichen, kritischen Öffentlichkeit vor allem durch die Konzentration von Geld und Macht in immer weniger Händen und durch die Kolonisierung der Lebenswelt, wie er später in seiner Theorie des kommunikativen Handelns den Einbruch warenökonomischer Prinzipien in private Lebenswelten des Bürgertums nannte. Das kritische Räsonnement bürgerlicher Privatleute verlor an Bedeutung, wie er annahm, während manipulative Werbung, sowie eine kommerzialisierte und in Medienkonzernen organisierte Presse zunehmend nur noch eine Scheinöffentlichkeit herstellte, in denen partikulare Interessen dominierten. Gegenwärtig befinden wir uns in einer Entwicklungsphase des Kapitalismus, in der anstelle der »mechanischen Muskeln der industriellen Produktion […] digitale Netzwerke der Informationsund Kommunikationstechnologien« (Staab 2019, S. 10) ins Zentrum der kapitalistischen Organisation der Ökonomie treten, vor allem aber, so nimmt Staab an, »eine neue Konzentration ökonomischer Macht zu beobachten ist« (ebd., S. 14). Ob diese neue Konzentration ökonomischer Macht, die u.a. mit Begriffen wie Überwachungskapitalismus (Zuboff 1989; 2018; 2019) und Plattformkapitalismus (Srnicek 2016), in denen »eine sehr kleine Zahl sehr großer Unternehmen den Zugang zu Gütern, Dienstleistungen und Infrastruktur« (ebd., S. 20) kontrolliert und sich mit der konsumentenzentrierten kommerziellen Kontrolle des Internets und sozialen Netzwerken neue Formen der medialen Öffentlichkeit konstituiert haben, mit Habermas’ Begriff der ›Refeudalisierung‹ adäquat beschrieben ist, ist fraglich. Denn der digitale Kapitalismus zeichnet sich durch proprietäre Märkte aus; hier bilden Leitunternehmen proprietäre Märkte im kommerziellen Internet, die im Grunde ›alles‹ kontrollieren, Information, Zugang, Preis und Leistung. Proprietäre Märkte sind konsum-, nicht produktionsorientiert. Staab erläutert

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die politisch-ökonomischen Faktoren, vor deren Hintergrund das kommerzielle Internet schrittweise die globale Bedeutung digitaler Leitunternehmen verstärken konnte. Profitakkumulation kann durch die künstliche Verknappung nicht knapper Güter erfolgen. Zum anderen kommt es zu kapitalistischen Problemen der Marktsaturierung und Unterkonsumption, wofür Staab das Modell proprietärer Märkte als Lösungsansatz darstellt. Staab – und u.a. auch Srnicek (2016) – geht davon aus – dass das Modell proprietärer Märkte das Problem sinkender Wachstumsraten, die auf eine Asymmetrie von Massenproduktion und -konsumption, gesättigte Bedürfnisse sowie die Erschöpfung von Produktivitätsgewinnen zurückzuführen sind, letztlich auch nicht lösen. Denn mit Maßnahmen zur Restrukturierung des fordistischen Produktions- und Akkumulationsmodells, wozu die Verschiebung der Beschäftigungsschwerpunkte von der Industrie zu Dienstleistungen sowie die Wachstumsförderung in der Finanzindustrie zählen, kam es im Postfordismus zur sozialen Polarisierung durch den Aufstieg akademischer Dienstklassen sowie dem Entstehen eines Niedriglohnsektors. Auch der Versuch, Nachfrage durch private Konsumkredite zu stabilisieren (»privater Keynesianismus«), scheiterte und beförderte den Anstieg privater Schulden. Durch ihr Wachstumsversprechen sind diese Leitunternehmen/proprietären Märkte attraktiv für Kapitelinvestitionen und fungieren als Katalysator für den Aufstieg digitaler Leitkonzerne, Metaplattformen, die über die Maximierung des Konsums und der Profite große Teile der Ökonomie dominieren. Die monopolartige Dominanz ermöglicht Zugang zur Gesamtheit im Internet gehandelter Produkte, Dienstleistungen und Informationen. Proprietäre Märkte radikalisieren die soziale Ungleichheit (vgl. ausführlich Staab 2019, S. 150-225). Das alles sind Aspekte, die sich mit dem Begriff der Refeudalisierung sicher nicht hinreichend angemessen beschreiben lassen. Der Begriff der Refeudalisierung bezieht sich bei Neckel maßgeblich auf Phänomene, die durch den Finanzmarktkapitalismus geschaffen werden, wie die »nachhaltige Verstörung des Leistungsbewusstseins«, eine »Verteilungsordnung«, die zu einer weitverbreiteten »Prekarisierung von Bevölkerungsschichten« und

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andererseits einer »Reichtumsoligarchie an der Spitze, deren extrem hohe Erträge weder auf Arbeit noch auf Investition noch auf Risiko beruhen« (Neckel 2013, S. 53). Was hier mit Refeudalisierung bezeichnet wird, ist nicht identisch mit dem Verfall der bürgerlichen Öffentlichkeit Habermas’scher Provenienz, deren kritische Rationalität im 19./20. Jahrhundert zunehmend einem marktkonformem Konsum wich, wie Habermas annahm. Aber wenn Neckel schreibt: »Hier liegt die Rationalität dessen, dass die öffentliche Zeitkritik die Auswüchse einer derart verwilderten Ungleichheitsordnung als einen neuen Feudalismus bezeichnet« (ebd., S. 53), dann lässt sich dies nicht bestreiten und mit Sicherheit umstandslos auf die Clip-Ästhetik bei Instagram, erst recht auf die der ›Rich Kids of Instagram‹ und ihren feudalen Rahmen beziehen.

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6 Fette Beute revisited Refeudalisierung II: der protzige Rahmen der Erben

6.1 Plattformen und (Clip-)Ästhetiken der (Selbst-)Repräsentation Das Aufkommen neuer Kommunikationstechnologien und sozialer Netzwerke, die demonstrative Zurschaustellung und der permanente Austausch fotografischer Bilder haben die Idee des Selbst und die Formen der Selbstdarstellung grundlegend verändert. Repräsentationsformen des Selbst im Netz sind an digitale, selbstreferenzielle Praktiken und an die semiotische Arbeit am Selbst und seine Performance gekoppelt. Hier verbinden sich extrovertierte Ästhetik(en) der Selbstpräsentation mit ästhetisch-expressiven Praktiken der Verschränkung von Konsumobjekten und gelungener Selbstvermarktung. Technologien des Selbst sind auf diesen medialen Plattformen vor allem an der Herstellung von affektiven und imaginären Effekten ausgerichtet. Diese Praktiken sind in den Sog der performativen Darstellung von Diversity (auf der Ebene des Subjekts) einbezogen; immer wieder findet sich das Subjekt anders und neu codiert. Prozesse der Subjektivierung sind in der Gegenwartsgesellschaft, in technisch-mediale, ökonomische Prozesse und digitale Praktiken der (Selbst-)Präsentation integriert. Das ›postmoderne‹ Subjekt konstituiert sich als »konsumtorisches Kreativsubjekt« (Reckwitz 2016), das sich quasi permanent als »ästhetisch-ökonomisches Doppel« (ebd.) inszeniert.

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Authentizität ist die Wirkung eines inszenierten Arrangements, das ›echt‹ wirkt; Selbstdarstellung und -narration im Netz hat nichts oder wenig zu tun mit einer irgendwie originären Authentizität des Selbst, sondern mit der medialen Produktion von sozialer Zugehörigkeit und Anerkennung, es geht vor allem darum, in der Aufmerksamkeitsökonomie einen ›Stich‹ zu machen und gewinnbringend aufzufallen, das heißt um die eigene Person ein Netz zu spinnen, das ästhetisches Flair ausstrahlt und ›ankommt‹. Dabei geht es, besonders im Fall der Erben, die im folgenden Abschnitt in ihrer medialen Präsentation angesprochen werden, um Prestige, Prominenz und Reputation. Aufmerksamkeit ist die neue Währung derer, die bewusst präsent sind oder sein wollen, indem sie, wie dies auch bei Geldtransaktionen der Fall ist, auf Distanz gehen – zu sich und anderen. Und hier sind sie wieder, die verborgenen Codes, die aus Beachtung Attraktivität machen. Je prominenter, desto attraktiver erscheint das Alltägliche, das, dem Alltag enthoben, ästhetischen Reichtum und Dekor an die Stelle bloß materiellen Konsums setzt. Aufmerksamkeit und Anerkennung werden einer ökonomischen Verwertungslogik unterworfen, die den Selbstwert der medial präsentierten Subjekte, wie Geld, Kapital und Arbeit, einer ökonomischen Nutzenmaximierung und Steigerungslogik unterstellen (vgl. dazu Franck 2004). Die Person, die sich medial präsentiert, ist jemand anderes. Es geht um Enthüllung durch Verhüllung, Maskierung des Nicht-Authentischen, damit es authentisch wirkt. Aber hinter der Maske ist kein ›wahres Ich‹, sondern nur ein weiteres, verhülltes Ich. Darin ist immer ein Verweis auf das Verhüllte enthalten, aber mehr auch nicht. Sichtbar ist ein Spiegelbild, das sich den Blicken der anderen öffnet. Das Ganze ist eine Anordnung, die sich mit den Blicken der Betrachter zusammenschließt. Als authentisches Subjekt ist das Subjekt sich letztlich unerreichbar; es existiert lediglich über kulturelle Codes und über die Blicke und Likes des Anderen. Das Gesicht, das sich auf Facebook oder Instagram zeigt, ist ein Spiegelbild, das kulturelle Bilder inszeniert und präsentiert. Gegenwärtig: medial und technisch möglich wird das »face« für andere ins Netz gestellt, und es wirkt, als würde man sich an einer imaginä-

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ren Dauerparty beteiligen. Aber die Dauerkommunikation auf Facebook (und WhatsApp) geht ja weit über die bloße Spiegelung des Selbst hinaus; es handelt sich um eine Maschine, der sich Menschen als User, trotz ihres immensen Überwachungspotentials, freiwillig anschließen, ja unterwerfen – mit immensen Effekten: Die neuen »Regime des Austauschs« (Bodle 2011) wirken sich mit ihrer ›Like Economy‹ (Gerlitz 2011) nicht nur auf subjektive Haltungen, Denkund Wahrnehmungsprozesse, sondern auch auf ökonomische Verwertungsprozesse aus. »Man kann Facebook als Maschine betrachten, die ihre Aufmerksamkeit immer weiter in die verschiedensten Bereiche des Lebens ausdehnt, dabei Subjektivitäten zurichtet und ökonomische Prozesse auf algorithmischer Basis ausdifferenziert« (Leistert/Röhle 2011, S. 8). Alles, was da – an Fotos, Likes etc. – gepostet wird, ist Ressource ökonomischer Mehr-Wertschöpfung, auf die Nutzer keinen Einfluss haben; sie liefern, neben der Überwachung und Kontrolle, das Datenmaterial. Sie stellen Näheverhältnisse her, die durch Links und Likes initiiert werden; sie setzen Affektdynamiken in Gang, indem sie affektive Innenzustände in externalisierte Zahlenwerte und Blöcke überführen und die affektive Kommunikation und Interaktion auf eine spezifische, künstliche Art und Weise intensivieren (vgl. Gerlitz 2011, S. 111f.). »Soziale Interaktionen, Daten und wirtschaftlicher Mehrwert fallen in der Like Economy zusammen und verschmelzen zunehmend. Die quantitative Erfassung von Affekten produziert damit nicht nur Näherverhältnisse zwischen Facebook und dem Web, sondern auch wirtschaftlichen Mehrwert« (ebd., S. 112). Darüber hinaus verändern sich ›multiple Selbste‹ zu ›normalisierten Selbsten‹, die sich unter ›Freunden‹ sicher fühlen und jeden Ausbruch aus dieser Normalität ahnden; »gespielt fröhlich, vorgetäuscht freundschaftlich, voller Eigenlob, routiniert verlogen« (Smith 2010, zit.n. Lovin 2011, S. 187), wie Zadie Smith die Normalität von Facebook verächtlich beschreibt, macht sich hier unterschiedslose Ähnlichkeit und Gleichheit breit, aber nicht

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in einem freiheitlich-individuellen Sinne, sondern angepasst an vorgegebene Muster (vgl. Lovink 2001, S. 187). Hier wird soziales Kapital auf zweierlei Weise zur Schau gestellt: »Es zeigt, dass man geliebt wird und mit wem wir verbunden sind« (Illouz 2007, zit.n. Lovink 2011, S. 188). Es ist eine Überlegung wert, »wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt«, wie sie die Alltagserfahrung nivelliert und komplexere Gefühle ausklammert und wie man diese libidinöse Ökonomie von Facebook durchkreuzen kann (vgl. Lovink 2011, S. 189). »Facebook ist Soziologie für jedermann«, schreibt Dirk Baecker: »Facebook ist der Beweis […], dass die Menschen in der Tat alle dieselben Präferenzen haben. Sie alle wünschen sich Distinktion und Anerkennung, Freunde, Reputation und Macht, Wissen, Gnade und Hoffnung, Begegnungen und Abenteuer sowie Erlösung von ihren Schmerzen. Sie unterscheiden sich nur in ihren Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, um sich diese Wünsche zu erfüllen. Die einen haben viele Freunde, aber kein Geld, andere haben die Macht, aber kein Wissen und wieder andere haben Geld, aber keine Anerkennung […]« (Baecker 2001, S. 124). Wenn es so ist, dass »nur die Ähnlichkeit (uns) unterscheidet« und die Unterschiede nur im Detail existieren, und Facebook genau das zeigt, dann wäre Facebook eine Maschine der Gleichheit in einer Differenz, die keine ist, also eine Maschine, die Vielheit und Vielfalt, diversity suggeriert, in Wirklichkeit aber normalisiert – und Ähnlichkeiten produziert. Reckwitz geht davon aus, dass ›nach-bürgerliche‹, ›hybride‹ Subjekte sich nicht, wie in der Literatur, primär auf der Ebene von Innenwelten, sondern als »visuelle performances« präsentieren, sowohl als »Examinator äußerer performances« als auch als »Objekt des being looked-at-ness« (Reckwitz 2008, S. 171f.); diese visuelle Kultur einer permanenten Beobachtung der anderen und Selbstbeobachtung bildet Dispositionen eines »ästhetischen Voyeurismus« (ebd., S. 172), die, wie Reckwitz annimmt, »ein ›zerstreutes‹, ein sich zerstreuendes Subjekt heran(züchtet), das seine reflexive Ichkontrolle in der Auseinandersetzung mit der

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Bildersequenz verliert und sich im reinen Genuss der Wahrnehmung, in einer ästhetischen Haltung gegenüber attraktiven Oberflächen übt« (ebd.). Aber nicht nur das; das Subjekt lernt, beständig Simulationen zu produzieren und mit Simulationen konfrontiert zu werden – und zwar auch in der Beziehung zu sich und anderen. Die Experimentier- und Stilisierungsfähigkeit im Umgang mit sich selbst gehören daher, neben den digitalen Technologien, zu den zentralen Selbsttechnologien eines Subjekts, das sich selbst nicht als gegeben, sondern als immer hervorzubringendes betrachtet (vgl. ebd., S. 174; vgl. zum gesamten Komplex medialer Selbsttechnologien auch Bublitz 2010, S. 103-118). Das betrifft sowohl das semiotische Arrangement des eigenen Selbst als auch die von Konsumobjekten (vgl. dazu auch Reckwitz 2006, S. 555-587). Gefordert ist hier gewissermaßen eine Theatralität, die mit der Inszenierung des Selbst an eine »Semantik der Selbstentfaltung« (Früchtl/Zimmermann 2001, S. 15) und gesteigerte Individualisierung gebunden sind (vgl. Bublitz 2019, S. 114117). Hier geht es darum, Codes des self fashioning und life styling zu beherrschen und entziffern zu können. Auf den performativen Plattformen kollektiver Selbstdarstellung posieren nicht nur Krethi und Plethi, sondern auch junge Millionärserben und -erbinnen, die ihren Reichtum demonstrativfeudal, im goldenen, barockesken Rahmen zur Schau stellen.

6.2 Refeudalisierung: Die Erben im Netz – ›Rich Kids of Instagram‹ Auf der Website ›Rich Kids of Instagram‹ führen die Erben der Superreichen nicht ihr Leben vor, sondern eine Inszenierung, ein ästhetisches Arrangement, vor allem aber das, von dem sie denken, dass ›die anderen‹, die Gesellschaft es von Ihnen erwartet. Es ist die unverhohlene Zurschaustellung dessen, was gesellschaftlich zählt, das Ganze schamlos übersteigert. Bilder einer Ausstellung, fern von Arbeit und Anstrengung; »pictures of an exhibition«: Präsentiert werden Trophäen des Luxus-Konsums von Upper-Class-Jugendli-

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chen. Aber auch wenn die Arbeitsanstrengungen und -kämpfe nicht sichtbar sind, diese Fotos sind Ausdruck symbolischer Kämpfe, die allerdings aus dem Bilderrahmen verdrängt sind. Sie verweisen lediglich auf die hinter den Trophäen stehenden Aufmerksamkeitsökonomien und das Ringen um soziale Anerkennung. Vor allem aber geben sie Hinweise auf die Magie der Namen und den Mythos der Marken, die die Erben als Symbole für Erfolg, Reichtum und Anerkennung erst sichtbar machen und soziale Existenz verleihen. Auch wenn deren kulturelle Codes sich verändert haben, die verborgenen Codes der Elite(n) sind nach wie vor oder mehr denn je wichtig.1 Mithalten und mitreden zu können, zahlt sich aus – in Geld und Macht. Was zählt, ist, Teil der Kreise zu sein, die sich durch Distinktion, durch exklusiven Geschmack und Luxus oben halten. Dass auch der Zugang zu diesen Positionen exklusiv ist, versteht sich von selbst. Sichtbar sein im ›Club‹ der Erfolgreichen ist zunehmend ein Begehren singulär positionierter Individuen in der neoliberalen Gesellschaft. Was unsichtbar bleibt, sind Einsamkeit, Überforderung, Überdruss, erschöpfende Langeweile und Leere. Sie werden durch ästhetisch präsentierte Konsumartikel verdeckt. Die Clip-Ästhetik der ›Rich Kids of Instagram‹ bewegt sich an der Schnittstelle zwischen der fiktiven und dokumentarischen Repräsentation (des Selbst). Sie zeigt Instagram-Schnappschüsse der globalen Rich Young, Marken und Masken derjenigen, die sich mit der Oberfläche der Waren, die sie präsentieren, zu einem Imaginären zusammenschließen. Ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, eingerahmt von goldenen, barockesken Bilderrahmen, in denen sich das – feudale – Begehren derer, die im Luxus leben, spiegelt: »Ganz weit vorne: Müßiggang, Habgier, Völlerei und Wollust. Die Rich Kids of Instagram, reiche Töchter und Söhne […] inszenieren 1

Neuerdings zeigen sich die kulturellen Vorlieben in einer ›neuen Hochkultur‹, in der sich, was Musikstile betrifft, Pop, Rap, Jazz und Klassisches mischt; dennoch bleiben die ›feinen Unterschiede‹. »Heute zeichnet sich die Oberschicht durch einen besonders breiten Geschmack aus, der alle möglichen Genres umfasst. Trotzdem bleiben ihre Vorlieben exklusiv. Innerhalb der einzelnen Genres konzentriert sich die Elite nämlich immer nur auf wenige Künstler und Titel« (Patrick Bernau, FAZ-Net 15.08.2021).

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ihr Leben als Alltag der niemals endenden süßen Sünde« (Titton 2014, S. 133), posten Selfies mit Rolex, Geldscheinen und Champagner in der Hand. Die barocken Rahmen verstärken den protzigen Eindruck des Reichtums und der individualisierten Zurschaustellung ›irdischen Glücks‹, das auf ein goldenes Zeitalter – der Erben – hinweist. Die Refeudalisierung einer globalen Finanzelite (die sich unauffällig gibt), der auf der anderen Seite eine feudale Repräsentation der Kids/Jugendlichen der obersten Schicht/der Reichen entspricht, verweist auf die soziale Magie des Reichtums und – auf quasi-religiöse Metaphern, mit denen das gegenwärtige und zukünftige Dasein beschrieben wird: Irdisches Glück, paradiesisches Dasein, vor, nicht nach dem Tod. Das Erbe zeigt sich im goldenen Rahmen; sie setzen außer Kraft, was die Ökonomie verspricht: Wohlstand und Reichtum für alle auf der Grundlage eines buchhalterischen Daseins. Und gleichzeitig bestätigen sie, was diese – kapitalistische – Ökonomie verspricht: Ordnung und Fortschritt, Sicherheit und Reichtum durch eine Lebensführung, die sich auf luxuriöse Konsumobjekte bezieht, die, wie die Personen, die auf den Selfies abgelichtet werden, im goldenen Rahmen getreu Shakespeares Motto ›wie es euch/uns gefällt‹, präsentiert werden. Nichts ist von dieser subjektiven Buchhaltung ausgenommen, alles kann besessen und klassifiziert werden. Selbstsicherheit ausstrahlen, Eindruck machen und Aufmerksamkeit bekommen sind die neue Währung, der Mehrwert; es zahlt sich aus, sich sehen zu lassen. Dabei geht es weniger darum, aus der Anonymität der Moderne, der Großstädte, herauszutreten, wie Veblen annahm, sondern es geht um die eigene – modische – Identität, das self fashioning, die sich über materiellen Besitz, Symbole und ›Freunde‹ definiert, die einem Aufmerksamkeit schenken. Schließlich besitzen die Konsumobjekte und die Marken, die sie repräsentieren, selbst identifikatorischen Glanz; sie möchte man haben, so möchte man sein: Luxuriös, edel, begehrenswert, vor allem aber reich. Das Begehren der Betrachter spiegelt sich in den glanzvollen Oberflächen der Konsumobjekte, eingeschlossen in einen Teufelskreis eines phantasmatischen Begehrens, das sich im imaginären Versprechen der Waren(oberflächen) und der Masse,

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die auf Instagram und Facebook die Spiegelflächen des Begehrens anklicken, immer wieder von Neuem herstellt. Die glanzvollen Konsumobjekte konstituieren, so paradox es klingt, den Mangel und setzen den Kreislauf des Geldes, vor allem aber den des Begehrens immer wieder in Gang. Unstillbar, weil es nie (nicht) zu befriedigen ist, bildet die Abbildung des Konsums auf Instagram, ästhetisch so in Szene gesetzt, als wäre es ganz alltäglich, reich zu sein, eine fotografische Abbildung nicht nur von Wunschobjekten und -szenarien, sondern zugleich Informationen über das, was zählt. Dabei werden die Objekte, wird die Warenästhetik zum Spiel-Zeug, das das Begehren symbolisiert, es wachhält und immer wieder neu entfacht. Was hier abgebildet wird, sind »Taxonomien des demonstrativen Konsums« (Titton 2014, S. 189). Und welche Funktion haben sie? Worauf zielt die visuelle Inszenierung des Reichtums ab? Sie zeigen, was und wer ›in‹ ist/wer und was zählt; sie bilden eine Affirmation der ökonomischen Macht und des demonstrativen Konsums. Und sie haben, neben der identifikatorischen Funktion der Objekte, die auf Instagram zu sehen sind, die Funktion, das Begehren immer wieder anzufachen, die Wünsche im Teufelskreis der Nicht-Befriedigung gewissermaßen am Leben zu erhalten. Und zwar, durch die halluzinatorische Erfüllung von Wahrnehmungen und Empfindungen, die mit dem Konsumobjekt verbunden sind. Das Objekt als real existierendes Ding ist letztlich gar nicht das Wichtig(s)te. Wichtig ist das Image, das hier vermittelt wird. Die barocken Rahmen weisen also mit ihrem verspielten Dekors nicht nur auf das feudale Element der gesamten Inszenierung, den feudalen Luxuskonsum hin, der als Ornament der abgebildeten Personen fungiert und als Gegenbild zur modernen Ästhetik gelesen werden kann, sondern er vergegenwärtigt auch eine Vergangenheit, die sowohl den Konsum als auch die Verschmelzung der Personen mit Luxus-Konsumobjekten und dem Dekor nur einer gesellschaftlichen Elite zubilligte. Und, da die jeunesse dorée der Gegenwart nicht auf von Gottes Gnaden oder durch die Gunst der Natur verliehene Differenzen zurückgreifen kann, muss sie die relevanten Differenzen durch Akte sozialer – und ästhetischer – Distinktion selbst produzieren.

6 Fette Beute revisited

»Wer ›herauszutreten‹ plant, wer aus der Masse ›hervorragen‹ und zur ›Prominenz‹ aufsteigen will, muss dafür sorgen, dass seinen Ambitionen und Handlungen ein Maximum an Aufmerksamkeit geschenkt wird. Zu den Prämien einer erfolgreichen Karriere, zum Bonus einer mühsam erwirtschafteten Prominenz, zählt das passive Aufmerksamkeitsprivileg zeitgenössischer Eliten: eine Art von imaginärem Konto, auf dem die ungezählten Seitenblicke akkumuliert werden können, die zur Wertsteigerung der eigenen Persönlichkeit beitragen« (Macho 2011, S. 218). Was hier letztlich aber auch sichtbar wird, ist das Fiktive eines vorgestellten Szenariums, die fiktive Realisierung des Begehrens, die dafür sorgt, dass die Unerfüllbarkeit des Begehrens zum Motor weiterer Wünsche und Aufmerksamkeitswertschöpfungen wird. Das heißt hier geht es nicht um Befriedigung und Erfüllung begehrter Objekte und Lifestyles, sondern um den Entzug der Befriedigung, der ein permanentes Mehr-Begehren als Motor der Ökonomie erzeugt. Denn darin besteht das Paradox des Begehrens, das in seiner phantasmatischen Struktur begründet ist. Wie bereits an anderer Stelle gesagt, »bildet das Phantasma die Art und Weise, wie das Begehren konstruiert wird, so bildet die Zirkularität des Begehrens den Modus seiner Funktionsweise; seine – unendliche -Reproduktion wird durch den Teufelskreis des Mehr-Begehrens gewährleistet. Er soll das Verschwinden des Begehrens und das Erleiden seines Verschwindens (und damit nicht zuletzt auch des begehrenden Subjekts) verhindern. Dieser Kreislauf ist dem Begehren selbst eingeschrieben« (Bublitz 2005, S. 136; vgl. zum Teufelskreis des Begehrens ebd., S. 135-140; Zizek 1999). Über die schamlose und kompetitive Zurschaustellung des Reichtums hinaus schließt sich hier in der Geste des warenfetischistischen Zeigens das Waren-Schöne, die Waren-Ästhetik der Konsumobjekte mit den Subjekten zusammen. Es entsteht eine Projektionsfläche, die den Warenfetisch zum Objekt libidinöser Wunschenergien der Subjekte macht.

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Die verborgenen Codes der Erben

»Im doppelten Sinne Inbegriff eines ökonomischen Mehrwerts, nämlich Träger des Tauschwerts und Materialisierung einer libidinösen Ökonomie des Begehrens zu sein, verkörpert sie [die Ware] jene paradoxe Macht, die die Dinge in ihr Gegenteil verkehrt: Die unwiderstehliche Macht, die von ihr ausgeht, erscheint nicht als gesellschaftlich produziertes Verhältnis, als kalkulierter Schein warenästhetischer Oberflächen, die zugleich als Projektionsflächen unerfüllter Wünsche fungieren, sondern als Eigenschaft der Sache selbst« (Bublitz 2005, S. 140f.). Der Tauschwert der Konsumobjekte, ihr Distinktionswert, wird hier zum eigentlichen Gebrauchswert der Dinge; die Sonnenbrille oder Handtasche von Vuitton oder die neuen Schuhe von Louboutin nehmen die Gestalt eines Fetischs an, der symbolisiert, dass man mit den abgebildeten, aktuellen Taxinomien des demonstrativen Konsums mithalten kann – und folglich dazu gehört. Dieser Fetisch ist Bestandteil einer komplexen Anordnung, zu denen die materiellen Objekte und die Symbole ebenso gehören wie die Personalisierung der Dinge, die als Marken das Ensemble der Beziehungen der Erben regieren; sie sind Teil der symbolischen Macht und der symbolischen Kämpfe, des Korpsgeists und der Distinktion, die Anerkennungsprofite generieren.

6.3 Mehrwert – Surplus des eigenen Selbst im Imaginären Das (Konsum-)Objekt, aber vor allem das Subjekt, das sich mit den Konsumobjekten gewissermaßen zu einer Beziehungsgeschichte in Szene setzt, ist auf den anteilnehmenden Blick der anderen angewiesen. Die Likes versichern, dass man richtig liegt, mit dem, wovon man dachte, dass es gefällt; aber es bleibt alles unsicher. Das Begehren nach wechselseitiger Anerkennung verfehlt sich selbst, denn: Es konstituiert sich ein Subjekt, das im Anderen immer nur sich selbst sieht; daher ist die ganze Geschichte brüchig (vgl. Bublitz 2005, S. 139; vgl. auch Sennet 1983; vgl. auch Pagel 1999, S. 26f.).

6 Fette Beute revisited

Diese Dimension der Intersubjektivität, die hier auf den performativen Plattformen der Selbstdarstellung medial umgesetzt wird, regiert die Form der Selbstdarstellung – und macht sie anfällig für (Selbst-)Täuschungen. Was hier zirkuliert, sind halluzinierte – und immer wieder bestätigte oder abgelehnte – Antworten auf die Frage ›Was will die Gesellschaft von mir?‹ ›Was wollen andere von mir?‹ ›Wie soll ich sein?‹ Die Abbildungen zeigen es: Es geht darum, zu präsentieren, nicht, wie man ist, sondern was man hat, was man denkt, dass es die anderen in einem sehen oder erwarten. Der Besitz des WarenSchönen schließt sich mit dem, was man sein will, zusammen. »Das phantasmatisch im Inneren des Subjekts errichtete Objekt des Begehrens erfüllt mithin den Zweck, ›dass ich mich selbst als ›wertvoll für das Begehren des Anderen‹ wahrnehme‹« (Zizek 1999, S. 22, zit.n. Bublitz 2005, S. 137). Was hier die Selbstdarstellung regiert, ist also das Begehren des/der Anderen, das ich mir aus der Phantasie und den Selbstdarstellungen der anderen auf den entsprechenden Plattformen erschließe. Im Waren-Fetisch verschränken sich die imaginäre Spiegelung des Begehrens im (Konsum-)Objekt und die in der Intersubjektivität begründete Begierde nach Anerkennung durch andere (vgl. dazu ausführlicher Bublitz 2005, S. 140-145). Dies gelingt nicht nur über die Transzendenz des eigenen Ichs, wie Titton im Ausstellungskatalog der Ausstellung Fette Beute – Reichtum zeigen betont, sondern auch über die Interaktion mit anderen und über materiellen Besitz. Die Objekte der Konsumwelt nehmen den Charakter von Identifikationsobjekten an, wie Baudrillard über die Objekte des Alltagslebens sagt; sie lassen sich »am leichtesten ›verpersönlichen‹ und verbuchen. Und von dieser subjektiven Buchführung ist nichts ausgenommen, alles kann besessen und investiert, in eine Kollektion geordnet, klassiert und verteilt werden. Der Gegenstand ist somit streng genommen wie ein Spiegel: die Bilder, die er widerstrahlt, können nur aufeinander folgen, einander aber nicht widersprechen« (Baudrillard 1991, S. 115; zit.n. Titton 2014, S. 190). Hier gibt es keinen kritischen Einspruch.

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Die verborgenen Codes der Erben

Damit wird dann aber auch ein anderes Begehren befriedigt: »Der Alltag reicher Menschen liefert […] Fotomotive, welche zu gleichen Maßen die Begehrlichkeiten der Konsumwelt abbilden und voyeuristische Gefühle wecken« (Titton 2014, S. 190). Auf diese Weise hat jeder etwas davon, die einen stellen sich und ihren Reichtum sowie ihr – inszeniertes – Leben aus und bekommen Aufmerksamkeit, die anderen bekommen Ansichten eines Begehrens, das, so unerreichbar es ist, in ihrer Fantasie auf Dauer gestellt ist. Die soziale Magie dieses Arrangements beruht, wen wundert es, auf den verdeckten Codes, die die Erben beherrschen, während die anderen im Status von Zuschauern und Beobachtern bleiben.

7 Happy End des amerikanischen Traums? Das Aufstiegsversprechen

Das ›konsumtorische Kreativsubjekt‹ (Reckwitz 2016) kommt, obwohl es sich als singuläres ›stylt‹, nicht ohne Anleitung durch andere aus. Dabei spielen Influencer eine entscheidende, führende Rolle. Sie geben Hinweise, ›wo es lang geht‹. Das neoliberale Subjekt braucht wegweisende Hilfe bei seinem Vorhaben, das eigene Selbst in ein optimal gewinnbringendes Projekt, eingebettet in den banalen Alltag, aus sich zu machen. Wie die kreative Gestaltung des idealen Ich, das sich permanent optimal präsentiert, so geschieht auch die Unterstützung in Heimarbeit; hier findet das ›homeoffice‹ seine wahre Bedeutung: Das Büro ist, wie auch das Private, privat und öffentlich zugleich. »Eine junge Influencerin sitzt auf einem schneeweißen Flokatiteppich, den Hintergrund bildet ein ebenso weißer Vorhang. […] Die Influencerin, lediglich einen schwarzen Spitzenbody, ein goldenes Halskettchen und verspielte Ohrringe tragend, hat auf ihr Gesicht eine weiße Tuchmaske gelegt. Ein Pfeil in der Bildmitte stupst den Zuschauer zu einer Interaktion: Klickt man auf das Symbol, beginnt ein nur wenige Sekunden dauerndes InstagramVideo, in dem sich die Influencerin die Maske behutsam abzieht, um dann beglückt in die Kamera zu lächeln, die zugleich ein Spiegel zu sein scheint. […]. Die Maske, so heißt es weiter, mache unser ›Homeoffice zum Beautysalon‹ […]. Die Frage, warum das Zuhause wie selbstverständlich Homeoffice genannt wird, stellt sich im Neoliberalismus, der das Ich zum permanent optimierenden Projekt erklärt hat, nicht mehr. Die Arbeit für und an sich

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Die verborgenen Codes der Erben

selbst hebt die Trennung von innen und außen, von privat und öffentlich auf – die neoliberale Subjektivität ist wie ein Möbiusband, worauf der angefügte Hashtag #schönvoninnenundaussen treffend verweist« (Nymoen/Schmitt 2021, S. 11). Da muss alles stimmen: das environment, die ästhetische Präsentation der Gegenstände und des eigenen Körpers, der Stil und die Expressivität des Subjekts. Es zählen gewissermaßen neue Kapitalsorten, die letztlich aber das symbolische Kapital nur modisch unterfüttern und neue Aufstiegschancen für diejenigen eröffnen, deren Kapital und Dispositionen ins neoliberale Setting passen. Hier versammeln sich »Patrick Batemans Kinder« (ebd., S. 11), die den amerikanischen Traum leben, ein Aufstiegsversprechen, das ja längst verblasst ist (vgl. ebd., S. 169). Und dennoch geht es darum, alles daran zu setzen, ›nach oben‹ zu kommen, dort anzukommen, wo man sich unterscheidet – und unter Gleichen ist. Die neoliberale Arbeit am Selbst erschöpft sich keineswegs in einer ästhetischen Form der sich permanent übertreffenden Selbstkreation; »fundamental für alle Praktiken, aus denen es sich zusammensetzt, ist vielmehr, dass sich in ihnen ein ästhetischer Code mit einem im weitesten Sinne ›ökonomischen‹ marktorientierten Code des Subjekts hybride überformt« (Reckwitz 2006, S. 598). Sind Influencer also das »letzte Residuum des American Dream«? Zunächst scheint es so: »Ein Youtuber der ersten Stunde steht vor einer zweistöckigen Villa mit Pool und Garten in Dubai. Obwohl der junge Mann zwischenzeitlich das große Geld gemacht hat, ist sein Habitus noch immer der alte: Er trägt eine graue Jogginghose und einen organgefarbenen Pullover, um seinen Hals baumelt eine goldene Kette. Der Blick des Netzstars ist selbstbewusst, er breitet seine Arme aus, als wollte er die Zuschauer auffordern: Macht es mir nach, nehmt euer Leben selbst in die Hand, kommt dahin, wo ich heute stehe. Dass der Abgebildete damit begonnen hat, Geld mit BlödelVideos zu verdienen, ist knappe zehn Jahre her. Lange Zeit hat er beinahe täglich neuen Content produziert, bis heute steht auf seinem Youtube-Kanal, es gebe (fast) ›JEDEN TAG NEUE VIDEOS!‹

7 Happy End des amerikanischen Traums?

Doch diese Botschaft ist veraltet, nur in unregelmäßigen Abständen wird den Zuschauern etwas Neues geboten. Denn mit Ende Zwanzig hat der Influencer ausgesorgt. Während seine ehemaligen Schulfreunde bangen, ob sie eines Tages eine ausreichende Altersversorgung erhalten werden, genießt er das Leben eines Privatiers, das nur noch Luxusprobleme mit sich bringt: Auf welchem Balkon soll er mit seiner Partnerin frühstücken? Sollen sie lieber mit dem SUV oder mit dem Sportwagen zum Strand düsen? Allgemeiner gefragt: Was kostet die Welt? Mit der Realität seiner Follower hat dies nichts zu tun, wohl aber mit deren Wunschträumen, es auch schaffen zu können« (ebd., S. 168). Aber die Autoren sind sich sicher, dass die Zeit, in der vom amerikanischen Aufstiegsversprechen »weltweite Strahlkraft« ausging, längst vorbei ist. Lediglich das Internet, seine Plattformen und Social Media scheinen ein letztes Residuum des American Dream zu sein. »Das meritokratische Versprechen des American Dream war immer mehr Schein als Sein, von Chancengleichheit konnte kaum die Rede sein. Doch seit dem Aufkommen des Internets hat sich das Versprechen, wonach jeder es schaffen könne, zumindest eine Zeit lang als glaubwürdiger erwiesen denn je« (ebd., S. 173). Sie gehen davon aus, dass in den sozialen Medien innerhalb von Jahrzehnten »Nobodys zu Megastars herangewachsen« sind, »die in vordigitalen Zeiten mutmaßlich gänzlich unbekannt geblieben wären« (ebd., S. 172). Dennoch sind auch hier Schließungsmechanismen einer ›Elite‹ von erfolgreichen Influencern wirksam, entwickeln sich auch hier verborgene Codes des Zutritts. Daher kommen sie zu dem Schluss: »Ähnlich oligopolistisch wie der Tech-Markt ist mittlerweile auch jener der Influencer. Zwar ist ein Onlineaufstieg heute keineswegs unmöglich geworden, er wird jedoch im Laufe der Zeit schwieriger, da die bereits erfolgreichen Platzhirsche den Markt dominieren und davon ausgehen können, dass ihre Videos und Bilder vom

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Die verborgenen Codes der Erben

Algorithmus (und der Community) bevorzugt behandelt werden« (ebd., S. 177). Den scheinbar offenen, demokratischen Zugängen zu OnlinePlattformen stehen also fast »clanartige Netzwerke von SuperInfluencern, deren Status nahezu unantastbar ist« (ebd., S. 178) gegenüber. Dennoch: Der digitale (Plattform-)Kapitalismus hat sich bisher nicht als glaubwürdige Lösung der Probleme einer kapitalistischen (Markt-)Wirtschaft erwiesen; auch hier dominieren Cliquen, »die kaum noch von ihren Positionen zu verdrängen sind« (ebd., S. 176), auch hier regieren die verborgenen Codes derer, »die die digitale Landnahme als Erste gemeistert haben, in der Folge zumeist unter sich« bleiben und sich in mehrfacher Hinsicht abschotten: »Einerseits leben sie das Leben von Privatiers, ziehen in Villenviertel, Gates Communities oder nach Dubai (von wo aus sich bei – ungleich geringerer Steuerlast – weiterhin senden und werden lässt). Andererseits kooperieren sie nur noch mit wenigen ausgewählten Kollegen (oftmals angeregt durch das Management ihrer Agenturen), so dass die Super-Influencer-Sphäre sich dauerhaft selbst reproduziert und am Leben erhält. Erfolgreiche Youtuber laden sich gegenseitig auf ihre Kanäle ein, um zum hundertsten Mal dieselben Challenges durchzuführen, und verstärken so die bereits existierenden Netzwerkeffekte« (ebd.). Aufstieg ist nicht unmöglich, aber zunehmend schwierig; »Netzwunder geraten somit zur Seltenheit« (ebd., S. 177). »Das letzte Residuum des American Dreams scheint damit zwar nie endgültig zu verschwinden, jedoch immer kleiner zu werden – für viele Menschen bleibt der Traum vom Aufstieg auch im Netz ausgeträumt« (ebd., S. 179). Hier gibt es also nichts oder nicht mehr viel zu erben.

Passagen IV

Im Raum dazwischen Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf… Im Supermarkt in der Schlange vor der Kasse war es wieder da, dieses Gefühl, das sie von früher kannte. Als sie das Gymnasium besuchte, stellte es sich ein. Ein ganz starkes Gefühl der Abneigung ergriff Besitz von ihr, gegenüber den ›anderen‹, den ›Ungebildeten‹, denen, die auf der Haupt- oder Realschule weitergemacht hatten, denen, die nicht nachdachten und alles reflektierten, denen, die sich nicht auszudrücken wussten. Sie fühlte sich überlegen. Dann aber fiel ihr ein, dass sie sich auch in der Gegenwart der ›Gebildeten‹, ›Kultivierten‹ nicht unbedingt wohl(er) fühlte, wie sie dasaßen, in Lesungen und Konzerten. Abstoßend ihr Getue. Und dann bemerkte sie, dass das auch früher schon da war, dieses Gefühl, dass ihr Vater immer darauf achtete, mit wem sie Umgang hatten… Obwohl sie selbst weit unten waren in der sozialen Hierarchie, gab es dieses Gefühl auch damals schon, mit ›denen‹ nichts zu tun haben wollen. Abstand nehmen und halten von Leuten die, so dachten sie wenigstens, noch weiter unten standen als sie. Sich mit denen aus dem sozialen Wohnungsbau zu verabreden, in dem sie selbst wohnten, war tabu. Oder einen Freund mitzubringen, der eine Ausbildung gemacht hatte und nicht das Gymnasium besuchte. Die Auswahl war auf die Oberen gerichtet. Aber das bedeutete nicht, zu den Oberen zu gehören, sondern es bedeutete nur, Abstand zu halten, zu denen, die unten waren. Es gab also immer welche, die unter einem standen.

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Die verborgenen Codes der Erben

Mit denen wollten sie nichts zu tun haben. Gespaltener Habitus, Entwurzelung, Entfernung vom vertrauten Raum. Keine Berührungspunkte mehr zu den Unteren. Aber mit denen oben auch nicht. Am wohlsten fühlte sie sich jetzt in einem Raum dazwischen.

8 Ein einsamer Erbe – Anti-Facebook

Der Protagonist des Romans Serotonin von Michel Houllebecq (2020), Florent-Claude, ein 46 Jahre alter Agraringenieur, stellt mit seiner Art der Lebensführung den Inbegriff eines langweiligen Lebens dar. Er ist das Gegenbild eines unternehmerischen Subjekts, das immer auf ein ›Surplus‹, einen Mehrwert und eine Steigerung des eigenen, gewinnbringenden Selbst ausgerichtet ist und dessen Ziel dem der Aufsteiger ähnelt: (Selbst-)Veränderung um jeden Preis, gib alles! Immer weiter, weiter, nach oben! Und er ist auch das Gegenbild der Erben, die ihren Ehrgeiz daran setzen, sich zugehörig zu fühlen und zu präsentieren, zur Glaubensgemeinschaft derer, die über hinreichend Kapital und exklusive materielle Dinge verfügen, um sich ihr Leben in den oberen Rängen der Gesellschaft einzurichten und sich, ästhetisch geschmackvoll, als Appendix einer teuer konsumierten Warenästhetik zu präsentieren. Florent-Claude ist ein einsamer Erbe, der offenbar keine Freunde hat, weder im realen Leben noch in den sozialen Medien. Es passiert nichts in seinem Leben, was seine Aufmerksamkeit erregt. Daran ändert auch das Antidepressivum Captorix nichts oder wenig, im Gegenteil, es (zer)stört eher seine Lust, als dass es ihm Lust bereitet oder Abwechslung und Erleichterung ermöglicht. Schließlich fragt er sich, ob er glücklich ist oder sein kann: »Konnte ich in der Einsamkeit glücklich sein? Ich bezweifelte es. Konnte ich überhaupt glücklich sein? Ich glaube, das ist die Art von Frage, die man sich besser nicht stellen sollte« (Houllebecq 2019, S. 84). Er zieht Bi-

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Die verborgenen Codes der Erben

lanz und beschließt, sich aus seinem Leben zu verabschieden, löst alles auf, die Beziehung, das Arbeitsverhältnis, die Wohnung. Der Anfang des Romans beginnt mit einer Art ›Rechenschaftsbericht‹: Obwohl er sich maßlos über seinen Vornamen ärgert, habe er nichts unternommen, um ihn zu ändern. Das aber gilt für seine gesamte Existenz. Alles bleibt, wie es ist, Tag für Tag, ein Tag wie der andere, langweilig. So fühlt er sich wahrhaftig nicht als ›Herr im eigenen Haus‹, sondern unterworfen, unter die Umstände, dazu verurteilt, das Leben hinzunehmen, wie es ist. Sein Leben, ein einziges Scheitern. »Bei der Gesellschaft als Ganzer habe ich gar nichts erreicht, in dieser Hinsicht habe ich mich wie in fast jeder anderen Situation auch, zum Spielball der Umstände machen lassen, ich habe meine Unfähigkeit bewiesen, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen, die Virilität, die mein quadratisches Gesicht mit seinen klaren Kanten, meine scharf geschnittenen Züge auszustrahlen schienen, war nichts weiter als eine Illusion, ein reiner Schwindel – für den ich allerdings nichts konnte, Gott hat mich so geformt, aber ich war nichts anderes, war tatsächlich nichts anderes, war nie etwas anderes gewesen als ein substanzloses Weichei, und nun bin ich schon sechsundvierzig Jahre alt, ich war nie in der Lage, über mein eigenes Leben zu bestimmen, kurzum, es erscheint mir sehr wahrscheinlich, dass der zweite Teil meiner Existenz ähnlich wie der erste nur in einem schlaffen und schmerzvollen Zusammensacken bestehen wird« (Houllebecq 2020, S. 7). Als er überlegt, wie lange sein ›Vermögen‹ noch reichen würde und wie lange er demnach noch leben müsste (! oder: könnte?), kommt er, dem auch das Glückshormon Serotonin kein Glück verschafft, zu dem Schluss, dass er dem Ganzen möglichst bald ein Ende bereiten will und muss. Erst recht kann er sich nicht vorstellen, etwas zu hinterlassen, »ein Erbe zu hinterlassen (wem hätte ich es auch hinterlassen sollen, dem Staat? Diese Aussicht war höchst unerfreulich).« (Ebd., S. 331) Was er sich vorstellen konnte, war, ›ein Kreuz zu machen‹. So abstoßend die (klein-)bürgerliche Konsumgesellschaft mit ihrer Sucht nach – pornografischen – Events erscheint, so trost-

8 Ein einsamer Erbe – Anti-Facebook

los kam ihm sein Leben vor. Der Konsum als Aussicht auf einen – schnelleren – Tod? »Ich musste also den Rhythmus meiner Ausgaben steigern, das war mehr als schäbig, das war schlichtweg armselig, aber die Aussicht, mit Geld auf dem Konto zu sterben, war mir unerträglich« (ebd., S. 331f.). Demgegenüber stimmt ihn die Aussicht auf einen früheren Tod geradezu heiter; »der Tod lässt sich schließlich scherzhaft betrachten« (ebd., S. 333). Und so rechnet er sich aus, wie lange sein Bankguthaben noch reichen würde und wie er sich ›das Leben nehmen kann‹: Während er ursprünglich das Gefühl hatte, allem den Rücken kehren zu können und unbegrenzte Zeit vom Erbe seiner Eltern leben zu können, kommt er zu der Erkenntnis, dass die »etwas über zweihunderttausend Euro auf dem Konto« (ebd., S. 328) höchstens noch für etwa zehn Jahre reichen würden. Zehn Jahre eines einsamen und unerträglichen Lebens, das erscheint ihm zu lang, deshalb fasst er einen Plan, »mit ein paar Gläsern Calvados im Kopf war nicht mal gesagt, dass man wirklich zum Nachdenken kam« (ebd., S. 331), ein Sturz aus dem Fenster, ist, nüchtern betrachtet, gar nicht so schlimm, sagt er sich, letztlich dauert der Sturz nur viereinhalb Sekunden, höchstens fünf, rechnet er aus, wenn das alle Leute wüssten, hätte es deutlich mehr Selbstmorde gegeben, sagt er sich. Der Sturz würde kurz sein. Nüchtern werden Flugzahlen ausgerechnet… Dadurch wirkt der Freitod befreiend, befreit von allem seelischen ›Müll‹. »Ich hatte vor, es nachts zu tun. […] Der Gedanke an den Sturz hielt mich lange zurück, ich stellte mir vor, minutenlang ins Leere zu fallen. […] Das lange wissenschaftliche Studium war doch für etwas gut gewesen: In Wirklichkeit war die Strecke h, die ein Körper im freien Fall innerhalb einer Zeit t überwand, durch die Formel h=1/2gt² genau vorgegeben, wobei g die Beschleunigungskon√ stante war, was für eine Höhe h eine Fallzeit von t= 2h/g ergab. In Anbetracht der Höhe (fast genau hundert Meter) meines Gebäudes und der Tatsache, dass der Luftwiderstand bei solchen Fallhöhen vernachlässigt werden konnte, bedeutete das eine

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Die verborgenen Codes der Erben

Fallzeit von viereinhalb Sekunden, höchstens fünf, wenn man den Luftwiderstand unbedingt einrechnen musste, wie man sieht, musste man daraus kein Drama machen; mit ein paar Gläsern Calvados im Kopf war nicht mal gesagt, dass man wirklich zum Nachdenken kam« (ebd., S. 330f.). Schlimm nur wie sein Körper aussehen würde, nach dem Aufprall, aber das konnte ihm schließlich egal sein. Eine Facebook-Wand nur für sich selbst – er lässt sein Leben, ein Leben in Einsamkeit, noch einmal vor seinen Augen ablaufen und installiert in einem Zimmer seiner Wohnung eine Wand mit allen Fotos aus seinem Leben, nur für sich. »Ich hatte keine Nächsten und es schien mir, als könnte ich mich mit dem Gedanken des Todes immer leichter abfinden… Ich wollte gewissermaßen eine Facebook-Wand erstellen, die aber für mich allein da war, eine Facebook-Wand, die nur von mir gesehen würde – und ganz kurz vom Mitarbeiter der Maklerfirma, der nach meinem Ableben meine Wohnung begutachten würde, er würde etwas überrascht sein, dann würde er alles auf den Müll schmeißen und wahrscheinlich eine Grundreinigung veranlassen […]« (Houllebecq 2019, S. 326ff.). Damit führt er Facebook ad absurdum, wo es darum geht, aus jedem privaten Event ein, wenn auch begrenzt öffentliches Ereignis zu machen, zumindest eines, das wenigstens die Aufmerksamkeit einiger ›Freunde‹ in den sozialen Medien weckt, also einer medialen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Diesem Zwang, das Alltägliche öffentlich zu machen, sich immer etwas Neues einfallen zu lassen, Kreativität nach neoliberalen Maßstäben der permanenten Steigerung und Marktförmigkeit zu entwickeln, entzieht sich der unglückliche Protagonist von Houllebecqs Roman Serotonin. Er re-privatisiert Facebook gewissermaßen – ein privates widerständiges (?) Gegenstück zu den ›himmlischen Körpern‹ und Selbstdarstellungen auf Instagram und Facebook, die sich alle gegenseitig ›liken‹ bzw. mögen oder schmeicheln, damit sie auch gemocht werden.

8 Ein einsamer Erbe – Anti-Facebook

Er entwickelt »diese banalen Bilder« und klebt sie an die Wand, »jedes an seinen Platz, ohne mir zu erhoffen, dass sich daraus irgendeine Art von Schönheit oder Sinn ergäbe« (ebd., S. 327). Aber in einer trostlosen Konsumgesellschaft, die vor allem Widerwillen, Überdruss, Ekel und Hoffnungslosigkeit im Übermaß produziert, gibt es, so scheint es, keine Aussicht auf ›Erlösung‹. Stattdessen malt er sich aus, wie sein ganzes Leben, die Bilder an dieser Wand, die es vergegenwärtigen, auf dem Müllhaufen landet. Es würde nichts übrigbleiben, nichts vererbt werden. Aber wie sieht es aus, wenn das Erbe quasi osmotisch, in verborgenen Codes implantiert, weitergegeben wird? Lässt sich die Übertragung des Erbes, die unsichtbar vor sich geht, vermeiden?

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9 Schluss Zur sozialen Magie und De-mystifikation sozialer Ungleichheit

Folgt man Bourdieus (Kultur-)Theorie, dann verfestigen sich Denkweisen körperlich; sie nehmen regelrecht körperliche Gestalt an. Der körperliche Habitus, die Dispositionen, die, strukturell erzeugt, Haltungen generieren, übertragen das Erbe, ohne absichtsvollen Plan, ohne Verfügung oder Zustimmung der Beteiligten. Hier, am und im Körper, in den verborgenen Codes des Körpers, wird das Erbe in den Körper ›eingepflanzt‹ und unbewusst weitergegeben. Tief vergraben in den Gesten, Haltungen und Falten des Körpers sind die Beziehungen von symbolischer Macht, Herrschaft und Unterwerfung gewissermaßen ›eingespeist‹; der Körper bewahrt das Gedächtnis und das Vermächtnis – einer Familie, Sippe, Gesellschaft – auf und gibt es weiter. Er ist quasi der Automat, in dem das Programm gespeichert wird, das, unbewusst abgerufen wird und größtenteils durch Automatismen des Gehirns und des Körpers abläuft. In die Morphologie und Motorik des Körpers eingelagert werden Dispositionen in den Praktiken und Techniken aktualisiert, die sowohl das individuelle Bewusstsein als auch das der Gruppe und der Gesellschaft entlasten – und gewährleisten, dass alles im Sinne der bestehenden Ordnung funktioniert. Die soziale Magie der Erben bezieht sich vor allem auf die Schemata, die in den Körper implantiert wurden. Anders als die dem Körper äußerlich bleibenden Dekorationen des Körpers wie Kleidung und Schmuck sind die sozial geprägten Dispositionen und in-

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korporierten Signale, Teil eines Erbes, das die Grundlage aller Praktiken, »die mit oder ohne Absicht über das Spiel der distinktiven Unterschiede etwas, und zwar die soziale Position bedeuten sollen, dazu bestimmt, zur Ordnung zu rufen und jeden, der es – und sich – etwa vergessen könnte, an den Platz erinnern, auf den er […] verwiesen ist« (Bourdieu 1990, S. 90). »Akte sozialer Magie« rekurrieren auf symbolische Macht, Anerkennung; sie können nur deshalb alle Hebel in Bewegung setzen, weil sie sich auf Dispositionen stützen, die sie bestätigen und nur die können gelingen, »die den Rückhalt der ganzen sozialen Gruppe oder einer anerkannten Institution« (ebd., S. 91) haben: »Selbst wenn dieser Akt von einem einzelnen Akteur vollzogen wird, der die gebührende Vollmacht besitzt, um ihn vollziehen und in den anerkannten Formen vollziehen zu können […], so hat er doch seine Grundlage im Glauben einer ganzen sozialen Gruppe (die auch physisch präsent sein kann), das heißt, in den sozial geprägten Dispositionen zu Kenntnis und Anerkenntnis der institutionellen Bedingungen eines gültigen Rituals. […] Im Gegensatz zum Hochstapler, der nicht das ist, wofür man ihn hält […] ist der legitime Bevollmächtigte […] als Glaubensobjekt verbürgt und beglaubigt; er hat die Realität dessen, was er scheint, er ist wirklich das, wofür ihn jeder hält, weil seine Realität […] nicht auf seinem privaten Glauben oder Anspruch beruht […], sondern auf dem kollektiven Glauben […]« (ebd., S. 92), der sich in Titeln, Stelle, Macht materialisiert, vor allem aber auch in den Dispositionen, auf die sich die symbolischen Wirkungen der Erben beziehen. Die Glaubensgemeinschaft, Glaubenssätze und Rituale sind es, die, neben dem Fetisch und dem Korpsgeist, den Erben beglaubigen, dass sie – als Nachfolger – an der richtigen Stelle sind und zu Recht Nachfolger sind. Es ist nicht das Können, die Kompetenz, das Wissen, sondern es ist die Teilhabe am Erbe eines osmotischen Wissens, das in Fleisch und Blut übergegangen ist, das Menschen nach oben bringt oder sie dort hält. Wesentlich ist die Anerkennung in einer Gruppe, die so denkt wie sie; und de-

9 Schluss

ren Dispositionen sie mit jeder Äußerung aktualisieren. Daran, an der ›fleischgewordenen‹ Personifikation ihres Erbes und am ›Korpsgeist‹, diesem konservativen Habitus, fehlt es bei denen, die nichts oder wenig erben und ihr gesellschaftliches Milieu, ohne hinreichende Ausstattung, nur mit dem Nötigsten versehen, verlassen. Hier fehlt es an einer positiven Haltung, auf allen Ebenen. Auch in der Theorie, die den »benachteiligten Klassen« immer nur den Mangel bescheinigt, weil es anders gar nicht sein kann. Was fehlt, ist eine De-Mystifikation des herrschenden Signifikationsmodus, auch in der Theorie, ist ein respektvoller Umgang mit unterschiedlichen Denkweisen und Wissenssystemen. Worum es mir geht, ist, dass sich in der sozialwissenschaftlichen Literatur zum Thema Bildung, soziale Ungleichheit und Chancengleichheit gebetsmühlenartig immer dieselben Bekenntnisse finden; von neuen Erkenntnissen kann da nicht unbedingt die Rede sein. Die Auffassung, dass das Bewusstsein der unteren Gesellschaftsklassen und das von Kindern aus ärmeren Verhältnissen pauschal auf ein »Management des Mangels« reduziert werden kann, dem dann ein »Management des Überflusses« gegenübergestellt wird, finde ich nicht sehr originell. Wenn El-Mafalaani in seinem Buch über den Mythos Bildung davon ausgeht, Kinder »aus ärmeren Verhältnissen und mit formal gering gebildeten Eltern« seien »im Durchschnitt weniger kompetent« (ebd., S. 73) oder wenig später zusammenfasst: »Kinder aus unteren Schichten haben wesentlich geringere Bildungschancen. Gleichzeitig sind sie im Durchschnitt weniger kompetent in den für Schule wichtigen Bereichen« (ebd., S. 76), dann stimmt das, so vorurteilsgeladen das auch klingt, möglicherweise, wenn damit gemeint ist, dass Kindern aus ärmeren Verhältnissen und unteren Schichten eine weitgehende Anpassung an den Verhaltensstil und die kognitiven Erwartungen der Schule nicht so gut gelingt wie Kindern aus privilegierten Familien der Mittel- und Oberschicht. Bourdieu geht, wie der anglomarxistische Ansatz von Willis u.a. davon aus, dass Bildung und Schule gegen die unteren Klassen gerichtet sind. Solch ein Gedanke kommt hier aber nicht zum Zug. Es fragt sich nämlich, was hier mit Kompetenz gemeint ist, auch wenn im

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nächsten Satz steht: »Sind sie aber genauso kompetent wie Kinder aus privilegierten Familien, haben sie dennoch schlechtere Chancen. Man kann also durchaus sagen, sie sind doppelt benachteiligt« (ebd.), was stimmt und nach Empathie klingt, aber die Frage ist, was damit gesagt ist; dieses Spiel mit Zahlen und Durchschnitten ist wenig erhellend. Eine Erklärung folgt mit Hinweis auf das gesamtgesellschaftliche Phänomen der sozialen Ungleichheit und den Herkunftseffekt. Bedauerlich, wenn ein Kind mit Potential und Begabung nicht hinreichend eingeschätzt und gefördert wird! Aber dabei kann es sich in Bezug auf Kinder (und Jugendliche) aus ärmeren Verhältnissen ja nur um Ausnahmen handeln, denn im Durchschnitt (!) sind sie ja weniger kompetent als die anderen, vor allem die aus privilegierten Verhältnissen, wo alles im Überfluss vorhanden ist und daher täglich eingeübt wird, »aus einer Fülle von Alternativen« auszuwählen und »zu entscheiden und dabei auch ihre (langfristigen) persönlichen Ziele nicht aus dem Blick zu verlieren« (ebd., S. 135). Gemeint ist sicher, bei aller spielerischen Kreativität, nicht aus dem Auge zu verlieren, was man später mal werden will. Und richtig, wo alles im Überfluss vorhanden ist, »kann man relativ risikofreudig vieles ausprobieren. Es geht zunehmend um Stilfragen und Selbstzwecke« (ebd., S. 135f.); mag sein, was hier strukturell angelegt ist, ist das unternehmerische Selbst – und das ist ja ganz offensichtlich gefragt in Schule und Gesellschaft! Später kommt noch eine andere Erklärung hinzu, warum Kinder aus ärmeren Verhältnissen im Durchschnitt an schulischen Leistungen eher scheitern und ihre Leistungen eher ›mangelhaft‹ sind: »Die strukturelle Knappheit erfordert situative Bewältigungsstrategien und begünstigt die Entwicklung eines an Kurzfristigkeit orientierten Denk- und Handlungsmusters […]. Das Denk- und Handlungsmuster ist auf Risikovermeidung ausgerichtet« (ebd., S. 134). Keine Ahnung, wie El-Mafaalani darauf kommt, dass aus der strukturellen Knappheit ein Versagen im schulischen Kontext hervorgeht; aber ich ahne es, möglicherweise nimmt er an, wenn man nur wenig Geld und Ressourcen zur Verfügung hat, bildet sich das auch im Geiste ab. Mag sein, dass er Bourdieu allzu wörtlich genommen hat, die »Entscheidung für das Notwendige« erscheint ja bei diesem als Klassenhabitus, der aus dem Mangel

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resultiert. So ist Bourdieu der Auffassung: »Die Auswirkungen des Mangels fallen mit denen des aus dem Mangel herrührenden Geschmacks am Notwendigen zusammen und verschleiern diese« (Bourdieu ³1984, S. 587), was ja schwer verständlich ist, man versteht nicht so recht, was da wodurch verschleiert wird, ich vermute aber, dass gemeint ist, dass durch den Mangel und den sich daraus ergebenden Sinn für das Notwendigste der Blick für die Auswirkungen dieses Mangelgeschmacks getrübt ist. Dieser »Geschmack am Notwendigen« ist nach Bourdieu »der Inbegriff des Trivialen« (ebd., S. 595) und er schildert ausführlich, wie inkompetent die »Emporkömmlinge« sind, was den Stil betrifft und dass sie »im allgemeinen sehr lange, manchmal ein ganzes Leben [brauchen] bis sie gelernt haben, daß, was sie zunächst als sträflichen Exzeß betrachten, in ihren neuen Lebensverhältnissen zu den allernotwendigsten Ausgaben gehört« (ebd., S. 588). Er veranschaulicht an zahlreichen Beispielen, was die Ausrichtung des Lebens am Notwendigen und die Gewohnheit, zuzupacken, mit sich bringt, etwa wenn ›kleine Leute‹, sollten sie aus irgendeinem Anlass ein schickes Restaurant betreten, es nicht schaffen, sich bedienen zu lassen und den Kellnern, anstatt ihnen ins Handwerk zu pfuschen, einfach nur bei ihrer Arbeit zuzusehen. Wie auch immer, das ist möglicherweise der Hintergrund. Und so erscheint bei El-Mafalaani das »Management des Mangels« ebenso trivial, »Man fühlt sich wohl, handelt und entscheidet souverän und intuitiv, wenn der zeitliche Horizont überschaubar, der persönliche Nutzen unmittelbar nachvollziehbar ist, die Funktionalität im Vordergrund steht« (El-Mafalaani 2020, S. 135). Da erscheint etwas als ›Abbildung‹ der Lebensumstände im Denken. Der Zeithorizont ist kurz, man kann nur kurzfristig planen, und daraus resultiert: »Die Knappheit ermöglicht es nicht, sich in Selbstdisziplin zu üben, denn die Rahmenbedingungen disziplinieren bereits umfassend. Man kann gar nicht selbstbestimmt verzichten« (ebd.). D.h., struktureller Mangel ermöglicht keine selbstbestimmte, sondern nur durch die Strukturen fremdbestimmte Selbstdisziplin. Hier wird unter der Hand eine Norm eingeführt. Die Frage ist: Ist Selbstdisziplin, die als erzieherische Maßnahme bei den Kindern

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aus privilegierten Verhältnissen antrainiert wird, mehr wert als strukturell erzwungene? Es wäre zu überlegen, ob das so überhaupt stimmt. Wird hier tatsächlich selbstbestimmter Verzicht geübt und Selbstdisziplin erzeugt? Oder ist nicht vielmehr der Zeithorizont und die Praxis aufgeschobener Befriedigung das Los derjenigen aus ärmeren Verhältnissen, die sie zur Selbstdisziplin zwingen? Was hier zum Vorschein kommt, sind nicht nur Klischees, sowohl über die milieuspezifischen Lebensbedingungen als auch die klassenspezifischen Denk- und Handlungsweisen, sondern vor allem bürgerliche Normen. Nach dem Motto: ›Was nicht sein darf, kann nicht sein.‹ Was zählt, ist das ›Selbst‹, Selbstdisziplin, ›Selbstbestimmung‹. Was fehlt, ist der Aspekt der Macht und der (Selbst-)Ermächtigung, der die Disziplin historisch in sämtlichen Institutionen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, besonders der Schule, zu einem Machtinstrument gemacht und durchgesetzt hat, wodurch erfolgreich produktive, leistungsfähige und leistungssteigernde Subjekte hervorgebracht wurden. Selbstdisziplin entsteht zunächst durch heteronome Disziplinierung, durch die Architektur, die Anordnungen und Befehle, die Aufgabenstellungen und die Strukturen des Bildungssystems und der Schule, nicht zuletzt das Notensystem und wird verinnerlicht zur Selbst-Disziplin, die individualisiert und ermöglicht, Individuen in eine – soziale – Hierarchie einzuordnen (vgl. dazu u.a. Foucault 1976). Dass das an den »ärmeren Verhältnissen« scheitert, ist vom (Bildungs-)Bürgertum immer wieder und oft beklagt worden. Und es gibt aber durchaus eine kritische Auseinandersetzung mit einer Bildungs- und Sozialisationstheorie, die bestimmte Positionen immer wieder abruft, obwohl sie falsch sind (vgl. u.a. Hagemann-White 1975; Bublitz 1992). Seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts schreiben Sozialwissenschaftler voneinander ab, was schichtenspezifische Sozialisation sei. Damit verstellt sich die Theorie den Blick für die Differenz, das Andere. Die Grenzen des Sagbaren stehen fest. Unerwartetes hat da keinen Platz, da gibt es nur Erwartbares. Gefordert wird Förderung. Was nicht in den Blick gerät, ist die Intelligenz und Intellektualität derer, die aussortiert werden, es wird abgewertet, bevor das reale Können und die Bildungs-Träume, überhaupt, die Träume von

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einem anderen oder besseren Leben in den Blick geraten. Sie werden durch Aussagen, die Selbstdisziplin und Leistung einem spezifischen sozialen Ort zuweisen, entwertet; dadurch erscheinen auf der Oberfläche dann immer nur der Mangel und der Sinn für das Notwendigste. Was es bedeutet, in einer Welt zu leben, in der man gezwungen wird, sich zwischen Arbeit und Bildung zu entscheiden, zwischen der eigenen Identität, und Bildung zu wählen, einer Welt, in der das eine wie das andere jeweils fremd und befremdend erscheint, in der Fremdworte eine Entfremdung vom Herkunftsmilieu signalisieren und der Übersetzungsarbeit bedürfen, das alles wird hier ausgeblendet. Was es für einer Willenskraft bedarf, um diese täglichen Hürden immer wieder zu überwinden, ist unaussprechlich. Durch Glaubenssätze, die sich die akademische Theorie und ihre Vertreter immer wieder zuschanzen, und nicht durch eigenes Unvermögen oder einen kurzfristigen Zeithorizont, landen die aus den »benachteiligten Klassen« immer wieder dort, wo sie schon sind – nämlich unten und nicht oben. Es geht um De-Mystikation der gesamten Bedingungen und des Rahmens, in denen sich die Erben befinden, die immer nur ihresgleichen nach oben befördern, Bedingungen der Exklusion nach dem Motto: ›Du bist hier nicht erwünscht‹.

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Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6

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Der Mann und die Prostata Kulturelle, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven 2019, 162 S., kart., 10 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4866-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4866-3

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